Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Als Nachfolger für die verstorbene Kollegin Marita
Sehn hat der Abgeordnete Dr. Volker Wissing am
23. Januar 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr
herzlich.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Gesetzent-
würfe der Bundesregierung zum Telekommunikations-
gesetz auf Drucksachen 15/2316 und 15/2345 und zur
Anpassung des Baugesetzbuches an EU-Richtlinien auf
Drucksache 15/2250 jeweils dem Ausschuss für Touris-
mus nachträglich zur Mitberatung zu überweisen. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-
gelung von Luftsicherheitsaufgaben
– Drucksache 15/2361 –
Überweisungsvorschlag:
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Redet
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-
minister Otto Schily das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und HerrenIch denke, wir sind uns alle darüber einig, da
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Auf Basis von Art. 35 des Grundgesetzes schafft dasneue Luftsicherheitsgesetz eine solide Voraussetzung fürdie Streitkräfte, um die Polizei bei ihren Aufgaben wirk-sam zu unterstützen, wenn dies die einzige Möglichkeitzur Abwendung einer Gefahr für das Leben von Men-schen ist. Der Gesetzentwurf regelt in sehr engen Gren-zen auch die Zulässigkeit eines Flugzeugabschusses. Eswäre unredlich und unverantwortlich, einer Erklärunggerade in diesem extremen Fall auszuweichen. In unse-rer Demokratie kann nur die Politik eine derart schwereVerantwortung übernehmen. Wir dürfen diese Last nichtden Soldatinnen und Soldaten aufbürden.
Nur der Verteidigungsminister kann seinen Piloten einenentsprechenden Befehl geben.Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung undKomplexität einer solchen Regelung bewusst. Unser Ge-setzentwurf sieht keine Änderungen des Grundgesetzesvor. Im weiteren Verlauf der Beratungen sollten wir abervorurteilsfrei prüfen, ob eine Klarstellung in Art. 35 desGrundgesetzes notwendig erscheint oder empfehlens-wert ist,
ohne den materiellen Inhalt dieser Vorschrift zu verän-dern. Es geht also nur um die Ausdrucksweise in diesemArtikel und nicht um den substanziellen Inhalt, der – da-von sind wir überzeugt – eine solche Regelung bereitsträgt.
Die genauen Konstellationen, in denen gekaperteFlugzeuge als Waffen gegen Menschen missbrauchtwerden können, kennen wir nicht. Das Gesetz soll dahereine generelle Grundlage für das Zusammenwirken allerBeteiligten auf Landes- und Bundesebene schaffen. DieLänder behalten ihre Zuständigkeiten und wirken imRahmen ihrer Zuständigkeit an der Gefahrenabwehr mit.Um im Ernstfall ein schnelles Handeln tatsächlich zugewährleisten, haben wir bereits ein Nationales Lage-und Führungszentrum Luftsicherheit eingerichtet. Ichhabe es zusammen mit meinem Kabinettskollegen Struckvor einiger Zeit besucht. Seit dem 1. Oktober 2003 sind inKalkar Soldaten und Beamte des Bundesgrenzschutzesrund um die Uhr im Einsatz. Ihre Aufgaben sind die Zu-sammenfassung, Bewertung und Steuerung aller vorhan-denen Informationen über die Luftsicherheitslage imdeutschen und benachbarten Luftraum, die Einleitungvon operativen Maßnahmen sowie die Beratung der Ent-suseeLLadbfBsnAwtBwDFdwgrwümDzjdvcanmr–zs
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang
osbach, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach die-er dynamischen Rede des Innenministers können wirichts anderes sagen als: Die Unionsfraktion begrüßt diebsicht der Bundesregierung, durch diesen Gesetzent-urf den Schutz des Luftverkehrs vor kriminellen underroristischen Angriffen zu erhöhen und den Einsatz derundeswehr, genauer gesagt: unserer Luftwaffe, zur Ab-ehr von Gefahren aus der Luft gesetzlich zu regeln.as gilt insbesondere für die Fälle, in denen ein zivileslugzeug gestohlen oder mit Gewalt entführt und vonen Tätern zu einer todbringenden Waffe umfunktioniertird.Die Gewährleistung der inneren Sicherheit ist zwarrundsätzlich Aufgabe der Länder. In besonderen Gefah-enlagen aber kann es im wahrsten Sinne des Wortes not-endig sein, dem Bund unmittelbar Kompetenzen zubertragen. Bei Angriffen aus der Luft dürfte es fast im-er der Fall sein, dass mehrere Länder betroffen sind.a bei dem Tempo und der Reichweite moderner Flug-euge territoriale Zuständigkeiten in wenigen Minuten,a in Sekunden wechseln können, ist eine Kompetenzes Bundes bei solchen Gefahrenlagen nicht nur sinn-oll, sondern auch dringend geboten. Gerade dann brau-hen wir schnelle Entscheidungsprozesse und kurze Re-ktionszeiten.Wir begrüßen auch, dass sich die Bundesregierungicht von den zum Teil wirklich haarsträubenden Argu-enten aus den eigenen Reihen gegen das Gesetz hat ir-itieren lassen.
Es gab zum Beispiel den Vorwurf, das sei eine Lizenzum Töten. Mit den Regelungen dieses Gesetzes aberollen Menschenleben gerettet werden.
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Wolfgang BosbachGegen einzelne Regelungen des Entwurfs sind von-seiten der Länder zum Teil erhebliche fachliche Beden-ken geltend gemacht worden. Auch die Unionsfraktionsieht an mehreren Stellen Korrekturbedarf. Das möchteich aber nicht weiter ausführen, zumal die KollegenClemens Binninger und Jürgen Herrmann hierzu nochsprechen werden.Der entscheidende Einwand gegen den Gesetzentwurfbesteht darin, dass gegen ihn erhebliche verfassungs-rechtliche Bedenken bestehen.
Der geplante Einsatz der Streitkräfte zur Abwehr vonGefahren aus der Luft dürfte ohne eine Änderung oderErgänzung des Grundgesetzes verfassungswidrig sein.Deshalb kann die Bundesregierung nicht erwarten, dasswir diesem Gesetz vorbehaltlos zustimmen. Gerade weilden Streitkräften mit diesem Gesetz sehr weit reichendeBefugnisse zur Abwehr von Gefahren bei Inlandstatenübertragen werden, ist es zwingend notwendig, ihrenEinsatz auf eine verlässliche Rechtsgrundlage zu stellen.Genau daran fehlt es.Durch ein einfaches Parlamentsgesetz kann dies je-denfalls dann nicht geschehen, wenn dessen Regelungenim Widerspruch zu unserer Verfassung stehen, und dasist der Fall. Diese Rechtsansicht wird im Übrigen auchvon elf der 16 Bundesländer im zuständigen Fachaus-schuss des Bundesrates ausdrücklich geteilt, im Proto-koll nachzulesen. Wer sagt, dass im Bundesrat keine ver-fassungsrechtlichen Bedenken erhoben wurden, sagtnicht die Wahrheit.Durch den Gesetzentwurf werden den Streitkräftenbei Inlandstaten eigene Befugnisse übertragen. Sie kön-nen aber nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nur zur Unter-stützung der Länderpolizeien eingesetzt werden. Es istunstreitig, dass dann die Entscheidungsgewalt dem je-weiligen Land obliegt und das Handeln der Streitkräfteim Rahmen der Amtshilfe den Länderpolizeien zuge-rechnet wird. Danach können die Streitkräfte im Rah-men der Amtshilferegelungen nur von den BefugnissenGebrauch machen, die ihnen durch das jeweilige Lan-desrecht eingeräumt werden. Der Gesetzentwurf sieht je-doch den Einsatz der Streitkräfte aus eigenem Recht vor,mit einer Entscheidungsgewalt des Bundesministers derVerteidigung und mittels bundesgesetzlicher Befugnisse.Damit überschreitet der Gesetzentwurf die Grenzen derAmtshilfevorschriften des Grundgesetzes.Gerade im Hinblick auf den extremen Fall, in dem eingekapertes und zu einer tödlichen Angriffswaffe um-funktioniertes Flugzeug nur noch durch die Luftwaffezur Umkehr oder zur Landung gezwungen oder durchAbschuss zum Absturz gebracht werden kann, dürfensich weder dem Inhaber der Befehlsgewalt noch denAusführenden offene rechtliche Fragen stellen.
Gerade diejenigen, die in einer solchen Extremsituationdie Verantwortung tragen, haben einen Anspruch darauf,auf einer sicheren Rechtsgrundlage zu entscheiden undzaevdGrnwdaBnsfSrVw–k–zfdaPmGhJlügznESldzUGGVSGR
mgangssprachlich formuliert: Wir biegen uns dasrundgesetz zurecht und tun einfach mal so, als ob deresetzentwurf dem Grundgesetz entspräche. Das isterfassungsrecht à la Wowereit.
o darf man mit unserem Grundgesetz nicht umgehen.Selbst die Vertreter der „Das ist doch alles vomrundgesetz gedeckt“-Theorie bestreiten nicht, dass ihreechtsansicht streitig ist. Aber gerade in extremen
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Wolfgang BosbachSituationen, in denen in kürzester Zeit weitreichendeEntscheidungen mit möglicherweise schwerwiegendenFolgen getroffen werden, darf es keine schwerwiegen-den rechtlichen Zweifel geben.
Die Verantwortlichen müssen sich darauf verlassenkönnen, dass ihr Handeln verfassungskonform ist. Fürdiejenigen, die die Entscheidung über die Alternativentreffen müssen, geht es um eine Entscheidung über Le-ben und Tod. Jede Entscheidung kann fatal falsch sein.Es kann fatal falsch sein, ein Flugzeug zum Absturz zubringen, und es kann fatal falsch sein, es nicht zum Ab-sturz zu bringen. Wenn etwas passiert, wird selbstver-ständlich zu prüfen sein, ob der Befehl rechtmäßig erteiltworden ist. Wollen wir denn auch die Entscheidung die-ser Frage dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruheüberlassen?
Was spricht dagegen, ins Grundgesetz zu schreiben, wasSie angeblich selber wollen? Nichts spricht dagegen.
Wahrscheinlich kommt jetzt gleich wieder die Be-hauptung, der Union gehe es in Wahrheit nur darum, derBundeswehr generell Polizeiaufgaben zu übertragen.
Zwar wird diese falsche Behauptung auch durch stän-dige Wiederholung nicht richtig; aber wer in der Sacheselbst keine Argumente hat, erliegt eben der Versuchung,gegen Forderungen zu polemisieren, die überhaupt nie-mand erhebt.Deshalb noch einmal zum Mitschreiben: Niemand inder Union denkt daran, der Bundeswehr peu à peu Poli-zeiaufgaben zu übertragen. Niemand denkt daran, sie zueiner Art zweiten Bereitschaftspolizei zu machen, zumalja nicht nur die Aufgaben, sondern auch Ausrüstung undAusbildung von Polizisten und Soldaten völlig verschie-den sind. Aber mittlerweile müsste eigentlich jedem klarsein, dass sich die traditionelle, in der Vergangenheit gutbegründete, scharfe Trennung von äußerer und inne-rer Sicherheit nicht mehr aufrechterhalten lässt. DieGrenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit ver-schwimmen angesichts der terroristischen Bedrohungenimmer mehr. Hierauf müssen sich sowohl der Gesetz-geber als auch die Sicherheitsbehörden in geeigneterWeise einstellen, um entsprechend reagieren zu können.Hierfür ist der vorliegende Gesetzentwurf ein gutes Bei-spiel. Er dient ja gerade dazu, die Einsatzkompetenz derBundeswehr zur Abwehr von Gefahren bei Inlandstatenzu begründen.Es kann nicht richtig sein, dass wir die Bundeswehraußerhalb des Verteidigungs- und Spannungsfalles auchdann nicht zum Schutz ziviler Objekte, also zum Bei-szouwsaogtndswwnmawseaafddsdnGsdsdBGli
bwohl wir eine ganz konkrete Gefährdungslage habennd die Polizeien der Länder und des Bundes diese not-endige Aufgabe nicht mehr übernehmen können, weilie aufgrund der besonderen Gefährdungen schon jetztn ihre Grenzen stoßen. Es stellt sich da nur die Frage,b wir die Bevölkerung schutzlos lassen oder nicht. Unseht es darum, die Bundeswehr zur Abwehr terroris-ischer Gefahren auch dann im Inland einsetzen zu kön-en, wenn nur sie über diejenigen Fähigkeiten verfügt,
ie dringend gebraucht werden, um die Bevölkerung vorchweren Folgen schützen zu können. Das gilt beispiels-eise für die Abwehr von ABC-Gefahren. Wir habeneltweit die besten ABC-Abwehrkräfte. Es kann dochicht sein, dass wir sie, um den Bundesverteidigungs-inister zu zitieren, am Hindukusch einsetzen können,ber nicht in Hildesheim, wenn dort eine Gefahr abzu-enden ist. Das macht doch keinen Sinn.
Es wäre verantwortungslos, die Bevölkerung in einerolchen Situation nur deshalb schutzlos zu lassen, weils für den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehrn einer sicheren Rechtsgrundlage fehlt. Hierbei darf esuch nicht darauf ankommen, ob die terroristische Ge-ahr vom Boden, von See her oder aus der Luft droht.Wir sind zu jeder Zeit bereit, über die notwendige Än-erung bzw. Ergänzung des Grundgesetzes mit der Bun-esregierung und mit der Koalition ernsthaft und kon-truktiv zu verhandeln. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sieieses Angebot annehmen oder nicht. Sollte ein Einver-ehmen nicht erzielbar sein, werden wir einen eigenenesetzentwurf einbringen. Es ist nicht nur unser Recht,ondern es ist angesichts der terroristischen Gefahren,ie vom Bundesinnenminister richtigerweise regelmäßigehr wortreich beschworen werden, auch unsere Pflicht,
ie Bevölkerung so wirksam wie möglich zu schützen.
Ich erteile das Wort Silke Stokar von Neuforn,ündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mög-chkeit eines terroristischen Angriffs mit einem entführten
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Silke Stokar von Neufornzivilen Flugzeug ist seit dem 11. September 2001 keineFiktion mehr, sie ist brutale Realität. Wir können nichtmehr ausschließen, dass Deutschland Ziel eines ähnli-chen Terrorangriffs werden könnte. Wir tragen die Ver-antwortung; wir müssen uns dieser Realität stellen. Wirmüssen die Voraussetzungen dafür schaffen, möglicheGefahren von den Bürgerinnen und Bürgern abwendenzu können.In intensiven Beratungsrunden haben wir die hiereben von Herrn Bosbach angesprochenen verfassungs-rechtlichen Fragen, die sich insbesondere aus den §§ 13und 14 ergeben, geprüft. Meine Damen und Herren, wirwürden als grüne Fraktion – das Gleiche gilt für die SPDund für die Bundesregierung – nicht hier vor das Parla-ment treten und Ihnen ein Gesetz vorlegen, wenn wirZweifel hätten, dass dieses Gesetz verfassungsgemäß ist.Nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung derVerfassungsreferate aller Ministerien und weiterer Ver-fassungsrechtler sind wir zu der Auffassung gelangt,dass das Gesetz verfassungsgemäß ist. Wir sehen keiner-lei Veranlassung, in Zusammenhang mit dem Luftsicher-heitsgesetz über eine Verfassungsänderung zu diskutie-ren. Ich sage es ganz deutlich: Jede Klarstellung, jedeErgänzung würde eine Änderung unseres Grundgesetzesnach sich ziehen. Unser Grundgesetz ist klar;
das Luftsicherheitsgesetz ist verfassungskonform.
Der Einsatz der Luftstreitkräfte ist die Ultima Ratio;er ist beschränkt auf den Fall, dass ein Flugzeug von Ter-roristen entführt und als „fliegende Bombe“ gegen dasLeben am Boden eingesetzt wird, erfolgt also nur, wenner das einzige Mittel ist, um eine schwerwiegende Ge-fahr für das Leben einer Vielzahl von Menschen abzu-wenden.Meine Damen und Herren, wir schaffen mit diesemdeutschen Luftsicherheitsgesetz – der Herr Innenminis-ter hat es gesagt – auch nichts gänzlich Neues. Bei einemAngriff von außen – wenn etwa ein Flugzeug in Parisstartet und in den deutschen Luftraum eindringt – istschon heute nach Art. 115 a des Grundgesetzes die Zu-ständigkeit der Bundeswehr im Luftverkehr gegeben.Außerdem gibt es eine entsprechende NATO-Verord-nung. Die meisten europäischen Länder haben diese Mi-litärverordnung übernommen. Es gibt eine Regelungslü-cke lediglich bei deutschen Inlandsflügen.Meine Damen und Herren, ich komme zu einigenweiteren Aspekten des Luftsicherheitsgesetzes. Ich gehedavon aus, dass wir uns einig sind, dass wir präventiv al-les tun müssen, dass der schlimmste Fall nie Wirklich-keit wird. Die Sicherheit in der Luft fängt am Boden an.Am Boden müssen wir präventiv tätig werden, um Kata-strophen in der Luft zu verhindern. Die Zustimmung zuden erweiterten Kontrollen, Zuverlässigkeitsprüfungenund neuen Dateien ist uns nicht leicht gefallen. Um aberim Vorfeld zu verhindern, dass es zu einer Katastrophekommt, haben wir diesen Regelungen zugestimmt.twawsZdgtvedstcFwudcahFvslddrnudvnhncukseB
Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Burgbacher, FDP-
raktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derorliegende Gesetzentwurf berührt außerordentlichchwierige politische und verfassungsrechtliche, vor al-em aber auch schwierige ethische Fragen.
Herr Bundesminister Schily, ich sichere Ihnen aus-rücklich zu: Die FDP-Fraktion wird ergebnisoffen iniesen Diskussionsprozess gehen. Wir sehen der Anhö-ung mit Spannung entgegen und erwarten, dass dabeiicht nur Verfassungsrechtler, sondern auch Luftfahrt-nd Luftsicherheitsexperten befragt werden. Auch inem Bereich der Luftsicherheit gibt es eine ganze Reiheon Problemen, die nach unserer Ansicht bisher nochicht gelöst sind.In einem weiten Bereich, was die Sicherheit an Flug-äfen, die Überprüfung von Passagieren und von Perso-al betrifft, sind wir uns weitgehend einig. Darüber brau-hen wir heute nicht zu diskutieren.Es gibt trotzdem viele Fragen und erhebliche Zweifelnd Bedenken bei der FDP-Fraktion, die ich trotz meinerurzen Redezeit ansprechen will. Der Bundesrat hat ineiner Stellungnahme gesetzestechnische Bedenkenrhoben, die nicht von der Hand zu weisen sind. Derundesrat hat moniert, dass die Verteilung der Rege-
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Ernst Burgbacherlungsbereiche auf das Luftverkehrsgesetz und das Luft-sicherheitsgesetz künftig den Überblick über die Rechts-materie erschwert. Dies ist auch unsere Meinung. Eswäre daher besser gewesen, Herr Innenminister, dasLuftsicherheitsgesetz auf den zentralen Regelungsge-genstand zu beschränken, nämlich auf die Frage des Ein-satzes der Luftwaffe.
Ein weitere Frage. Im Gesetz ist ständig von einerLuftsicherheitsbehörde die Rede. Es fehlen aber Infor-mationen zu dieser Behörde. Die Warnung des Bundes-rates vor Synergieverlusten wird in der Gegenäußerungder Bundesregierung nicht wirklich entkräftet.Wir erleben zurzeit in vielen Bereichen rot-grüner Po-litik, ganz besonders in der Innenpolitik: Es werden Be-hörden geschaffen, Behörden umbenannt, umstruktu-riert, Standorte verlagert, Stichwort: Verlegung desBKA, und es wird – dies ist ein weiteres Beispiel – dieErrichtung eines Bundesamtes für Bevölkerungsschutzund Katastrophenhilfe geplant.Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es nutzt unsnichts, wenn wir jetzt in blinden Aktionismus verfallen.
Das hat noch nie zur Lösung beigetragen, sondern hatdie Probleme eher verschärft.
Wir sollten die Mitarbeiter der Behörden jetzt nicht ver-unsichern und ihre Arbeitskraft verschwenden. Wir soll-ten sie vielmehr gerade in der heutigen Situation ermun-tern, damit sie ihre Arbeit in optimaler Weise verrichtenkönnen. Darum geht es heute. Deshalb, Herr MinisterSchily, fordere ich Sie eindringlich auf, sich auf dieseFragen zu beschränken und im Hinblick auf Ämter undBehörden nicht ständig neue Ideen in die Diskussion zubringen.Skepsis ist im Hinblick auf den zentralen Punkt desneuen Luftsicherheitsgesetzes angebracht, nämlich wennes um den Versuch geht, den Abschuss von Zivilflug-zeugen durch die Bundeswehr gesetzlich regeln zuwollen. Ich möchte einen Fachmann zitieren, nämlichden Geschäftsführer der dba, Hans Rudolf Wöhrl:In den seltensten Fällen dienen diese neuen Vor-schriften und Verordnungen der Sicherheit desFlugverkehrs, sondern nur der Sicherheit von Re-gierungen und Behörden, damit man sich im Falledes Falles von jeglicher Mitverantwortung freispre-chen kann.
AsüewendowfBdWwwLrhgBBdeläddSdnmLuLz
Wir müssen schon fragen – wir tun das auch in dernhörung –, welche praktischen Konsequenzen das Ge-etz hat.
Herr Minister, Sie haben den Fall des Sportflugzeugesber Frankfurt angesprochen. Hat man eigentlich jemalsrnsthaft darüber diskutiert, was die Alternative war undelcher Schaden hätte entstehen können? Was geschäheigentlich, wenn ein großes Zivilflugzeug aufgrund tech-ischer Schwierigkeiten, zum Beispiel durch den Ausfaller Bordelektronik, in die Nähe eines Kernkraftwerksder eines anderen hochsensiblen Bereichs gelangenürde und seitens der Behörden und der Politik als ge-ährliches Objekt eingestuft würde? Wer will hier denefehl zum Abschuss erteilen? Was ist mit dem Lebener Flugzeuginsassen? Wir müssen uns auch fragen:elche Alternativen gibt es? All das sind Fragen, dieir auf der Expertenanhörung stellen werden. Deshalberden wir Wert darauf legen, dass insbesondere auchuftfahrt- und Luftsicherheitsexperten befragt werden.Eine ganz große Skepsis verursachen die verfassungs-echtlichen und rechtspraktischen Aspekte bei uns. Eseißt unter dem Stichwort „Grundrechtseinschränkun-en“ in § 22 des Gesetzentwurfes:Die Grundrechte auf Leben, körperliche Unver-sehrtheit und Freiheit der Person … und das Grund-recht des Postgeheimnisses … werden nach Maß-gabe dieses Gesetzes eingeschränkt.ei uns schrillen die Alarmglocken. Ich warne mitenjamin Franklin:Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewin-nen, wird am Ende beides verlieren.Wenn die Bundesregierung entgegen unserer Tendenzabei bleiben sollte, statt allgemeiner Rechtsgrundsätzeine ausformulierte Gesetzesbestimmung für die Zu-ssigkeit des Abschusses von entführten Flugzeugenurchzusetzen, müssen wir über weitere kritische Frageniskutieren. Ich will in der Kürze der Zeit vier nennen:Erstens. Mit dem Abschuss eines Flugzeuges ist derchutz des Lebens dritter Personen beabsichtigt. Nur füriesen einzigen Zweck kann diese einschneidende Maß-ahme selbstverständlich überhaupt in Betracht kom-en.
ässt das Grundgesetz es aber wirklich zu, das Lebennschuldiger Flugzeuginsassen preiszugeben, um daseben Dritter zu retten? Art. 2 Abs. 2 des Grundgeset-es verbürgt jedem Menschen ohne Unterschied das
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Ernst BurgbacherGrundrecht auf Leben. Es stellt sich also die Frage, obeine Abwägung von Leben gegen Leben überhaupt ver-fassungsrechtlich zulässig ist.
Zweitens. In der Debatte wird gerne an die polizei-rechtlichen Bestimmungen zum finalen Rettungsschusserinnert. Dieser Vergleich passt aber überhaupt nicht.Der finale Rettungsschuss – etwa bei einer Geiselnahme –zielt darauf ab, den Täter an der weiteren Tatausübungzu hindern, das Opfer jedoch zu retten. Es besteht aberbei unserem Problem ein gewaltiger Unterschied zu denpolizeirechtlichen Bestimmungen zum finalen Rettungs-schuss. Denn beim Abschuss eines Flugzeuges trifft manmit Sicherheit nicht nur die Täter, sondern bewusst undunvermeidlich auch die Opfer.Drittens. Im Strafrecht ist durch ständige Rechtspre-chung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass keinrechtfertigender Notstand vorliegt, wenn ein Mensch ge-tötet wird, um einen anderen zu retten.
In diesen Fällen nimmt der Bundesgerichtshof eben ge-rade keinen Rechtfertigungsgrund an, sondern nur einenSchuldausschließungsgrund.
Herr Ströbele, müssen nicht die praktischen Fälle, diehoffentlich nie eintreten werden, mit den Regeln desübergesetzlichen Notstands gelöst werden?
Nach der Kommentarliteratur ist ein Rückgriff des Staa-tes auf diese allgemeinen Grundsätze in außerordentli-chen Fragen durchaus zulässig.Viertens. Selbstverständlich sind wir als FDP bereit,noch einmal die Frage zu thematisieren, ob die Amtshil-fevorschrift des Grundgesetzes, Art. 35, ausreicht, umeinen Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu erlauben.Wir neigen bisher zu der Auffassung, dass es der Polizeinach Art. 35 gestattet ist, die Bundeswehr zu Hilfe zu ru-fen. Dies setzt einen schwerwiegenden Unglücksfall vo-raus. Ob ein terroristischer Angriff unter die Definitiondes Unglücksfalls zu rechnen ist, muss noch einmal erör-tert werden.
Ich komme zum Schluss. Es gibt Situationen, dieunkalkulierbar sind und bleiben werden. Zu Recht gibtder Standardkommentar zum Strafgesetzbuch vonDreher/Tröndle zu bedenken:Es gibt Güterkollisionen, die sich einer exakten le-gislatorischen Beschreibung entziehen.acdfrsSHWddaWhmsZdvOHvghnnfvFdsFzdKhlL
Hierfür hat die deutsche Rechtsordnung seit langemllgemeine Grundsätze entwickelt. Möglicherweise rei-hen die Regeln für „Notstand“ und „Nothilfe“ aus, umie im Einzelfall erforderlichen Entscheidungen zu tref-en. Mit diesen politischen, ethischen und verfassungs-echtlichen Fragen werden wir uns sehr ernsthaft zu be-chäftigen haben.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Frank Hoffmann,
PD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebererr Burgbacher, mir ist aufgefallen, dass Sie sehr vielert auf den Aspekt der Wirtschaft gelegt haben. Ichenke, dass es darum geht, die Wirtschaft bei der Lösunger Sicherheitsfragen mitzunehmen.
Bundesminister Schily hat angesprochen, dass esuch um das Engagement und das Eigeninteresse derirtschaft gehe. Ich will gerade in diesem Zusammen-ang sagen: Sicherheit geht uns alle an. Sicherheit kannan nicht beim Staat abladen. Staat, Wirtschaft und Pas-agiere können alle zur Sicherheit beitragen.Herr Burgbacher, ich möchte auf das Argument derersplitterung der Regelungsbereiche eingehen. Ichenke, mit der Zusammenfassung der Luftsicherheits-orschriften in einem Gesetz – wie Bundesministertto Schily gesagt hat: durch „Luftsicherheit aus einerand“ – tun wir genau das Richtige. Ich bin auch da-on überzeugt, dass wir mit dem neuen Luftsicherheits-esetz, unter Anpassung an die europäische Luftsicher-eitsverordnung, den Standard in den Ländern Europasochmals heben werden. Ich möchte ferner daran erin-ern, dass die Ausdehnung der Zuverlässigkeitsüberprü-ungen im Luftverkehr Sicherheitslücken schließt.Wir sind davon überzeugt, dass die Gewährleistungenon Sicherheit, nicht in der Luft beginnt, auch nicht auf denlughäfen, sondern bei der allgemeinen Gefahrenabwehrurch die Polizei. Der tatsächliche Schwerpunkt bei die-em Luftsicherheitsgesetz liegt deswegen nicht in derrage, ob man ein Flugzeug im Notfall, wenn es die ein-ige Möglichkeit ist, abschießen darf oder nicht, sondernarin, dass auf dem Boden – bei der Überwachung, derontrolle – alles getan wird. Unser Leitsatz lautet des-alb: Flugzeugentführungen werden am Boden ermög-icht oder verhindert. Genau das steht im Mittelpunkt desuftsicherheitsgesetzes: schärfere Kontrollen an Flughä-
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Frank Hofmann
fen und schärfere Überprüfung von Personen, die aufdem Flugplatzgelände arbeiten.Daneben ist bereits seit dem 1. Oktober 2003 inKalkar das Nationale Lage- und Führungszentrum alszentrales Koordinierungselement im Einsatz. Dort sindbereits Soldaten, BGS-Beamte und Mitarbeiter der Flug-sicherung tätig, um Tag und Nacht die Luftsicherheits-lage zu beurteilen. Ebenso wenig wie über dieses Lage-zentrum wird in der Öffentlichkeit auch darüberdiskutiert, wo die tatsächlichen Schwerpunkte liegen.Diskutiert wird vielmehr – das haben Sie auch angespro-chen, Herr Burgbacher –, ob der Staat anordnen darf,dass entführte Flugzeuge, die wie am 11. September2001 als Waffe benutzt werden, abgeschossen werden,obwohl dadurch auch unschuldige Passagiere zu Todekämen.Wir machen es uns nicht leicht und wir haben es uns auchnicht leicht gemacht und bereits lange über diese Frage dis-kutiert. Es geht nicht nur um die rechtliche Dimension, esgeht auch um die moralisch-ethische Dimension.
Wir wissen, dass der vorliegende Vorschlag eine neueQualität hat. Aber kann der Staat in Entführungsfällen,bei Bedrohungen aus der Luft durch Terroristen, sagen:„Ich handle nicht“? Reichen die allgemeinen Grundsätzedes deutschen Rechtssystems für den Abschuss von ent-führten Flugzeugen aus, wie die FDP – Herr Burgbacherhat das eben noch einmal bestätigt – meint? Ich möchtedas mit einem entschiedenen Nein beantworten. DerDeutsche Bundestag würde sich aus der Verantwortungstehlen. Wir dürfen die Piloten nicht alleine lassen; siebrauchen eine sichere Rechtsgrundlage.
Wir geben ihnen eine klare gesetzliche Grundlage. Dafürstehen dann der Verteidigungsminister und, nicht zu ver-gessen, auch der Innenminister – deren Einvernehmenist nämlich, soweit es geht, herzustellen – in der politi-schen Verantwortung. Nicht nur das – sie stehen auch inder moralischen Verantwortung und müssen es auch mitihrem Gewissen vereinbaren. Versetzen wir uns docheinmal in die Lage: Lassen wir einmal an uns heran, wiees sich anfühlen muss, wenn wir entscheiden müssten,ob ein mit Passagieren voll besetztes Flugzeug vomHimmel geholt werden muss, um Schlimmeres zu verhü-ten! Stellen Sie sich die Gewissensqual vor, in der sichdie Verantwortlichen befinden! Wenn man sich diemenschlichen und persönlichen Konsequenzen einer sol-chen Entscheidung einmal klar vor Augen hält: Grenztes dann nicht auch fast an Unzumutbarkeit, einem Mi-nister dies abzuverlangen?Wenn man an diesem Punkt angelangt ist, dann istklar: Diese Verantwortung darf nicht auf den Piloten alsdas letzte Glied in der Entscheidungskette abgeschobenwerden. Hier hat der Gesetzgeber zu handeln und dieMinister haben die Verantwortung zu übernehmen –auch wenn sie fast unerträglich ist. Hängt damit nun dasLeben eines Passagiers, der in ein Flugzeug steigt, vonder Nervenstärke und den prognostischen Fähigkeitendes jeweiligen Verteidigungsministers ab? – Nein. WennHezkssgefedCemDddmCdDWmgttGdGdunaKzrBMcds
azu sagen wir entschieden Nein.
ir wollen auf keinen Fall Tür und Tor für einen allge-einen Einsatz der Bundeswehr im Innern öffnen. Esibt gute Gründe, nicht die gesamte Sicherheitsarchitek-ur zu ändern. Wir werden uns im Rahmen der bewähr-en Sicherheitsarchitektur bewegen können, ohne dasrundgesetz umfassend ändern zu müssen. Die Votener Verfassungsressorts BMI und BMJ zeigen: Einerundgesetzänderung ist nicht erforderlich.Ich weiß aus den vielen Vorgesprächen und auch ausen Reden, die hier schon gehalten wurden, dass dies beins Innenpolitikern strittig ist. Ich schlage vor, in derächsten Innenausschusssitzung eine Sachverständigen-nhörung zu beschließen, damit wir das Gesetz zügig inraft treten lassen können – zum Schutz der Piloten,um Schutz der Passagiere und zum Schutz der Bevölke-ung.Danke.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Clemens
inninger, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!eine Damen und Herren! Unsere Gesellschaft ist si-her nirgendwo so leicht zu verwunden wie im Bereicher zivilen Luftfahrt. Flugzeuge, die als Waffen einge-etzt werden, sind ohne Frage eine der größten Gefahren,
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Clemens Binningerdie uns drohen – erst recht, seitdem wir wissen, dass dieChefplaner des 11. September – zwischenzeitlich beidefestgenommen – ursprünglich auch Atomkraftwerke alsZiele im Visier hatten.Ich glaube, wir sind uns darüber einig, dass wir allestun müssen, um solche Anschläge zu verhindern.Hierzu gehören Maßnahmen am Boden genauso wieMaßnahmen in der Luft. Das Luftsicherheitsgesetz be-fasst sich mit beiden Dingen. Es regelt Sicherheitsüber-prüfungen und die Einrichtung einer Luftsicherheitsbe-hörde – darüber kann man gewiss geteilter Meinungsein –, vor allen Dingen aber den Einsatz der Bundes-wehr, der Luftwaffe, im Innern. Das macht Sinn, weilletztendlich nur die Luftwaffe über die personellen undtechnischen Möglichkeiten verfügt, Gefahren aus derLuft abzuwehren.Dieses Gesetz aber ohne verfassungsrechtlicheGrundlage vorzulegen, ist wirklich völlig inakzeptabel.
Herr Minister Schily, während manche Ihrer Kabinetts-kollegen zu viele Berater haben, haben Sie nach meinemEindruck zu wenige.
Wer in einem Gesetz erlaubt – das ist die bittere Wahr-heit –, dass eine zivile Verkehrsmaschine mit vielen un-schuldigen Menschen an Bord im schlimmsten Falle ab-geschossen werden kann, der kann doch nicht sagen:Das ist von der Verfassungslage gedeckt.Sie wissen ganz genau, dass Art. 35 Abs. 1 – dieAmtshilfe – hier nicht greift, weil die Bundeswehr eineständige eigene Aufgabe übertragen bekommt. Sie wis-sen, dass Art. 35 Abs. 2 und 3 nicht greifen können, weilder dort geforderte Unglücksfall bei einem entführtenFlugzeug gerade noch nicht eingetreten ist. Sie wissenauch, dass sich die Bedrohungslage verändert hat, dassdie Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit heutzu-tage verschwimmen. Die Väter unserer Verfassungkonnten diesen Fall noch gar nicht im Blick haben, alssie Abs. 2 und 3 einführten. Die Behauptung, die Verfas-sung decke das ab, ist völlig unglaubwürdig. Das nimmtIhnen niemand ab.
In diesem Zusammenhang hilft vielleicht ein Kom-mentar aus der „Stuttgarter Zeitung“ zu diesem Luftsi-cherheitsgesetz. Er beschreibt in zwei Worten sehr tref-fend, wie man sich hier darum drückt, die Verfassung zuändern: „Chaotisch“ und „blamabel“ heißt es in diesemKommentar.
Man muss sagen: Die „Stuttgarter Zeitung“ hat in die-sem Fall wirklich Recht.Über die Gründe, warum Sie sich mit einer Verfassungs-änderung so schwer tun, kann man nur spekulieren. Dennwir wissen, dass sich sowohl Minister Schily als auch Mi-nister Struck einer Verfassungsänderung bzw. -klarstellung–ekleshshGAiMWzWNkwDÄ–lusgHdskwdmJZnW
Warum geht es trotzdem nicht vorwärts? Die Gründeierfür sind bei Ihrem Koalitionspartner, den Grünen, zuehen. Sie wissen ganz genau, dass Sie mit diesem Vor-aben wieder einmal an Ideologien rütteln, wozu dierünen aber nicht bereit sind.
ber, Frau Stokar von Neuforn, die derzeitige Situationn diesem Land ist doch niemandem mehr zu vermitteln.
ittlerweile setzen wir die Bundeswehr auf der ganzenelt ein, um Gefahren aus der Luft oder von der See ab-uwehren und um ABC-Schutz zu betreiben.
ir setzen die Bundeswehr auf der ganzen Welt ein.ur im eigenen Land, zum Schutz der eigenen Bevöl-erung, dürfen wir das nicht tun. Das wollen Sie dochohl niemandem erzählen. Das ist völlig inakzeptabel.eshalb brauchen wir hier eine verfassungsrechtlichenderung.
Nein, dafür besteht keine verfassungsrechtliche Rege-ng.Sie wissen, dass eine solche Regelung, wenn wir siechaffen würden, an den Grundfesten Ihrer Auffassun-en rütteln würde. Aber hier habe ich doch noch etwasoffnung. Denn wer die Bundeswehr, so wie Sie vonen Grünen, in zahlreiche militärische Einsätze ge-chickt hat und wer auch keine Hemmungen hat, Atom-raftwerke nach China zu verkaufen, der wird irgend-ann auch dann in der Realität ankommen, wenn es umen Schutz der eigenen Bevölkerung geht. Da bin ichir sehr sicher.
Wenn das, was in der „taz“ vom November letztenahres zu lesen war, stimmt, nämlich dass Sie sich Ihreustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf im Kabi-ett dadurch haben erleichtern lassen, dass Sie Ihrenunschkandidaten für die Position des Bundesbeauf-
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Clemens Binningertragten für den Datenschutz durchsetzen konnten, dannsagt das alles über Ihr Verständnis von Sicherheitspoli-tik.
Herr Kollege Ströbele, Sie haben auch ein seltsamesVerfassungsverständnis,
wenn Sie hier heute sagen, dass alle Regelungen von derVerfassung gedeckt sind.
In der letzten Sitzungswoche waren es die Grünen, dieunseren Antrag auf die Erweiterung der Erfassung desgenetischen Fingerabdrucks mit Hinweis auf die Verfas-sung und den Datenschutz abgelehnt haben,
weil ihnen der Datenschutz von Sexualstraftätern wichti-ger war als der Schutz möglicher Opfer vor Sexualstraf-taten.
Aber heute wären Sie bereit, einem Gesetzentwurf zuzu-stimmen, der den schwersten nur denkbaren Grundrechts-eingriff beinhaltet, ohne dass es dafür eine Verfassungs-grundlage gibt.
Dazu ist nur ein Wort zu sagen: scheinheilig.
Inhaltlich sind wir uns bei diesem Gesetzentwurf– das klang vorhin bereits an – in einigen Punkten, viel-leicht sogar in wesentlichen, durchaus einig.
Aber wir brauchen Verfassungsänderungen. Das einzige,was uns heute hier weiterhilft, sind klare Aussagen vonRot-Grün: Sind Sie bereit, diesen Weg mit uns zu gehen?
