Gesamtes Protokol
Die Sit-
zung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Tagesordnung um eine vereinbarte Debatte zur
Situation in Jugoslawien erweitert werden. Vorgesehen
ist, den Zusatzpunkt um 16 Uhr aufzurufen. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann
werden wir so verfahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Aktualisierung des deutschen
Stabilitätsprogramms. Das Wort für den einleitenden
fünfminütigen Bericht hat der Bundesminister der Finan-
zen, Hans Eichel. Herr Eichel, bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Prä-
sident! Meine Damen und Herren! Das Bundeskabinett
hat heute die von mir vorgelegte Aktualisierung des deut-
schen Stabilitätsprogramms beschlossen. Im Sommer
1997 haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
ihr klares Bekenntnis zu dauerhafter finanzpolitischer
Stabilität mit der Verabschiedung des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes unterstrichen. Die Umsetzung der Be-
stimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wird
in den Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen der Mit-
gliedstaaten dokumentiert. Diese Programme sind jähr-
lich zu aktualisieren.
Auf der Basis einer Bewertung durch die Europäische
Kommission prüfen der Wirtschafts- und Finanzaus-
schuss der Europäischen Union und danach der Ecofin-
Rat, ob die Programme den Vorschriften des Stabilitäts-
und Wachstumspaktes entsprechen. Im Rahmen eines
kontinuierlichen finanzpolitischen Überwachungsprozes-
ses auf der Ebene der Europäischen Union werden wir
künftig sehr viel intensiver auch hier im Deutschen Bun-
destag darüber zu beraten haben, weil damit die Rahmen-
daten für unsere wirtschafts- und finanzpolitischen Ent-
scheidungen gesetzt werden. Mit der Verantwortung für
die gemeinsame Währung müssen wir gemeinsam Wirt-
schafts- und Finanzpolitik betreiben. Es wird also regel-
mäßig überprüft, ob die aktuelle Haushaltsentwicklung in
den einzelnen Mitgliedstaaten im Einklang mit den Zielen
der Programme steht.
Deutschland hat sein erstes Stabilitätsprogramm An-
fang Januar 1999 vorgelegt. Die Aktualisierung des Pro-
gramms vom Dezember 1999 hat gezeigt, dass die ur-
sprünglich im Programm ausgewiesenen Ziele vorsichtig
und realistisch gesetzt wurden. Im Januar dieses Jahres
haben wir eine Ergänzung des aktualisierten Stabilitäts-
programms vorgelegt, die die Auswirkungen der Steuer-
reform 2000 berücksichtigt. Der jetzt vorgelegte Entwurf
für eine Aktualisierung des deutschen Stabilitätspro-
gramms belegt, dass die Politik der Bundesregierung den
Anforderungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes voll
und ganz Rechnung trägt.
Sowohl im Jahr 2000 als auch im Jahr 2001 bewegt
sich das Staatsdefizit auf der im aktualisierten Stabilitäts-
programm vom Januar dieses Jahres vorgegebenen Linie.
Für das Jahr 2000 erwarten wir für den Staat in der
Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung,
also unter Einschluss der Gebietskörperschaften und So-
zialversicherungen, ein Defizit von 1 Prozent des Brut-
toinlandsprodukts. Damit erreichen wir das für Deutsch-
land ursprünglich erst für das Jahr 2002 festgelegte
mittelfristige Stabilitätsziel. 2001 allerdings werden wir
wegen der Steuerreform einen auf ein Jahr begrenzten An-
stieg des Staatsdefizites auf 1,5 Prozent haben. Im Jahr
2002 wird das Staatsdefizit wieder 1 Prozent betragen. Im
Jahr 2004, dem Endjahr der Projektion, wird das Defizit
ganz verschwunden sein. Damit werden wir dem Anlie-
gen gerecht, einen zusätzlichen Sicherheitsabstand zum
mittelfristigen Stabilitätsziel zu schaffen. Erstmals gibt es
dann beim Staat insgesamt – ich betone das – keine neuen
Schulden.
Der Bundeshaushalt ist, wie Sie wissen, im Jahr 2004
noch mit einer Nettoneuverschuldung von 20 Milliar-
den DM projektiert. Zu diesem Zeitpunkt können bereits
die Gesamtheit von Ländern und Kommunen sowie im
Übrigen auch die Sozialversicherungssysteme mit Über-
schüssen rechnen, während der Bundeshaushalt noch
nicht in dieser Situation sein wird.
11783
123. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Beginn: 13.00 Uhr
Ich weise auf diese Tatsache hin, weil in der letzten Zeit
immer wieder diskutiert wird, was die Länder leisten kön-
nen und was der Bund leisten kann. Die Länder als Ge-
samtheit sind in ihrem Stabilitätsbemühen weiter. 2006
wird auch der Bundeshaushalt ausgeglichen sein.
Bei der Rückführung der Schuldenstandsquote werden
wir durch die Verwendung der Erlöse aus der Versteige-
rung der UMTS-Lizenzen zur Schuldentilgung auf jeden
Fall besser abschneiden, als in der letzten Aktualisierung
unterstellt. Erstmals seit der Einrichtung der Euro-Zone
werden wir ab dem Jahr 2001 – damit ein Jahr früher als
geplant – den Maastricht-Referenzwert von 60 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts deutlich unterschreiten. Für
den Schuldenstand 2004 erreichen wir einen Wert von
54,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Die deutsche Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik
steht mit ihrer Ausrichtung auf günstige gesamtwirt-
schaftliche Rahmenbedingungen einerseits und nachhal-
tige Strukturreformen andererseits voll im Einklang mit
den europäischen Grundzügen der Wirtschaftspolitik –
dies alles unter den, denke ich, als realistisch anzusehen-
den Annahmen, die wir dieser Projektion zugrunde gelegt
haben; das ist immer die Voraussetzung.
Die heute im Kabinett beschlossene Aktualisierung des
Stabilitätsprogramms wird damit sowohl den europä-
ischen als auch den nationalen finanzpolitischen Erfor-
dernissen gerecht. So weit mein Bericht über die heute
beschlossene Aktualisierung des deutschen Stabilitätspro-
gramms.
Vielen
Dank, Herr Bundesminister.
Wir kommen zu den Fragen. Ich bitte, zunächst Fragen
zu dem angesprochenen Themenbereich zu stellen. Als
Erster hat sich Kollege Michelbach gemeldet. Bitte schön,
Herr Michelbach.
Herr Präsident! Sehr
geehrter Herr Bundesfinanzminister! Sie haben die Ak-
tualisierung des deutschen Stabilitätsprogramms in Ver-
bindung mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von
1997 angesprochen. Sie haben erklärt, dass die Verant-
wortung für die Währung natürlich insbesondere bei der
gemeinsamen Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik
liegt; natürlich gehört zur Finanzpolitik auch die Steuer-
politik.
Wie wir wissen, Herr Bundesfinanzminister, haben wir
einen sehr starken Verfall des Euro-Außenwertes von über
25 Prozent. Dies wird natürlich auf teilweise fehlende
Harmonisierung zurückgeführt. Haben Sie, was die Har-
monisierung der Steuerpolitik betrifft, nicht erhebliche
Defizite durch einseitige Erhöhungen der Steuern insbe-
sondere bei den Verbrauchsteuern durch die Ökosteuer in
Deutschland und zusätzliche Kaufkraftbelastungen des
deutschen Verbrauchers? Haben Sie nicht gleichzeitig bei
wichtigen Entscheidungen – zum Beispiel bei der einheit-
lichen Zinsbesteuerung und bei anderen Harmonisie-
rungsaufgaben – keine weiteren Fortschritte erzielt? Ist
das nicht auch ein Grund, warum die Märkte die Wirt-
schafts- und Währungsunion in Verbindung mit unserer
Währung, dem Euro, letzten Endes negativ beurteilen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kol-
lege Michelbach, dies war jetzt nicht Gegenstand des Sta-
bilitätsprogramms; darauf weise ich zunächst hin.
Des Weiteren befinden wir uns in einem vertrags-
gemäßen Stadium, das heißt, die Verträge von Maastricht
und Amsterdam geben zurzeit keine Handhabe für weiter
gehende Harmonisierung – obwohl ich Ihnen zustimme:
Ich wünsche sie mir ganz ausdrücklich.
Das Ganze geht übrigens in verschiedene Richtungen.
Sie haben gesagt, bei uns seien bestimmte Verbrauchsteu-
ern höher. Das ist nur zum Teil richtig. Einige Steuern sind
auch wesentlich niedriger; die Mehrwertsteuer bei uns ist
mit am niedrigsten in ganz Europa. Was die Besteuerung
des Benzins betrifft, gibt es eine Reihe von Ländern, die
eine höhere Belastung haben, als Deutschland sie hat, wie
Sie wissen. Das ist übrigens auch Ausdruck von Wettbe-
werb, und zwar im Rahmen der geltenden Verträge in Eu-
ropa.
Man muss sich auch einmal entscheiden, Herr Kollege
Michelbach: Will man in Europa jetzt alles angleichen
oder will man Wettbewerb? Ich habe gerade Ihre Fraktion
so verstanden, als ob sie europäischen Wettbewerb wolle.
Wenn man europäischen Wettbewerb will, muss man auch
akzeptieren, dass es unterschiedliche Steuersätze gibt;
man muss dann nur dafür sorgen, dass es keinen unfairen
Steuerwettbewerb gibt.
An dieser Stelle sage ich: Wir haben in den Verträgen
noch keine hinreichende Handhabe. Es gibt einen unfai-
ren Steuerwettbewerb. Wir sind in diesem Detail auch
schon vorangekommen. Der Code of Conduct ist inzwi-
schen beschlossen und es geht jetzt sozusagen um das
Rückabwickeln von unfairen Steuerpraktiken bei den in-
direkten Steuern. Bei den direkten Steuern – auch dort
wüsste ich eine Reihe von unfairen Praktiken – sind wir
dagegen noch nicht weit genug, da wir dort keine ausrei-
chende Rechtsgrundlage haben. Wir müssen sehen, dass
wir erst eine Rechtshandhabe bekommen, um uns auch
bei den direkten Steuern mit dieser Frage beschäftigen zu
können.
Eine wei-
tere Frage, Herr Kollege Michelbach.
Herr Finanzminister,Sie haben bei Ihrer Aktualisierung des Stabilitätspro-gramms die Frage des Staatsdefizits und der Schulden-standsquote angesprochen. Meine Frage hierzu ist: Wieschätzen Sie denn die Entwicklung der wirtschaftlichenRahmenbedingungen ein, die letztendlich wesentlich aufdie Konjunkturentwicklung, die Steuereinnahmen unddamit auch auf die Erfüllung des vorgegebenen Stabi-litätszieles Einfluss haben werden?Wir haben aktuell die Aussage eines führenden Wirt-schaftsinstitutes vorliegen, wonach wir durch die jetzigenpolitischen Rahmenbedingungen eine Konjunkturbremse
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Bundesminister Hans Eichel11784
erwarten müssten. Demnach hätten wir in diesem Jahr einWachstum von 3,0 Prozent zu erwarten, für das nächsteJahr wird ein Wachstum von weniger als 3,0 Prozent pro-gnostiziert. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?Würde eine solche Entwicklung nicht nur die Konjunkturbeeinträchtigen, sondern darüber hinaus auch die Errei-chung des Stabilitätszieles erschweren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Er-
reichung des Stabilitätszieles ist natürlich umso leichter,
je größer das Wachstum ist, wenn man gleichzeitig – das
ist zwingende Voraussetzung – Ausgabendisziplin übt.
Wie Sie wissen, haben wir diesen Konsolidierungsprozess
im vergangenen Jahr mit dem Haushalt 2000 eingeleitet
und damit von dieser Seite ausdrücklich die Vorausset-
zungen geschaffen. Wir werden dieses Bemühen mit dem
Haushalt 2001 als dem zweiten in Folge fortsetzen und es
wird spannend sein zu sehen, wie sich alle zu diesem
Haushalt verhalten werden.
Was die Rahmenbedingungen betrifft, so möchte ich
nur darauf hinweisen, dass die Ölpreisentwicklung, wenn
sie lange Zeit auf so hohem Niveau, wie wir es kurzfristig
hatten, verharren würde – was im Moment aber nicht der
Fall ist –, gegebenenfalls auch einen bremsenden Effekt
auf die konjunkturelle Entwicklung haben könnte.
Die Prognosen fast aller Institute sowie des Interna-
tionalen Währungsfonds liegen hinsichtlich der Wachs-
tumsentwicklung höher als die Annahme der Bundesre-
gierung. Wir haben im Stabilitätsprogramm für dieses
Jahr einen erhöhten Wert von 2,75 Prozent zugrunde ge-
legt – es kann möglicherweise noch etwas mehr werden,
und zwar bis zu 3 Prozent – und sind auch für das nächste
Jahr von 2,75 Prozent sowie für die Folgejahre von
2,5 Prozent ausgegangen. Darin steckt auch die Annahme,
dass durch die Steuerreform ein halbes Prozent an zusätz-
lichem Wachstum erzeugt wird. Das sehen auch die Wirt-
schaftsforschungsinstitute, soweit sie sich zu diesem
Thema geäußert haben, als eine realistische Projektion an.
Im Übrigen, Herr Kollege Michelbach, liegt die Wachs-
tumsrate dann, wenn das so kommt – ich bin dabei immer
etwas vorsichtig –, weit über dem, was der Durchschnitt
der 90er-Jahre gewesen ist.
Eine wei-
tere Frage, Herr Kollege Michelbach.
Herr Finanzminister,
die Aktualisierung des Stabilitätsprogramms ist sehr eng
mit der grundsätzlichen Festlegung der Stabilitätskrite-
rien im Maastricht-Vertrag und dem damit verbundenen
Stabilitäts- und Wachstumspakt verbunden. In diesem Zu-
sammenhang stellt sich die Frage, wie unsere Währung,
die dann im Euro-Land eine gemeinsame ist, von den Bür-
gern akzeptiert wird. Wie verhält es sich dann, dass ge-
wissermaßen das notwendige Vertrauenssignal für die Er-
höhung der Akzeptanz des Euro in der Bevölkerung nicht
gegeben wird, wenn jetzt zum Beispiel das Steuer-Euro-
glättungsgesetz leider nicht der Tatsache Rechnung trägt,
dass die Umstellung bei der Euro-Einführung keine reine
Währungsumstellung ist, sondern sich die Zahlen teil-
weise erheblich ändern? Die Zahlen ändern sich und der
Wert verändert sich auch. Normalerweise müsste der Wert
bei der Umrechnung gleich bleiben. Zum Beispiel haben
Sie den Sonderausgabenpauschbetrag, der bisher 108 DM
beträgt, in diesem Gesetz, das heute im Finanzausschuss
beraten worden ist, auf 36 Euro reduziert. Das entspricht
nur 70,41 DM; Sie kürzen also den Betrag für die Bürger,
die den Sonderausgabenpauschbetrag bisher erhalten ha-
ben, um über 30 Prozent. Glauben Sie nicht, dass dies
– bei aller Wachstums- und Stabilitätsbemühung – dann
kontraproduktiv für eine positive Einschätzung der ge-
meinsamen Währung ist?
Herr
Bundesminister, bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich will
dazu zwei Dinge sagen.
Erstens. Was das Steuer-Euroglättungsgesetz betrifft:
Weil es keine 1:1-Relation zwischen D-Mark und Euro
gibt, sondern das eine leicht krumme Zahl ist, muss man
nach oben oder unten runden. Das Ergebnis dieser Run-
dungen ist übrigens, dass der Staat bei der Umstellung auf
insgesamt rund 350 Millionen DM an Einnahmen ver-
zichtet. Man kann aber natürlich nicht jedes Mal nach un-
ten abrunden; denn dann entstehen Einnahmeausfälle, die
nach der Steuerreform niemand mehr verkraftet. Sie ken-
nen die Erklärung der Bundesländer zu diesem Fall. Ich
bitte jedenfalls festzuhalten: Bei der Umstellung gewinnt
der Staat nichts, sondern gibt rund 350 Millionen DM ab.
Zweiter Punkt. Was das Vertrauen zur Währung be-
trifft, weise ich nur darauf hin, dass alle Daten in der Euro-
Zone, seit wir den Euro haben, besser sind als in der
D-Mark-Zeit in den 90er-Jahren. Auch dies muss sich ein-
mal öffentlich herumsprechen. Unter dieser Vorausset-
zung, Herr Kollege Michelbach, hätten wir alle – in Ihrer
Regierungszeit ist der Euro eingeführt worden und wir ha-
ben dem auch zugestimmt – gemeinsam allen Grund, ein
Stückchen mehr Vertrauensarbeit für die gemeinsame
Währung zu betreiben.
Herr
Michelbach, wir wollen hier natürlich nicht nur einen Dia-
log haben. Ihre letzte Frage also, bitte schön.
Ich möchte dieseletzte Frage dazu noch stellen. Sicherlich hat das Steuer-Euroglättungsgesetz insgesamt 380 Millionen DM weni-ger Belastung für die gesamten Steuerzahler gebracht.Aber die Steuerzahler, die den Sonderausgabenpausch-betrag nutzen, trifft es insgesamt mit 115 Millionen DMmehr Belastung. Auch das, Herr Bundesfinanzminister,bitte ich zu sehen. Ist damit nicht verbunden, dass derSteuerzahler, der davon betroffen ist, unser Steuer-Euro-glättungsgesetz und unseren Euro letzten Endes natürlichnicht positiv darstellen wird?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Hans Michelbach11785
Herr
Bundesminister, bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also
noch einmal: Es profitieren fast alle davon, weil rund
350 Millionen DM an Steuereinnahmen ausfallen. Alle
profitieren – gerade auch der, der den Sonderausgaben-
pauschbetrag nutzt – in gewaltigem Maße von der Sen-
kung der Einkommensteuer. Das alles tritt zum 1. Januar
in Kraft, und zwar in ganz massiver Weise. Deswegen
muss ich ausdrücklich sagen: Es macht wirklich keinen
Sinn, ein einzelnes Element herauszupicken und gegen
das Ganze zu wenden. Das Ganze – ich sage es noch ein-
mal – führt zu einem Einnahmeverlust von rund 350 Mil-
lionen DM. Der Bundesrat muss das auch noch be-
schließen.
Jetzt hat
der Kollege Koppelin eine Frage.
Herr Bundesminister, da
wir von einer gemeinsamen Währung sprechen: Darf ich
Sie bei dieser Gelegenheit fragen, wie Sie den Volksent-
scheid in Dänemark beurteilen, den Euro abzulehnen? Sie
hätten eigentlich Interesse daran haben müssen – wie alle
Finanzminister –, dass sich Dänemark für den Euro ent-
scheidet. Sehen Sie da nicht auch Diskrepanzen mit dem
Außenminister? Unter anderem die Politik unseres
Außenministers hat dazu geführt, dass es zu einem sol-
chen Entscheid in Dänemark gekommen ist, nämlich
durch seine starre Haltung gegenüber Österreich. Ein
wichtiges Argument für dieses Nein zum Euro in Däne-
mark war die Haltung gegenüber Österreich. Das hat eine
entscheidende Rolle gespielt; das hat der sozialdemokra-
tische Ministerpräsident auch sehr deutlich gemacht.
Meine Frage ist also: Wie beurteilen Sie diesen Volksent-
scheid? Müssten Sie nicht einmal mit dem Außenminister
darüber reden, dass er sich gegenüber kleineren Ländern
wie Österreich etwas mehr zurücknimmt, damit möglichst
alle den Euro bekommen?
Herr Bun-
desminister, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kol-
lege Koppelin, das geht auch nach dem Motto: Der Ele-
fant frisst wärmer – es gibt drei Arten von wärmer. Sie
kommen immer auf dasselbe Thema zurück. Die Antwort
ist relativ einfach und Sie kennen sie auch. Sie wissen,
dass das eine gemeinsame Aktion von 14 Mitgliedern der
Europäischen Union gegenüber dem 15. Mitglied gewe-
sen ist und dass die Bundesregierung keineswegs an der
Spitze der Bewegung gestanden hat, sondern sich in dem
Rahmen solidarisch verhalten hat. Das mögen Sie zwar
kritisieren. Aber das ist zigmal im Bundestag diskutiert
worden. Dem habe ich auch vonseiten der Bundesregie-
rung nichts Neues hinzuzufügen.
Herr
Koppelin, eine weitere Frage, bitte schön.
Ich möchte Sie, Herr Bun-
desfinanzminister, trotz dieser Aussage noch einmal fra-
gen, wie Sie den Volksentscheid in Dänemark bewerten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Auch
dazu haben wir, die Finanzminister, uns gemeinsam
geäußert. Wir hätten natürlich ein anderes Votum begrüßt.
Wir bedauern dieses Votum. Aber Sie wissen auch – ich
möchte das ein Stück weiterführen; das gilt in sehr diffe-
renziertem Maße für die kleineren Mitglieder –, dass Dä-
nemark besonders sensibel – das wird noch eine große
Rolle spielen – auf Fragen des Souveränitätsverzichtes
reagiert. Sie wissen, unsere Position – nicht nur, aber spe-
ziell die deutsche – ist sehr integrationsfreundlich. Die
dänische war in diesem Punkt sehr zurückhaltend. Sie
wissen, dass Dänemark ohnehin eine Sonderposition in-
nerhalb der Europäischen Union einnimmt und wie Groß-
britannien eine Opting-out-Klausel hat. Ich sage es etwas
salopp: Dänemark brauchte zwei Volksabstimmungen,
um Mitglied in der Europäischen Union zu werden. Mög-
licherweise wird das bei der gemeinsamen europäischen
Währung auch der Fall sein.
Dänemarks Nein zum Euro hat im Übrigen – das haben
Sie auch an den Reaktionen der Märkte gemerkt – für die
Währung keine weitere Bedeutung gehabt, weil Däne-
marks Volkswirtschaft für Euro-Land nur eine sehr ge-
ringe Bedeutung hat. Dänemarks Volkswirtschaft hat nur
einen Anteil von 2,7 Prozent am Bruttoinlandsprodukt des
Euro-Raums. Aber ich sage ausdrücklich: Ich als dezi-
dierter Befürworter der europäischen Integration – das
gilt für die gesamte Bundesregierung – hätte mir ein posi-
tives Votum Dänemarks gewünscht, keine Frage.
Eine wei-
tere Frage, Herr Koppelin.
Eine kurze Frage, Herr
Bundesminister: Erstaunlich war, dass etwa 60 Prozent
der dänischen Bevölkerung, als die ersten Umfragen
durchgeführt wurden, für die Einführung des Euro waren.
Wie erklären Sie sich, dass es zum Schluss ein ablehnen-
des Votum gegeben hat? Welche Kriterien mögen da eine
Rolle gespielt haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kanndas schwer beurteilen, weil ich die innenpolitische Situa-tion in Dänemark nicht genau kenne. Aber es gab auch inDeutschland eine ähnliche Entwicklung. Der Zustim-mung zum Euro gingen auch in Deutschland sehr unter-schiedliche Phasen voraus: Als der Euro eingeführtwurde, waren nicht nur die Märkte euphorisch, sondernauch die Mehrheit der Bevölkerung stimmte ihm zu. Nachjetzt durchgeführten Meinungsumfragen ist das nichtmehr so. Insofern gibt es parallele Entwicklungen.Herr Koppelin, wir sind sicherlich verpflichtet, dasThema der europäischen Integration im eigenen Land
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 200011786
noch offensiver zu diskutieren. Jedes Mitgliedsland stehtin dieser Verantwortung.
– Wenn Sie den Bericht der drei Weisen lesen, die sich mitder österreichischen Situation beschäftigt haben, dannwerden Sie feststellen, dass dort eine Reihe von Sorgenzum Ausdruck gebracht wird. Es geht dort unter anderem– das ist einer der Vorbehalte – auch um die Frage der In-tegrationsfreundlichkeit der Regierungen.
Eine
Frage des Kollegen Brüderle.
Herr Bundesfinanzminis-
ter, Sie sagten eben, die Abstimmung in Dänemark habe
keine Auswirkungen auf den Euro gehabt. Sollten Sie das
nicht überdenken? Denn man hatte erwartet, dass der
Euro-Kurs wieder steigen würde, wenn Dänemark seiner
Einführung zustimmt. Die jetzige Situation der Gemein-
schaftswährung ist noch immer bedrückend. Das liegt
nicht etwa daran, dass finstere Mächte des weltweiten
Turbokapitalismus im Rahmen einer Verschwörung den
Kurs des Euro nach unten drücken; das ist vielmehr Folge
der freien Entscheidung der Unternehmen und der
Wirtschaftsbürger der Welt, die Euro-Land – Deutschland
ist das Kernstück – im Vergleich zum Dollarraum deutlich
weniger zutrauen.
Solange man davon ausgeht, dass man im Dollarraum
bessere Renditen erzielen kann, so lange wird das Geld
eher in die Vereinigten Staaten als in Euro-Land fließen.
Deshalb ist mit dem Nein der Dänen zum Euro die Chance
auf Besserung des Euro-Kurses vertan worden. Die fatale
Folge könnte sein, dass jetzt die Schweden und die Briten
– wenn sie die Abstimmung bald durchführen – ähnlich
ablehnend reagieren werden. Es wäre schon eine schwie-
rige psychologische Situation – die Entwicklung einer
Währung hängt entscheidend von psychologischen Fak-
toren ab –, wenn die europäischen Völker die Einführung
der neuen Währung in Volksabstimmungen ablehnten.
Wir haben im Gegensatz zu den Dänen und den Fran-
zosen nicht einmal den Mut gehabt, bei uns eine Volksab-
stimmung über Maastricht durchzuführen. Die Stim-
mungslage wird sich nicht ändern, wenn wir das
Reformtempo nicht beschleunigen und wenn wir nicht
wenigstens die europäischen Nachbarländer überzeugen
können, dass der Euro eine gute Währung ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kol-
lege Brüderle, bei Ihren Ausführungen konnte ich nicht
genau die Frage erkennen. Daher will ich einige wenige
Bemerkungen zu Ihren Äußerungen machen.
Erstens. Zur Volksabstimmung. Ich habe überhaupt
kein Problem damit, dass wir die Frage der europäischen
Einigung mit unserer Bevölkerung ganz intensiv disku-
tieren. Das halte ich für dringend notwendig. Sie richten
diese Frage aber an die falsche Adresse. Sie wissen, dass
die Partei, der ich angehöre, Volksabstimmungen längst
im Grundgesetz festgeschrieben haben wollte. Wenn ich
mich recht erinnere, war es die damalige Bundestags-
mehrheit, die das in den 90er-Jahren immer abgelehnt hat,
als wir im Zusammenhang mit der deutschen Einigung
den Versuch gemacht haben, plebiszitäre Elemente in das
Grundgesetz hineinzubringen. Wenden Sie sich also nicht
an meine Adresse.
Zweitens. Ich weise darauf hin, dass die D-Mark im
Verhältnis zum Dollar gerade auch zu Zeiten Ihrer Regie-
rung teilweise weitaus schlechter stand als heute der Euro,
ohne dass wir eine solch dramatische Debatte um unsere
Währung, die D-Mark, geführt hätten. Dies hat auch da-
mit zu tun, dass es eine neue, eine junge Währung ist, die
erst unser Vertrauen benötigt. Dazu gehört, dass wir die
Debatte sachlich führen. Dazu gehört auch der Sachver-
halt, dass die D-Mark zum Dollar schon viel schlechter
stand als heute der Euro zum Dollar. Das muss mit in die
Betrachtung einbezogen werden, um auf diesen Sachver-
halt einigermaßen rational zu reagieren.
Herr
Brüderle, eine weitere Frage, bitte.
Herr Bundesfinanzminis-
ter, werden Sie sich bei Ihrer Leidenschaft für Volksab-
stimmungen dafür einsetzen, dass die Anregung Ihres
Parteifreundes Verheugen, eine Volksabstimmung über
die Osterweiterung durchzuführen, bald die Umsetzung
durch die Bundesregierung erfährt? Oder ist Ihre Leiden-
schaft für Volksabstimmungen themenabhängig?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
HerrBrüderle, zunächst einmal weise ich darauf hin, dass es inIhrer Partei bisher überhaupt keine Bereitschaft gegebenhat, Volksabstimmungen ins Grundgesetz aufzunehmen.Diese Bereitschaft hat es nie gegeben, auch nicht als Siean der Regierung waren. Insofern finde ich Ihre Fragemerkwürdig.Wenn man diese Frage diskutiert, wird man sehr genaudiskutieren müssen, was der Gegenstand von Volksab-stimmungen sein kann und was nicht. Hierzu gehörenzum Beispiel Fragen der inneren Gesetzgebung. Aberauch die weitestreichenden Vorschriften in Deutschland,die von Ihnen und Ihrer Partei nie mitgetragen wordensind, schließen zum Beispiel Haushaltsgesetze aus. Dasgilt sowohl für die Kommunal- als auch für die Länder-verfassungen, in denen es Volksabstimmungen gibt.Sie wissen, dass es Parteiengespräche gibt, ob wir ple-biszitäre Elemente ins Grundgesetz einführen sollen. Die-ser Frage werden Sie sich im Herbst stellen müssen. BeiFragen, die nur uns betreffen, habe ich kein Problem da-mit, zum Beispiel, ob wir beitreten oder nicht. Wir müs-sen aber sehr darüber nachdenken, ob wir in Deutschlandeine Debatte führen wollen, dass zum Beispiel Polen derEuropäischen Union beitritt. Das ist nicht nur unsereEntscheidung. Herr Verheugen hat ausdrücklich betont,dass er eine solche Anregung nicht gegeben hat. Ich habemeine Bedenken, eine solche Frage überhaupt zum Ge-genstand von Volksabstimmungen zu machen. Wir müs-sen darüber intensiv nachdenken, ob das bei unserem Ver-hältnis zu Polen und Europa gut gehen kann.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Bundesminister Hans Eichel11787
Noch eine
Frage, Herr Kollege Brüderle?
Würden Sie mir zustim-
men, dass es keine Beantwortung meiner Frage ist, wenn
ich Sie nach Ihrer Haltung frage und Sie darauf verwei-
sen, dass wir eine andere Haltung haben? Ich persönlich
bin überhaupt nicht für eine Volksabstimmung über die
Osterweiterung und bin bei diesem Thema außerordent-
lich vorsichtig. Ich möchte von Ihnen keine Bewertung
unserer Position haben, sondern möchte Ihre Position
kennenlernen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
So wie es
mir nicht zusteht, Ihre Frage zu bewerten, Herr Abgeord-
neter, müssen Sie bitte akzeptieren, dass ich die Antwort
so gebe, wie ich sie gebe.
Gibt es
weitere Fragen zu dem angesprochenen Themenbereich? –
Herr Michelbach.
Herr Bundesfinanz-
minister, in der Wissenschaft wird zur Stabilisierung des
Euro die Diskussion geführt, ob es nicht besser sei,
zunächst einmal die Euro-Zone mit Großbritannien und
den skandinavischen Ländern zu erweitern, bevor man die
bisher nicht finanzierte Erweiterung in Angriff nimmt.
Müsste diese Stabilisierung des Euro nicht absoluten Vor-
rang genießen? Welche Auffassung hat die Bundesregie-
rung zu diesem Thema?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Ab-
geordneter, Sie haben eben zwei völlig verschiedene
Sachverhalte miteinander verglichen. Eine solche Debatte
gibt es in Europa überhaupt nicht. Die Frage, wie man die
Euro-Zone erweitert, ist – übrigens mit unserer Zustim-
mung – zu einer Zeit vertraglich geregelt worden, als Sie
die Regierung gestellt haben. Daraus ergibt sich alles
Übrige. Deshalb gibt es die von Ihnen eben gestellte Frage
in der politischen Wirklichkeit überhaupt nicht.
Herr Kol-
lege Michelbach stellt jetzt die letzte Frage zum ange-
sprochenen Themenbereich. Danach werden wir zu ande-
ren Fragen kommen.
Herr Bundesfinanz-
minister, auch Sie sind doch mit Sicherheit der Auffas-
sung, dass im Moment der Euro-Außenwert verfällt und
es notwendig ist, ihn zu stabilisieren. Besteht daher nicht
die Aufgabe, darüber nachzudenken, wie man den Euro
stabilisieren kann, und ist der von mir in meiner Frage an-
gesprochene Weg der Stabilisierung des Euro durch Er-
weiterung des Euro-Landes um wesentliche Volkswirt-
schaften nicht einer der Wege, die hier zu beschreiten
wären?
Herr Bun-
desminister, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wie-
derhole: Diese Debatte gibt es in Europa überhaupt nicht,
weil die Frage der Erweiterung des Euro-Landes vertrag-
lich geregelt ist. Eine Erweiterung hängt ausschließlich
von Antragstellung und Erfüllung von Kriterien ab. Das
ist bereits völkerrechtlich geregelt. Dabei lege ich darauf
Wert, dass es bei der Erfüllung der Kriterien keinen Ra-
batt gibt.
Offenbar verquicken Sie in Ihrer Fragestellung etwas,
was nichts miteinander zu tun hat: Die Osterweiterung ist
keine Osterweiterung von Euro-Land, sondern eine Er-
weiterung der Europäischen Union. Wer der Europä-
ischen Union beitritt, ist also noch lange nicht im Euro-
Land. Vielmehr muss er eine Reihe zusätzlicher Kriterien
erfüllen, um im Euro-Land aufgenommen werden zu
können.
Nehme ich aber das, was Sie angesprochen haben, als
eine reale Fragestellung – es gibt, wie gesagt, diese Fra-
gestellung in der europäischen Politik überhaupt nicht –,
dann würde es bedeuten, dass die Osterweiterung der Eu-
ropäischen Union erst kommen kann, wenn zum Beispiel
die Briten Euro-Land beigetreten sind. Ein solches Junk-
tim gibt es nicht. Führen Sie diese Debatte doch einmal in
den eigenen Reihen – dabei wünsche ich Ihnen viel Ver-
gnügen –; ich bin ganz sicher, dass Sie mit dieser These
allein stehen werden.
Ich be-
ende jetzt diesen Themenbereich der heutigen Kabinetts-
sitzung. Eine Frage zu einem anderen Thema stellt der
Abgeordnete von Klaeden.
Herr Minister, ich
frage Sie, ob sich das Kabinett mit dem Wunsch meiner
Fraktion beschäftigt hat, die Bundesregierung möge we-
gen der Verletzung des Immunitätsrechts Verfassungs-
klage gegen das Land Nordrhein-Westfalen erheben.
Unser Fraktionsvorsitzender hatte dazu gestern dem Bun-
deskanzler geschrieben. Allein antragsberechtigt ist die
Bundesregierung. Deswegen meine Frage, ob Sie sich da-
mit heute schon beschäftigt haben oder nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das war
nicht Gegenstand der Kabinettssitzung.
Danke sehr.
