Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bericht des Bundesschuldenausschusses
über seine Tätigkeit sowie die Verwal-
tung der Bundesschuld im Jahre 1998
f) – i) Beratung der Beschlußempfehlungen
des Petitionsausschusses:
Sammelübersichten 98, 99, 100, 101 zu
Petitionen
in Verbindung mit
Zusatztagesordnungpunkt 6:
Weitere abschließende Beratung ohne
Aussprache
Beschlußempfehlung des Haushaltsaus-
schusses zu dem Entwurf eines Gesetzes
über die Feststellung des Bundeshaus-
haltsplans für das Haushaltsjahr 2000
hier: Abstimmung einer Entschließung
unter Nr. 2 der Beschlußempfehlung
. 6976 A
Tagesordnungspunkt 5:
Antrag der Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Einsetzung eines
in Verbindung mit
Zusatztagesordnungspunkt 7:
Antrag der Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Entbindung von
der Schweigepflicht gegenüber dem
Frank Hofmann SPD ....................... 6977 C
Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU.................. 6977 C
Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN ......................................................... 6980 B
Dr. Guido Westerwelle F.D.P. .................... 6980 C
Jörg van Essen F.D.P. ...................................... 6983 A
Dr. Evelyn Kenzler PDS .................................. 6984 B
Christine Lambrecht SPD................................. 6885 B
Gerd Höfer SPD ............................................... 6986 D
Dr. Rainer Wend SPD ...................................... 6987 D
Namentliche Abstimmung................................ 6989 A
Ergebnis............................................................ 6989 C
Tagesordnungspunkt 6 b:
Antrag der Fraktion CDU/CSU: Ein mo-
dernes Stiftungsrecht für das 21. Jahr-
hundert .................. 6993 D
Dr. Norbert Lammert CDU/CSU ..................... 6994 A
Ludwig Stiegler SPD........................................ 6996 C
Dr. Norbert Lammert CDU/CSU ................. 6998 B
Hans-Eberhard Urbaniak SPD...................... 6999 A
Dr. Rita Süssmuth CDU/CSU ...................... 6999 C
Monika Griefahn SPD.................................. 7000 B
Hans-Joachim Otto F.D.P. ............ 7000 D
Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN ..................................................... 7001 A
Jörg Tauss SPD ............................................ 7002 A
Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN.................................................................. 7003 A
Hans-Joachim Otto F.D.P.......... 7004 B
Dr. Norbert Lammert CDU/CSU ................. 7005 A
Dr. Heinrich Fink PDS ..................................... 7005 D
Norbert Röttgen CDU/CSU.............................. 7006 D
Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN ..................................................... 7008 B
Dr. Michael Naumann, Staatsminister BK....... 7008 D
Hans-Joachim Otto F.D.P. ........ 7010 A
Tagesordnungspunkt 7:
Erste Beratung des von den Abgeordne-
ten Ernst Burgbacher, Gisela Frick, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P.
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Einkommensteuer-
IV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
Ernst Burgbacher F.D.P. .................................. 7012 A
Horst Schild SPD.............................................. 7013 B
Ernst Burgbacher F.D.P. .............................. 7013 C
Hans Michelbach CDU/CSU............................ 7015 D
Klaus Wolfgang Müller BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN.................................................. 7017 D
Ernst Burgbacher F.D.P. .................................. 7019 A
Klaus Wolfgang Müller BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN.................................................. 7019 C
Heidemarie Ehlert PDS..................................... 7019 D
Tagesordnungspunkt 8:
– Zweite und dritte Beratung des von den
Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Neuordnung des Berufsrechts der
Rechtsanwälte und der Patentanwälte
................ 7020 C
– Zweite und dritte Beratung des von der
Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Neuordnung des Berufsrechts der
Rechtsanwälte und der Patentanwälte
.................. 7020 D
Christine Lambrecht SPD................................. 7020 D
Manfred Kanther CDU/CSU ............................ 7022 A
Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN.......................................................... 7022 B
Rainer Funke F.D.P. ........................................ 7023 B
Dr. Evelyn Kenzler PDS................................... 7023 D
Christine Lambrecht SPD............................. 7024 C
Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ ...... 7025 A
Tagesordnungspunkt 9:
Große Anfrage der Abgeordneten Kersten