Sind Sie bereit, mit uns über diese Verfassungsänderun-gen zu reden?
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ur wenn Sie dazu bereit sind, macht es Sinn, weiterhinber diese Thematik zu reden. Wenn Sie nicht dazu be-eit sind, dann ist der vorliegende Gesetzentwurf desuftsicherheitsgesetzes das Papier, auf dem er steht,icht wert.Wir werden gespannt sein, welche Argumente Sie da-ür anführen werden, dass doch schon alle Regelungenurch die Verfassung gedeckt sind. Ich habe es vorhinngesprochen: Hier helfen weder Art. 35 Abs. 1 nochie Abs. 2 und 3 als Rechtsgrundlage weiter.
ie erfassen die diesbezüglichen Fälle nicht. Den Ab-chnitt über den Einsatz der Bundeswehr in diesem Ge-etzentwurf auch noch mit dem Wort „Amtshilfe“ zuberschreiben ist von jeglicher Realität wirklich weiteg. Es ist gerade keine Amtshilfe, wenn hier die Luft-affe ständig eigene, neue Aufgaben übertragen be-ommt.
Ja, aber hierbei handelt es sich überhaupt nicht ummtshilfe. Das Wesen der Amtshilfe, Herr Kollegetröbele, besteht doch darin, dass eine Dienststelle, dieigentlich nicht zuständig ist, in einem Ausnahmefall he-angezogen wird, weil sie über bestimmte Möglichkeitenerfügt, um die Lage besser zu bewältigen.Die Regelung, die Sie in Ihrem Gesetz vorsehen, istber genau das Gegenteil: Die Bundeswehr wird für denall, dass entführte Flugzeuge als Waffe eingesetzt wer-en, mit eigener Kompetenz und Entscheidungsgewaltetraut. Das ist alles, nur keine Amtshilfe mehr. Sie wer-en mir also zugestehen: Dies müssen wir ändern undrauchen deswegen von Ihnen eine klare Positionierung.lles andere hilft uns nicht weiter.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
bgeordneten Otto Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!ch glaube, es macht keinen Sinn, dass wir mit dieser De-atte die Anhörung des Innenausschusses gewissermaßen
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7892 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Otto Schilyvorwegnehmen. Herr Kollege Binninger, die Verve, mitder Sie Ihre Position vertreten, erweckt in mir den Ein-druck, dass Sie von dem, was Sie hier vertreten, nichtsonderlich überzeugt sind. Wenn das der Fall wäre, wür-den Sie Ihre Position anders vortragen und würden mitmehr Selbstvertrauen in die Anhörung gehen. Lassen Sieuns doch dort unsere Ansichten mit aller Sachlichkeitaustauschen.Ich bin im Übrigen der Meinung, wir sollten die De-batte nicht so sehr auf den Fall fokussieren, den HerrBurgbacher hier sehr eindrucksvoll geschildert hat.
Das ist in der Tat ein Thema, das viele moralische undrechtliche Fragen aufwirft. Klar ist: Denjenigen, der insolch einem Fall zu entscheiden hat, würde die Entschei-dung in eine wirklich äußerst schwierige Lage bringen.Kollege Peter Struck hat gesagt, dass eine solche Ent-scheidung, hätte er sie jemals zu treffen – ich hoffe, erwird niemals in diese Lage kommen –, das Ende seinerAmtszeit als Minister bedeuten würde. Man muss res-pektieren, wenn sich jemand so einlässt.Das Einzige, das feststeht, wie man in einem solchenFall zu handeln hat, ist, dass ein solches Vorgehen wirk-lich die Ultima Ratio sein muss und sein wird. Bei demTestfall, den wir in Kalkar vorgeführt haben, wurde dieMaschine nicht abgeschossen, sondern durch militäri-sche Mittel zur Landung gezwungen. Es gibt also eineAbstufung der Mittel. Deshalb spreche ich immer voneinem gestaffelten Abwehrsystem.
Wenn wir uns den Ablauf des 11. Septembers vor Augenführen und präzise durchdenken, was alles diesem Ereig-nis vorausgegangen ist, dann muss uns klar sein, dass dieAbwehrmechanismen dort anzusetzen sind, damit eineEntführung von vorneherein verhindert wird. Kurz vordem Eindringen der Flugzeuge in das World Trade Cen-ter und in das Pentagon hätte man nicht mehr eingreifenkönnen, man hätte mit militärischen Mitteln nichts mehrausrichten können.Ich bitte Sie also darum, diesen Extremfall auch alseinen Extremfall anzusehen. Aber dennoch haben dieSoldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einen An-spruch darauf – das war unsere gemeinsame Überzeu-gung; ich hoffe, es ist sie auch jetzt noch –, dass wir diegrößtmögliche Transparenz hinsichtlich der rechtlichenGrundlagen herstellen. Deswegen wäre ich Ihnen sehrdankbar, wenn wir diese Debatte mit der gebotenenSachlichkeit und, Herr Bosbach, meinethalben auch mitder notwendigen Dynamik führen.Aber es ist erforderlich, dass wir aufeinander zuge-hen. In dieser Frage ist es notwendig, dass Konsens indiesem Hause besteht. Sie hat eine solche Dimension,dass man über sie nicht parteipolitisch diskutieren kann.Sie ist von solcher Tragweite, dass wir uns auf die sach-lichen Gesichtspunkte konzentrieren müssen.
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Es haben sich gleich zwei Kollegen angesprochen ge-
ühlt und möchten darauf reagieren. Zunächst Kollege
inninger und dann Kollege Burgbacher.
Herr Abgeordneter Schily, ich freue mich, dass meineede Sie dazu bewogen hat, zu erklären, dass wir unsber eine Verfassungsänderung, wozu wir eine klare Po-ition haben, Gedanken machen müssen. Ihre Ausfüh-ungen unterscheiden sich aber fundamental von dem,as kurz zuvor die Kollegin Stokar von den Grünen ge-agt hat. Sie hat nämlich gesagt, sie sehe überhaupt kei-en Bedarf, sich über Verfassungsänderungen Gedankenu machen. Das ist auch das Problem. Ich muss ja nichtuf die Punkte eingehen, bei denen Einigkeit besteht,ondern ich gehe auf den Punkt ein, bei dem der Dissensesteht.Der schwerwiegendste Punkt ist nun einmal die Ver-assungsänderung. Sie sind gesprächsbereit, weil auchie sehen, dass die Rechtsgrundlage, die durch die Ver-assung gegeben ist, offensichtlich nicht ausreichenann.
ie Grünen lehnen es strikt ab. Es gibt hier eine riesigeifferenz zwischen beiden Positionen. Das muss geklärterden. Deshalb bleibe ich dabei: Wir haben in der Ver-assung keine ausreichende Gesetzesgrundlage hierfür.ür einen solch schwierigen Fall, den Sie zu Recht alsolchen beschrieben haben und der hoffentlich nie ein-reten wird
natürlich steht es darin –, brauchen wir aber eine klareerfassungsrechtliche Grundlage.Ich möchte einmal einen kurzen Auszug aus denmpfehlungen der Ausschüsse des Bundesrates zumntwurf dieses Gesetzes zitieren:Der Gesetzentwurf begegnet hinsichtlich seiner Re-gelungen zum Einsatz der Streitkräfte der Gefahrenaus der Luft ... erheblichen verfassungsrechtlichenBedenken.lf Länder waren dieser Ansicht. Das heißt, wir solltenehr genau darüber reden.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7893
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Clemens BinningerEs wird aber Ihr und nicht unser Problem sein, dieGrünen von ihrer Position abzubringen oder es ohne dieGrünen mit uns zu machen. Wir sind dazu bereit.
Kollege Burgbacher, bitte.
Herr Kollege Schily, es ist als Vertreter einer kleinen
Fraktion, die nur wenig Redezeit zur Verfügung hat, im-
mer schwierig, entsprechende Schwerpunkte zu setzen.
Deshalb möchte ich noch einmal klarstellen – ich habe
es bereits in einem Satz gesagt –: Zwischen uns besteht
in sehr großen Bereich Konsens.
Natürlich geht es uns allen darum, solche terroristi-
schen Anschläge im Vorfeld zu verhindern. Alle Sicher-
heitsvorkehrungen auf Flughäfen, beim Personal und bei
den Passagieren, die möglich sind, müssen getroffen
werden. Das ist völlig unstrittig. Ich habe mich auf den
schwerwiegenden Fall konzentriert, weil ich glaube,
dass hier tatsächlich der Knackpunkt im Gesetzentwurf
ist. Es wird die Frage auftauchen, ob die bisherigen Re-
gelungen im Gesetz wirklich ausreichen oder ob wir
weitere Maßnahmen brauchen. Eine andere Frage, die
uns ebenfalls wirklich bewegt, lautet: Was sind die
Grundlagen für den Verteidigungs- und den Innenminis-
ter, wenn wir dieses Gesetz verabschieden? Ich glaube,
das sollten wir alle miteinander mit großem Ernst disku-
tieren. Würde die Schwelle nicht ein Stück weit gesenkt
werden, wenn der Minister Instrumente an die Hand be-
käme, die er bisher nicht hatte? Kann das nicht sogar
dazu führen, dass er in einer bestimmten Phase fast dazu
genötigt wird, etwas zu tun? Über diese Fragen müssen
wir diskutieren.
Ich möchte noch einmal betonen: Wir als FDP-Frak-
tion diskutieren intern darüber und gehen ergebnisoffen
in die Anhörung. Diese neuen Erfordernisse, die auf uns
alle zukommen, bedürfen neuer Antworten. Man muss
einiges überdenken. Wir sind aber nicht bereit, gewisse
Grundsätze über Bord zu werfen. In diesem Spannungs-
feld werden wir das diskutieren.
Nun erteile ich Kollegen Christian Ströbele, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Burgbacher, in diesem Gesetz findet sich
gerade keine Regelung für den Abschuss eines Flugzeu-
ges, das mit Passagieren besetzt ist, die überhaupt keinen
Bezug zu einem terroristischen Anschlag haben. Diese
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Ja, natürlich.
Herr Kollege Ströbele, sind Sie bereit, zur Kenntnisu nehmen, dass in § 14 Abs. 3 dieses Entwurfs Folgen-es formuliert ist:Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt istnur zulässig, wenn nach den Umständen davon aus-zugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Lebenvon Menschen eingesetzt werden soll, …timmen Sie mir zu, dass durch diese Formulierung dienmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt – im Klar-ext: der Abschuss eines Flugzeuges – möglich ist, selbstenn dieses Flugzeug nicht nur mit einem Täter, son-ern auch mit unschuldigen Passagieren besetzt ist?Das führt zu einem unglaublich schwierig zu lösen-en Problem, weil Art. 2 des Grundgesetzes ohne Wennnd Aber jedem, auch dem unschuldigen Passagier anord eines solchen Flugzeuges, das Grundrecht auf Le-en garantiert. Wenn man nun versucht – natürlich in gu-er Absicht –, eine Lösung herbeizuführen, um das Le-en Dritter zu retten, führt dies zu einem unauflösbarenilemma, weil man nicht Leben gegen Leben abwägenann.Stimmen Sie mir zu, dass es aus dieser Ausgangslageeraus sehr wohl erörternswert ist, ob der Staat nichtarauf verzichten muss, ein unlösbares Dilemma gesetz-ich zu normieren, sodass im Einzelfall eine unumgäng-iche Entscheidung nach allgemeinen Grundsätzen zureffen ist?
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7894 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Herr Kollege, ich stimme Ihnen in allen Punkten zu,die Sie genannt haben. Dieses Dilemma gibt es in derTat. Der Staat – das war für mich eine der Antriebsfe-dern, warum wir die Regelung so und nicht anders ge-troffen haben; es gab dazu andere Vorschläge – kann undsoll aufgrund der verfassungsrechtlichen und menschli-chen Überlegungen, die Sie angesprochen haben, fürdieses Dilemma keine gesetzliche Regelung treffen.
Dazu – darin stimme ich mit Ihnen nicht überein –findet sich für diesen Fall keine Regelung. Was durchWaffengewalt bewirkt wird, hängt von dem jeweiligenEinzelfall ab. Wenn die Möglichkeit besteht – der Innen-minister hat es angeführt –, könnte dies eine Einwirkungsein, mit der das Flugzeug zur vorzeitigen Landung ver-anlasst wird.
Das könnte aber auch der Abschuss eines Flugzeugessein. Aber hier ist überhaupt nicht geregelt, ob und unterwelchen Gesichtspunkten diese Regelung angewendetwerden soll oder darf, wenn das Flugzeug nicht nur mitTätern, Beschuldigten oder Verdächtigen, sondern auchmit unbeteiligten Zivilisten besetzt ist.All das ist nicht geregelt. Das muss nach wie vor nachden normalen Kriterien entweder des übergesetzlichenNotstandes – wenn für staatliches Handeln auch überge-setzlicher Notstand Anwendung finden kann – oder nachden sonstigen Regelungen für Notstand und Nothilfeentschieden werden. Wir haben gerade nicht gesagt:Wenn soundsoviele Menschenleben in Gefahr sind, danndürfen durch unmittelbaren Einsatz von Waffengewalteine entsprechende Zahl von Menschen getötet wer-den. – Diese Abwägung wird dem Verteidigungsminis-ter, der hierüber zu entscheiden hat, durch das Gesetznicht abgenommen. Das bleibt nach wie vor eine Abwä-gung nach allgemeinen Regeln. Darauf lege ich ganzbesonderen Wert. Sie haben völlig Recht: Die Frage ist,ob der Gesetzgeber eine solche Regelung überhaupt tref-fen darf.Anders ist es bei dem so genannten finalen Rettungs-schuss.
Dazu steht in den einschlägigen Gesetzen, dass ein mitan Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlicherSchuss abgegeben werden darf, wenn bestimmte Voraus-setzungen erfüllt sind. Eine solche Festlegung haben wirin dem vorliegenden Gesetz nicht getroffen, weil da-durch – das haben mehrere Redner richtig gesagt – nichtnur Täter, sondern auch völlig Unbeteiligte in Gefahr ge-bracht werden. Diesen Konflikt kann und will das Ge-setz nicht regeln.Nun komme ich zu dem Kollegen Bosbach. Herr Kol-lege Bosbach, Sie haben ein etwas eigenartiges Beispielvon Dialektik gebracht, das etwas daneben war. Zu-nächst haben Sie erklärt, es sei eine Unterstellung, dassdIDsmABeIagIkbslehHidisfdreswzZgDRgplAdTgzGBvAgai
ch weiß nicht, wie das zusammenpassen soll.Unser Gesetz wird einen Einsatz der Bundeswehrusschließlich für Luftzwischenfälle regeln, nicht für ir-endetwas anderes. Sie wollen, dass die Bundeswehr imnneren in unendlich vielen Bereichen eingesetzt werdenann. Sie haben gesagt: auf dem Land, zu Wasser undei allen möglichen Gelegenheiten. – Das ist der Unter-chied zwischen der Union und der Koalition. Das wol-en wir nicht. Wir wollen nicht, dass die Bundeswehr zuinem Allzweckmittel bei der Bekämpfung von Sicher-eitsgefahren in der Bundesrepublik Deutschland wird.
Jetzt komme ich zu der verfassungsrechtlichen Frage,err Kollege Bosbach. Sie haben gesagt – das steht auchn einem Teil der Überschrift –, die Bundeswehr solle le-iglich im Wege der Amtshilfe für die Länder, das heißtnnerhalb des Kompetenzbereiches der Länder, einge-etzt werden. Das stimmt nur zum Teil. Das stimmt nurür den Fall des Art. 35 Abs. 2 Grundgesetz, nicht füren Fall des Art. 35 Abs. 3 Grundgesetz.Für den Fall des Art. 35 Abs. 3 hat die Bundesregie-ung nämlich ausdrücklich ein eigenes Recht – so stehts schon heute im Grundgesetz –, die Länder anzuwei-en. Das heißt, die Bundesregierung kann die Bundes-ehr gemäß Art. 35 Abs. 3 nach eigenem Recht einset-en, wenn es sich um einen länderübergreifendenwischenfall handelt. Aus diesem Grunde passt Ihre Ar-umentation überhaupt nicht auf den Art. 35 Abs. 3.enn das ist ein völlig anderer Fall. Wir wollen mit deregelung dieses Gesetzes der Bundeswehr und im Übri-en auch der Bundesregierung gerade nicht mehr Kom-etenzen geben, als das Grundgesetz heute schon zubil-igt.Deshalb haben wir sowohl den Abs. 2 als auch denbs. 3 des Art. 35 des Grundgesetzes ausdrücklich inas Gesetz geschrieben und darüber hinaus sogar eineneil des Wortlautes der beiden Grundgesetzbestimmun-en in das Gesetz übernommen, und zwar aus einem ein-igen Grund: um klar zu machen, dass wir mit diesemesetz nicht mehr Rechte an die Bundeswehr oder dieundesregierung geben wollen, als ihnen heute schonom Grundgesetz her zufallen. Deshalb kann es keineuseinandersetzung darüber geben, ob das verfassungs-emäß ist. Denn wir orientieren uns im Wortlaut genaun den Bestimmungen des Grundgesetzes. Dieses Gesetzst kein Gesetz, das den Abschuss von Passagierflug-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7895
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Hans-Christian Ströbelezeugen, die mit unschuldigen Menschen besetzt sind,rechtfertigen soll.
Dieses Gesetz ist lediglich ein Gesetz, das nach derbestehenden Rechtslage eine Zuständigkeit festlegt, da-mit sich nicht so etwas wie bei dem Zwischenfall inFrankfurt wiederholt, wo unterschiedliche Instanzen undBehörden sich darüber auseinander gesetzt haben, werfür die Entscheidung zuständig ist. Solche Fälle wollenwir klar regeln. In diesem Gesetz ist geregelt, dassgrundsätzlich die Zuständigkeit beim Bundesverteidi-gungsminister bzw. bei seinem Stellvertreter liegt. Die-ses Gesetz sagt eindeutig, dass wir keine Legitimationzum Abschuss unschuldiger Menschen in Passagierflug-zeugen erteilen wollen. Wir binden die Entscheidungvielmehr an die allgemeinen Rechtsgrundsätze und dieallgemeinen Abwägungsregelungen, an die sich selbst-verständlich der Bundesverteidigungsminister zu haltenhat.Deshalb ist das Gesetz so in Ordnung. Es regelt einenFall, der hoffentlich nie eintritt und bisher noch nie ein-getreten ist. Es ist völlig zu Recht darauf hingewiesenworden, dass auch der Anschlag vom 11. Septemberkein Beispiel war. Das Gesetz regelt einen bisher Gottsei Dank theoretischen Fall. Ich hoffe, dass diese Be-stimmung des Gesetzes nie angewendet werden muss.Ich denke, diese Bestimmung ist vertretbar und verfas-sungsgemäß. Das wird sich auch bei der Anhörung imRechtsausschuss erweisen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Wolfgang Bosbach.
Herr Kollege Ströbele, ich erkläre Ihnen das gerne
noch einmal. Die politischen Kontroversen leiden darun-
ter, dass sich die Argumentation gegen eine Behauptung
richtet, die niemand geäußert hat. Ich habe wortwörtlich
gesagt, dass es nicht darum gehen könne, der Bundes-
wehr sukzessive Aufgaben der Polizei zu übertragen. Ich
habe wörtlich gesagt, dass niemand daran denke, die
Bundeswehr in eine Art Bereitschaftspolizei umzuwan-
deln, und ich habe darauf hingewiesen, dass Ausbildung
und Ausrüstung von Soldaten und Polizisten grundver-
schieden sind.
Es geht um folgende Konstellation: Kann es richtig
sein, die Bevölkerung bei Inlandstaten, die mit militäri-
schen Mitteln geführt werden oder Folgen von militäri-
scher Wucht haben – wie am 11. September –, nur des-
halb schutzlos zu lassen, weil die Polizei erkennbar nicht
über die Mittel verfügt, diese Gefahr abzuwehren, und
die Bundeswehr nach geltendem Verfassungsrecht bei
Inlandstaten nicht zur Gefahrenabwehr im Inland einge-
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iemand denkt daran, die Artillerie gegen Ladendiebe
inzusetzen. Ich weiß, dass es in diesem Zusammenhang
in Verhetzungspotenzial gibt. Frau Kollegin Stokar hat
n einer anderen Debatte im Deutschen Bundestag über
ns gesagt, wir wollten die Armee gegen Bürgerkriegs-
lüchtlinge einsetzen. – Dieses Niveau ist nicht mehr zu
nterbieten.
Sie müssen die Frage beantworten, ob Sie in einem
olchen Fall, den wir uns alle nicht wünschen, die Bevöl-
erung schutzlos lassen oder ob Sie eine entsprechende
rundgesetzänderung durchführen wollen.
ine dritte Möglichkeit gibt es nicht.
Kollege Ströbele.
Herr Kollege Bosbach, waren die Väter und die weni-en Mütter des Grundgesetzes Ihrer Meinung nach soenig vorausschauend, dass die von Ihnen konstruiertenälle im Grundgesetz nicht geregelt worden sind? Wennie Art. 35 Abs. 2 noch einmal gründlich lesen, danntellen Sie fest, dass auch in genau solchen Fällen, in de-en die Mittel der Polizei nicht ausreichen – so ist dasefiniert –, das Land beim Bund und auch bei der Bun-eswehr Amtshilfe ersuchen kann.
Wenn nur ein Bundesland betroffen ist, dann ist auchas Landesrecht ausreichend. Dann können sich zumeispiel das Land Nordrhein-Westfalen oder das Landessen an die Bundesregierung und an das zuständigeinisterium wenden und mit dem Hinweis darauf, dassie eigenen Mittel nicht ausreichen, Amtshilfe erbitten.enn mehrere Bundesländer betroffen sind, dann bietet
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7896 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Hans-Christian Ströbeledas Grundgesetz schon heute der Bundesregierung dieMöglichkeit, für die Länder Entscheidungen zu treffen,ihnen Weisungen zu erteilen und dort Sicherheitskräfteeinzusetzen.Der Unterschied zwischen Ihnen und uns besteht da-rin, dass Sie ein solches neues Gesetz, das dann wohlnicht Luftsicherheitsgesetz heißen könnte, sondern ehereine Überschrift wie „Allgemeines Inlandseinsatzrechtfür die Bundeswehr“ tragen müsste – schließlich wollenSie seinen Geltungsbereich nicht auf Luftzwischenfällereduzieren oder konzentrieren; nur so ist es zu verstehen –,auf alle Bereiche ausdehnen wollen.
Wir achten die Regelungen des Grundgesetzes und wol-len sie im Gegensatz zu Ihnen weder ändern noch gar er-weitern. Insofern – das muss immer wieder betont wer-den – besteht ein grundsätzlichen Unterschied zwischenIhnen und uns.
Die Kollegin Stokar hat auch noch das Bedürfnis, auf
Ihre Ausführungen zu reagieren, Herr Bosbach. Das
nennt man Streuwirkung.
Wenn ich hier schon direkt angesprochen werde und
wenn wir entgegen dem Rat unseres Herrn Ministers
versuchen, tief greifende verfassungsrechtliche Fragen
im Rahmen von Kurzinterventionen zu klären, dann
möchte ich an Sie, Herr Kollege Bosbach, eine Frage
richten.
Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass unter Rot-Grün die
Berufsfeuerwehr und das Technische Hilfswerk mit so
exzellenten ABC-Schutzfahrzeugen – das gab es unter
Ihrer Regierung nicht – ausgerüstet worden sind, dass
alle Experten, mit denen ich gesprochen habe, der Über-
zeugung sind, dass diese Fahrzeuge für ABC-Einsätze
im Innern viel besser geeignet sind als die bei der Bun-
deswehr vorhandenen ABC-Spürpanzer, die für andere
Aufgaben konzipiert sind, und dass auch das dort tätige
Personal viel besser ausgebildet ist als das der Bundes-
wehr?
– Ich bitte Sie! Sie haben doch gerade behauptet, dass
wir von Rot-Grün – das weise ich hiermit mit aller Ent-
schiedenheit zurück – im Falle eines ABC-Angriffs
durch Terroristen unsere Bevölkerung schutzlos ließen.
Wir wollen jetzt die Zwiegespräche beenden.
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– Die Grundgesetzänderung muss her, auch wenn Siesich ständig mit Hilfsformulierungen begnügen wollen.
– Generell wollen wir diesen Einsatz nicht. Das ist dochschon heute Morgen so oft zum Ausdruck gekommen,dass wir es hier wohl nicht mehr zu erwähnen brauchen.Sie sollten den Kollegen vielleicht einmal zuhören! HerrBosbach hat sowohl in seiner Rede als auch in der Kurz-intervention gesagt, dass wir die Bundeswehr im Inlandnicht konsequent, sondern nur bei ganz bestimmten Sze-narien einsetzen wollen.
Aufgrund der rechtlichen Erfordernisse hat der ehe-malige Bundesverfassungsrichter Konrad Hesse mit gu-tem Grund gefordert, dass die verfassungsrechtlichenGrundlagen in besonderem Maße den Anforderungender Rechtsklarheit, der Verständlichkeit und der Über-sichtlichkeit genügen müssen. Ich meine, dass der Ent-wurf des Luftsicherheitsgesetzes diesem Anspruch nichtgerecht wird.
– Ja, das ist klar.
Kollege Herrmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege, Sie haben jetzt wieder das Beispiel
ABC-Schutz angeführt. Herr Bosbach wollte darauf
nicht eingehen. Können Sie der staunenden Bevölkerung
erklären, warum Sie 384 bestausgerüstete ABC-Spür-
fahrzeuge, die der Bund für den ABC-Schutz ausgelie-
fert hat und die im Wesentlichen von gut ausgebildeten
Feuerwehrleuten geführt werden, durch rund
17 Bundeswehrfahrzeuge mit gleicher, teilweise älterer
Technik ersetzen wollen, nur weil sie gepanzert sind?
Wie wollen Sie der Bevölkerung erklären, dass wir das
Grundgesetz nur wegen dieser Panzerung ändern müs-
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us genau diesem Grund sollten wir in einem Extremfallicht darauf verzichten, die Bundeswehr im Inland zumBC-Schutz einzusetzen.
Dass es hier um eine Grundgesetzänderung geht, dasat auch der Verteidigungsminister bereits im letztenahr erkannt und nicht erst, nachdem ein Flugzeug überer Frankfurter Skyline für Verunsicherung gesorgt hat.uch er begrüßte eine Grundgesetzänderung. Derundesminister hat noch im Oktober eingeräumt, „dassan über eine Klarstellung nachdenken kann“. Es ist be-auerlich, dass aus dieser Klarstellung ein Gesetzent-urf gebastelt wurde, dem gerade diese Klarheit fehlt.Der Innenausschuss des Bundesrates – das ist ebenchon angesprochen worden; Kollege Binninger ist da-auf eingegangen – hat sich ganz klar dafür ausgespro-hen, dass grundgesetzliche Änderungen vorgenommenerden müssen. Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen,ass sich SPD-geführte Bundesländer dieser Auffassungngeschlossen haben.Eine Anpassung wäre notwendig. Dies gilt insbeson-ere unter dem Gesichtspunkt, den bei der Bewältigungon so genannten Renegade-Fällen eingesetzten Ent-cheidungsträgern eine sichere gesetzliche Grundlage zuewähren. Das Nationale Lage- und Führungszentrum inalkar am Niederrhein – dort sind Soldaten, BGS-Be-mte und Mitarbeiter der Flugsicherung tätig – leistetierbei eine hervorragende Arbeit. Auch wenn der Rene-ade-Fall – hoffentlich – die Ausnahme bleibt, kann dieeleistete Arbeit nicht hoch genug bewertet werden.ehrere hundert Flugbewegungen gleichzeitig auf denildschirmen erfordern höchste Aufmerksamkeit.Durchschnittlich täglich sechs „Losscomms“ – eseht um Fälle, in denen der Funkkontakt von sich nä-ernden Flugobjekten für längere Zeit abgebrochen ist –eigen jedoch, wie schnell sich die Situation verändernann. Am Ende der möglicherweise eingeleiteten opera-iven Maßnahmen könnte der Abschuss eines mit vie-en hundert Passagieren besetzten und für einen terro-istischen Angriff gekaperten Ferienfliegers – das wäreür uns alle wohl der schlimmste Fall – stehen. Geradeeshalb wird es unser Anliegen bleiben, die an der
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7898 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Jürgen HerrmannEntscheidung Beteiligten mit ausreichenden und verfas-sungsrechtlich einwandfreien gesetzlichen Grundlagenauszustatten.Lassen Sie mich auf die von mir zuvor genanntenFallgruppen terroristischer Angriffe zurückkommen.Mit dem nun vorliegenden Luftsicherheitsgesetz wird le-diglich, mehr schlecht als recht, die Security am Himmelgeregelt. Die von mir zu Beginn genannten Fälle der ter-roristischen Bedrohung zu Wasser oder zu Lande werdennicht erfasst. Obwohl wir immer wieder über diese Sze-narien sprechen, haben Sie es hier versäumt, klareGrundlagen zu schaffen, die einen umfassenden Schutzder Bevölkerung gewährleisten. Es macht wenig Sinn,die eben genannten Fallgruppen auch noch in Einzelge-setzen regeln zu wollen. Dies würde bei der Arbeitsge-schwindigkeit der Koalition zu lange dauern.Ein sinnvoller Ansatz zur Bekämpfung terroristischerGefahren wäre die Einbindung von innerer und äußererSicherheit in ein Gesamtverteidigungskonzept beigleichzeitiger Umsetzung einer ressortübergreifendenSicherheitspolitik. Landesverteidigung und Heimat-schutz müssen viel stärker als bisher in Einklang ge-bracht werden, Sicherheitslücken müssen geschlossenwerden. Zu diesem Ergebnis ist man im Übrigen auchauf einer Fachtagung von Sicherheitsexperten am ver-gangenen Dienstag bei einer Veranstaltung der Bertels-mann-Stiftung gekommen. Eckart Werthebach, ehemali-ger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz,sprach sich in diesem Zusammenhang dafür aus, denSchutz der Bevölkerung vor terroristischen Anschlägenals Gemeinschaftsaufgabe in das Grundgesetz aufzuneh-men.
– Auch wenn das schon seit zwei Jahren gesagt wird: Ir-gendwann müssten Sie es einmal begreifen, damit wirdiese Dinge gemeinsam umsetzen können.
Neben der Stärkung der originär zuständigen Stellender Terrorismusbekämpfung sowie der zivilen Katastro-phenschutzbehörden und Hilfsdienste ist es zwingend er-forderlich, die zivil-militärische Zusammenarbeit im In-land wieder zu beleben. Hierbei sollten wir uns dieFähigkeiten der Bundeswehr zunutze machen, ohnegleich die Grundfeste der Demokratie gefährdet zu se-hen.In besonderen Gefährdungslagen, zum Beispiel imKatastrophenschutz oder bei der Abwehr und Bewälti-gung terroristischer Gefahren, muss die Bundeswehr mitihren spezifischen Fähigkeiten zur Unterstützung – wirk-lich nur zur Unterstützung – von Polizei und BGS er-mächtigt werden. Hierzu werden seitens der CDU/CSU-Fraktion in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat – Kol-lege Bosbach hat das schon angesprochen – demnächstentsprechende gesetzliche Regelungen auf den Weg ge-bracht.Lassen Sie mich zum Abschluss jedoch eines feststel-len: Unserer Fraktion liegt es fern, der BundeswehrKkhsddsPsruTkSdgsndznrdKsf2tfdds1nbn2tsbf
Sie wissen, dass Ihr Gesetz zudem eine sehr kompli-ierte ethische Frage berührt. Burkhard Hirsch, vielenoch als Vizepräsident des Bundestages bekannt, ande-en als früherer Bundesinnenminister, fragt dazu: Willer Minister den lieben Gott spielen?
Sein Gedankenspiel ist leicht nachzuvollziehen – derollege Stadler hat dies vorhin schon dargestellt –: Ge-etzt den Fall, ein Passagierflugzeug wird entführt. Dannliegen mit ihm zwei oder drei Täter sowie 100 oder00 Passagiere, also Opfer des Verbrechens. Sie vermu-en, dass die Entführer einen Terroranschlag im Schildeühren, und es gelingt Ihnen nicht, dieses Flugzeug abzu-rängen und zur Landung zu zwingen. Sie geben alsoen Befehl zum Abschuss des Flugzeuges. Mit einemolchen Befehl würden Sie zugleich das Todesurteil über00 oder 200 unschuldige Passagiere fällen, und zwarur auf diese Vermutung hin. Wer soll, wer will das Le-en der Bewohnerinnen und Bewohner zum Beispiel ei-es Hochhauses gegen das Leben dieser 100 oder00 Passagiere abwägen und dann eine Entscheidungreffen?Nun kann man über den moralischen Aspekt trefflichtreiten. Es ist aber auch ein rechtlicher Aspekt. Un-estreitbar ist, dass der Verband der Allgemeinen Luft-ahrt e. V. auch nach Abwägung dieser Argumente Ihr
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Petra PauLuftsicherheitsgesetz ablehnt. Er ist der Auffassung, essei „nicht dazu geeignet, die Sicherheit in der Luftfahrtzu erhöhen“. Kein bislang bekannter Fall, so der Ver-band, rechtfertige dieses Streben nach einem utopischen,also nicht herstellbaren Sicherheitsniveau. Auch der Ver-band der Allgemeinen Luftfahrt e. V. wittert also andereBeweggründe für dieses Gesetz als die von Ihnen hierbemühten.Damit steht er nicht allein. Auch bei der Humanisti-schen Union schrillen alle Alarmglocken. Sie meint,dass Sie mit diesem Gesetz eine Superbehörde Flugsi-cherheit schaffen, die unter anderem mit den deutschenInlands- und Auslandsgeheimdiensten zusammenarbei-ten
und präventiv Daten über potenzielle Terroristen sam-meln soll. Dazu gehören auch die angesammelten Datenzu den Sicherheitsüberprüfungen an und auf Flughäfen.Potenziell verdächtig sind Flugpersonal, Flughafenmit-arbeiter, aber auch Lieferanten, also Zigtausende.
Hinzurechnen muss man das, was an persönlichen Datenzwischen der EU und den USA ausgetauscht wird bzw.demnächst gehandelt werden soll. Das hat weder etwasmit der Flugsicherheit noch mit dem Grundgesetz zu tun.Wenn Sie all die Regelungen wollen, die in diesem Ge-setzentwurf stehen, dann – da hat Herr Bosbach Recht –bewegen Sie sich tatsächlich nicht mehr auf dem Bodendes Grundgesetzes. Wenn Sie konsequent sein wollen,dann müssen Sie unsere Verfassung in diesem Sinn än-dern.
Die PDS sagt dazu klar Nein.Nach dem Eiertanz, den der Kollege Ströbele heutehier aufgeführt hat, sagen ich Ihnen, liebe Kolleginnenund Kollegen von den Grünen: Behaupten Sie nichtmehr, dass Sie Welten von der Bürgerrechtspolitik undder Innenpolitik der CDU/CSU trennen!
Wenn man sich die Ergebnisse Ihrer Politik ansieht,kommt man zu dem Schluss: Das sind nur noch Mikro-welten, die mit bloßem Auge überhaupt nicht mehr zuerkennen sind. Sie schütten nur noch Ihre Soße darüber.
Ich erteile Kollegen Dieter Wiefelspütz, SPD-Frak-
tion, das Wort.
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Respekt, Respekt. – Ich gehöre ja selber zu diesereltsamen Berufsgruppe.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Ein-ruck, dass in der Debatte heute manche Chance ver-asst worden ist, miteinander zu reden. Stattdessenurde, wie ich leider häufiger habe feststellen müssen,neinander vorbeigeredet.Wir alle wissen, dass die zivile Luftfahrt besonderserletzbar ist. Die Philosophie der Sicherheitsarbeit die-er Bundesregierung, dieses Bundesinnenministers undieser rot-grünen Koalition heißt: Wer mehr Sicherheitn der Luft haben will, muss deutlich mehr für die Si-herheit am Boden tun. – Das ist der Kern des Luftsi-herheitsgesetzes und das ist der Kern zahlreicher Maß-ahmen, schon seit Jahren, nicht erst seit dem1. September 2001. Das ist ein Prozess, der weiterge-en wird. Es gibt keine totale Sicherheit, aber man kannas Menschenmögliche tun. Das packen wir an, sehrberzeugend, mit sehr viel Geld, mit sehr viel Initiative,it sehr viel qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitar-eitern. Wir bemühen uns, zu erreichen, dass sie in Zu-unft noch bessere Arbeit abliefern können, als sie daseute schon tun. Wir erreichen Schritt für Schritt höheretandards. Das ist in dieser Debatte, wie ich finde, vielu wenig vorgekommen und viel zu wenig gewürdigtorden. Ich sage noch einmal ausdrücklich, dass derundesinnenminister die gemeinsame Unterstützung derot-grünen Koalition dabei hat, seine Bemühungen inieser Richtung fortzuführen.Wir werden auch andere Teile in diesem Sicherheits-ereich komplettieren, beispielsweise den Küsten- undeeresschutz. Dazu werden demnächst ähnliche Mo-elle vorgestellt werden und dann sicherlich auch aufine gute organisatorische und gegebenenfalls gesetzli-he Grundlage gestellt werden.Bei dem Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheits-ufgaben finde ich sehr wichtig, dass die Sicherheitsar-hitektur unseres Landes nicht verändert, sondern ge-tärkt wird.
iese Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublikeutschland besteht aus der Sicherheitsarbeit, aus deruten Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Das hatich bewährt. Daran wollen wir nichts ändern. Es gibt fürie äußere Sicherheit die Bundeswehr – mit einem hoheneistungsprofil – und es gibt für die innere Sicherheit die
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Dr. Dieter WiefelspützPolizei und den Bundesgrenzschutz. Das ist die grundle-gende Aufgabenverteilung, die sich in unserem Staat be-währt hat. An ihr wollen wir nichts ändern. Wenn Sie,Herr Binninger und Herr Bosbach, sagen, dass Sie darannichts ändern wollen, nehmen wir Sie beim Wort.Man hörte auch schon einmal anderes von Ihnen. Icherinnere an Gesetzesinitiativen in den vergangenen Le-gislaturperioden im Bundesrat, bei denen das andersausgesehen hat. Wenn Sie heute sagen, dass Sie an dembewährten Zusammenspiel in unserer Sicherheitsarchi-tektur nichts ändern wollen, besteht zwischen uns einStück weit Gemeinsamkeit. Das möchte ich unterstrei-chen und keine anders lautenden Verdächtigungen anIhre Adresse richten. Vielmehr nehme ich Sie beimWort, dass Sie an dieser Architektur nichts ändern wol-len.Wir haben hier viel von Verfassungsänderungen ge-hört. Ich will vorab mit Ihnen einmal zwei Fragen debat-tieren.Denken Sie doch bitte als Erstes daran, wie sich diePosition Deutschlands zur Frage Auslandseinsätze derBundeswehr entwickelt hat.
Überlegen Sie bitte einmal, was von der rechten und derlinken Seite des Hauses zu dieser Fragestellung mit Be-rufung auf die Verfassung alles vertreten worden ist.
– Herr Binninger, lassen Sie uns doch einmal den Ver-such unternehmen, miteinander zu reden, statt über-einander herzufallen.