Gibt esweitere Fragen, die über den angesprochenen Themenbe-reich hinausgehen? – Das ist nicht der Fall. Damit beendeich die Befragung der Bundesregierung. Vielen Dank,Herr Bundesminister.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2:Fragestunde– Drucksache 14/4206 –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 200011788
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung. Zur Beantwortung steht Herr StaatssekretärErich Stather zur Verfügung.Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Weiß auf:Ist nach Auffassung der Bundesregierung die Existenz eineseigenständigen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung auch für die Zukunft notwendigoder wird seitens der Bundesregierung kurz-, mittel- oder lang-fristig eine Integration des Bundesministeriums für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in das AuswärtigeAmt angestrebt?Bitte schön, Herr Staatssekretär.E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beant-
worte den ersten Teil der Frage mit Ja und den zweiten
Teil der Frage mit Nein.
Herr Kol-
lege Weiß, eine Zusatzfrage?
Herr
Staatssekretär, bevor ich die Zusatzfrage stelle, muss ich
eine Anmerkung machen. Nachher wird noch das Aus-
wärtige Amt eine Frage von mir zu diesem Thema beant-
worten; eben ist vom BMZ die zweite von mir einge-
reichte Frage beantwortet worden. Daher geht der
Zusammenhang etwas verloren.
– Kompliziert ist die Methodik der Beantwortung durch
die Bundesregierung und nicht die Frage eines Abgeord-
neten.
Herr Staatssekretär, da aus Ihrem Hause immer wieder
Klagen aufkommen, wie beschwerlich es ist, dass das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung seinen Sitz in Bonn hat, während die
Kopfstelle in Berlin ist – gerade für kleinere Häuser wie
das BMZ ist diese Situation besonders schwierig zu be-
wältigen –: Gibt es erste Überlegungen – vielleicht für die
Phase nach der nächsten Bundestagswahl –, dass durch
eine Eingliederung des BMZ in das AA das
Berlin/Bonn-Gesetz in diesem Punkt unterlaufen werden
könnte?
Herr
Staatssekretär, bitte.
E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, auf diese Frage kann ich einfach mit
Nein antworten.
Eine wei-
tere Zusatzfrage, bitte schön.
In dem
Zeitungsartikel der „taz“, zu dem das Auswärtige Amt
nachher Stellung nehmen wird, wird am Schluss ein Spre-
cher des BMZ, also Ihres Hauses, zitiert: „Es gibt bei uns
im BMZ keine Überlegungen, das AA zu integrieren“.
Kommt mit dieser Bemerkung nicht doch zum Ausdruck,
dass in Ihrem Hause offensichtlich einiges an Verärgerung
darüber besteht, dass seitens des Staatssekretärs im Aus-
wärtigen Amt Pleuger eine Integration des BMZ in das
AA zur Sprache gebracht worden ist?
Herr
Staatssekretär, bitte.
E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, diese Äußerung ist so zu verstehen,
dass eine vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit zwi-
schen meinem Ministerium und dem Auswärtigen Amt
besteht. Was Berichte in Zeitungen wie der „taz“ betrifft:
Ich habe vor etwa drei Wochen einen längeren Artikel
über Sie in der „Badischen Zeitung“, der Zeitung unserer
gemeinsamen Heimat, gelesen. Ich hatte den Eindruck,
dass auch Sie davon überzeugt sind, dass Journalisten
nicht immer vollständig das berichten, was Staatsse-
kretäre oder Abgeordnete sagen. Insofern müssen wir mit
der Berichterstattung durch Zeitungen leben.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen Koppelin.
Herr Staatssekretär, Sie
haben soeben behauptet, es gebe eine gute und vertrau-
ensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen
Amt und dem BMZ. Daher darf ich Sie fragen, ob es ein
Beispiel für die gute Zusammenarbeit ist, wenn das Aus-
wärtige Amt Botschaften in Afrika schließt, ohne Rück-
sprache mit dem BMZ zu nehmen.
E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben auch in dieser Frage unsere Meinungen ausge-
tauscht. Es kann sein, dass wir nicht bei jeder Schließung
einer Botschaft mit dem Auswärtigen Amt einer Meinung
sind. Aber die Bundesregierung hat sich eine gemeinsame
Meinung gebildet.
Die Fra-gen 2 und 3 des Kollegen Koschyk werden schriftlich be-antwortet.Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Aus-wärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht StaatsministerDr. Ludger Volmer zur Verfügung.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms11789
gesprochen – auf:Trifft es zu, dass der Staatssekretär im Auswärtigen Amt,Gunter Pleuger, zum Abschluss der ersten deutschen Botschafter-konferenz geäußert hat, dass durch eine Eingliederung des Bun-desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung in das Auswärtige Amt Synergieeffekte erzielt werdenkönnten und dass bei den Gesprächen zur Bildung der derzeitigenBundesregierung eine solche Zusammenlegung der beiden Bun-desministerien erörtert worden ist, wie dies die „taz“ am 7. Sep-tember 2000 gemeldet hat?D
Herr Kollege Weiß, Ihre Frage beantworte ich wie
folgt: Auf Frage eines Journalisten hat Staatssekretär
Dr. Gunter Pleuger eine Äußerung des französischen
Außenministers Védrine auf der Botschafterkonferenz
bestätigt, wonach die französische Regierung durch die
Zusammenlegung des Entwicklungshilferessorts mit dem
französischen Außenministerium Synergieeffekte erzielt
habe. Der Staatssekretär hat ferner auf die bekannte Tat-
sache verwiesen, dass wir in Deutschland weiterhin –
auch als Ergebnis der Koalitionsgespräche – ein eigen-
ständiges Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung haben.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Weiß.
Herr
Staatsminister Volmer, in dem bereits zitierten Artikel der
„taz“ wird aber auch ausgeführt, dass Herr Staatssekretär
Pleuger in diesem Gespräch offensichtlich einen Einblick
in die Koalitionsverhandlungen gewährt hat. Er habe dort
geäußert, dass bei der Regierungsbildung im Gespräch
war – es ist dann anders gekommen –, beide Ministerien,
Auswärtiges Amt und BMZ, zusammenzulegen. Das be-
stätigt offensichtlich – auch wenn das Ergebnis war, dass
es bei zwei Häusern bleibt –, dass in der Koalition solche
Überlegungen angestellt worden sind. Trifft das zu? Wie
war der Abwägungsprozess?
D
Ich selber habe den zitierten Artikel in der „taz“
nicht gelesen. Insoweit dort behauptet wird, ein Ge-
sprächsgegenstand der Koalitionsverhandlungen sei ge-
wesen, die beiden Häuser zusammenzulegen, kann ich Ih-
nen sagen, dass wir darüber definitiv nicht geredet haben.
Die Koalitionsverhandlungen zur Außenpolitik wurden
von dem Kollegen Verheugen und mir geführt. Dieses war
absolut kein Thema.
Eine wei-
tere Zusatzfrage, Kollege Weiß.
Herr
Staatsminister, Sie haben bei der Beantwortung der ersten
Frage bereits darauf hingewiesen, dass die Äußerung von
Herrn Staatssekretär Pleuger offensichtlich auf Äußerun-
gen von Herrn Védrine zurückgeht, in denen er Frank-
reich als Vorbild dargestellt hat.
Nun erleben wir ja derzeit innerhalb der Europäischen
Kommission eine Neuorganisation, die, insbesondere
durch die Gründung des neuen Amtes Europaid, tenden-
ziell dazu führt, dass die Entwicklungszusammenarbeit
quasi in den Bereich Auslandsbeziehungen der Europä-
ischen Union integriert wird. Es findet also genau der Pro-
zess statt, dass die Entwicklungshilfe Bestandteil der
Außenpolitik wird bzw. unter das Primat der Außenpoli-
tik gerät. Sind denn diese Tendenzen in der Europäischen
Union, die von der Bundesregierung in gewisser Weise
mitzuverantworten sind, und die in anderen europäischen
Ländern für die Bundesregierung ein Anlass, dass auch in
Deutschland diese Frage erörtert und diskutiert wird?
Herr
Staatsminister.
D
Es kann wohl nicht bestritten werden, dass es einen
Zusammenhang und Schnittstellen zwischen Entwick-
lungs- und Außenpolitik gibt und dass man sich immer
wieder Gedanken machen muss, wie man diese Schnitt-
stellen organisiert, also auf der einen Seite darüber, wie
man die Arbeit aufteilt, und auf der anderen Seite darüber,
wie man dann wieder kooperiert. Solche Überlegungen
zur Gestaltung der gemeinsamen Arbeit werden täglich
angestellt. Das führte aber nicht dazu, dass wir uns Ge-
danken über den Neuzuschnitt des gesamten Ressortsys-
tems gemacht haben.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen Koppelin.
Herr Staatsminister, ist Ih-
nen auch das Gerücht zur Kenntnis gekommen, dass bei
den Koalitionsverhandlungen nur deswegen nicht be-
schlossen wurde, BMZ und Auswärtiges Amt zusammen-
zulegen, weil man ein Ministerium für Frau Wieczorek-
Zeul suchen musste? Das Ministerium selber hat ja kaum
Einfluss und auch keine freien finanziellen Möglichkei-
ten.
D
Das war, Herr Koppelin, nicht nur, kein Gegenstand
von Gesprächen, sondern auch kein Gegenstand von Fan-
tasien.
VielenDank, Herr Staatsminister. Es gibt keine weiteren Fragenzu diesem Punkt.Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Justiz. Die Frage 5 des AbgeordnetenAustermann soll schriftlich beantwortet werden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms11790
Wir kommen damit gleich zum Geschäftsbereich desBundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen undJugend. Zur Beantwortung steht Staatssekretär PeterHaupt zur Verfügung.Ich rufe die Fragen 6 und 7 der Kollegin Ina Lenke auf:Wann wird die Bundesregierung die durch die Bundesministe-rin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. ChristineBergmann, bereits im Januar in der Zeitschrift „Focus“ angekün-digte Verbesserung der Sozialversicherungssituation für Tages-mütter herbeiführen und ihnen einen Zugang zur gesetzlichenRentenversicherung verschaffen?Wo sieht die Bundesregierung weiteren Handlungsbedarf, umdie Situation der Tagesmütter generell zu verbessern?P
Frau Abgeord-
nete Lenke, ich möchte Ihre beiden Fragen gemeinsam
beantworten.
In dem von Ihnen zitierten „Focus“-Artikel hat Frau
Bundesministerin Dr. Bergmann keine Verbesserung der
Sozialversicherungssituation von Tagesmüttern angekün-
digt, sondern sie hat die Länder und Gemeinden gebeten,
diese Art der Kinderbetreuung finanziell stärker zu unter-
stützen und auf sichere landesrechtliche Grundlagen zu
stellen. Für die Kinderbetreuung sind bekanntlich die
Bundesländer und die Kommunen verantwortlich.
Die soziale Absicherung von Tagesmüttern hat nicht
nur für die Bundesregierung einen hohen Stellenwert.
Auch die Jugendministerinnen- und Jugendministerkon-
ferenz hat dieses bereits vor zwei Jahren bekräftigt, sich
jedoch angesichts der angespannten Finanzlage der öf-
fentlichen Haushalte nicht in der Lage gesehen, gesetzli-
che Regelungen zu treffen. Wir werden weiterhin mit den
Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden im Ge-
spräch bleiben, um insgesamt Verbesserungen im Bereich
der Kinderbetreuung und damit auch für die Tagespflege
zu erreichen.
Der Zugang zur Rentenversicherung ist Tagesmüttern,
wie Sie wissen, nicht grundsätzlich verschlossen. Sie ha-
ben zum Beispiel die Möglichkeit, durch eine freiwillige
Versicherung in die Rentenversicherung zu kommen. Das
wird aber bedauerlicherweise nicht hinreichend genug in
Anspruch genommen, weil es den Tagesmüttern wegen
der geringen Vergütung häufig nicht möglich ist, die Mit-
tel für die Rentenversicherung aufzubringen.
In der Sache geht es uns also gemeinsam um eine Ver-
besserung der finanziellen und sozialversicherungsrecht-
lichen Rahmenbedingungen für die Tagesmütter. Dies
können wir aber nur gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen erreichen.
Zusatz-
frage, Frau Lenke.
Ich muss mich schon fragen, Herr
Staatssekretär, warum die Frauenministerin dann eine sol-
che Pressemitteilung herausgibt, mit der sie ja auch die
Botschaft geben wollte, dass sie sich darum kümmert.
Meine erste Frage lautet: Was hat die Bundesregierung
in den letzten neun Monaten seit Erscheinen dieser Pres-
semitteilung konkret getan, um das Versprechen von Frau
Bergmann zu erfüllen bzw. die Erwartungen, die sie bei
den Tagesmüttern, als sie diese Pressemitteilung lasen,
geweckt hat, auch zu erfüllen? Was ist im Ministerium
ganz konkret geschehen?
P
Ich sagte be-
reits, dass wir die Länder und die Kommunen lediglich
auffordern können. Das tun wir regelmäßig in den Sit-
zungen der Jugendministerinnen- und Jugendminister-
konferenz. Aber wir haben auch Gespräche mit den kom-
munalen Spitzenverbänden geführt. Es gibt im Bereich
der Kinderbetreuung inzwischen sehr viele neue Ele-
mente, die die einzelnen Länder auch erproben wollen. In
diesem Zusammenhang beziehen wir uns zusätzlich im-
mer wieder auf die Tagespflege. Das ist ein ständiger Pro-
zess, ein ständiges Arbeiten mit den Ländern und Kom-
munen.
Weitere
Zusatzfrage, Frau Lenke?
Es geht hier um die gesetzliche
Rentenversicherung. Sie haben selber gesagt, dass die Ta-
gesmütter angesichts der niedrigen Stundenlöhne, die sie
bekommen, kaum noch die Möglichkeit haben, die hohen
Beiträge, die höher als bei einer Arbeitnehmerin sind, in
die Rentenversicherung einzuzahlen. Deshalb meine
Frage, in welche Richtung Ihre Überlegungen gehen: hin
zur individuellen Absicherung, also einer privaten Ren-
tenversicherung, oder sehr stringent hin zur gesetzlichen
Rentenversicherung? Wie hätten Sie es gern?
P
Frau Abgeord-nete Lenke, sehr viele Tagesmütter unterliegen bereits dergesetzlichen Rentenversicherung. Das betrifft zum Bei-spiel diejenigen, die mehrere Kinder betreuen. In einzel-nen Bereichen, wie zum Beispiel in Baden-Württemberg,ist es so, dass die Verbände Tagesmütter anstellen undauch entsprechend die Rentenversicherungsbeiträge über-nehmen.
– Ähnliche Regelungen gibt es auch in Schleswig-Hol-stein und in Mecklenburg-Vorpommern. VerschiedeneLänder und ebenso verschiedene Kommunen haben der-artige Regelungen.Aber uns geht es nicht darum, dass die gesetzliche Ren-tenversicherung in diesem Bereich sofort zum Zugekommt, sondern wir müssen erst einmal das Gesamtsys-tem der Betreuung durch Tagesmütter in Gang setzen.Dazu gehören die Weiterbildung sowie die Renten- unddie Sozialversicherung. Natürlich müssen die Länder undKommunen diesen Bereich der Kinderbetreuung auchhinreichend bezahlen. Wenn das der Fall ist, hat eine Ta-gesmutter die Möglichkeit, sich freiwillig zu versichern.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms11791
Möglicherweise hat sie auch andere Arbeitsbedingungen,die zur gesetzlichen Rentenversicherung führen. Jeden-falls sehen wir zurzeit nicht die Notwendigkeit, hier ge-setzliche Veränderungen vorzunehmen.
Weitere
Zusatzfrage, Kollegin Lenke?
Herr Staatssekretär, Sie haben die
Länder und Kommunen auch heute wieder indirekt auf-
gefordert, die finanzielle Situation der Tagesmütter zu
verbessern. Welche Vorstellungen haben Sie denn den
Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden in die-
ser Hinsicht vorgetragen?
P
Wir arbeiten
mit den Ländern und Gemeinden an der Verbesserung der
Kinderbetreuung insgesamt. Sie wissen, dass die Kinder-
betreuung für Kinder unter drei Jahren und für Kinder
über sechs Jahren noch sehr verbessert werden muss. Des-
halb muss immer wieder das gesamte System ange-
sprochen werden.
Zweitens kommt es darauf an, dass wir einzelnen
Kommunen verdeutlichen, dass die Tagesmütter eine
ganz wichtige Betreuungsaufgabe wahrnehmen und dass
man diese Aufgabe unterstützen sollte. Wir haben uns
zum Beispiel angeboten, gute Beispiele einzelner Kom-
munen zu veröffentlichen, um deutlich zu machen, was es
in diesem Bereich in der Republik bereits gibt. Die Kom-
munen haben allerdings erhebliche Bedenken; denn die
einzelnen Aktivitäten sind von der jeweiligen finanziellen
Situation abhängig und es gibt unterschiedliche Auffas-
sungen hinsichtlich der Ausgestaltung der Arbeit der Ta-
gesmütter und der Gestaltung der Kinderbetreuung.
Frau
Lenke, weitere Zusatzfrage?
Ich habe jetzt drei Fragen an die
Bundesregierung gestellt und Sie, Herr Haupt, haben mir
als Staatssekretär geantwortet. Können Sie mir zumindest
eine ganz konkrete Überlegung Ihres Hauses hinsichtlich
der Sozialversicherung für Tagesmütter, eine ganz kon-
krete Idee, die Sie gegenüber den Ländern und Gemein-
den geäußert haben, vortragen? Bisher haben Sie nichts
Konkretes gesagt, nur, dass Sie in Gesprächen sind. Ich
würde gerne heute eine konkrete Idee von Ihnen aus die-
sem Hause mitnehmen.
P
Wir haben bei-
spielsweise den Kommunen gesagt, dass die Modelle zur
Vermittlung der Tagesmütter über die entsprechenden Ta-
gesmütterverbände und die entsprechende Unterstützung
dieser Verbände ein gutes Beispiel für die Gestaltung der
Kinderbetreuung sind. Es gibt verschiedene Kommunen,
die sich diese Beispiele anschauen und dann entscheiden,
ob sie diesem Weg folgen.
Gibt es
weitere Fragen zu diesem Punkt? – Das ist nicht der Fall.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Gila Altmann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Dr. Paul Laufs
auf:
In welchem Umfang erwartet die Bundesregierung zur Ver-
meidung von Betriebsbeeinträchtigungen deutscher Kernkraft-
werke Transporte abgebrannter Brennelemente?
G
Herr Dr. Laufs, Sie fragen, in welchem Umfang die Bun-
desregierung Transporte abgebrannter Brennelemente
erwartet. Dazu antworte ich Ihnen wie folgt:
Den Kraftwerken Biblis, Neckarwestheim und Phi-
lippsburg sind im Januar und Juli dieses Jahres Genehmi-
gungen für Transporte bestrahlter Brennelemente in das
Zwischenlager Ahaus erteilt worden. Die erteilten Geneh-
migungen umfassen die Beförderung von 16 Behältern.
Am 22. September dieses Jahres hat das Bundesamt für
Strahlenschutz Transporte abgebrannter Brennelemente
zur Wiederaufarbeitung genehmigt. Es handelt sich um
Transporte aus den Atomkraftwerken Biblis, Philippsburg
und Stade zur Wiederaufarbeitungsanlage der Cogema in
La Hague.
Die Zahl der zukünftigen erforderlichen Transporte
hängt ganz wesentlich davon ab, wie schnell es den Be-
treibern gelingt, die beantragten standortnahen Zwi-
schenlager in Betrieb zu nehmen. Nach der Vereinbarung
zwischen der Bundesregierung und den Energieversor-
gungsunternehmen vom 14. Juni 2000 dürfen die Betrei-
ber bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen bis
zur Inbetriebnahme der jeweiligen standortnahen Zwi-
schenlager in die regionalen Zwischenlager sowie bis zur
Beendigung der Wiederaufarbeitung ins Ausland trans-
portieren. Die Wiederaufarbeitung setzt allerdings den
Nachweis der schadlosen Verwertung voraus.
Zusatz-
frage, Kollege Laufs.
Frau Staatssekretärin,
wird die Bundesregierung in Abstimmung mit den betrof-
fenen Landesregierungen darauf hinwirken, dass die Auf-
nahme von Atomtransporten möglichst unspektakulär er-
folgen kann?
G
Si-cherlich.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Staatssekretär Peter Haupt11792
In welchem Zeitrahmen
können die Atomtransporte nach Ihrer Meinung tatsäch-
lich stattfinden?
G
Das hängt davon ab, zu welchem Ergebnis die noch aus-
stehenden Prüfungen kommen. Die Empfehlungen aus
den Gutachten sind abgearbeitet. Es gab aber noch Prü-
fungen nach § 4 des Atomgesetzes durch das BfS. Die
Prüfungen betrafen zum Beispiel die Zuverlässigkeit des
Beförderers, die Sicherungsmaßnahmen bezüglich Frei-
setzung und Diebstahl. Es ging auch um die Qualifizie-
rung des Personals und um die atomrechtliche Deckungs-
vorsorge. Des Weiteren wird noch die verkehrsrechtliche
Zulassung geprüft, um Kontaminationen zu vermeiden.
Ich rufe
nun die Frage 9 des Abgeordneten Dr. Paul Laufs auf:
Was unternimmt die Bundesregierung, um die baldige Auf-
nahme von Transporten zu ermöglichen?
G
Sie fragen, was die Bundesregierung unternimmt, um die
baldige Aufnahme von Transporten zu ermöglichen. Ich
antworte Ihnen darauf – ergänzend zu dem, was ich Ihnen
eben mitgeteilt habe – wie folgt: Die Schaffung der Vo-
raussetzungen für Transporte ist grundsätzlich Sache der
Betreiber. Die Behörden des Bundes und der Länder prü-
fen lediglich, ob diese Voraussetzungen vorliegen. Die
Voraussetzungen habe ich Ihnen gerade genannt.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Laufs.
Sie haben gerade eine
beachtliche Liste von offenen Fragen vorgetragen. Wann
wird das BfS diese Überprüfung abgeschlossen haben?
G
Herr Kollege Laufs, wir haben diese Diskussion schon öf-
ter geführt. Ich kann nur wiederholen: Die Überprüfungen
erfolgen nach Recht und Gesetz und nicht nach politi-
schen Erwägungen. Insofern liegt es im Ermessen der Be-
hörden, zu entscheiden, wann die Prüfungen abgeschlos-
sen sind.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Laufs.
Verstehen Sie angesichts
der Tatsache, dass Atomtransporte die einzig verbliebene
Möglichkeit sind, um den Betrieb bestimmter Kern-
kraftwerke aufrechtzuerhalten, den Unmut und das Unbe-
hagen der Betroffenen darüber, dass nun seit vielen Jah-
ren von den Ihnen unterstellten Behörden Fragen geprüft
werden, ohne dass sich abzeichnet, wann solche Prüfun-
gen abgeschlossen sind?
G
Ich kann den Unmut, den Sie gerade beschrieben haben,
nicht nachvollziehen, weil wir im Juni dieses Jahres die in
diesem Zusammenhang stattgefundenen Konsensge-
spräche erfolgreich abgeschlossen haben. Darüber hinaus
gibt es die ständig bestehende Koordinierungsgruppe
„Transporte“, die die Fragen, die Sie gerade angesprochen
haben, regelt.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen von Klaeden.
Frau Staatssekre-
tärin, Sie haben gerade in Ihrer Antwort auf die Frage des
Kollegen Laufs darauf hingewiesen, dass allein nach
Recht und Gesetz entschieden werde und politische Erwä-
gungen dabei keine Rolle spielten, und in diesem Zusam-
menhang auf das Ermessen der Behörde hingewiesen.
Gehe ich richtig in der Annahme, dass politische Erwä-
gungen bei der Ermessensausübung keine Rolle spielen?
G
Es
geht hier darum, nach fachlichen Erwägungen zu urteilen.
Aufgrund der Vorkommnisse, die in der Vergangenheit
zum Stopp von Atomtransporten geführt haben, ist dies
das Mindeste, was wir tun können und was wir zu tun ha-
ben. Aufgabe der Politik ist es letztlich, hier Überzeu-
gungsarbeit zu leisten. Wie gesagt, die Abwägung bezieht
sich auf rein fachliche, rechtliche und gesetzliche Ge-
sichtspunkte.
Vielen
Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der Par-
lamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper zur Ver-
fügung.
Die Fragen 10 und 11 des Kollegen Koppelin sollen
schriftlich beantwortet werden.
Deswegen rufe ich nun die Frage 12 des Kollegen
Dr. Klaus Rose auf:
Welche Beweggründe hatte die Bundesregierung, Österreichzu den Feierlichkeiten am 3. Oktober 2000 in Dresden nicht ein-zuladen, obwohl sich die österreichischeRegierungmit derGrenz-öffnung zu Ungarn für die ausreisewilligen deutschen Bürger ausder ehemaligen DDR historische Verdienste erworben hat?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
F
Herr Kollege Rose, Ihre Frage be-antworte ich wie folgt: Zu den Feierlichkeiten zum zehn-ten Jahrestag der Einheit Deutschlands am 3. Oktober2000 in Dresden hat die Bundesregierung – übrigens auch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000 11793
im Namen des Bundespräsidenten und des Bundesrats-präsidenten – Vertreter der ausländischen Staaten, die denZwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet haben, die so ge-nannte Troika und die Višegrad-Staaten auf der Ebene derStaats- und Regierungschefs eingeladen. Die EU-Mit-gliedstaaten – einschließlich Österreichs; darauf zielt jaIhre Frage – sind durch die EU-Troika vertreten gewesen.Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, dass darüber hi-naus auf Vorschlag der Bundesregierung der österreichi-sche Botschafter – wie alle anderen in Deutschland ak-kreditierten Botschafter auch – eingeladen worden ist undan den Feierlichkeiten teilgenommen hat.
Ihre Zu-
satzfrage, Herr Rose.
Herr Staatssekretär,
sind Sie sich bewusst, dass es eine etwas schofelige An-
gelegenheit war, die Österreicher mit diesem sehr all-
gemein gehaltenen Argument auszugrenzen, nachdem es
ohne die Österreicher gar nicht zur Beteiligung der
Višegrad-Staaten und anderer gekommen wäre?
F
Herr Kollege Dr. Rose, diese Mei-
nung teile ich nicht.
Eine wei-
tere Zusatzfrage? – Bitte.
Darf ich dann fragen,
ob sich die Bundesregierung bewusst ist, dass die deut-
schen Mitbürger verärgert sind und sich für diese Haltung
der Berliner Regierung sogar schämen, und dies nicht nur
an der Grenze zu Österreich und in konservativen Krei-
sen, sondern auch – öffentlich geäußert – in sozialdemo-
kratischen Kreisen?
F
Herr Dr. Rose, ich glaube, dass es
keinen Anlass gibt, sich in irgendeiner Form zu schämen.
Das Protokoll hat klare Kriterien dahin gehend vorge-
sehen, wer eingeladen wird und wer nicht eingeladen
wird. Ich habe Ihnen erläutert, dass Österreich aufgrund
bestimmter Kriterien eingeladen worden war. Diese Ein-
ladung ist ja im Übrigen auch angenommen worden.
Bitte
schön, Herr Kollege Straubinger.
Herr Staatssekretär,
wie verträgt sich Ihre Begründung, die österreichische
Bundesregierung nicht zusätzlich einzuladen, obwohl die
Višegrad-Staaten eingeladen worden sind, mit der Tatsa-
che, dass die finnische Staatspräsidentin teilgenommen
hat, deren Einladung meines Erachtens durch Ihre Argu-
mentation nicht abgedeckt ist?
F
Herr Kollege, Sie wissen, dass
Frau Halonen aus Finnland kommt und als Vertreterin ih-
res Landes Mitglied der Troika ist. Sie wissen vielleicht
auch, dass der eigentliche Vertreter, der Vertreter Portu-
gals, aus gewissen – aus seiner Sicht verständlichen –
Gründen absagen musste. So ist die Einladung von Frau
Halonen zu verstehen: in ihrer Eigenschaft als Mitglied
der Troika. Ich denke, protokollarisch ist das in keinster
Weise zu beanstanden. Es ist korrekt.
Dann
kommen wir zur Frage 13 des Kollegen Klaus Rose:
Wird sich die Bundesregierung für die Nichteinladung Öster-
reichs zu den Einheitsfeierlichkeiten am 3. Oktober 2000 bei der
österreichischen Bundesregierung entschuldigen?
F
Herr Kollege Rose, es tut mir
Leid, diese Frage in aller Kürze mit einem klaren und ein-
fachen Nein beantworten zu müssen.
Eine Zu-
satzfrage von Herrn Rose, bitte.
Herr Staatssekretär, Ihr
Nein bezieht sich also – dies nur zu meinem Verständ-
nis – auf meine Frage, ob sich die Bundesregierung bei
der österreichischen Bundesregierung entschuldigen will.
Wenn Sie dies mit Nein beantworten, dann muss ich Sie
fragen, ob die Bundesregierung andere Schritte überlegt,
die – vielleicht wird das diplomatisch anders ausgedrückt,
aber es hat doch das gleiche Ziel – einer Entschuldigung
nahe kommen.
F
Ich sage Ihnen noch einmal ganz
deutlich: Das protokollarische Verfahren, das vorgab, wer
in welcher Form eingeladen worden ist, gibt keinen An-
lass, sich in irgendeiner Form zu entschuldigen. Das war
korrekt und ist korrekt und bleibt korrekt.
Eine wei-
tere Zusatzfrage von Herrn Rose.
Herr Staatssekretär,praktiziert die Bundesregierung diesbezüglich schon eineArt Reisediplomatie? Falls Sie als Vertreter des Innenmi-nisteriums das nicht wissen sollten, frage ich, ob Sie be-reit sind, dem Bundeskanzleramt und dem AuswärtigenAmt nahe zu legen, möglichst bald engere Kontakte mitdem inzwischen ja nicht mehr mit Sanktionen belegtenÖsterreich anzustreben und zu einer besseren Nachbar-schaft beizutragen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper11794
F
Was diese Verhaltensweise anbe-
langt, braucht die Bundesregierung, glaube ich, Herr Kol-
lege Dr. Rose, keine guten Ratschläge. Wir werden das
Verhältnis zu Österreich auch in Zukunft auf der Grund-
lage der EU-Beschlüsse pflegen. Ich denke, das werden
auch Sie noch sehen.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen Straubinger, bitte schön.
Herr Staatssekretär,
bedauert die Bundesregierung wenigstens das Versehen,
Österreich nicht zu den Feierlichkeiten am 3. Oktober ein-
geladen zu haben, angesichts der Tatsache, dass sich Ös-
terreich im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung
Deutschlands historische Verdienste erworben hat? Denn
Österreich und Ungarn waren ja die ersten Staaten, die
den Eisernen Vorhang an ihrer Grenze geöffnet haben. Die
damaligen Außenminister von Österreich und Ungarn ha-
ben diesen symbolträchtigen Schritt vollzogen und damit
vielen ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern der DDR
schnellstmöglich zur Freiheit verholfen.
F
Herr Kollege Straubinger, ich
muss Sie insofern korrigieren, als es sich hierbei nicht um
ein Versehen handelt, sondern man nach klaren protokol-
larischen Kriterien vorgegangen ist. Österreich war ein-
geladen in der Person des Botschafters, der diese Einla-
dung angenommen hat, und war auf EU-Ebene vertreten
durch die Anwesenheit der so genannten Troika. Wenn Sie
sich ein bisschen in protokollarischen Dingen auskennen,
werden Sie meine Aussage verstehen.
Wir kom-
men dann zur Frage 14 des Kollegen Straubinger, die ja
den gleichen Inhalt hat wie die eben gestellte Frage:
Wird die Bundesregierung weiterhin, trotz der historischen
Verdienste, Österreich bei Feierlichkeiten zur deutschen Einheit
nicht einladen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
F
Herr Kollege Straubinger, die in
der Frage enthaltene Feststellung, dass Österreich zu den
Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit am 3. Ok-
tober 2000 nicht eingeladen wurde, trifft nicht zu.
Der österreichische Botschafter in Deutschland, Herr
Dr. Lutterotti, ist auf Vorschlag der Bundesregierung zu-
sammen mit allen anderen in Deutschland akkreditierten
Botschaftern eingeladen worden und hat, wie ich das vor-
hin schon ausgeführt habe, an den Feierlichkeiten in Dres-
den teilgenommen. Darüber hinaus war Österreich
– ich wiederhole mich leider noch einmal – wie alle an-
deren EU-Mitgliedstaaten durch die Anwesenheit der so
genannten Troika auf der Ebene der Staats- und Regie-
rungschefs repräsentiert.
Zusatz-
frage, Kollege Straubinger.
Herr Staatssekretär,
einem Zeitungsbericht der „Passauer Neuen Presse“ ent-
nehme ich, dass die Regierungen Polens, Tschechiens, der
Slowakei und Ungarns aufgrund ihrer besonderen Unter-
stützung der dortigen Gruppen, die seinerzeit für Freiheit
und damit für die Überwindung des Eisernen Vorhangs
eingetreten sind, besonders eingeladen worden sind.
Hätte man nicht trotzdem zwangsläufig an Österreich
denken müssen, weil es den Eisernen Vorhang mit geöff-
net hat?
F
Herr Kollege Straubinger, ich
habe Ihnen die Kriterien des Protokolls dargelegt und er-
klärt, wer aufgrund welcher Tatsache eingeladen worden
ist. Sie haben die so genannten Višegrad-Staaten genannt.
Was Sie sagen, war in der Tat so. Ich habe das bereits bei
der Beantwortung der Frage des Kollegen Dr. Rose mit-
geteilt.
Im Übrigen waren die Zwei-plus-Vier-Vertragstaaten
ebenso wie die EU eingeladen und vertreten. Ich sage
noch einmal deutlich – das ist ein kleiner Unterschied, den
Sie bitte verinnerlichen sollten –: Österreich war in einer
bestimmten Form eingeladen und diese Einladung wurde
auch angenommen. Das habe ich bereits deutlich gemacht
und daran gibt es nichts herumzureden. Das Protokoll war
ebenso wie die Handhabung korrekt.
Zweite
Zusatzfrage, Herr Kollege Straubinger.
Herr Staatssekretär,
Sie verweisen immer auf das Protokoll und haben in der
Beantwortung der ersten Frage des Kollegen Rose darauf
hingewiesen, dass der Bundeskanzler diese Einladungen
auch im Namen des Bundestagspräsidenten und des
Bundesratspräsidenten ausgesprochen hat. Wurde die
Problematik, Österreich nicht einzuladen, auch in enger
Abstimmung mit dem Bundestags- und dem Bundes-
ratspräsidenten erörtert?
F
Herr Kollege Straubinger, ich be-
antworte als Vertreter des Bundesinnenministeriums diese
Fragen, weil das Bundesinnenministerium für das so ge-
nannte Inlandsprotokoll zuständig ist. Darüber hinaus
darf ich auf Ihre Frage bemerken, dass es keinerlei Dis-
kussionen und Streitereien über die Art der verschiedenen
Einladungen gegeben hat. Es gab auch keine Ausei-
nandersetzung darüber, wer welche Einladung an welcher
Stelle unterschrieben hat. Auch das ist im Einklang mit
der Sächsischen Staatsregierung erfolgt.
Eine wei-tere Zusatzfrage des Kollegen von Klaeden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000 11795
Herr Staatssekre-
tär, teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass Österreich
einen besonderen Beitrag zur Öffnung des Eisernen Vor-
hangs, der mit dem Beitrag der Višegrad-Staaten ver-
gleichbar ist, geleistet hat?