Naumann, Eva-Maria Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
PDS: Die Rolle der deutschen Land-
wirtschaft in der europäischen Agrar-
politik und die Strategie der Bundes-
regierung bei der Mitgestaltung der
Kersten Naumann PDS ..................................... 7026 B
Karsten Schönfeld SPD .................................... 7027 C
Meinolf Michels CDU/CSU ............................. 7028 D
Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.. 7029 D
Ulrich Heinrich F.D.P. .................................... 7030 D
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär
BML ................................................................. 7031 D
Kersten Naumann PDS................................. 7031 D
Meinolf Michels CDU/CSU......................... 7032 C
Albert Deß CDU/CSU...................................... 7034 A
Tagesordnungspunkt 10:
Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel,
Norbert Barthle, Wolfgang Behrendt
sowie weiterer Abgeordneter aus allen
Fraktionen: Stärkung der freien Rede
Dirk Niebel F.D.P. ........................................... 7035 C
Christian Lange SPD .................... 7036 B
Norbert Barthle CDU/CSU .............................. 7037 B
Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN.................................................................. 7038 B
Christine Ostrowski PDS.................................. 7039 A
Jürgen Koppelin F.D.P. ................................... 7039 D
Birgit Roth SPD................................. 7040 D
Axel E. Fischer CDU/CSU.. 7041 B
Ernst Burgbacher F.D.P. .............................. 7042 A
Dr. Michael Bürsch SPD.............................. 7042 B
Hans Michelbach CDU/CSU........................ 7042 C
Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 7042 D
Carsten Hübner PDS ........................................ 7043 B
Tagesordnungspunkt 11:
Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
Gerhardt, Dr. Günter Rexrodt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.:
Wiederaufbau des Berliner Stadtschlos-
ses ........................... 7044 A
Dr. Günter Rexrodt F.D.P. .............................. 7044 B
Eckhardt Barthel SPD......................... 7045 B
Bernd Neumann CDU/CSU............. 7047 B
Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN.................................................. 7049 C
Dr. Heinrich Fink PDS ..................................... 7051 D
Tagesordnungspunkt 12:
Beschlußempfehlung und Bericht des Fi-
nanzausschusses zu dem Antrag der Ab-
geordneten Christine Ostrowski, Dr. Ilja
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 V
Seifert, Dr. Winfried Wolf und der Frak-
tion PDS: Novellierung des Eigenheim-
Nächste Sitzung ................................................ 7052 C
Berichtigung ..................................................... 7052 C
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten ............ 7053 A
Anlage 2
Erklärung der Abgeordneten Verena Wohl-
leben zur namentlichen Abstimmung
über den Änderungsantrag der Fraktion F.D.P.
zu Abschnitt I des Antrages: Einsetzung
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
der Beschlußempfehlung und des Berichts:
Novellierung des Eigenheimzulagengesetzes
................................. 7053 D
Dieter Grasedieck SPD .................................... 7053 D
Dr. Michael Meister CDU/CSU ....................... 7054 D
Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN .................................................. 7056 A
Horst Friedrich F.D.P. ................. 7056 C
Christine Ostrowski PDS.................................. 7057 A
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6925
(C)
(D)
76. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
Beginn: 9.00 Uhr
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der
Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Unsicherheit über die weitere Entwicklung der Bundes-wehr nach der Rede des Bundeskanzlers vor der Kom-mandeurstagung
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Nolte, BirgitSchnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU: Alte Versprechen nichterfüllt und neue Wege nicht gegangen – Bilanz der Behin-dertenpolitik – Drucksache 14/2234 –
Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ent-wurfs eines Zweiten Eigentumsfristengesetzes – Drucksache 14/2250 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder(federführend)Rechtsausschuß
b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Fortsetzung der Berichterstat-tung der Bundesregierung zum Stand der DeutschenEinheit – Drucksache 14/2238 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder(federführend)FinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungHaushaltsausschuß
6. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache(Ergänzung zu TOP 17)