Nehmen Sie doch auch einmal meine Argumente wahr. –Ihre Fraktion hat noch vor wenigen Jahren eine Ände-rung des Art. 87 a Grundgesetz vorgeschlagen; daranwollen Sie sich heute nicht mehr gerne erinnern lassen.Wir haben das Grundgesetz nicht geändert, obwohl wireine völlig andere Staatspraxis haben. Bis 1993/94 istvon der damaligen Bundesregierung behauptet worden,Auslandseinsätze der Bundeswehr seien nicht zulässig.Heute machen wir das alles, ohne das Grundgesetz geän-dert zu haben, weil wir wissen, dass die Verfassung daszulässt. Ich bitte einmal zu überlegen, ob wir mit Grund-gesetzänderungen nicht besonders vorsichtig sein soll-ten.
Natürlich kann man das Grundgesetz ändern. Die Frageist aber: Ist das wirklich zwingend erforderlich?Ich möchte Ihnen eine zweite Frage stellen: Was wäredenn, wenn es heute einen solchen Luftzwischenfall– wir alle hoffen, dass er nie passieren möge – gäbe?Hätten wir dann, Herr Bosbach, eine Schutzlücke in un-secde–eAmVrfhkrDmfIRvbgDddLssmvzG
Wir dürfen die Bundeswehr nach Maßgabe von Art. 35insetzen.Am 5. Januar letzten Jahres, Herr Bosbach, sind zweibfangjäger in Frankfurt aufgestiegen. Zum Glück hatan diesen Fall friedlich lösen können. Aber war dieseserhalten der Bundeswehr rechtswidrig? Nein, es warechtmäßig. Allerdings haben wir gesagt, dass wir hier-ür eine klare Rechtsgrundlage schaffen wollen. Manätte sich, Herr Burgbacher, durchaus die Frage stellenönnen: Sollen wir einen solchen Extremfall überhauptegeln?
as infrage zu stellen ist eine durchaus vertretbare Argu-entation.
Kollege Wiefelspütz, gestatten Sie eine Zwischen-
rage des Kollegen Bosbach?
Bitte.
Herr Kollege Wiefelspütz, ich habe allen Respekt vorhrer Rechtsansicht. Vor mir liegt die „Zeitschrift fürechtspolitik“, Ausgabe 4/2003, in der auch ein Artikelon Ihnen steht. Haben Sie den Artikel gelesen, der ne-en Ihrem Artikel gestanden hat? In ihm ist mit überzeu-enden Argumenten zumindest festgestellt worden:Die Meinung, die Streitkräfte hätten … eingesetztwerden dürfen, ist vertretbar, aber wenig gesichert.Die Rechtslage ist unklar und verworren … Mansollte nicht auch diese Frage dem BVerfG zuschie-ben.er Autor ist immerhin ein ehemaliger Richter am Bun-esverfassungsgericht, nämlich Professor Dr. Klein.Ist Ihnen bekannt, dass der ehemalige Bundesministerer Verteidigung Georg Leber, rückblickend auf einenuftzwischenfall während der Schlussfeier der Olympi-chen Spiele 1972 in München, in seinen Memoiren ge-chrieben hat, diese Rechtsfrage müsse unbedingt ein-al verfassungsrechtlich geklärt werden, denn sie seierfassungsrechtlich nicht klar und es sei keinem zu-umuten, auf einer unsicheren verfassungsrechtlichenrundlage zu entscheiden und zu handeln?
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Herr Bosbach, selbstverständlich kenne ich diesen
Beitrag von Herrn Hans Hugo Klein, der – anders, als
Sie es vortragen – anerkennt, dass meine Auffassung
vertretbar ist. Ich spreche über Kollegen, die sich rechts-
wissenschaftlich äußern, selbstverständlich sehr fair und
respektvoll. Ich kenne die Diskussionen sehr genau und
ich kann Ihnen nur sagen: Ich freue mich auf die Anhö-
rung vor dem Innenausschuss, ich bin geradezu rasend
interessiert an dieser Anhörung, und ich werde keine Se-
kunde fehlen, lieber Herr Bosbach; denn ich bin wirklich
hochgespannt auf die Äußerungen der ersten Garde der
deutschen Verfassungsrechtler, die dort vertreten sein
werden. Ich habe mich schon selber als Sachverständi-
gen ins Gespräch gebracht,
aber meine Fraktion will mich nicht vorschlagen, Herr
Bosbach, was ich sehr bedaure.
Ich kenne diese Debatte natürlich; aber ich bitte sehr
um Verständnis für die Position, die ich vertrete – nicht
nur mit einer Sprechblase in der „Zeit“, die Sie zitiert ha-
ben, sondern in Form einer vertieften Auseinanderset-
zung mit den Fragestellungen in der „Zeitschrift für
Rechtspolitik“, in der Zeitschrift „Die Polizei“, in der
„Neuen Zeitschrift für Wehrrecht“ und in anderen Publi-
kationen –, nämlich dass das sehr wohl verfassungs-
rechtlich vertretbar ist. Gehen Sie bitte davon aus, dass
diese Bundesregierung und die rot-grüne Koalition nie-
mals ein Gesetz zu einer ersten Lesung in den Bundestag
einbringen würden, bei dem sie verfassungsrechtliche
Zweifel hätten. Das wäre doch nicht verantwortbar!
Das kann man uns auch nicht unterstellen.
Ich weiß, dass man in dieser Frage anderer Auffas-
sung sein kann. Wir werden uns selbstverständlich der
Anhörung stellen. Wir sind hochinteressiert und offen;
man kann mich überzeugen. Aber Sie sollten auch un-
sere Überzeugung zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie die
Verfassung so interpretieren, dass man zwar die Folgen
von Unfällen mithilfe der Bundeswehr beseitigen darf,
aber nicht die Ursachen, dann kann ich nur sagen: Die
Verfassung ist klüger als Sie und Herr Binninger.
Es wäre wirklich ein Schildbürgerstreich, wenn in der
Verfassung stünde, dass man warten müsste, bis ein Un-
glück passiert, und dann nur aufräumen dürfte, dass aber,
wenn die Möglichkeit bestünde, das Unglück dennoch
nicht verhindert werden dürfte. Das ist doch abwegig,
Herr Bosbach!
Ich sage: abwegig! Die Verfassung ist klüger als Sie.
Eine Verfassung, die solch eine Interpretation zuließe,
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Ich schließe die Aussprache.
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Präsident Wolfgang ThierseInterfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 15/2361 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 bauf:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDPLeitlinien für die Vollendung der Bahnreform– Drucksache 15/2156 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstFriedrich , Joachim Günther (Plauen),Eberhard Otto , weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPGutachtenvergabe zu Fahrgastrechten revi-dieren – Neutralen Gutachter beauftragen– Drucksache 15/2279 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Es ist höchste Eisenbahn für die richtigenWeichenstellungen zur Vollendung der Bahnreform.
Das Maut-Desaster zeigt in erschreckender Deutlich-keit, wohin die Reise unter rot-grüner Verkehrspolitikgeht: nicht nur aufs Abstellgleis, sondern führerlos undmit Volldampf ins Chaos.
– Herr Kollege Weis, bevor Sie einen weiteren Zwi-schenruf machen, möchte ich Sie darauf hinweisen, dassim Moment eine Meldung über den Ticker läuft, dass dieEisenbahngewerkschaft Transnet bekannt gibt, dass derVorstand der DB AG für 2 500 Arbeitnehmer Kurzarbeitbeantragt hat. Ich sage dies, damit Sie wissen, was dieStunde geschlagen hat und wie die Wahrheit aussieht.fuVzrMälmLwDABdwdZirHbdmadWrspOtDatmwkVzmi
Wir wollen, dass die von uns 1994 begonnene Bahn-eform konsequent weitergeführt wird. Wird dieses imoment aber getan? Die damaligen Ziele gelten unver-ndert: mehr Verkehr auf die Schiene und weniger Be-astung des Steuerzahlers. Deshalb wollen wir unterneh-erische Unabhängigkeit der Bahn statt Behördenbahn,eistungs- und Qualitätssteigerung sowie mehr Wettbe-erb und dazu einen diskriminierungsfreien Zugangritter zum Schienennetz.
Offenbar hat die Bundesregierung diese Ziele aus denugen verloren; denn seit Schröders Amtsantritt ist dieahnreform mit einem klaren Dezentralisierungsmodellurch ein Rezentralisierungsmodell mit einem ständigachsenden Wasserkopf und einem kleinen Napoleon aner Spitze ersetzt worden.
Das hat natürlich Konsequenzen. Es gibt amtlicheahlen des Bundesverkehrsministeriums, veröffentlichtn „Verkehr in Zahlen“, und des Bundesfinanzministe-iums. Gelegentlich wundert mich, dass die DB AG underr Mehdorn in Diskussionen diese amtlichen Zahlenestreiten und behaupten, sie seien Unfug. Dass so miter Wahrheit umgegangen wird, ist unerträglich. Liestan diese unbestreitbaren amtlichen Zahlen, die mehrussagen als die unternehmensgefertigte Propaganda,ann wird deutlich, dass die DB AG auf dem bestenege zurück in die Pflegebedürftigkeit ist.
Erstens. Nach unserer Auffassung ist diese Bundes-egierung mit ihren vier Kurzfrist-Verkehrsministernchuld daran. Sie haben es versäumt, für klare ordnungs-olitische Rahmenbedingungen zu sorgen.
rdnungspolitik ist aber die originäre Aufgabe des Staa-es.
em Vorstandschef Mehdorn wird ein Gebaren erlaubt,ls würde Daimler-Chef Schrempp zu Trittin ins Minis-erium laufen und sich selbst niedrige Abgasgrenzwerteachen. Dies darf nicht hingenommen werden. Denn soird die Chance vergeben, zu einer leistungsfähigenundenorientierten Wettbewerbsbranche, die zu größerererlässlichkeit, Sicherheit und sinkenden Preisen führt,u kommen. So bleibt ein unverändert dominierendesonopolistisches Staatsunternehmen mit Marktanteilenm Schienenverkehr von 99,5 Prozent im Personenfern-
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Dirk Fischer
verkehr, 91,5 Prozent im Personennahverkehr – ohne dieRegionalisierungsmittel und die Bestellermöglichkeitender Länder hätten wir wahrscheinlich auch hier einenAnteil von knapp 99 Prozent – und 97,2 Prozent im Gü-terverkehr bestehen.Die Konsequenz ist: Wann und wo im Schienenver-kehr Wettbewerb stattfinden darf, entscheidet letztlichHerr Mehdorn. Ich finde, dazu passt ein Zitat. Er hatwörtlich gesagt:Mein größtes Problem ist, dass alle eine kleineelektrische Eisenbahn zu Hause haben, damit spie-len und Spaß haben. Und alle denken, sie könntenauch mit der großen Eisenbahn spielen. Ich bin aberder Einzige, der die große hat.Das könnte auch von Napoleon stammen.
Zweitens. Durch Minister Stolpes Glanzleistung beider Einführung der LKW-Maut sinken die Haushalts-mittel für Bahninvestitionen von 4,4 Milliarden Euroauf nur noch 3,3 Milliarden Euro in diesem Jahr; Ten-denz weiter fallend.
Denn nach der Haushaltsplanung – Herr Kollege Weis,ich wundere mich, dass Sie das alles so gelassen hinneh-men –
sollen diese Mittel bis 2008 sogar auf nur noch knapp3 Milliarden Euro reduziert werden.
Neubauvorhaben müssen gestoppt und in die Zukunftverschoben werden. Selbst für die Erhaltung des Be-standsnetzes reichen die Mittel nicht aus. England lässtgrüßen!
Drittens. Die rapide Entwicklung der Neuverschul-dung der DB AG ist besorgniserregend. Zu leiden habenam Ende wie immer die Bürger und Steuerzahler, denenmittlerweile zusätzlich zur Entschuldung zu Beginn derBahnreform 1994 trotz weiter fließender erheblicherstaatlicher Subventionen Neuschulden von rund25 Milliarden Euro, aufgelaufen zwischen 1994 und2003 – dies ist ein zweieinhalbmal so hohes Verschul-dungstempo wie vor der Bahnreform –, auf ihr Schuld-konto geschrieben werden.
Viertens. Seit Jahren sinken die Verkehrsleistungenkontinuierlich. Die letzten verbindlichen amtlichen Zah-len liegen bei minus 6,2 Prozent im Schienenpersonen-verkehr und minus 3,2 Prozent im Schienengüterver-kehr.1Stw3savtnuFvblATcS1l3hfpvDd31t2gdi31kDdBPdpmlDdBü
Wie man hört, ist die Eigenkapitaldecke der DB AGn der Zwischenzeit recht dünn geworden. Am1. Dezember 2002 betrug die Eigenkapitalquote2,4 Prozent und sie ist zwischenzeitlich weiter gesun-en.
as heißt, das Unternehmen braucht eine Kapitalspritzees Bundes, was vor allem ihre Kreditfähigkeit bei denanken stärken würde.Angeblich – so hört man – will die Pflegemutter zurflegetochter ganz besonders lieb sein. So soll angeblichie Eigenmittelbeteiligung der DB AG an Infrastruktur-rojekten von 2004 bis 2008 um 750 Millionen Euro ge-indert werden. Angeblich sollen auch künftig in erheb-ichem Umfang dem Unternehmen gegebene zinslosearlehen des Bundes in Eigenkapital umgewandelt wer-en. So soll wohl auch die Mitwirkung des Deutschenundestages an Investitionsentscheidungen Schieneber den Bedarfsplan Schiene ausgehebelt werden.
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7904 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Dirk Fischer
Die Forderungen meiner Fraktion lauten: Wir wollenunverändert an dem Ziel eines Schienenverkehrsmarktesfesthalten, auf dem kundenfreundliche und in fairemWettbewerb konkurrierende Unternehmen tätig sind.
Davon kann aber auch nach zehn Jahren Bahnreform im-mer noch keine Rede sein.
Ich sage ganz deutlich: Uns geht es darum, die Infra-strukturverantwortung des Staates für sein steuerfi-nanziertes Schienennetz zu erhalten.
Das Schienennetz darf nach den schlechten Erfahrungenin England nicht zum Renditeobjekt des Kapitalmarktsgemacht werden.
Dies geschähe allerdings, würde man entgegen den Pla-nungen der Bahnreform 1994 die Gesamtholding ein-schließlich Netz an die Börse bringen. Darum wird imKern gestritten.
Der diskriminierungsfreie Zugang eines jedenWettbewerbers zum Schienennetz ist für uns von heraus-ragender Bedeutung. Ich erinnere daran, dass der Sach-verständige Pällmann als Vorsitzender der Pällmann-Kommission in unserem Ausschuss danach gefragt hat,warum die Bahn das System CIR-ELKE nicht weiterent-wickelt hat, das durch Verringerung der Blockabständeerheblich mehr Abwicklungskapazität im deutschenSchienennetz bringen würde und damit die Finanzierungzugunsten der Steuerzahler günstiger gestalten würde.Damit würden mehr Trassenentgelte eingenommen.
Warum wurde es nicht weiterentwickelt? Die Bahnhat überhaupt kein Interesse daran, über den Eigenbedarfhinaus Kapazitäten bereitzustellen, die nur von Wettbe-werbern genutzt werden. Die Bahn schätzt es eher zu sa-gen: Das tut uns Leid, es ist nichts mehr frei; der Fahr-plan ist ausgereizt, ihr könnt nicht mehr.Das ist nicht unser Vorwurf, sondern der Vorwurf desVorsitzenden der Pällmann-Kommission, die HerrMüntefering seinerzeit als Minister einberufen hat. Da-ran möchte ich hier erinnern.
Warum lässt sich die Bundesregierung bei der Umset-zung der Task-Force-Ergebnisse – nach EU-Richtliniemüssten sie seit dem 15. März 2003 im Gesetzblatt ste-hen – so viel Zeit? Das ist doch immerhin ein sinnvollerZwischenschritt bei der Reform des Eisenbahnwesens.Ich dachte eigentlich, Herr Mehdorn würde gewaltigenDruck machen. Es ist aber gar nichts passiert, und mangmumgBEduAgFKTmtesHRfdUugRNagED
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Eine zü-
ige und umfassende Bestandsaufnahme und kritische
ewertung der Effekte der Bahnreform mit externer
valuierung und ordnungspolitischen Empfehlungen an
en Gesetzgeber und den Bund als Alleineigentümer ist
naufschiebbar. Darauf haben wir als Parlament einen
nspruch und – das sage ich ausdrücklich – das verlan-
en wir von der Bundesregierung.
Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Weis, SPD-
raktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undollegen! Wer die Diskussionen im Bundestag zumhema Bahnpolitik seit Beginn der Bahnreform auf-erksam verfolgt hat, der muss bei der heutigen Opposi-ion – hier meine ich vor allen Dingen die Union – einenrstaunlichen Wandlungsprozess feststellen. Man könnteagen, die Union hat sich im Laufe der Zeit mehrereäutungen erlaubt.
In der 13. Wahlperiode feierten Sie – damals noch alsegierungsfraktion – die Bahnreform als durchaus er-olgreich. Aus einigen Reden des Kollegen Fischer gehtas klar hervor. An keiner Stelle findet sich bei dernion vor 1998 ein Hinweis auf die Trennung von Netznd Betrieb als das zentrale bahnpolitische Thema;anz anders, als Herr Fischer es jetzt zum Ende seinerede vorgestellt hat.
atürlich weiß ich, dass die Trennung in der Bahnreformls eine Option angelegt war, sie war aber nicht zwin-end. Sonst hätte man vor zehn Jahren der DB AG dasigentum am Netz ja nicht übertragen.
aran waren Sie maßgeblich beteiligt.
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Reinhard Weis
Ich akzeptiere auch, dass die Bundesregierung in die-sen zehn Jahren ergebnisoffen weitergedacht hat. DieFrage, ob die DB AG mit oder ohne Netz bessere Chan-cen im Wettbewerb haben wird, können wir nicht alleinnach reinen Wettbewerbskriterien beantworten. Wer amvergangenen Mittwoch die Veranstaltung des DeutschenVerkehrsforums zur Bilanz und zu Ausblicken der Bahn-reform unvoreingenommen verfolgt hat, der wird zuge-ben müssen, dass der reinen Wettbewerbstheorie eineganze Reihe praktischer Probleme gegenüberstehen.Wir dürfen auch die betriebswirtschaftliche Seite un-seres bundeseigenen Unternehmens nicht ausblenden.Dazu gehört natürlich auch die Frage, ob der Konzernmit oder ohne Netz die besseren Chancen beim Einwer-ben privaten Kapitals hat. Wer diese Fragen vorschnellideologisch oder parteipolitisch beantwortet, schwächtdas leistungsfähigste deutsche Bahnunternehmen vorÖffnung des europäischen Schienenverkehrsmarktes.Das kann nicht in unserem nationalen Interesse liegen.
Ich komme zurück zu den Anträgen der CDU/CSU-und der FDP-Opposition, die Anlass der heutigen De-batte sind. Ihre Schwerpunktverlagerung auf die Tren-nung von Netz und Betrieb zeigte sich schlagartig, alsSie sich nach der Bundestagswahl 1998 auf den Opposi-tionsbänken wiederfanden. Das Thema stand plötzlichim Mittelpunkt. Es sollte neuen Schwung für das SystemSchiene bringen – so titelte auch ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Es gab einen weiteren zur konsequentenTrennung von Netz und Betrieb im deutschen Schienen-verkehr. Sie hielten sogar Anfang 2002 einen verkehrs-politischen Kongress ab.
Erst Ihr Kanzlerkandidat, der bayerische Ministerpräsi-dent, hatte damals am 22. April 2002 – übrigens pikan-terweise trotz Ihres verkehrspolitischen Kongresses undentgegen der erwünschten Botschaft – die Diskussionüber das Thema Trennung für beendet erklärt. Das warein erneuter Richtungswechsel in Ihrem Zickzackkurs.
Wenn wir heute über die Bahnreform reden, ist dreier-lei festzuhalten:Das erste Ziel, die Haushaltsentlastung, ist erreichtworden, und zwar stärker, als nach den Prognosen vorder Bahnreform ursprünglich erwartet. Sie behauptendas Gegenteil, aber hier gilt: Wenn man alle gesetzlichenZahlungsverpflichtungen des Bundes im Bahnsektor,zum Beispiel für den Beamtenbereich, der jetzt im Bun-deseisenbahnvermögen verankert ist, und auch die In-vestitionsmittel des Bundes für das Netz, die mit Verfas-sungsauftrag begründet sind, berücksichtigt, hat sich dieHaushaltsbelastung für die DB AG gegenüber der Situa-tion der alten Bundesbahn und der Reichsbahn deutlichverringert. Das ist unbestreitbar.dwDiglrsnwITAdunMvnSßmMsSbkMwdDÖagd
Für den Güterverkehr möchte ich beispielhaft dason uns in Gang gesetzte Gleisanschlussprogrammennen. Mit diesem Programm kann es gelingen, demchienengüterverkehr zusätzliche Potenziale zu erschlie-en. Für das Haushaltsjahr 2004 beginnen wir bereitsit der Förderung von privaten Gleisanschlüssen.
ehr Unternehmen als bisher sollen mit Gleisanschlüs-en direkt an die Schiene angebunden werden.
elbstverständlich werden wir diese Förderung an ver-indliche Zusagen zur Transportmenge knüpfen, damiteine Fehlförderungen initiiert werden.
it den verbesserten Netzstrukturen im Netzzugangerden wir die Attraktivität der Schiene für die verla-ende Wirtschaft deutlich erhöhen.
ieses Konzept funktioniert in unserem Nachbarlandsterreich sehr erfolgreich.
Selbstverständlich kann ein verstärkter Wettbewerbuf der Schiene zu mehr Schienenverkehr führen. Ichlaube, auch das ist unbestritten. Mit der jetzt anstehen-en Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
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Reinhard Weis
werden wir den Ordnungsrahmen dafür neu stecken. DieEmpfehlungen der Task Force „Zukunft der Schiene“,die mit dem neuen europäischen Recht im Einklang sind,werden wir mit der AEG-Novelle in vollem Umfang um-setzen. Ich freue mich, dass auch die Opposition dieseEmpfehlungen inzwischen als einen wichtigen Schritt inRichtung mehr Wettbewerb anerkannt hat.
Drittens muss ich sagen: Die Bahnreform dauert wei-ter an. Ein Teil des Weges ist geschafft. Einen weiterenTeil haben wir noch vor uns. Das gilt auch für denSanierungsprozess bei der DB AG, dem größten deut-schen Bahnunternehmen. Der Vorstandsvorsitzende,Hartmut Mehdorn, den Sie offensichtlich als IhrenHauptgegner auserkoren haben, hat hier in den letztenJahren insgesamt einen erfolgreichen Job gemacht. Dassage ich mit aller Deutlichkeit, auch wenn es Vorstands-entscheidungen geben mag, die im Nachhinein korrigiertwerden mussten. Es gab Entscheidungen, die uns Politi-ker geärgert haben oder für die uns das Verständnisfehlte. Bis heute haben allerdings einige Politiker, aberauch Journalisten und die Öffentlichkeit noch nicht ak-zeptiert, dass wir uns 1993 alle miteinander für die Um-gestaltung der Bahn in ein Wirtschaftsunternehmen ent-schieden haben.
Das bedeutet, dass der Vorstand für den wirtschaftlichenErfolg des Unternehmens einzustehen hat.
Die Fortschritte, die das Unternehmen DB AG inzwi-schen gemacht hat, kann und darf man nicht wegdisku-tieren. Ein Zuwachs an Produktivität, ein besseres Kos-tenmanagement und eine stärkere Kundenorientierungsind klar erkennbar geworden. Es ist aber auch allenklar, dass die Bahn noch leistungsfähiger werden undsich noch mehr an den Interessen und Bedürfnissen ihrerKunden orientieren muss.
Allerdings ist es mit der Grundsatzentscheidung füreine unternehmerische Bahn unvereinbar, dass Sie – ichschaue wieder in Richtung CDU/CSU –, wie gegen Endeder letzten Legislaturperiode geschehen, die Finanzierungdes Personenfernverkehrs durch den Bund fordern. Hierzugibt es einen Antrag von Ihnen mit dem Titel „Gewähr-leistung des Schienenpersonenfernverkehrs“. Durch dieUmsetzung dieser Forderung würde der jetzt eigenwirt-schaftliche Sektor des Unternehmens wieder dauerhaftvon staatlichen Zuschüssen abhängig.
An dieser Stelle hätten Ihr Subventionsabbauspezialist,Ministerpräsident Koch, und unserer, MinisterpräsidentSteinbrück, den Rotstift dann allerdings zu Recht ange-setzt. Ich nehme aber an, dass Sie diese Linie inzwischennbPmmdBmDddfsDEdhRWugsVdgDnsZSg
ie Bahn muss dauerhaft schwarze Zahlen vorlegen.
ine schöne Bilanz in einem guten Jahr reicht nicht.
Daher erwarten wir von der Bundesregierung undem Bahnvorstand, dass sie im Anschluss an eine einge-ende betriebswirtschaftliche Prüfung die Chancen undisiken eines Börsengangs klar aufzeigen.
ir erwarten, dass die Bundesregierung die verkehrs-nd haushaltspolitischen Auswirkungen eines Börsen-angs umfassend prüft. Natürlich werden wir uns in die-en Prozess einbringen müssen.
or allem das verkehrspolitische Ziel, mehr Verkehr aufie Schiene zu bringen, muss auch nach einem Börsen-ang bzw. nach der Herstellung der Börsenfähigkeit derB AG verfolgt werden.Damit wird klar: Weder die Kapitalmarktfähigkeitoch ein Börsengang können und dürfen Selbstzweckein. Messlatte ist auch dabei das verkehrspolitischeiel. Wir legen daher großen Wert darauf, dass daschienennetz in Bezug auf Netzstandards und Netz-röße eindeutig definiert wird.
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Reinhard Weis
– Richtig. – Um das verkehrspolitische Ziel zu erreichen,müssen alle Modelle für eine Zuordnung des Netzes um-fassend und ergebnisoffen geprüft werden.Bundesregierung und Koalitionsfraktionen nehmenihre Infrastrukturverantwortung sehr ernst; wir brau-chen also keine Ermahnung des Kollegen Fischer.
Wir haben in den letzten Jahren erhebliche Mittel für denAus- und Neubau sowie die Modernisierung des Schie-nennetzes bereitgestellt. Deutlich mehr Mittel sind vonuns vergeben worden als von Ihnen in den letzten JahrenIhrer Regierungsverantwortung. Das verschweigen Siegerne.
Wegen Ihrer finanziellen Fehlentscheidungen bei derBahn wurde vor allem das Bestandsnetz der Bahn in denersten Jahren nach der Bahnreform sträflich vernachläs-sigt.
Rot-Grün hat diese Fehlentwicklung gestoppt und die In-vestitionsmittel für die Schiene deutlich aufgestockt.Diese Tatsache kann gar nicht oft genug wiederholt wer-den.
Zusätzlich haben wir die Investitionen für dieSchiene von zinslosen Darlehen ganz überwiegend aufBaukostenzuschüsse umgestellt. Wir haben den Schwer-punkt der Investitionen auf die Erhaltung und die Mo-dernisierung des Bestandsnetzes verlagert. Auch hier ha-ben wir neue Akzente in der Bahnpolitik gesetzt.Trotz der aktuellen Finanzengpässe, die in diesenTagen berechtigterweise diskutiert werden – in ersterLinie im Rahmen der Diskussion um das Thema Maut-ausfälle, aber auch im Rahmen der Diskussion um dieunseligen Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch undSteinbrück, die sich verheerend auf die Schienenver-kehrspolitik auswirken würden –,
werden wir eine solide und planbare finanzielle Grund-lage für die Erhaltung und den Ausbau des Schienennet-zes schaffen. Die Lösung können wir Ihnen jetzt nochnicht präsentieren, aber Sie können uns abnehmen, dasswir sie schnell vorlegen werden. Denn es ist eine Bin-senweisheit: Die Bahnen – ich rede ausdrücklich im Plu-ral – brauchen ein leistungsfähiges Schienennetz, um imWettbewerb mit den anderen Verkehrsträgern bestehenzu können.
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Friedrich,
DP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-en! Es ist Zeit, dass die Debatte über zehn Jahre Bahn-eform wieder die Institution erreicht, von der sie ausge-angen ist, nämlich das deutsche Parlament.
ir hatten hier die Grundlagen dafür geschaffen. Wirind deswegen auch berechtigt, hier und heute, losgelöston Jubelfeiern wie im Ritz-Carlton, einen Blick auf dieakten zu werfen, um zu sehen, wie die Situation tat-ächlich aussieht. Dankenswerterweise hat die Parla-entsgruppe Schienenverkehr vorgestern einen erstenchritt gemacht, insbesondere Herr Pällmann, der aufge-ählt hat, dass nicht alles so goldig aussieht, wie es ge-agt wurde und wie es manchmal scheint.Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Alleahlen, die ich nenne, entstammen dem Büchlein „Ver-ehr in Zahlen“.
erausgeber ist das Bundesministerium für Verkehr. Ver-ntwortlich ist das DIW, also weder die FDP-Fraktionoch ich als Abgeordneter. Das sage ich, damit es hinter-er keinen Ärger mit irgendwelchen Gerichten gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bahnreform von993/94 hatte drei große Schwerpunkte. Einer davon, dierganisationsprivatisierung, ist vor allen Dingen – die-en Dank muss man aussprechen – auch dank der Ein-atzbereitschaft der Mitarbeiter der Bahn einigerma-en gelungen. Das will niemand klein reden und das
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Horst Friedrich
redet auch niemand klein. Das kann uns aber doch nichtdaran hindern, kritisch zu hinterfragen, wie es mit denanderen beiden Zielen aussieht, die mindestens gleich-wertig waren,
nämlich weniger Belastung für den Steuerzahler undmehr Verkehr auf die Schiene.Wenn man sich wirklich Gedanken darüber macht, wiees weitergehen soll, dann muss man sich hier genau über-legen, wie das Zahlenmaterial zustande gekommen ist, aufdas sich Herr Mehdorn noch vorgestern bezogen hat. Erhat gesagt, die Schiene habe im Personenverkehr von1993 bis heute einen Zuwachs von 11 Prozent aufzuwei-sen. Ich empfehle einen Blick in das schon zitierte Büch-lein „Verkehr in Zahlen“. Wenn man sich die Seite 213anschaut, wird man feststellen, dass es bestenfalls von1994 auf 1995 einen Zuwachs gab. In der Fußnote aufder Seite 212 steht jedoch: „Ab 1995 Neuberechnung derPersonenverkehrszahlen durch die Deutsche Bahn AG“.Von 1995 bis jetzt das alte Lied: Von da an ging es näm-lich bergab. Wenn man schon statistische Daten erfasstund sie vergleicht, dann muss man auch konsistenteZeiträume heranziehen. Man darf keine Kunstzahl ausdem Jahre 1993 nehmen und sie mit der entsprechendenGröße von heute vergleichen, wenn man inzwischen dieBerechnungsart verändert hat.Die gleiche Argumentation gilt natürlich auch für diesehr monokausale Kette, man müsse nur die anderenVerkehrsträger kräftig verteuern, damit die Schiene imGüterbereich eine Chance hat. Herr Kollege Weis, wenndas so wäre, dann müsste der Güterverkehr auf derSchiene seit 1998 geradezu explodiert sein; denn durchIhre Politik ist die Belastung für den VerkehrsträgerStraße um sage und schreibe 14 Milliarden Euro ange-wachsen, wobei die Maut hier noch gar nicht eingerech-net ist.
– Herr Kollege Fischer, sie ist um 14 Milliarden Euroauf derzeit 50 Milliarden Euro angewachsen.Was ist aber die Sachlage? Schauen wir einmal näherhin. Der Anteil des Güterverkehrs auf der Schiene hatvon 15,7 Prozent auf 14,2 Prozent abgenommen. DasGegenteil ist also passiert. Man kann nun natürlich etwastun: Man kann so lange an der Kostenschraube für dieanderen Verkehrsträger – darin bezieht man dann dieBilligflieger mit ein – drehen, bis es irgendwann viel-leicht doch zu einer Bewegung kommt. Dann muss manallerdings auch fragen, welcher gesamtwirtschaftlicheSchaden entsteht, wenn man andere Verkehrsträger kon-tinuierlich verteuert, nur damit irgendeiner irgendwannvielleicht einmal besser wird.Es muss doch geradezu aufweckend sein, dass selbstHerr Mehdorn vorgestern zugegeben hat, dass er Pro-bleme hatte, die Zuwächse des letzten Jahres, die da-durch zustande kamen, dass für die Binnenschifffahrt zuwenig Wasser in den Flüssen war, zu bewältigen, unddass vieles davon auf der Straße gelandet ist. Liebe Kol-lddk1SnnKrDslsntdwiAhWsKasagdmnlDdgsddSfAwFh
ie machen sich doch selbst etwas vor, ohne zur Kennt-is zu nehmen, was notwendig ist.Hier sind wir beim eigentlichen Punkt: Eine diskrimi-ierungsfreie Öffnung des Netzes ist notwendig. Herrollege Weis, das ist bei uns nicht erst seit dem Regie-ungswechsel im Jahre 1998 ein Thema.
ass allerdings ausgerechnet Sie den Finger heben undagen, wir hätten das damals nicht umgesetzt, ist natür-ich pfiffig. Wenn ich mich nämlich recht erinnere, dannind bestimmte Bedingungen der Bahnreform damalsur deswegen nicht umgesetzt worden, weil die SPD un-er dem Druck der Grundgesetzänderung über die Län-erkammer bestimmte Stellschrauben festgezurrt hatte,odurch eine klare ordnungspolitische Ausrichtung, dien der Vorlage der Regierungskommission Bahn zumusdruck kam und die auch wir befürwortet haben, ver-indert wurde.
er eine Kombination aus Markt und Marx ins Gesetzchreibt, der erhält Murks und keine ordnungspolitischelarheit. Genau das ist die Realität, von der wir jetztusgehen müssen.
Es wird auch nicht dadurch besser, dass die Bahn jetztagt: Wer nicht glühenden Herzens und vollen Mundeslles das lauthals nachschreit, was wir vorgeben, der istegen die Bahnreform und gegen die Bahner und der re-et die Erfolge klein. Das ist doch Unsinn. Niemandacht das. Aber ich lasse mir weder von Herrn Mehdornoch von sonst jemandem verbieten, berechtigte sach-iche Kritik, die sich auf Fakten stützt, vorzutragen.iese Kritik soll dazu beitragen, das Thema weiter zuiskutieren und Probleme aufzuzeigen, um an den richti-en Stellschrauben zu drehen.Wie notwendig Wettbewerb und Öffnung tatsächlichind, zeigt die Diskussion über unseren zweiten Antrag:ie Vergabe eines Gutachtens zu Fahrgastrechten aufer Schiene. Es ist geradezu abenteuerlich: Die Frautaatssekretärin kommt in den Ausschuss und erzähltrohen Herzens, der Gutachterauftrag sei in öffentlicherusschreibung an Herrn Freise vergeben worden. Be-orben hat er sich als Professor der Universität zurankfurt. Dort ist er auch Professor, einmal die Wocheält er dort eine Vorlesung.
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Horst Friedrich
Im Hauptberuf ist er aber Geschäftsführer der DeutschenVerkehrs-Assekuranz. Sie ist zu 75 Prozent eine Tochterder Deutschen Bahn AG, die restlichen 25 Prozent wer-den vom Sozialwerk der Bahngewerkschaften finanziert.Wie so jemand bei aller fachlichen Akzeptanz in derLage sein kann, ein neutrales Gutachten in der Abwä-gung zwischen Ansprüchen der Fahrgäste und der Bahnzu erstellen, hat sich mir bisher noch nicht erschlossen.
Dankenswerterweise hat Herr Freise zumindest dieGröße gehabt, vor diesem Hintergrund den Gutachter-auftrag zurückzugeben. Jetzt müssen wir dafür sorgen,dass dieser Fehler nicht wiederholt wird. Ich habe inzwi-schen gehört, wer sich unter anderem um diesen Auftragbeworben hat, nämlich die Allianz pro Schiene. Dazukann ich nur sagen: Wir kommen vom Regen in dieTraufe. Es muss deutlich gemacht werden: Wer diesenGutachterauftrag bekommt, der muss tatsächlich unab-hängig sein. Dann können wir gern über den Inhalt re-den. Das zeigt eigentlich, wie notwendig klare ordnungs-politische Grundausrichtungen sind, sonst kann es nichtswerden. Das ist die politische Aufgabe.
Das werden wir in der Anhörung am 29. März deutlichmachen. Dann bin ich gespannt, Herr Kollege Danckert,was Sie dazu sagen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zehn Jahre Bahnreform – das ist weder ein
Grund zum Jammern noch zum Jubeln. Es ist der Anlass
für eine ehrliche und, wie ich meine, durchaus selbstkri-
tische Zwischenbilanz. Genau das will ich hier versu-
chen.
Zu den wichtigsten Pluspunkten dieser Zwischen-
bilanz gehört aus unserer Sicht erstens die Umwandlung
der früheren Behördenbahn – nach der schwierigen In-
tegration der Reichsbahn in die Bundesbahn – in ein pri-
vatrechtlich organisiertes Unternehmen. Das hat un-
bestreitbar große Fortschritte in der Produktivität
ermöglicht. Dabei streite ich mich hier nicht um Zahlen.
Vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren
und sind es, die hier Gewaltiges geleistet haben, und
zwar zum Teil oft unter großen persönlichen Opfern. Ich
bin froh, dass wir alle zusammen der Auffassung sind,
dass ihnen der Dank und die Anerkennung des ganzen
Hauses gebührt.
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Ich stelle fest, dass wechselseitig keine Aufregung be-teht, sodass der Fortsetzung der Rede des Kollegenchmidt nichts im Wege steht.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIERÜNEN):Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist derollzug der Bahnreform. Diese Reform hat den Bundes-aushalt und damit auch den Steuerzahler in erhebli-hem Umfang entlastet.
ies war eines der Hauptziele der Bahnreform. Helmutchmidt hat damals gesagt: Bundesbahn oder Bundes-ehr – beides zugleich kann man sich eigentlich nichteisten.
ch will mich nun nicht darüber streiten, ob der Bundes-aushalt um 108 oder nur um 50 Milliarden Euro entlas-t worden ist. Eines steht fest: Die Entlastung für denaushalt ist deutlich höher, als 1993 vorhergesagturde. Das ist ein Erfolg.
Dritter Punkt. Dank gewaltiger Investitionen, in Stre-ke wie in neue Züge, ist die Bahn heute leistungsfähigernd moderner als vor zehn Jahren. Allein unter dermtszeit dieser Regierung seit 1998 wurden die Schie-enbaumittel von damals unter 5 Milliarden DM aufin Rekordniveau von zuletzt, im Jahr 2003, 4,5 Milliar-en Euro gesteigert.
er damit erreichte Fortschritt ist von den Kundinnennd Kunden jeden Tag buchstäblich „erfahrbar“.
as heißt nämlich: moderne Streckentechnik und kom-ortablere Fahrzeuge, insbesondere im Nahverkehr. Dasanze alte Gerümpel ist von der Schiene. In vielen Städ-n gibt es neue und attraktive Bahnhöfe. Darauf kannnd darauf darf man stolz sein.
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Der vierte Pluspunkt. Im Nahverkehr konnte dasZugangebot um 20 Prozent gesteigert werden. Die Ver-kehrsleistung ist meines Erachtens, nach Durchsicht al-ler kritischen statistischen Veränderungen, durchaus ge-wachsen. Ich streite mich nicht um Zahlen, aber es hatein erhebliches Wachstum gegeben. Voraussetzung dafürsind allerdings auch die enormen Regionalisierungs-mittel, die der Bund jedes Jahr zur Verfügung stellt.