F
Dass Österreich einen besonderen
Beitrag im Zuge der deutsch-deutschen Einigung geleis-
tet hat, ist keine Frage. Deshalb ist auch eine Einladung
Österreichs in der Form, die ich bereits mehrere Male dar-
gestellt habe, erfolgt.
Eine wei-
tere Zusatzfrage des Kollegen Dr. Rose.
Herr Staatssekretär, die
Frage des Kollegen Straubinger war darauf gerichtet, ob
die Bundesregierung auch in Zukunft Österreich nicht
einladen wird. Ich möchte Sie fragen, ob Sie in Zukunft
bei der gleichen protokollarischen Auffassung bleiben,
dass Sie nämlich unter Österreich immer den öster-
reichischen Botschafter verstehen. Oder laden Sie doch
einmal die österreichische Regierung ein?
F
Sie wissen, Herr Kollege
Dr. Rose, dass es verschiedene Veranstaltungen gibt, über
die protokollarisch zu entscheiden ist. Wir werden von
Fall zu Fall entscheiden, wie das Protokoll gestaltet wer-
den soll.
Ich merke an Ihren Fragen, dass Sie lieber eine offene
Flanke der Bundesregierung gesehen und in den Wunden
herumgegraben hätten. Das gelingt Ihnen nicht, weil das
Protokoll korrekt war. Es wird auch zukünftig korrekt
sein.
Eine wei-
tere Zusatzfrage des Kollegen Deß.
Herr Staatssekretär, es
wurde heute immer wieder auf das Protokoll hingewiesen.
Es hat Äußerungen gegeben, dass man aus Platzgründen
nicht Vertreter von mehr Staaten eingeladen hat. Was hätte
man getan, um das Protokoll korrekt einzuhalten, wenn
sich alle CSU-Abgeordneten angemeldet hätten? Wären
sie aus Platzgründen wieder ausgeladen worden?
F
Wer etwas zu dem Thema Platz-
gründe geäußert hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich
sage aber ganz offen: Protokollfragen sind häufig ganz
praktische Fragen, bei denen manchmal auch die Anzahl
der Sitzplätze eine Rolle spielt. Dafür müssen Sie Ver-
ständnis haben. Im Übrigen denke ich, dass das in Bezug
auf die erwähnten Feierlichkeiten am 3. Oktober korrekt
gehandhabt wurde. Hier gibt es nichts zu beanstanden und
ist kein Platz für Kritik.
Wir kom-
men jetzt zur Frage 15 des Abgeordneten Straubinger:
Möchte die Bundesregierung mit der Nichteinladung Öster-
reichs zu den Einheitsfeierlichkeiten die Sanktionspolitik der EU-
Länder gegen Österreich fortsetzen, obwohl diese offiziell für be-
endet erklärt wurde?
F
Herr Kollege Straubinger, Nein ist
meine Antwort.
Eine Zu-
satzfrage, Kollege Straubinger?
Herr Staatssekretär,
Sie werden mir wohl Recht geben, dass es für internatio-
nale Verhandlungen und Vereinbarungen immer gut ist,
eine besondere Atmosphäre zu schaffen. Auch der Bun-
deskanzler handelt mittlerweile entsprechend. Er bemüht
sich zum Beispiel um eine besondere Atmosphäre in der
deutschen Parteienlandschaft.
Wäre es nicht im Interesse einer besonderen und bes-
seren Atmosphäre innerhalb der EU und im Interesse der
engeren Verbindung der Länder gewesen, nach den un-
glücklichen Sanktionen gegen Österreich, an denen sich
die Bundesregierung maßgeblich beteiligt hat, die Regie-
rung Österreichs einzuladen?
F
Herr Kollege Straubinger, Sie ma-
chen einen Fehler. Sie bringen nämlich das Protokoll in
Zusammenhang mit den EU-Sanktionen gegen Öster-
reich, die in der Tat offiziell als beendet betrachtet wer-
den. Die Form unserer Einladung und unsere Einladungs-
liste beruhen auf bestimmten Protokollfragen. Diese habe
ich Ihnen erklärt. Ich denke, daran gibt es nichts zu bean-
standen.
Zusatz-
frage, Kollege Straubinger.
Herr Staatsekretär,wird bei zukünftigen EU-Verhandlungen das Protokolleine größere Rolle spielen als etwa atmosphärische Fra-gen, um innerhalb der Europäische Union zu besserenEntscheidungen zu kommen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 200011796
F
Sie dürfen bestimmte Dinge wie
zum Beispiel das Protokoll auf nationaler Ebene und das
auf EU-Ebene nicht verwechseln. Ich möchte Ihnen nur
ein Beispiel nennen: Es gab eine Bodenseekonferenz, an
der ganz normal die Innenminister aller Alpenregion-Län-
der beteiligt waren. Ich verstehe Ihre Frage so, dass Sie
diese Verhaltensweise der Bundesregierung, wie sie sich
in der Vergangenheit zeigte, für richtig halten. Das kann
ich nur bestätigen.
Eine wei-
tere Zusatzfrage, Kollege Rose.
Herr Staatssekretär,
nachdem Sie das Ende der Sanktionen klar befürwortet
haben, möchte ich Sie fragen: Kann ich davon ausgehen
und darf ich dies auch der Bevölkerung bei uns sagen,
dass Mitglieder der Bundesregierung demnächst, wenn
sie wieder in die Toskana oder sonst wohin fahren, eine
Zwischenstation in Österreich machen und alles wieder
gut wird?
F
Herr Kollege Dr. Rose, wo er Ur-
laub macht, kann jeder selbst entscheiden. Im Übrigen
war die Entscheidung über die Sanktionen nicht Sache der
Bundesregierung, sondern dies war eine Entscheidung der
EU. Sie ist so getroffen worden, wie sie Ihnen bekannt ist.
Eine wei-
tere Zusatzfrage des Kollegen Deß.
Herr Staatssekretär, hat die
Bundesregierung Sanktionen gegen den Fraktionsvorsit-
zenden der SPD, Struck, eingeleitet, nachdem dieser sich
während der Sanktionszeit an der Bundestags-Motorrad-
fahrt von Berlin nach Wien beteiligt hat?
F
Herr Kollege Deß, ich will Ihnen
als Antwort etwas sehr Persönliches sagen: Ausgerechnet
in der Woche um den 3. Oktober weilte ich privat in Ös-
terreich. Mir ist nicht bekannt, dass daran etwas zu bean-
standen war und dies Folgen nach sich zieht.
Ich darf
Sie vielleicht darüber aufklären, dass der Kollege Struck
an dieser Reise nicht teilgenommen hat.
– Ich habe selbst mitgemacht, deswegen weiß ich das.
F
Herr Vizepräsident, herzlichen
Dank. Ich war nicht so genau über das Reiseprogramm
meines Fraktionsvorsitzenden und darüber informiert, wo
er zu- und wo er abgesagt hat. Aber ich denke, dass Mo-
torradfahren ein schönes Hobby ist.
Das kann
ich bestätigen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller zur Verfü-
gung.
Wir kommen zur Frage 16 des Kollegen Hofbauer:
Wird die Bundesregierung im Zuge der Herstellung einer
durchgehenden Autobahnverbindung auf der europäischen Ma-
gistrale zwischen Paris und Prag für den Weiterbau der Autobahn
A 6 zwischen Amberg und Waidhaus das Angebot der Europä-
ischen Investitionsbank annehmen, 50 Prozent der Finanzierung
des 600-Millionen-DM–Projektes als zinsloses Darlehen zu ge-
währen?
K
Herr Kollege Hofbauer, ein konkreter Fi-
nanzierungsvorschlag seitens der Europäischen Investiti-
onsbank ist der Bundesregierung bisher nicht unterbreitet
worden. Die Autobahn A 6 ist nach Auffassung der Bun-
desregierung ein wichtiger Baustein sowohl im nationa-
len wie im europäischen Autobahnnetz. 10 Kilometer der
54 Kilometer langen Strecke zwischen Amberg und der
Bundesgrenze sind – wie Ihnen selbst bestens bekannt –
bereits für den Verkehr freigegeben. Weitere 8 Kilometer
sind im Bau.
Die Bundesregierung verfolgt das Ziel, die A 6 zu-
nächst zwischen Pfreimd und der Bundesgrenze konti-
nuierlich weiterzubauen. Sie beabsichtigt jedoch nicht,
Vorfinanzierungsangebote anzunehmen, die die bestehen-
den Vorbelastungen des Straßenbauhaushaltes von mehr
als 8 000 Millionen DM noch weiter erhöhen. Vorfinan-
zierungsmodelle schränken nämlich für den Haushaltsge-
setzgeber künftiger Jahre die disponiblen Mittel ein. So
erreichen die Vorbelastungen aus den bislang vorfinan-
zierten 27 Straßenbauprojekten etwa ab dem Jahr 2004
rund 600 Millionen DM jährlich und werden erst ab dem
Jahre 2015 spürbar zurückgehen. Vor dem Hintergrund
unseres konsequenten Konsolidierungskurses beabsichti-
gen wir also, dieses Instrument nicht mehr einzusetzen.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Hofbauer.
Herr Staatssekretär,zunächst ist es bemerkenswert, dass meine Frage, die die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000 11797
Finanzierung einer ganz konkreten Straße betrifft, vomFinanzministerium beantwortet wird. Aber kann ich IhrerAntwort entnehmen: Wenn Sie das Angebot bekämen,würden Sie es nicht annehmen und für den restlichen Teilmüsste eine neue Finanzierung gesucht werden?K
Herr Kollege Hofbauer, ich habe mich bei
dem Büro von Herrn Wolfgang Roth in Luxemburg kun-
dig gemacht und dankenswerterweise seinen Redetext für
diese Veranstaltung – ich glaube, sie war in Nürnberg – er-
halten. Ich habe mir seine Ausführungen, angeschaut und
mir bei einer ersten Prüfung eine ganze Reihe von dicken
Fragezeichen machen müssen.
Das „shadow-toll“-Finanzierungsinstrument ist bisher
in Großbritannien und Portugal angewandt worden. Die
Europäische Investitionsbank weist darauf hin, dass sie
beispielsweise den Vorzug hat, „triple A“ eingestuft zu
sein. Das heißt, sie kann Kredite zu günstigsten Konditio-
nen aufnehmen. Das ist für andere Staaten durchaus in-
teressant, für die Bundesregierung nicht, weil die Bun-
desrepublik Deutschland ebenfalls „tripleA“ bewertet ist.
Das heißt, niemand kann günstiger Kredite als der Bund
selbst aufnehmen.
Im Übrigen hat Herr Roth selbst darauf hingewiesen,
dass Dreh- und Angelpunkt eines „shadow-toll“-Konzep-
tes ist, dass die Konzessionäre, also die privaten Bauge-
sellschaften, schon den ersten Planungsschritt selber ma-
chen können. Bis zur Planfeststellung müssen also nicht
mehr die Staatsbauämter oder die Straßenbauprojektäm-
ter des Staates alles betreiben, sondern die Konzessionäre
sind von Anfang an eingeschaltet, um mit ihrem techni-
schen Know-how vielleicht zu einer Linienführung zu ge-
langen, die kostengünstiger ist, oder um andere techni-
sche Konzeptionen für die Verwirklichung einer Strecke
anzubieten, was sich dann im Preis niederschlägt.
Darüber hinaus macht Herr Roth in seinen Ausführun-
gen auf Folgendes aufmerksam – ich zitiere ihn –:
Der Fremdmittelanteil ist bei „shadow-toll“-Projek-
ten normalerweise hoch, da die erforderlichen Auto-
bahngebühren so berechnet sind, dass sie den Schul-
dendienst mit einer Sicherheitsmarge decken.
Das würde bedeuten: Wir hätten nicht nur die Zinsbelas-
tung, dies sich aufgrund von „triple A“ ergibt, sondern
auch noch eine Sicherheitsmarge zu tragen, die wir in un-
serer bisherigen Finanzierung gar nicht haben. Deswegen
denke ich, dass man, wenn man sich das einmal intensi-
ver anschaut, viele Haken bis hin zu Folgendem findet:
Herr Roth sagte selbst, dass die Betreiber dann für die ge-
samte „shadow-toll“-Strecke geradestehen müssen. Das
sind dann 30 Jahre. Das lassen sie sich auch bezahlen,
weswegen sich das Ganze noch einmal verteuert.
Es ist die Frage zu stellen – das müsste meines Erach-
tens auch Sie politisch interessieren –: Wird eine „sha-
dow-toll“-Lösung nicht dazu führen, dass wir in diesem
Bereich nicht nur Generalunternehmer, sondern auch Ge-
neralübernehmer haben und dass der normale Hand-
werksbetrieb, der sich vielleicht noch beim Bau einer ein-
zigen Brücke engagieren könnte, völlig außen vor ist?
Ich denke, man sollte sich das Ganze noch einmal ge-
nau anschauen. Ein Angebot liegt nicht vor. Aber im Prin-
zip schätzen wir das „shadow-toll“-Modell so ein, dass es
nichts anderes als eine private Vorfinanzierung ist. Was
ich zur privaten Vorfinanzierung gesagt habe, gilt.
Eine wei-
tere Zusatzfrage, Kollege Hofbauer, bitte schön.
Herr Staatssekretär, es
ist zunächst bemerkenswert, dass Sie diese Frage schon
sehr intensiv geprüft und gewürdigt haben. Kann ich an-
nehmen, dass ein solches Finanzierungsmodell ausfällt?
K
Wenn es sich bei den Prüfungen tatsächlich
herausstellt, dass es sich um ein privates Vorfinanzie-
rungsmodell handelt, dann fällt es aus.
Weitere
Zusatzfrage, Kollegin Blank.
Herr Staatssekretär, ist
Ihnen bekannt, dass ich bei der damaligen Veranstaltung
mit dem Vizepräsidenten der Europäischen Investitions-
bank anwesend war und dass der Vizepräsident ausführte,
es sei eine Schande, dass dieses Projekt der A6 noch nicht
weiter vorangetrieben wurde und dass die derzeitige rot-
grüne Bundesregierung dringend handeln sollte?
K
Verehrte Kollegin, mir persönlich ist Ihre
Anwesenheit nicht bekannt gewesen. Ich nehme das zur
Kenntnis.
Im Übrigen kann Herr Roth mit seiner Kritik nur die
frühere Bundesregierung gemeint haben; denn dieses Pro-
blem existiert ja seit 1989 und was bisher bereitgestellt
worden ist, sieht man ja. Sie – so könnte man unterstel-
len – entdecken dieses Thema erst, nachdem Sie nicht
mehr in der Verantwortung sind.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Strobl.
Herr Staatssekretär, trifft es
zu, dass die Europäische Investitionsbank zur Finanzie-
rung eine so genannte Schattenmaut verlangen würde?
Wer müsste diese Mehrkosten tragen?
K
Herr Kollege, verzeihen Sie, ich habe denenglischen Ausdruck gebraucht. „Shadow-toll“ heißt aufDeutsch: Schattenmaut. Schattenmaut wird sie genannt,weil nicht der Benutzer wie üblich die Gebühren zahlt.Wenn Sie zum Beispiel durch Frankreich fahren, müssenSie an einem Häuschen Ihren Obolus entrichten, um wei-terfahren zu können; das gäbe es an einer solchen Strecke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Klaus Hofbauer11798
nicht. „Shadow-toll“ bedeutet: Statt des PKW- oderLKW-Fahrers wirft – im übertragenen Sinne – der Staatdie Münze ein; der Staat hätte also diese Mautgebühren zuzahlen.Wie hoch die Mautgebühren sein sollen, müsste mannatürlich erst einmal schätzen. Das heißt, es müssten Ver-kehrsprognosen zugrunde gelegt werden: Fahren dort10 000, 20 000, 50 000 oder 80 000 PKW, wie viele tau-send LKW passieren die Strecke in 24 Stunden? Darauswürde sich dann eine Gebühr errechnen. Dann ist diespannende Frage: Wie schließt man solche Verträge – miteiner Revisionsklausel? Wenn sich die Prognosen nichtbewahrheiten: Wer trägt dann die Ausfallkosten? – Wenndie Prognosen übertroffen werden: Wer kriegt dann denProfit? Wie wird das Ganze dann wieder korrigiert?Es gibt einen Rattenschwanz von zusätzlichen Proble-men, deswegen muss man das Ganze sehr sorgfältig prü-fen.
Eine wei-
tere Zusatzfrage des Kollegen Girisch.
Herr Staatssekretär, leh-
nen Sie diese Art der Finanzierung auch dann ab, wenn im
Zuge der EU-Osterweiterung ein Vorschlag von der EU
kommt? Lehnen Sie diesen Vorschlag auch ab, wenn er
wegen der EU-Osterweiterung sehr von der Bayerischen
Staatsregierung befürwortet wird? Sie wissen ja, dass die-
ses im Zuge der EU-Osterweiterung besonders dringlich
ist.
K
Wissen Sie, ich bin kein Bayer wie Sie, son-
dern ich bin Rheinland-Pfälzer.
Hier sitzt der frühere rheinland-pfälzische Verkehrsmi-
nister Rainer Brüderle. Er hatte zusammen mit der damals
verantwortlichen Bundesregierung ein ähnliches Problem
hinsichtlich einer europäisch wichtigen Straße, die vom
Verkehrsaufkommen so ähnlich wie auch Ihre A 6 einzu-
schätzen ist: Sie ist bei bei der letzten Prüfung noch rela-
tiv schwach, weil das Nutzen-Kosten-Verhältnis bei
1,7 Prozent lag, glaube ich – dafür ist eigentlich ein ande-
res Ressort zuständig – und nicht bei 3 Prozent, wie es Be-
dingung ist, wenn eine Maßnahme als vordringlicher Be-
darf anerkannt werden soll.
Aber die rheinland-pfälzische Landesregierung ist da-
mals an die Bundesregierung herangetreten und hat ge-
sagt: Die A 60 zwischen Bitburg und der belgischen
Staatsgrenze ist uns so wichtig, dass wir uns mit Landes-
mitteln an der Finanzierung beteiligen. Vielleicht machen
Sie einmal diesen Vorschlag der Bayerischen Staatsregie-
rung und dann kann das Fachressort zusammen mit der
Bayerischen Staatsregierung darüber nachdenken.
Eine wei-
tere Zusatzfrage des Kollegen Straubinger. – Herr Girisch,
Sie haben nur das Recht auf eine Frage.
Herr Staatssekretär,
Sie haben das Stichwort gegeben und sich vorhin bei
Ihren Antworten vehement gegen Vorfinanzierungen auch
von privater Seite ausgesprochen. Wie muss ich es ver-
stehen, dass die Bundesregierung zum Beispiel bei einem
Teilstück der A31 in Niedersachsen bereit ist, eine private
Vorfinanzierung durch Unternehmer, Landkreise und das
Land Niedersachsen zu gestatten?
K
Herr Kollege, ich bitte die Frage an das zu-
ständige Ressort zu richten, weil ich im Moment nicht re-
kapitulieren kann, wie die genauen Finanzierungskondi-
tionen für die von Ihnen genannte Strecke waren. Das
Finanzministerium ist nicht für den Bau der einzelnen
Strecken zuständig, sondern höchstens für die generelle
Frage der Finanzierung.
Ich persönlich darf dazu bemerken: Als es darum ging,
die Zahl der privat vorfinanzierten Strecken zu erhöhen,
war ich als Mitglied des Haushaltsausschusses einer der
Befürworter eines Versuches. Aber die Befürworter waren
sich über alle Parteigrenzen hinweg einig: Wenn die erste
auf diese Weise vorfinanzierte Strecke nach einem til-
gungsfreien Jahr dem Bund zur Tilgung übereignet wird,
brauchen wir zusätzliches Geld und dieses zusätzliche
Geld hat Ihre Regierung nicht vorgesehen, im Gegenteil:
Sie hat uns im Verkehrshaushalt viele Finanzierungspro-
bleme hinterlassen, weil viele Projekte angefangen wor-
den sind, ohne dass deren Finanzierung in der mittelfristi-
gen Finanzplanung bis zum Ende gesichert war. Das ist
eines unserer großen Probleme. Hätten Sie damals sorg-
fältiger gehandelt, wäre es heute um vieles leichter.
Vielleicht
wäre Herr Staatssekretär Scheffler bereit, Ihre Antwort zu
ergänzen? – Bitte schön, Herr Scheffler.
S
Vie-len Dank, Herr Präsident. Lieber Kollege, Sie kennen ansich die Antwort. Die so genannte Emsland-Autobahnwird völlig anders als der hier besprochene Vorschlag zurA6 finanziert. In dem Fall der A 31 hat die Wirtschaft denVorschlag gemacht, Geld zur Verfügung zu stellen – eswaren anfangs 200 Unternehmen und mittlerweile sind es600 Unternehmen – dann kamen Kommunen und andereGebietskörperschaften dazu. Was ganz wichtig ist: DasLand Niedersachsen finanziert 285 Millionen DM. DerBund wird diese Aufwendungen später refinanzieren, undzwar zu dem Zeitpunkt, an dem diese Straße bzw. Auto-bahn zum Bau vorgesehen ist.Das Entscheidende ist: Die Refinanzierung erfolgtohne Zinsbelastung und ohne Tilgung. Diese zusätzlichenBelastungen werden also vom Land Niedersachsen bzw.von den Kommunen und anderen Gebietskörperschaften
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Parl. Staatssekretär Karl Diller11799
übernommen. Insofern kann man diese – ich nenne sieeinmal – Mischfinanzierung nicht mit dem bayerischenVorschlag vergleichen, da die Bayerische Staatsregierungausdrücklich erklärt hat, sie wolle nicht die Zinslastenübernehmen. Sie will zwar die Maßnahme vorgezogenhaben, wie es Herr Kollege Diller hier richtig vorgetragenhat, aber die Zinsbelastung und die Belastung aus der Til-gung sollen vom Bund getragen werden. Deshalb wollenwir dieses so genannte Betreibermodell nicht.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär.
Es bleibt noch die Zusatzfrage des Kollegen Deß.
Herr Staatssekretär Diller,
da Sie der alten Bundesregierung an dieser Stelle Ver-
säumnisse anlasten, frage ich Sie: Ist Ihnen bekannt, dass
SPD-Politiker vor Ort diese Autobahn bis Anfang der
90er-Jahre für überflüssig gehalten haben und dass ein
SPD-Landtagskollege dem damaligen Wirtschafts- und
Verkehrsminister Gustl Lang sogar vorgehalten hat – ich
zitiere sinngemäß –, dass er eine Autobahn plant, die ins
Niemandsland führt?
K
Herr Kollege, Sie werden verstehen, dass
ich weder die Diskussion vor Ort kenne noch sie von hier
aus in toto kommentieren will. Jedenfalls bestätigt das,
was ich eben vom Kollegen Scheffler gehört habe, ei-
gentlich das, was ich am Beispiel von Rheinland-Pfalz ge-
sagt habe. Wenn die Bayerische Staatsregierung hochgra-
dig daran interessiert ist, dass diese Autobahn frühzeitiger
gebaut wird, als wir es aufgrund unserer finanziellen
Möglichkeiten machen können, bliebe ihr die Überlegung
unbenommen, sich – wie Rheinland-Pfalz und, wie ich
höre, andere Bundesländer auch – mit Eigenmitteln zu be-
teiligen. Da der bayerische Staatshaushalt in einer völlig
anderen Situation ist als der Bundeshaushalt, müsste das
für die Staatsregierung besonders leicht sein.
Ich darf noch einmal auf Folgendes hinweisen: Als wir
von Herrn Dr. Theodor Waigel das Finanzministerium
und damit auch die Schulden des Bundes und die Zinslas-
ten übernommen haben, mussten wir jede vierte Mark, die
wir an Steuern von den Bürgerinnen und Bürgern einneh-
men durften, nur für das Zahlen von Zinsen ausgeben. Das
Bundesverfassungsgericht hat einmal im Falle von Saar-
land und Bremen geurteilt: Wer jede vierte Mark seiner
Steuereinnahmen nur für das Zahlen von Zinsen ausgeben
muss, befindet sich – so wörtlich – in einer extremen
Haushaltsnotlage. – Das ist das Erbe, das wir jetzt schul-
tern müssen.
Wir kom-
men jetzt zur Frage 17 des Abgeordneten Hofbauer:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die dann
verbleibende Restfinanzierung sicherzustellen?
K
Herr Kollege Hofbauer, Finanzierungsmo-
delle, die eine Vorbelastung künftiger Haushalte nach sich
ziehen, kommen für uns nicht in Betracht. Die Bundesre-
gierung strebt an, die Fertigstellung der A 6 zwischen
Pfreimd und der Bundesgrenze bis zum Jahre 2010 si-
cherzustellen. Positiv wirkt sich hierbei aus, dass für die
Restlaufzeit des Investitionsprogrammes, also in den Jah-
ren 2001 und 2002, insgesamt rund 1 100 Millionen DM
mehr für Straßenbauprojekte des Bundes zur Verfügung
stehen, als zum Zeitpunkt der Aufstellung des Program-
mes abzusehen war.
Mit der Bayerischen Staatsregierung wird der Betrag
festzulegen sein, der für die A 6 aus dem auf Bayern ent-
fallenden Anteil zur Verfügung gestellt werden kann. Für
die Zeit nach 2002 obliegt es Ihnen, dem Deutschen Bun-
destag, im Rahmen der Novellierung des Fernstraßenaus-
baugesetzes über die Beibehaltung oder die Änderung
von Prioritäten im Bundesfernstraßenbau zu entscheiden.
Zusatz-
frage, Kollege Hofbauer? – Das ist nicht der Fall.
Es liegt eine Reihe von weiteren Wortmeldungen vor.
Ladies first – Frau Blank, bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie
führen aus, dass Sie keine Projekte im Konzessionsmodell
mehr vorantreiben oder genehmigen wollen. Ist Ihnen be-
kannt, dass die Haushälter der SPD in der Zeit, in der sie
in der Opposition waren, die von uns vorgeschlagenen
Projekte noch einmal um 13 oder 14 Projekte ergänzt ha-
ben, um ihre eigenen Straßen vor Ort zu haben? Wie be-
urteilen Sie, nachdem Sie vorher sehr kritisch mit diesem
Finanzierungsmodell umgegangen sind, aus heutiger
Sicht Ihre damalige Zustimmung zu diesem Modell?
K
Verehrte Frau Blank, ich habe mich schonvorhin als einer derjenigen geoutet, der – vor sechs Jahrenwar es wohl – im Haushaltsausschuss mit dafür gesorgthat, dass es einen breiten Konsens zur Ausweitung derModelle gegeben hat.
Ich möchte auch nicht verschweigen, dass ich einmaldie Hoffnung hatte, eine andere bundesdeutsche Auto-bahn fertig stellen zu lassen, nämlich die A1, die von Kielnach Saarbrücken führt und über 700 Kilometer lang ist.Die gesamte Strecke ist fast fertig gestellt. Es fehlen nurnoch 35 Kilometer in der Eifel. Seit 1987, als ich Mitglieddes Deutschen Bundestages wurde, habe ich mich darumbemüht, dort Bewegung hineinzubekommen. WährendIhrer Regierungszeit konnten gerade einmal 4 Kilometerder A 48 zwischen der Anschlussstelle Mehren und derAnschlussstelle Daun fertig gestellt werden. Ich habe ge-hofft, die restlichen Kilometer könnten im Rahmen einesModells der privaten Vorfinanzierung fertig gestellt wer-den.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Parl. Staatssekretär Siegfried Scheffler11800
Ich habe vorhin auch gesagt – darüber waren wir unsdamals alle bewusst –: Wir brauchen zusätzliches Geld,wenn die Tilgung beginnt. Ich möchte Ihnen das an einemBeispiel aus Rheinland-Pfalz deutlich machen: Der Bauder A 60 von Bitburg bis nach Wittlich wird privat vorfi-nanziert. Der letzte Bauabschnitt – den ersten habe ichkürzlich übergeben dürfen – wird ab 2002 dem Verkehrübergeben werden. Dann beginnt die Tilgung. Nach deralten Konzeption, die während Ihrer Regierungszeit ent-standen ist, bedeutet dies, dass die Hälfte der Tilgungs-summe von den Neubaumitteln, die dem BundeslandRheinland-Pfalz nach dem berühmten Schlüssel eigent-lich zustehen, über 15 Jahre hinweg abgezogen wird. DerAutobahnbau in Rheinland-Pfalz würde ab dem Jahr 2002zum Stillstand kommen, wenn nicht zusätzliche Mittel zurVerfügung gestellt werden. Die spannende Frage ist, obdas gelingen wird.Wir sind der Meinung: Den Weg der privaten Vorfi-nanzierung zu gehen, um dadurch Zeit zu gewinnen, hilftnur kurzfristig. Mittelfristig holt uns das wieder ein undfällt uns doppelt und dreifach auf die Füße, weil ein Still-stand im Autobahnbau eintritt. Deshalb ist die private Vor-finanzierung, so wie Sie sie während Ihrer Regierungszeitvorgesehen hatten und wie ich sie zunächst unterstützthatte, kein Weg für die Zukunft.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Girisch.
Herr Staatssekretär, Sie
haben sich zur Frage der privaten Vorfinanzierung kritisch
geäußert. Sie haben aus einem Redetext des Präsidenten
Roth zitiert. Meine Frage ist: Könnten Sie uns diesen Re-
detext und die Bewertung aus Ihrem Hause zuleiten?
Nach meinen Informationen hat sich Herr Roth in diesem
Text auch über die derzeitige Bundesregierung kritisch
geäußert, weil die Finanzierung der A 6 zögerlich behan-
delt wird.
K
Herr Kollege, ich stelle Ihnen gerne – ich
habe überhaupt keine Bedenken – den Redetext des Herrn
Roth zur Verfügung. Die Anmerkungen, die ich vorgetra-
gen habe, stammen nicht aus meinem Hause; sie spiegeln
vielmehr meine kritischen Gedanken wider, die mir heute
Morgen, nachdem ich den Redetext auf meinen Schreib-
tisch bekommen habe, spontan eingefallen sind. Insofern
ist dem im Augenblick nichts hinzuzufügen.
Herr Roth muss zur Kenntnis nehmen, dass es einen
Prioritätenkatalog gibt, der uns verpflichtet, zunächst alle
Straßenbauprojekte abzuarbeiten, die in Ihrer Regie-
rungszeit zwar begonnen worden sind, für die aber keine
dauerhafte und saubere Finanzierung vorliegt. Das ist un-
ser Problem. Hätten Sie uns dieses Problem nicht hinter-
lassen, dann wären wir in vielen Bereichen schon weiter.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Straubinger.
Herr Staatssekretär,
angesichts Ihrer Äußerung, dass in den einzelnen Bun-
desländern letztendlich überhaupt keine Autobahnen
mehr gebaut werden könnten, wenn man sie vorfinan-
zierte, möchte ich Sie fragen: Gilt das nicht im selben
Maße für die A 31, da auch dieses Projekt, wie Herr
Staatssekretär Scheffler vorhin ausgeführt hat, vorfinan-
ziert ist und die Tilgungssumme von den Neubaumitteln,
die dem Land Niedersachsen zustehen, später abgezogen
wird, und zwar nach meinen Informationen ab dem Jahr
2010?
Wir können beide nicht wissen, wie der Verkehrshaus-
halt im Jahr 2010 aussehen wird und welche finanzielle
Unterstützung wir haben werden. Darum haben wir das
entsprechende Gutachten des Wissenschaftlichen Diens-
tes des Deutschen Bundestages in Auftrag gegeben, nach
dem die Vorfinanzierung der A 31 finanzverfassungs-
rechtlichen Gesichtspunkten nicht stand hält.
K
Ich bitte, die Frage über die A 31 mit dem
Fachressort zu diskutieren. Bezüglich des schnelleren
Verwirklichens möchte ich zunächst einmal festhalten,
was durch die Kenntnis der Drucksache 14/4090 – Be-
schlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen – über die A 6 bekannt
geworden ist. Hier sind offenbar noch nicht in allen Be-
reichen die entsprechenden Voraussetzungen nach dem
Baurecht erfüllt. Dies muss erst noch geschehen. Man
sollte sich erst darum kümmern, dass die Voraussetzungen
nach dem Baurecht gegeben sind. Ich rate jedem drin-
gend: Reden Sie einmal mit der Bayerischen Staatsregie-
rung, ob sie sich nicht das Land Rheinland-Pfalz zum
Vorbild nimmt und mit eigenem Geld ohne Anspruch auf
Rückzahlung durch den Bund dazu beiträgt, ein bestimm-
tes Straßenbauprojekt voranzutreiben, weil es ihr regional
bzw. überregional besonders wichtig ist. Ich wünsche Ih-
nen dabei viel Erfolg.
Herr
Staatssekretär Diller, vielen Dank.
Herr Staatssekretär Scheffler ist bereit, die Frage er-
gänzend zu beantworten.
S
Er-gänzend möchte ich anmerken – ich habe angenommen,dass das vorhin Ausgeführte deutlich genug war –, dassdies keine zusätzliche Belastung des Bundeshaushalteserfordert. Sie haben die Jahreszahl 2010 genannt. Natür-lich haben wir die klassischen Finanzierungsinstrumente,die für ein Fernstraßenausbaugesetz und für Maßnahmennach dem Bundesverkehrswegeplan ab einem Zeitraum X– nehmen wir einmal das Jahr 2010 oder das Jahr 2015 –erforderlich sind. Ab dem Jahr 2010 oder 2015 werden dieMaßnahmen, vorbehaltlich der Zustimmung des Deut-schen Bundestages – man unterliegt der Jährlichkeit derHaushalte –, durchgeführt. Das geschieht aber ohne zu-sätzliche Tilgungsquote und ohne zusätzliche Zinsquotezu der entsprechenden Länderquote. Insofern ist dies ein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Parl. Staatssekretär Karl Diller11801
erheblicher Unterschied, denn die Handlungsspielräumewerden entsprechend der gemeinsamen Vereinbarung nureingeschränkt. Als Berliner salopp gesagt: Sie wollendoch als Land diese Maßnahme nicht geschenkt bekom-men. Die Haushaltsfinanzierung muss natürlich gesichertwerden.
Herr
Straubinger, Ihr Fragerecht ist erschöpft.
Wir kommen zur Frage 18 der Kollegin Blank:
Ist die Bundesregierung bereit, dem vom Vizepräsidenten derEuropäischen Investitionsbank, EIB, Wolfgang Roth, vorgeschla-genen Finanzierungsmodell, bei dem die EIB bis zu 50 Prozentder noch notwendigen Investitionskosten von circa 600 Million-en DM durch ein zinsgünstiges langfristiges Darlehen mit bis zu18 zins- und tilgungsfreien Jahren vorfinanziert, beizutreten unddie dazu notwendigen 300 Millionen DM im Konzessionsmodellzur Verfügung zu stellen?
K
Herr Präsident, ich bin in einer schwierigen
Situation. Die Kollegin hat die gleiche Frage gestellt wie
der Kollege Straubinger. Sie ist im Prinzip schon beant-
wortet worden. Ich kann nichts Neues hinzufügen.
Vielleicht
möchte die Kollegin Blank noch eine Zusatzfrage stellen.
Es ist richtig, dass ich
zwei Zusatzfragen stellen möchte.
Herr Staatssekretär Diller, ist Ihnen bekannt, dass die
neue Bundesregierung alles besser machen wollte und
dass sie sich nach der Bemerkung des Kollegen Scheffler
der Infrastrukturverantwortung entzieht, wenn Sie zum
Beispiel einen Landesanteil aus Bayern, Rheinland-Pfalz
oder anderen Ländern wollen? Ist dies ein Rückzug aus
Ihrer Infrastrukturverantwortung? Sie haben zu der Arbeit
der vorherigen Bundesregierung gesagt, dass sie die A 6
hätte fertig stellen sollen. Ist Ihnen bekannt, dass von der
alten Bundesregierung die Baureife im Zusammenhang
mit der A6 immer schnell realisiert wurde, sodass für die
restlichen 54 Kilometer die Voraussetzungen nach dem
Baurecht erfüllt sind?
K
Verehrte Frau Kollegin, ich habe lediglich
darauf hingewiesen, dass sich die Bundesregierung ange-
sichts der ihr zur Verfügung stehenden finanziellen Mög-
lichkeiten bemüht, das alles bis zum Jahre 2010 sicherzu-
stellen. Wer also einen früheren Zeitpunkt will, der möge
einmal darüber nachdenken, ob nicht der Weg gangbar
wäre, den beispielsweise Rheinland-Pfalz seinerzeit be-
schritten hat, um zu einem früheren Abschluss des Baus
der A 60 zu kommen.
Herr
Staatssekretär Scheffler, bitte schön.
S
HerrPräsident! Sehr geehrte Frau Kollegin Blank, ich werdenachher noch die von Ihnen eingereichte Frage beantwor-ten; aber vielleicht betrachten Sie dies als einen fließen-den Übergang.Ich stimme dem Kollegen Diller vollinhaltlich zu, dassdie alte Bundesregierung Gelegenheit gehabt hätte, diegenannten Maßnahmen im Rahmen der Finanzierung derProjekte aus dem Bundesverkehrswegeplan bzw. aus demFünfjahresplan vorzuziehen. Sie wissen, dass die Voraus-setzungen aber erst seit Juli mit dem Baurecht für dieStrecke Amberg-Ost–Pfreimd vorliegen, und zwar mit derMöglichkeit des sofortigen Vollzugs. Aber auch der so-fortige Vollzug unterliegt der Jährlichkeit der Haushalte.Es gilt hier also wieder, wie der Berliner sagt: Ohne Moosnichts los. Insoweit geht es der neuen Bundesregierungwie der alten: Wenn die entsprechenden Mittel nicht imHaushalt ausgewiesen sind, kann nicht gebaut werden.Die Mittel für die von mir genannte Strecke konnten aber,wie gesagt, nicht in den Haushalt eingestellt werden, weilkein Planungsrecht bestand.Im Übrigen erinnere ich daran, Kollegin Blank, dassfür den Abschnitt Woppenhof–Kaltenbaum noch einPlanfeststellungsverfahren bis voraussichtlich Mitte 2001läuft. Neben Baurecht brauchen wir das Kriterium der si-cheren Durchfinanzierung einer Strecke im Investitions-plan 1999 bis 2002. In diesem Zusammenhang ist daranzu erinnern, dass uns die alte Bundesregierung eine Bug-welle oder Unterfinanzierung des Bundesverkehrswege-plans in Höhe von 80 bis 100 Milliarden DM hinterlassenhat. Demgegenüber hat jetzt der Bundesminister für Ver-kehr, Bau- und Wohnungswesen in Abstimmung mit demFinanzminister – ich bin meinem Kollegen Karl Dilleraußerordentlich dankbar, dass er dem zugestimmt hat, ob-wohl er, wie wir gehört haben, weniger ein Lobbyist fürBayern als vielmehr für Rheinland-Pfalz ist – in das IP-Mittel für entsprechende Streckenabschnitte eingestelltund darüber hinaus aus der Reduzierung der globalenMinderausgabe, die immerhin 1,1 Milliarden DM aus-macht, für Bayern noch einmal circa 140 Millionen DMlockergemacht. Ihnen ist sicherlich der Brief des Bundes-ministers für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen an denzuständigen bayerischen Staatsminister Beckstein be-kannt, in dem es heißt, dass sowohl zur Verstärkung desin Bau befindlichen Abschnittes der A6 als auch für einenNeubauabschnitt der A 6 der vom Kollegen Diller ge-nannte Zehnjahreszeitraum von der Bundesregierung ge-sichert ist. Es entspricht übrigens auch der mündlichenVereinbarung unserer Vorgängerregierung, dass dieStrecke bis zur tschechischen Grenze in den nächstenzehn Jahren realisiert werden soll.Wir suchen hier natürlich gemeinsam, verehrte Kolle-gin Blank, nach neuen Möglichkeiten. Ohne dass bereitsdanach gefragt worden wäre – vielleicht wird diese Fragenachher noch gestellt –, sage ich, dass es dem Bundes-kanzler, dem Finanzminister und dem zuständigen Fach-minister mit dem Wirtschaftsstandort Deutschland – Siehaben ihn vorhin angesprochen – ernst ist. Die Tatsache,dass sie gewillt sind, eine vernünftige Verkehrsinfrastruk-tur zur Verfügung zu stellen, zeigt dies ganz deutlich, wo-
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hingegen Ihre frühere Regierung die Bereiche Forschungund Bildung ebenso wie den Infrastrukturbereich ver-nachlässigt hat. Sie haben zwar von Nord nach Süd sehrviele kleine Spatenstiche gemacht; aber die Finanzierungwar nicht gesichert. Umso wichtiger ist unser Weg, durchdie Zinseinsparungen aufgrund des Schuldenabbausdurch die Mittel aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzenentsprechende Gelder zur Verfügung zu stellen. Die not-wendigen Abstimmungen sind natürlich noch nicht abge-schlossen. Es ist aber klar, dass sich für den Zehnjahres-zeitraum weitere Möglichkeiten ergeben.
Eine wei-
tere Zusatzfrage der Kollegin Blank.
Herr Staatssekretär
Diller, wie stehen Sie heute zu den Anträgen der damali-
gen SPD-Opposition, dass die Tilgungsleistungen für
Konzessionsmodelle nicht aus dem Haushaltsplan 12,
sondern aus dem Haushaltsplan 32 erfolgen sollten? Oder
sind Ihnen diese Anträge nicht bekannt?
K
Diesen Antrag möchte ich gerne erst einmal
sehen.
Einverstanden.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Girisch.
Meine Herren Staatsse-
kretäre, Sie merken, dass wir Sie zu diesem Thema sehr
intensiv befragen. Wir tun dies deshalb, weil wir erstens
davon überzeugt sind, dass eine besondere Dringlichkeit
besteht, und weil wir zweitens der Meinung sind, Sie
müssten wissen, dass wir täglich oder mindestens einmal
in der Woche über unsere SPD-Kollegen in der Zeitung le-
sen, dass sie sich in Berlin massiv für zusätzliches Geld
einsetzen. Jetzt höre ich von Ihnen beiden immer wieder:
Vor 2010 wird die A 6 zwischen Amberg-Ost und Waid-
haus nicht fertig. Glauben Sie, dass man aufgrund der
Dringlichkeit – auch wegen eines Besuchs des Herrn Bun-
deskanzlers – eine Finanzierung zustande bringt, die eine
schnellere Fertigstellung als bis zum Jahr 2010 ermög-
licht?
K
Auch ich führe gelegentlich mit Bürgerin-
nen und Bürgern in meinem Wahlkreis Diskussionen da-
rüber, welche Bedeutung der vordringliche Bedarf in der
Realität hat. Einer der den Bürgerinnen und Bürgern
schwer vermittelbaren Gesichtspunkte ist – ich hoffe, die
Vermittlung gelingt wenigstens bei Ihnen –: Um sich
überhaupt um die Finanzierung zu kümmern, ist nicht ein
Planfeststellungsbeschluss Voraussetzung, sondern ein
nicht mehr beklagbares Baurecht.
Wenn ich Sie jetzt frage: „Haben wir schon für sämtli-
che 54 Kilometer nicht mehr beklagbares Baurecht?“,
dann werden auch Sie mir antworten: Nein. Deswegen
wäre es absolut unverantwortlich, Ihnen heute ein festes
Datum für die Übergabe der gesamten Strecke zu nennen.
Wir wissen überhaupt nicht, wann wir für die noch be-
klagbaren Entscheidungen im Planfeststellungsverfahren
tatsächliches Baurecht bekommen. Wenn sich abzeichnet,
dass die Voraussetzungen nach dem Baurecht vorliegen,
dann wird es in der Tat Zeit, sich um die Finanzierung zu
kümmern. Das wollen wir dann gerne tun. Der Zeithori-
zont ist Ihnen genannt worden. Ich habe für die Bundes-
regierung erklärt, dass sie Ihre Auffassung der nationalen
und internationalen Bedeutung der A 6 teilt.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär.
Die Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums der Verteidigung – die Fragen 19, 20, 21 und 22 –
sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, bei dem
wir uns schon eben teilweise aufgehalten haben. Herr
Staatssekretär Scheffler steht zur Beantwortung der Fra-
gen zur Verfügung.
Die Frage 23 der Kollegin Blank ist eigentlich schon
mehrfach beantwortet worden. Ich weiß nicht, ob Sie Wert
darauf legen, dass wir die Antwort noch einmal hören.
– Sie wollen sie noch einmal hören. Dann rufe ich die
Frage 23 der Kollegin Blank auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung zur zeitna-
hen Fertigstellung des fehlenden 54 Kilometer langen Teilstücks
beim wichtigen Infrastrukturprojekt Autobahn A 6 in Richtung
Tschechische Republik?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
S
Sehr
geehrte Frau Kollegin Blank, diese Frage ist in der Ver-
gangenheit schon mehrfach behandelt worden. Wir kön-
nen daraus auch eine zweistündige Debatte machen.
Herr Präsident, gestatten Sie eine Vorbemerkung.
Herr
Staatssekretär, da wir dieses Thema schon mehrfach be-
handelt haben, bitte ich Sie, sich bei der Beantwortung
kurz zu fassen.
S
Werte Kollegin Blank, Sie wissen, dass ich von Freitag bisSonntag voriger Woche in Lindau am Bodensee, Ingol-stadt, Donauwörth und in anderen Städten, Kommunenund Gemeinden, die auch hoch belastet sind und in denenfehlende Ortsumgehungen und fehlende Lückenschlüsse
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bei den Bundesfernstraßen zu beklagen sind, parteiüber-greifend Gespräche geführt habe. Dort sagte man: Es gibtabseits der A 6 auch noch Kommunen und Gemeinden,und es kann nicht sein, liebe Bundesregierung, dass euerganzes Geld in die A6 fließt. – Ich möchte daran erinnern,dass für den Abschnitt der A 6 in Baden-Württembergrund 50 Millionen DM im Investitionsprogramm vorge-sehen sind.Nun zur Beantwortung Ihrer Frage, die sowohl vomKollegen Diller als auch von mir an sich schon beantwor-tet wurde: Entsprechend der Bedeutung, die die Bundes-regierung dem Teilstück Amberg-Ost–Waidhaus der A 6– das ist die Bundesgrenze – sowohl im nationalen alsauch im europäischen Autobahnnetz beimisst, verfolgt siewie ihre Vorgängerin konsequent deren kontinuierlichenAusbau. Priorität hat dabei der Abschnitt von Pfreimd imBereich der A 93 zur Bundesgrenze nach Waidhaus auf-grund der Vereinbarung mit der tschechischen Regierung,die D 5 von Prag über Pilsen nach Waidhaus baldmög-lichst an das deutsche Autobahnnetz anzubinden. Hierfürwird die durchgehende Fertigstellung innerhalb dernächsten zehn Jahre angestrebt.Erleichternd wirkt sich hier die Entscheidung des Bun-deskabinetts zum Bundeshaushalt 2001 und zur Finanz-planung bis 2004 vom 21. Juni dieses Jahres aus, die Mit-tel für den Bundesfernstraßenbau in den kommendenJahren gegenüber der bisherigen, dem Investitionspro-gramm 1999 bis 2002 zugrunde liegenden Finanzplanungzu erhöhen. Ob eine Finanzierung für das Schlussstück,den Abschnitt zwischen Amberg-Ost und Pfreimd im Be-reich der A 93, nach einer Bestätigung des vordringlichenBedarfs im Rahmen der Novellierung des Fernstraßen-ausbaugesetzes innerhalb dieses Zeitraums möglich ist,kann gegenwärtig nicht gesagt werden.
Vielen
Dank. – Frau Blank, jetzt bitte ich darum, die Geduld der
Kolleginnen und Kollegen nicht zu missbrauchen. Das
Thema ist eigentlich abgehandelt. Bitte schön.
Herr Präsident, erlauben
Sie mir bitte als Parlamentarierin die Anmerkung, dass es
nicht kritikwürdig ist, ob, wie oft, wie lange Parlamenta-
rier eine Frage stellen und ob sie dieses Thema jede Wo-
che aufgreifen. Herr Staatssekretär, ich verbitte mir das.
Es liegt in unserem ureigenen Interesse, dass wir hier Fra-
gen, die die Bevölkerung vor Ort interessieren, jederzeit
stellen können.
Frau Kol-
legin Blank, kommen Sie bitte zu Ihrer Frage.
Meine Frage lautet: Herr
Staatssekretär, gehen Sie davon aus, dass für die Fertig-
stellung dieses wichtigen Stücks der A 6, die Verbindung
von Nürnberg nach Prag, eventuell durch den Bundes-
kanzler, wenn er in die Oberpfalz kommt, eine Zusage er-
teilt wird?
S
Ich
beteilige mich hier nicht an Spekulationen. Ich weiß nicht,
was der Bundeskanzler vor Ort zusagt. Ich weiß aber, dass
in Abstimmung zwischen Bundeskanzler, Finanzminister
und auch Minister Klimmt – ich sagte das bereits – aus
den Zinseinsparungen aufgrund des Schuldenabbaus
durch die Mittel aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen
zusätzliche Gelder gerade für den Ausbau der Ver-
kehrsinfrastruktur in Form einer Verstärkung der Bahn-
strecken – das in erheblichem Maße –, der Straßen und si-
cher auch der Wasserstraßen bereitgestellt werden. Dann
gilt es, in Abstimmung mit der Bayerischen Staatsregie-
rung zur A 6 Stellung zu nehmen.
Im Übrigen, werte Kollegin Blank, darf ich wiederho-
len, dass im Schreiben des Bundesverkehrsministers an
Staatsminister Beckstein schon vorgeschlagen wurde, für
die Verstärkung der im Bau befindlichen Abschnitte der
A 6 bzw. für den Abschnitt der A 6, der noch nicht neu be-
gonnen wurde, finanzielle Mittel aus der globalen Min-
derausgabe bereitzustellen.
Wir kom-
men jetzt zur Frage 24 des Kollegen Helmut Heiderich:
In welchem Jahr bzw. in welchem konkreten Zeitraum wird
die Bundesregierung in der Lage sein, von den Ländern angemel-
dete Straßenbaumaßnahmen nach Dringlichkeit, Kostenvolumen
und, ausreichende Landesplanung vorausgesetzt, Verwirkli-
chungsjahr auszuweisen, vor dem Hintergrund ihrer Erklärung,
sie wolle den Bundesverkehrswegeplan nach von ihr noch festzu-
legenden Gesichtspunkten neu erstellen?
S
Herr
Kollege Heiderich, die Bundesregierung hat sich zum Ziel
gesetzt, den Bundesverkehrswegeplan 1992 zügig zu
überarbeiten. Viele der einzelnen Arbeitsschritte bauen
aufeinander auf. Der Zeitbedarf für eine langfristige Netz-
konzeption der DB AG lässt eine abschließende Fest-
legung bezüglich der Fertigstellung des Bundesverkehrs-
wegeplans noch nicht zu.
Es kann deshalb derzeit nicht ausgeschlossen werden,
dass es im Ergebnis zu Verzögerungen gegenüber dem ur-
sprünglich geplanten Zeitbedarf kommt. Aufgrund des
vorgelegten Investitionsprogramms 1999 bis 2002 hat
dies keine Auswirkung auf die notwendige Kontinuität
der Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Der überar-
beitete Bundesverkehrswegeplan soll nach Maßgabe des
voraussichtlich verfügbaren Finanzrahmens alle Maß-
nahmen enthalten, die innerhalb des Geltungszeitraums
des neuen Bundesverkehrswegeplans verwirklicht wer-
den sollen.
Zusatz-frage, Herr Kollege Heiderich.
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Herr Staatssekretär,
ich darf fragen, ob Sie schon Kenntnis haben, wann die
grundsätzlichen Kriterien verfügbar sein werden, nach
denen Sie die angemeldeten Maßnahmen beurteilen und
einstufen wollen.
S
Wir
hatten zum Beispiel heute im Ausschuss für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen eine Anhörung dazu, wie es mit der
Bahnreform bzw. dem Schienenverkehr insgesamt wei-
tergehen soll. Die DB AG hat ihre strategischen Überle-
gungen, ob im Personenfernverkehr, im Regionalverkehr
oder auch im Güterverkehr, noch nicht abgeschlossen. In-
sofern kann ich Ihnen heute nicht sagen, wann die ent-
sprechenden Ergebnisse an die Bundesregierung weiter-
gegeben werden. Aber Sie werden mir sicher zustimmen,
dass ein überarbeiteter Bundesverkehrswegeplan ohne die
neuen Planungen hinsichtlich der Schiene völlig unreali-
stisch wäre.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Heiderich?
Herr Staatssekretär,
ich möchte auf Ihre eben gemachte Anmerkung zurück-
kommen. Sehen auch Sie es so, dass die verfügbaren Fi-
nanzmittel, die Sie für die Finanzierung des Programms
1999 bis 2002 brauchen, noch bis etwa in das Jahr 2007
hinein so weit gebunden sein werden, dass in dieser Zeit
keine neuen Straßenbaumaßnahmen, jedenfalls nicht in
größerem Umfang, vollzogen werden können?
S
Dem
stimme ich nicht zu. Ich stimme jedoch zu, dass die neue
Bundesregierung durch die Unterfinanzierung des alten
Bundesverkehrswegeplanes in Höhe von 80 bis 100 Mil-
liarden DM gezwungen war, hier ein Investitionspro-
gramm 1999 bis 2002 aufzulegen, und dass sie sich
natürlich Gedanken gemacht hat, wie der Infrastruktur-
nachholebedarf künftig zu finanzieren ist. Deshalb set-
zen wir zur Finanzierung des Engpassbeseitigungspro-
gramms, des Anti-Stau-Programms, ab dem Jahre 2003
mit einer Laufzeit bis zum Jahre 2007 die streckenbezo-
gene LKW-Gebühr neben der klassischen Haushaltsfi-
nanzierung an die erste Stelle. Ferner setzen wir zusätz-
lich 1,1 Milliarden DM im Zeitraum des Investitionspro-
gramms ein, die durch die Reduzierung der globalen Min-
derausgabe frei werden. Daran erkennen Sie das
Bemühen der Bundesregierung – nicht nur unseres Hau-
ses –, hier mehr als die Vorgängerregierung für den Aus-
bau der Verkehrsinfrastruktur zu tun.
Es gibt keine weite-
ren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 25 des Kollegen Helmut Heiderich
auf:
Werden die im Rahmen der Aufstellung des Bundesverkehrs-
wegeplanes 1992 erarbeiteten Unterlagen – zum Beispiel Um-
weltverträglichkeitsprüfungen – für die Einstufung von Maßnah-
men im neuen Bundesverkehrswegeplan als „vordringlich“ und
„Neubau“ in Hessen wie zum Beispiel auch bei der Umgehungs-
straße Rotenburg/Lispenhausen an der B 83 neu erarbeitet werden
müssen und wird die Bundesregierung gegebenenfalls die hessi-
sche Landesregierung zur Vorlage dieser Unterlagen innerhalb ei-
ner bestimmten Frist verpflichten?
S
Herr
Kollege Heiderich, es ist vorgesehen, dass die Dringlich-
keit für alle noch nicht realisierten und noch nicht im Bau
befindlichen Projekte neu festgestellt wird. Dabei wird in
der Regel eine erneute gesamtwirtschaftliche Bewertung
mit einer neuen Nutzen-Kosten-Betrachtung durchge-
führt. Hierbei werden aktualisierte Kostenangaben, Ver-
kehrsdaten und Prognosen zugrunde gelegt werden. Die
für die gemeldeten Maßnahmen benötigten Daten zur Ak-
tualisierung der Kosten- und Planungsdaten wurden dem
BMVBW inzwischen von der hessischen Landesregie-
rung zur Verfügung gestellt.
Die Ortsumgehung B 83 Rotenburg/Lispenhausen ist
im aktuellen Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen im
„weiteren Bedarf“ enthalten. Die B 83 Rotenburg/Lispen-
hausen gehört zu den vom Land gemeldeten Maßnahmen
für die anstehende Überarbeitung des Bundesverkehrswe-
geplanes und Fortschreibung des Bedarfsplanes für die
Bundesfernstraßen und wird erneut bewertet.
Die 1995 abgeschlossene Umweltverträglichkeitsstu-
die wird, soweit erforderlich, zur ökologischen Beurtei-
lung der Maßnahmen im Rahmen der Arbeiten zur
Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplanes herange-
zogen.
Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär,
habe ich Sie eben richtig verstanden, dass die Kosten-
schätzungen nicht einfach nur um einen Faktor fortge-
schrieben werden, der sich aus der zeitlichen Verzögerung
ergibt, sondern dass die entsprechenden Zahlen auf Basis
heutiger Technik und der heutigen Wettbewerbssituation
völlig neu ermittelt werden?
S
Siehaben Recht. Ich will das an einem aktuellen Beispiel er-läutern. Im Falle der von Ihnen angeführten Bundesstraßebesteht die Chance, dass diese Maßnahme gegebenenfallsauf der Grundlage aktueller Verkehrs- und Kostendatenund eines dadurch bedingten besseren Nutzen-Kosten-Verhältnisses – ich will hier nicht spekulieren – vom wei-teren Bedarf in den vordringlichen Bedarf eingestuft wird,sofern die hessische Landesregierung bzw. der DeutscheBundestag, der über den Bedarfsplan entscheidet, zustim-men. Vorher hätte es keine Chance gegeben – die Reali-sierung dieser Maßnahme wäre aufgrund der unter der
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Vorgängerregierung vorgenommenen Einstufung in denweiteren Bedarf nach hinten gerutscht –, dass diese Straßein absehbarer Zeit gebaut worden wäre.
Eine zweite Zusatz-
frage.
Herr Staatssekretär,
Sie haben eben die Einstufung angesprochen. Das Land
Hessen hat meines Wissens die Einstufung in den vor-
dringlichen Bedarf beantragt. Ich darf fragen, wie sich
diese zukünftige Einstufung von der bisherigen Einstu-
fung des alten Bundesverkehrswegeplanes unterscheiden
wird? Oder wird es bei der alten Einstufung bleiben?
S
Die
hessische Landesregierung hat die Einstufung dieser
Maßnahme in den vordringlichen Bedarf beantragt, wozu
zunächst im Rahmen der Überarbeitung des Bundesver-
kehrswegeplanes eine neue Bewertung und damit die
Überprüfung der Möglichkeit einer eventuellen Einstu-
fung in den vordringlichen Bedarf erforderlich sind. Das
ist ein Unterschied.
Ich könnte Ihnen mit Blick auf die Überarbeitung des
Bundesverkehrswegeplanes die neuen Daten nennen, die
sich von den Daten der alten Bundesregierung unter-
scheiden. Der Umweltgesichtspunkt, also der ökologische
und der raumordnerische Gedanke, aber auch der städte-
bauliche Effekt spielen bei der Neubewertung eine stär-
kere Rolle als bisher. Die Bewertung erfolgt nämlich nach
den neuesten Kriterien.
Dann rufe ich die
Frage 26 des Kollegen Dr. Gerd Müller auf:
wird, auch ländliche Regionen an das Fernverkehrsnetz der DB
AG anzubinden?
S
Herr
Kollege Müller, nach Art. 87 e Abs. 4 des Grundgesetzes
gilt:
Der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der All-
gemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen,
beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Ei-
senbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsan-
geboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht
den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rech-
nung getragen wird. Das Nähere wird durch Bundes-
gesetz geregelt.
Für den Infrastrukturbereich ist die Konkretisierung
durch das Schienenwegeausbaugesetz erfolgt. Danach fi-
nanziert der Bund im Rahmen der zur Verfügung stehen-
den Haushaltsmittel Investitionen in die Schienenwege
der Eisenbahnen des Bundes. Die Investitionen umfassen
Bau, Ausbau sowie Ersatzinvestitionen.
Die Gestaltung der Schienenfernverkehrsangebote der
DB AG gehört seit der Bahnreform zum ausschließlich ei-
genverantwortlichen unternehmerischen Bereich der nach
dem Aktiengesetz arbeitenden Gesellschaft. Es ist Auf-
gabe des Unternehmens selbst, das Angebot daraufhin zu
beobachten, wie es vom Markt angenommen wird, und
entsprechende Anpassungen an die Nachfrage vorzuneh-
men. Hierzu gehört auch die Einführung von neuen Fern-
verkehrsangeboten auf bestimmten Strecken und die Auf-
gabe von Leistung bei ungenügender Nachfrage.
Der Bund kommt dem grundgesetzlichen Auftrag
durch die Bereitstellung von Investitionshilfen für das
Netz nach, die gleichzeitig die DB AG in die Lage verset-
zen, auf dieser Basis das nach dem Grundgesetz erforder-
liche Angebot zu realisieren. Er wird sein finanzielles En-
gagement für den Erhalt und Ausbau des Schienennetzes
künftig noch weiter verstärken.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege Müller.
Herr Präsident, darf ich
vielleicht eine Vorbemerkung machen und mich dann auf
eine Zusatzfrage beschränken?
Es macht den Kolleginnen und Kollegen zunehmend
Probleme, Fragen zu stellen – die Bundestagsverwaltung
lehnt diese ab –, die im Zusammenhang mit der Politik der
Bahn stehen. Die Bahn ist eine hundertprozentige Tochter
des Bundes. Sie ist aber selber nicht imstande, wichtige
Anfragen bezüglich der inneren Organisation und der dor-
tigen Zustände zu beantworten. Es gibt also keine Kon-
troll- und Nachfragemöglichkeiten mehr. Man sollte die-
ses Thema einmal fraktionsübergreifend im Ältestenrat
behandeln.
Konkrete Zusatzfrage: Herr Staatssekretär, Hof–
Oberstdorf und Ulm–Lindau sind nur zwei Beispiele für
die Streichorgie der Bahn im Fernverkehr. Die Bahn zieht
sich über das ganze Land hinweg aus dem Fernverkehr
zurück – ich nenne die Streichung von Interregios – und
übereignet die Bedienung an die Länder, ohne dass dafür
vom Bund entsprechende Gelder zur Verfügung gestellt
werden. Dies widerspricht dem grundgesetzlichen Auf-
trag, nicht nur die Ballungszentren, sondern auch die
ländlichen Regionen zu bedienen. Was unternimmt der
Bund im Aufsichtsrat der BahnAG, um dieser Politik, die
gegen die Fläche, gegen die ländlichen Regionen gerich-
tet ist, entgegenzuwirken?
S
Zunächst ist festzustellen: Für den Infrastrukturbereich istja durch das Bundesschienenwegeausbaugesetz eine Kon-kretisierung erfolgt. Danach finanziert der Bund im Rah-men der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel Inves-titionen in die Schienenwege der Eisenbahnen desBundes. Diese umfassen, wie ich bereits ausgeführt habe,Bau, Ausbau und Ersatzinvestitionen.
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Parl. Staatssekretär Siegfried Scheffler11806
Damit keine Ausdünnung erfolgt, ist durch die Bun-desregierung das so genannte investive ZukunftspaketSchiene auf den Weg gebracht worden, mit dem wir demSchienenverkehr insgesamt, aber insbesondere auch demSchienenfernverkehr eine Zukunftsperspektive eröffnenwollen, damit trotz begrenzter Finanzmittel – ich möchtejetzt nicht wieder auf den Zeitraum von vor 1998 zurück-kommen – mehr als bisher investiert werden kann und dieDB AG ihr Netz beibehalten kann. Dabei sind nicht diegefahrenen Zugkilometer entscheidend. Vielmehr ist vonBedeutung, wie wir mehr Kunden, also mehr Personenbzw. mehr Güter, auf die Schiene bekommen. Deshalb hatdie Bundesregierung das Zukunftspaket Schiene, das inden nächsten zehn bis 15 Jahren umgesetzt werden soll,auf den Weg gebracht, durch das der DBAG voraussicht-lich 2 bis 2,5 Milliarden DM jährlich zur Verfügung ge-stellt werden können.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Wiese.
Herr Staatsse-
kretär, teilen Sie meine Auffassung, dass die Steigerung
der Attraktivität der Bahn im ländlichen Raum auch da-
durch erfolgen kann, dass das Netz leistungsfähig ausge-
baut wird? Ich möchte genau die Strecke ansprechen, die
mein Kollege Müller gerade erwähnt hat, die Strecke von
Ulm nach Lindau, die so genannte Südbahn. Das Land
Baden-Württemberg bemüht sich seit Jahren darum, die
Südbahn zu elektrifizieren. Bei der Südbahn handelt es
sich um die letzte Strecke zwischen Hamburg und Rom,
die mit Dieselloks betrieben wird; man muss sich das ein-
mal vorstellen. Wir wollen diese Strecke im Hinblick auf
die internationale Anbindung leistungsfähiger machen.
Das Land Baden-Württemberg hat 40 Millionen DM zur
Mitfinanzierung angeboten. Die Steigerung der Attrakti-
vität in diesem Bereich könnte dazu führen, dass eine
Ausdünnung des Netzes im ländlichen Raum nicht erfolgt
und dass die Nutzung von Interregiozügen wieder attrak-
tiv sein könnte.
S
Bei
der Beantwortung der ersten Frage in diesem Zusammen-
hang sagte ich, dass die DB AG ihr künftiges Konzept
noch nicht abschließend erarbeitet hat. Sie heben viel-
leicht auf das neue Konzept MORA ab, über das in den
nächsten Monaten eine Entscheidung getroffen wird.
Für den Bund besteht gemäß EWG-Verordnung
1191/69 die Verpflichtung der Sicherstellung eines dem
Wohl der Allgemeinheit dienenden Verkehrsangebotes.
Aber das Ziel des Gewährleistungsauftrages, der vorhin
angesprochen worden ist, nämlich das Wohl der Allge-
meinheit, orientiert sich an den tatsächlichen Verkehrsbe-
dürfnissen. Insofern kann ich von hier aus nicht konkret
beantworten, ob die Strecke Lindau–Ulm letztendlich
dem jetzigen Verkehrsbedürfnis entspricht.
Ich möchte noch einmal kurz auf die Vorbemerkung
des Kollegen Dr. Müller eingehen: Wenn schriftliche Fra-
gen an die Bundesregierung gestellt werden, die die DB
AG betreffen, dann werden wir – ich denke, das ist par-
teiübergreifend so – die Stellungnahme der DB AG ein-
holen und Ihnen nicht nur die Positionen der Bundesre-
gierung, sondern auch die Stellungnahme der DB AG
– auch die zu bestimmten Strecken – darlegen.
Ich lasse jetzt noch
eine Zusatzfrage des Kollegen Schauerte zu.
Herr Staatssekre-
tär, Ihr wiederholter Verweis darauf, dass Sie noch nichts
sagen können, weil die Bahn ihr Konzept noch nicht vor-
gelegt habe, veranlasst mich zu einer Bemerkung und ei-
ner daran anschließenden Frage. Es ist ja erstaunlich, dass
wir nach Überschreiten der Halbzeit dieser Legislaturpe-
riode erkennen müssen, dass Sie im Umgang mit der Bahn
und ihren Konzepten noch nichts vorweisen können. Um
dazu beizutragen, dass diese Zeit des Abwartens, die ja
schädlich ist für Deutschland, verkürzt wird, frage ich:
Wann rechnen Sie denn damit, dass die Deutsche Bahn Ih-
nen ein Konzept vorlegt, bzw. was können Sie tun, damit
die Bahn das möglichst bald tut?
S
Hier
geht es nicht nur um Konzepte, sondern um mit Bund und
Ländern abgestimmte Strecken, die in einem zukünftigen
Bundesverkehrswegeplan der verkehrlichen Entwicklung
– man denke nur an die Öffnung in Richtung Osteuropa –
bis zum Jahre 2015 Rechnung tragen müssen. Insofern
sind wir auch abhängig von der DBAG.
Sie haben das Stichwort Halbzeit genannt. Ich könnte
Ihnen natürlich aufzählen, was alles schon erreicht wurde.
So ist die Abstimmung mit den Ländern bei den Straßen
und bei den Wasserstrassen erfolgt und ein Konzept für
die Luftfahrt vorgelegt worden. Die Koalitionspartner
sind in der Tat angetreten, um in enger Abstimmung mit
der DB AG ein entsprechendes Konzept für die Schiene
zu realisieren. Aber ich muss schon darauf verweisen,
dass dies anfangs auch wegen des Vorgängers, den Sie
eingesetzt haben, problematisch war.
Erst heute wieder haben wir im Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen eine Anhörung mit dem
Thema „Wo geht die Bahn hin? – Bilanz der Bahnreform“
durchgeführt. Wir gehen davon aus, dass uns die DB AG
noch in diesem Jahr ein Konzept vorlegt.
Die einjährige Verzögerung hat aber natürlich Konse-
quenzen auf die Erarbeitung des Bundesverkehrswege-
plans.
Ich danke Ihnen,Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Wir sind am Ende der Fragestunde. Die Fraktionen ha-ben sich darauf verständigt, die Sitzung des Bundestagesnicht zu unterbrechen, sondern sogleich in die AktuelleStunde überzuleiten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Parl. Staatssekretär Siegfried Scheffler11807
Ich rufe also den Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der CDU/CSUUnterschiedliche Vorschläge aus der Koalition,die Beiträge zur Arbeitslosenversicherungkurzfristig abzusenkenIch gebe zunächst für die antragstellende Fraktion demKollegen Hans-Joachim Fuchtel das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion hat schon bei der Haus-haltsdebatte die Absenkung der Beiträge zur Arbeitslo-senversicherung vorgeschlagen und gefordert. In der Zwi-schenzeit stoßen auch Kollegen der Grünen in diesesHorn. Selbst die Gewerkschaften haben sich entsprechendgeäußert. Frau Engelen-Kefer ist, was das politischeSpektrum angeht, ja wirklich nicht unsere Freundin.Wenn aber selbst diese Dame, deren Äußerungen wir an-sonsten wirklich kritisch betrachten, davon spricht, dieRegierung solle ihre Verschiebebahnhöfe aufgeben,
dann zeigt dies, wie weit es gekommen ist. So etwas ha-ben wir bisher noch nicht erleben dürfen.
Es gibt etliche sachliche Gründe, warum eine solcheAbsenkung zum jetzigen Zeitpunkt möglich ist:Erstens. Die Arbeitslosigkeit geht zurück.