Auch diesen Posten haben wir unter Rot-Grün auf heuteknapp 7 Milliarden Euro pro Jahr erhöht und sogar bis2007 dynamisiert. Ich kenne kein einziges Bundesge-setz, das dermaßen großzügig ist wie das Regionalisie-rungsgesetz.
– Eine einmalige kleine Delle in Höhe von 2 Prozent istverkraftbar.
Es ist richtig, dass wir erhöht haben und dynamisieren,denn im Nahverkehr wird jeden Tag die Schlacht ge-schlagen. Dort sind jeden Tag über 5 Millionen Fahr-gäste unterwegs. 90 Prozent aller Bahnfahrerinnen undBahnfahrer sind im Nahverkehr unterwegs, auf dem Wegzur Arbeit oder im Freizeitverkehr. Dort wird von derDB-Regio, aber zunehmend auch von anderen Bahnender Hauptumsatz jeden Tag gemacht. Jetzt sage ich allden Schlaumeiern, die behaupten, das sei zu viel Geldfür die Schiene: Stellen Sie sich bitte einmal einen Mo-ment vor, diese 5 Millionen Fahrgäste pro Tag allein imNahverkehr würde man zusätzlich auf den Straßen unse-rer Innenstädte, unserer Ballungszentren und auf denPendlerstrecken wiederfinden. Das wäre der Dauerstau.Das wäre das Ende der Mobilität auch auf der Straße.
Deshalb ist das ein Erfolg.Fünfter Punkt. Es gab Fortschritte bei der Herstellungvon Chancengleichheit. Das ist in erster Linie unser poli-tischer Job gewesen. Wir haben Fortschritte erzielt. Ichnenne die Gleichbehandlung bei den Investivmitteln.Das ist auch schon vom Kollegen Reinhard Weis ange-sprochen worden. Ich nenne die Befreiung der Bahnvom halben Ökosteuersatz von ihren Linienbussen– die Bahn hat auch Busse –, über die S-Bahn bis hinzum ICE, was mit jedem Erhöhungsschritt der Öko-steuer einen relativen Preisvorteil zugunsten der Bahngebracht hat. Ich nenne die Angleichung der Pendler-pauschale durch die Anhebung auf das gleiche Niveauwie für den Autofahrer.
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Dem aber stehen ernüchternde Ergebnisse in anderenereichen gegenüber, die ich genauso deutlich benennenöchte. Erster Punkt. Das Hauptziel der Bahnreformdas ist wiederholt angesprochen worden –, nämlichehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu holen,urde, anders als im Nahverkehr, im Fernverkehr und Güterverkehr nicht oder nur ungenügend erreicht.uch die Umsatzentwicklung in diesen Segmenten sta-niert seit Jahren.
urch hausgemachte Fehler im Bahnmanagement, be-onders durch das verkorkste Fahrpreissystem des letz-en Jahres, wurden zusätzlich Umsatzeinbrüche verur-acht, deren Behebung jetzt Zeit und zusätzlichenufwand kostet.Zweiter Punkt. Ich sage selbstkritisch dazu – Ihre Mi-ister waren da nicht unbeteiligt –: Es wurde zu lange zuiel Geld in einige wenige überteuerte Großprojektenter Vernachlässigung des Bestandsnetzes in der Flächeesteckt.
as haben wir ein Stück weit korrigiert, aber es belastetns noch.Ein dritter Punkt, der selbstkritisch zu sehen ist: Derit der Bahnreform eingeschlagene Weg zu selbststän-ig operierenden Transportgesellschaften im Nahver-ehr, Fernverkehr und Güterverkehr wurde zugunsteniner immer zentralistischeren Konzernstruktur verlas-en. Das halte ich für eine fatale Fehlentwicklung.
Vierter Punkt. Auch die Absicht, durch mehr Wettbe-erb mehr Leben in die Bude zu bringen, also mehr Ver-ehr auf die Schiene zu bringen, wurde nur unzurei-hend umgesetzt.
ch möchte aber hinzufügen: Wenn ich unsere Nachbar-nder sehe, dann stelle ich fest, dass die Situation dortoch viel schlechter als bei uns ist. Da müssen wir unsicht verstecken.
Ganz richtig. Da stimme ich ausdrücklich zu. –Fünfter Punkt. Der Schuldenstand ist schon ange-prochen worden. Den sehe ich genauso wie andere Kol-gen auch mit Sorge.
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Albert Schmidt
Was bleibt nach dieser durchwachsenen Bilanz zutun? Die Weichen müssen noch konsequenter nicht nurpro Bahn, sondern pro Schiene gestellt werden. Dennviele Unternehmen sollen dort erfolgreich arbeiten kön-nen.
Erstens. Die Bahn muss pünktlicher und vor allem imKommunikationsstil gegenüber dem Kunden freund-licher werden. Was wir zum Teil in letzter Zeit gehörthaben, grenzt an Kundenbeschimpfung. Das muss auf-hören.
Zweitens. Durch einen verbesserten Marktzugangauch für andere Bahnunternehmen kann und muss mehrDynamik entstehen. Die Novellierung des AllgemeinenEisenbahngesetzes, die längst überfällig ist,
wird hoffentlich ein wichtiger erster Schritt in dieseRichtung sein.Drittens. Das sage ich in allem Ernst, liebe Kollegin-nen und Kollegen: Hände weg vom Schienen- und vomBahnetat!
Das ist kein Steinbruch zur Haushaltssanierung. Es gibtkeinen sachlichen Grund für einen Stillstand oder Rück-schritt bei der Modernisierung der Infrastruktur oder derFahrzeuge. Notwendig ist vielmehr eine Verstetigungder Bundesmittel auf dem von uns erreichten hohen Ni-veau. Dafür kämpfen wir.
Angesichts der knappen Kassen weise ich aber auchdarauf hin – ich bin kein Illusionist; ich gelte als Realpo-litiker –: Wir müssen von überteuerten Lieblings- undPrestigeprojekten Abschied nehmen. Auch das gehörtzur selbstkritischen Bestandsaufnahme.
Ich will an dieser Stelle die einzelnen Projekte nichtnennen, um keinen Zoff anzufangen, aber die betreffen-den Herrschaften wissen sehr genau, was gemeint ist.
Ich kann die Sorge des Vorstandsvorsitzenden derDeutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, um ausrei-chende Bundesmittel für das Schienennetz durchausnachvollziehen.AcwUKgMdtaahssmvagiDeDnDhwaatDtumftiögVn
Der Streckenausbau und -neubau wird immer vomuten Willen des Finanzministers, von den politischenehrheiten und zum Teil sogar von der Unfähigkeit dereutschen Industrie abhängig sein, die in einem Konsor-ium namens Toll Collect mittelbar negativen Einflussuf die Bilanz der Deutschen Bahn AG im Jahr 2004usübt. Warum um Himmels willen will man diese Ab-ängigkeiten zementieren, statt sie aufzulösen? Das ver-tehe ich nicht.
Ich glaube, der integrierte Börsengang würde eineolche Zementierung bedeuten. Das wäre so, als würdean die Unternehmensbilanzen der LKW-Spediteureom Straßenbauetat des Bundes abhängig machen. Dasber geht schief.Notwendig ist, das Unternehmen Bahn für die Beteili-ung privaten Kapitals attraktiv zu machen. Darin teilech die Auffassung des Kollegen Reinhard Weis völlig.as bedeutet aber die konsequente Weiterentwicklunginer Unternehmensstruktur, die auch zielführend ist.as Streckennetz wird immer – wie auch das Straßen-etz – ein Zuschussgeschäft sein.
as Streckennetz ist dem Gemeinwohl verpflichtet. Daseißt, Infrastruktur muss auch dort vorgehalten werden,o sie sich nicht unbedingt rechnet. Das Streckennetz istls Renditeobjekt für private Anleger ungeeignet. Dennnders als mildtätige Einrichtungen wollen sie ihr Kapi-al verzinst sehen.
as aber ist bei Beteiligungen öffentlicher an Infrastruk-r nicht zu erwarten.Mit dem Transportgeschäft dagegen lässt sich, wennan es richtig macht, Geld verdienen.
Deshalb liegt es für mich in der Logik der Bahnre-orm, die Transportgesellschaften schrittweise zu priva-sieren, das Eigentum an der Infrastruktur aber in derffentlichen Hand zu halten. Was die Regionalnetze an-eht, könnten das durchaus die Länder sein, die auch denerkehr auf diesen Netzen bestellen und sehr gut geeig-et wären, ihre eigenen Netze zu bekommen.
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7912 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Albert Schmidt
Ein überstürzter Börsengang nach einem falschenModell, erkauft durch einen halben Investitionsstopp desKonzerns bei der Infrastruktur und bei der Fahrzeug-beschaffung zur Erreichung schwarzer Zahlen auf Teufelkomm raus, hilft uns nicht weiter. Im Gegenteil: Er rich-tet Schaden an.Deshalb liegt es in unserer gemeinsamen Verantwor-tung, die Weichen richtig zu stellen und darüber hinausfür mehr Chancengleichheit für alle Bahnen gegenüberden anderen Verkehrsträgern zu sorgen. Das heißt fürmich: Weg mit dem Mehrwertsteuerprivileg im grenz-überschreitenden Luftverkehr! Schluss mit dem Skandalder einseitigen Privilegierung des Luftverkehrs bei derKerosinsteuer!
Das schadet übrigens auch dem Autoverkehr.Weg mit den rechtlichen und technischen Grenzbar-rieren innerhalb der Europäischen Union!
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz. – Für
mich besteht der nächste Schritt – neben der Einführung
der LKW-Maut, mit der die Waffengleichheit mit dem
Güterzug hergestellt wird – konkret in der Halbierung
der Mehrwertsteuer für den Fernverkehr, wie es in ande-
ren europäischen Ländern längst der Fall ist. Dieses
Preissignal verstehen die Kunden; es hilft ihnen bei der
Kaufentscheidung.
Es gibt viel zu tun – für den Vorstand, aber auch für
uns in der Verkehrspolitik. Lassen Sie uns das Thema
diskutieren, aber nicht zu lange! Packen wir es an!
Nun hat der Kollege Eduard Lintner für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich war aufder Veranstaltung der Parlamentsgruppe „Schiene“,
die schon mehrfach angesprochen worden ist und auf derdarüber geklagt worden ist, dass die Bahnreform zusniaEswndbaOfssdwdSbgEadsSddgdgBWnszPbudhsKq
ass seinerzeit weniger Geld zur Verfügung gestellt wor-en sei als in den letzten Jahren, dann muss ich Ihnen sa-en, dass das nicht zutreffend ist; denn Sie verschweigenen anderen Teil der Wahrheit, dass das Geld zwar, wieesagt, vorhanden gewesen ist, dass es aber von derahn nicht verbaut bzw. verplant werden konnte.
enn wir schon dabei sind, Bilanz zu ziehen, möchte ichoch darauf hinweisen, dass Sie auf dem besten Wegeind, die Mittel für die Bahn auf unter 4 Milliarden Eurou senken, also unter das, was beispielsweise Herrällmann auf der besagten Veranstaltung als unverzicht-ares Minimum bezeichnet hat.
Wir müssen leider feststellen – der Kollege Fischernd der Kollege Friedrich haben das bereits erwähnt –,ass die wesentlichen Zielsetzungen der Bahnreformeute wieder gefährdet sind. Das liegt auch daran, dassie nicht konsequent weiter verfolgt worden ist, Herrollege Weis. Ich wundere mich, dass Sie uns Inkonse-uenz bei der Bahnpolitik vorwerfen; denn ich denke,
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7913
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Eduard Lintnerdass wir in diesem Bereich ein Muster an Konsequenzsind.
Sie sind doch dabei, vom Pfad der Tugend abzuwei-chen. Bezeichnend ist, dass, als Herr Schmidt für eineTrennung von Netz und Betrieb plädiert hat, der Bei-fall nicht nur von der rechten Seite kam, sondern dassauch einige Ihrer Kollegen geklatscht haben. Das ist eindeutlicher Hinweis auf die richtige Weichenstellung.
Bahnchef Hartmut Mehdorn hat beim gestrigen Emp-fang gesagt, man sei noch lange nicht fertig. Damit hater natürlich völlig Recht. Insbesondere sind bis heutezwei Kernziele nicht erreicht worden: die Stärkung derSchiene innerhalb des Verkehrsmarktes und die nachhal-tige Entlastung des Bundeshaushalts. Die Zahlen sind al-les andere als positiv. Der Personenverkehr stagniert imGroßen und Ganzen, und dies auch nur deshalb, weil imregionalen Bereich deutliche Zuwächse zu verzeichnensind. Der Anteil des Güterverkehrs ist mittlerweile vonweit über 20 Prozent auf unter 15 Prozent gefallen. Dazuist es deshalb gekommen, weil die Bundesregierung undinsbesondere ihre zahlreichen Verkehrsminister nichtsolche Rahmenbedingungen geschaffen haben, dass dieBahn hätte loslegen können und in der Lage gewesenwäre, ungezwungener zu wirtschaften, als sie das tat-sächlich tun konnte.Lassen Sie mich einen Aspekt herausheben, der in die-sem Zusammenhang nicht unterschätzt werden sollte – erhat auch bei den Veranstaltungen, die diese Woche statt-gefunden haben, eine gewisse Rolle gespielt –: Wir allewissen – das ist völlig unbestritten –, dass vor allem derGütertransport über längere Strecken eine besondersstarke Seite des Schienenverkehrs ist. Angesichts dessenist Deutschland fast zu klein. Die Bahn hat deshalb einganz elementares Interesse daran, Güter auch überStaatsgrenzen hinweg möglichst reibungslos transportie-ren zu können.Im Gegensatz zum LKW, der innerhalb der EU heutepraktisch jeden Punkt, ohne anzuhalten, anfahren kann,dürfen die Züge der Deutsche Bahn nicht einfach nachFrankreich oder nach Italien fahren, sondern sie müssenvorher zahlreiche Hindernisse überwinden. Soweit diesetechnischer Art sind, handelt es sich um etwas Lästiges,was bewältigt werden muss; darin sind wir uns einig.Aber wo ein Wille ist, ist sicherlich auch ein Weg.Dieser Wille hat bis heute im Hinblick auf die Öff-nung der nationalen Schienennetze für die ausländischeund für die inländische Konkurrenz gefehlt. Deutschlandhat seine Schienenwege geöffnet und andere wichtigeeuropäische Länder sind ihm dabei bis heute leider nichtgefolgt. Frankreich leistet noch immer ganz hartnäcki-gen Widerstand, wenn es um die Liberalisierung des Zu-gangs zum eigenen Schienennetz geht.dsurFhdwsFudrVwBJmzKszdedvtugnddmBrgvlBnsnaigsHsplvw
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7914 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Nun frage ich Sie: Können wir es verantworten, ins-besondere der Bund als Eigentümer der Bahn, dass eineso schwer wiegende Entscheidung auf der Grundlage un-vollkommener Erkenntnisse bzw. Informationen getrof-fen wird? Es wäre doch insbesondere aufgrund der be-stehenden kontroversen Meinungslage das Mindeste,von der Bahn zu fordern, dass sie neben der Variante„Netz und Betrieb“ auch die Variante „Trennung vonNetz und Betrieb“ prüfen lässt. Dann wäre eine Grund-lage gegeben, auf der wir und möglicherweise auch sieselbst ehrlich beurteilen könnten, was der richtige Wegist.Ich sage Ihnen heute schon: Wenn die Bahn diese Al-ternative tatsächlich nicht untersuchen lässt, was leiderzu erwarten ist, dann ist es die Pflicht der Bundesregie-rung, diese Variante prüfen zu lassen.
– Von neutralen Gutachtern, selbstverständlich, HerrKollege Friedrich. – Nur dann sind wir in der Lage, einevernünftige Entscheidung zu treffen.
Herr Kollege, ich muss Sie darauf aufmerksam ma-
chen, dass Ihre Redezeit schon deutlich überschritten ist.
Ich bin dabei zum Schluss zu kommen, Herr Präsi-
dent.
Aus diesen Worten mögen Sie erkennen, dass wir
weiterhin bereit sind, konstruktiv, kritisch, aber auch
zielorientiert das weitere Schicksal der Bahnreform zu
begleiten.
Wir werden aber sehr darauf achten – das ist einer der
Punkte, an denen das ganz deutlich wird –
Nein, Herr Kollege, ich muss Sie jetzt wirklich bitten,
den Schluss nicht nur anzukündigen, sondern ihn auch
zu vollziehen.
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Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretä-
in Angelika Mertens.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-en! Herrn Lintner kann man eigentlich nur beglück-ünschen für diese in vielen Phasen wohltuend guteede. Ich werde gleich darauf zurückkommen, weil erinen sehr wichtigen Punkt angesprochen hat; denn ichenke, die offenen Grenzen sind für das, was wir vorha-en, das A und O.Ich will zu Beginn ganz kurz etwas zum Haushalt sa-en. Wir haben objektiv Probleme. Das hat mit der Mautu tun, das hat aber auch mit dem Ergebnis im Vermitt-ungsausschuss zu tun. Es hat damit zu tun, dass es zweiinisterpräsidenten gibt – der eine heißt Koch, der an-ere heißt Steinbrück –, die sich etwas ausgedacht ha-en, was zulasten der Bahn geht.Ich habe immer ein bisschen das Gefühl, dass Sieiese Herren gar nicht kennen.
ir werden uns damit befassen müssen.
Die FDP kann sich zurücklehnen; das stimmt. – Ichtimme dem Subventionsbegriff dieser beiden Herrenicht zu. Ich denke, dass wir darüber reden müssen.Vor einigen Tagen haben wir den zehnjährigeneburtstag der DB AG begangen. Ich werte den An-rag der CDU/CSU und der FDP als eine Art Wortmel-ung zum Geburtstag. Für eine Glückwunschkarte hat esicht ganz gereicht.Für eine Opposition ist das auch nicht ganz einfach,ie ist in einer Art Zwickmühle: Es darf auf keinen Faller Eindruck hinterlassen werden, dass es nicht sochlecht läuft, wie man es sich gewünscht hat. Auf dernderen Seite muss man natürlich alles vermeiden, wasuch nur ansatzweise darauf hindeuten könnte, dass manie eigene Reform infrage stellt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7915
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Parl. Staatssekretärin Angelika MertensIch habe dieses Problem nicht, ganz abgesehen da-von, dass ich, als die Bahnreform beschlossen wurde,noch nicht im Parlament war. Ich kann nur sagen: Es wareine richtige Reform, es war eine gute Reform, es wareine der wichtigsten Reformen dieses Landes. Nachzehn Jahren kann man auch sagen: Die Reform warüberfällig. Sie war für die Entwicklung des Verkehrs-marktes wichtig. Ich bin froh darüber und stolz darauf,dass meine Partei dabei war.
Ich teile das, was Herr Friedrich gesagt hat, nicht. Erhat gemeint, der Kompromiss sei letztlich Murks; Marxund Markt könne man nicht miteinander verbinden.
– Sie können nachher nachlesen, was Sie gesagt haben,Herr Friedrich.
Vielleicht haben Sie jetzt auch einen falschen Eindruckhinterlassen. – Ich denke jedenfalls, dass diese Reformrichtig und gut war.Die Reform ist nicht vollendet. Vor allem was dieVerlagerung von der Straße auf die Schiene angeht, ha-ben wir alle uns mehr erhofft. Das hat nicht nur mit denabsoluten Zahlen zu tun, sondern das hat vor allem mitdem Modal Split zutun. Da gibt es – da beißt die Mausdoch überhaupt keinen Faden ab – große Enttäuschung.
Da sollten wir aber auch fair sein. Wir können das nichtder DB AG allein anlasten.
Verlader und Spediteure, egal ob zu Wasser, zu Landeoder in der Luft, gehören in der Regel nicht zu den Ro-mantikern.
Für sie zählen Preis und Zuverlässigkeit als Kombina-tion, fast sogar symbiotisch.
Ich hatte das Vergnügen, neulich im Musterland derSchienenwege, in der Schweiz, an einer internationalenTagung teilzunehmen. Dort hat man versucht, sein Sor-genkind darzustellen. Das Sorgenkind ist trotz derSchwerverkehrsabgabe der grenzüberschreitende Gü-terverkehr. Man hat Probleme mit der Pünktlichkeit.Genau das bedrückt und ärgert auch uns hier am meis-tzlbaSkbWAdSdsNsfhmSBDreDdIFSNsrg
ie wissen, dass derzeit ein Gesetzentwurf in der Län-er- und Verbändeanhörung ist.Was die faktische Umsetzung angeht: Wir haben un-er Netz geöffnet. Fast 300 Unternehmen fahren auf demetz der DB AG. Der übliche Einwand, dabei handele esich nur um Museumsbahnen, ist – Sie wissen das auch –alsch. Der Großteil der Unternehmen, die darauf fahren,at nichts mit dem Freizeitgedanken zu tun.Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,it Ihrem Antrag rennen Sie zum Teil offene Türen ein.
ie unterstellen aber auch so etwas wie Verrat an derahnreform.
as Gegenteil ist der Fall.Zur Vollendung der Bahnreform gehört auch das Er-eichen der Kapitalmarktfähigkeit. Dazu zitiere ichinmal sehr verkürzt den Aufsichtsratsvorsitzendenr. Frenzel,
er gestern eigentlich nur gesagt hat: Was denn sonst?
ch kann das hier nur unterstreichen.Der Antrag enthält einige Detailforderungen für denall des Börsengangs. Deshalb möchte ich an diesertelle Folgendes noch einmal sehr deutlich machen:ichts wird aus dem Handgelenk entschieden. Für einenolchen Schritt brauchen wir, wie damals bei der Bahn-eform, gute und verlässliche Informationen sowie einenesellschaftspolitischen Konsens.
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7916 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Parl. Staatssekretärin Angelika MertensDas betrifft auch die Entscheidung des Eigentümersüber einen möglichen Börsengang. Nach wie vor bleibtdas grundlegende Ziel, die DB AG börsenfähig zu ma-chen. Priorität hat dabei die Herstellung der Kapital-marktfähigkeit des Unternehmens. Erst wenn dieseGrundvoraussetzung erfüllt ist, kann über einen Börsen-gang entschieden werden. Das Bundesministerium fürVerkehr, Bau- und Wohnungswesen ist ja nicht das ein-zige Ressort – wenn auch das wichtigste –, das daran be-teiligt ist. Es sind deshalb jetzt gemeinsame Arbeitsgrup-pen der Ressorts und der DB AG gebildet worden. Wirnehmen dabei die verfassungsrechtliche Verantwortung,die der Bund für das Schienennetz hat, sehr ernst.Meine Damen und Herren, die Task Force „Zukunftder Schiene“ hat nach sorgfältiger Prüfung Empfehlun-gen abgegeben, unter anderem die Empfehlung, das Un-ternehmen nicht aufzuspalten, sondern als Holding be-stehen zu lassen. Ich glaube, dass in diesem Punkt dermeiste Dissens zwischen uns besteht.Ich würde mich freuen – das ist jetzt nicht als Ange-bot von oben herab, sondern als freundliche Aufforde-rung zu verstehen –, wenn wir unaufgeregt, in gegensei-tigem Respekt und ohne Vorbedingungen – es wird jaimmer wieder versucht, solche hier hereinzubringen –über das gemeinsame Ziel, nämlich den erfolgreichenAbschluss der Bahnreform, miteinander sprechen könn-ten. Ich stehe Ihnen hierfür jederzeit zur Verfügung. Ichwürde mich freuen, wenn Sie darauf eingehen würden.Ich glaube, dass wir wie damals bei der Bahnreform ge-meinsam vorgehen sollten. Noch ist es nicht so weit. ImMoment werden wir nichts entscheiden. Erst brauchenwir gute Informationen, bevor wir etwas entscheiden.Diese werden wir Ihnen zur Verfügung stellen und wirsollten sie auch gemeinsam miteinander diskutieren.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Enak Ferlemann,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Zehn Jahre Bahnreform – manmuss, wie ich glaube, auch die Sichtweise derer berück-sichtigen, für die wir Politik machen, nämlich die Bürge-rinnen und Bürger dieses Landes und damit auch dieNutzer des Verkehrsträgers Schiene. Ich als Vielfahrerbei der Bahn bekomme immer einiges zu hören, wennbekannt wird, dass ein Bundestagsabgeordneter im Zugist, der auch noch Verkehrspolitik macht.
So bekommen Sie immer wieder zu hören, dass Reisenmit der DB AG, also Bahn fahren, immer noch eine mo-derne Form des Abenteuers ist.Sie können allerlei mit der Bahn erleben.–GnurmmvViNvchAIenZsvlreknAdRbgwDsnsuski
Ich sehe an Ihren Reaktionen ja, dass auch Sie solcheespräche führen. – Es ist ja nicht so, wie es hier von ei-igen dargestellt wurde, dass alles im grünen Bereich seind alles wunderbar laufe, man nur mit der Privatisie-ung nicht ganz zurechtkomme. Sie müssen einfach ein-al sehen, was im Betrieb konkret passiert: Sie bekom-en keine Anschlusszüge, weil der eigene Zug laufenderspätet ist.Was sich der Kunde von der Bahn wünscht, isterlässlichkeit. Genau das ist das, was das Bahnsystemn Deutschland nicht bringt. Es ist nicht verlässlich. Alsutzer kann man sich bei seinen Planungen nicht darauferlassen. Oft sind die Klimaanlagen defekt und die Kü-hen ausgefallen oder werden nicht bewirtschaftet. Soat man keine Möglichkeit, sich unterwegs zu versorgen.ndauernd passieren diese Dinge.
nsofern ist das, was mit der Bahnreform für die Nutzerrreicht werden sollte, aus Sicht der Kunden noch langeicht erreicht.
Mit der Bahnreform sind von der Politik bestimmteiele verfolgt worden – wir haben das heute Morgenchon mehrfach gehört –, beispielsweise mehr Verkehron der Straße auf die Schiene zu bringen und eine Ent-astung des Bundeshaushaltes zu erreichen. Zum Letzte-en ist schon einiges gesagt worden. Ich sage jetzt nochtwas zur verkehrspolitischen Zielsetzung, mehr Ver-ehr auf die Schiene zu bringen. Dieses Ziel ist ja soicht erreicht worden. Die Bahn hat immer geringerenteile an den Verkehrsleistungen. Wir wollen hoffen,ass der Erwerb von Stinnes und die Umgestaltung zuailion wenigstens im Cargo-Bereich den Durchbruchringt, den wir uns alle erhoffen. Dies scheint ein gelun-ener Zukauf zu sein; wollen wir sehen, wie es sich ent-ickelt.Das Erscheinungsbild ist katastrophal.
ie Preisreform, über die wir, im Übrigen auch im Aus-chuss, sehr engagiert diskutiert haben – das ist noch garicht lange her –, war ein klarer Fehlschlag, einechlimme Marketingmaßnahme, die zurückgenommennd jetzt deutlich verbessert wurde.Zur Verlässlichkeit habe ich einiges gesagt.
Herr Schmidt hat gesagt, die Qualität der Züge habeich verbessert. Bei den Zügen, mit denen ich fahre,ann ich das nicht feststellen. Der Gipfel war – das habech selber erlebt –, dass das Zugmaterial in einem Fall so
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Enak Ferlemannalt war, dass die Lokomotive vor einem Zug gebrannthat. Sie müssen sich einmal vorstellen, was das für dieReisenden bedeutet. Ich habe selber erlebt, dass die frei-willige Feuerwehr das Feuer an der Lokomotive löschenmusste. Meine Damen und Herren, wenn Sie in Bezugauf die Züge von einem Qualitätsstandard sprechen,dann müssen Sie auf anderen Strecken fahren als ich.
Ein schlechter Standard ist das, was die Leute tagtäglicherleben.
– Ich finde es gut, wenn bei Ihnen etwas Bewegung beidiesem Thema ist; das halte ich für richtig.Wie sieht es mit dem Wettbewerb aus? Wir habenauf der Schiene keinen Wettbewerb. Es gibt einige an-dere Betreiber, zum größten Teil auf Nebenstrecken,kaum auf Hauptstrecken, im Kerngeschäft. Woran liegtdas? Die Deutsche Bahn AG kann kein Interesse daranhaben, Konkurrenz auf die Schiene zu lassen, weil es ihrunmittelbar schadet.Es gibt auch keine nachhaltige Entlastung des Bun-deshaushaltes. Wir hatten bei der Bahn von 1961 bis1993 Verbindlichkeiten in Höhe von 34,3 MilliardenEuro; in der Zeit von 1994 bis Ende 2002 sind schonwieder 24,5 Milliarden Euro an neuen Schulden bei derDeutschen Bahn aufgelaufen. Das zeigt, in welcher Ra-sanz wir hier in eine Schuldenbahn gelaufen sind. Unddas Thema ist noch lange nicht beendet: Das Netz hängtam Tropf des Bundes und der Nahverkehr hängt amTropf der Länder.
– Genau, beides hängt am Geld des Steuerzahlers. Inso-fern wird auch der Bundeshaushalt nicht entlastet. Damitist für eine Privatisierung, wie sie angedacht wurde,noch kein Raum. Das Ziel wurde nicht erreicht.Deswegen muss die Bundesregierung zehn Jahre nachder Bahnreform eine umfassende Bestandsaufnahme undBewertung der Erfolge sowie der vielen Misserfolge derReform mittels externer Evaluierung durchführen.Gleichzeitig bedürfen die verkehrs- und haushaltspoliti-schen Voraussetzungen und Auswirkungen eines Bör-senganges der DB AG einer eingehenden Prüfung. Ichstimme denjenigen zu, die heute schon gesagt haben,dass der Deutsche Bundestag frühzeitig beteiligt werdenmuss, um die Voraussetzungen für eine breite Unterstüt-zung der zukünftigen Schienenverkehrspolitik zu schaf-fen, wie sie bereits ursprünglich Grundlage der Bahnre-form war.
Das Wichtigste scheint zu sein, dass der Bund – zu-mindest mittelbar – Alleineigentümer des Schienennet-zes der DB AG bleibt.DBudwWddwgntdcSistddmwTlkltSSdDUetosrBsgöQkFwdhhulR
ie verfassungsrechtlich verankerte Verantwortung desundes für die Schieneninfrastruktur muss konkretisiertnd gesichert werden. Ich kann mir natürlich vorstellen,ass die DB AG gerne das Netz privatisieren möchte –as hat sie denn sonst schon an Sicherheiten zu bieten?enn sie für einen Börsengang kapitalmarktfähig wer-en will, dann muss sie Sicherheiten bieten. Wenn sieie nicht hat, dann kann sie nicht so privatisiert werden,ie man sich das gemeinhin vorstellt. Da scheint einroßes strukturelles Problem in der Politik zu liegen.Dass Herr Mehdorn das Interesse nicht hat, kann manachvollziehen; er ist seinen privatwirtschaftlich orien-ierten Zielen verpflichtet. Aber wir als Deutscher Bun-estag haben andere Ziele im Auge, die wir nur errei-hen können, wenn wir die Verantwortung für diechieneninfrastruktur weiterhin im Hause behalten. Esst eben nicht so, dass, wie oft dargestellt wird, aus-chließlich die DB AG zuständig sei; nein, Alleineigen-ümer ist die Bundesrepublik Deutschland und damit istie Regierung in der Verantwortung. Sie sitzt ja auch inen Aufsichtsräten und kann die Politik der Bahn gutitsteuern und mitentwickeln. Das wird leider viel zuenig getan.Deshalb ist eine materielle Privatisierung – auch nureilprivatisierung – der Deutschen Bahn mit Netz abzu-ehnen. Ein Vorgriff auf zukünftige Gestaltungsmöglich-eiten des Haushaltsgesetzgebers etwa in Form einerangfristigen Verpflichtungsermächtigung für Infrastruk-urinvestitionsmittel muss ausgeschlossen werden.Benötigt wird eine konsequente Ausrichtung derchienenverkehrspolitik darauf, den entscheidendenchritt zu einer Wettbewerbsbranche zu vollziehen unden dazu notwendigen Wettbewerbsrahmen zu schaffen.as kann nur dann gelingen, wenn das bundeseigenenternehmen Deutsche Bahn AG dazu angehalten wird,inen ordnungspolitischen Auftrag des Eigentümers un-ernehmenspolitisch umzusetzen. Kernelement diesesrdnungspolitischen Auftrags muss sein, den strategi-chen Ansatz der zweiten und dritten Stufe der Bahn-eform wieder aufzugreifen und fortzuführen.Eine zukünftige Organisationsstruktur der Deutschenahn AG muss, wie im Rahmen der Bahnreform vorge-ehen, dem Transparenzgedanken Rechnung tragen. Dasilt insbesondere für die Unternehmensbereiche, in dieffentliche Finanzmittel fließen. Direkte oder indirekteuerfinanzierungen, wie bei der Maut – wenn sie dennommt – vorgesehen, sind zu vermeiden.Als erster Schritt sind die Empfehlungen der Taskorce „Zukunft der Schiene“ unverzüglich umzusetzen,obei die Vorgaben des Eisenbahninfrastrukturpaketser Europäischen Union, das die EU-Richtlinien bein-altet, strikt beachtet werden müssen. Die Richtlinienätten bereits bis zum 15. März 2003 in deutsches Rechtmgesetzt sein müssen. Das haben Sie nicht erreicht; dasiegt noch vor uns. Auch das ist ein großes Versagen deregierung.
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Enak FerlemannIn einem nächsten Schritt – das ist das Wesentliche –muss die Privatisierung der Verkehrsbereiche des DB-Konzerns eingeleitet werden. Der danach im Bundesei-gentum verbleibende DB-Konzern wird auf die Schie-neninfrastruktur reduziert, inklusive aller Einrichtungen,zu denen alle Wettbewerber in fairer Weise einen Zu-gang haben müssen.
Herr Kollege, bitte achten auch Sie auf die Redezeit.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Die Bahnreform muss nach zehn Jahren neu bewertet
werden. Daraus müssen die richtigen Konsequenzen
zum Wohle des Verkehrsträgers Schiene und damit zum
Wohle aller Bürgerinnen und Bürger gezogen werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Sören Bartol, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Ferlemann, am Anfang meiner Redemuss ich Ihnen sagen: Es ist mir völlig unverständlich,wo Sie in Deutschland mit der Bahn fahren.
Ich glaube, dass Sie den Schwerpunkt eindeutig auf dasAuto legen.
Sonst hätten Sie gemerkt, dass sich nach zehn JahrenBahnreform doch einiges bei der Bahn geändert hat.
Sie hätten ebenfalls gemerkt, dass in Deutschland einebrennende Lok nicht der Normalfall ist.Herr Ferlemann, ich sage Ihnen ganz ehrlich – das isthier schon von einigen Rednern angesprochen worden –:Diese Vorwürfe sind ungerecht gegenüber der DeutschenBahn AG und vor allen Dingen gegenüber ihren Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern, die sich in diesem Prozessnun wahrlich angestrengt haben.
Das Thema Fahrgastrechte hat den Bundestag in denvergangenen zwei Jahren wiederholt beschäftigt, zuletztvor zwei Monaten. Dies geschah zu Recht; denn einBaustein einer Strategie für einen attraktiven öffentli-chen Personenverkehr ist die Stärkung des Verbraucher-schutzes. Nur wenn Busse und Bahnen kundenfreund-lich und zuverlässig sind, nur wenn das Preis-Leistungs-VMmPsnFbmmtrrliodgtrmGmsnadtewEeuesdzgssstetiLimk
assen Sie uns deshalb gesetzliche Neuregelungen – ob BGB oder anderswo – nicht überstürzen, solange wireine fundierten Einschätzungen über die Folgen haben!
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7919
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Sören BartolDie öffentliche Diskussion über die Pünktlichkeitvon Bussen und Bahnen ist indessen nicht wirkungslosgeblieben. Die Deutsche Bahn AG und andere Verkehrs-unternehmen haben erkannt, dass sie ihr Image verbes-sern und Fahrgäste gewinnen, wenn sie bei Verspätun-gen mehr als bisher auf Kundenwünsche eingehen. Dasbedeutet, auch Entschädigungen zu gewähren.
Auch die Mobilitätsgarantie zum Beispiel des Verkehrs-verbundes Rhein-Ruhr und das Garantieticket des Ver-kehrsverbundes Rhein-Sieg zeigen, dass die Verkehrsun-ternehmen selbst Lösungen finden können und auchwollen.Die Deutsche Bahn AG arbeitet daran, ab Oktober2004 neue Entschädigungsregelungen in ihre Allge-meinen Geschäftsbedingungen aufzunehmen.
Wir hoffen, dass die Gespräche der Deutschen Bahn AGmit dem Verkehrsministerium und dem Verbraucher-schutzministerium bald zu einem konkreten Ergebnisführen.Wer von Ihnen die Bahn nutzt, hat das Bemühen be-merkt, die Fahrgäste am Bahnsteig und im Zug wissenzu lassen, warum sich ein Zug verspätet.
Das kommt gut an und zeigt: Gesetzlich geregelte Ent-schädigungsansprüche sind nicht alles. Aus Sicht derKunden sind für die Attraktivität von Bussen und Bah-nen auch Kundenfreundlichkeit und Service entschei-dend. Dazu gehören nicht nur Informationen über Ursa-chen von Verspätungen und über alternativeReisemöglichkeiten, sondern auch verständliche Tarifeund eine gute Beratung.Ich bin überzeugt, dass der zunehmende Wettbewerb,wenn wir ihn fair gestalten, zu günstigen Preisen undbesserer Qualität führt. Auf der Schiene haben wir be-reits für mehr Wettbewerb gesorgt,
und dies mit Erfolg. Viele neue Bahnbetreiber haben in-zwischen ihren Weg auf die Trassen der DB Netz gefun-den. Auch das nützt den Verbraucherinnen und Verbrau-chern.
– Herr Friedrich, das war wirklich ein wunderbarer Zu-ruf. –
– Genau.SmtegdgSdtdKrzsBBnsb1)
Die Kollegin Dr. Lötzsch hat ihre Rede zu Protokoll
egeben.1)
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
en Drucksachen 15/2156 und 15/2279 an die in der Ta-
esordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
ind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
er Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vier-
undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des
Abgeordnetengesetzes
– Drucksache 15/1687 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
– Drucksache 15/2440 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Uwe Küster
Eckart von Klaeden
Volker Beck
Jörg van Essen
Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünfminu-
enrunde vereinbart worden. – Ich höre dazu keinen Wi-
erspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
ollegen Uwe Küster für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-en! Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Vierund-wanzigsten Gesetz zur Änderung des Abgeordnetenge-etzes lösen die Bundestagsfraktionen der SPD und desündnisses 90/Die Grünen das Versprechen ein, alleürgerinnen und Bürger ohne Ansehen der Person amotwendigen Umbau des Sozialstaates zu beteiligen.Auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestagesind ebenso wie jedermann – anders als immer wiederehauptet – von den Folgen der Sozialreform betroffen. Anlage 2
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Dr. Uwe KüsterBereits im interfraktionellen Entschließungsantrag zumGesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Kranken-versicherung vom September letzten Jahres wurde derWille aller Fraktionen des Deutschen Bundestages un-missverständlich zum Ausdruck gebracht, die Abgeord-neten ebenso wie alle anderen Bürgerinnen und Bürgeran der Neugestaltung der Krankenversicherungsleistun-gen zu beteiligen. Die für alle geltenden Regelungen derKrankenversicherung sollen demnach sowohl für dieAbgeordneten des Deutschen Bundestages als auch fürMinister und Beamte gelten.Durch das Gesetz zur Modernisierung des Gesund-heitssystems wurde zur Stabilisierung der Situation dergesetzlichen Krankenversicherung das so genannte Ster-begeld aus dem Leistungskatalog des Sozialgesetzbu-ches vollständig gestrichen. Für Beihilfeberechtigtewurde eine wirkungsgleiche Anpassung der Beihilfevor-schriften vorgenommen. Damit wurde die Forderung desDeutschen Bundestages für Abgeordnete automatischmit umgesetzt.Es war nie unsere Absicht, die Gesundheitsreform nurformal nachzuvollziehen. Vielmehr ist es die Überzeu-gung meiner Fraktion, dass dort, wo der Abgeordnetewie jedermann an einer sozialen Leistung unseres Ge-meinwesens teilnimmt, auch materiell eine Gleichstel-lung erreicht werden muss. Daher haben die Fraktion derGrünen und meine Fraktion bereits Anfang Oktober letz-ten Jahres den heute zu behandelnden Gesetzentwurf indie parlamentarischen Beratungen eingebracht.Der Gesetzentwurf sieht vor, den Hinterbliebenen ei-nes Abgeordneten des Deutschen Bundestages einen derursprünglichen Höhe des Sterbegeldes in der gesetzli-chen Krankenversicherung entsprechenden Betrag inHöhe von 1 050 Euro abzuziehen. Die Hinterbliebeneneines verstorbenen Abgeordneten erhalten also zukünftigkeinerlei Zuschüsse zu den Bestattungskosten.Darüber hinaus haben alle Fraktionen die Einbezie-hung der ehemaligen Abgeordneten in die Pflicht derRentner, zukünftig den vollen Pflegeversicherungsbei-trag zu leisten, beschlossen. Wir setzen damit den unterallen Fraktionen unumstrittenen Weg der solidarischenTeilhabe der Abgeordneten an den Reformen der Sozial-kassen fort. Das, was wir den Bürgerinnen und Bürgernzumuten müssen, fordern wir uns auch selbst ab.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang kurz aufdie veröffentlichte Meinung zum Thema „Sterbegeldund Abgeordnete“ eingehen. Das, was wir und die deut-sche Öffentlichkeit im Herbst des letzten Jahres erlebthaben, hat mich persönlich sehr getroffen. Es stand derVorwurf im Raum, Abgeordnete würden sich dem Weg-fall des Sterbegeldes entziehen. Dies war und ist – derheutige Tag zeigt es deutlich – nie die Absicht gewesen.Hier wurde eine Kampagne gestartet, in der es nicht da-rauf ankam, was ein Abgeordneter persönlich leistet. Eskam auch nicht darauf an, ob wir Abgeordnete die kom-plexe Rechtslage, die von den Fachministerien inschwierigen Beratungen und Verhandlungen geschaffenwurde, quasi über Nacht in das Rechtssystem des Abge-ordnetengesetzes umsetzen konnten.kndgwVwrkWsfzfwBsiWhRmdCEtiokwBMldAgfKfslnFBv
Das Wort hat der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/
SU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!s gehört zu den in der Öffentlichkeit sorgsam gepfleg-en Irrtümern, dass es für Abgeordnete ein Sonderrechtn der Krankenversicherung gebe. Das ist falsch. Abge-rdnete können, wenn sie aus dem Beamtenverhältnisommen, wählen, ob sie weiter beihilfeberechtigt seinollen. Alternativ gibt es für sie wie für alle anderenürger, die derselben Gehaltsklasse angehören, dieöglichkeit, entweder freiwillig Mitglied in der gesetz-ichen Krankenversicherung zu sein oder sich vollstän-ig privat zu versichern. Es gibt also kein Privileg fürbgeordnete. Aus den von mir beschriebenen Gründenelten entweder die allgemeinen Regelungen für den öf-entlichen Dienst oder die der privaten oder gesetzlichenrankenversicherung, je nachdem, welche Wahl getrof-en wurde.Das hat zur Konsequenz, dass die Abgeordneten, dieich für eine freiwillige Mitgliedschaft in der gesetz-ichen Krankenversicherung entscheiden, die dort vorge-ommenen Leistungsreduzierungen mitzutragen haben.ür die anderen gilt, dass der Umfang der Leistungenestandteil des zivilrechtlichen Vertrages mit ihrer pri-aten Krankenversicherung ist.
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Eckart von KlaedenWir sprechen heute erneut über die Streichung des sogenannten Sterbegeldes für Abgeordnete. Auch dazu hates eine ganze Reihe von Verwirrungen gegeben. DasSterbegeld für Abgeordnete ist bereits 1989 im Rah-men einer Gesundheitsreform gestrichen worden.
Die damalige Regelung im Abgeordnetengesetz ist er-satzlos gestrichen worden. Man hat stattdessen ein Über-brückungsgeld eingeführt, bei dem ausdrücklich nichtauf die Bestattungskosten Bezug genommen wurde. Esist vielmehr an ähnliche Regelungen in Tarifverträgender freien Wirtschaft angelehnt worden.Dieses Überbrückungsgeld, das ausdrücklich keinSterbegeld gewesen ist, kürzen wir nun um 1 050 Euro.Dieser Betrag entspricht der Leistungsreduzierung in dergesetzlichen Krankenkasse. Die Kolleginnen und Kolle-gen, die freiwillig gesetzlich versichert sind, werden da-mit dreimal betroffen, nämlich durch die Streichung desSterbegeldes im Abgeordnetenrecht, die Streichung inder gesetzlichen Krankenversicherung und jetzt nocheinmal durch die Reduzierung des Überbrückungsgeldesim Abgeordnetenrecht. Die anderen haben den Vorteil,nur zweimal eine Kürzung hinnehmen zu müssen.Wir halten es angesichts der öffentlichen Diskussiongleichwohl für richtig, das zu tun. Dieser komplizierteSachverhalt ist offensichtlich nicht zu vermitteln und dereine oder andere Journalist hat scheinbar auch kein Inte-resse daran, ihn zu verstehen.
Diese Streichung findet also die Zustimmung unsererFraktion.Der zweite Punkt, über den wir heute beschließen, be-trifft die Einführung einer Regelung, nach der ehemaligeAbgeordnete den vollen Pflegeversicherungsbeitragzahlen müssen. Damit übernehmen wir für ehemaligeAbgeordnete die Regelung, die von der Koalition für diegesetzliche Rentenversicherung eingeführt worden ist.Ich will ganz deutlich sagen, dass wir die Einführungdieser Regelung in die gesetzliche Rentenversicherungabgelehnt haben und auch weiterhin ablehnen, denn da-durch kommt es zum ersten Mal zu einer realen Renten-kürzung. Das ist weder mit dem Wahlversprechen derKoalition zu vereinbaren noch entspricht es unserer Vor-stellung von einer leistungsbezogenen Rente.Es wäre aber umgekehrt nicht hinnehmbar, wenn dieBürger diese Kürzung in der Rentenversicherung hin-nehmen müssten, wir aber gleichzeitig den hälftigenPflegeversicherungsbeitrag für ehemalige Abgeordneteerhalten wollten. Deswegen übernehmen wir diese Re-gelung aus der Rentenversicherung 1 : 1 ins Abgeordne-tenrecht. Damit ist aber nicht zu verbinden, dass wir aufdiese Weise im Nachhinein der Änderung des Renten-rechts zustimmen wollen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
DKdrzdDelwgdBnRiSgwddUvazgsJtgfRAsdtwBcznSgdrnG
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Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
ollege Jörg van Essen, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nurintopf wird durch häufiges Erwärmen besser. Bei De-atten im Bundestag ist das nicht so. Zwar spürt man dasäufig nicht so sehr, aber es stimmt. Deswegen kann ichür meine Fraktion, die FDP-Bundestagsfraktion, erklä-en: Alle Argumente, die hier bisher vorgetragen wordenind, werden von uns geteilt. Für Abgeordnete gibt eseine Sonderversorgung und keine Sonderregelungen,ondern sie werden jeweils so behandelt wie diejenigen,ie in gleicher Weise wie sie versichert sind. Das ist un-ere Maxime, die wir auch in Zukunft vertreten werden;uch dann, wenn wir die eine oder andere Regelungbeispielsweise die Praxisgebühr, die wir für falschalten – heftig kritisieren. Daher haben wir als FDP-undestagsfraktion einen Antrag in den Deutschen Bun-estag eingebracht, sie wieder abzuschaffen.
ber solange die Bürger, die in der gesetzlichen Kran-enversicherung versichert sind, die Praxisgebühr zah-en müssen, müssen das selbstverständlich auch die Ab-eordneten tun.Ich will einen Aspekt nachtragen, den die Kollegenicht angesprochen haben. Bei der Kampagne, die leideron einem unserer Kollegen losgetreten worden ist, ist iner Presse immer wieder behauptet worden, die Abge-rdneten brauchten keine Praxisgebühr zu bezahlen. Ichill die Fakten hierzu liefern: Etwa die Hälfte unsererollegen ist in der gesetzlichen Krankenversicherungersichert.
ür sie hat von Anfang an die gleiche Regelung wie fürlle anderen gesetzlich versicherten Bürger gegolten.
as sollte meiner Meinung nach in dieser Debatte ange-prochen werden, weil wir so deutlich machen können,
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Jörg van Essendass die Diskussion, die der Kollege losgetreten hat,ohne jeglichen Grund geführt wird.Wir schaffen heute die Grundlage für die Gleichbe-handlung von Abgeordneten und allen anderen Bür-gern. Diese Gleichbehandlung ist für uns ganz selbstver-ständlich; das hat schon immer gegolten. Wir als FDP-Bundestagsfraktion werden dem Gesetzentwurf zustim-men.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Vierundzwanzigsten Geset-
zes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes auf
Drucksache 15/1687. Der Ausschuss für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2440, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-
setzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatz-
punkt 5 auf:
22 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Müller , Astrid Klug, Ulrike Mehl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der
SPD, der Abgeordneten Winfried Hermann,
Dr. Reinhard Loske, Volker Beck , weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeord-
neten Michael Kauch, Birgit Homburger, Rainer
Brüderle und der Fraktion der FDP
Einrichtung eines parlamentarischen Beirates
für nachhaltige Entwicklung
– Drucksache 15/2441 -
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nung
Technikfolgenabschätzung
hier: Sachstandsbericht – „Langzeit- und Quer-
schnittsfragen in europäischen Regierungen
und Parlamenten“
– Drucksache 15/2129 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
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Aus meiner Sicht ist bei der Entwicklung der Zivili-ation eine dreifache Problematik zu erkennen:Erstens. Wenn wir die großen Zukunftsprobleme lö-en wollen, dann müssen wir zu einem anderen Umgangit der Zeit kommen. Es ist beispielsweise nicht mög-ich, die großen ökologischen Probleme und die Fragener Innovation sowie der Generationengerechtigkeit zuösen bzw. zu beantworten, wenn wir nicht zu einem an-eren Umgang mit der Zeit kommen. Das heißt, wir sind
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7924 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Michael Müller
zu Lösungen nicht in der Lage, wenn allein die Kurzfris-tigkeit der Maßstab bei politischen Entscheidungenbleibt. Damit kann man keine Zukunftsprobleme lösen.Die Idee der Nachhaltigkeit bedeutet in erster Linie, zueinem längerfristigen rationalen Umgang mit der Zeit zukommen.
Der zweite wesentliche Aspekt der Nachhaltigkeit istaus meiner Sicht, dass wir den historischen Fehler dermodernen Zivilisation überwinden müssen. Die moderneZivilisation hat nämlich eigentlich schon seit Beginn derAufklärung, zum Teil aber auch schon seit Beginn derNeuzeit immer geglaubt, die Natur sei ein sich selbst re-gulierendes System. Die Grundidee der Moderne warimmer, es gehe alles immer weiter, schneller und größer.Tatsächlich sind die natürlichen Lebensgrundlagenaber ein limitierender Faktor. Wir können eben nicht voneiner Grenzenlosigkeit ausgehen. Insbesondere aufgrundder Erkenntnisse der Ökologie muss man postulieren:Die Menschheit muss mit Grenzen rational umgehen.Das bedeutet zwar nicht die Aufgabe des Wachstumsge-dankens, aber das bedeutet die Überführung und Fortent-wicklung des Wachstumsgedankens hin zur Idee derEntwicklung eines qualitativen Wachstums, wie wir esfrüher bezeichnet haben, bzw. einer nachhaltigen Ent-wicklung, wie es aus meiner Sicht heute zu bezeichnenist.Drittens. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft gibt esimmer mehr Teillogiken, die für sich genommen fastalle richtig sind, insgesamt aber nicht stimmig sind.Nachhaltigkeit ist ein Ansatz, um Teilbereiche wieder zueinem organischen Ganzen zusammenzuführen, wie esder Club of Rome gesagt hat. Insofern kennzeichnet dieIdee der Nachhaltigkeit für uns in erster Linie einen Pro-zess, umzudenken, neue Schwerpunkte zu setzen und zubegreifen, dass wir auf die drei großen Herausforderun-gen, nämlich auf den Umgang mit der Zeit, den Umgangmit Grenzen und die Integration komplexer Gesellschaf-ten, andere Antworten geben müssen.Wir haben bewusst keinen Ausschuss gebildet, weildann sofort die Konkurrenz zu anderen Ausschüssen ent-standen wäre. Herr Kollege Krings, wir haben darüberintensiv diskutiert. Wir merkten, dass in allen FraktionenWiderstand aufkam und die Frage gestellt wurde, obdenn ein Superausschuss geschaffen werden solle. Des-halb sagen wir: Wir wollen das nicht. Wir wollen Pro-zesse in Gang setzen und diese drei großen Fragen beiallen Entscheidungen mit einbeziehen. Ich habe IhrenAntrag so verstanden, dass auch Sie das wollen. Deshalbglaube ich, dass der Weg, den wir jetzt gewählt haben,der richtigere ist.Meine Damen und Herren, die Idee der Nachhaltig-keit ist eine Chance, in der Bundesrepublik wieder sehrviel mehr Zukunftskompetenz und -verankerung zu in-stallieren. Es ist die Idee, das Augenmerk nicht nur aufdie Ökonomie zu legen – so wichtig sie auch ist; ohneeine funktionierende Ökonomie gäbe es auch keineNachhaltigkeit –; denn eine Ökonomie für sich genom-men, ohne soziale und ökologische Leitplanken undoDNgtegnPnkSwBseläkWwACfwteptzawkvgCHdeiBII–Sß
Ich erteile das Wort dem Kollegen Günter Krings,
DU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen underren Kollegen! Lieber Herr Müller, drei Fraktionenieses Hauses präsentieren uns heute einen Entwurf fürinen Nachhaltigkeitsbeirat, mit dem sie unsere Arbeitm Parlament bereichern wollen. In der Tat klingt deregriff der Nachhaltigkeit modern und schick. Ich kannhnen bestätigen: Auch wir haben ihn im Gegensatz zuhrer Behauptung in unseren Antragstext aufgenommen.
Im dritten Spiegelstrich unserer Forderungen werdenie, wenn Sie genau hinschauen, auf diesen Begriff sto-en. Er springt Sie an dieser Stelle förmlich an.
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Dr. Günter KringsIch unterstelle den Urhebern dieses Antrags, HerrMüller, durchaus die besten Absichten. Aber wir stellennach langer Beschäftigung mit diesen Themen auch fest:Nicht überall da, wo Nachhaltigkeit draufsteht, ist auchzukunftsfähige und generationengerechte Politik drin.
Kratzt man nur ein wenig an der Oberfläche des An-tragstextes, so scheinen einem relativ schnell sehr vielmehr Fragen als Antworten entgegen.Die erste Frage ergibt sich aus den Aufgaben, die SieIhrem Nachhaltigkeitsbeirat zubilligen wollen. Warumsprechen Sie nur von parlamentarischer Begleitung derRegierungspolitik? Warum darf Ihr Beirat die Nachhal-tigkeitsstrategie nicht aktiv steuern und kontrollieren,sondern nur Vorschläge zu ihrer Fortentwicklung ma-chen? Es entspricht jedenfalls nicht meinem Selbstver-ständnis als Parlamentarier, wenn einem Bundestagsgre-mium gerade einmal die Abgabe von Empfehlungen unddie Kontaktpflege zu anderen Parlamenten zugestandenwird.
Mit einem solchen sehr zurückhaltenden Organ errei-chen Sie nichts, außer den Gedanken zukunftsorientier-ter und nachhaltiger Politik in diesem Hause zu diskredi-tieren.Die zweite Frage ist, ob die rot-grüne Mehrheit diesesHauses ausschließlich die Umweltprobleme unseresLandes als Belastungen für die künftigen Generatio-nen anerkennt. Die Schwerpunktsetzung Ihrer Redesprach für mich dafür. Seit der UN-Konferenz für Um-welt und Entwicklung von 1992, auf die Sie sich in Ih-rem Antrag gleich im ersten Absatz beziehen,
hat der Nachhaltigkeitsbegriff einen sehr viel weiterenZuschnitt erhalten. Unsere Fraktion war daran maßgeb-lich beteiligt.
Wenn wir uns mit Deutschlands Zukunft beschäftigen,dann dürfen wir nicht nur ökologische Altlasten untersu-chen,
sondern müssen uns auch überlegen, wie wir die ticken-den Zeitbomben in unseren Staatshaushalten und unse-ren sozialen Sicherungssystemen entschärfen können.Eine weitere Frage. Warum schlägt die Mehrheit die-ses Hauses nicht schlicht und ergreifend die Einsetzungeines Ausschusses zum Thema Nachhaltigkeit vor?WsbbGgdmdnssStidbKgsüsnnssmgwdKdsJWv–fbvseaSrB
arum bedienen Sie sich eines gänzlich neuen Kon-truktes namens Beirat? Sie haben eine Erklärung ange-oten; ich biete Ihnen gleich eine andere an. Die Aufga-en und Kompetenzen von Ausschüssen sind in dereschäftsordnung unseres Hauses klar und verbindlicheregelt. Ein Beirat muss seine Rolle erst mühsam fin-en. Er läuft daher Gefahr, sich mehr mit sich selbst alsit der Sache zu beschäftigen. Das verläuft dann nachem Motto: Gut, dass wir einmal darüber geredet haben.Fakt ist, dass die Regierungsfraktionen bei der ganzormalen Einsetzung eines Ausschusses nach den Ge-chäftsordnungsregeln keinen Zugriff auf den Aus-chussvorsitz haben. Diesen bekommen sie aber bei demonderkonstrukt Beirat. Da scheint offenbar die nachhal-ge Personalpolitik eines Herrn Müntefering Pate beiiesem Antrag gestanden zu haben.
Als Junge Gruppe innerhalb der Unionsfraktion ha-en wir bereits im Herbst des vergangenen Jahres dasonzept eines Zukunftsausschusses entwickelt und vor-estellt. Nahezu jedes Sach- und Fachinteresse – darintimme ich Ihnen vollkommen zu, Herr Müller – verfügtber eine parlamentarische Lobby in den 21 Ausschüs-en unseres Hauses. Nur die Interessen künftiger Ge-erationen finden sich in unseren Parlamentsgremienicht wieder. Man darf sich daher nicht wundern, wenneit Jahrzehnten, quer durch alle Regierungen, Interes-enkonflikte dadurch gelöst wurden und werden, dassan heute allen Seiten Gutes tut und die Zeche erst mor-en von denen zahlen lässt, die sich heute noch nichtehren können. Unbeeindruckt von einer schrumpfen-en Zahl von Geburten finanzieren wir unseren heutigenonsum auf den immer schmaler werdenden Schulterner künftigen Generationen. Das letzte grandiose Bei-piel „nachhaltiger“ Finanzpolitik haben Ende letztenahres Schröder und Eichel geliefert, als sie uns kurz voreihnachten eine Steuersenkung mit 80 Prozent Neu-erschuldung bescheren wollten.
Wir wollten weniger Neuverschuldung und haben da-ür gesorgt, dass die Neuverschuldung in Grenzen ge-lieben ist. Schauen Sie sich die Protokolle an. Die Neu-erschuldungspartei sind leider Sie.
Der von der CDU/CSU beantragte Zukunftsaus-chuss soll anders als Ihr Beirat echte Befugnisse undigenständige Aufgaben haben. Er soll Gesetzentwürfeuf ihre Generationenverträglichkeit überprüfen. Er sollchluss machen mit einem politischen Blindflug in unse-er sozial- und finanzpolitischen Gesetzgebung und alleneteiligten vor Augen führen, wie Gesetze von heute
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Dr. Günter Kringsunsere Steuern, Abgaben und Schulden von morgen be-einflussen.Die Idee, die hinter der Verträglichkeitsprüfung steht,beruht auf den harten Zahlen der Mathematik undheißt: Generationenbilanz. Dieses Informationsinstru-ment wurde in den USA entwickelt und in Deutschlandvon Professor Bernd Raffelhüschen weiterentwickelt.Der Name dürfte Ihnen auf der linken Seite des Hausesnoch aus der Rürup-Kommission bekannt sein.Meine Damen und Herren auf der linken Seite desHauses, wenn es Ihnen schwer fällt, einem Antrag derUnion im Deutschen Bundestag zuzustimmen, so hilftIhnen vielleicht ein Blick über den Tellerrand unserernationalen Politik bei Ihrer Entscheidungsfindung. In an-deren Ländern innerhalb und außerhalb der EU wurdenbereits erfolgreiche Strategien für mehr Generationenge-rechtigkeit im parlamentarischen Verfahren umgesetzt.Diesen Ansätzen folgt unser Antrag. So hat in Israel dieKnesset vor drei Jahren einen neuen parlamentarischenAusschuss mit dem Namen „Ausschuss für künftige Ge-nerationen“ geschaffen, der Gesetzesvorhaben auf ihreGenerationenverträglichkeit überprüft. In dem von Ihrensozialdemokratischen Bildungspolitikern so gelobtenFinnland gibt es bereits seit 1999 einen ähnlich angeleg-ten „Ausschuss für die Zukunft“. Auch deutsche Bun-desländer, zum Beispiel Sachsen, gehen mit gutem Bei-spiel voran. Der Sächsische Landtag hat sich aufBetreiben meines Parteifreundes Lars Rohwer für dieEinführung einer Generationenbilanz in Deutschlandausgesprochen.Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herrenvon der SPD und den Grünen, ich kann verstehen, dassSie angesichts Ihrer aktuellen Umfragewerte schon beimWort „Zukunft“ ein flaues Gefühl in der Magengrube be-kommen.
Unter Ihrer Magenverstimmung sollten aber die nachuns kommenden Generationen wirklich nicht zu leidenhaben. Folgen Sie daher zur Abwechslung einmal nichtIhrem Bauch, sondern Ihrem Kopf und stimmen Sie fürunseren Zukunftsausschuss!Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried
Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, vor Monaten haben wir Ihrer Fraktion das Ange-bot gemacht, bei einem solchen Gremium mitzuwirken,bei der Konstruktion des Gremiums und bei den Inhal-ten. Lange haben wir nichts von Ihnen gehört.
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Natürlich haben Sie mit den Begriffen der Zukunftnd der Generationengerechtigkeit zentrale Fragen derachhaltigen Entwicklung angesprochen. Aber – hörenie jetzt genau zu! –
ukunftsfähigkeit und Generationengerechtigkeit sindicht das Gleiche. Nachhaltigkeit ist weit mehr. Da gehts nicht nur um die Generationengerechtigkeit, sondernuch um die Gerechtigkeit innerhalb einer Generation,wischen Arm und Reich und zwischen Nord und Süd.s geht übrigens auch um die Frage, wie wir mit den na-ürlichen Ressourcen umgehen und wie wir Technikennd Technologien entwickeln, um die Zukunft bewälti-en zu können.
as alles haben Sie ausgeklammert. Insofern muss managen: Ihr Antrag zum Zukunftsausschuss und zur Gene-ationengerechtigkeit deckt nur einen Teilbereich ab. Esandelt sich nicht wirklich um eine Alternative. Wenn esine solche sein sollte, wäre es eine beschränkte Alterna-ive.Ich komme nun zu unserem Antrag und unserem An-atz. Ich möchte gerne anhand von zwei Leitfragen er-äutern, warum wir das Ganze machen. Warum brauchenir ein solches Gremium und was muss der parlamenta-ische Beirat leisten?Zunächst zu der Frage, warum wir ein solches Gre-ium brauchen. Wir wurden auch immer wieder gefragt,ie es beschaffen sein soll.
Nach einigen Jahren, in denen ich im Parlament Er-ahrungen in der Frage der Nachhaltigkeit gesammeltabe, muss ich, offen gesagt, feststellen – ich glaube,iele teilen diese kritische Einschätzung –: Obwohl dernstoß zur nachhaltigen Entwicklung und zur Nachhal-igkeitsstrategie aus diesem Parlament gekommen ist,at die parlamentarische Beteiligung nicht wirklichut funktioniert.
ie hat häufig gar nicht stattgefunden.
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Winfried HermannWie so oft war es auch in diesem Fall so, dass, wennsich alle zuständig fühlen, letztendlich keiner zuständigist.
Das ist ein wesentlicher Grund für unsere Forderungnach einem Gremium, das sich der nachhaltigen Ent-wicklung in besonderer Weise annimmt.Wenn man ein neues Politikkonzept vorlegt, das an-dere Arbeitsformen verlangt, wird deutlich, dass es aller-hand Barrieren und Hindernisse gibt. Dazu gehören dieRessortborniertheit, die Tatsache, dass bei uns alle Zu-ständigkeiten in den Ausschüssen, Gremien und Arbeits-kreisen klar geregelt sind, und – was auch von MichaelMüller angesprochen wurde – die Kurzatmigkeit, derAlltagsdruck in der Politik wie auch die fehlende Kohä-renz und Kooperation zwischen Politikfeldern und Han-delnden. Das ist übrigens nicht nur ein Problem der Re-gierungsparteien, sondern auch der Oppositionsparteien.Das ist ein grundlegendes Problem der Politik.Der Sachverständigenrat für Umweltfragen und andereExperten haben uns deutlich ins Stammbuch geschrieben:Hier ist das Parlament nicht gut aufgestellt. Wenn dieNachhaltigkeitsstrategie auf parlamentarischer Ebene be-gleitet werden soll, dann sind in diesem Bereich institutio-nelle Verbesserungen notwendig. „Capacity building“heißt der Fachbegriff. Das heißt, wir müssen selbst die In-stitutionen schaffen, mit denen es gelingt, das anspruchs-volle Konzept der nachhaltigen Entwicklung voranzutrei-ben. Dazu gehört, Querschnittsaufgaben und einelangfristige Politik zu organisieren, komplexe Zusam-menhänge zusammenzuführen und das, was noch weitauseinander klafft, auf bestimmte Leitideen zusammen-zuführen.Ein solches Konzept setzt eine neue Beratungs- undSteuerungsstruktur voraus. Dazu soll der Beirat mit bei-tragen. Er wird das nicht alleine schaffen; aber er stellteine Voraussetzung auf parlamentarischer Ebene dar, umdas zu verbessern, was bisher nicht wirklich gelungenist.Der Beirat muss sich aus meiner Sicht zwingend alsAnwalt der nachhaltigen Entwicklung in diesem Parla-ment verstehen und zugleich aufpassen, dass er nicht dasParlament quasi entsorgt. Das darf nicht passieren. DerBeirat muss dem Plenum und den Ausschüssen immerwieder Anstöße geben und sich als Ansprechpartner allerAbgeordneten verstehen, weil jeder Abgeordneteschließlich auch Vermittler und Kommunikator gegen-über den Bürgerinnen und Bürgern in den Wahlkreisenist.Was sind die Aufgaben? Neben denen, die ich bereitsausgeführt habe, ist vor allem wichtig, dass der Beirat ander Gestaltung, Entwicklung und Fortentwicklung dernationalen Nachhaltigkeitsstrategie aktiv mitwirkt, stattnur im Nachhinein informiert zu werden, wie es bisherzum Teil der Fall war.Notwendig ist eine aktive parlamentarische Beglei-tung. Das heißt, mit dem Beirat entsteht neben demGdlAAhaBmglWktNvskdwKsaTIdsttmvAwddlad
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von
er FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch-nd muss zukunftsfähiger und generationengerechter wer-en. Das betrifft die Umwelt und die Ressourcennutzung
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Michael Kauchebenso wie die Sozialsysteme, die Bildung und dieStaatsfinanzen. Hier stimme ich dem Kollegen von derCDU/CSU ausdrücklich zu.
Notwendig ist ein neues Verständnis von Wohlstand undLebensqualität, das sich nicht an Wahlperioden von vierJahren, sondern an langen Zeiträumen orientiert. Das istder Kern nachhaltiger Politik.
Warum ein Beirat für nachhaltige Entwicklung? – Inden meisten europäischen Ländern spielt das ThemaNachhaltigkeit in den Parlamenten kaum eine ernsthafteRolle. Der Deutsche Bundestag ist hier leider keine Aus-nahme. Zwar wurde mit der Enquete-Kommission„Schutz des Menschen und der Umwelt“ ein beachtli-cher Beitrag zur Nachhaltigkeitsdebatte geleistet. Jedochist daran bislang nicht angeknüpft worden. Die Formu-lierung und die Weiterentwicklung der nationalen Nach-haltigkeitsstrategie erfolgte bisher weitgehend am Parla-ment vorbei. Sie wurde und wird vom Kanzleramtkoordiniert. Wenn ich aber in Richtung Regierungsbankschaue, muss ich fragen, wo die Vertreter des Kanzler-amtes während dieser Debatte sind.
Es ist zwar sehr erfreulich, dass drei Ministerien vertre-ten sind. Aber ich hätte schon eine Präsenz des Kanzler-amtes erwartet. Der zuständige Staatssekretärsausschussist jedenfalls jeder Einflussnahme des Parlaments entzo-gen. Er macht Nachhaltigkeit nicht zur Chefsache, son-dern zur Geheimsache.Der 2001 von der Bundesregierung als Expertengre-mium eingesetzte Rat für Nachhaltige Entwicklungkrankt an Unterfinanzierung und eine Prüfung der kon-kreten Gesetzgebung auf Nachhaltigkeit und Generatio-nengerechtigkeit findet nicht statt. Wie sonst wären dieaktuelle Renten- und die Gesundheitsreform sowie dieFinanzpolitik der Regierung zu erklären? Schon 2002hätte im Zuge der nationalen Nachhaltigkeitsstrategieein parlamentarisches Gremium eingesetzt werden müs-sen, das die Nachhaltigkeitspolitik der Regierung beglei-tet und kontrolliert. Das haben Sie, liebe Kollegen vonRot-Grün, leider verschleppt.Der Beirat kommt spät. Aber mit der heutigen Ent-scheidung wird ein wichtiger Schritt in die richtige Rich-tung getan. Doch wir sollten weiter und vor allem überdie eigenen nationalen Grenzen hinaus denken. AndereEU-Länder wie Großbritannien und Finnland, aber auchdie anderen skandinavischen Länder sind uns in SachenNachhaltigkeit voraus. Es ist wichtig – das hat der Kol-lege Hermann schon angedeutet –, dass wir die Strategieder EU-Kommission für eine nachhaltige Ressourcen-nutzung mit unserer Arbeit thematisch vernetzen.
Es wäre schön gewesen, wenn es einen gemeinsamenAntrag aller Fraktionen zum Thema Nachhaltigkeit ge-geben hätte.Dhdrd–h–nDndDbfAwspantAdÜllWKSItsbüdb
as wäre ein Signal der Geschlossenheit für eine nach-altige Entwicklung in Deutschland gewesen. Doch lei-er konnte sich die Union nicht dazu durchringen, unse-en gemeinsamen Antrag zu unterstützen. Die Fraktioner CDU/CSU hat nun einen eigenen Antrag gestelltdieser ist zwei Tage alt –, und das, obwohl Sie uns vor-er klar signalisiert haben, dass Sie gar kein Gremiumkeinen Ausschuss, keinen Beirat, nichts – wollen.Wir von der FDP lehnen die Einrichtung des von Ih-en geforderten Zukunftsausschusses ab.
as Ziel, die Gesetzgebung einer generellen „Generatio-enverträglichkeitsprüfung“ zu unterziehen, findet je-och unsere Zustimmung.
ie FDP fordert seit vielen Jahren auch, Generationen-ilanzen zu erstellen. Allerdings ist Ihr Weg dabei dasalsche Instrument.
Das Erstellen von Generationenbilanzen – nach Ihremntrag soll dies Aufgabe dieses Ausschusses sein – gehteit über das hinaus, was ein parlamentarischer Aus-chuss leisten kann. Eine Generationenverträglichkeits-rüfung, eine Nachhaltigkeitskontrolle oder wie man esuch immer nennen mag, muss jeder Fachausschuss zu-ächst einmal selber durchführen. Eine Art Oberkon-rollausschuss ist nicht der richtige Weg. Ein solcherusschuss wäre mit dieser Arbeit hoffnungslos überfor-ert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, imbrigen erscheint mir dieser Antrag eher als ein untaug-icher Versuch, auf ein Boot aufzuspringen, das schonängst abgelegt hat.
ir – da spreche ich wohl auch für die Kolleginnen undollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – hättenie gern von Anfang an im Boot gehabt. Doch der vonhnen gestellte Antrag ist nichts anderes als blanker Ak-ionismus.
Ich freue mich – lassen Sie mich das zum Abschlussagen –, dass diese parlamentarische Initiative auf einreites, die Grenzen von Regierung und Oppositionberschreitendes Fundament gestellt wurde. Ich hoffe,ass dies der Anfang einer großen gesellschaftlichen De-atte über mehr Nachhaltigkeit in unserer Politik wird.Vielen Dank.
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Michael Kauch
Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung inDeutschland hat der Deutsche Bundestag die ThematikNachhaltigkeit bereits in zahlreichen Enquete-Kommis-sionen aufgegriffen: Sowohl in der 12. als auch in der13. und 14. Wahlperiode waren dazu Kommissionen ein-gerichtet. Sie trugen die Titel „Schutz des Menschen undder Umwelt“, „Nachhaltige Energieversorgung“ und„Demographischer Wandel“. Sie beziehen sich auf dasDrei-Säulen-Modell: Nachhaltigkeit ist ein Gesamtpaketaus sozialer, ökonomischer und ökologischer Entwick-lung. Durch die Arbeit dieser Enquete-Kommission wirddie Definition von Nachhaltigkeit der Brundtland-Kom-mission bekräftigt. Diese Definition besagt, Nachhaltig-keit bedeutet, den Bedürfnissen der heutigen Generationzu entsprechen, ohne die Möglichkeiten künftiger Gene-rationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, zu ge-fährden.Auf Anraten der Enquete-Kommission „Schutz desMenschen und der Umwelt“ kam die Bundesregierungim Jahr 2000 der Aufforderung der Agenda 21 von 1992nach, einen Rat für Nachhaltige Entwicklung einzu-setzen, der den Entwurf einer nationalen Nachhaltig-keitsstrategie erarbeitet hat. Die Bundesregierung legtediesen Entwurf 2002 vor.
Wenn man sich mit dem Thema „Nachhaltigkeit inDeutschland“ beschäftigt, dann stellt man fest, dass eskeinen Mangel an Sachverstand, Konzepten und sogarkonkreten – in mehreren Bereichen vorhandenen – Hand-lungsanweisungen gibt.Wie sieht es nun aber mit der Umsetzung dieses Wis-sens in konkrete Politik aus? Richtet sich Politik inDeutschland an der gleichberechtigten und gleichwerti-gen Sicherung und Respektierung ökonomischer, ökolo-gischer und sozialer Bedürfnisse der heutigen Genera-tion und der zukünftigen Generationen aus? Schauen wiruns einige Politikbereiche konkret an.Finanz- und Haushaltspolitik: Die dramatische Verschul-dung der öffentlichen Haushalte des Bundes, der Län-der und der Kommunen von über 1 300 Milliarden Euround das wiederholte Verletzen der Maastricht-Kriterienist bereits angesprochen worden.Ich will Ihnen von einer ganz persönlichen Erfahrungberichten. Unser zehnjähriger Junge interessiert sich in-zwischen für das Lesen von Zeitungen. Er fragte michkzwddrsHbKdvDSlSiKsSmsWdamKhslkdSeEHeg
ie Energieversorgung ist jedoch einer der wichtigstentandortfaktoren; sie wird die Entwicklung Deutsch-ands auf ökologischem, ökonomischem und sozialemektor maßgeblich beeinflussen.
Wie passt der Atomausstieg mit den von Deutschlandm Rahmen der Kioto-Verpflichtung und des nationalenlimaschutzziels zu erreichenden Klimaschutzzielen zu-ammen? Es liegt kein realistisches, durchgerechneteszenario vor, das vor dem Hintergrund, dass bis 2020indestens 45 neue Kraftwerke gebaut werden müssen,chlüssig wäre.
ie passt in dieses Konzept, dass die Bundesregierungie Kohleförderung im Haushalt 2004 mit circa 16 Milli-rden Euro festgeschrieben hat?Ob man für oder gegen Atomstrom ist, darüber kannan sprechen. Aber Deutschland erzeugt Strom ausernkraft und hat meiner festen Überzeugung nach da-er auch die ethische Verpflichtung, für eine sichere Ent-orgung dieses hochgiftigen Abfalls zu sorgen. Ein mög-icher Lagerstandort, der Salzstock in Gorleben – erönnte geeignet sein –, darf nicht weiter untersucht wer-en. Nach einer Investition in die Erkundung diesesalzstocks in Höhe von 1,3 Milliarden Euro gibt es nunin Moratorium, das pro Jahr lächerliche 20 Millionenuro kostet.
ochgiftiger Atommüll muss oberirdisch in natürlichbenfalls für viel Geld zu errichtenden Zwischenlagernelagert werden. Ist das nachhaltig?
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Deutschland war weltweit führend in der Sicherheits-technik im Bereich Kernkraft. Qualifizierte Technikerund Ingenieure wurden im Rahmen des Moratoriumsentlassen und sind praktisch nicht ersetzbar, da es auchdie entsprechenden Ausbildungskapazitäten nicht mehrgibt. Ist das nachhaltig? Hat das etwas mit Verantwor-tung für die heutige und kommende Generation zu tun?Ein weiteres Beispiel ist die EU-Chemikalienpolitik.Natürlich unterstützen wir das Ziel der EU, den Umgangmit Chemikalien für Mensch und Umwelt so sicher wiemöglich zu machen. Doch man darf nicht vergessen: DieSicherheit für den Umgang mit Chemikalien ist bereitsim Rahmen einer Vielzahl von Gesetzen und Verordnun-gen recht gut geregelt. Die neue EU-Chemikalienpolitikgefährdet den größten europäischen ChemiestandortDeutschland erheblich. Die 90 Prozent kleinen und mitt-leren Unternehmen in diesem Bereich sind besonders be-troffen, da sie durch den Wegfall zahlreicher Stoffe aufindividuelle Kundenwünsche auch in kleinen Chargennicht mehr wie bisher schnell reagieren können. Dasmindert ihre Wettbewerbschancen. Es steht zu befürch-ten, dass Arbeitsplätze verloren gehen und Firmen ihreProduktionsstandorte in Drittländer verlegen. Ist das un-ter besonderer Berücksichtigung ökonomischer, sozialerund ökologischer Gesichtspunkte nachhaltig?