Zweitens. Die Bundesregierung hält mit ihren Haus-haltsansätzen für das nächste Jahr die Ausgaben künstlichhoch, indem sie Verlagerungen aus dem Bundeshaushalthin zum Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit vornimmt.Drittens. Die Bundesanstalt für Arbeit hat mit nunmehr12,5 Milliarden DM Außenstände in Rekordhöhe.
Viertens. Wenn die Zahl der Arbeitslosen sinkt, kannman mit Fug und Recht verlangen, dass auch die Bundes-anstalt schlanker wird und Einsparungen bei ihr vorge-nommen werden.Meine Damen und Herren, daraus ergibt sich bei soli-der Berechnung ein Spielraum von 16,5 Milliarden DM.Zieht man die Gewerkschaftsunterlagen heran, so wächstder Spielraum auf 20 Milliarden DM. Deswegen ist esangezeigt, die Absenkung jetzt vorzunehmen. Ich sagehier ganz deutlich, dass das überhaupt nichts mit Leis-tungseinschränkungen zu tun hat.
Der Herr Staatssekretär wird sicher gleich hier das Ge-genteil behaupten; deswegen muss ich ihm noch etwasvorrechnen. Erstens. Wir schlagen vor, die Absenkung imJahre 2001 von 6,5 auf 6 Beitragspunkte vorzunehmen.Das macht 7 Milliarden DM aus.Zweitens. Wenn die Entwicklung es zulässt, sollte imJahre 2002 eine weitere Absenkung um 0,5 Beitrags-punkte vorgenommen werden. Das würde weitere 7 Mil-liarden DM ausmachen, die wir an die Beitragszahlerzurückgeben könnten. Das ist auch gerechtfertigt.
Wenn wir ein Polster in Höhe von 16,5Milliarden DM ha-ben und 7 Milliarden DM an die Beitragszahler zurück-geben, befinden wir uns immer noch in der Situation, dasswir allen Risiken begegnen können.
So pfleglich ist die frühere Opposition mit uns in der Re-gierungszeit von Helmut Kohl nicht umgegangen. Des-wegen ist es ganz eindeutig: Wir müssen die Sache jetztin Angriff nehmen, und Sie als Gewerkschaftler solltenvielleicht einmal Frau Engelen-Kefer Gehör schenken;denn diese Dame denkt in diesem Punkt offensichtlichweiter als Sie.Wenn wir pro 100 000 Arbeitslose weniger 3 Milliar-den DM veranschlagen, dann ergibt das bei prognosti-zierten 320 000 Arbeitslosen weniger nach Adam Rieseeine Bruttoentlastung in Höhe von 9,6 Milliarden DM.
Im Jahre 2000 wird der Arbeitsminister 3 Milliar-den DM als Zuschuss brauchen. Wenn man diese Zahlenzugrunde legt, hat man im nächsten Jahr 6,6 Milliar-den DM zur Verfügung. Wenn Sie sich jetzt vergegen-wärtigen, dass 0,5 Beitragspunkte 7 Milliarden DM aus-machen, ist schon allein aus diesem Grunde eineBeitragssenkung möglich.
Hinzu kommen noch die Punkte, die ich gerade schon ge-nannt habe.
Diese Zahlen sind realistisch und wir sollten den ge-zeichneten Weg gehen. Wir sollten ihn auch deshalb ge-hen, weil wir den Beitragszahlern weiterhin ins Augeschauen wollen. Die Beitragszahler wurden seit der deut-schen Einheit ganz schön belastet. Jetzt haben wir dieMöglichkeit, sie zu entlasten, und wir sollten die Chancenutzen und die Entscheidung nicht auf das Wahljahr ver-schieben. Deswegen kommt unser Vorschlag heute.
–
Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: So schnell wiemöglich!)Wir hoffen, dass wir uns im Interesse der Menschen aufein gutes Ergebnis einigen können.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Vizepräsident Rudolf Seiters11808
Für die Bundesregie-
rung spricht der Parlamentarische Staatssekretär beim
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Gerd
Andres.
G
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich will zunächst fest-halten: Diese Aktuelle Stunde ist das Eingeständnis vonCDU und CSU, dass sie die Erfolge der Bundesregierungin der Arbeitsmarktpolitik wahrnehmen und anerkennen.Darüber freuen wir uns. Vielen Dank dafür.
Ich bezweifle aber, dass die Union in der Frage der Bei-tragssenkung und des Schuldenabbaus ein guter Ratgeberist.
Wenn ich auf die Entwicklung der Beitragssätze und desBundeszuschusses zu Zeiten der Regierung Kohl schaue,muss ich feststellen, dass weder die Interessen der Bei-tragszahler noch die der Arbeitsämter bei Ihnen in gutenHänden waren. Die Entwicklung der Beiträge zur Ar-beitslosenversicherung war zu Ihrer Zeit ein fröhlichesRauf und Runter. Meistens ging es rauf und nur selten run-ter.
So haben Sie 1991 den Beitragssatz um satte 2,5 Pro-zent auf 6,8 Prozent erhöht. 1993 wollten Sie trotz safti-ger Beitragserhöhungen den Haushalt der Arbeitsämterohne Bundeszuschuss ausgleichen. Der Bundeszuschussbelief sich zum Jahresende 1993 auf über 24 Milliar-den DM.Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie ha-ben in Ihrer Regierungszeit den Defizit-, Beitrags- undArbeitslosenrekord aufgestellt.
Damit sind Sie dreifacher Rekordhalter. Das muss hierfestgehalten werden.
Die Union sollte auch ihre Strategie in der Arbeits-marktdebatte überdenken.
Letztes Jahr hat die CDU/CSU-Fraktion – hören Sie gutzu, Herr Laumann, zu Ihnen komme ich auch noch –
beantragt, den Zuschuss für die Bundesanstalt für Arbeitauf Null zu senken. Ein Jahr später kommt der KollegeAndreas Storm – nach Presseberichten – zu der Erkennt-nis, dass es nicht sinnvoll zu begründen sei, warum derZuschuss gegen Null laufen solle. – Sie reden nachhernoch und können etwas dazu sagen.Im Übrigen finde ich, dass auch die Fraktion der F.D.P.keinen Anlass zur Schadenfreude hat. Sie hat im letztenJahr den gleichen Antrag gestellt.
Meine Damen und Herren, der Präsident der Bundes-anstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, hat letzte Woche dieniedrigste Arbeitslosenquote in einem September seit1993 verkündet. Eine Arbeitslosenquote von 9 Prozent istsicher noch viel zu hoch. Vor allem im Osten sind wirnoch lange nicht am Ziel.
Aber die Zahlen beweisen, dass unsere Reformpolitik an-geschlagen hat. Dies ermutigt uns, den eingeschlagenenWeg konsequent fortzusetzen.
Nur so kommen wir endlich von den Rekordständen beiden Arbeitslosenzahlen herunter, die uns die Kohl-Regie-rung hinterlassen hat.
Natürlich freuen wir uns, dass die gute Wirtschafts-und Arbeitsmarktentwicklung Anlass gibt, über eineSenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zudiskutieren. All diejenigen, die Beiträge zur Arbeitslosen-versicherung zahlen, sollen von den Erfolgen der Bun-desregierung in der Arbeitsmarktpolitik nicht nur monat-lich in den Medien hören oder lesen; sie sollen sie auch imPortemonnaie spüren können.
Deshalb ist die Bundesregierung dafür, den Beitrag zurArbeitslosenversicherung so schnell wie möglich zu sen-ken.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000 11809
Aber wir dürfen die richtigen Debatten nicht zumfalschen Zeitpunkt führen. Eine Beitragssatzsenkung imnächsten Jahr können wir uns einfach noch nicht leisten.
Herr Fuchtel, Sie sind ja Haushälter und bilden sich ein,rechnen zu können.
Ihnen sage ich ganz offen: Bei einem Gesamtetat der Bun-desanstalt für Arbeit von rund 100 Milliarden DM überPolster in Höhe von 16,5 Milliarden DM bis gar 20 Milli-arden DM zu philosophieren – das wären 20 Prozent derGesamtausgaben – ist völlig absurd; lassen Sie sich daseinmal sagen.
Wenn wir jetzt vorschnell handeln, gefährden wir nur un-sere erfolgreiche Reformpolitik, die letztlich auch für denArbeitsmarkt ganz wichtig ist.Wir können die Beiträge auch schon deshalb nichtschnell senken, weil die Regierung Kohl unbezahlteRechnungen hinterlassen hat. Wie Sie wissen, hat dasBundesverfassungsgericht im Juni dieses Jahres entschie-den, dass Einmalzahlungen wie Urlaubs- oder Weih-nachtsgeld in die Bemessungsgrundlage von Arbeitslo-sengeld einzubeziehen sind. Die alte Bundesregierunghatte sich in der Vergangenheit stets geweigert, Beiträgeaus Einmalzahlungen auch auf der Leistungsseite zuberücksichtigen. Das ist ein Kapitel, das ich mit Ihnen,Herr Laumann, und ein paar anderen Kollegen zu bespre-chen habe.Wir haben Ihnen in Hearings und Debatten vorherge-sagt, was kommt. Sie aber haben die Ohren auf Durchzuggestellt und eine gesetzliche Regelung geschaffen, derenFolgen wir jetzt leider ausbaden müssen.
– Weil wir auf das Urteil gewartet haben.
– Langsam. Wir haben das Urteil begrüßt und setzen eszügig um – im Gegensatz zu Ihnen. Sie haben doch nurweiße Salbe darauf geschmiert. Auch Sie hatten ein Urteildes Bundesverfassungsgerichts.
Es stellt ein Stück sozialer Gerechtigkeit wieder her. Al-lerdings sind die finanziellen Konsequenzen aus dem Ein-malzahlungs-Urteil gravierend und belasten den Haushaltder Bundesanstalt für Arbeit in diesem Jahr mit etwa2,4 Milliarden DM und im kommenden Jahr mit rund3,7 Milliarden DM.Diese Entscheidung ist ein Beispiel dafür, wie die Re-gierung Kohl durch eine unverantwortliche Sozial- undFinanzpolitik den Arbeitsämtern erhebliche Hypothekenaufgeladen hat. Sie trägt damit ein gerüttelt Maß Mitver-antwortung daran, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkteinfach noch nicht möglich ist, die Beiträge zur Arbeits-losenversicherung zu senken.
Die Entscheidung zu den Einmalzahlungen war imÜbrigen nicht die erste Entscheidung aus Karlsruhe, auf-grund derer diese Bundesregierung für verfassungswidri-ges Handeln der früheren Bundesregierung geradestehenmuss.Die gute wirtschaftliche Entwicklung und der Rück-gang der Arbeitslosigkeit machen es möglich, dass dieBundesanstalt für Arbeit im kommenden Jahr voraus-sichtlich ohne Bundeszuschuss auskommt.
Das ist ein Erfolg, auf den wir stolz sind, den wir aberauch nicht gefährden dürfen. Der Vorwurf, wir würdenden Zuschuss zusammenstreichen, ist völliger Unsinn.Der Bund muss nur dann einen Zuschuss leisten – das wis-sen Herr Fuchtel, die Union und auch die F.D.P. nur zu ge-nau –, wenn bei den Arbeitsämtern ein Defizit anfällt. We-gen der sinkenden Arbeitslosenzahlen werden nach denjetzigen Schätzungen beim Arbeitslosengeld deutlich ge-ringere Ausgaben anfallen.
Ein Bundeszuschuss wird nicht nötig sein. Damit hat dieSelbstverwaltung der Bundesanstalt seit langer Zeit wie-der die Möglichkeit, aus eigener Kraft einen ausgegliche-nen Haushalt vorzulegen. Herr Fuchtel, damit Sie sichauch dies merken: Das ist seit 1987 das erste Mal wiederder Fall. Von 1987 bis 1998 hatten Sie die Verantwortung,auch für die Bundesanstalt für Arbeit. Sie waren die ganzeZeit nicht in der Lage, für diese Bundesanstalt einen aus-geglichenen Haushalt auf die Beine zu stellen. Auch das,finde ich, ist ein wichtiger Tatbestand.Auch ohne Bundeszuschuss werden die Mittel der Ar-beitsämter ausreichen, um die Arbeitsmarktpolitik weiter-hin auf hohem Niveau zu verstetigen. Die Regierung Kohlhat bei jedem noch so leichten Rückgang der Arbeits-marktzahlen die Arbeitsmarktpolitik zusammengehauen.
Diesen Fehler werden wir nicht machen. Wir werden IhrePolitik nicht wiederholen.Diese Bundesregierung setzt unverändert deutlich an-dere Akzente in der Arbeitsmarktpolitik. Ich will nur ei-nige Beispiele nennen. Wir schichten von den passiven zuden aktiven Leistungen um.
Es ist besser, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.Mit unserem Jugendsofortprogramm haben wir ein deut-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Parl. Staatssekretär Gerd Andres11810
liches Signal gegen den Skandal gesetzt, dass vielen jun-gen Menschen schon der Start in das Berufsleben kaputt-gemacht wird.
Mit der Neuregelung des Schlechtwettergeldes haben wirdie witterungsbedingte Arbeitslosigkeit am Bau reduziert.
Die Fortentwicklung der Altersteilzeit trägt dazu bei, wei-tere Arbeitsplätze auch mit jüngeren Menschen besetzenzu können. Unser Gesetz zum Abbau der ArbeitslosigkeitSchwerbehinderter wird eine besonders benachteiligteGruppe auf dem Arbeitsmarkt stärken.
Ich könnte das noch entsprechend fortsetzen. Allenhier im Hause unterstelle ich einfach, dass sie bei etwasgutem Willen erkennen können, dass wir mit einer Sen-kung der Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung un-sere erfolgreiche Politik gefährden würden.
Das wollen wir nicht. Die Bürgerinnen und Bürger bitteich noch um etwas Geduld, wenn es mit der Senkung derBeitragssätze noch nicht so schnell geht, wie wir uns diesalle sicherlich wünschen. Das ist wie bei der Rentenversi-cherung.
An die Adresse der Union sage ich: Ein Polster von20 Milliarden DM, ein Fünftel der Gesamtausgaben derBundesanstalt für Arbeit, zu konstatieren halte ich für un-verantwortlich. Sie werden uns nicht dazu bringen, HerrFuchtel, Ihnen auf den Leim zu gehen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe nunmehr
dem Kollegen Dirk Niebel für die F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Wir freuen uns über jeden ein-zelnen Menschen, den wir weniger in der Arbeitslosen-statistik haben. Das ist völlig klar. Aber tun Sie doch bittenicht so, Herr Staatssekretär, als wenn dies das Ergebnisglorreicher Regierungspolitik wäre.
Wir haben allein aufgrund der demographischen Ent-wicklung jedes Jahr 200 000Arbeitslose weniger. Sie hät-ten unter Ihrem Stein sitzen bleiben können und sich garnicht zu bewegen brauchen, diesen Rückgang hätten wirgenauso gehabt.
Darüber hinaus haben wir in einem exportorientiertenLand aufgrund des schwachen Euros und seiner Außen-wirkung im Moment glücklicherweise auch mehr Arbeits-plätze. Das ist selbstverständlich. Die positiven Effektespüren wir jetzt. Aber nichtsdestoweniger verwechselnSie immer noch das Geld der Bundesregierung mit demGeld der Beitragszahler.
Sie sind zögerlich und zaghaft. Sie haben jetzt genü-gend Spielräume, um die Beiträge zu senken.
– Ich habe selbstverständlich schon Beiträge gezahlt, Kol-lege Gilges. –
Sie haben jetzt die Möglichkeiten, die Beiträge um0,5 Prozentpunkte zu senken, und zwar sofort und nichterst im kommenden Jahr. Anfang des kommenden Jahreskönnen Sie den Satz um weitere 0,5 Prozentpunkte sen-ken. Ich werde Ihnen vorrechnen, wie das möglich ist.Sie haben das Sofortprogramm gegen die Jugendar-beitslosigkeit aufgelegt, das sich mit Menschen beschäf-tigt, die noch niemals Beiträge eingezahlt haben, und esaus der Finanzierung durch den Gesetzgeber in dieFinanzierung durch die Bundesanstalt mit 2 Milliar-den DM überführt. Das heißt, es wird durch die Beitrags-zahler finanziert.
Darüber hinaus haben Sie die Kosten für die Strukturan-passungsmaßnahmen und weitere arbeitsmarktpolitischeLeistungen in Höhe von 2,35 Milliarden DM aus demHaushalt von Herrn Riester herausgelöst und in den Haus-halt der Bundesanstalt überführt. Das nennt Herr Riester– mit Verlaub gesagt – im Rahmen der Haushaltskonsoli-dierung auch noch „sparen“. Ich verstehe unter Sparen et-was anderes.
Allein die nicht realisierten Forderungen der Bundes-anstalt für Arbeit in der Größenordnung von 4 MilliardenDM würden einen großen Spielraum schaffen. Wenn Sienoch dazu berücksichtigen, dass die Arbeitslosenzahlen indiesem Jahr um 250 000 gesunken sind und wenn ich auchnur 1 Milliarde DM an Einsparungen für jeweils 100 000weniger Arbeitslose ansetzen würde, dann kommen wirhier noch mal auf 2,5 Milliarden DM. Zusammen mitdem, was ich gerade genannt habe, macht das mehr als14 Milliarden DM für die Bundesanstalt. Das ist mehr alsein Beitragspunkt.
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Parl. Staatssekretär Gerd Andres11811
Noch nicht erwähnt habe ich hierbei, dass FrauEngelen-Kefer im Namen des DGB oder der Bundesan-stalt – ich weiß nicht, für wen sie in dem Interview ge-sprochen hat – am 9. Oktober im „Handelsblatt“ fest-gestellt hat, dass sich weitere 6 Milliarden DM versiche-rungsfremde Leistungen für Jugendliche, die noch nieeingezahlt haben, im Haushalt der Bundesanstalt finden.Die überdimensionierte Arbeitsmarktpolitik mit23 Milliarden DM habe ich nicht angesprochen. Ich habenicht angesprochen, dass auf der einen Seite durch sin-kende Beitragszahlungen, auf der anderen Seite durch dieKaufkraft von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dieInvestitionsbereitschaft und die Schaffung von Arbeits-plätzen natürlich erhöht werden. Dadurch zahlen wiedermehr Beitragszahler ein, sodass noch mehr Spielräumefür Entlastungen geschaffen werden.
Ich habe nicht angesprochen, dass sich das Arbeitslo-sengeld von der Versicherungsleistung mehr und mehr zueiner Daueralimentierung entwickelt hat und man selbst-verständlich auch Spielräume schaffen kann, indem manhier den Leistungsbezug durch Begrenzung auf 12 bis 18Monate neu regelt.Ich habe nicht angesprochen, dass Herr Jagoda imnächsten Jahr mit mindestens 300 000Arbeitslosen weni-ger rechnet. Und ich habe nicht die Leistungsausweitungbei den Sonderzahlungen, wie Weihnachts- und Urlaubs-geld, angesprochen. Es macht überhaupt keinen Sinn,dass Sie Leistungen ausweiten, anstatt die Sonderzahlun-gen von den Beiträgen freizustellen;
kein einziger Leistungsempfänger hätte auch nur eineneinzigen Pfennig weniger bekommen, als das heute derFall ist. Vielmehr hätten Sie Spielräume geschaffen undden Menschen das Geld zurückgegeben. Das wäre sinn-voll gewesen.Ich habe auch noch nicht angesprochen, dass Sie beider Bundesanstalt für Arbeit neue Wege beschreiten müs-sen. Sie müssen zumindest in Modellprojekten versuchen,den Arbeitsämtern vor Ort Globalhaushalte zuzuweisen,mit denen sie inklusive des Personalhaushaltes den Ar-beitsmarktausgleich vor Ort regeln können, weil die Allo-kation tatsächlich nur regional richtig funktionieren wird.Liebe Kollegin Dückert, wenn ich mir die Diskussionbei den Grünen anschaue, kann ich feststellen, dass Sievielleicht im Jahre 2002 die Beiträge um eventuell0,8 Prozentpunkte senken wollen. Aber es ist offenkun-dig, was Sie damit vorhaben: 2002 sind Bundestagswah-len; die Grünen wollen Geschenke verteilen, anstatt jetztdie Menschen in diesem Land, Arbeitnehmer und Arbeit-geber, zu entlasten und Spielräume für neue Beschäfti-gung zu schaffen.Akzeptieren Sie endlich, Kollege Andres, dass dieMenschen in diesem Land besser mit ihrem eigenen Geldumgehen können, als es der Staat kann.
Das schafft den Menschen Luft und den Investoren dieMöglichkeit, Arbeit zu schaffen. Es sichert zukünftigeBeitragszahler in den sozialen Sicherungssystemen
und es schafft neue Arbeitsplätze.Das ist die Politik, die Sie in der Zukunft beschreitenmüssen. Dann können Sie den Arbeitsmarktausgleichvielleicht schaffen. Wir sind dann gerne bereit, Sie an Ih-rer Leistung zu messen und nicht an dem Umstand, dassdie Menschen in diesem Land früher aus dem Arbeits-markt ausscheiden und etwas älter geworden sind.Tun Sie was! Machen Sie Arbeitsmarktpolitik! RuhenSie sich nicht auf demographischen Zahlen aus!Vielen Dank.
Die Kollegin Dr.
Thea Dückert spricht nunmehr für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbst-verständlich ist es so, dass die Senkung der Lohnneben-kosten ein ganz wesentlicher Faktor für die Entspannungder Beschäftigungssituation ist.
Dass wir die Sache ernst nehmen und dass wir etwas ma-chen, will ich Ihnen vorführen.Schauen Sie sich die Zahlen noch einmal an – HerrNiebel, sie sind gerade für Sie, aber auch für dieCDU/CSU, besonders peinlich –: Vom Jahre 1990 biszum Jahre 1998, also innerhalb von acht Jahren, sind dieLohnnebenkosten von 35,5 Prozent auf 42,1 Prozent um6,6 Prozent gestiegen.
Im Jahre 1991 stiegen allein die Beiträge der Arbeitslo-senversicherung um 2,5 Prozent. Wir haben die Lohnne-benkosten in unserer Regierungszeit bereits um 1 Prozent
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Dirk Niebel11812
gesenkt. Ich finde, da gibt es für Sie keinen Grund, hierden Mund zu spitzen und zu versuchen, zu pfeifen.
Sie haben die Entwicklung zu verantworten. Herr Fuchtel,bei uns ist es nicht so, dass wir nur in ein Horn blasen, wieSie meinen. Wir haben schon längst gehandelt. Das ist dieWahrheit.
Natürlich geht es darum, der positiven Entwicklung amArbeitsmarkt, die durch das Gesamtkonzept der Politikder Bundesregierung in Gang gesetzt worden ist, eineweitere Senkung der Steuern und Abgaben folgen zu las-sen. Dass wir diese positive Beschäftigungsentwicklunghaben – Herr Niebel, Sie kennen die Zahlen sehr wohl –,
hat nicht einfach nur mit der demographischen Entwick-lung zu tun. Dass wir diese positive Beschäftigungsent-wicklung haben, ist eindeutig die Frucht einer Politik, dieauf beides gesetzt hat, auf Abgabensenkung und auf Steu-ersenkung, einer Politik, die versucht, aus Haushalts-, Fi-nanz- und Arbeitsmarktpolitik ein Gesamtkonzept zu ent-wickeln.
Die vorsichtigsten Prognosen zeigen uns, dass wir inden nächsten Jahren mit einer weiteren Entspannung amArbeitsmarkt rechnen dürfen. Aber, Herr Fuchtel, es istdoch so, dass Sie uns zum Beispiel bei den Einmalzahlun-gen eine Last hinterlassen haben, mit der Folge, dass wirin diesem und im nächsten Jahr Beiträge an die Beitrags-zahlerinnen und Beitragszahler zurückgeben müssen. Daswerden wir tun, indem wir die Einmalzahlungen ausglei-chen. Wir zahlen also Gelder zurück, die Sie – das istdurch das Bundesverfassungsgericht verbrieft – diesenBeitragszahlerinnen und Beitragszahlern in verfassungs-widriger Weise weggenommen haben.
Ich sage Ihnen noch eines: Es ist ein Irrglaube, anzu-nehmen, dass es bei einer positiven Arbeitsmarktentwick-lung, wie wir sie jetzt haben, möglich ist, gleichzeitig dieaktiven Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik zu reduzie-ren. Wenn wir uns die strukturellen Probleme beispiels-weise im Ost-West-Gefälle und bei der Jugend-arbeitslosigkeit ansehen, müssen wir erkennen, dass wirMaßnahmen wie das JUMP-Programm, das wir sofortaufgelegt haben, weiterführen müssen. Wenn wir dasnicht täten, säßen wir nämlich dem Irrglauben auf, den Siehier verbreiten: dass die positive Entwicklung schon An-lass bieten würde, sich aus der Arbeitsmarktpolitikzurückzuziehen. Aber das ist nicht richtig. Wir müssenbeides tun, wir müssen eine Doppelstrategie fahren,
wir müssen die positive Beschäftigungsentwicklung ei-nerseits zur Beitragsentlastung und andererseits für Maß-nahmen nutzen, die insbesondere Langzeitarbeitslosenund jugendlichen Arbeitslosen helfen.
Es ist und bleibt das richtige Ziel, mit der Senkung derLohnnebenkosten weiterhin eine positive Entwicklungauf dem Arbeitsmarkt zu unterstützen.
Das ist der Beitrag, den die Arbeitsmarktpolitik leistenkann. Das ist insbesondere für die Ausdehnung der Nach-frage im Bereich der gering Qualifizierten, die ein niedri-ges Einkommen haben, sowie im Bereich der Teilzeitar-beit notwendig.
Deswegen – das sage ich ganz deutlich – stehen wirweiterhin zu dem Ziel,
die Lohnnebenkosten in dieser Legislaturperiode, bis zumJahre 2002, auf unter 40 Prozent zu senken. Der Spiel-raum hierzu liegt in der Arbeitslosenversicherung. Ich binauch weiterhin davon überzeugt, dass die Arbeits-marktentwicklung im Jahre 2002 eine Beitragssenkungvon ungefähr 0,8 Prozent zulassen wird. Um welche Pro-zentzahl sich der Beitrag dann letztendlich senken lässt,wird sich zeigen, wenn sich die Entwicklung so stabili-siert, wie wir das hoffen. Aber das Ziel, das wir uns vor-genommen haben, nämlich die Beiträge unter 40 Prozentzu senken, verfolgen wir weiterhin.Ich danke Ihnen.
Für die Fraktion der
PDS spricht der Kollege Dr. Klaus Grehn.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Es ist sowohl meine feste Überzeu-gung als auch die meiner Fraktion, dass sich dieses Themanicht für politische Grabenkämpfe eignet.
Herr Kollege Fuchtel, Sie haben pathetisch festgestellt,man müsse den Arbeitnehmern in die Augen schauen.Schauen Sie den Arbeitslosen in die Augen und reden Siedann aus deren Sichtweise!Herr Kollege Niebel, wenn Sie von einer überdimen-sionierten Arbeitsmarktpolitik sprechen, sollten Sie dasaus Ihrer Erfahrung als Arbeitsmarktvermittler den Ar-beitslosen sagen, deren einzige Hoffnung und Chanceoftmals der Arbeitsplatz auf dem zweiten Arbeitsmarktist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Dr. Thea Dückert11813
Angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt, dasheißt des Umfangs der offenen und der verdeckten Ar-beitslosigkeit sowie der Teilzeitarbeitslosigkeit – Sie tunja so, als ob auf dem Arbeitsmarkt der Wohlstand ausge-brochen wäre –, und angesichts der seit Jahren abge-schmolzenen Absicherung der Betroffenen gibt es keinenAnlass, über die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosen-versicherung zu diskutieren. Soweit es – aus unterschied-lichen Gründen – die erfreuliche Senkung der Arbeitslo-senquote gibt – Kollege Fuchtel und Kollege Niebel, Siehaben sich dazu geäußert –, gilt immer noch: EineSchwalbe macht noch keinen Sommer. Die saisonale Be-lebung der Arbeitslosigkeit – sprich: der Anstieg der Ar-beitslosigkeit – steht vor der Tür. Ich erinnere mich sehrgenau an die Einschätzung des ehemaligen Präsidentender Bundesanstalt für Arbeit, Herrn Franke, der davonsprach, dass der Winter den Arbeitsmarkt im eisigen Griffhat. Der nächste Winter kommt bestimmt.
Hinzu kommt, dass im Osten die Signale am Arbeits-markt auf Rot stehen. Bisher ist der Osten an der Senkungder Arbeitslosigkeit kaum beteiligt gewesen. Stattdessenvernehmen wir Ankündigungen von weiteren Entlassun-gen. Wir wissen, dass es einen sich selbst tragenden Auf-schwung nicht gibt.Die Einnahmen aus der Arbeitslosenversicherung wer-den angesichts dieser Entwicklung dringend gebraucht,um die Lohnersatzleistungen und die dringend erforderli-chen Maßnahmen der Arbeitsförderung zu finanzieren.Wir sehen eher ein Loch in der Finanzierung durch dieBundesanstalt für Arbeit, und zwar auch wegen der Strei-chung der Bundeszuschüsse an die Bundesanstalt.Für den Fall, dass die von uns erwünschte, aber nichtabsehbare Sensation der nachhaltigen Verbesserung aufdem Arbeitsmarkt eintreten sollte, sehen wir dringendenHandlungsbedarf bei der Rücknahme der sozialen Grau-samkeiten – das ist ein Terminus, der von beiden Seitendes Hauses verwendet worden ist –
der vergangenen und gegenwärtigen Regierungskoalition.Die Liste ist lang, sehr lang. Sie reicht von der Kürzungdes Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe über dieStreichung der originären Arbeitslosenhilfe, die jährlicheKürzung der Arbeitslosenhilfe, Senkungen der Leistun-gen für Teilnehmer an Maßnahmen der Arbeitsförderungbis zur Beendigung der Zahlung von Sachkostenzuschüs-sen.
Jedes Nachdenken über Veränderungen im Haushaltder Bundesanstalt für Arbeit, gleich welcher Art, mussvon dem Ausmaß der Betroffenheit und der realen Situa-tion dieser Menschen ausgehen. Das ist erfolgverspre-chender und – das ist unsere Überzeugung – auf Dauerauch finanziell einträglicher, als die Achterbahn, das Aufund Ab der Beitragssätze zu besteigen. Sie wissen so gutwie ich – die deutsche Einheit hat es bewiesen –: Es ist re-lativ einfach, Beiträge zu senken. Das ist den Leutenleicht plausibel zu machen. Aber es ist schwer, die Bei-tragssätze erneut anzuheben. Machen Sie nichts vorzeitig.
– Das ist kein Abkassieren. Bisher hat jeder Arbeitnehmerdas noch zahlen können. Aber ich verstehe schon IhreAuffassung als Mitglied der Partei der Besserverdienen-den, Herr Kollege Niebel.
– Sie betreiben jetzt eine bessere Wirtschaft; das sehe ich.
Wenn Sie dem Gedankengang folgen können, dassman einen anderen Denkansatz verfolgen sollte, dannwerden Sie noch lange Zeit nicht über eine Absenkung derBeiträge nachdenken können.Nicht bekannt sind auch die unterschiedlichen Wir-kungen von Entlastung und Belastung. Sollten die Vor-schlagenden der Auffassung anhängen, dass eine Senkungder Lohnnebenkosten Arbeitsplätze schafft, so kann ichnur auf das Leben verweisen: 20 Jahre lang haben Sie esversucht. 20 Jahre lang haben Sie die Unternehmen sub-ventioniert,
haben Lohnkostenzuschüsse gezahlt mit dem Ergebnis,dass die Arbeitslosigkeit kontinuierlich gestiegen ist. Ichverstehe sehr gut, dass die gegenwärtige Regierungsko-alition diesen Weg nicht beschreiten will.
– Eine sehr sachliche Bemerkung. Ich bedanke mich.
Ich gebe nun der Kol-
legin Renate Jäger für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Kolleginnen und Kollegen! Fast alle im DeutschenBundestag vertretenen Parteien haben bereits in der ver-gangenen Legislaturperiode massivst die Senkung derLohnnebenkosten angemahnt und eingefordert.
Die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände habendiese Forderung gleichermaßen erhoben, und zwar in derErwartung und in der Hoffnung, dass dadurch mehr Be-schäftigung angeregt wird.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 2000
Dr. Klaus Grehn11814
Die CDU/CSU und die F.D.P., die 16 Jahre lang dieMöglichkeit hatten, die Lohnnebenkosten zu senken, re-deten zwar davon, aber handelten nicht.
Wir, die SPD, waren damals in der Minderheit und konn-ten nicht handeln.
– Ja, nun haben wir die Mehrheit. – Wir haben in den letz-ten zwei Jahren bereits vielfältige Maßnahmen ergriffen,die wesentlich zur Senkung bzw. zur Stabilisierung derLohnnebenkosten beigetragen haben. Selbst Letzteres ha-ben Sie nicht geschafft.
Die neue Mehrheit hat also nicht nur geredet, sondernauch gehandelt. Sie hat ihre Maßnahmen zur Senkung derLohnnebenkosten gegen die Stimmen derer durchgesetzt,die noch vor drei Jahren hätten handeln können. Ausge-rechnet die gleiche Seite des Hauses erhebt heute wiederdie Forderung, die Lohnnebenkosten über die Beiträgezur Arbeitslosenversicherung zu senken. Natürlich ver-folgen auch wir langfristig dieses Ziel. Aber man kanndies nicht tun, ohne die reale Situation auf dem Arbeits-markt außer Acht zu lassen.
Wir haben real einiges vorzuweisen. Die Situation hatsich auch real verbessert. Meine Kollegen wiesen bereitsdarauf hin, dass der Bundesanstalt für Arbeit erstmals seit1987 kein Bundeszuschuss, der aus Steuergeldern finan-ziert wird, gewährt werden muss. Das ist ein Ergebnis undein Erfolg der positiven Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- undSteuerpolitik dieser Bundesregierung.Bedenken wir aber auch: Die Arbeitsmärkte in Ost undWest sind noch gespalten. Sie entwickeln sich zum Teilauseinander – so bedauerlich das auch ist; Sie kennen das –:Während die Zahl der Arbeitslosen im Westen sinkt, stag-niert bzw. steigt die Zahl der Arbeitslosen, insbesonderedie der jungen Leute, im Osten. Dies ist eine Folge desUmstrukturierungsprozesses, der bei weitem noch nichtabgeschlossen ist. Während sich die Beschäftigungslageim Osten im gewerblichen Bereich – darauf habe ich kürz-lich in meiner Rede zum Haushalt 2001 hingewiesen –deutlich verbessert hat, müssen im Bau- und Verwal-tungsbereich erhebliche Überkapazitäten abgebaut wer-den. In den letzten acht Jahren Ihrer Regierungszeit habenSie den Umstrukturierungsprozess nicht zum Erfolg füh-ren können. Deswegen kann nach zwei Jahren auch denNachfolgern diesbezüglich kein Vorwurf gemacht wer-den.Natürlich ist es bitter, dass viele junge Leute im Bau-bereich von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Bitter ist esauch, dass junge Leute aufgrund des Abbaus von Überka-pazitäten im Verwaltungsbereich auch dort keine Be-schäftigung finden. Aber genau deshalb darf die aktiveArbeitsmarktpolitik nicht zurückgefahren werden.Mir ist schon bewusst, dass es das erklärte Ziel einigerUnionspolitiker ist, dies doch zu tun; zum einen deshalb,weil sie generell gegen eine aktive Arbeitsmarktpolitiksind und den zweiten Arbeitsmarkt nicht fördern wollen– sie sagen das mitunter nicht laut –,
und zum anderen deshalb, weil sie die Effektivität einzel-ner Maßnahmen infrage stellen. Es ist natürlich in Ord-nung, wenn man den Sinn der einen oder anderen Maß-nahme hinterfragt: Ist sie günstiger oder ungünstigerhinsichtlich der Chancen auf Eingliederung in den erstenArbeitsmarkt?Effektivität und Zielgenauigkeit sind zwar ohnehinständig zu überprüfen, gegebenenfalls zu verändern oderauch anzupassen. Aber wenn nun einmal der erste Ar-beitsmarkt insbesondere im Osten zu wenige Beschäf-tigungsmöglichkeiten bietet und wenn wettbewerbsfähigeArbeitsplätze nicht vorhanden sind, dann ist eine Maß-nahme noch immer mehr wert als Vandalismus auf derStraße oder Resignation mit einem Ende in Alkohol undDrogen.