Meine Damen und Herren, wie man sieht, haben wirwieder einmal keinen Mangel an Erkenntnissen, sonderneinen Mangel in Bezug auf die Umsetzung konkreterNachhaltigkeitsziele in konkrete Gesetzesvorhaben. Da-bei müsste der Gedanke der Nachhaltigkeit, die Sorgeum die Zukunft, immanent in die Ausarbeitung von Ge-setzesvorhaben einfließen, sodass ein weiteres Kontroll-gremium eigentlich entbehrlich wäre.Unter den gegebenen Umständen ist allerdings dieEinrichtung eines Zukunftsausschusses entsprechend un-serem Antrag erforderlich. Bei dem nunmehr von denRegierungsfraktionen und der FDP vorgeschlagenenBeirat handelt es sich hingegen um ein bloßes Phantom.In der Geschäftsordnung dieses Hauses taucht dieses In-stitut nicht auf, stattdessen der Begriff Ausschuss.Wir brauchen nicht noch ein Gremium, das sich theo-retisch mit Erkenntnisgewinn beschäftigt. Wir brauchenendlich eine Regierung, die das als richtig Erkannte auchpolitisch umsetzt.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Astrid Klug von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Po-litik für heute ist nur gut, wenn sie auch morgen nochrFdisAdnUtsSmMfikisPz„gdKnSEwertEsvtuim
enn die Atomkraft stellt ein Risiko für die nächsten Ge-erationen dar.Das Wort Nachhaltigkeit hat aber Konjunktur. Wer alsnternehmer etwas auf sich hält, erstellt einen Nachhal-igkeitsbericht. Viele lokale Agendagruppen engagierenich vor Ort für konkrete Projekte der Nachhaltigkeit.tiftungen und Forschungsinstitute entdecken zuneh-end die Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist in allerunde. Während sich aber die einen an dem etwas stei-en Begriff verschlucken, wird er von anderen geradezunflationär eingesetzt – für alles, was irgendwie mit Zu-unft zu tun hat. Ich sage Ihnen: Als Modeerscheinungst uns die Nachhaltigkeitsdebatte zu schade. Wir wollentattdessen, dass sie zum Kompass für Gesellschaft undolitik wird.
Deshalb haben Bundesregierung und Bundestag vorwei Jahren die Nationale NachhaltigkeitsstrategiePerspektiven für Deutschland“ beschlossen. Darineht es sehr wohl um Generationengerechtigkeit. Es gehtarum, wie wir es erreichen können, dass wir unserenindern, unseren Enkeln und unseren Urenkeln intakteatürliche Lebensgrundlagen und genügend finanziellenpielraum für ihre eigenen Handlungen hinterlassen.
s geht darum, dass wir heute Vorsorge betreiben, indemir in Innovation und Bildung investieren. Herr Krings,s geht um wesentlich mehr als nur um Generationenge-echtigkeit. Es geht auch um Lebensqualität, um Mobili-ät, um gesunde Luft, um gesunde Nahrungsmittel.
s geht um den sozialen Zusammenhalt in der Gesell-chaft, um die Verteilung von Arbeit und um Perspekti-en für Familien. Es geht ferner um unsere Verantwor-ung in der internationalen Zusammenarbeit. Es geht umnseren Beitrag zur gerechten Verteilung von Chancenn dieser Welt und zur weltweiten Bekämpfung von Ar-ut in einer globalisierten Welt.
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Astrid KlugDas Green Cabinet, der ressortübergreifende Staats-sekretärsausschuss,
arbeitet interdisziplinär an der Umsetzung und der Wei-terentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie. Wir habenschon gehört: Es gab in den vergangenen Legislaturperi-oden zahlreiche Enquete-Kommissionen, die wichtigeund wertvolle inhaltliche Grundlagen für unsere Arbeitgelegt haben.Der von der Bundesregierung 2001 berufene Nach-haltigkeitsrat hat den Auftrag, die Bundesregierung inSachen Nachhaltigkeitspolitik zu beraten,
Ziele, Indikatoren und Projekte vorzuschlagen und dieöffentliche Debatte zu forcieren. Viele wichtige Impulse– das muss man an dieser Stelle noch einmal betonen –sind in dieser Zeit vom Nachhaltigkeitsrat ausgegangen.Uns in der Politik wurden auch kritische Worte mit aufden Weg gegeben, die unsere weitere Arbeit prägen soll-ten.
Wir in der SPD-Fraktion wollen, dass das Parlamentin der Nachhaltigkeitsdebatte eine Katalysatorenrolleübernimmt,
sich aktiv in die Nachhaltigkeitsdebatte einmischt unddie Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategiekonstruktiv und kritisch begleitet; denn obwohl mittler-weile viel über Nachhaltigkeit geredet wird, sind wir vondem Ziel einer nachhaltigen Politik – da haben Sie völligRecht – immer noch weit entfernt, das aber schon seitJahrzehnten und unabhängig davon, welche Parteifarbein dieser Republik regiert hat.Woran liegt das? Politisches Handeln ist nach wie vorviel zu kurzfristig an Haushaltsjahren und an Wahlperio-den orientiert.
Die Versuchung, in unserer kurzlebigen Mediengesell-schaft schnell sichtbaren – vermeintlichen – Erfolgenmehr Aufmerksamkeit zu widmen als langfristigen Wir-kungen, ist zu groß. Die Bedürfnisse und Interessen dernächsten Generationen – diese können sich nicht äu-ßern und nicht in die Debatte einmischen, weil sie nochgar nicht geboren sind – kommen im politischen Alltags-geschäft immer wieder unter die Räder.Die arbeitsteilige Organisation von Politik verhindertdie Klammer, die einzelne Themen und widerstreitendeInteressen zu einem Leitbild zusammenbindet. Die Men-schen sehnen sich aber nach Orientierung und Halt. Wirsind der Meinung, dass die Nachhaltigkeit als LeitbildpgMetesFvpgdwpsucAsdhshDEnDukffErwtraihVnv„RTtid
uch der Politikbetrieb und das klassische Politikver-tändnis der letzten Jahre brauchen Innovation. Wir sinder Meinung, dass wir mit dem Beirat, den wir Ihneneute vorschlagen, genau die richtige Innovation in die-em Bereich auslösen, damit Nachhaltigkeit eine Chanceat, auch wirklich umgesetzt zu werden.
Die SPD-Fraktion, die Fraktion des Bündnisses 90/ie Grünen und die FDP-Fraktion schlagen dafür dieinrichtung eines Parlamentarischen Beirates für dieachhaltige Entwicklung vor.
ieser Beirat soll Plattform
nd Impulsgeber für eine fortschrittliche Nachhaltig-eitsdebatte sein, die interdisziplinär Fäden zusammen-ührt, langfristige Perspektiven entwickelt, Querschnitts-ragen koordiniert und kritisch hinterfragt, ob politischentscheidungen dem Ziel der nachhaltigen Wirkung ge-echt werden.Der Beirat soll die Umsetzung und die Weiterent-icklung der Nachhaltigkeitsstrategie begleiten, kon-ollieren und auch mitgestalten. Wir wollen Kontakte zullen Akteuren der Nachhaltigkeitsdebatte pflegen, mitnen Diskussionen führen, uns insbesondere auch mitertretern anderer Parlamente austauschen und von ih-en lernen und auf diese Weise die Debatte europaweiternetzen.An dieser Stelle möchte ich an den TAB-BerichtLangzeit- und Querschnittsfragen in europäischenegierungen und Parlamenten“ erinnern. DieserAB-Bericht ist auf Initiative der SPD-Bundestagsfrak-on entstanden; ich möchte mich dafür besonders beier Kollegin Ulla Burchardt bedanken. Darin wurde
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Astrid Kluguntersucht, wie andere europäische Länder mit diesemThema umgehen, wie dort langfristige politische Strate-gien und Querschnittsthemen in die politische Debatteeingebunden werden und mit welchen Instrumenten ge-arbeitet wird. Das Büro für Technikfolgenabschätzunghat uns die Empfehlung gegeben, hier bei uns ein parla-mentarisches Gremium zu installieren,
das diese Debatte begleitet und konstruktiv und kritischunterstützt und die entsprechenden Impulse gibt.Ich will mich ausdrücklich bei den Kolleginnen undKollegen der FDP dafür bedanken, dass sie den Antragauf Einrichtung dieses Beirats unterstützen und damitdas in dieser Frage so wichtige Signal der partei- bzw.fraktionsübergreifenden Verantwortung für die Zukunftgeben. Sie unterstreichen damit, wie ernst sie es nehmen.Ich bedauere, dass die CDU/CSU-Fraktion nicht über ih-ren Schatten springen konnte, stattdessen aber kurz vorToresschluss wie Phönix aus der Asche ihren Zukunfts-ausschuss präsentiert hat, der sich alleine mit demThema Generationengerechtigkeit beschäftigen unddiesen Bereich kontrollieren soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Antragsteht nichts von Nachhaltigkeit. Das heißt, Sie haben dieBedeutung dieses Themas nicht begriffen. Nachhaltig-keit hat viel mit Generationengerechtigkeit zu tun, abereben nicht nur. Es geht dabei um wesentlich mehr. Daswollen wir mit unserem Ansatz entsprechend unterstrei-chen.
Einen Ausschuss nach Ihrem Muster hätten wir ein-richten können, wenn wir das Thema üblichen Parteiritu-alen und einem Kampf der Generationen hätten ausset-zen wollen. Aber genau das wollten wir nicht. Wirwollen einen Prozess in Gang setzen, wir wollen den Di-alog, wir wollen, dass sich das Politikverständnis weiter-entwickelt und es zu einer nachhaltigen Veränderung inden Köpfen und in den Herzen kommt. Daran mitzuar-beiten, dazu laden wir Sie ausdrücklich ein.Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeFrau Kollegin Klug, wenn diese Rede jetzt die Bewer-bungsrede für den Vorsitz war, dann war sie okay.DDHhDNbdwdnsAidtAesddmBrsddsFs–adgdgs–ds
as Tempo, das Sie an den Tag gelegt haben, um dieseinge durchzudrücken, scheint mir allerdings eher eininweis darauf zu sein, welch schlechtes Gewissen Sieaben.
Über den Kern des Themas sind wir uns doch einig.eshalb will ich hier auch nicht über den Begriff derachhaltigkeit reden. Sie wissen selber, dass es sich da-ei im Grunde um einen zutiefst deutschen Begriff han-elt, der in der deutschen Forstwirtschaft entwickelturde. Von Anfang an war damit der Gedanke verbun-en, nur das zu nutzen, was im gleichen Zeitraum wiederachwächst. Von Anfang an waren in ihm ökologische,oziale wie auch wirtschaftliche Elemente enthalten.ber wenn wir das Thema für so wichtig erachten undm Parlament verankern wollen, müssen wir uns schonarüber unterhalten, warum wir den Weg der Einrich-ung eines Beirates wählen und nicht vielmehr einenusschuss, wie wir es wollen, im deutschen Parlamentinrichten. Da gehört das Thema nämlich hin.
Der Begriff der Nachhaltigkeit ist seit 1713 unter-chiedlich ausgelegt worden. Die große Euphorie ist ersturch den Brundtland-Bericht 1987 entstanden. Er fin-et sich dann auf der Rio-Konferenz 1992 wieder undittlerweile ist er im Nachhaltigkeitskonzept 2002 derundesregierung wiederzufinden. Jetzt kommt das Inte-essante: Der Sachverständigenrat für Umweltfragenagt in seiner Stellungnahme zur Konzeption der Bun-esregierung, in Bezug auf die Nachhaltigkeit betreibeie Bundesregierung eine Begriffsauflösung, sie nehmeie nicht mehr wirklich wahr.
ritz Vorholz geht in der „Zeit“ sogar noch weiter. Erchreibt:Warum indes das Konvolut der Bundesregierung –mit dem Nachhaltigkeitsetikett geadelt wurde ... istauf den ersten Blick kaum ersichtlich.Nachhaltigkeit wird durch Sie zur Leerformel, die fürlles steht, was Rot-Grün sowieso plant bzw. verabschie-et; wir erleben es heute wieder. Ich frage Sie: Warumehen wir eigentlich nicht den Weg, dass wir die Dinge,ie heute unter diesem Tagesordnungspunkt zusammen-efasst sind, in den zuständigen Geschäftsordnungsaus-chuss verweisen, um uns dort darüber zu unterhalten?
Nein, er war es nicht. – Sie drücken auf das Tempo undrängen auf eine sofortige Abstimmung ohne Überwei-ung.
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Georg FahrenschonIch komme zum Punkt: Der Beirat, den Sie uns hierunbedingt unterjubeln wollen,
ist ein weiterer Beleg Ihres falschen Verständnisses vonNachhaltigkeit.
Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen machen muss. Wirsind eine parlamentarische Demokratie, noch sind wirkeine Räterepublik.
Wir wollen dieses Thema dort behandeln, wo es hinge-hört.
Deshalb lautet unser Gegenkonzept klipp und klar: Wirbrauchen einen Ausschuss. Er muss umfassend zustän-dig sein, sich selbstverständlich mit Umweltschutz undder Entwicklung der natürlichen Ressourcen auseinandersetzen, er muss sich aber eben auch mit der demographi-schen Entwicklung, mit der Entwicklung auf dem Ar-beitsmarkt, mit der Entwicklung der sozialen Siche-rungssysteme und mit der Entwicklung vonWissenschaft und Bildung am Standort Deutschland aus-einander setzen. Er braucht einen umfassenden Auftrag.
Wir haben auch ein Mittel dazu: das Mittel der Gene-rationenverträglichkeitsprüfung, das Mittel der Genera-tionenbilanz ist entwickelt. Selbst die Bundesbankmacht bereits alljährlich Prüfungen und Rechnungen, diedie Generationenverträglichkeit, die GenerationenbilanzDeutschlands darstellen. Die Werte sind unter Ihrer Re-gierung nicht besser geworden; das wundert uns auchnicht.
Meine Damen und Herren, wir fordern bewusst einenQuerschnittsausschuss; wir haben uns das wohl über-legt. Wir wollen diesen Ausschuss vor der ersten Lesungin den Fachausschüssen mit entsprechenden Themen be-fassen, um den Fachleuten die Dinge mit auf den Weg zugeben, die wir in diesem Fachausschuss umfassend undgenerationengerecht entwickeln.
Dafür gibt es ein Beispiel: Der Europaausschuss ist ausdenselben Gründen als Querschnittsausschuss aufgestelltworden, nämlich weil wir gesagt haben: Das deutschePrsEnsnsEs–nTunwAtsFdrt
Ich fordere Sie deshalb noch einmal auf – ich kannur an Sie appellieren –: Machen Sie nicht Politik à larittin – tricksen, tarnen, täuschen –, sondern nutzen Sienser Angebot zu einer breiten parlamentarischen Ausei-andersetzung über eine erfolgreiche nachhaltige Ent-icklung.
ber wenn schon, denn schon! Lassen Sie uns das rich-ig machen, denn der beste Weg, die Zukunft vorauszu-agen, ist, sie zu gestalten.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen under FDP auf Drucksache 15/2441 mit dem Titel „Ein-ichtung eines parlamentarischen Beirates für nachhal-ige Entwicklung“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmsstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion an-genommen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/2129 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Zusatzpunkt 5. Wir kommen zur Abstimmung überden Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache15/2387 mit dem Titel „Einrichtung eines Zukunftsaus-schusses“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktiongegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Christel Happach-Kasan, Hans-MichaelGoldmann, Daniel Bahr , weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPDistanzierung der Bundesregierung von ge-setzwidrigen Zerstörungen von Freisetzungs-versuchen mit gentechnisch verändertenPflanzen– Drucksache 15/1825 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Christel Happach-Kasan, Hans-MichaelGoldmann, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPFreilandversuche mit gentechnisch veränder-ten Apfelsorten in Pillnitz und Quedlinburgdurchführen– Drucksache 15/2352 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFDP-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der KolleginChristel Happach-Kasan das Wort für die FDP-Fraktion.gäsGR–pgfitsdtVSFglsvITdFSmbdErwgszddid1Vc
ie muss auch den ihr nahe stehenden Kritikern deutlichachen, dass auch sie an rechtsstaatliches Handeln ge-unden sind, und sie muss dieses Handeln auch einfor-ern.
s gibt in unserem Rechtsstaat keinen Freibrief fürechtswidriges Handeln.
Die Übersicht über die zerstörten Versuche zeigt: Esurden Versuchsfelder von Pflanzenzuchtunternehmenenauso zerstört wie Felder, die der Sicherheitsfor-chung dienten. Es wurden Felder von Kulturpflanzenerstört, die auskreuzen, genauso wie Felder von Arten,ie nicht auskreuzen können. Zerstörung und nichts an-eres, was auch sonst als Motiv genannt sein mag, stehtm Vordergrund.
Der Bund der Pflanzenzüchter beziffert die Schädenurch die Zerstörung von Versuchen auf zwischen,5 Millionen und 2,5 Millionen Euro. Hinzu kommt dererlust an Wissen, an Marktchancen, an Zukunftschan-en für junge Menschen, die Themen der Sicherheits-
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Dr. Christel Happach-Kasanforschung in Diplom- und Doktorarbeiten bearbeitenwollten.Im Grundgesetz ist der Schutz des Eigentums veran-kert. Es kann nicht sein, dass eine Bundesministerin dieZerstörung von Eigentum toleriert.
Ich fordere Sie, Ministerin Künast – ich bedauere sehr,dass sie heute nicht anwesend ist –, nachdrücklich auf:Distanzieren Sie sich klipp und klar von den Feldzerstö-rungen, egal von wem sie durchgeführt wurden! Das istdas Mindeste, was Sie als Ministerin für den Schutz desEigentums und für unseren Rechtsstaat leisten müssen.
Es muss Sie doch nachdenklich stimmen, Frau Minis-terin, dass die Biologische Bundesanstalt für Land- undForstwirtschaft jährlich 50 000 Euro allein für denSchutz von Versuchsfeldern aufwendet. Das sind Mittel,die anders wesentlich besser verwandt werden könnten.Da verwundert nicht nur das Verhalten von MinisterinKünast, die sich im ZDF auf konkrete Nachfrage nichtvon den gesetzwidrigen Zerstörungen distanziert hat.Auch auf dem Server der Universität Kassel finden sichLinks zu den Seiten von Gentechnikgegnern. Dort heißtes dann – ich zitiere wörtlich –:Inwieweit die bereitgestellten Informationen ge-nutzt werden, um die demokratischen Rechte gegendie Gentechnologie wahrzunehmen, bleibt jedemund jeder selbst überlassen.Ein Schelm, der Böses dabei denkt!Für die FDP stelle ich klar: Es gibt kein demokrati-sches Recht auf Zerstörung von Versuchsfeldern mittransgenen Pflanzen.
Die fehlende Distanzierung der Ministerin Künast ge-winnt vor dem Hintergrund der Novellierung des Gen-technikgesetzes an zusätzlicher Bedeutung. In dem Ge-setz wird gefordert, dass die Freisetzung und der Anbautransgener Sorten in einem Standortregister erfasst wer-den, das allgemein zugänglich sein soll. Frau Ministerin,Sie müssen sich entscheiden: Ist das Standortregister einInstrument der behördlichen Überwachung von Feldernmit transgenen Pflanzen, wie es in der Gesetzesbegrün-dung heißt, oder ist es ein Hilfsmittel für Gentechnik-gegner, Zerstörungen von Feldern zu organisieren?
Zum zweiten Antrag. Der Apfel war im AltertumSymbol für Liebe und Fruchtbarkeit. Alma Ata heißt„Stadt des Apfels“. Von dort gelangten die ersten Äpfelin den Mittelmeerraum und von dort nach Mitteleuropa.867 000 Tonnen Äpfel wurden in Deutschland im ver-gangenen Jahr geerntet. Damit steht Deutschland inEuropa beim Apfelanbau an dritter Stelle. DieselbeMenge importieren wir noch einmal.–bGWsfFkBORvZgumhustg–slKiMGdQrIKgwdcfBusFWs
Ich freue mich, dass ich den Beifall des ganzen Hausesekomme. Liebe Kolleginnen und Kollegen von denrünen, Sie widersprechen damit natürlich einer alteneisheit der Grünen: All das, was Spaß macht und gutchmeckt, ist entweder verboten oder macht dick. – Äp-el nicht.Auch Obstbäume werden von Krankheiten bedroht.euerbrand ist eine hoch ansteckende bakterielle Erkran-ung, die bereits in den Obstplantagen insbesondere inaden-Württemberg erhebliche Schäden verursacht hat.hne Streuobstwiesen würde die Kulturlandschaft aneiz verlieren und der Lebensraum für viele Tierartenerloren gehen.Deshalb ist es gut, dass sich die Bundesanstalt fürüchtungsforschung in der Züchtung von Sorten enga-iert, die gegen die bakterielle Erkrankung Feuerbrandnd gegen die Pilzerkrankungen Apfelschorf und Apfel-ehltau resistent sind. Zur Bekämpfung dieser Krank-eiten werden im konventionellen Anbau Antibiotikand Fungizide eingesetzt. Die Bundesregierung setztich für einen völligen Verzicht der Anwendung antibio-ikahaltiger Pflanzenschutzmittel ein. Wenn man nichtänzlich auf den Anbau von Äpfeln verzichten willwer will das wirklich? –, ist das nur möglich, wenn re-istente Sorten zur Verfügung stehen. Die mit herkömm-ichen Methoden gezüchteten Sorten genügen nicht denriterien, die an eine Weltsorte gestellt werden. Daherst es konsequent, wenn zur Züchtung neuer Sorten dieethoden der Gentechnik angewandt werden.
Bisher wurden 1,14 Millionen Euro aufgewandt – vieleld, das nur dann sinnvoll aufgewendet wurde, wennie notwendigen Freisetzungsversuche in Pillnitz unduedlinburg durchgeführt werden.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. – Vor dem Hintergrund der vorliegenden Novellie-ung des Gentechnikgesetzes, der Kanzlerinitiative zurnnovation und der Klarstellung durch Ministerinünast, dass es keinerlei Hinweise für eine Gesundheits-efährdung durch transgene Pflanzen gebe, stellt eineiteres Aufschieben dieser gut vorbereiteten Versucheie Glaubwürdigkeit der Bundesregierung infrage. Wel-hen Wert haben Kanzlerinitiativen, wenn keine Tatenolgen, wenn die Innovationsleistungen der gesamteniotechnologiebranche in Aktenschränken verstaubennd nicht zur Anwendung kommen, wenn die Wert-chöpfung aus den Ergebnissen der wissenschaftlichenorschung freiwillig an das Ausland abgegeben wird?ie soll der dringend notwendige Abbau der Arbeitslo-igkeit gestaltet werden, wenn die Abwanderung gut
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Dr. Christel Happach-Kasanausgebildeter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnennicht wenigstens begrenzt wird?
Frau Happach-Kasan, Sie müssen zum Schluss kom-
men.
Ich komme zum letzten Satz. – Ich fordere die Bun-
desregierung auf, nicht nur von Innovation zu reden,
sondern auch die vielen Innovationen im Bereich der
Biotechnologie aktiv zu unterstützen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamen-
tarische Staatssekretär Gerald Thalheim.
Dr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In weni-gen Wochen werden wir anlässlich der Beratung überden Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Gen-technikrechts Gelegenheit haben – Frau Happach-Kasan,vielleicht vor größerem Publikum und aus besserem An-lass –, über diese ganze Problematik etwas ausführlicherund sachlicher zu diskutieren, als Sie das soeben getanhaben.
Die entscheidende Tat der Bundesregierung bzw. desBundeskanzlers, die Sie eingefordert haben, ist, im Hin-blick auf die Neuordnung des Gentechnikrechts inUmsetzung der europäischen Richtlinie 2001 einenRechtsrahmen zu schaffen, um auch in Deutschland gen-technisch veränderte Pflanzen – die entsprechende Ge-nehmigung vorausgesetzt – anbauen zu können.Das sollte uns gemeinsam zu denken geben: Alleindie Ankündigung des Gesetzentwurfs und der Inhalt die-ses Entwurfs haben eine – ich möchte fast sagen – ex-trem kontroverse Diskussion in Deutschland ausgelöst.Sehr viel Kritik ist geäußert worden.
Es gab Widerstand gegen diese Regelung, die wohlge-merkt eine Umsetzung des europäischen Rechts dar-stellt.
Es bleibt festzuhalten: Eine Mehrheit der Bürger inunserem Land steht der Anwendung der Gentechnik beidgeIfTnwdwdwztsnbrnkGdladuebIidVmgvsdAeIsfabiR
Wir haben überhaupt keine Alternative dazu, die Sorgener Bevölkerung ernst zu nehmen und im Gesetzent-urf zu berücksichtigen. Das ist auch im Interesse derer,ie die Gentechnik anwenden wollen. Der Gesetzent-urf muss ferner die Rückverfolgbarkeit, die Kenn-eichnung – sie sind wichtige Teile des ganzen Projek-es, um die sich viele sorgen – und die Koexistenzicherstellen. Das heißt, wer auch in Zukunft gentech-ikfrei produzieren will, kann dies auch tun.Eine der Schimären, die Sie in die Öffentlichkeit zuringen versuchen, ist, dass die Skepsis allein aus demot-grünen Regierungslager komme. Sie wissen ganz ge-au, dass sie viel eher aus dem konservativen Lagerommt. Frau Reichard, unterhalten Sie sich einmal mitraf von Bassewitz vom Deutschen Bauernverband,
er die Initiative für eine gentechnikfreie Zone in Meck-enburg-Vorpommern ergriffen hat.Sie werden noch staunen, was sich in Sachsen-Anhaltbspielen wird. Ich könnte Ihnen dazu Leserbriefe auser „Magdeburger Volksstimme“ vorlesen. Wir müssennd werden die Sorgen der Bürgerinnen und Bürgerrnst nehmen und am Ende eine Regelung finden, dieeides berücksichtigt, die Sorgen und die Interessen derndustrie.Es kann nicht hingenommen werden – dazu machech eine klare Aussage in Richtung der Antragsteller –,ass die Ängste diskreditiert werden, indem sie zumorwand für Zerstörungen von Freisetzungsversuchenit gentechnisch veränderten Pflanzen dienen.Ich kann Ihnen die schriftliche Antwort der Bundesre-ierung auf die Große Anfrage auf Drucksache 14/2942orlesen, wonach die Bundesregierung mutwillige Zer-törungen von Versuchsfeldern von gentechnisch verän-erten Organismen verurteilt. Ihre Interpretation derussagen der Bundesministerin Frau Künast entsprichtinfach nicht den Tatsachen. Im Übrigen teilen wir auchhre Bewertung in Ihrem Antrag, dass das Vorgehen be-timmter Organisationen rechtlich nicht zulässig undolglich ganz klar zu verurteilen ist.Allerdings ist nicht die Bundesregierung in der Ver-ntwortung, dagegen vorzugehen, sondern die Landes-ehörden. Ich staune daher schon, dass kaum bekanntst, dass die entsprechenden Landesbehörden in dieserichtung aktiv geworden sind.
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Parl. Staatssekretär Dr. Gerald ThalheimIhr Antrag ist gegenstandslos und zielt ins Leere.
Das gilt auch für den zweiten Antrag, der sich mit derFreisetzung von Apfelbäumen in Pillnitz und Quedlin-burg befasst. Die Bundesministerin lehnte den Antragaufgrund politischer und sachlicher Erwägungen ab. Zu-nächst zu den politischen Gründen: Wir sind mit derNeuordnung des Gentechnikrechts dabei – ich habe esbereits erwähnt –, den Weg für die praktische Anwen-dung in Deutschland freizumachen.
Herr Staatssekretär, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Dr. Happach-Kasan?
Dr
Aber gerne.
Bitte schön, Frau Happach-Kasan.
Herr Staatssekretär, der Antrag der FDP-Bundestags-
fraktion bezieht sich auf einen Vorfall im Sommer des
vergangenen Jahres, zu dem die Ministerin in der Sen-
dung „Frontal 21“ gefragt wurde – ich zitiere –:
Ihre Behörde genehmigt einen Weizenversuch in
Gotha und anschließend schlägt Greenpeace diesen
Versuch entzwei und ruiniert diesen Versuch. Sie
treten gemeinsam auf. Ist das Absicht oder billigen
Sie das nicht, dass Felder zerstört werden?
Auf diese Frage hat die Ministerin ausweichend ge-
antwortet. Sie hat gesagt, ich gehe davon aus: Das ist
eine brillante Frage von „Frontal 21“, um einen Ihrer be-
rühmten Berichte zu machen.
Ich meine, dass dies keine Distanzierung von der Zer-
störung von Freisetzungsversuchen ist.
Sie haben etwas zitiert, was auch ich nachgelesen
habe, nämlich eine Antwort der Bundesregierung aus der
vergangenen Legislaturperiode. Ich beziehe mich jedoch
auf Vorgänge im vergangenen Sommer und hätte es
schon gerne gehabt, dass sich die Ministerin von diesen
Vorgängen genauso distanziert, wie sie es in der letzten
Legislaturperiode bei anderen Vorgängen gemacht hat.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von
er CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!ie Vorgänge zur Grünen Gentechnik in Deutschlandind schon ziemlich einmalig. „Staatlich veräppelte For-chung“ hat das die Presse kürzlich landauf, landab titu-iert.
Da gibt ein Ministerium Steuergelder aus, um neue Er-enntnisse in der Wissenschaft zu gewinnen, und eine an-ere Ministerin ordnet persönlich ein Forschungsverbot
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Helmut Heiderichfür genau dasselbe Vorhaben an. Herr Dr. Thalheim,wenn das kein Tollhaus ist, wo finden wir es dann sonst?
Es kommt aber noch besser: Genau das, was Ministe-rin Künast ihrer eigenen politischen Weltanschauung ge-opfert hat, fand sich vor wenigen Tagen im Internet wie-der: Keine geringere Organisation als die NationalAcademy of Science der USA vermeldet dort einen wis-senschaftlichen Durchbruch. Mithilfe der Gentechnik– so wird dort dargestellt – sei es gelungen, marktfähigeApfelbäume virusresistent zu machen. Genau das, wasFrau Künast in Deutschland abgewürgt hat, wird dort alswissenschaftlicher Durchbruch gefeiert.Es wird auch darauf hingewiesen, dass durch dieseneue Möglichkeit bis zu 15 Pflanzenschutzspritzungenin den Obstplantagen eingespart werden könnten.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenndas für den Verbraucher und die Wissenschaft kein Vorteilist, dann frage ich mich, was dann ein Vorteil sein soll.Dass die Ministerin so etwas in Deutschland verbietet,spricht nun wirklich Bände. Herr Dr. Thalheim, an diesemPunkt mussten Sie ja eben auch etwas herumeiern. Denndie Verantwortlichen im Ministerium hatten ja zuerst be-hauptet – Sie haben das eben teilweise wiederholt –, dassder Versuch wegen der Auskreuzungsgefahr kritisch zubeurteilen gewesen sei. Dann mussten Sie aufgrund un-serer Nachfragen aber einräumen, dass in Quedlinburg inSachsen-Anhalt bei den Versuchsbäumen überhauptkeine Blütenbildung vorgesehen war. Wo nichts blüht,kann aber auch nichts auskreuzen. Insofern war dies einereine Scheinbehauptung, die aber nicht der Wahrheit ent-sprochen hat.
Danach haben Sie diesen einzigartigen Eingriff in dieFreiheit der Wissenschaft – auch das ist eben gesagt wor-den – damit begründet, dass die Akzeptanz der Bevölke-rung in den betroffenen Regionen gefehlt hätte. An die-ser Stelle hat meine Kollegin Frau Heller in der Frage-stunde nachgeforscht. Daraufhin haben Sie zugebenmüssen, dass bei dem Versuch in Quedlinburg vor IhrerEntscheidung ganze drei – ich wiederhole: ganze drei –Einwendungen vorgelegen haben.Wenn Sie also aufgrund von drei Einwendungen dieMeinung vertreten, die gesamte Bevölkerung habe sichgegen diese Versuche gewehrt, dann kann ich nur sagen:Damit kann man solche Entscheidungen wirklich nichtbegründen. Ich glaube, noch deutlicher kann die Schein-heiligkeit dieser Argumentation nicht aufgedeckt wer-den. In diesem Bereich der Forschung kommt man sichallmählich vor, als sei man in Zeiten zurückversetzt, indenen das, was die Untertanen tun durften, von des Fürs-ten Gnaden abhängig war.
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Es waren ja mehrere Personen anwesend. Aber ichöchte Ihnen einmal Folgendes sagen: Mit großemamtam hat sie damals erklärt, dass es dort angeblichentechnikfreies Schweinefleisch gebe. Dann haben wirachgeforscht, wie dieser Sachverhalt im Ministeriumeurteilt wird. Uns wurde gesagt,
ass man beim aus Brasilien importierten Soja überhaupticht klären könne, ob es mit oder ohne Gentechnik pro-uziert worden sei. Bei der Einfuhr werde es von denollbehörden daraufhin überprüft, ob die gelieferten Gü-er in äußerlich erkennbarer Weise den Angaben in denokumenten entsprächen.
Auch durch Lautstärke können Sie den Fakten, dieerantwortliche Ihres Hauses zusammengestellt haben,icht entgegenwirken.
es Weiteren hat ein Kollege von Dr. Thalheim auf eineachfrage bestätigt, dass dort in der Produktion gentech-isch hergestellte Zusatzstoffe heute üblich seien, näm-ich Enzyme, Aminosäuren und Vitamine – sie werdeneute allesamt gentechnisch hergestellt –, und dass esicht zulässig sei, so das Ministerium, solche Produkteann als gentechnikfrei zu kennzeichnen.
Warum nenne ich diese Punkte? Das tue ich deswe-en, weil die Ministerin mit ihrem Verhalten ein öffentli-hes Bild der modernen Biotechnik in der Landwirt-
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Helmut Heiderichschaft erzeugt, das völlig verzerrt ist. Frau Dr. Happach-Kasan hat eben darauf hingewiesen, dass die Ministerinbei allen Aktionen wegschaut, bei denen in gesetzwidri-ger Weise Forschung, insbesondere solche der öffentli-chen Hand, zerstört wird. Gerade haben auch Sie, HerrDr. Thalheim, wieder von diesem Verhalten abgelenktund versucht abzuwiegeln.Welche Welten zwischen dem Verhalten in Deutsch-land und dem in unserem Nachbarland Frankreich lie-gen, will ich Ihnen an einem kleinen Beispiel deutlichmachen. Auch in Frankreich gibt es einen Kämpfer ge-gen Globalisierung und – wie er es nennt – „la mal-bouffe“. Er ist, seit er im Jahre 1999 einmal eine McDo-nald’s-Filiale demontiert hat, eine Art nationale Größegeworden. José Bové wurde von der Presse sogar einmalals Präsidentschaftskandidat ins Spiel gebracht. Dochauch diese Berühmtheit und Bekanntheit haben die fran-zösische Regierung nicht daran gehindert, ihn wegen derZerstörung von gentechnisch verändertem Saatgut imvergangenen Jahr zu einer Freiheitsstrafe von zehn Mo-naten zu verurteilen. Die Strafe wurde von JacquesChirac persönlich zwar deutlich verkürzt, aber der Vor-gang an sich macht, wie ich finde, sehr deutlich, welcheUnterschiede im Umgang mit diesem Thema zwischenunseren beiden Ländern bestehen. In Frankreich schautman nicht weg und scheut sich nicht, auch national be-kannte Größen zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie indieser Weise gesetzwidrig gegen Forschungsvorhabender Biotechnik vorgehen.Im Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Dr. Thalheim,eben geäußert haben, finde ich, dass es dringend notwen-dig ist, dass sich die Bundesregierung von den gesetz-widrigen Aktionen deutlich distanziert, damit mit diesenAktionen in Deutschland endlich Schluss ist. Ich be-grüße, was Sie eben von dieser Stelle aus gesagt haben.
Die Initiative der FDP ist vollkommen richtig und fin-det unsere volle Unterstützung.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Ostendorffvom Bündnis 90/Die Grünen, der für die Kollegin UlrikeHöfken einspringt, die erkältet ist.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Bevor ich auf den Antrag der FDP zu sprechenkomme, will ich etwas zu den Ausführungen von HerrnHeiderich sagen. Herr Heiderich, gerade beim Pro-gramm der EDEKA Nord, das Sie angesprochen haben,gibt es, wie übrigens bei vielen anderen Programmenauch, außerordentlich genaue Definitionen zum Einsatzvon Sojaschrot und hinsichtlich der Fütterung. Wenn Siesich ernsthafter damit beschäftigt hätten,
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Was verstehen Sie eigentlich unter den geheimnisvol-en „regierungsnahen Organisationen“, die laut Ihremntrag Felder zerstören sollen?
ch habe das Gefühl, dass Sie zu viel Harry Potter gele-en oder zu viele Verschwörungsfilme im Kino gesehenaben, anstatt sich ernsthaft mit diesen Themen zu be-chäftigen.Man muss sich einmal vorstellen: Ministerin Renateünast soll sich von etwas distanzieren, was sie wedernterstützt noch gar begangen hat, zu dem sie sich ledig-ich nicht geäußert hat.
s gibt vieles in dieser Republik, wozu sich Ministericht äußern. Es ist meiner Meinung nach auch nicht dieufgabe von Ministern, sich zu allen Vorgängen in die-em Land zu äußern.
ie Regierung wird von Ihnen ohne den geringsten An-atz eines Hinweises oder gar eines Beweises in Verbin-ung zu Feldzerstörungen gebracht, mit denen sie über-aupt nichts zu tun hat.
cCarthy lässt grüßen, meine lieben Kollegen von derDP.
nd das von einer Partei, die das Wort „liberal“ im Na-en führt!
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Friedrich OstendorffStellen Sie sich einmal vor, wohin das führen könnte.In einer Aktuellen Stunde soll sich Guido Westerwellevon Forderungen nach komplettem Sozialabbau distan-zieren. Das hätte noch eine gewisse Logik qua inhaltli-cher Nähe.
Oder die FDP soll sich für das, was Haider verbreitet,entschuldigen. Niemand verlangt das von Ihnen, sehrverehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Sieaber scheinen aus profilneurotischen Gründen den Bun-destag zu einer Satireveranstaltung machen zu wollen.
Ihr Antrag passt gut in Ihre Politik zur Agrogentech-nik. Sie haben sich noch nie ernsthaft mit dieser Proble-matik befasst, sondern vertreten schon immer einäugigdie Interessen von Lobbyisten der Gentech-Multis, unddas ohne jeden Zweifel, ohne jede Skrupel und gegen dieInteressen der Verbraucherinnen und Verbraucher undder deutschen Landwirtschaft.
Ihren blinden Fortschrittsglauben, liebe Kolleginnenund Kollegen von der FDP, braucht das Land ebenso we-nig wie Feldzerstörungen. Was wir brauchen ist eineGentechnikpolitik mit Augenmaß, die Vorsorge und Si-cherheit für Gesundheit und Umwelt in den Vordergrundstellt. Deshalb werden wir in Kürze ein Gentechnikge-setz vorlegen, das die Vorsorge und die Haftung in denVordergrund stellt.Darüber hinaus werden wir dafür sorgen, dass bei An-wendung der Gentechnik beim Anbau und in der Le-bensmittelproduktion größtmögliche Sicherheit besteht.
Oft wird behauptet, Gentechnik würde schon jahrelangangewendet und es hätten sich noch keine Risiken erge-ben. Die Auswirkungen gentechnisch veränderter Orga-nismen sind bisher aber nur bei etwa einem Prozent derweltweiten experimentellen Freisetzungen untersuchtworden. Sie handeln nach dem Motto: Wer gar nicht erstnach Risiken sucht, der wird auch keine Risiken finden.In den wenigen Studien, die es gibt, wird gezeigt, wiewichtig das Vorsorgeprinzip ist, für das sich Bündnis 90/Die Grünen einsetzen.
Die kürzlich in Großbritannien veröffentlichte Studie istdeswegen so bemerkenswert, weil es in Großbritannienüber 200 großflächige Standorte gibt, auf denen gentech-nisch veränderte Organismen stehen.
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udem konnten die britischen Wissenschaftler nachwei-en, dass das Auskreuzungspotenzial von gentechnischeränderten Pflanzen – vor allem Raps – höher als bisherermutet ist. Die Bienen trugen die Pollen bis zu6 Kilometer weit.Es ist unsere politische Überzeugung, dass es notwen-ig ist, Fragen zur Sicherung der gentechnikfreien Pro-uktion und zur Haftung gesetzlich zu beantworten, be-or es zu einem kommerziellen Anbau von gentechnischeränderten Pflanzen in Deutschland kommt.
Herr Kollege Ostendorff, erlauben Sie eine Zwischen-
rage der Kollegin Happach-Kasan?
Gerne.
Bitte schön, Frau Kollegin Happach-Kasan.
Herr Kollege Ostendorff, sind Ihnen auch die Unter-uchungen bekannt, in denen transgene herbizidresis-ente Rapssorten mit nicht transgenen herbizidresisten-en Rapssorten verglichen worden sind, wobeiestgestellt wurde, dass die Herbizidresistenz bei beidenorten die gleichen Auswirkungen hat, es also in dieserinsicht keinerlei Unterschiede gibt?
Mir sind nationale Versuche, die universitär ausge-ertet wurden und die ein solches Ergebnis erbracht ha-en, nicht bekannt. Sie können sie uns gerne zur Verfü-ung stellen.
Ich fahre fort. In Kanada zum Beispiel, wo die Siche-ung der gentechnikfreien Produktion nicht geregelt ist,önnen Biobauern und konventionelle Bauern seit derinführung des kommerziellen Anbaus von gentech-isch veränderten Pflanzen nicht mehr gentechnikfreiroduzieren. Diese Entwicklung werden wir in Deutsch-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7941
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Friedrich Ostendorffland mit dem neuen Gentechnikgesetz verhindern. Dasgeht nicht dadurch, dass wir die Hände in den Schoß le-gen und abwarten, bis die EU-Kommission weitere Gen-produkte zulässt. Das geht nur, indem wir uns der He-rausforderung stellen.Für die Sicherheitsforschung ist es wichtig, dass auchmögliche unspezifische Auswirkungen gentechnischveränderter Pflanzen auf die Nahrungsketten, die Arten-vielfalt und die Lebensgemeinschaft von Pflanzen unter-sucht werden.
Die Auswirkungen der Gentechnologie auf den konven-tionellen und den ökologischen Landbau und auch mög-liche langfristige Wirkungen müssen untersucht werden.Dafür werden wir sorgen.
Wer hier im Parlament ist eigentlich dagegen, dass esweiterhin einen gentechnikfreien Anbau gibt?
Die Rede des Kollegen Matthias Weisheit von der
SPD-Fraktion nehmen wir mit Ihrer Billigung zu Proto-
koll.1)
Deswegen hat jetzt die Kollegin Christa Reichard von
der CDU/CSU-Fraktion als letzte Rednerin zu diesem
Tagesordnungspunkt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-grüße den Antrag der Liberalen zu den Freilandver-suchen in Pillnitz und Quedlinburg. Glauben Sie mir: Ichwerde nicht tatenlos zusehen, wie in meiner HeimatstadtDresden ein international führendes Forschungsinstitutdurch grüne Willkür gefährdet wird.
Fehlende Akzeptanz bei den Obstbauern und bei derBevölkerung soll der Grund sein, Herr Dr. Thalheim. Ichhabe Frau Künast schriftlich gefragt, was sie unternom-men hat, um die Akzeptanz der Bevölkerung für dieFtkruPsdGcfDnAEfsgkudhrDzKtrnMdFASgDzgnLSDtAtmKfs1) Anlage 3
Meinen Sie wirklich, dass 250 Einsprüche aus ganzeutschland ohne Prüfung auf deren Relevanz im Ge-ehmigungsverfahren wichtiger als die Interessen dergrarwirtschaft und der Erwerbsbauern sind, die auf diergebnisse aus Pillnitz warten? Besonders rätselhaft istür mich, warum der Versuch auch in Quedlinburg ge-toppt wurde, obwohl es dort keine Akzeptanzproblemeibt und die Bundesregierung selbst einräumt, dass dorteine Auskreuzung möglich ist. Nötiger denn je ist einemfassende Aufklärung der Bevölkerung; denn fast alle,ie sich mit der Grünen Gentechnik wirklich beschäftigtaben, sind von einer anfangs skeptischen Haltung abge-ückt, selbst der Vatikan. So weit zum fachlichen Teil derebatte.Wegen der zu erwartenden Genehmigung – Aussagenuständiger Sachverständiger legen dies nahe – hat Frauünast persönlich das Verfahren gestoppt, also im letz-en Moment die Reißleine gezogen. Hat es Vergleichba-es schon einmal gegeben? Warum hat sie Angst vor ei-er Genehmigung? Die fadenscheinige Begründung derinisterentscheidung zeigt mir, dass es dafür noch an-ere Gründe geben muss; denn der Auftrag für dieseorschung kam schließlich aus ihrem Ministerium. Allentworten auf unsere Fragen haben für den plötzlicheninneswandel keine plausible Begründung ergeben.Denken Sie, es ist Zufall, dass Ende September vori-en Jahres eine Versammlung unter grüner Regie inresden stattfand und eine Kampagne gegen die Freiset-ung gestartet wurde? Denken Sie, es ist Zufall, dass dierüne Dresdner Bundestagskollegin Hermenau kurz da-ach sächsische Spitzenkandidatin der Grünen für dieandtagswahl wurde? Zurzeit weisen die Grünen inachsen stolze 2 Prozent Zustimmung auf.
enken Sie, es ist Zufall, dass am 24. Oktober nur eineriumphierende Pressemitteilung der sächsischen grünenbgeordneten über eine interne Entscheidung des Minis-eriums zur Verhinderung der Freilandversuche infor-ierte, bevor das Institut in Pillnitz davon überhauptenntnis erhielt?Könnte es vielleicht sein, dass der eigentliche Grundür den Verfahrensstopp vor allem Rückenwind für dieächsischen Grünen sein soll und dieses Vorgehen von
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Christa Reichard
Anfang an parteiintern abgestimmt war? Frau Ministe-rin, das wäre Willkür nach Gutsherrenart.
Eine von Ideologie und Parteipolitik geprägte Entschei-dung schadet der bundeseigenen Forschung in Dresdenund Quedlinburg, setzt 1,14 Millionen Euro der Steuer-zahler in den Sand und wird die Grünen in Sachsen nichtwieder in den Landtag bringen.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1825 und 15/2352 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der Pflegeversicherung
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die antrag-
stellende Fraktion hat der Kollege Horst Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es vergeht mittlerweile keine Woche, in der die-ser Bundesregierung nicht ein gravierender Fehler unter-läuft. Das Stichwort dieser Woche ist die Pflegeversiche-rung. Damit hat die Bundesregierung das zweifelhafteKunststück fertig gebracht, dass nach der Rentenver-sicherung, der Krankenversicherung und der Arbeits-losenversicherung nun auch die Pflegeversicherung ineiner ernsten Krise steckt. Ich bin schon lange in diesemParlament, aber noch keine Bundesregierung hat es ge-schafft, alle Versicherungszweige gleichzeitig in dieKrise zu führen.
Dienstag erklärte der Bundeskanzler, eine Reform derPflegeversicherung komme nicht infrage. Das ist einganz fatales Signal: Unser Land kann im Moment allesvertragen, aber keinen politischen Stillstand. Nach derPolitik der ruhigen Hand kommt nun wohl die Politikdes Stillstandes.
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ie roten Zahlen haben einen politischen Grund. Dasrste nämlich, was die neue Bundesregierung nach 1998at, ging zulasten der Pflegeversicherung: Im Wege eineserschiebebahnhofs hat sie die Beiträge, die Bezieheron Arbeitslosenhilfe an die Pflegeversicherung leiste-en, reduziert. Das war der eigentliche Grund, warumuch diese Sozialversicherung in die Krise kam. Es liegticht an der Struktur der Pflegeversicherung, dass wireute über eine Schieflage diskutieren, sondern an deralschen Politik, die in der Pflegeversicherung seit 1999etrieben wird.
Seit April 2001 haben wir zudem ein Urteil des Bun-esverfassungsgerichts, wonach Familien mit Kinderneim Beitrag zur Pflegeversicherung besser gestellt wer-en müssen. Drei Jahre hatte die Bundesregierung mitt-erweile Zeit. Es gab Gründe, warum sie nicht gehandeltat und warum sie jetzt das beabsichtigte Handeln wie-er rückgängig macht.Der erste Grund war und bleibt, dass angesichts von4 Wahlen in diesem Jahr auch jetzt wieder versuchtird, die Wähler zu täuschen.
etzt sage ich Ihnen einmal, was Ihr Fraktionsvorsitzen-er Müntefering vor der Bundestagswahl zum selbenhema gesagt hat:
ir müssen den Leuten vor der Wahl sagen, wie wir unsie Lösung bei der Pflegeversicherung vorstellen. – Soußerte sich Ihr Fraktionsvorsitzender Müntefering vorer Bundestagswahl 2002.
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Horst SeehoferSie haben es nicht gesagt. Sie haben die Wahl abgewar-tet und anschließend das Konzept erarbeitet, um das esin diesen letzten Wochen ging.Jetzt zieht der Bundeskanzler die Entscheidung zurPflegeversicherung zurück, und zwar aus den gleichenGründen, die er in all den letzten Jahren vor jeder Wahlhatte. Vor der Wahl wird schön geredet und nach derWahl wird das Gegenteil getan. Jetzt geht es wieder da-rum, die dringend notwendige Reform der Pflegeversi-cherung wegen der anstehenden Wahl in Hamburg, derWahl zum Europäischen Parlament und vieler andererWahlen in diesem Jahr hinauszuschieben. Erst imHerbst, in der Endphase dieses Jahres, wird man imHopplahopp-Verfahren das Parlament mit diesem Themabefassen.
Der alleinige Grund dafür ist, der Bevölkerung dieWahrheit vorzuenthalten. Das ist der Grund für Ihr Han-deln. Ihnen ist es völlig gleich, ob Sie die dringend not-wendigen Verbesserungen für Demenzkranke und fürPflegebedürftige ebenfalls auf die lange Bank schieben.Das Erste, was diese Pflegeversicherung braucht, istdie Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsge-richts, wonach Kinder erziehende Familien besserzustel-len sind. Seit drei Jahren gibt es diesen Auftrag des Bun-desverfassungsgerichts.
Das Zweite ist, dass wir die Lücken, die die Pflege-versicherung heute noch aufweist, schließen: Wir brau-chen leistungsrechtliche Verbesserungen für Demenz-kranke und müssen die seit 1996 nicht mehr angepasstenPflegesätze für die ambulanten Stationen – das ist einSkandal – erhöhen. Beides ist wegen dieser Entscheidungdes Bundeskanzlers auf absehbare Zeit nicht möglich.
Es gibt noch etwas, das wir sehr kritisieren. Es gibtauch einen inhaltlichen Fehler. Es gibt bei der Ausgestal-tung des Kinderbonus bzw. der Besserstellung von Kin-der erziehenden Familien in der Sozialversicherung vieledenkbare Modelle. Aber, Frau Schmidt, eines kann mannicht machen, nämlich Familien, die in der Vergangen-heit Kinder großgezogen haben und deren Kinder ausdem Haus sind, jetzt einen höheren Pflegeversicherungs-beitrag zumuten, wie Sie es beabsichtigt haben. Denndiese Familien hatten niemals den Vorteil eines Kinder-bonus in der Vergangenheit. Die haben die gleichen Bei-träge gezahlt wie alle anderen Familien auch. Daher gehtes nicht, wie Sie beabsichtigt hatten, dass diese Fami-lien, nachdem die Kinder aus dem Haus sind, einen hö-heren Pflegeversicherungsbeitrag bezahlen.Was immer Sie nach dieser zurückgestellten Entschei-dung überlegen – für eine solche Bestrafung von Fami-lien, die in der Vergangenheit Kinder großgezogen ha-ben, werden Sie unsere Stimmen nicht bekommen.
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ir können über vieles reden. Sie haben im Laufe dereit so manchen Antrag in den Deutschen Bundestagingebracht.Vieles, über das wir heute diskutieren und das auchotwendig ist, hat nichts damit zu tun, dass die Pflege-ersicherung plötzlich in eine Krise gerät. Die finanzi-lle Deckung der Pflegeversicherung ist immer noch ge-eben, aber es besteht Handlungsbedarf. Das ist übrigensin Grund, warum wir die Rürup-Kommission und Sieie Herzog-Kommission eingesetzt haben: um die Fra-en der Finanzierung und der langfristigen Entwicklunger Pflegeversicherung zu klären.
Man sollte in seinen Redebeiträgen immer anständigein und beim Thema bleiben. Als ich in den vergange-en beiden Tagen die Berichterstattung in den Medienerfolgt habe, hatte ich wiederholt den Eindruck, dassanz Deutschland und auch viele Politiker nach Refor-en rufen.
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Bundesministerin Ulla SchmidtAber wenn es darum geht, die Reformen umzusetzen,dann möchte man mit ihren Auswirkungen am liebstennichts zu tun haben.
Ich denke dabei nicht nur an die aktuelle Gesundheitsre-form.Es geht auch darum, dass wir, wenn wir Verbesserun-gen im Bereich der Pflege vor allem der älteren Genera-tion – es gibt durchaus auch jüngere Menschen, die da-rauf angewiesen sind, aber hier geht es in erster Linie umdie ältere Generation – erreichen wollen, in Deutschlandeine Debatte darüber führen müssen, was uns die Pflegewert ist und wie wir sie organisieren wollen.Wenn hier die Wahrhaftigkeit eine Rolle spielen soll,dann muss der Redlichkeit halber auch anerkannt wer-den, dass die Pflegeversicherung schon bei ihrer Einfüh-rung mit Mängeln behaftet war. Das ist auch jedem be-kannt.
Die Mängel zu akzeptieren war unumgänglich, damitdieser wichtige Zweig der Sozialversicherung eingerich-tet werden konnte.
Ich will das auch nicht kritisieren. Aber so zu tun, alsseien die Mängel erst 1998 aufgetreten und als liege esan der rot-grünen Bundesregierung, dass ein fester Bei-tragssatz gesetzlich verankert wurde, wohl wissend, dassdies jeder tun muss, der ein neues Sozialversicherungs-system einführt, ist unredlich.
Denn wer Leistungen und Beiträge deckelt, Herr Kol-lege Seehofer, der kalkuliert von Anfang an ein, dassweder die Nachhaltigkeit der Finanzierung gewährleistetwerden kann, noch dass die Leistungen in dem ange-sichts eines zunehmenden Pflegebedarfs und der demo-graphischen Entwicklung notwendigen Umfang erbrachtwerden können. Der Redlichkeit halber sollten auchdiese Tatsachen angesprochen werden.
Bei der Einführung der Pflegeversicherung wurdelange über den Umgang mit Menschen, die demenziellerkrankt sind, psychisch Kranken und Behinderten so-wie mit Menschen, die eine eingeschränkte Alterskom-petenz aufweisen, debattiert. Seinerzeit ist die Entschei-dung getroffen worden, zunächst den Einstieg in dieseVersicherung anzugehen, weil bereits die Frage ihrerEinführung so umfangreiche Debatten mit sich gebrachthat wie die heute anstehende Weiterentwicklung derPflegeversicherung.
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Sie haben in Ihrer Regierungszeit trotz aller Diskus-ionen über den notwendigen Änderungsbedarf bis 1998ichts mehr getan.Wir haben seit 1998 notwendige Reformen in derflegeversicherung vorgenommen. Ich nenne nur dasierte Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialge-etzbuch, wodurch die häusliche Pflege gestärkt wordent. Eine Verbesserung ist, dass sich Menschen, die An-ehörige zu Hause pflegen, sich für vier Wochen einersatzkraft leisten können, um sich zu erholen. Ichenne das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz, das erst-als – wenn auch nur in begrenztem Rahmen – eine Lö-ung für die Probleme derjenigen bietet, die zu Hauseemenzkranke pflegen. Es gibt nun eine Betreuungs-ilfe. Und ich nenne das Pflege-Qualitätssicherungsge-etz.Ich möchte auf die Vorschläge des CDU-Parteitagsnd der Herzog-Kommission nicht näher eingehen.uch der Kollege Seehofer hat das nicht getan, weil erine andere Meinung hat. Nur so viel: Danach wollenie die Pflegeversicherung abschaffen und eine festeopfpauschale in Höhe von 69 Euro im Monat einfüh-en, und zwar für jeden.
er Kollege Storm, der sich bisher nicht zur Verbesse-ung der Leistungen geäußert hat, hat in dieser Wocheesagt, man solle für die Entlastung derjenigen, die Kin-er erziehen, einfach 1,6 Milliarden Euro zur Verfügungtellen. Herr Kollege Storm, ich habe gerade auf derednerliste gesehen, dass Sie nicht reden werden; dasedauere ich. Ich rede jetzt oft, weil Sie das so erfreut.ch hätte mir gewünscht, dass Sie heute sagen, welcheteuern Sie erhöhen wollen.
ollen Sie die Steuerfreibeträge für Feiertags-, Nacht-nd Schichtarbeit abschaffen? Wollen Sie die Entfer-ungspauschale und die Eigenheimzulage weiter redu-ieren oder wollen Sie die Mehrwertsteuer anheben?err Kollege Storm, einfach 1,6 Milliarden Euro zu for-ern und mir vorzuwerfen, ich würde mich erst in vierochen, nach der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft, zu
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Bundesministerin Ulla Schmidtdiesem Problem äußern, hat mit Redlichkeit nichts zutun.
Schade, dass Sie in der Aktuellen Stunde keine Zwi-schenfrage stellen können. Ich hätte gerne gehört, wasSie machen wollen. Auf die Vorschläge der FDP möchteich erst gar nicht eingehen.Wir werden in diesem Jahr das Urteil des Bundesver-fassungsgerichts umsetzen, und zwar schnell und fristge-recht. Vieles muss verändert werden. Darüber sollten Siesich aber keine Gedanken machen. Herr KollegeSeehofer, ich möchte nur auf eines hinweisen: Man kanndarüber diskutieren, ob man den Weg, den die Rürup-Kommission vorgeschlagen hat – danach ist das Urteildes Bundesverfassungsgerichts so zu verstehen, dass El-tern in der aktiven Phase der Erziehung zu entlastensind, damit nicht Erziehungsleistungen und finanzielleLeistungen sowie gleichzeitig hohe Beiträge zur Pflege-versicherung zu erbringen sind –, oder den einfachenWeg der Entlastung über Steuern oder Beiträge oder denWeg, den ich vorgeschlagen habe – alle zahlen mehr, mitAusnahme der Eltern –, einschlägt. Wer aber meint, dassdiejenigen, die nie Kinder erzogen haben, die Entlastungder Eltern in der aktiven Phase der Erziehung zahlenmüssten, der vereinfacht die gesellschaftliche Debatte inunzulässiger Weise; denn es gibt viele Menschen, die un-gewollt kinderlos sind. Wir werden darüber diskutierenund einen Weg finden.Wir werden in dieser Legislaturperiode außerdem dienotwendigen Schritte unternehmen, um die Versorgungvon Demenzkranken und Menschen mit eingeschränkterAlltagskompetenz zu verbessern. Mit der Reform derPflegeversicherung soll die ambulante Pflege vor derstationären gefördert und sollten die Leistungen dynami-siert werden, damit auch die ambulanten Pflegediensteihre Aufgaben wahrnehmen können. Das werden wir an-gehen. Wir werden aber auch diejenigen, die Verantwor-tung im Pflegebereich tragen, in die bevorstehendebreite Diskussion einbeziehen.Ich wäre sehr froh, wenn auch Sie sich daran beteili-gen würden; denn wenn ich Sie richtig verstanden habe,dann wollen auch Sie Veränderungen. Wenn der KollegeStorm uns dann noch sagt, woher die 1,6 MilliardenEuro kommen sollen, sind wir schon einen Schritt wei-ter.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Ministerin Schmidt, Sie haben gerade eine Pi-rkSwmWwsngEgwE5aJlu3sltlateEvDdwDP
ie haben viel gesagt, aber nicht, was wirklich passierenird. Sie haben nichts als bloße Ankündigungen ge-acht; das sind noch lange keine Reformen.
ir wissen nicht, wann in diesem Jahr etwas gemachtird und was es sein wird.Das Defizit der Pflegeversicherung steigt jedenfallseit 1999 unaufhörlich. Betrug das Defizit im Jahre 2002och 400 Millionen Euro, so waren es laut Berechnun-en des VdAK im vergangenen Jahr 500 Millionenuro. Die Zahlen belegen eindeutig, dass es ohne einerundlegende Reform der Pflegeversicherung nicht mehreitergehen kann.
s gibt zwar noch Rücklagen in Höhe von circaMilliarden Euro, doch diese werden relativ schnellufgebraucht sein, wenn die Pflegeversicherung jedesahr ein neues Rekorddefizit einfährt.Vergessen Sie nicht die demographische Entwick-ng: Im Jahre 2020 werden laut BerechnungenMillionen Menschen in Deutschland pflegebedürftigein; bisher sind es fast 2 Millionen. Wir brauchen wirk-ich eine grundlegende Pflegereform, die dem Rechnungrägt. Das reine Verschieben einer Reform bedeutet nochnge nicht, dass die Probleme verschoben werden.
Noch am 22. Oktober, vor gerade einmal drei Mona-n, ließ Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt einckpunktepapier zur Reform der Pflegeversicherungerbreiten und erklärte – ich zitiere –:Mit diesem Konzept beweist die Bundesregierungauch in diesem Bereich, dass Reformen rasch …auf den Weg gebracht werden. Die Weiterentwick-lung der Pflegeversicherung ist Teil der Rundum-Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme unddamit auch Teil der Agenda 2010.er Bundeskanzler sagte am 25. Oktober – nur drei Tageanach – in einem Interview der SPD-Postille „Vor-ärts“:Es gibt ganz einfach objektive Probleme, die gelöstwerden müssen. Und diese Probleme lassen unskeine Ausrede: Wir müssen handeln.
er Kanzler hat Recht.Die demographische Entwicklung und der steigendeflegebedarf lassen der Regierung keine Zeit zu warten.
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Daniel Bahr
Sie können vielleicht die Pflegereform verschieben; dieProbleme können Sie nicht verschieben. Das, was Siebetreiben, ist keine verlässliche Politik zum Wohle derBürger. Sie verfolgen einen Zickzackkurs. Die Regie-rung hat anscheinend kein Konzept für die Pflege. DerRegierung fehlen offenbar der Mut und die Kraft für einewirkliche Pflegereform.
Ich habe heute im Ticker gelesen, dass Regierungs-sprecher Anda gesagt hat, Einzelheiten der geplantenReform sollten nun mit Experten geklärt werden. Washaben Sie denn bisher gemacht? Sind die Eckpunkteetwa nicht mit Experten abgestimmt worden? War dieRürup-Kommission etwa keine Expertenkommission?
Was Sie dort machen, ist Hickhack. Was Sie vorlegen, istkein Konzept. Ich sage Ihnen voraus: Das reine Ver-schieben – das machen Sie jetzt –, das reine Warten aufLösungen wird dazu führen, dass es weiter Rationierun-gen der Pflege geben wird, dass die Rücklage weiter auf-gebraucht wird und dass am Ende gestiegene Beiträgestehen werden. Das ist unverantwortlich!
Die Resonanz auf die Äußerungen des Bundeskanz-lers war eindeutig: Unverständnis und Ablehnung auf al-len Seiten. Rürup, der Leiter der von der Bundesregie-rung eingesetzten gleichnamigen Kommission, bedauertden Aufschub der geplanten Reform der Pflegeversiche-rung mit den Worten:Die Regierung hat sich ein bisschen Zeit gekauft,aber der Reformbedarf wird jetzt größer.Die Kirchen sprechen von der „Pflege als Pflegefall“.Auch aufseiten der Regierungskoalition wurden die Of-fenbarungen des SPD-Vorsitzenden mit Erstaunen zurKenntnis genommen.Meine Damen und Herren von den Grünen, ich bineinmal gespannt, ob auf die vollmundigen Versprechen,die heute in der Zeitung zu lesen waren, auch Taten fol-gen werden, ob Sie die SPD bei diesem Thema zur Redestellen werden.Die Position der FDP zur Reform der Pflegeversiche-rung ist klar und deutlich: Das jetzige System ist so nichtmehr haltbar. Wir müssen eine tief greifende Reform derPflege angehen. Kernpunkt einer Reform muss der Auf-bau eines Kapitaldeckungsverfahrens wie bei der Alters-sicherung sein.
– Herr Schmidbauer, die Probleme, vor denen wir ste-hen, sind nicht neu. Die FDP hat schon Mitte der 90er-Jahre genau gesagt, dass das Umlageverfahren vor die-sen Problemen stehen wird.SzlwvrpwhgsavdSszBuKnatnsneccnIilbveM
ehenden Auges haben Sie trotzdem mit der CDU/CSUusammen diese Reform – gegen den Willen der FDP –eider durchgesetzt. Es war damals für eine kleine Parteiie die FDP schwierig, sich gegen die beiden Blöckeon Unverständnis und Uneinsichtigkeit durchzusetzen.
Das jetzige Umlageverfahren in der Pflegeversiche-ung ist zum Scheitern verurteilt. Wir brauchen eine ka-italgedeckte Säule für die private Eigenvorsorge. Das,as wir alle gemeinsam für die Alterssicherung erkanntaben, dass wir sie nämlich nicht allein auf dem Umla-everfahren aufbauen können, muss doch Anlass für unsein, jetzt bei der Pflegeversicherung umzusteuern unduf Kapitaldeckung zu setzen.Ich will auch noch etwas zur Ungleichbehandlungon Familien und Kinderlosen sagen: Durch die jetztiskutierte Freibetragsregelung für Erziehende wird demystem erneut Geld entzogen, sodass nunmehr die Re-erven der Pflegeversicherung noch schneller abschmel-en werden als vorher. Dadurch wird es unmöglich, dieeiträge über 2006 hinaus konstant zu halten. Auch derrsprünglich geplante Strafzuschlag von 2,50 Euro fürinderlose, der jetzt vom Tisch sein soll, war doch auchichts anderes als eine verkappte Beitragserhöhung fürlle, mit Ausnahme der Kindererziehenden. Von Entlas-ung der Familien kann nun wirklich nicht die Rede sein.
Frau Ministerin Schmidt, sagen Sie doch, dass Sieicht umhinkommen, die Beiträge zu erhöhen, statt die-es Hickhack zu veranstalten! Haben Sie den Mut zu ei-er wirklichen Reform! Die Unterstützung der FDP fürine wirklich grundlegende Änderung der Pflegeversi-herung mit dem Ziel der Einführung des Kapitalde-kungsverfahrens hätten Sie.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Selg vom Bünd-
is 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren!ch sage nichts als die Wahrheit. Aber, lieber Herr Bahr,ch kann Ihnen versichern: Ihre Vorschläge zur Umstel-ung auf ein Kapitaldeckungsverfahren werden wir nichtrauchen.Herr Seehofer, ich denke, Sie hatten Recht, als Sieorhin sagten, dass es in jeder Sitzungswoche eine Aktu-lle Stunde zu den notwendigen Reformen gibt. Letztesal drehte die FDP Pirouetten zur Gesundheitsreform,
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Petra Selgheute drehen Sie Pirouetten zur Pflegeversicherungsre-form.
– Nein, ich verwechsle nichts, Herr Zöller, leider nicht.
Das bisher Vorliegende zur Reform der Pflegeversi-cherung – das kann ich sagen – waren wertvolle Bau-steine, die, wie Sie zu Recht gesagt haben, zu erhebli-chen Verbesserungen in diesem wichtigen Zweig führenwerden. So wird endlich der ambulante Sektor gegen-über dem stationären Sektor gestärkt. Wir alle wissenaber, dass der stationäre Sektor wieder erheblich zu-nimmt. Deshalb bedarf es dringend einer Änderung. Eswerden auch wesentliche Verbesserungen für die Pflege-bedürftigen, insbesondere für die Demenzkranken, unddie Angehörigen erzielt; dies bezieht sich auch auf dieDynamisierung. Nur weil es bei einem einzigen Bausteinin diesem System unterschiedliche Auffassungen gibt,nämlich wie die Finanzierung dieses Reformprozesseserfolgen soll, speziell die Ausgestaltung der Regelungenfür Kindererziehende – natürlich muss man sich dasnoch einmal genau ansehen und darüber diskutieren –,rufen Sie und mit Ihnen auch gleich die Medien wieder„Reformstopp!“, „Ruhige Hand!“ oder auch „ZitterndeHand!“.
– Das sind alles Zitate.Das, was Sie hier betreiben, auch das, was HerrSeehofer gesagt hat, trägt nicht dazu bei, die Problemetatsächlich zu lösen. Sie führen weiter eine Bürgerverun-sicherungsdebatte erster Klasse. Dabei haben Sie nichtnur einen Vorschlag für die Lösung der Probleme in derPflegeversicherung. Nein, Sie haben gleich zwei. Ichfinde es ganz spannend, dass es innerhalb einer Parteigleich zwei Lösungsvorschläge gibt.
Das Problem ist nur: Sie passen nicht zusammen.
Heute Morgen habe ich Herrn Seehofer im Fernsehengesehen. Er hat wie immer, auch hier, die Schwierigkei-ten und die Defizite in der Pflegeversicherung par excel-lence beschrieben und gesagt, dass Eltern immer Elternbleiben und sie deswegen nach der Erziehungsphasenicht mehr belastet werden dürften. Gleichzeitig sagt er,dass das Ganze nicht über Steuern zu finanzieren sei.Man müsse vielmehr nach einem Lösungsweg innerhalbdes Systems suchen. – Dann habe ich gelesen, dass HerrStorm 10 Euro pro Kind vorgeschlagen hat. Dies sollaber nicht innerhalb des Systems finanziert werden, son-dern über Steuern. Ich frage mich: Wie wollen Sie diese1,6 Milliarden Euro finanzieren? Ihre beiden Konzeptepassen überhaupt nicht zusammen.h–dgaDseszhsgKavZIrdsAeghdl–d
ie Finanzierung Ihrer Vorschläge ist völlig offen. Ichchlage Ihnen vor, erst einmal in Ihren beiden Parteienin Synopse zu erstellen und dann zu schauen, was zu-ammenpasst. Dann werden Sie feststellen, dass nichtsusammenpasst.
Wie schon in der Pflegeversicherung geht es inner-alb der CDU/CSU auch bei anderen Dingen nicht zu-ammen: Weder bei der Rente noch bei der Gesundheit,eschweige denn bei der Steuer gibt es gemeinsameonzepte. Es ist immer so, dass der eine dies vorlegt, derndere jenes. Ich rate Ihnen, den Artikel „In Zwietrachtereint“ in der heutigen Ausgabe der „Süddeutscheneitung“ zu lesen:Die Bayern-Truppe ist fest überzeugt, dass die„Brachialreformer“ der CDU die Menschen ab-schrecken und so die Wahl 2006 schon jetzt in denSand setzen.In der CDU wiederum wollen sich maßgeblicheKräfte nicht mehr von der CSU bremsen lassen, diesie als eine „Nostalgo-Wessi-Partei“ empfinden, …ch schlage Ihnen vor: Einigen Sie sich erst einmal aufealisierbare und finanzierbare Konzepte! Wir werdenas innerhalb dieser Legislaturperiode tun und eine Lö-ung innerhalb der Pflegeversicherung vorschlagen.
ngesichts all der Probleme – Dynamisierung, Demenz-rkrankte, ambulante und stationäre Pflege – ist das drin-end notwendig. Wir werden uns auch über eine nach-altige Finanzierung der Pflegeversicherung und ebensoarüber Gedanken machen, wie Kindererziehende ent-astet werden können.
Nein, das tun wir nicht seit sechs Jahren, Herr Zöller.
Wenn Sie Vorschläge einbringen, dann gestalten wiriese gern mit.
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Petra SelgSolange Sie sich aber nicht darüber einigen können, überwas Sie eigentlich reden und wie Sie in diesem Landewas reformieren wollen,
muss ich Ihnen sagen: Machen Sie erst einmal IhreHausaufgaben!
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
Nach meinem Dafürhalten wird in dieser Debatte zu
viel über Zahlen gesprochen und zu wenig über die Men-
schen, die gepflegt werden, und die Menschen, die pfle-
gen. Ich habe mehrere Pflegeheime besucht und mit
Pflegerinnen gesprochen. Sie klagten über die unerträg-
liche und täglich zunehmende Bürokratie. Jeder Hand-
griff muss aufgeschrieben werden. Alles muss dokumen-
tiert werden. Die Pflegerinnen verbringen zu viel Zeit
mit Formularen und zu wenig Zeit mit den pflegebedürf-
tigen Menschen.
Meine Damen und Herren, Sie haben mit Ihren Geset-
zen und Verordnungen den Fordismus aus dem letzten
Jahrhundert in die Pflege eingeführt. Doch hier werden
keine Autos im Minutentakt zusammengeschraubt, son-
dern hier geht es um Menschen.
Nun hat Frau Bundesministerin Schmidt einen runden
Tisch zur Pflege mit 80 Personen installiert, der bis 2005
Vorschläge zum Bürokratieabbau erarbeiten soll. Hier
soll also die Bürokratie über den Abbau der Bürokratie
beraten. Das ist ein wirklich aussichtsloses Unterfangen.
Wir von der PDS fordern einen Abbau der Bürokratie
und eine Stärkung der Selbstverantwortung der Pflege-
einrichtungen. Wir wollen weg vom unpersönlichen
Sachleistungsprinzip und hin zu personenbezogenen
Budgets. Wir wollen den Pflegebedürftigen und dem
Pflegepersonal die Möglichkeit geben, die Pflegedienst-
leistung nach ihren persönlichen Bedürfnissen abzustim-
men. Wenn nur dieser eine Vorschlag umgesetzt würde,
würde man bei der Verwaltung sehr viel Geld sparen und
auch dazu beitragen, dass die direkt Betroffenen mit der
Pflege und mit ihrer Arbeit persönlich wesentlich zufrie-
dener sind.
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as kann ja wohl auch keine Lösung sein.
Wir von der PDS fordern eine dauerhafte Entlastung
er Menschen, die einen großen Teil ihrer Lebenszeit in
ie Erziehung ihrer Kinder gesteckt haben. Wir schlagen
uch für die Pflegeversicherung den Weg einer solidari-
chen Bürgerversicherung vor – das hat heute ja bei
chon einem anderen Tagesordnungspunkt eine Rolle
espielt – und dazu die Einführung einer Wertschöp-
ungsabgabe.
enn diese Vorschläge umgesetzt würden, wäre auch
ie Pflegeversicherung gut zu finanzieren.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Verena Butalikakis
on der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Berücksichtigung der Demenzkranken ist auf Eiselegt“ – so lautet das Fazit eines Bundesverbandes füroziale Dienste, nachdem der Kanzler die Reform zurflegeversicherung gestoppt hat.
agegen verkündet der Kollege Schmidt, immerhin Par-amentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, in derresse, dass noch in diesem Jahr eine Neuregelung fürie Betreuung Demenzkranker angestrebt wird.
Die Aussagen von heute waren auch nicht erhellend.enn ich das richtig verstanden habe, hat die Bundesmi-isterin gesagt: Ja, wir werden etwas für die Demenz-ranken tun. – Frau Selg, von der ich eine Aussage dazurwartet habe, erging sich eher darin, Zitate aus derresse über die CDU und die CSU zu bringen, was ja fürns ganz gut ist, aber in der Sache natürlich nicht weiter-ührt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7949
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Verena ButalikakisVon den 1,2 Millionen Menschen mit einer demen-ziellen Erkrankung, wie zum Beispiel der Alzheimer-Krankheit, werden derzeit 600 000 durch die Leistungender Pflegeversicherung nicht ausreichend unterstützt. Ichglaube, dass wir uns alle darin einig sind, dass wir hieretwas tun müssen. Diese Menschen und die mitbetroffe-nen Angehörigen haben ein Recht auf klare Aussagen;diese wurden bisher aber nicht getroffen.
Deshalb wollen wir einmal etwas Licht in die rot-grü-nen Aussagen bringen und auf die jüngere Geschichteeingehen. Bisher wurde immer auf frühere Zeiten ver-wiesen. Im Oktober 2000 erklärten die Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag „Wei-terentwicklung der sozialen Pflegeversicherung“ – ichzitiere –:Für Leistungsverbesserungen stehen in der Pflege-versicherung maximal jährlich 500 Millionen DMzur Verfügung. … Dieser Finanzspielraum lässteine Lösung nicht zu, nach der bei Dementen beider Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Hilfe-bedarf der allgemeinen Beaufsichtigung und Be-treuung mit 30 oder 40 Minuten täglich im Rahmender Grundpflege zu berücksichtigen wäre. Die da-mit verbundenen Mehrausgaben, die bei den ge-nannten Zuschlägen nach Schätzungen des zustän-digen Bundesministeriums für Gesundheit sogar beimindestens 2,5 Milliarden DM jährlich liegen, sindmit dem gesetzlich festgelegten Beitragssatz von1,7 vom Hundert nicht zu finanzieren.Als die CDU/CSU-Fraktion im März 2001 – viel-leicht sollten Sie jetzt einmal zuhören, Frau Bundes-ministerin; Sie sagen ja immer, wir hätten nichts getan –
die Versorgung der Demenzkranken durch Bezahlungvon zusätzlichen 30 Minuten beim allgemeinen Hilfe-und Betreuungsaufwand verbessern wollte, hat die rot-grüne Regierungskoalition mit genau der eben zitiertenBegründung dieses abgelehnt, obwohl das Konzept einetatsächliche, damals auch noch mögliche Gegenfinanzie-rung vorsah. Das heißt, wir haben Vorschläge gemacht,wie man 2,5 Milliarden DM tatsächlich aufbringen kann,um die Bedingungen für Demenzkranke zu erleichtern.
Laut Plenarprotokoll wurde der Vorschlag damals als„absolut unredlich“ vonseiten der SPD beschimpft.Heute, noch nicht einmal drei Jahre später, steht die Pfle-geversicherung finanziell schlechter da – die Ausfüh-rungen dazu haben wir ja teilweise schon gehört und dasBundesverfassungsgerichtsurteil zur Entlastung von El-tern muss umgesetzt werden und das kostet 1,6 Milliar-den zusätzlich. Aber der Kanzler verbietet eine Reform.Genau heute, in dieser Situation, hören wir aus denReihen der Koalitionsfraktionen Ankündigungen, dasssie Verbesserungen für Demenzkranke in Form einesZw2szkMvaphksfidmrgvkFnWRmkSWkdtabsS
ir brauchen dringend und schnell eine grundlegendeeform der Pflegeversicherung, um gerade auch an De-enz erkrankten Menschen in diesem Land helfen zuönnen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz von der
PD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!ir alle wissen, dass eine sachliche Debatte über die Zu-unft der Sozialsysteme in unserer Gesellschaft notwen-ig ist. Ob diese Aktuelle Stunde zu einer Klärung bei-ragen wird, liegt letztendlich an uns allen; aberngesichts der bisherigen Debatte sind da Zweifel ange-racht.
Ich hatte heute Morgen – das sage ich, weil es michchon seit Stunden drückt – das zweifelhafte Vergnügen,ie, Herr Seehofer, im „Morgenmagazin“ zu sehen.