Die Verstetigung der aktiven Arbeitsmarktpolitik aufhohem Niveau und der Beitrag des BMA-Haushalts zurHaushaltskonsolidierung lassen eine Beitragssenkung für2001 nicht sinnvoll erscheinen.Eine Beitragssenkung zum jetzigen Zeitpunkt könntesich sogar kontraproduktiv auf die weitere Arbeitsmarkt-entwicklung auswirken. Sie als Opposition sollten sichfreuen, dass die Verbindung von guter, qualitätsvoller Ar-beitsmarktpolitik mit Haushaltskonsolidierung so erfolg-reich gelungen ist.Danke.
Der Kollege Heinz
Schemken spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Arbeitsmarkt lebt in denletzten Monaten von Sondermeldungen. Das nehmen wirzur Kenntnis. Diese Sondermeldungen müssen wir abergründlichst hinterfragen. Das ist wichtig, denn es wurdedeutlich, dass der Herr Staatssekretär auf eine Palette vonAngeboten zurückgriff, die noch nicht wirksam sind.Vorab, damit ich nicht missverstanden werde: Wirwaren uns immer darüber einig, dass jeder einzelne Ar-beitslose ein Schicksal ist. Es kommt darauf an, jeden ein-zelnen Arbeitslosen in Arbeit zu bringen. Aber der Ar-beitsmarkt ist nicht nur die statistische Größe der
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Renate Jäger11815
Arbeitslosen, sondern der Arbeitsmarkt ist entscheidenddanach zu bewerten, wo neue Arbeitsplätze entstehen. Dieentstehen durch die Wirtschaft, durch den Handel, durchdas Handwerk und durch die Dienstleistungsangebote.Hier sieht es eben nicht so rosig aus. Das müssen wir,wenn wir ehrlich sind, zugeben.Wenn die letzten drei Jahre seit 1998 bewertet werden,so stellen wir fest, dass im Jahr 1998 ein positiver Ansatzvorhanden war. Es gab nämlich einen Zuwachs an Ar-beitsplätzen von 350 000. Wenn man im Vergleich dazuden Zuwachs an Arbeitsplätzen des letzten Jahres von120 000 nimmt und das unselige 630-Mark-Gesetz einbe-zieht, ist festzustellen: Das war eine Nullrunde.
Das ist lediglich eine statistische Größe.
Die sinkenden Arbeitslosenzahlen werden von der Regie-rung als Verdienst ihrer Politik reklamiert. Das ist falsch.
– Ich weiß, dass das nicht passt.
Der Rückgang der Arbeitslosenquote beträgt bei uns1 Prozent. Vergleichen Sie das einmal mit anderen Län-dern in Europa – ob Sie es hören wollen oder nicht –:Frankreich 2 Prozent, Spanien 4 Prozent, Finnland 2 Pro-zent.In einer Darstellung der Beschäftigungspolitik durchdie Bertelsmannstiftung – die nicht in dem Verdachtsteht, für die CDU/CSU als Hauspostille zu schreiben –heißt es, dass die Bundesrepublik Deutschland im Wett-bewerb mit vergleichbaren Ländern – die Bewertung gehtvon 0 bis 10 – an 15. Stelle mit 5,8 liegt. Das ist eine Tat-sache. Das ist ein Bericht der Bertelsmannstiftung ausdem Jahr 2000. Hätten wir nicht die demographische Ent-wicklung, hätten wir gar keine Entlastung. Denn es gibtkeinen Millimeter Bewegung bei der Beschäftigung – dasist das Entscheidende –
und auch nicht in der Arbeitslosenzahl. Da der Generatio-nenvertrag aber letztlich von der Beschäftigungslage bzw.der Zahl der Arbeitslosen abhängig ist, gilt das Versiche-rungsprinzip in jeder Hinsicht: bei der Gesundheit, bei derRente, bei der Arbeitslosenversicherung und auch bei derPflege.Hinzu kommt, Herr Staatssekretär – hier beißt keineMaus den Faden ab –, dass Sie bei dieser Lage, die sichim finanziellen Bereich bei der Bundesanstalt für Arbeitdurchaus positiv darstellt, hergehen und verlagern:Langzeitarbeitslosenprogramm mit 750 Millionen DM,Strukturanpassungsprogramm Ost mit 1,7 Milliar-den DM. Sogar die 2 Milliarden DM für das JUMP-Pro-gramm verlagern Sie aus dem Bundeshaushalt, der durchalle Steuerzahler finanziert wird, in den Haushalt derBundesanstalt für Arbeit, der durch die Beitragszahler fi-nanziert wird.Ich stelle mir vor, dass hier die Redner Andres, Dreßlerund Schreiner stehen und so argumentieren, wie sie esseinerzeit taten, als es darum ging, die versicherungs-fremden Leistungen aus den Versicherungssystemen he-rauszuhalten.
– Ja, das haben wir gemacht.
– Sie wissen genau, dass Sie jetzt wieder mit 4,4 Milliar-den DM die Arbeitslosenversicherung belasten. Sie gehensogar mit der aktiven Arbeitsmarktspolitik in den Haus-halt der Bundesanstalt, wodurch Sie die Beitragszahlermit weiteren 5 Milliarden DM belasten. Die alte Regie-rung hatte diese Maßnahmen zu Recht in den allgemeinenHaushalt eingestellt.Noch einmal zur Vergangenheit: Es gab in den16 Jahren unserer Regierung wirklich einen beträchtli-chen Anstieg der Beschäftigtenzahl. Als wir die wirk-same Steuerreform 1986/90 durchführten, ist die Zahlder Beschäftigten in der alten Bundesrepublik von 26Mil-lionen auf 29 Millionen erhöht worden.
Jeder weiß, dass dann die Wiedervereinigung kam; wirsollten uns hier nichts vormachen. Wer wollte sich zu je-ner Zeit den Problemen verschließen? Wir haben dieseProbleme gemeinsam gelöst; Sie, Frau Jäger, haben es ge-rade noch einmal zum Ausdruck gebracht. Es ist imGrunde genommen schon ein Trick, jene Probleme der al-ten Bundesregierung anzulasten.
Herr Kollege
Schemken, Sie müssen jetzt leider zum Schluss kommen.
Wir werden das nicht
mitmachen und deshalb darauf bestehen, dass die Bei-
träge zur Arbeitslosenversicherung gesenkt werden, da-
mit die Lohnnebenkosten sinken. Nur so entstehen neue
Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Schönen Dank.
Für die SPD-Frak-
tion spricht die Kollegin Andrea Nahles.
Herr Präsident! Meine Kolle-ginnen und Kollegen! Haben wir wirklich gemeinsam dasZiel, die Arbeitslosigkeit auf Dauer zu senken? Wenn ichmir diese Debatte anhöre, bekomme ich Zweifel. Was be-treiben Sie denn mit dieser Debatte? Zum einen erzeugenSie bewusst falsche Hoffnungen bei den Beitragszahlern,
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Heinz Schemken11816
zum anderen verunsichern Sie die Leistungsempfängerder aktiven Arbeitsmarktpolitik.
– Ja, natürlich. Zum Dritten entziehen Sie den Arbeitsäm-tern das, was sie am dringendsten brauchen, nämlich einelangfristige Perspektive für ihre Planungen.
Das alles machen Sie im alten Stil: rein in die Kartof-feln, raus aus den Kartoffeln. Sie haben in der Vergan-genheit die Arbeitsmarktspolitik immer dann vernachläs-sigt, wenn keine Wahlen vor der Tür standen, und siekurzfristig verstärkt, wenn Wahlkampf war. Dieser Politikhaben wir ein Ende gesetzt.
Wir haben zwei Ziele. Wir werden einerseits die allge-meine Arbeitslosigkeit weiter absenken; ich bin da sehroptimistisch. Andererseits werden wir jene Kontinuitätund klare Linie beibehalten, die wir mit der Verstetigungder Arbeitsmarktpolitik in den letzten zwei Jahren schonbewiesen haben.
Ich will Ihnen Folgendes ganz klar sagen: Sie reden dieErfolge herunter. Aber allein im letzten Monat sind 96 000Menschen weniger arbeitslos gewesen.
Wir haben uns ganz konkret um benachteiligte Gruppengekümmert. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen – ein Sor-genkind von uns allen – ist, wie Walter Riester heute imAusschuss berichtet hat, durch unsere zielgruppenorien-tierte Schwerpunktsetzung im letzten halben Jahr um180 000 zurückgegangen.
Dann haben wir das Programm zur Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit aufgelegt. Im Westen haben wir esgeschafft, die Jugendarbeitslosigkeit um 17 Prozent abzu-bauen. Besonders viel Freude macht mir, dass wir das ein-zige Land in Europa sind, in dem junge Frauen in gerin-gerem Maße, nämlich um 1 Prozent weniger, als jungeMänner arbeitslos sind. In allen anderen europäischenLändern sind junge Frauen mehr, zum Teil um 10 Prozentmehr, von Jugendarbeitslosigkeit betroffen. Das ist ge-zielte Arbeitsmarktpolitik, die wir fortführen werden.Aber – jetzt kommen wir zu dem entscheidendenPunkt –: Leider können wir keine Entwarnung geben. Ichhabe von den Erfolgen gesprochen. Doch trotz unsererBemühungen ist die Jugendarbeitslosigkeit im Osten be-dauerlicherweise um 9 Prozent gestiegen. In der mittlerenAltersgruppe besteht die Tendenz zur Verfestigung derArbeitslosigkeit. Wer jetzt im Rahmen unserer Arbeits-marktpolitik auf die Bremse tritt und nicht durchstartet,der nimmt die Verfestigung von Arbeitslosigkeit bewusstin Kauf.
Das ist die Quintessenz Ihrer Forderungen.Ich muss sagen: Mein Verständnis für die Oppositionhält sich wirklich in Grenzen.
Wir setzen unsere klare Linie fort. Wir werden die Bei-tragssätze erst dann senken, wenn wir es verantwortenkönnen.
Ich erteile dem Kol-
legen Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Lohn-nebenkosten müssen jetzt gesenkt werden, nicht irgend-wann einmal.
Bei der Arbeitslosenversicherung besteht ein Spielraumin Höhe von einem halben Prozent.
Nehmen Sie nicht immer wieder einen langen Anlauf – inIhren Wahlprogrammen kündigt der Bundeskanzler dieSenkung der Lohnnebenkosten an –, sondern springen Sieendlich! Herr Staatssekretär Andres, ich erkläre Ihnen,warum Sie es gefahrlos tun können. Lehnen Sie sich ein-mal entspannt zurück
und stellen Sie sich Folgendes vor: Am 12. Oktober desJahres 2000 starten Sie, Ihr Arbeitsminister Riester undder Bundeskanzler in die Toskana. Sie bleiben dort einJahr, bis zum 12. Oktober des Jahres 2001.
Sie verbringen dort den Herbst und das Frühjahr; Sie ge-nießen den Sommer, trinken Wein, rauchen eine Zigarre,lehnen sich zurück und erfreuen sich Ihres Lebens – eineschöne Vorstellung. Dann kommen Sie am 12. Oktoberdes Jahres 2001 zurück. Ich garantiere Ihnen Folgendes:Die Zahl derjenigen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügungstehen, ist um mindestens 230 000 geringer geworden.
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Andrea Nahles11817
Warum ist das so? Das liegt daran, dass immer mehrMenschen in Deutschland beschlossen haben, keinenNachwuchs zu bekommen. Es werden immer wenigerKinder geboren,
und die nachfolgende Generation wird – das steht schonjetzt fest – um ein Drittel kleiner als die jetzige Genera-tion sein. Aus diesem Grund wird sich der Arbeitsmarktweiter entspannen. Das geschieht völlig unabhängig vonIhrer Arbeitsmarktpolitik.
Weil die Zahl der Arbeitslosen ohne Ihr Zutun geringerwird, Herr Kollege Dreßen, werden natürlich auch weni-ger Ausgaben für die Arbeitslosenversicherung notwen-dig. Es ist klar: Weniger Arbeitslose bedeuten wenigerAusgaben der Bundesanstalt für Arbeit.
Der Spielraum, der sich damit eröffnet, ist beträchtlich.Die Kollegen haben hier schon eine Reihe von Gründenbenannt. Die wichtigsten möchte ich wiederholen, umIhnen zu zeigen, welche Möglichkeiten Sie haben:100 000 Arbeitslose bedeuten, gesamtvolkswirtschaftlichbetrachtet, 3 Milliarden DM weniger. Schon im laufendenJahr hätte die Bundesanstalt für Arbeit, wenn sie genaurechnete, den Zuschuss von 7 Milliarden DM gar nichtnötig; vielmehr benötigte sie nur einen Zuschuss von3 Milliarden DM.
Gleichzeitig werden die Einnahmen auch in diesem undim nächsten Jahr um 2,5 bis 4 Milliarden DM steigen.Was macht die Bundesregierung nun mit diesem Geld-segen? Das Geld wird nicht denjenigen zurückgegeben,die einen Anspruch darauf haben, nämlich den in der Ar-beitslosenversicherung Versicherten; stattdessen werdendie eingezahlten Beiträge zur Ausgabenersparnis desHerrn Eichel verwandt. Die Versicherten sind die Duka-tenesel des Herrn Eichel.
Da sind die 2 Milliarden DM aus dem Programm JUMP.Da sind die 750 Millionen DM aus dem Langzeitarbeits-losenprogramm, und ab dem kommenden Jahr kommenGelder aus dem Strukturanpassungsprogramm Ost dazu.Der Kumpel, der sich jetzt krumm legt und in dieArbeitslosenversicherung einzahlt, zahlt letztendlich eineArt Zusatzsteuer an Herrn Eichel, weil dieser die eigent-lich notwendigen Zahlungen aus dem Steuersäckel nichtherausrückt. Das ist es!
Deshalb sage ich Ihnen, Herr Andres: Geben Sie den27,7 Millionen Versicherten die Beiträge zurück, die ih-nen gehören. Sie gehören nicht Ihnen, sondern den Versi-cherten.
Ich garantiere Ihnen eines: Sie werden die Ökosteuernicht durchhalten.
Der Fraktionsvorsitzende Merz hat Ihnen eine entspre-chende Wette angeboten. Ich könnte Ihnen bezüglich derSenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ge-nauso eine Wette anbieten. Sie werden die Arbeitslo-senversicherungsbeiträge senken, aber Sie wollen es erstim Jahre 2002 als Wahlgeschenk tun. Machen Sie es jetzt!Setzen Sie es schon im kommenden Jahr um! Das ist sau-ber und gerecht.
Nun spricht für die
SPD-Fraktion der Kollege Walter Hoffmann.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ichdenke, es gibt für uns alle heute Anlass zur Freude. Wirhaben in der Tat eine neue Qualität der Diskussion. Jahre-lang diskutierten wir über eine Erhöhung der Beiträge zurSozialversicherung. Jahrelang diskutierten wir über eineKürzung von Leistungen bzw. eine Einschränkung vonLeistungen. Heute sind wir aufgrund der günstigen Situa-tion am Arbeitsmarkt in der Lage, endlich über eine Sen-kung von Beiträgen zu diskutieren. Das hat doch für unsalle eine neue Qualität, und das ist auch gut so.
Sie wissen, dass sich seit unserem Regierungsantritt inder Tat einiges positiv verändert hat. Die Arbeitslosenzahlim September 1998 betrug 3,9 Millionen, heute sind es3,684 Millionen. Die Quote sank von 10,3 Prozent auf9 Prozent – ein Minus von 1,3 Prozent. Auch das ist un-term Strich eine erfreuliche Entwicklung.Ihnen, Herr Schemken, möchte ich eines noch einmalsagen, weil ich schon sehr genau darauf achte, ob in denZahlen der Erwerbstätigen bzw. der sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten auch die geringfügig Beschäftig-ten mit enthalten sind. Fakt ist: Bei den Erwerbstätigenhaben wir 0,5 Millionen mehr als vor einem halben Jahr;es sind nun 38,55 Millionen Erwerbstätige.
Bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten habenwir eine Steigerung auf 27,9 Millionen – ohne die 630-Mark-Versicherungsverhältnisse – zu verzeichnen. Auchdas sind 0,5 Millionen mehr.
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Johannes Singhammer11818
Auch das ist eine erfreuliche Entwicklung. Wir sind hierwirklich auf einem guten Weg.Sie haben es nicht geschafft – das muss man einfachobjektiv festhalten; ich bewerte das zunächst gar nicht –,während Ihrer Regierungszeit den Arbeitslosenbeitrag zusenken. Von daher habe ich volles Verständnis dafür, dasses für Sie reizvoll ist, endlich in eine Diskussion über Bei-tragssenkungen einzutreten, nachdem Sie allein den Ar-beitslosenbeitrag seit 1982 insgesamt viermal erhöht ha-ben. Zu Beginn im Jahre 1982 – auch da müssen wireinfach noch einmal die Fakten benennen – betrug er4 Prozent; heute sind es 6,5 Prozent.
– Darauf komme ich jetzt zu sprechen, Frau Schwaetzer. –Entscheidend ist: Auch vor der Wiedervereinigung habenSie es nicht geschafft, den Beitragssatz unter den zu Be-ginn Ihrer Regierungszeit gültigen Wert zu senken.
– Schauen Sie es doch einmal genau nach.
Ich erinnere noch einmal an die fatale Entwicklung derLohnnebenkosten: 1982 lagen sie bei 34 Prozent, 1998 bei43 Prozent. Ich bin sicher, dass es uns gemeinsam gelin-gen wird, auch in der Arbeitslosenversicherung eine Sen-kung des Beitragssatzes unter den zu Beginn unserer Re-gierungszeit gültigen Wert zu bewerkstelligen.
Der entscheidende Unterschied zwischen uns und Ih-nen besteht darin, dass wir diese Änderungen erst dannvornehmen, wenn sie solide und seriös finanzierbar sind.
Es wird nichts weiter auf Pump finanziert.
Diese Grundsätze durchziehen unsere gesamte Finanzpo-litik. Auch das hat sich in diesen zwei Jahren positiv ver-ändert.
Es gibt einen weiteren Unterschied. Wir haben dieLohnnebenkosten bereits in zwei Schritten gesenkt. Icherinnere an die Senkung der Rentenversicherungsbeiträgevon 20,3 Prozent auf 19,3 Prozent. Für das Jahr 2001 istein kleinerer Schritt der Senkung vorgesehen, aller Vo-raussicht nach auf 19,1 Prozent.Sie führen eine Kampagne gegen die Ökosteuer.
Wir senken mithilfe der Ökosteuer die Lohnnebenkosten,um Arbeit zu verbilligen.
Sie wissen: Eine Rücknahme der Ökosteuer bedeutet einehöhere Beitragsbelastung, höhere Rentenversicherungs-beiträge und höhere Lohnnebenkosten.
Sie führen also eine Kampagne für höhere Lohnneben-kosten, stellen sich aber hier hin und diskutieren die Not-wendigkeit von Beitragssenkungen.
Die Argumentation der Arbeitgeber in diesem Zusam-menhang ist vielleicht ehrlicher. Sie fordern, genau wieSie, eine Senkung des Beitrags.
Aber sie sagen im gleichen Atemzug, dass dies nur bei ei-ner Einschränkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik mög-lich ist.
Genau das wollen wir nicht.
Wir haben ein klares Konzept: Wir wollen die Arbeits-marktpolitik auf hohem Niveau, bei 44 Milliarden DM,verstetigen,
wir werden die Lohnnebenkosten zum richtigen Zeit-punkt senken, wir betreiben forciert einen Rückgang derStaatsverschuldung und wir werden alle vorhandenenAusgaben und Beitragssenkungen seriös finanzieren. Ichbin überzeugt, dass die Menschen, die Wählerinnen undWähler in diesem Land die Ehrlichkeit dieser Politik dau-erhaft honorieren werden.
Ich bin auch überzeugt, dass es uns mit diesen Instrumen-ten gelingen wird, die Lage auf dem Arbeitsmarkt zu ver-bessern. Dies liegt letztlich in unser aller Interesse.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Andreas Storm.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Der Kollege Hoffmann hat eben dieSenkung der Lohnnebenkosten noch einmal als Ziel derKoalition ausgegeben.
Frau Dr. Dückert hat angekündigt, man wolle in dieserWahlperiode unter die 40-Prozent-Marke kommen. An
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Walter Hoffmann
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Adam Riese führt kein Weg vorbei: Ohne eine Senkungdes Beitrags zur Arbeitslosenversicherung werden Sie dasnicht schaffen.Nach den eigenen Zahlen des Bundesarbeitsministersin seinem Rentenkonzept liegt der Rentenbeitrag im Jahr2002 nach der Reform bei 19 Prozent. Dass der Beitragzur Krankenversicherung unter die13,6 Prozent fällt, diewir im Moment haben, glaubt die Gesundheitsministerinselber nicht mehr. Wir haben Defizite in der Pflegeversi-cherung. Der Beitrag wird bei mindestens 1,7 Prozentbleiben. Das bedeutet, eine Absenkung des Gesamt-sozialversicherungsbeitragssatzes unter die 40-Prozent-Marke ist ohne eine gravierende Absenkung des Beitragszur Arbeitslosenversicherung nicht machbar.
Nun ist die spannende Frage: Warum wollen Sie diesallenfalls, wenn überhaupt, im Wahljahr machen? Warumnicht gleich?
Die Kollegen haben Ihnen geschildert, dass der notwen-dige Spielraum vorhanden ist.Es ist die Politik des Arbeitsministers, den Bundeszu-schuss zur Bundesanstalt für Arbeit wider jede sozial- undordnungspolitische Vernunft ersatzlos zu streichen. DerKollege Staatssekretär Andres war auch noch stolz darauf.
Es war ein anerkannter Grundsatz über die Fraktions-grenzen hinweg, dass Maßnahmen der Arbeitsförderungim Bereich von Fortbildung und Umschulung sowie Maß-nahmen etwa im Bereich der Arbeitsbeschaffung zumin-dest in Teilen gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind unddeshalb teilweise aus Steuermitteln zu finanzieren sind.
Ich darf in Erinnerung rufen, was der heutige sozialpo-litische Sprecher der SPD-Fraktion, der Kollege AdolfOstertag, in der Arbeitsmarktdebatte am 7. November1996 formuliert hat:Wir brauchen eine Reform der Arbeitsförderung, diediesen Namen wirklich verdient.
Fortschrittlich wäre gewesen, die Arbeitsmarktpoli-tik auf eine solide Finanzbasis zu stellen. Hierzugehört ein stabiler, regelgebundener Bundeszu-schuss,
um die aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmenzu verstetigen
und um die gesamtgesellschaftliche Aufgabe derBekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zu finanzie-ren.Die SPD hat noch im Juni 1997 einen Antrag zur Senkungder Lohnzusatzkosten eingebracht, in dem sie eine Entlas-tung der Sozialversicherung von der Finanzierung allge-mein gesellschaftlicher Aufgaben
durch die Senkung des Beitrages an die Bundesanstalt fürArbeit um 1 Prozentpunkt vorgeschlagen hat.Frau Kollegin Dückert, die Grünen haben im April1997 im Rahmen eines Gesetzentwurfs gefordert – das istauch in ihr Wahlprogramm eingegangen –: „Die Finan-zierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist auf eine weit-gehende Finanzierung aus Steuermitteln umzustellen.“
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Koali-tion: Wie tief sind Sie eigentlich gesunken, es als eine so-zialpolitische Errungenschaft hinzustellen, dass sich derSteuerzahler mit keiner einzigen Mark an der Finanzie-rung des Haushaltes der Bundesanstalt für Arbeit beteili-gen soll?
In Bezug auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hatdie Koalition in der Tat kein Ruhmesblatt vorzuweisen.Der erste Akt begann im vergangenen Jahr, als WalterRiester die Zahlung an die gesetzliche Rentenversiche-rung für die Empfänger von Arbeitslosenhilfe um mehrals die Hälfte reduziert hat. Entgegen Ihren Lippenbe-kenntnissen bedeutet dies:
Anstatt die Altersarmut zu bekämpfen, schaffen Sie zumersten Mal für diejenigen, die längere Zeit arbeitslos sind,ein gravierendes Problem hinsichtlich der sozialen Si-cherheit im Alter.
Das ist ein sozialpolitischer Kahlschlag, wie ihn die deut-sche Sozialpolitik in Jahrzehnten nicht gekannt hat.
Es wird deutlich, dass dem Arbeitsminister jeglichersozialpolitischer Kompass fehlt. Sparen ist kein Selbst-zweck.
Wer im Bundeshaushalt spart und damit Löcher in die So-zialkassen reißt, wer Beitragszahlern das Geld aus der Ta-sche zieht – es ist ja nicht das Geld des Finanzministersoder des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, HerrnJagoda, sondern es sind die schwerverdienten Groschen
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der Männer und Frauen, die die Beiträge entrichten, undder Unternehmen, die die Arbeitgeberanteile zahlen –, derschadet unserem Land und er schadet damit langfristigdem Arbeitsmarkt und seiner Entwicklung.
Nun spricht für die
SPD-Fraktion die Kollegin Renate Rennebach.
Sehr verehrter Herr Prä-
sident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte einige Kollegen aus der Opposition zitieren: Herr
Fuchtel hat so etwas noch nie erlebt. Herr Schemken wun-
dert sich, wenn die Arbeitslosenzahlen sinken, und redet
von Tricks. Herr Schauerte sagt, an allem sei die Einheit
Schuld.
Herr Niebel will gar keine Arbeitsmarktpolitik mehr.
Herr Singhammer klärt uns auf.
Wir hatten schon immer das Gefühl, Sie haben 16 Jahre
lang nicht in dieser Republik gelebt. Jetzt weiß ich genau
– Sie haben uns aufgeklärt –, wo Sie gelebt haben: Sie leb-
ten in der Toskana, und zwar allesamt. Die heutige Oppo-
sition hat 16 Jahre in der Toskana gelebt und tut heute so,
als hätte sie mit allem nichts mehr zu tun.
Wenn Sie nicht mehr weiterwissen, dann sagen Sie, dass
die Einheit Schuld sei. Ich finde, dies ist ein unmögliches
Verhalten.
Ich weiß noch genau, wie ich im Mai 1991 hier im
Reichstag meine erste Rede im Deutschen Bundestag
hielt. Dreimal dürfen Sie raten, worum es ging. Es ging
darum, dass der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit,
Jagoda, die Notbremse gezogen hat, weil die Bundesan-
stalt es sich aufgrund der deutschen Einheit nicht mehr
leisten konnte, die Arbeitsmarktpolitik in den neuen Län-
dern über die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler fi-
nanzieren zu lassen. Dreimal dürfen Sie raten, was die da-
malige Bundesregierung gemacht hat. Sie hat die Beiträge
um 2 Prozentpunkte angehoben.
Damit es nicht so auffällt, haben Sie noch den Griff in die
Rentenkasse gemacht: 1 Prozentpunkt weniger Renten-
versicherungsbeiträge.
Sie haben also ab April 1991 den Beitrag von 4,3 Pro-
zent auf 6,8 Prozent angehoben, weil wir eine sehr hohe
Arbeitslosigkeit hatten, die es zu bewältigen galt – selbst-
verständlich.
Diese Arbeitslosigkeit betrug in Gesamtdeutschland
7,3 Prozent, 6,3 Prozent im Westen und 10,3 Prozent im
Osten.
Sie haben damals einen Haushalt von knapp 72 Milli-
arden DM gehabt. Heute beträgt er 100 Milliarden DM.
Noch heute beträgt dank Ihrer freundlichen Senkung der
Sozialleistungen, die Sie uns in den letzten Jahren Ihrer
Regierung, in der Zeit, in der sich die Arbeitslosigkeit ver-
doppelt hat, beschert haben,
die Arbeitslosenrate in Westdeutschland 7,2 Prozent und
in Ostdeutschland 16,6 Prozent.
Das gilt es zu ändern. Wir wollen stabile Arbeitsmarkt-
zahlen in West- und Ostdeutschland.
Wir wollen eine Arbeitsmarktpolitik, die ihren Namen
auch verdient, die Arbeit schafft. Wir wollen die Arbeits-
losigkeit verringern. Sie verunsichern die Beitragszahle-
rinnen und Beitragszahler lediglich mit Ihrem Gedöns
über Prozentherauf- und -herabsetzungen. Wir arbeiten
aktiv und werden es weiter tun.
Wenn Sie, Herr Singhammer, in den nächsten Jahren in
die Toskana führen, dann würde mich das sehr freuen.
Denn dann müssten wir uns nicht mehr anhören, was
Adam Riese und Eva Zwerg bei Ihnen alles falsch ge-
macht haben.
Vielen Dank.
Als letzter Redner in
der Aktuellen Stunde spricht für die CDU/CSU-Fraktion
der Kollege Dr. Bernd Protzner.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Frau Rennebach, Sie müssensich entscheiden, was Sie tun. Die SPD hat – ungeachtetder Wirklichkeit – ihre Arbeitsmarktpolitik der letztenMonate so sehr gelobt, dass die Arbeitnehmer bei uns imLand jetzt sagen: Jetzt muss die Konsequenz kommen;
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jetzt müssen die Beiträge gesenkt werden. – Sie werdenvon Ihrem Selbstlob eingeholt; das ist Ihr Problem.
In der Tat ist es so, dass Sie sich entscheiden müssen:Betreiben Sie eine Versicherungskasse oder betreiben Sieeine Sparkasse? – Herr Staatssekretär Andres, ich ver-stehe, dass Sie Reserven haben wollen, auf die man beiGelegenheit zurückgreifen kann. – Oder betreiben Sie gareine andere Form von Kasse, eine Verschiebekasse zu-gunsten Herrn Eichels und seines Bundeshaushaltes?Ich kann mich an die jahrelangen Diskussionen überversicherungsfremde Leistungen in der Rentenversiche-rung hier im Hause erinnern. Die haben wir abfinanziert;die haben wir über die Steuerkasse übernommen.
Ständig werden nun aber den Beitragszahlern in der Ar-beitslosenversicherung neue versicherungsfremde Leis-tungen aufgebürdet. Das muss ein Ende haben.
Die Beitragszahler empfinden die heutigen Beiträgeaufgrund der zu hohen Punkte als Strafzahlung, als Straf-kasse. Das muss ein Ende haben. Übrigens hat das IhrBundeskanzler angekündigt. Er hat gesagt, er wolle dieArbeitskosten, die Lohnnebenkosten senken. Ich bin si-cher, dass er Sie dazu bringen wird. Spätestens dann,wenn die nächsten Wahlen näher rücken, wird eine Sen-kung erfolgen.Sie muss auch erfolgen. Mittlerweile geben wir in die-sem Bereich pro Jahr 100 Milliarden DM aus. Wir müs-sen uns entscheiden, ob wir eine Staatswirtschaft wollen,in der Bürokraten bzw. Verwaltungen entscheiden, ob Ar-beitsplätze entstehen, oder ob wir eine soziale Marktwirt-schaft haben wollen, in der die Marktkräfte gestärkt wer-den und Arbeitnehmer und Personalleiter entscheiden, wosie arbeiten und wo Arbeitsplätze entstehen. Dafür müs-sen Mittel zur Verfügung gestellt werden.
– Frau Rennebach, erzählen Sie doch einmal den Arbeit-nehmern, warum sie 130 DM oder bis zu 250 DM mehr,als es erforderlich ist, in die Arbeitslosenversicherungzahlen müssen.
Wenn wir den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um0,5 Prozent absenken würden, ergäbe sich im Durch-schnitt ein Betrag von 130 DM, den ein Arbeitnehmer we-niger zu zahlen hätte.
Wenn man konsequent vorgehen würde und das Zwei-Stufen-Modell des Kollegen Fuchtel umsetzen würde,dann ergäbe sich ein Betrag von 260 bis 400 DM, den einArbeitnehmer mehr zur Verfügung hätte. Umgekehrt wäreauch bei den Unternehmen mehr Geld für neue Investi-tionen und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze vorhan-den.
Ich kann Ihnen nur sagen: Der Druck wird steigen. Sieselber werden angesichts der anstehenden Wahlen unterDruck geraten. Ich kann Sie nur auffordern: EntscheidenSie sich jetzt für eine Beitragssenkung! Zögern Sie die Sa-che nicht hinaus! Die Bürger brauchen dieses Geld drin-gend. Sie werden ja von Ihnen in anderen Bereichen, zumBeispiel im Rahmen der Ökosteuer, sehr stark belastet.Geben Sie den Arbeitnehmern das zurück, was ihnengehört, und lassen Sie es nicht beim Staat und bei der Bun-desanstalt für Arbeit.
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 2 auf:
Vereinbarte Debatte
zur Situation in Jugoslawien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Das Haus ist damit
einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst
dem Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit den Er-eignissen vom vergangenen Donnerstag und dem Sturzvon Milosevic, mit der friedlichen, demokratischen undfreiheitlichen Revolution in Belgrad ist, so können wirfeststellen, der letzte Teil einer kommunistischen Diktaturmit zehnjähriger Verspätung gefallen, sind die Ereignissevon 1989/90 auch dort nachgeholt worden.Allerdings: Es handelt sich hier um einen tragischen,einen blutigen Umweg, den Serbien unter der DiktaturMilosevics genommen hat. Mit dem AuseinanderbrechenJugoslawiens kam es zu vier Kriegen, für die Milosevicdie Verantwortung zu tragen hat: in Slowenien, in Kroa-tien, in Bosnien-Herzegowina und schließlich im Kosovo.Solange nicht eingegriffen wurde, solange man Milosevicnicht in den Arm gefallen ist, hat er weitergemacht, sodasswir als Ergebnis dieser Kriege heute feststellen müssen:Es gab mehr als 300 000 Tote, Millionen von Flüchtlingenhaben ihre Heimat verloren, es ist unsägliches Leid überdie Menschen gebracht worden.Das Eingreifen war richtig und es war notwendig.Wenn man etwas kritisieren kann, dann nicht, dass esstattgefunden hat, sondern eher, dass es zu spät gekom-men ist. So sehr ich die Argumente dagegen verstehe,möchte ich doch einen Augenblick zurückblicken und fra-gen, wo wir heute stünden, wenn wir ihnen gefolgt wären.Es hätte garantiert nicht einen Sieg der Demokratie in Bel-grad gegeben und damit die große Chance, die Kriege auf
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Dr. Bernd Protzner11822
dem Balkan dauerhaft zu beenden und eine nachhaltigeFriedensordnung zu schaffen, die es ermöglicht, diesenTeil Europas an das Europa der Integration aufschließenzu lassen, ihn heran- und eines fernen Tages auch hinein-zuführen, sondern wir stünden vor einer weiteren Eskala-tion von Gewalt, von Terror, von Krieg.Deswegen, meine Damen und Herren: So schwer unsdiese Entscheidung auch gefallen ist, sie war richtig. Eswar hohe Notwendigkeit, der großserbischen PolitikMilosevics, die auf Krieg, auf Vertreibung, auf Terror, aufMassenvergewaltigungen setzte, im Kosovo Einhalt zugebieten.
Ich möchte bei diesem kurzen Rückblick aber auchnochmals betonen, dass die deutsche Politik im Kosovo-Krieg – ich möchte mich bei allen hier im Haus bedanken,die diese Politik unterstützt haben – von Anfang an daraufgesetzt hat, dass wir zu einem nachhaltigen, zu einem dau-erhaften Frieden kommen. Unter der deutschen Präsi-dentschaft haben wir den Fünf-Punkte-Plan entwickelt,der dann in der Petersberger Vereinbarung umgesetztwurde. Auf dem Kölner Gipfel wurden alle wesentlichenElemente der Resolution 1244, die heute die Grundlageder Politik gegenüber dem Kosovo darstellt und insofernauch Grundlage für die Beendigung des Krieges im Ko-sovo war, entwickelt. Dass Russland wieder ins Boot ge-holt wurde, war eine Initiative von BundeskanzlerSchröder im Rahmen der deutschen Präsidentschaft.Wir haben eine Politik entwickelt, die präventiv tätigwerden will, das heißt, die vermeiden will, dass solcheKonfliktpotenziale überhaupt noch zur Explosion kom-men können respektive dass solche verbrecherischenIdeologien Unterstützung finden. Diese Politik hat unsdazu gebracht, die Idee des Stabilitätspaktes zu ent-wickeln und den Stabilitätspakt dann mit der Unterstüt-zung unserer Partner tatsächlich als zentrales Elementpräventiver Politik und einer nachhaltigen Friedensord-nung auf dem Balkan ins Leben zu rufen und umzusetzen.
Genau dort müssen wir jetzt ansetzen. Wir haben unsin all den Monaten seit dem Ende des Kosovo-Krieges en-gagiert: in der Stärkung der demokratischen Opposition,in der Stärkung der zivilgesellschaftlichen Selbsthei-lungskräfte. Ich möchte allen politischen Stiftungen, diesich daran beteiligt haben, und all denen, die sich bei derStädtepartnerschaft in der Bundesrepublik Deutschlandund bei den kritischen Medien engagiert haben, herzlichdanken; denn über Monate hinweg waren dies entschei-dende Beiträge für den Sieg der Demokratie.
Daran ist nichts geheim gewesen. Jetzt kann man lesen,das wäre geheim gewesen. Dazu kann ich Ihnen nur sa-gen: Viele hat das nicht interessiert,
aber es ist alles auf dem offenen Markt geschehen. An die-ser ganzen Sache gab es nichts Geheimes.
– Den Zwischenruf „Das macht es nicht besser“ muss ichdoch zu Protokoll geben. Sie finden es falsch, dass wir unsaufseiten der demokratischen Opposition engagiert ha-ben?
– Gut, dann legen wir es ad acta. Das hätte mich sonstauch erstaunt, Herr Gehrcke.Es war von entscheidender Bedeutung – ich möchte Siedaran erinnern, wie wichtig das im Übergangsprozess vonder Franco-Diktatur oder der Salazar-Diktatur zur Demo-kratie war –, dass sich die Demokraten engagiert haben.Ich sehe darin keine Einmischung von außen.
Wir haben es getan, um die Demokratie zum Sieg zuführen; umso mehr müssen wir es jetzt tun, um diesenProzess, der mitnichten gefestigt ist, erfolgreich zur Kon-solidierung bringen zu können, damit sich die Demokra-tie in Serbien dauerhaft durchsetzen kann.Die Europäische Union hat dazu erste Schritte mit derAufhebung des Öl- und Flugembargos und den ersten An-sätzen zur Herstellung normaler Wirtschaftsbeziehungengetan. Ich denke, das ist entscheidend, auch wenn dieFrage der Kontrolle und des Einfrierens der Konten vonMilosevic und seiner engeren Gefolgschaft noch nicht ge-klärt ist. Auch der Visabann sollte noch nicht aufgehobenwerden.Aber wir müssen zügig vorankommen. Wir müssenden Stabilitätspakt dafür einsetzen. Die EuropäischeUnion muss ihre Entscheidungen treffen. National habenwir unsere Entscheidungen getroffen und sind bereit, unsetwa bei der Räumung der Donau wie auch bei anderenInfrastrukturprojekten, bei humanitären Projekten, bei derStärkung demokratischer Institutionen und beim Aufbaueiner demokratischen Struktur zu engagieren. Wir wollenuns wie früher einbringen, um die Beziehungen zwischenunserem Land und Serbien wieder positiv zu gestalten.Wir sind auch bereit, Serbien mit offenen Armen wie-der in die Völkergemeinschaft aufzunehmen und auf demWeg nach Europa positiv zu begleiten. Allerdings hat dieKonsolidierung der Demokratie jetzt Vorrang. DieGerechtigkeitsfrage und der Aspekt derjenigen, dieschwerste Schuld auf sich geladen haben – 300 000 Totewiegen schwer –, werden auf Dauer nicht ausgeblendetwerden können. Auch das ist eine Frage der Selbstreini-gung. Gerade wir wissen, wovon die Rede ist. Das ist eineFrage der inneren Stabilität der Demokratie. Auch wennsie jetzt nicht vorrangig ist – die Konsolidierung der de-mokratischen friedlichen Veränderungen muss Vorranghaben –, wird diese Frage auf der Tagesordnung bleiben;denn Gerechtigkeit muss sich durchsetzen.
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Bundesminister Joseph Fischer11823
Meine Damen und Herren, Europa und im Rahmen desStabilitätspaktes auch unser Partner Russland sowie dieUSA, Japan und andere, aber auch die BundesrepublikDeutschland sind bereit, das Ihrige dazu beizutragen. Wirmüssen uns allerdings davor hüten, dass jetzt ein Serbien-zuerst-Eindruck entsteht. Wir brauchen einen regionalenAnsatz, der allen am Stabilitätspakt Beteiligten hilft.Dass sich die Demokratie in Belgrad durchsetzt, ist dieentscheidende Voraussetzung dafür, dass wir dauerhaftenFrieden auf dem Balkan schaffen können. Der westlicheBalkan ist eine Region Europas. Wenn wir hier über denSieg der serbischen Revolution und seine Konsequenzendiskutieren, müssen wir wissen, dass der westliche Bal-kan Teil einer europäischen Gesamtverantwortung ist. Eshandelt sich nicht de jure um einen Erweiterungsprozessder Europäischen Union, aber de facto ist es ein Bestand-teil dieses Prozesses.Diese Region muss an das Europa der Integration he-rangeführt und aus dem Zeitalter der Kriege und der na-tionalistischen Verblendung und des nationalistischenHasses herausgeführt werden. Sie wird Bestandteil dieserAnstrengung hinsichtlich des gesamteuropäischen Verei-nigungsprozesses in einem Europa, das über fünf Jahr-zehnte hinweg geteilt war. Gerade das wiedervereinigteDeutschland trägt hier eine besondere Verantwortung.Mit dem Sieg der Demokratie in Belgrad haben wirjetzt die große Chance, dazu beizutragen, dass sich diesewirklich unumkehrbar konsolidiert, dass sich die Demo-kratie durchsetzt. Es besteht die große Chance, dafür zusorgen, dass auch die letzte kommunistische Diktatur derVergangenheit angehört. Wir haben die große Chance,dazu beizutragen, dass es mit den blutigen Morden aufdem Balkan, mit den Balkankriegen, ein Ende hat. Wir ha-ben die große Chance, Demokratie in einem sich vereini-genden Europa zu schaffen, wenn wir uns der Herausfor-derung, die die Erweiterung dieses Europas an uns stellt,gerecht erweisen.Deswegen wird es notwendig sein, dass wir uns nichtnur materiell engagieren, sondern dass wir zusammen mitunseren Partnern dauerhaft mit der Bundeswehr, aberauch mit zivilen Kräften in der Region präsent sind, so-lange dies notwendig ist.Frieden setzt voraus, dass Vertrauen geschaffen wird.Vertrauen wird nur wachsen, wenn Sicherheit gewährleis-tet ist und gleichzeitig die Wahrheit ausgesprochen wird.Sie ist die Grundlage der Versöhnung und Versöhnung istdie Grundlage, auf der der Frieden steht. Dies werdennoch sehr schmerzhafte Prozesse. Dies setzt voraus, dasswir uns dauerhaft und langfristig engagieren. Aber dieChance, die wir jetzt haben, nämlich in diesem Europadauerhaft Frieden zu schaffen, ist diesen Einsatz wert.Ich bedanke mich.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Christian Schmidt.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Ein Bürgerkrieg löst heute keine einzige Frage. Eskäme nur zu Massakern, wie während des ZweitenWeltkrieges zwischen serbischen Tschetniks undkroatischen Ustaschen. Da könnte Europa nicht ruhigzusehen.– Der wohl bekannteste jugoslawische Dissident,Milovan Djilas, hat diese Sätze in seinen späten Jahrennach dem Zusammenbruch des Tito-Jugoslawiens gesagt.Wie Recht er doch hat und wie gut es doch ist, dass es beidieser – lassen Sie mich es so sagen – Halbrevolution inden letzten Tagen in Serbien keinen Bürgerkrieg zwischenverschiedenen Lagern gegeben hat, so wie wir ihn viermalin der letzten Dekade erleben mussten. Dies muss zual-lererst gesagt werden.Der Dank geht an alle besonnenen Kräfte, auch an die,die dem System Milosevic gedient haben und erkannt ha-ben, dass das letzte Aufbäumen, die letzte Agonie einerDiktatur, einer Autokratie, nicht auch noch zu einem Blut-vergießen im eigenen Volk führen darf. Auch denen willich für diese eine Einsicht danken.Europa kann hierüber zwar erfreut sein, aber nicht ru-hig zusehen. Unser Handeln und Abwägen ist gefordert.Deswegen ist es auch gut, dass wir über die Situation inJugoslawien so kurz nach den dramatischen Ereignissendort diskutieren, in einer Zeit, in der wir – hier stimme ichIhnen zu – natürlich noch nicht von einer Konsolidierungdes Prozesses ausgehen können. Die Nachrichten desgestrigen und heutigen Tages über das Verhalten der nochimmer Milosevic-orientierten Mehrheit im serbischenParlament sprechen Bände hinsichtlich der Schwierigkeit,eine Regierung zustande zu bringen. Ich hoffe, dass uns inden nächsten Tagen und Wochen nicht noch mehr Schwie-rigkeiten in dieser Richtung ins Haus stehen.In Wahrheit erleben wir die Agonie der letzten stalinis-tischen Bastion Europas. Spät, zehn Jahre nach dem Fallder Mauer in Berlin, fällt auch dieses System in sich zu-sammen. In Wahrheit sind mit dem Zusammenbruch desReiches von Milosevic auch ideologische Fantasien end-gültig beerdigt worden, die in früheren Jahren, was Jugo-slawien betrifft, bei uns sehr viel Sympathie gefunden hat-ten. Ich will an diesem Tag schon noch einmal erwähnen,was alles Rühmendes über das Modell der jugoslawischenGesellschaft, der Arbeiterselbstverwaltung, der Block-freiheit, in linken Studierstuben geschrieben und geäußertworden ist. Wie kläglich hat dieses Modell jetzt – wennman ein Bild nehmen möchte – geendet: mit der Fluchtdes letzten Hauptschmarotzers, des Sohnes vonMilosevic, nachdem er das Günstlingssystem in diesemWirtschaftsmodell nicht mehr fortsetzen konnte.Milosevic konnte sich so lange über die Zeit retten,weil er den kommunistischen Anstrich, den Tito seinerDiktatur gegeben hatte, durch einen nationalistischen er-setzt hat. Ich erinnere an die Rede von Milosevic auf demAmselfeld im Jahre 1989 vor 1 Million Menschen. Siefand an dem Denkmal zur Schlacht auf dem Amselfeldstatt, das heute von norwegischen KFOR-Soldaten be-wacht wird. Es war bemerkenswert, wie sehr er auf dem
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Bundesminister Joseph Fischer11824
Klavier des Chauvinismus gespielt hat. Beide Diktatur-formen waren der Ausgangspunkt für die Missachtungund Verletzung der Menschenrechte von einzelnen Bür-gern und ethnischen Minderheiten.Nun hat das Volk in Serbien gesprochen. Es hat sichklar gegen Milosevic ausgesprochen. Das ist eine Nieder-lage von Milosevic. Damit es ein Sieg der Demokratiewird, bedarf es noch vieler Arbeit. Es wird sehr viel an derPerson von Präsident Kostunica hängen. Ich glaube aber,dass wir gut beraten sind, nicht allein einzelnen Personenanzuhängen, denn Demokratie hat in ihrem Wesensgehaltnicht die Orientierung auf eine Person, sondern die Orien-tierung auf eine bürgerliche Gesellschaft.
Es geht um den friedlichen Ausgleich mit den Nachbarn,das Land muss weg vom Chauvinismus und der Plan-bzw. Chaoswirtschaft hin zu einem offenen, europaorien-tierten Land geführt werden.Hier sehe ich die Schwierigkeiten, ohne Wasser in denWein gießen zu wollen, und auch in der Frage, aus wel-cher Motivation nun der Umschwung stattgefunden hat,nicht bei denen von Otpor, nicht bei denen, die seit Jahrenin der Opposition sind und die wir alle nach Kräften un-terstützt haben. Dies war manchmal nicht ganz einfach;denn man musste manchmal abwägen: Schade ich ihmmehr, als dass ich ihm nutze, wenn ich ihm helfe? Bringeich ihn in Gefahr?Ich darf bei dieser Gelegenheit den Dank an die po-litischen Stiftungen noch einmal aufgreifen. HerrMinister, wir haben heute früh im Ausschuss darüberdiskutiert. Es war wieder einmal – in diesem Fall bin ichso vermessen – von der deutschen politischen Bildungder Stiftungen und auch aus einer konkreten Nach-kriegssituation ein Export von Demokratiebestrebungenund von Zusammenarbeit im besten Sinne. So wie erauch in Spanien funktioniert hat, so können wir einenkleinen Teil – sicherlich nicht den großen Anteil; ihn hatdas serbische Volk und die Opposition für sich in An-spruch zu nehmen – am Erodieren des Systems Milosevicvon dieser Seite den Stiftungen zuzuschreiben.
Das mache ich gerne bei dieser Gelegenheit und auch weilich mit Freude den Beifall fast des ganzen Hauses zurKenntnis nehme.Dabei möchte ich darauf hinweisen – der Finanzminis-ter ist nicht da, also richte ich den Appell direkt an denBundeskanzler –:
Der Herr Außenminister bekommt für seinen Etat für diepolitischen Stiftungen 5 Millionen DM weniger. Wir hal-ten das nicht für gut.
Das ist in den nächsten Jahren wichtig. Es geht nicht da-rum, den Kollegen Scharping, der sowieso zu wenig Geldfür seine Bundeswehrreform hat, die er nicht finanzierenkann, anzugreifen,
– dann diskutieren wir morgen weiter –, aber im Sinne derPrävention ist es besser, 5 Millionen DM für die politi-schen Stiftungen zu belassen, weil sie bei der Konsolidie-rungsarbeit der nächsten Jahre Erhebliches werden leistenkönnen und müssen.
Dass wir allerdings ein Schwergewicht der Arbeit beimStabilitätspakt sehen, den wir unterstützen, ist selbstver-ständlich. Nun muss ich allerdings auch hier sagen: DerKollege Weiß, der sich sehr intensiv um die Mittel in denneuen Haushalten für Osteuropa bemüht hat, sagte mirnicht nur zu meinem Erschrecken, dass die Mittel für denStabilitätspakt von 541Millionen DM in diesem Haushaltim nächsten um 151 Millionen DM, also um 28 Prozent,gekürzt werden. Dort ist eine große Diskrepanz zwischenAnspruch und Wirklichkeit. Nun machen Sie einmal inder Regierung Ihre Arbeit, meine Damen und meine Her-ren!Ich will zu einem weiteren Punkt unserer Politik Stel-lung nehmen. Die Frage der notwendigen militärischenIntervention, die Frage der Präsenz der NATO ist – ichsage das hier – im Wesentlichen unstreitig. Über die Mit-tel der Behandlung eines diktatorischen, aggressiven Re-gimes müssen wir allerdings in einem Punkt noch einmalreden. Möglicherweise sehr viele in diesem Haus und inder Regierung spüren Unbehagen gegenüber der Sankti-onspolitik in der Form, wie sie bisher gelaufen ist. Wennwir die Erfolge und Konsequenzen der Sanktionspolitiknüchtern und vorurteilsfrei diskutieren – ich empfehleuns, das in einigen Wochen einmal zu tun –, dann werdenwir nach meiner Überzeugung feststellen, dass beispiels-weise das Ölembargo längst nicht den Effekt gehabt hat,den es hätte haben sollen. Demnach hätte die Revolutionim Winter stattfinden müssen; denn da war es kalt. Nein,sie hat jetzt aufgrund anderer Umstände stattgefunden.
– Völlig richtig, es waren die Wahlen. Das Problem war,dass man die Zivilbevölkerung trifft. – Die Kamarilla, diedie Macht hatte, hat sich in den warmen Stuben gewärmtund das Geld auf die Seite geschafft. Das ist kein über-zeugender Ansatz, Menschen für die Demokratie zu ge-winnen. Deswegen will ich diese Sache hier ansprechen.Ich weiß, das die Adressaten dieser Diskussion nicht nurhier im Deutschen Bundestag und in der Bundesregie-rung, sondern im transatlantischen Dialog zu finden undzu suchen sind. Ich finde, wir als Parlamentarier, die wirmit Leuten aus anderen Parlamenten reden, wie zum Bei-spiel aus dem amerikanischen Kongress, sollten uns dasGanze noch einmal genauer anschauen.
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Christian Schmidt
11825
Es ist richtig, dass die Quick-Start-Projekte, die an-gekündigt worden sind, kommen. Ich glaube, es ist nunnotwendig, das wir Herrn Kostunica unterstützen, indemdie Infrastruktur verbessert wird und Straßen gebaut wer-den. Aber wichtiger als Straßen ist in der nächsten Zeit vorallem die Etablierung der Demokratie. Es muss derRahmen für eine Demokratie geschaffen werden, nämlicheine Verfassung. Es ist die Frage, welche Pfeiler derRechtsordnung in den nächsten Monaten mit unserer Un-terstützung und mit der des Südosteuropapaktes, soweitdas gewollt ist, eingerammt werden können. Das wirdüber die Zukunft der Regierung Kostunica, über Otporund alles, was dazu gehört, entscheiden.Ein Punkt macht mir allerdings noch Sorge: Wir habenalle genügend Erfahrung, wie in den Reformstaaten in ei-ner Anfangseuphorie die Erwartungen von der Bevölke-rung verständlicherweise unwahrscheinlich hochge-puscht werden und dann festzustellen ist, dass in einemdesolaten, zugrunde gerichteten Wirtschaftssystem dieGesundung der Wirtschaft und der damit zusammenhän-gende Wohlstandszuwachs nicht automatisch kommen.Die Not der Regierungen, zu begründen, dass sie dasGanze in den ersten Jahren nicht bewältigen können, wirdgroß werden. Es muss verhindert werden, dass es so weitkommt und verzweifelte Regierungen dorthin flüchten,wo Milosevic angefangen hat: in den Nationalismus.Diese Frage ist noch nicht entschieden. Bei allem gutenWillen, den ich unterstelle, hören wir natürlich schonnoch kritische Äußerungen über die Zukunft des Kosovo,über die Frage des Verhältnisses Montenegro/Serbien,über das Verhalten der nach der Resolution 1244 instal-lierten Behörde unter Verwaltung von Herrn Kouchnerund über andere Dinge, so über den „Aggressor NATO“.Darüber müssen wir reden – zwar nicht heute oder mor-gen, aber auch nicht zu spät. Die Euphorie darf nicht dazuverführen, so zu tun, als wären die Dinge alle in Butter.Sie sind es in Serbien nicht. Es ist der Anfang gemachtworden, dass wir sie gemeinsam ins Reine bringen kön-nen.Es ist viel Diplomatie gefragt. Wenn ich die Besuchs-diplomatie verfolge und mir überlege, wer alles in nächs-ter Zeit in Belgrad erscheint oder Kontakte dorthin hat,bitte ich darum, dass bei diesen Gelegenheiten HerrnKostunica auch deutlich gemacht wird, dass es unver-rückbare Positionen gibt, die er auch nicht durch sein Ver-halten in den nächsten Monaten in eine solche Schieflagebringen kann, dass später keine vernüftige, friedlicheRegelung des Friedens und der Zukunft beispielsweisedes Kosovo möglich ist. Das ist eine Besorgnis, über diewir in diesem Hause immer wieder reden müssen, um klarzu machen, dass Milosevic ebenso ausgeliefert werdenmuss wie Karadzic und Mladic, die ebenso noch frei he-rumlaufen, obwohl sie Kriegsverbrecher sind.Es muss, Herr Außenminister, auch eine Regelung un-ter Einbeziehung der Kosovo-Albaner geschaffen wer-den, die verhindert, dass die Bundeswehr auf Dauer dortbleiben muss. Wir wollen, dass die KFOR zum gegebenenZeitpunkt aus dem Kosovo heraus kann, und wir wollen,dass sich diese Region selbst befriedet, damit die Men-schen friedlich miteinander leben können.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Gernot Erler für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Der 5. Oktober dieses Jahres wird alsein Tag des sensationellen Szenenwechsels in Belgrad mitweit reichenden Folgen in ganz Südosteuropa in dieZeitgeschichte eingehen.
Es geht ein hörbares Aufatmen durch ganz Europa. Wirgedenken in dieser Stunde aber auch der Hunderttausendevon Opfern des 13-jährigen Regimes des SlobodanMilosevic. Es ist gut, dass einige dieser Opfer im Innerenvon Serbien nicht umsonst gewesen sind.Es ist ein politischer Wechsel eingeleitet, aber nochnicht vollendet. Das hängt mit der nach der Konstitutionrelativ schwachen Position des jugoslawischen Präsiden-ten zusammen, mit der Machtposition, die in der serbi-schen Regierung und dem serbischen Präsidenten kon-zentriert ist, aber auch damit, dass die bisherigeNomenklatura von Milosevic noch nicht abgedankt hat.Sie testet vielmehr jeden Tag – auch heute – ihren politi-schen Spielraum. Deswegen sollte hier ein Konsens da-rüber bestehen, dass für uns und für alle in Europa diehöchste Priorität heute heißen muss: Stabilisierung despolitischen Wechsels in Jugoslawien.
Man nimmt jetzt von allen Seiten Fragezeichen undEinwände wahr. Auch Sie, Herr Kollege Schmidt, habeneben sehr vorsichtig darauf hingewiesen, dass Kostunica,der neue Präsident, ein Nationalist sei. Er bestreitet das imÜbrigen selbst nicht. Man muss aber eine Rückfrage da-bei stellen: Ohne eine nachdrückliche und demonstrativeVertretung der serbischen Interessen, ohne eine prakti-zierte Distanz zum Westen, auch eine kritische Distanz zuall dem, was der Westen auch während des Krieges in die-ser Region gemacht hat, hätte Kostunica – davon bin ichüberzeugt – diese Mehrheit nicht gewonnen und wir sinddoch froh, dass er sie gewonnen hat.
Kostunica hat auch für die Zukunft eine feste Positionhinsichtlich der serbischen bzw. jugoslawischen Inte-grität. Das bezieht sich sowohl auf Montenegro als auchauf den Kosovo. Der entscheidende Unterschied ist: Er istbereit, darüber einen Dialog zu führen. Ich frage: Wäre esnicht katastrophal, wenn die Auflösung der Bundesrepu-blik Jugoslawien, die weder der Westen noch die interna-tionale Gemeinschaft Milosevic abgetrotzt hat, jetzt alseine Forderung an den neuen, demokratisch gewähltenPräsidenten Kostunica herangetragen würde? Das wärefalsch. Insofern kann ich von hier aus Herrn Djukanovicnicht nur wünschen, dass er sich schnell von seinem Au-tounfall erholt, sondern ihn auch auffordern: Nehmen Siedie ausgestreckte Hand zum Dialog an und unterstützen
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Christian Schmidt
11826
Sie den neu gewählten Präsidenten! Das ist das, was wirvon Ihnen erwarten.
Andernfalls glaube ich, dass der große politische Erfolgganz schnell gefährdet sein und sich in eine Niederlageverwandeln könnte.Wenn die Hauptaufgabe also in der Stabilisierung despolitischen Wechsels besteht, war es richtig, sofort politi-sche Unterstützung zu organisieren. Ich glaube, wir kön-nen hier der Bundesregierung und den anderen europä-ischen Regierungen dafür dankbar sein, dass sie dasschnell und überzeugend getan haben. Die Aufnahme per-sönlicher Kontakte ist auch psychologisch sehr wichtig.Es ist daher gut, dass jetzt viele Leute nach Belgrad fah-ren. Ich freue mich, dass auch der Bundestag dabei ver-treten ist. Heute Morgen sind zwei unserer Kollegen, dieseit langem Kontakte zur serbischen Opposition haben,Gert Weisskirchen und Christoph Moosbauer, dorthinaufgebrochen.Aber es ist klar: Die größten Erwartungen richten sichjetzt auf den ökonomischen und finanziellen Bereich.Dazu möchte ich gleich sagen: Ich begrüße es sehr – ichhoffe, wir alle tun das –, dass das Bundesministerium fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung heuteim Rahmen einer Soforthilfe 10 Millionen DM zur Ver-fügung gestellt und gesagt hat, dass in diesem Jahr wei-tere 20Millionen DM für den Aufschub von Projekten zurVerfügung stehen. Das genau ist es, was gebraucht wird:schnelle Soforthilfe.
Wir finden es auch richtig, dass die Außenminister derEuropäischen Union am Montag einen Teil der Sanktio-nen, nämlich die, von denen die Bevölkerung am meis-ten betroffen ist, aufgehoben haben. Wir sagen abergenauso: Es hat keine Eile, zum Beispiel das Waffenem-bargo aufzuheben. Ich finde es nicht überzeugend, dassunsere russischen Freunde jetzt diesbezüglich einen Vor-stoß machen. Es hat auch keine Eile, dass die Visabe-schränkungen für die noch bestehende Nomenklatur auf-gehoben werden, und schon gar nicht, dass die Konten,die diese Nomenklatur im Ausland angelegt hat und dienoch eingefroren sind, geöffnet werden.Nein, man muss es einmal deutlich beim Namen nen-nen: Milosevic und seine Familie sind nicht nur ein Hortvon Kriegsverbrechern. Milosevic ist auch ein raffgieri-ger Feigling, der in einer Zeit, in der sein Volk die größ-ten Entbehrungen ertragen musste, MillionenDM beiseitegeschafft hat, um notfalls ein sorgenfreies Leben im Aus-land führen zu können.
Die soziale Lage der Bevölkerung in Jugoslawien ist inder Tat katastrophal: Der Durchschnittslohn beträgt100 DM pro Monat, die Arbeitslosigkeit 40 Prozent. DieInflationsrate kann in diesem Jahr noch 100 Prozent er-reichen. In Jugoslawien, in Serbien gibt es – das ist eineTatsache, die man manchmal vergisst – immer noch600 000 Kriegsflüchtlinge aus Kroatien, aus Bosnien-Herzegowina, aus dem Kosovo.Jetzt ist die Glaubwürdigkeit Europas bzw. des Wes-tens gefordert. Wir haben immer gesagt: Wenn das Pro-blem Milosevic weg ist, wird es großzügige Zusagen ge-ben. An die EU richten wir jetzt vor allem die Erwartung,dass nicht nur Zusagen erfolgen, sondern dass auch ohnegroße bürokratische Hemmnisse schnell gehandelt wird.Es gibt einen Fonds, der für die Einbeziehung von Jugo-slawien in die europäischen Programme zur Verfügungsteht. Natürlich ist es auch notwendig, Jugoslawien soschnell wie möglich in den Stabilitätspakt einzubeziehen.Herr Kollege Schmidt, Sie haben eben etwas Kriti-sches über die Ausstattung gesagt. Ich hoffe, wir sind unshier einig und in gleicher Weise informiert. Es gibt zweiEbenen. Nach wie vor gibt es kein europäisches Land, daswie die Bundesrepublik zusätzlich zu den europäischenBeiträgen zum Stabilitätspakt ein bilaterales Programmvon 1,2 Milliarden DM aufgelegt hat. Es würde michfreuen, wenn die anderen europäischen Länder das ge-nauso machten. Auch das gehört zu einem korrekten Bilddazu; das muss hier einmal gesagt werden.Eines aber darf jetzt auf keinen Fall passieren: Die Ein-beziehung Jugoslawiens in den Stabilitätspakt darf nichtzu einem Verdrängungswettbewerb führen. Ich stehe nochunter dem Eindruck einer Reise, die ich letzte Woche, alsowährend dieser Ereignisse, durch Bulgarien, Mazedonienund Albanien gemacht habe. Dort wurde überall besorgtgefragt, was dies an Verdrängung auslösen könnte. Wirmüssen im finanziellen und im politischen Bereich auf je-den Fall dafür sorgen, dass die Nachbarn Jugoslawiensjetzt auf keinen Fall politische Opfer des von uns so be-grüßten Wechsels in Belgrad werden.
Herr Kollege Erler,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Gerne.
Herr Kol-lege Erler, nach diesen Ausführungen möchte ich Sie fra-gen: Wie will die Koalition gewährleisten, dass das, wasSie vorgetragen haben, tatsächlich stattfindet, nämlichdass es Unterstützung für die Bundesrepublik Jugosla-wien, insbesondere für die Teilrepublik Serbien, im Rah-men unserer bilateralen Hilfen gibt, ohne dass es zu einerSchmälerung der Hilfen und der Zusammenarbeit mitden anderen Ländern Südosteuropas und Osteuropaskommt? Wie soll also die zusätzliche Hilfe für Serbienbei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Hilfe für die an-deren Länder gewährleistet werden – das haben Sie ebenvorgetragen –, wenn nach den uns jetzt vorliegendenHaushaltsentwürfen der Bundesregierung die gesamtenMittel für Mittel- und Osteuropa sowie für Südosteuropavon jetzt 541 Millionen DM – ich habe die Mittel der Ti-tel für Südosteuropa, MOE und für die Transformations-programme zusammengerechnet – im Jahr 2001 um151 Millionen DM, also um 28 Prozent, gekürzt werden?
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Gernot Erler11827
Herr Kollege Weiß, ich habe
eben schon gesagt – dafür gab es Beifall –, dass das BMZ
heute extra 30 Millionen DM zur Verfügung gestellt hat.
Alle Projekte des Quick-Start-Programms sind im Rah-
men des Stabilitätspaktes finanziell abgesichert. Ich gebe
Ihnen in einem Punkt Recht: Ich persönlich bin der Mei-
nung, dass es zu Beginn des nächsten Jahres eine weitere
Geberkonferenz bzw. Finanzierungskonferenz über den
Stabilitätspakt geben muss. Aber unterscheiden auch Sie
bitte zwischen dem, was ohnehin im Rahmen der europä-
ischen Programme gemacht wird, und dem, was auf
bilateraler Ebene zusätzlich getan wird.
Wir sind weiterhin verpflichtet, das militärische Enga-
gement der KFOR in Jugoslawien fortzusetzen. Ich
glaube, darüber sind wir uns auch einig, weil die KFOR
immer eine doppelte Aufgabe zu erfüllen hatte. Es ist zwar
sicherlich richtig, dass die Aufgabe der KFOR, den Ko-
sovo vor Übergriffen jugoslawischer Sondereinheiten und
Militärs zu schützen, inzwischen weniger bedeutend ge-
worden ist. Das begrüßen wir. Aber die KFOR hat auch
noch die Aufgabe, den Bürgerfrieden im Kosovo zu er-
halten und Minderheiten vor radikalisierten Albanern zu
schützen. Allein aus diesem Grund wird es – das müssen
wir bedenken – kein schnelles Ende dieser Mission geben
können, zu der die Bundeswehr mit 8 000 Soldaten einen
wesentlichen und wichtigen Beitrag leistet, den wir auch
sehr anerkennen.
Mein letzter Punkt betrifft die Frage der Gerechtigkeit.
Ich glaube, wir dürfen keinen Zentimeter von der For-
derung abweichen, dass Milosevic und die anderen iden-
tifizierten Kriegsverbrecher vor den Internationalen Ge-
richtshof in Den Haag gestellt werden müssen. Aller-
dings muss die Frage, in welchem Zeitraum das passieren
muss und kann, in Verbindung mit der Priorität der
Stabilisierung des politischen Wechsels in Belgrad gese-
hen werden.
In diesem Zusammenhang muss noch ein anderer ver-
nünftiger Gedanke berücksichtigt werden. Das Sen-
sationelle an der politischen Entwicklung in Jugoslawien
ist doch die Selbstbefreiung. Das Ende des Regimes
Milosevic ist von innen und nicht von außen eingeleitet
worden. Aber Milosevic hat auch sehr viele Verbrechen
gegen die eigene Bevölkerung begangen. Die neue Ge-
sellschaft in Jugoslawien hat die Chance und auch das
Recht, dies von sich aus zu klären und das begangene Un-
recht selber aufzuarbeiten. Dagegen könnten wir keinen
Einwand erheben, selbst wenn wir die Forderung auf-
rechterhalten, dass die Verbrechen auch noch auf interna-
tionaler Ebene verfolgt werden müssen.