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7950 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Die Pflegeversicherung war ein Thema bei diesem Inter-view. Aber, Herr Seehofer, wie Sie sich bei der Frage zuden Praxisgebühren und der Unruhe in der Bevölkerungeinen weißen Fuß gemacht haben und die Schuld auf dasMinisterium geschoben haben, war für mich sehr enttäu-schend; denn Ihre Haltung ist sonst eine andere.
Ich finde es ungeheuerlich; es ist einfach nicht seriös,was Sie dort gemacht haben.
Zur Seriosität will ich noch etwas sagen: Sie beklagenhier das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nach demFamilien, die Kinder erziehen, bei der Beitragsaufbrin-gung anders gestellt, entlastet werden sollen. Aber diesesUrteil gibt es seit drei Jahren und es bezieht sich auf ei-nes Ihrer Gesetze.
– Wir haben es gemeinsam beschlossen, aber letztend-lich ist es Ihr Gesetz.
Sie sagen, die Kasse sei gut gefüllt gewesen. Ver-schweigen Sie dabei aber bitte nicht, dass bei der Ein-führung sowohl der ambulanten wie auch der stationärenPflege jeweils drei Monatsbeiträge ohne Gegenleistungerhoben worden sind. Daher rührt das. Wenn wir darüberdiskutieren, was notwendig ist und wie die Kassenlagein der Pflegeversicherung aussieht, dann müssen wirauch das betonen.
Es ist richtig: Wir müssen das Urteil umsetzen. Dazuist Zeit bis zum Jahresende. Richtig ist auch: Wir werdenes umsetzen.
Da das kein ganz einfacher Vorgang ist, werden wir unsdarüber noch einmal mit Fachleuten beraten; wir werdenüber die Vorschläge mit den Kolleginnen und KollegenFachpolitikern diskutieren und dann zu einer Lösungkommen.Ich denke, es gehört zum üblichen Ablauf politischerWillensbildung, dass Bundesregierung und Fraktionendies miteinander beraten.
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ie brauchen nicht so zu tun, als ob Sie dieses Geschäfticht verstehen würden. Ich brauche mir nur Ihre Vor-chläge beispielsweise zur Steuerpolitik anzusehen: ein-al so, ein anderes Mal so. Auch das war doch wahr-cheinlich ein Ausloten. Sonst müsste man dasermutlich mit etwas viel Schlimmerem bezeichnen.
Die politische Entscheidung wird getroffen und aufen Weg gebracht. Warum also jetzt die Aufregung? Wiriehen doch keinen Gesetzentwurf zurück. Sie tun so, alsb es ein Gesetz gegeben hätte, das wir jetzt zurückzie-en würden.Nichts drängt uns, die Novellierung der Pflegeversi-herung im Hauruckverfahren durchzuziehen. Wir wer-en uns das in Ruhe anschauen. Panikmache ist nicht an-ebracht. Ältere Bürger werden durch eine solcheanikmache unnötig verunsichert. Die Pflegeversiche-ung hat noch Rücklagen in Milliardenhöhe.
ir haben auch genügend Zeit, uns über die Notwendig-eiten, die zweifellos bestehen, im Bereich der Demenz-rkrankungen und über die Dynamisierung der Pflege-eistungen zu verständigen. Ebenso müssen wir unsnschauen, ob die Gewichtung von ambulant und statio-är richtig ist.
Das werden wir alles in Ruhe mit den Fachleuten dis-utieren. Sie sind herzlich dazu eingeladen, Ihren Sach-erstand einzubringen. Lassen Sie uns die Menschenicht weiter verunsichern! Wir wissen alle, dass wir imereich der Sozialversicherung schwierige Probleme zuösen haben.
u dem, was wir miteinander beschlossen haben, solltean – dieser Appell geht an Sie, Herr Seehofer – auchtehen.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Hildegard Müller von derDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Bundesregierung führt in letzter Zeit zweiBegriffe sehr gerne im Mund. Der eine ist Innovationund der andere ist Nachhaltigkeit. In Bezug auf die Pfle-geversicherung handelt die Bundesregierung im Momentjedoch weder innovativ noch nachhaltig.
Denn weder die bisherigen Pläne aus dem HauseSchmidt noch das Veto des Bundeskanzlers erfüllen dievon Ihnen selbst gestellten Ansprüche.So zeugt das Veto des Bundeskanzlers und die vonder Sozialministerin gerade einmal in Aussicht gestellteMinimalentlastung der Erziehenden innerhalb des bishe-rigen Systems der Pflegeversicherung – wir wissen aberimmer noch nicht, wann und wie – nicht gerade von in-novativem Schaffen.
Dies ist nicht nachhaltig; denn es wurden undwerden – so eine Definition von Nachhaltigkeit – wederdie Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt noch wirddurch das, was Sie hier vortragen, das Risiko umgangen,die Ansprüche künftiger Generationen nicht mehr befrie-digen zu können.Es sieht so aus, als würde die Pflegeversicherung, wieandere Sozialsysteme leider auch, weiter in die Pleitesteuern. Dies ist jetzt keine höhnische Kritik der Oppo-sition. Denn Kronzeugin hierfür ist die Kollegin Bendervom Bündnis 90/Die Grünen.
Sie hat, wenn die „Frankfurter Rundschau“ sie richtig zi-tiert hat – dazu dürften Sie, Frau Kollegin Bender, gleichStellung nehmen –, zu den Kanzlerplänen so treffend,wie ich finde, bemerkt: Wenn man nur die Entlastungder Kindererziehung umsetzt und keine weiteren Refor-men, dann drohen die Reserven auf null zu fahren. Demist nichts hinzuzufügen.
Experten rechnen schon jetzt damit, dass die Reser-ven angesichts der steigenden Zahl von Leistungsemp-fängern 2007 aufgebraucht sein werden. Einer dieser Ex-perten ist übrigens der Vorsitzende der SPD-Fraktion. Erhat das nicht nur vor den Wahlen gesagt, sondern auchvor 14 Tagen auf einer rot-grünen Klausurtagung inLeipzig. Vielleicht hätten Sie zuhören sollen, was er dortzu sagen hatte, nämlich dass die Reserven spätestens indrei Jahren aufgebraucht sein werden.Es besteht also erhöhter Handlungsbedarf. Frau Mi-nisterin, bis vor zwei Wochen sahen Sie das noch ge-nauso. Jetzt scheint es aber so zu sein, als habe der HerrBundeskanzler angesichts der bevorstehenden Wahl-kämpfe seine alte Politik der ruhigen Hand, die immerschon sehr „erfolgreich“ war, wiederentdeckt. Jetzt rächtsich sein Populismus vor den Wahlen. Was haben SieudwBzrMadsnsiarWütndkMgwwmlsLndnpkedhdRnuLtliSsTh
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Hildegard MüllerSie müssen die Menschen bei den Reformen mitneh-men und nicht in Basta-Manier notwendige Reformenverschieben. Der Ärger der Bevölkerung über Sie, Ihrpersönlicher Frust als Mitglied der einst so stolzen SPDüber den Zustand der Partei, miserable Umfragewerte,vor allem aber Ihre immer wiederkehrenden handwerk-lichen Fehler, die Sie ohne Unterlass begehen, lähmenSie.
Persönlich mag man diesen Frust vielleicht verstehen.Wenn Sie keine Kraft mehr für notwendige Veränderun-gen haben, bleibt Ihnen nur eine Alternative. Die Wählerhaben Sie nicht gewählt, damit Sie zweieinhalb Jahre vorder nächsten Bundestagswahl das Regieren einstellen.
Machen Sie sich Gedanken über die Zukunft der Pfle-geversicherung! Hier gibt es nach wie vor ein Lamento.Der Kanzler ermahnt uns alle ja immer, die Deutschensollten nicht so viel jammern. Hören Sie mit dem Jam-mern auf! Legen Sie gute Vorschläge auf den Tisch odertreten Sie als Regierung und Koalition ab!
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich ver-stehe ja angesichts der Berichte der letzten Tage denReiz für die Opposition, eine Aktuelle Stunde zu bean-tragen.
Sie haben nur den Fehler gemacht, alle Ihre Reden ges-tern schreiben zu lassen. Deswegen sind Sie auch aufdem Stand von gestern,
als es vielleicht noch mehr Fragezeichen gab.
Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op-position,
steht fest, Herr Seehofer: Einen Stillstand wird es nichtgeben. Es wird in dieser Legislaturperiode eine umfas-sende Reform der Pflegeversicherung geben.DDBCiSsddaDzswrDJsIkcHseek
ie Ausgestaltung im Einzelnen ist diskussionsbedürftig.
arum muss man nicht herumreden; das ist auch keineinbruch.Aber ich sage Ihnen, meine Damen und Herren vonDU und CSU: Der Diskussionsbedarf in der Koalitionst weit geringer als der unter Ihnen.
ehen Sie sich doch einmal an, was Sie wollen. – Ichpreche jetzt nicht von der FDP. Bei der ist es ja üblich,ass sie sagt: Hau weg den Sozialklimbim! – Wie istenn die Merkel-CDU in Sachen Pflegeversicherungufgestellt?
a heißt es: Erst einmal werden die Beiträge auf 3,2 Pro-ent erhöht. Ich gratuliere! Was sagt Herr Stoiber zu die-er Erhöhung der Lohnnebenkosten? Dann heißt es: Esird privatisiert. Alle zahlen Pauschalen zur Absiche-ung des Pflegerisikos, aber differenziert nach dem Alter.
azu sage ich: Gratulation!
e älter, desto teurer wird die Absicherung des Pflegeri-ikos? Herr Seehofer, was sagen Sie denn dazu? Ich sagehnen: Das ist kein Weg zu einem Altern in Würde.
Meine Damen und Herren von der Opposition, zu denonkreten Problemen der Pflege bzw. der Pflegeversi-herung haben wir heute von Ihnen nichts gehört.
err Storm hat sich dieser Tage zitieren lassen, die Um-etzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils sei ganzinfach: Eine Entlastung um 10 Euro – Sie haben sogarin bisschen gerechnet –
oste 1,6 Milliarden Euro.
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Birgitt BenderDie würden aus Steuermitteln gezahlt. Dazu sage ich:Gratulation! In diesem Fall frage ich nicht, was HerrSeehofer darüber denkt. Denn das weiß ich. Er hat näm-lich gesagt: Keine Entlastung der Erziehenden aus Steu-ermitteln!Ich frage aber: Was sagt eigentlich Herr Merz dazu?
Gab es nicht einmal ein Steuerkonzept mit einem Defizitvon 24 Milliarden Euro? Langsam nähern Sie sich wie-der den Realitäten. Der letzte Stand ist, glaube ich, dassSie 10 Milliarden Euro weniger einnehmen wollen. Jetztfrage ich: Wo kommen die 1,6 Milliarden Euro her? Siesollten sich einmal zusammensetzen und sich darüberunterhalten, wie Sie das machen wollen.
Wenn Sie glauben, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der CDU, Sie könnten mit dem Füllhorn über dasLand gehen
und das auch bei der Pflegeversicherung so handhaben,dann frage ich Sie: Wo ist Ihre Erbtante aus Amerika, diedas alles finanzieren wird? Die brauchen Sie dann näm-lich.
Solange bei Ihnen das Chaos regiert, sind Belehrun-gen an die Adresse der Regierung ganz und gar fehl amPlatze.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Sehling von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Diese Woche hat eine böse Überraschung für alle Pflege-bedürftigen gebracht. Der Bundeskanzler stoppt die Re-form der Pflegeversicherung.
Die „Welt“ titelt: Schröder legt die Reform aufs Eis. Die„Süddeutsche Zeitung“ schreibt: Kanzler stoppt UllaSchmidts Pflegereform. Heute heißt es, wie wir aus einerAgenturmeldung gehört haben: Jetzt können Beitragser-höhungen in der Pflegeversicherung doch nicht ausge-schlossen werden.vhGhfdFsetSvdrcfbBAWEdhvDrsmRBSrdbEWdSugvfErd
Damit wird Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nachundesverkehrsminister Manfred Stolpe zum zweitennkündigungsminister in der Bundesregierung.
as hatte die Gesundheitsministerin nicht alles in ihremckpunktepapier – man wird doch noch daran erinnernürfen, Frau Ministerin – im Oktober angekündigt! Esandele sich um ein Pflegekonzept, welches die Pflege-ersicherung zukunftssicher mache.
as Konzept sichere die Nachhaltigkeit in der Finanzie-ung und im Übrigen würden die aus der demographi-chen Entwicklung resultierenden Beitragsbelastungenöglichst gerecht auf die Generationen verteilt. Dieede war von der Besserstellung der Demenzkranken imereich der Grundpflege, von höheren Beträgen in allentufen der häuslichen Pflege und von der Dynamisie-ung der Pflegeleistungen ab dem Jahr 2007. Das warenie Ankündigungen, fast nichts ist davon übrig geblie-en.Frau Ministerin, setzt die Bundesregierung so diempfehlungen der Rürup-Kommission um?
ozu haben Sie so viel Steuergelder für die Beratungurch die Rürup-Kommission ausgegeben? Jetzt folgenie dem Beratungsergebnis nicht einmal ansatzweisend sagen die Reform komplett ab.Eine Reform der Pflegeversicherung bleibt aber drin-end notwendig, und dies nicht nur, weil das Bundes-erfassungsgericht – das haben wir heute schon mehr-ach gehört – der Politik aufgegeben hat, dielternleistung bei der Finanzierung der Pflegeversiche-ung stärker herauszustellen. Die finanziellen Rücklagener Pflegeversicherung schmelzen wie das Eis in der
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Matthias SehlingSonne, wie die „Frankfurter Rundschau“ am Donnerstagschrieb.Dabei hat sich die Pflegeversicherung – ich glaube,das ist allgemeine Auffassung – als Absicherung desletzten großen Lebensrisikos „Pflege“ im Grundsatz be-währt. Die soziale Pflegeversicherung sollte auch künf-tig ein eigenständiger Zweig der sozialen Sicherungssys-teme bleiben. Die finanzielle Ankoppelung an denArbeitslohn muss aber künftig begrenzt werden, damitdie Kalkulierbarkeit der Arbeitskosten und die Wettbe-werbsfähigkeit des Standorts Deutschland erhalten wer-den können. Wir sollten dazu den Pflegeversicherungs-beitrag auf dem jetzigen Niveau festschreiben, denArbeitgeberanteil also auf 0,85 Prozent.Der wichtigste Punkt einer notwendigen Reform – siebleibt weiterhin notwendig – ist die Besserstellung derFamilien in der Erziehungsphase. Sie, Frau Ministerin,hatten mit Ihrem Beitragszuschlag für alle Kinderlosenallerdings den falschen Weg, nämlich den der Bestrafungeiner ganzen gesellschaftlichen Gruppe, beschreitenwollen. Es wäre weit sinnvoller – ich glaube, so sieht esauch der Bundeskanzler –, die Eltern pro Kind währendder Erziehungsphase mit einer Beitragsentlastung zu be-lohnen.Nach der neuesten Emnid-Umfrage stehen Sie, werteKolleginnen und Kollegen von der rot-grünen Koalition,mit solch einer Ankündigungs- und Rückzugspolitiknicht sehr überzeugend da: 85 Prozent der Bevölkerungbeurteilen die Arbeit der Bundesregierung als plan- undvisionslos.Ihre jetzige Pflegepleite so kurz nach der LKW-Maut-Pleite vertieft diese vorhandene Einschätzung der Arbeitvon Rot-Grün. Die Bundesregierung handelt weiterhineinfach plan- und visionslos.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Hilde Mattheis von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich binsehr froh, dass sich heute zeigt, dass nicht jede lautstarkvorgebrachte Behauptung nachhaltiger wirkt als sachli-che Argumentation.
Ihre Behauptungen, die Sie seit Dienstag aufgebaut ha-ben, sind seit einigen Stunden völlig haltlos.
Sie, Frau Müller, schlagen hier vor, den Kapitalstockaufzubauen,
verweigern aber natürlich die Aussage dazu, wer dasdenn bezahlen soll.SihDgpug–skeRAzwg–WgalNwwn
ie sagen auch, dass das die einzige Alternative zu demst, was wir und auch die Ministerin bisher vorgestelltaben.
azu muss ich Ihnen sagen: Sie vergessen, dass die Pfle-eversicherung bislang als Teilkaskoversicherung konzi-iert ist
nd dass die Menschen bislang sehr wohl mit einem ei-enen Beitrag eintreten.
Mein Oberbürgermeister freut sich oft über mich.
Mein Vorredner hat die Zukunft der Ministerin ange-prochen. Sie jedoch haben eine Aktuelle Stunde zur Zu-unft der Pflegeversicherung beantragt und um die gehts eigentlich. Lassen Sie mich am Anfang einen kleinenückblick wagen:
ls die Pflegeversicherung 1995 als fünfte Säule des so-ialen Sicherungssystems etabliert wurde,
aren dem 20 Jahre heftige Diskussionen vorausgegan-en. Bis dahin waren zehn Gesetzentwürfe gescheitert.
Das habe ich nicht gesagt.
arten Sie ab.Dass wir eine Reform brauchen, ist in unseren Beiträ-en sehr wohl zum Ausdruck gekommen. Es wird sichuch niemand zu der Aussage hinreißen lassen, dass al-es so bleiben soll, wie es ist.
ach neun Jahren Erfahrung mit der Pflegeversicherungissen wir, dass dort selbstverständlich Anreize zu ent-ickeln sind und dass das Prinzip „ambulant vor statio-är“ stärker durchgesetzt werden muss. Wir wissen
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Hilde Mattheisnatürlich, dass die Definition des Begriffes der Pflegebe-dürftigkeit dringend überarbeitet werden muss. Wir wis-sen, dass bedarfsgerechte Leistungsbemessung ein wich-tiger Punkt ist, den wir angehen müssen.
Wir wissen, dass die Unterstützung pflegender Angehö-riger und die Förderung bürgerschaftlichen Engage-ments in diesem Bereich wichtig sind. Das alles wissenwir.Wenn jetzt so getan wird, als sei alles das, was ichjetzt gerade aufgezählt habe, in den nächsten Wochen zuerledigen, sonst würden alle Hilfestrukturen zusammen-brechen,
werden hier – das meine ich auch mit Blick auf das In-terview heute Morgen im „Morgenmagazin“ – in unver-antwortlicher Weise Unsicherheit und Angst geschürt.
Sie tun so, als wenn sich die Regierung und wir unsals Fraktionen sämtlichen Reformen verweigern würden.Ich weiß nicht, woher Sie diese Information haben.
– Waren Sie bei der Fraktionssitzung? Ich habe Sie nichtgesehen.
Sie sollten Ihre Informationen so auswerten, dass Siehier in der Aktuellen Stunde auch aktuell diskutierenkönnen.
Wir lassen uns in dieser Sache nicht verunsichern.Die Ministerin hat die nächsten Reformschritte darge-stellt. Es geht uns um mehr als nur um die Schlagzeilevon heute.
– Ja. Es geht darum, Menschen im Alter die Teilnahmeam gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen,
sie nicht an den Rand zu drängen. Es geht darum, dieBelastungen zwischen den Generationen, die für die Fi-nanzierung sorgen, gerecht zu verteilen.vAiaadudw–s2DmdIdAhNZWleWlelidsHk
uch wenn dieser Name bei Ihnen nicht mehr so hochm Kurs steht, stellen wir fest: Die Grundlage, die er undndere geschaffen haben, ist in Ordnung. Wir stellenuch fest: Korrekturen und Reformen sind nötig. Anstattie Regierung jetzt, nachdem die Eckpunkte vorliegennd nachdem auch die Schritte vorgestellt worden sind,ie in der nächsten Zeit, vor der nächsten Bundestags-ahl, angegangen werden, zu unterstützen – –
Wir lassen uns da nicht unter Zeitdruck setzen. Zwi-chen dem Jahr 2004 und dem Jahr 2006 liegt das Jahr005.
as ist eine logische Konsequenz.
Die nächsten Schritte sind klar. Wir werden uns ge-einsam mit diesem Thema beschäftigen und uns aufen Weg machen.
ch lade Sie ein. Bisher haben Sie leider nicht bewiesen,ass Sie Einladungen auch folgen.
Wir hatten zwar vereinbart, einen interfraktionellenntrag zum Thema Demenz zu formulieren. Aber Sieaben sich kurzfristig verweigert.
och kurzfristiger haben Sie daraufhin – zur gleicheneit wie wir – einen eigenen Antrag eingebracht.
omöglich wollten Sie dokumentieren, dass Sie schnel-r sind. Das stimmt aber nicht.
enn Sie sich den Ablauf ansehen, werden Sie feststel-n, dass eher das Gegenteil der Fall ist.In der nächsten Sitzungswoche werden wir ausführ-ch über dieses Thema diskutieren. Ich freue mich schonarauf und lade Sie dazu ein. Denn auch in Ihrer politi-chen Verantwortung geht es darum, den Menschen eineilfestellung zu geben, und nicht darum, dieses Themaurzfristig für eine Schlagzeile auszuschlachten.
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Hilde Mattheis
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! In Deutschland leben etwa zwei Millionen Men-schen, die zwar in unterschiedlichem Ausmaß, aber dauer-haft auf Pflege angewiesen sind. 70 Prozent derPflegebedürftigen werden von ihren Angehörigen be-treut. Allein das beweist, dass die Familie auch in die-sem Bereich eine total unverzichtbare Rolle spielt undfür unsere Zukunft nicht wegzudenken ist.Kein Staat dieser Welt könnte all die Leistungen fi-nanzieren, die wegfallen würden, wenn es nicht die Fa-milienarbeit und gegenseitige Hilfe gäbe. Genau deshalbhat auch das Bundesverfassungsgericht entschieden,
dass wir die Familien anders behandeln müssen,
– ja, sie entlasten müssen. Frau Ministerin, es ist IhreAufgabe, hierzu endlich Vorschläge vorzulegen, dienicht zu solchem Hickhack führen, den wir heute hörenmüssen,
sondern die es vielmehr ermöglichen, über die Sache zudiskutieren.
Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde diePflegearbeit aus ihrem Schattendasein an die Öffentlich-keit gebracht.
Sie geht alle an und wird von allen finanziert. Deshalbhaben auch alle einen Anspruch darauf, zu erfahren, wiees um die finanzielle Situation dieser Versicherung steht.Um Ihnen in Erinnerung zu rufen, welches wunderbareWerk wir damals mit der Pflegeversicherung gemeinsamgeschaffen haben, möchte ich Ihnen ein paar Punkte zurPflegesituation in den neuen Bundesländern sagen.Die trostlosen Zustände in den Alten- und Pflegehei-men der DDR sind Gott sei Dank Geschichte.
Es wurde an der richtigen Stelle investiert. Es sindzweckmäßige und ansehnliche Pflegeheime entstanden.Der Einsatz von modernen Mitteln bei der Pflege ist eineSElszgrwDddzrisnedddwDtdPlz1bDutPMbKlPvsnsidD
ie Trägerlandschaft ist ausgesprochen plural und sicherten Betroffenen eine ihre Lebenseinstellung und ihre Be-ürfnisse berücksichtigende Wahlmöglichkeit. So sindum Beispiel in Sachsen 60 Prozent der stationären Ein-ichtungen in freigemeinnütziger Trägerschaft, 27 Prozentn privater und nur 13 Prozent in öffentlicher Träger-chaft.
Auffallend ist, dass in den Pflegediensten in deneuen Ländern besonders viele Vollzeitbeschäftigungenntstanden sind, nämlich über 40 Prozent. Der Bundes-urchschnitt liegt bei 29 Prozent. Die immer länger wer-ende Lebenszeit der Menschen, die ja ein Glück ist, under permanente Wegzug vor allem junger Menschen be-irkt, dass der Bedarf an professioneller Pflege wächst.ie ambulanten Pflegedienste haben alle Hände voll zuun und kämpfen hart mit den gegebenen Normativen,ie auch mit den Kosten zu tun haben. Denn neben derflege wird – egal, ob bezahlt oder nicht bezahlt – natür-ich auch menschliche Zuwendung erwartet.Während der Anteil der Pflegebedüftigen im Alterwischen 75 und 85 Jahren in Baden-Württemberg bei1,2 Prozent liegt, beträgt er zum Beispiel in Mecklen-urg-Vorpommern 17,7 Prozent, also 6,5 Prozent mehr.ieser Trend wird sich noch verstärken. Deshalb ist esnverantwortlich, heute nicht Vorsorge für morgen zureffen und eine für die Zukunft tragende Reform derflegeversicherung nicht sofort in Angriff zu nehmen.it dem Motto „Stopp und basta“ nach Kanzlermanierringt man die Pflegeversicherung insgesamt in dierise. Wir kennen doch die demographische Entwick-ung und die Tatsache, dass seit 1999 die Ausgaben derflegeversicherung die Einnahmen übersteigen.Die Verschiebung der Reform und das Wegduckenor den Problemen der Pflegekassen ist ein weiteres Bei-piel für die Sprunghaftigkeit dieser Regierung und erin-ert mich bitter an die Zeit, als wir quasi ohnmächtig zu-ehen mussten, wie die DDR-Regierung die Menschenn der DDR um die Früchte ihrer Arbeit gebracht hat, bisas Land bankrott war.
Das darf bei der Pflegeversicherung nicht passieren.eswegen fordere ich Sie auf: Handeln Sie!Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Marlies Volkmer
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
und FDP, Ihr Auftreten heute in dieser Debatte war sehr
unglaubwürdig.
Sie haben im Grunde genommen nichts Inhaltliches dazu
beigetragen, wie die Pflege ausgestaltet werden soll,
sondern haben nur etwas zur Finanzierung gesagt.
Ihr Vergleich zwischen der Situation, die wir zurzeit ha-
ben, Frau Michalk, mit der Situation in der DDR kurz
vor der Wende war hier völlig unpassend; das wissen Sie
selbst.
Was hätten Sie gemacht, wenn wir noch in diesem
Jahr die komplette Reform der Pflegeversicherung um-
gesetzt hätten? – Sie wären die Ersten gewesen, die ge-
gen uns ins Feld gezogen wären; Herr Seehofer, Sie ni-
cken.
– Doch, Sie haben gerade genickt. – Sie hätten uns davor
gewarnt, gleichzeitig zur Gesundheitsreform auch noch
das ganze Konzept zur Pflegeversicherung umzusetzen.
Sie sind sich untereinander nicht einig, was Sie wol-
len. Herr Sehling hat gesagt, er wolle die Familien ent-
lasten, die zurzeit Kinder erziehen. Herr Seehofer hat ge-
sagt, er wolle auch die Familien entlasten, die Kinder
erzogen haben. Das ist ein großer Unterschied.
Herr Storm hat gesagt – darauf ist schon hingewiesen
worden –, er wolle alle Familien mit 10 Euro pro Kind
entlasten, sagt aber nicht, woher er das Geld nehmen
will.
Wir wissen, welcher Reformbedarf im Pflegebereich
besteht.
Uns ist klar, dass das mit der demographischen Entwick-
lung zusammenhängt. Eine Reform beschränkt sich
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ir müssen dafür sorgen, dass eine Pflegebedürftigkeit
ermieden wird, indem wir die Prävention stärken und
ie Therapie chronisch Kranker und die Rehabilitation
lter Menschen verbessern. Wir müssen dafür sorgen,
ass der Grundsatz „ambulant vor stationär“ wirklich
mgesetzt wird. Dazu müssen die Strukturen in der am-
ulanten Betreuung verbessert werden.
ir brauchen Alternativen zur Unterbringung und Ver-
orgung der Patienten in Heimen und müssen deswegen
uch alternative Wohnkonzepte entwickeln. Um diese
iele zu erreichen, bedarf es einer breit angelegten Dis-
ussion.
Die Verbesserung der Betreuung Demenzkranker ist
esonders wichtig. Diese Aufgabe werden wir als
ächste angehen.
Dass wir bis zum 31. Dezember das Urteil des Bun-
esverfassungsgerichtes umsetzen müssen, ist unbestrit-
en und stellt uns natürlich vor eine große Aufgabe. Wir
üssen eine Lösung finden, die gerecht ist, müssen aber
leichzeitig zusehen, dass das nicht zu Einschnitten in
en Leistungen der Pflegeversicherung führt.
Ich denke, Innovation bezieht sich nicht nur auf die
ntwicklung und Umsetzung neuer Technologien, Inno-
ation bedeutet auch – und zwar zunehmend –, zu sagen,
ie sich die Gesellschaft weiterentwickeln soll. Sie ver-
angt auch in der Gesellschaft ein neues Denken und
andeln. Wir müssen dafür sorgen, eine Gesellschaft zu
ntwickeln, in der auch die zukünftige Generation gut le-
en kann.
Dazu müssen wir alle gemeinsam beitragen. Ich for-
ere Sie hier noch einmal auf, gemeinsam an einer Pfle-
eversicherung mitzuarbeiten.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Widmann-
auz von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!och gestern hat der Bundeskanzler an die Deutschenppelliert, sie sollten aufhören zu jammern.
m selben Tag wird der Kanzler von Panik und Angstor weiteren Jammerwellen ergriffen und legt Ulla
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7958 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
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Annette Widmann-MauzSchmidts Pläne zur Pflegeversicherung, deren Entwurfja schon an die Verbände verschickt worden war, kurzvor der Verabschiedung in der Fraktion eiskalt auf Eis.Das war eine nette Überraschung für die Fachpolitikerder SPD-Fraktion und der Grünen. Diese nette Überra-schung für den Koalitionspartner war wohl Ausdruckdes Kommunikationsstils, der in der Koalition herrscht.Es war eine Ohrfeige für Ulla Schmidt.Der Kanzler weiß aber, dass Ohrfeigen bei Frauennicht gut ankommen. Deshalb schiebt Schröder ganzschnell nach: Ulla Schmidt sitze am Tisch des Kanzlersund da werde sie auch bleiben.
Ich frage Sie aber: Was nützt es, wenn Ulla Schmidtsitzen bleibt, aber nichts zu sagen hat? Die Pläne des So-zialministeriums sind seit Herbst 2003 bekannt und hät-ten auch dem Bundeskanzler bekannt gewesen sein müs-sen.
Angesichts von 14 Wahlen in diesem Jahr, einem Umfra-gewert von 25 Prozent für die SPD bei der Sonntags-frage
und der Perspektive auf Wahlniederlagen in Nordrhein-Westfalen bekommt der SPD-Vorsitzende aber einfachkalte Füße.
Erinnern wir uns: Am 14. März letzten Jahres hat derKanzler von diesem Platz aus seine Agenda 2010 mit pa-thetischen Worten vorgestellt. Jetzt erschrickt der Kanz-ler vor seinen eigenen Worten und Taten. Der Fraktions-vize der Grünen Reinhard Loske warnt Schröder jetztschon wieder davor, die Politik der ruhigen Hand wiederaufleben zu lassen. Frau Selg, ich denke, Sie müssten inIhrer Fraktion einmal ein wenig reden.Schröder meint in seiner Erklärungsnot, die Änderun-gen am Pflegekonzept seien Einzelmaßnahmen und inBezug auf die Reform nichts Generelles.
Gleichzeitig erklärt Ihre Fraktionsvorsitzende FrauGöring-Eckardt im Deutschlandfunk: Zusätzliche Belas-tungen der Bürger an anderer Stelle wird es nicht geben.Frau Caspers-Merk sagt heute, dass sie Beitragserhöhun-gen in der Pflegeversicherung nicht ausschließt.
17 Millionen Rentnerinnen und Rentner erhalten ab1. April 2004 Rentenkürzungen. Ich frage Sie: Weißdiese Bundesregierung eigentlich überhaupt noch, dasssie mit dem Alterseinkünftegesetz noch weitausschmerzlichere Belastungen für die Bürger bereithält?DzJwumJJSgIrsggldaiFadsStmVdKdGvdAls
etzt fordern Sie wieder neue Kommissionen mit neuemach- und Fachverstand und bilden wieder neue Berater-remien.
ch glaube, Sie müssten mehr Chaosforscher in diese Be-atergremien berufen. Dann kämen wir nämlich wahr-cheinlich schneller zum Zug.
Die Sprunghaftigkeit und Kurzlebigkeit dieser Politikeht voll zulasten der Pflegebedürftigen, ihrer Angehöri-en, der Pflegekräfte und der Beitragszahler in Deutsch-and. Sie warten dringend darauf, dass die Leistungen iner Pflegeversicherung den Kosten der Lebenshaltungngepasst werden. Seit die Pflegeversicherung in Kraftst, steht die Dynamisierung der Leistungen aus – mit derolge, dass Pflegebedürftigkeit wieder zur Sozialhilfe-bhängigkeit führt.Die Demenzkranken und ihre Angehörigen habenarauf gehofft, endlich Leistungen aus der Pflegever-icherung zu erhalten.
eit dem Jahr 1999 hat die Union insgesamt neun Initia-iven in Bund und Ländern eingebracht. Sie aber habenit Ihrer Mehrheit in Bundestag und Bundesrat dieseorschläge immer und immer wieder abgelehnt. Jetztrücken Sie sich mit der Basta-Entscheidung Ihresanzlers um eine Lösung für all die wesentlichen Fragenieser Menschen.Wenn der Kanzler für seine Entscheidung schon dieerechtigkeit strapaziert, dann müssen Sie diese Sach-erhalte zur Kenntnis nehmen;
enn diese Entscheidung bedeutet, dass Familien undlleinstehende mit ihren Problemen zur Pflege weiter al-eingelassen werden.
Wenn Rot-Grün die Umsetzung des Bundesverfas-ungsgerichtsurteils nicht durch einen Strafzuschlag von)
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7959
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Annette Widmann-Mauz2,50 Euro für Kinderlose finanzieren will, dann stelltsich die Frage, wie Erziehende denn nun entlastet wer-den sollen. Offenbar denken Sie nun an Freibeträge beider Beitragsbemessung. Das bedeutet in der Konsequenzfür Familien eine Entlastung in Centhöhe und weitereBeitragszuschläge und -steigerungen für die Beitrags-zahler.Was für ein irrsinnig bürokratischer Aufwand, an des-sen Ende nichts bzw. nichts Positives steht! Der Kanzlertreibt mit dieser Entscheidung Fraktion und Ministeriumendgültig nach Absurdistan. Den Menschen bleibt nichtserspart. Nein, Ihre Ratlosigkeit kommt die Beitragszah-ler, insbesondere die Pflegebedürftigen teuer zu stehen.
Die Situation in der Pflegeversicherung ist angesichtsunserer jetzigen Lage schlimm genug. Diese Regierunglöst keine Probleme, sondern sie schafft – nicht erst seitheute – immer wieder neue. Sie selbst ist das Problem.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Horst Schmidbauer
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn mansich die letzte Stunde vor Augen und Ohren führt,
dann hat man den Eindruck, dass die Opposition untereinem geradezu strukturtypischen Zwang steht.
Dieser strukturtypische Zwang ist der Versuch, aus einerSituation Kapital zu schlagen, wohl wissend, dass man-gels Argumente und Grundlage ein Misserfolg vorpro-grammiert ist.Schauen wir uns die Sache einmal genau an. Der Ver-such, aus der Situation Kapital zu schlagen, ist weder de-nen gelungen, die heute Krokodilstränen über ein Re-formkonzept vergossen haben, das nicht auf ihremeigenen Mist gewachsen ist
– Sie wollten es im Bundesrat sowieso zu Fall bringen –;
noch ist es denen geglückt, die das Veto des Bundes-kanzlers zu neuen Reformen insgeheim begrüßen. Na-türlich müssen sie dabei aufpassen, dass sie den KanzlernnSbenmhdsGgwWgzswsIdSdTZSwsmbv
r aber gleichzeitig auch über die Umsicht verfügt, dabeiicht über das Ziel hinauszuschießen.
Seit wir beginnen, bei den Sozialversicherungssyste-en den Reformstau aufzulösen, hechelt die Union mitängender Zunge hinterher. Ich habe gedacht, Sie wür-en es heute begrüßen, dass wir Ihnen eine kleine Ver-chnaufpause verschaffen, weil das sicherlich auch Ihreresundheit gut tun würde.
Wir sollten froh darüber sein, dass wir bei der wichti-en Frage der Reform der Pflegeversicherung Zeit ge-onnen haben und es keine Hauruck-Gesetzgebung gibt.
ir haben nun die Chance – diese sollten wir auch er-reifen –, alle Vorschläge für eine solidarische und so-ial tragfähige Pflegeversicherung, die in der Gesell-chaft diskutiert und von Fachleuten eingebrachterden, zu prüfen.
Ich frage mich, wo zu diesem Thema Ihre Vorschlägeind. Außer Verwirrung haben Sie nichts vorzuweisen.
ch frage auch Sie, wo in der Zeit Ihres Regierungshan-elns diese Probleme konkret angegangen worden sind.trukturelle Veränderungen auf der Einnahmenseite oderer Ausgabenseite? – Fehlanzeige!
rotzdem meinen Sie, Sie müssten uns mit erhobenemeigefinger ermahnen.
ie scheuen noch nicht einmal davor zurück – das habenir vorhin erlebt –, Zitate falsch vorzutragen. Wenn manich das Zitat der Staatssekretärin ansieht, dann stelltan fest, dass sie davon gesprochen hat, dass man Geldenötigt, wenn man die Leistungen für Demenzkrankeerbessern und die Dynamisierung im System erreichen
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7960 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004
(C)
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Horst Schmidbauer
will. Das ist doch logisch. Dass man dazu die Einnah-men erhöhen muss, ist auch logisch. Sie hat nicht überden Weg der Finanzierung gesprochen,
sondern sie hat von der Notwendigkeit gesprochen, dassman mehr Geld für die Aufgaben ausgeben muss. Des-halb darf man nicht die Fehlinformation in die Welt set-zen, wie Sie es getan haben, dass der Beitragssatz erhöhtwerden müsse. Diese Frage möchte ich in aller Gelas-senheit im Parlament und in der Koalition diskutieren.Ich frage mich immer, was diese Aufgeregtheit in derUnion soll. Das frage ich mich seit zwei Tagen.
Wieso interessiert sich die Opposition plötzlich für dasKommen oder Scheitern von Modellen für eine solidari-sche, umlagefinanzierte Pflegeversicherung, wo doch
Aber Sie wollen vor der Öffentlichkeit lieber in die Rolledes wohltätigen Samariters schlüpfen, der die Wunden,die von den bösen Räubern der Regierungskoalition ver-ursacht worden sind, verbindet. Diese Methode funktio-niert nicht. Es ist gerade jetzt sichtbar geworden, wiediese Methode ausschaut.
Wie immer unser Konzept letztendlich aussehen wird:
Sie von der Union werden Nein sagen und aus PrinzipIhr Spiel weiterspielen. Das ist ein Spiel mit viel rhetori-schem Wind und aufgeblähten Politikmuskeln. Das Spielwird aber denen schaden, denen wir eigentlich helfenwollten und denen wir Sozialdemokraten auch helfenwerden. Das sind die pflegebedürftigen, alten und kran-namhafte Vertreter der CDU/CSU längst deren Abschaf-fung gefordert haben?
Ich glaube, Diskussionsbedarf mit den Bürgerinnen undBürgern im Land besteht darüber, was es bedeuten wird,wenn die Union von dem einst so lautstark gefeierten„Modell Blüm“ Abschied nehmen will und, so wie esaus der Herzog-Kommission klingt, den Bürgern eineobligatorische private – verdammt teure – Absicherungdes Pflegerisikos zumuten will.
Hinzu kommt die Abschaffung eines weiteren Feier-tages. Das sollten Sie den Bürgerinnen und Bürgern sa-gen, damit klar wird, was Sie ihnen zumuten und wie dieLösungsvorschläge der Union aussehen.kodez
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
rdnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
estages auf Mittwoch, den 11. Februar 2004, 13 Uhr,
in.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Die Sit-
ung ist geschlossen.