Der 5. Oktober bietet uns eine riesige Chance und ist
uns zugleich Verpflichtung. Wir haben immer gesagt: Nur
dann, wenn Milosevic weg ist, kann es dauerhafte Stabi-
lisierung in Südosteuropa geben. Ich finde, wir haben
viele gute Gründe, jetzt zusammenzuarbeiten und die Sta-
bilisierung gemeinsam zu unterstützen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Dr. Klaus Kinkel.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Glückwunsch an das serbischeVolk, das nach langer Lethargie und Passivität das Jochdes Diktators und Kriegsverbrechers Milosevic abge-schüttelt hat! Die Opposition konnte sich zu lange nichteinigen; wir haben es erlebt. Die ganze Hoffnung ruhtjetzt auf dem neuen Präsidenten Kostunica. Er wird esnicht einfach haben. Ich füge hinzu: Wir werden es mitihm auch nicht einfach haben. Aber er braucht dringendeine Chance. Er braucht Unterstützung, weil das serbischeVolk seine ganze Hoffnung auf ihn setzt.Ich möchte gleich am Anfang sagen, dass alle Serben– auch die hier in der Bundesrepublik lebenden – wissensollten, was wir immer wieder erklärt haben: Wir möch-ten, dass die Serben in die Völkergemeinschaft, nach Eu-ropa zurückkehren. Nichts richtet sich gegen das serbi-sche Volk.
Die Serben gehören zu uns, wir wollen sie bei uns haben.Jetzt kommt auf die Bundesregierung, auf den Bundestag,auf uns alle einiges zu. Ich denke, wir sollten uns auf dieFrage konzentrieren: Was kann man tun?Erstens. Ich schließe an das an, was Sie gesagt haben,Herr Erler: Der neuen Führung in Belgrad muss – ichsage das deutlicher als Sie – unmissverständlich klar ge-macht werden, dass ein demokratischer Neuanfang mitMilosevic nicht möglich und nicht denkbar ist.
Da darf es kein Herumdeuteln und kein Zögern geben:Milosevic gehört nicht nach Belgrad, sondern nach DenHaag. Es darf ihm auch niemand Asyl geben.Frau Beer – gerade war sie noch anwesend – war zu-sammen mit mir und anderen Kollegen in der letzten Wo-che drei Tage im Kosovo. Ich war am 10. Jahrestag derWiedervereinigung nicht nur in Pristina und Prizren beider Bundeswehr, sondern auch in den Bergdörfern. Ge-meinsam mit Rupert Neudeck von der Cap Anamur warich in etwa sechs bis acht dieser Dörfer. Wenn Sie dabeigewesen wären, hätten Sie die Folgen dieser unseligenZerstörungswut bis auf 1 000, 1100 bzw. 1 200 Meter hi-nauf sehen können: Kein einziges Haus ist dort intakt. DieBergbauern, mit denen ich zusammengekommen bin, ha-ben am 14. Mai letzten Jahres entweder durch Granatenoder durch brutale Ermordung elf Familienmitglieder ver-loren. Sie hausen heute im Schafstall. Ich war erschüttert.Bei diesem Besuch ist mir wieder klar geworden, was die-ser Mann für eine Verantwortung auf sich geladen hat.Das, was ich heute sage, habe ich nicht erfunden. Ichhabe es in den letzten Jahren immer wieder gesagt, auchals ich ihm als Außenminister die Hand geben musste, umganz bestimmte Dinge durchzusetzen. Bei den Gesprä-chen habe ich immer das Gefühl gehabt, dass die Frageim Raum stand: War da etwas? Man musste ihm und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. Oktober 200011828
Milutinovic, Herr Kollege Fischer, sagen: Ja, da war et-was. Da waren vier Aggressionskriege. Es gab schreckli-ches Morden und Verwüsten, nicht nur jetzt im Kosovo,sondern auch vorher in Bosnien, in Mostar. Dieser Manngehört zur Verantwortung gezogen. Ich sage mit Klarheit:Jemand, der so viel Schlimmes verursacht hat und dafürdie Hauptverantwortung trägt, darf nicht ruhig schlafen.Ich habe nichts gegen eine Vor-Gericht-Stellung in Jugo-slawien, aber ich habe nicht den Eindruck, dass dies in ab-sehbarer Zeit geschieht. Deshalb ist es ganz wichtig, dasssich die Stärke des Rechts durchsetzt.Zweitens. Wir müssen den Serben zeigen, dass sie zuEuropa gehören. Deshalb war es richtig – das unterstützenwir –, die Sanktionen aufzuheben, im Augenblick ohneBedingungen. Hilfsprogramme sind notwendig: Hilfebeim wirtschaftlichen und demokratischen Aufbau undeine schnelle, direkte Hilfe vor dem Winter für die be-troffenen Menschen, vor allem im Kosovo, wo die Situa-tion wirklich furchtbar ist.Drittens. Dazugehören in Europa heißt natürlich auch,Perspektiven in den europäischen und internationalenOrganisationen zu haben. Deshalb glaube ich, dass manden Serben im Hinblick auf den Europarat Licht am Endedes Tunnels aufzeigen muss, ebenso im Hinblick auf dieOSZE. Man muss auch Licht am Ende des Tunnels auf-zeigen, was das Schild in der Vollversammlung der Ver-einten Nationen anbetrifft – Herr Kollege Fischer, Siewerden es bei Ihrem diesjährigen Besuch wieder gesehenhaben –, hinter dem derzeit niemand sitzt. Schließlichmuss auch Licht am Ende des Tunnels aufgezeigt werden,was eine direkte Affinität zu Europa anbelangt. Ich wagein diesem Zusammenhang einen Gedanken zu äußern,von dem ich weiß, dass er nicht unumstritten sein wird:Wenn sich die demokratischen Strukturen durchsetzen,sollte man den Serben ein Assoziierungsverhältnis beson-derer Art in Aussicht stellen. Ich spreche ausdrücklich voneinem Verhältnis besonderer Art, einem, wenn man sowill, „Vorzimmerstatus“ ohne konkrete Zusagen.Viertens. Hinsichtlich der Flüchtlingsfrage bitte ichgerade nach meinem Kosovo-Besuch in der letzten Wo-che herzlich darum, dass wir nichts übereilen.
Die Flüchtlinge müssen zurück und sie wollen allezurück. Aber sie jetzt, vor einem harten Winter, und in ei-ner Situation, in der in den Dörfern oben – bereits jetztherrscht dort massive Kälte, bereits jetzt fällt dortSchnee – noch die Hälfte der Menschen in UNHCR-Zel-ten lebt, zurückzuschicken, das sollte man sich sehr genauüberlegen. Wir haben lange genug Zeit gehabt und solltenauch jetzt noch ein bisschen Zeit haben.
Fünftens. Ich warne vor Euphorie – Herr Schmidt hatdas auch getan – in Bezug auf den weiteren Fortgang derDinge. Es wird nicht ganz einfach werden.Sechstens. Wir dürfen bitte nicht die Nachbarvölkerder Serben vergessen. Ich weiß, dass jetzt die Statusfrageeine ganz große Rolle spielen wird. Was die Resolution1244 des UN-Sicherheitsrats für den Kosovo angeht, gibtes in absehbarer Zeit keine Chance auf Änderung. Dasheißt, es kann um nicht mehr als um eine Zusage weitest-gehender Autonomie gehen. Den Wunsch aller Kosova-ren, um Gottes willen die Unabhängigkeit zu erreichen,weil es nie mehr möglich sein werde, mit den Serben zu-sammenzuleben, dürfen wir, darf die Völkergemeinschaftnach meiner Meinung letztlich nicht akzeptieren. EinGroß-Albanien kommt übrigens für die Kosovaren nichtin Frage; mit Albanien wollen sie nicht zusammengehen.Auch findet man keinerlei Widerhall, wenn man mit ih-nen über die Albaner in Griechenland und Mazedonienspricht. Eine Unabhängigkeit allein für den Kosovo wirdes aber nicht geben können. Dasselbe gilt für Montene-gro. Aber wir dürfen beide Regionen nicht vergessen undmüssen mit den Menschen dort ehrlich diskutieren. Wirdürfen auch nicht so tun, als stehe unmittelbar etwas be-vor – das hat die Bundesregierung nicht getan; das will ichausdrücklich sagen –, was wir nicht zusagen können.Fazit: Die erfreuliche Entwicklung in Serbien stellteine große Chance dar, jetzt die Balkanregion zu stabili-sieren und an Europa heranzuführen. Gerade in diesen Ta-gen ist mir aufgefallen – man ist ja fast beschämt, wennman durch den Kosovo reist; das wird Ihnen auch so ge-gangen sein –, wie wir Deutsche mit überschwänglichemDank überschüttet werden. Dieser Dank gebührt jetzt inerster Linie der Bundeswehr, die dort eine tolle Arbeitleistet.
Dieser Dank gebührt aber auch allen Nichtregierungsor-ganisationen wie beispielsweise Help und Cap Anamur.Der hier manchmal so angegriffene Rupert Neudeck hatin der Zwischenzeit allein im Kosovo 3 400 Häuser ge-baut.
Ich mag nicht die Hinterzimmervisionäre, sondern dieMacher.
– Er hat sie quasi allein initiiert. – Diese Macher solltenwir unterstützen.Mein Dank gilt im Übrigen den Deutschen, die überlange Jahre hier viele Flüchtlinge aufgenommen habenund die auch privat Enormes gestiftet haben, damit Notund Elend in der Balkanregion einigermaßen gemildertwerden können. Einen solchen Dank sollten wir gerade ineiner solchen Situation nicht ganz hintanstellen.Vielen Dank.
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Dr. Klaus Kinkel11829
Für die Fraktion der
PDS spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS-Bun-destagsfraktion begrüßt mit aufrichtigem Herzen den de-mokratischen Wechsel in Jugoslawien. Wir wünschendem neuen Präsidenten Kostunica Glück bei seinerschweren Aufgabe, zu Frieden, Demokratie und Aussöh-nung beizutragen. Allein wird er es nicht leisten können,wenn es die Zivilgesellschaft nicht leistet. Ich wünschevor allen Dingen, dass das Leben in Jugoslawien für dieeinzelnen Menschen und für das Volk insgesamt etwasleichter wird, weil sich die Situation verbessert. Darummuss es letztlich gehen.Die Menschen in Jugoslawien selbst haben die ÄraMilosevic beendet. Die Politik von Milosevic war – ichsage das in bewusster Hinwendung zum Außenministerund zum Kollegen Schmidt – alles, nur nicht kommunis-tisch oder sozialistisch. Die Politik von Milosevic wardespotisch und nationalistisch; er hat seinem Volk und derBalkanregion großen Schaden zugefügt. Gerade nach derRede des Kollegen Schmidt füge ich hinzu: Ich glaube,dass man auch von diesem Pult aus die serbischen Sozia-listinnen und Sozialisten, die serbischen Kommunistin-nen und Kommunisten gegen Milosevic in Schutz neh-men muss. Ich verteidige die Würde der serbischenSozialistinnen und Sozialisten, weil zu ihrer Geschichteder Widerstand gegen Hitler und Stalin gehört. Auch dassollten wir aus unseren Debatten nicht ausblenden. Werdas tut, der fälscht ebenfalls die Geschichte.
Politiker wie Milosevic und der verstorbene Tudjman– ich sage das voller Bitternis; ich glaube, man merkt sieeinem an – waren durch die Politik der damaligen Bun-desregierung möglich. Die vorschnelle Anerkennung derLoslösung einzelner Staaten und die Zerschlagung Jugo-slawiens sind die Wurzel dieser entsetzlichen Entwick-lung.
– Es sind Wurzeln in unterschiedlicher Art und Weise. Vordieser geschichtlichen Verantwortung kann man sichnicht davonstehlen.In der Rückschau sollte man überlegen, was alles hätteentwickelt werden können und wie viel besser die Situa-tion für die Menschen gewesen wäre, wenn man die Gel-der nicht für den Krieg und für Kriegsfolgen, sondern fürdie Förderung sozialen Wohlstands eingesetzt hätte.
Ich widerspreche der hier vom Außenminister ent-wickelten Logik, dass der Krieg, die Sanktionen, derDruck den Wechsel in Belgrad möglich gemacht haben.
Herr Außenminister, wenn man Ihrer Logik folgt, dannkommt man zu dem Ergebnis, dass es keine Entwicklungvon innen war. Sie sagen: Letztendlich war es der äußereDruck; der Krieg selbst hat das bewirkt. Ich behaupte: Eswar eine Entwicklung von innen; die Menschen selbsthaben es bewirkt und die Menschen selbst haben sich ent-schieden.
– Natürlich hat Milosevic die Wahlen verloren. Es warrichtig, dass sich die Menschen erhoben haben, keineWahlfälschung zugelassen haben und Milosevic gehenmusste. Das ist eindeutig und unstrittig.
Die Völker Jugoslawiens und nicht Bomben, Raketen undSanktionen der NATO haben über die politischen Mehr-heitsverhältnisse entschieden.
– Ich habe sie genauso wenig wie Sie ausgezählt. Das istdoch Unsinn.
Ich sage mit Bedacht und Überlegung: Der völker-rechtswidrige Krieg der NATO war auch eine Misstrau-enserklärung gegen das Volk Jugoslawiens. Keiner, derden Krieg verantwortet bzw. unterstützt hat, kann sichdeshalb aus meiner Sicht heute mit ruhigem Gewissen aufdas Volk von Jugoslawien berufen, auf das er letztendlichBomben hat werfen und Raketen hat schießen lassen.
Der Krieg hat die Veränderung in Jugoslawien nicht her-beigeführt, sondern nur hinausgezögert. Der Krieg hatletztendlich zu einer Verlängerung der Amtszeit vonMilosevic beigetragen.
Herr Außenminister, ich will meinen Zwischenruf er-klären, mit dem ich gesagt habe, das mache die Sachenicht besser. Sie haben nur einen Teil Ihrer politischenVorgehensweise dargestellt. Ich halte die Unterstützungder demokratischen Opposition in der ganzen Welt füreine Selbstverständlichkeit. Da hätte man sehr viel mehrtun müssen. Ihre Politik hat eine Doppelstrategie verfolgt:Unterstützung der demokratischen Opposition und Sank-tionen. Die Sanktionen haben nach meiner Überzeugungdas einfache Volk getroffen; sie haben Nationalismus ge-schürt und ihn nicht abgebaut. Deswegen habe ich formu-liert, das mache die Sache nicht besser.Man darf jetzt keine zusätzlichen Belastungen und Sta-bilitätsrisiken zulassen oder gar herbeiführen. Ich meine,das gilt besonders für den Status Montenegros und desKosovos. Wer heute eine Statusdebatte beginnt – Kollege
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Kinkel hat hier damit bereits angefangen –, der zündelt andem erreichten Zustand und gefährdet die Stabilität. Wirsollten alles tun, um die Stabilität nicht zu gefährden. Wirbrauchen Wiederaufbau, Zuwendung, Auseinanderset-zung, Debatte, Wahrheit und Aufklärung. Ohne das gehtes nicht.Wir brauchen auch – das will ich von dieser Stelle ausdeutlich sagen – eine Einbeziehung in den Stabilitätspakt.Nur direkte Hilfe, wie sie angesprochen wurde, reichtnicht aus.Ich bin für die Aufhebung vieler Sanktionen, aber nichtfür die Aufhebung von Waffenembargos. Ich halte die rus-sische Politik in diesem Bereich für völlig unakzeptabel.Vielmehr möchte ich, dass wir Waffenembargos auch ge-gen andere Länder aussprechen. Da hätten wir gemeinsameine Menge zu tun. Einbeziehung ist nötig, aber auch Be-reitschaft zum Wiederaufbau und zur Übernahme derKriegsfolgen und -lasten in Serbien selbst. Wenn dieseZeichen nicht kommen, werden sich die Startbedingun-gen für Kostunica sehr schnell verschlechtern.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege
Dr. Helmut Lippelt spricht nunmehr für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Erlauben Sie mir als jemandem, der seit 1991 jedes Jahr
immer wieder nach Belgrad gefahren ist, weil er wusste,
dass es dort nicht nur das Regime Milosevic gab, sondern
auch Leute, die die europäischen Werte hochhielten und
die Zivilgesellschaft im besten Sinne darstellten, hier ei-
nige Namen zu nennen und denen zu danken, denen wir
neben dem Dank, den wir hier heute schon gehört haben,
auch zu danken haben.
Ich möchte die Professoren der juristischen Fakultät in
Belgrad nennen, die noch 1991, als die ethnischen Kriege
längst begonnen hatten, in Belgrad ein Symposion zu Idee
und Wirklichkeit des Rechtsstaates veranstalteten.
Ich möchte die Frauen in Schwarz nennen, die mit
ihren wöchentlichen Mahnwachen gegen Krieg und Ras-
sismus antraten. Sie wurden viel beschimpft und waren
noch vor einem halben Jahr schwersten Repressionen
ausgesetzt – Hausdurchsuchungen usw. –, sodass einige
fliehen mussten.
Ich möchte Sonja Biserko und das gesamte Helsinki-
Komitee für Menschenrechte in Serbien mit allen Mitar-
beitern nennen, die jedes Jahr tapfer ihr Buch über die
Menschenrechtssituation herausgebracht haben.
Ich möchte Natasa Kandic nennen und die Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter des Humanitarian Law Center, die
viel dokumentiert haben von dem, was noch in Den Haag
zur Sprache kommen wird. Ich möchte Borka Pavicevic
nennen, die das Zentrum für Kulturelle Dekontamination
gründete.
Ich möchte Biljana Srbljanovic nennen, die in all den
Jahren die „Belgrader Trilogie“ schrieb und die noch
während des Kosovo-Krieges im Bombenhagel ihre
Beiträge und ihr Tagebuch schrieb, das wir alle im „Spie-
gel“ nachlesen konnten.
Wir haben der jungen Studentenbewegung Otpor zu
danken. Hunderte von ihnen sind verprügelt, kurzfristig
verhaftet und einige sogar schwer gefoltert worden.
Ich möchte die vielen Deserteure nennen, die sich an-
gesichts der Realität dieses ethnischen Krieges von
Milosevic abgewandt haben. Viele von Ihnen haben in
Europa vergeblich um Asyl nachgesucht.
Unser Dank gilt auch den Professorinnen und Profes-
soren, die entlassen wurden, weil sie vor drei Jahren keine
Ergebenheitserklärung unterzeichnet haben, als das in-
fame Universitätsgesetz als Teil der psychologischen
Kriegsvorbereitung für den Kosovo-Krieg erlassen
wurde. Nach ihrer Weigerung, die Erklärung zu unter-
zeichnen, haben sie in alternativen Seminaren weiter ge-
lehrt.
Wir danken auch den unabhängigen Journalisten
und Journalistinnen, die trotz der Repression ihrer Me-
dien, trotz Geldbußen und Haftstrafen ihre Arbeit der
Aufklärung fortgesetzt haben. Vorgestern wurde von
Kostunica der Journalist Filipovic begnadigt, der wegen
Berichten über das serbische Militär und seine Verbrechen
im Kosovo zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wor-
den war. Wir hoffen sehr, dass auch Flora Brovina, die
couragierte kosovo-albanische Ärztin, Dichterin und
Menschenrechtlerin, die seit April 1999 im Gefängnis in
Pozarevac festgehalten wird, in den nächsten Tagen frei-
gesprochen wird. Wir hoffen, dass viele von den noch fast
1 000 aus dem Kosovo verschleppten kosovo-albanischen
politischen Gefangenen ebenfalls freigelassen werden.
Ich nenne auch zwei Politiker, die nie Chauvinisten ge-
worden sind: Zarco Korac und Goran Svilanovic.
Alle, die ich genannt habe, waren das Gewissen ihres
Landes und werden, denke ich, die Garanten für eine de-
mokratische und zivile Gesellschaft in Serbien sein.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Karl Lamers.
Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Unter uns gibt es ein großesMaß an Übereinstimmung hinsichtlich der Beurteilungder Lage in Serbien. Wir sind alle glücklich und froh, dassin Serbien eine Revolution – ich zögere, es zu sagen –stattgefunden hat. Jedenfalls hat sie begonnen. Wir sindfroh, dass dieses Volk jetzt eine Chance hat, zu Demokra-tie, Wohlfahrt und zu Europa zu finden.Wir wissen, dass sich auch Chancen für ein neues Ver-hältnis zwischen diesem Land, Europa und dem Westen
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Wolfgang Gehrcke11831
aufgetan haben. Aber Chancen sind keine Wirklichkeit.Wir alle wissen sehr gut, dass der Ausgang dieses Prozes-ses noch offen ist. Wir müssen das sehr nüchtern ins Kal-kül ziehen.Wir wissen, dass der neue Präsident und die Kräfte, dieihn unterstützen, vor einer ungewöhnlich schwierigenAufgabe stehen. Wir wissen, dass die ganze Politik unddie Institutionen demokratisiert werden müssen. Wir wis-sen noch besser, dass es auch eine Revolution in den Köp-fen geben muss; sie hat bestenfalls bei einigen wenigenbegonnen. Ich bin nicht einmal sicher, inwieweit sie imKopf des neuen Präsidenten schon stattgefunden hat.Auch Sie haben es gesagt, Herr Minister: Ohne derWahrheit ins Gesicht zu blicken, ohne sich einzugestehen,welche Verbrechen im Namen des serbischen Nationalis-mus begangen worden sind, und ohne sich einzugestehen,dass der zehnjährige, sich in vier Etappen abspielendeKrieg von Serbien verloren worden ist, wird alles, wasbislang stattgefunden hat, und alles, was wir tun können,tun wollen und auch wirklich tun werden, nicht dazuführen, dass der Prozess ein glückliches Ende findet.Deswegen finde ich es richtig, was der Kollege Kinkelgesagt hat: Wir müssen die hier lebenden Serben bitten,alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um eine solche Re-volution in den Köpfen in Serbien stattfinden zu lassen.Ich stelle mit großer Freude fest, dass jenes Element inder serbischen Gesellschaft, das – bei allen Einschrän-kungen, die ich mache – doch wohl der größte und rele-vanteste Teil der Zivilgesellschaft Serbiens ist, nämlichdie serbisch-orthodoxe Kirche, seine Haltung in der letz-ten Zeit deutlich – und zwar zum Richtigen, zum Gutenhin – verändert hat und dass die serbisch-orthodoxe Kir-che hier sich sehr engagiert. Wir sollten das mit allemNachdruck unterstützen.Wir wissen: Keines der Probleme ist gelöst. Das, wasman im Falle Serbiens zu Recht – ohne jedwede, unsmerkwürdig erscheinende Konnotation – als die nationaleFrage bezeichnen kann, ist nicht gelöst. Besser müsste ichsagen: Sie ist in einem ganz anderen Sinne gelöst, alsMilosevic sie lösen wollte. Milosevic wollte sie lösen, in-dem er alle Serben in einem Großserbien zusam-menfasste. Jetzt leben fast alle Serben sozusagen in einemKleinserbien. Das bedeutet, dass 750 000 Flüchtlinge inSerbien leben, und nicht etwa nur 600 000, wie Sie, HerrErler, es gesagt haben. Es sind nicht alles Serben, aberdoch gewiss der größte Teil.Ist das die endgültige Antwort der Geschichte? DieBotschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, wennKlaus Kinkel sagt: Sie müssen alle zurückkehren. – Eswäre die erste unter den zahllosen Vertreibungen, die wirim vergangenen Jahrhundert erlebt haben, die wiederrückgängig gemacht werden würde. Die bisherigen Er-gebnisse sprechen nicht dafür, dass wir in diesem Fall et-was Neues erleben.
– Aber mit unserer militärischen Hilfe, Herr KollegeErler. Außerdem sind, wie Sie wissen, die Serben zu ei-nem großen Teil geflohen.
Sie werden nicht bestreiten können, dass sie im Augen-blick nicht zurückkehren können.Es stellt sich in der Tat die Frage: Wie kann unsereHilfe aussehen? Ich unterstreiche das, was alle Kollegenhier gesagt haben: Wir müssen alles in unseren KräftenStehende tun, um zu helfen, wobei die symbolische Be-deutung vielleicht noch größer ist. Wir müssen dem ser-bischen Volk klar machen: Wir, also der Westen, die Eu-ropäische Union, sind nicht sein Feind, sondern seinPartner. Wir wollen sein Freund sein. Wer schnell hilft,hilft doppelt.
Es ist richtig, wenn wir den Serben helfen wollen, nachEuropa zurückzukehren. Wenn wir darunter die Mitglied-schaft in der Europäischen Union verstehen, dann mussman realistischerweise sagen, dass diese sehr ferne Per-spektive den Serben heute nicht unmittelbar helfen kann.Wir sehen doch, wie schwierig es ist, unsere östlichenNachbarn in der von uns erhofften und gewünschten Zeitin die Europäische Union einzugliedern.Die Frage stellt sich schon, ob uns nicht – ich sage eseinmal bewusst salopp – etwas Neues einfallen muss.
– Wir haben noch nichts Neues, Herr Minister. – Ich fandsehr interessant, was Klaus Kinkel hier gesagt hat. Ichgehe weiter. Heute Morgen waren im Auswärtigen Aus-schuss Kollegen aus Mazedonien zu Gast. Der mazedoni-sche Kollege hat mehrmals betont – Sie waren ja dabei,Herr Kollege Erler –: Wir brauchen so etwas wie eine in-stitutionalisierte Kooperation. – Das ist vollkommen rich-tig. Wieso institutionalisieren wir nicht den Stabilitäts-pakt?
– Nein, das verstehe ich nicht unter Institutionalisierung.Ich verstehe darunter, dass dieser Stabilitätspakt eine In-stitution wird wie die Europäische Union. Er soll gewis-sermaßen zu einer Euregio besonderer Art werden, an deralle – nicht nur die Staaten des früheren Jugoslawien, son-dern auch die Nachbarn wie etwa die Ungarn und dieGriechen – beteiligt sind, in der sie Kooperation üben, inder die Europäische Union sie dazu veranlassen, nötigen-falls auch zwingen kann, mitzuarbeiten. In dieser Institu-tion sollte die Europäische Union nicht nur einen Sitz undeine Stimme haben, sondern – auch eine ausschlagge-bende Rolle spielen.
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Ich glaube, dies ist eine sehr viel realistischere Vorstel-lung von der Heranführung dieses Teils unseres Konti-nents an die Europäische Union als das Versprechen einerwirklich fern liegenden Mitgliedschaft in der Europä-ischen Union.Es mag sein, dass der Gedanke zu kühn sein mag. Ichbin allerdings davon überzeugt, dass die bisherigen Wegemit Sicherheit nicht ausreichen. Unsere größte Anstren-gung muss die in unseren eigenen Köpfen sein.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun spricht für die
SPD-Fraktion der Kollege Dr. Eberhard Brecht.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Politikersollten eigentlich nicht sentimental sein. Und trotzdem:Als die Bilder von den Hunderttausenden von Menschen,die durch die Straßen Belgrads marschierten und ihre No-menklatura in die Pensionierung schickten, über denÄther gingen, da wurden meine Augen feucht. Ich glaube,das war bei manch anderem Kollegen ähnlich.In den Zeitungen liest man in diesem ZusammenhangWorte wie „schwärmen“ und „Euphorie“. Eine Zeitungschrieb, dass man angesichts der Entwicklungen nicht be-soffen werden sollte. Das sollten wir in der Tat nicht– viele meiner Vorrednerinnen und Vorredner haben das jabereits festgestellt –, denn eine Konsolidierung ist nochnicht durchgesetzt. Die Revolution ist noch nicht endgül-tig gewonnen.In einem solchen Moment sollten wir einmal zurück-schauen: Was haben wir denn noch vor wenigen Wochender serbischen Opposition zugetraut? Da gab es die Eli-ten und da gab es das serbische Volk, dem wir nachsagten,dass es in seiner großen Mehrheit lethargisch und ergebensei. Wir meinten, die Serben hätten sich bereits im De-zember 1996 bei den Demonstrationen, die überwiegenderfolglos waren, die Füße wund gelaufen. Wir meinten,die Serben hätten kein Vertrauen mehr zu der völlig zer-splitterten Opposition. Wir meinten, das serbische Volksei in seiner materiellen Not darauf fixiert, den täglichenÜberlebenskampf zugunsten der Familien zu gewinnen.Dabei hätten wir uns an den Herbst 1989 erinnern kön-nen. Niemand von uns Ostdeutschen konnte damals dasErgebnis vorhersehen, das wir mit unseren kleinen Einga-ben, unseren Protesten und den zarten Friedensgebetenmit am Anfang 20, 30 Menschen angeschoben haben.Schließlich fiel von uns im Laufe dieses Prozesses dieAngst ab und wir bekamen von Tag zu Tag mehr Kraftzum Gestalten, sodass schließlich klar wurde, dass nichtein Diktator, sondern nur das Volk mit seinen frei ge-wählten Vertretern der wahre Souverän sein kann. Das istauch hier in Serbien passiert.Doch nicht nur den Menschen in Serbien ist an dieserStelle zu danken. Ohne die präventive Politik der west-lichen Regierungen, der Nichtregierungsorganisationenund Kommunen wäre das Wunder von Belgrad vermut-lich so nicht möglich gewesen. Die Hilfen für die von derOpposition regierten Städte durch Energielieferungen,durch Straßenbau und Bildungsangebote waren ein Bau-stein dieser Politik. Ein anderer war die Unterstützung derOpposition und der freien Medien mit Telefonen, Com-putern und Büromaterial. Schließlich möchte ich an dasbeharrliche Bemühen unseres Außenministers und seinerengagierten Mitstreiter erinnern, durch sanften Druck vonaußen den Oppositionssolisten in Belgrad klarzumachen,dass sie nur Erfolg haben können, wenn sie in einem Or-chester spielen. Wir hoffen nun darauf, dass dieses Or-chester zusammenbleibt und nicht zerfällt und dass esdazu beiträgt, dass es zu weniger dissonanten Tönen aufdem Balkan kommt. Für diese ausgezeichnete Konflikt-prävention sei der Bundesregierung von dieser Stelle ausherzlich gedankt.
Eine Äußerung des Abgeordneten Gehrcke veranlasstmich zu einer weiteren Bemerkung. Mit Ihrer Erlaubnis,Herr Präsident, zitiere ich im Originalton eine Presseer-klärung von Herrn Gehrcke:Es bleibt ein bitterer Beigeschmack, wenn der Wes-ten einen Erfolg der Opposition mit einer selten somassiv praktizierten Einmischung verbunden hat.
Dieser ungeheuerliche Satz müsste einmal interpretiertwerden.
Denn diese Einmischung war ein Teil der Voraussetzungfür die jetzigen Entwicklungen. Diesen bitteren Beige-schmack hatte Herr Gehrcke hoffentlich auch bei der vonMilosevic angerichteten Apokalypse, als Hunderttau-sende von Menschen umgekommen sind,
als Hunderttausende von Menschen als Flüchtlinge durchden Balkan irrten, und angesichts der dortigen Zerstörun-gen und des Hasses, der zwischen den Generationen auf-gebaut worden ist. Die Verwüstungen in den Köpfen wer-den wahrscheinlich den Neuanfang des neuen Jugos-lawiens erheblich erschweren.Zunächst geht es nun um die innenpolitische Konsoli-dierung Jugoslawiens. Nach der weitgehenden Aufhe-bung der Sanktionen stehen jetzt für die Bundesrepublikund die EU eine humanitäre Soforthilfe und die Einbezie-hung Jugoslawiens in den Stabilitätspakt auf dem Pro-gramm. Wir haben eben gerade gehört, was beschlossenworden ist. Es wäre fatal – darauf haben schon verschie-dene Redner hingewiesen –, wenn die finanziellen Mittelinnerhalb des Stabilitätspaktes nun zulasten der anderenEmpfängerländer umgeschichtet werden. Deswegenmuss der Stabilitätspakt in der Tat ergänzt und erweitertwerden. Ich hoffe, dass die Haushälter noch bis zur Be-reinigungssitzung zu einer Verständigung kommen und
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Karl Lamers11833
dies, wenn das möglich ist, auch seinen Niederschlag imEinzelplan 05 findet.Das serbische Volk hat in seiner großen Mehrheit am5. Oktober die Revolution gewonnen. Das serbische Volkist der Gewinner. Dass umgekehrt Milosevic und seineNomenklatura die klaren Verlierer sind, liegt auf derHand.Daneben gibt es die in der Region, die ich vielleichteinmal „sekundäre Verlierer“ nennen möchte: Da sind dienationalistischen Serben um Radovan Karadzic in der Re-publik Srpska, die nun ihren Übervater verloren haben. Esist nur zu hoffen, dass die radikalen Kräfte schwächerwerden. Diese Hoffnung ist begründet durch das ebenfallsnachlassende Störfeuer der kroatischen Nationalisten inder Föderation nach dem Tode von Franjo Tudjman.Auch die serbischen Hardliner im Kosovo haben mitSlobodan Milosevic ihren fanatischsten Mitstreiter fürfrühere Privilegien gegenüber den Albanern verloren.Dennoch ist es derzeit völlig offen, in welchem Ausmaßsich Präsident Kostunica in seiner Kosovo-Politik vonseinem Amtsvorgänger unterscheiden wird.Auch diejenigen Montenegriner, die eine Sezessionvon Serbien, unabhängig von den politischen Verhältnis-sen in Belgrad, betreiben, werden kaum noch auf die – oh-nehin verhaltene – Unterstützung des Westens für ihr Vor-haben rechnen können. Die ersten Reaktionen ausPodgorica auf die Revolution waren entsprechend verhal-ten. Milo Djukanovic und sein Kabinett sollten nicht analten Unabhängigkeitsträumen für die winzige Teilrepu-blik festhalten, sondern auf dem Verhandlungswege eineakzeptable Neufassung der jugoslawischen Verfassungerstreiten. Zu diesem schweren, aber realistischen Wegsollten wir beide Seiten ermuntern, wenn nicht gar drän-gen.Schließlich befürchten nun die Kosovo-Albaner, dassdie internationale Gemeinschaft ihren Anspruch auf eineunabhängige Republik Kosovo von der Agenda interna-tionaler Gespräche streichen wird. Mit einem imperialenDiktator im Rücken als Feindbild war die Notwendigkeiteiner albanischen Republik Kosovo leichter vermittelbar.Auch die Kosovo-Albaner werden sich den neuen Rea-litäten stellen müssen. Eine Regelung des Status derfrüher autonomen Provinz Kosovo scheint auf absehbareZeit nicht erreichbar. Hier sollten keine falschen Hoffun-gen erweckt werden. Wichtiger ist es vielmehr, den ge-genseitigen Hass aus der Ära Milosevic abzubauen. Mitkleinen Schritten der Vertrauensbildung könnte es mög-lich sein, langfristig den Boden für eine Statusregelung zubestellen. Denn erst wenn die Menschen begreifen, dassihr persönliches Glück, ihre Lebensqualität weniger vonGrenzverläufen, Flaggen und Hymnen als vielmehr vonder Einhaltung der Menschenrechte, von Demokratie,Prosperität und Bildung abhängen, wird für sie ein Lebenin Frieden und Glück möglich sein.Die Geschichte der letzten zehn Jahre – die „Erbfolge-kriege“ eines größenwahnsinnigen Diktators – macht dasVerhältnis der Serben zu ihren Nachbarn nicht gerade ein-fach. Eine Ausgrenzung der Serben würde dem Geist desStabilitätspaktes und auch unseren Interessen widerspre-chen. Mit der Revolution der letzten Woche wurde einenotwendige Bedingung für die Wiederherstellung vonVertrauen geschaffen. Hinreichend ist dies noch langenicht. Wir sollten dem serbischen Volk und seinen Nach-barn dabei helfen, das Konfliktpotenzial abzubauen undVertrauen aufzubauen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächs-
te Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen,
Donnerstag, den 12. Oktober 2000, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.