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsauschusses(8. Ausschuß) zu dem Entwurf eines Gesetzes über die Fest-stellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2000(Haushaltsgesetz 2000); hier: Abstimmung einer Entschlie-ßung unter Nr. 2 der Beschlußempfehlung – Drucksachen14/1400, 14/1680, 14/1923 –
7. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Entbindung von der Schweige-pflicht gegenüber dem Untersuchungsausschuß – Druck-sache 14/2236 –
8. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Regie-rungskonferenz 2000 und Osterweiterung – Herausforde-rungen für die Europäische Union an der Schwelle zumneuen Millennium – Drucksache 14/2233 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union(federführend)Auswärtiger AusschußInnenausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für Arbeit und SozialordnungVerteidigungsausschußAusschuß für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschuß
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Hauss-mann, Hildebrecht Braun , Ernst Burgbacher,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Europäi-
6926 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
scher Rat in Helsinki: EU-Erweiterung voranbringen,politische Union vertiefen – Drucksache 14/2246 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hierbei mache ich insbesondere darauf aufmerksam,
daß das ursprünglich vorgesehene zweite Kernzeitthema
zur Energiepolitik abgesetzt und durch ein die BAföG-
Reform betreffendes Kernzeitthema ersetzt werden soll.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-
weit erforderlich – abgewichen werden. Außerdem soll
der Tagesordnungspunkt 6a, der einen Gesetzentwurf
der Koalitionsfraktionen zur Förderung des Stiftungswe-
sens vorsah, abgesetzt werden. Sind Sie mit den Verein-
barungen einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3a bis 3c sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
3. a) Vereinbarte Debatte zur Behindertenpolitik
b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Integration von Menschen mit Behinde-
rungen ist eine dringliche politische und ge-
sellschaftliche Aufgabe
– Drucksache 14/2237 –
Überweisungsvorschlag:
tionsausschusses
Sammelübersicht 94 zu Petitionen
– Drucksache 14/1982 –
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Nolte, Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böh-
mer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege
nicht gegangen – Bilanz der Behindertenpoli-
tik
– Drucksache 14/2234 –
Überweisungsvorschlag:
Ein Anspruch auf Würde und darauf, daß sie unan-
tastbar ist, hat jeder Mensch – unabhängig von seinen
geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeiten. Wir
müssen behinderten Menschen Chancengleichheit ein-
räumen und notwendige Hilfen geben, damit sie ihren
Platz in der Gesellschaft einnehmen können. Es ist eine
Grundüberzeugung in unserem Lande, die von allen
demokratischen Kräften geteilt wird: Behinderte und
von Behinderung bedrohte Menschen verdienen die be-
sondere Solidarität unserer Gesellschaft. Das soll und
muß so bleiben.
Uns allen ist bewußt, daß die Chancengleichheit be-
hinderter Menschen bei weitem noch nicht erreicht ist.
Barrieren – nicht nur auf den Straßen und in den Gebäu-
den, sondern auch in den Köpfen – behindern die behin-
derten Menschen, ihre Chancen wahrzunehmen.
Das war ein Grund dafür, daß der Deutsche Bundes-
tag vor fünf Jahren mit großer Mehrheit das Grundge-
setz um den Art. 3 Abs. 3 Satz 2 ergänzt hat: „Niemand
darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Damit wurde nicht nur ein neues individuelles Grund-
recht geschaffen, sondern zugleich die Verpflichtung für
Politik und Gesellschaft bekräftigt, sich aktiv um die
volle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in
Familie, Beruf und im täglichen Leben zu bemühen.
Die neue Bundesregierung will dieser Verpflichtung
gerecht werden. Das hat die Regierungskoalition schon
in der Koalitionsvereinbarung deutlich gemacht. Wir
sind aufgerufen, Behinderten und von Behinderung be-
Präsident Wolfgang Thierse
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6927
(C)
(D)
drohten Menschen bei der Entwicklung ihrer Fähigkei-
ten Hilfestellung zu geben.
Dabei dürfen wir nicht auf die Einschränkung der
Leistungsfähigkeit abstellen, sondern müssen uns auf
das Potential dieser Menschen konzentrieren.
Rehabilitation ist als Chance für einen Neuanfang zu
begreifen. Es ist nicht das Ziel, Menschen, die in ihrer
Leistungsfähigkeit vorübergehend oder dauerhaft einge-
schränkt sind, zur passiven Klientel unseres Sozialstaats
werden zu lassen.
Entsprechend unserem Verständnis von Rehabilitati-
on als wichtigem Feld der Sozialpolitik brauchen wir zur
Erfüllung dieser Aufgabe Prävention in jeder Form, um
körperliche, geistige und seelische Schäden möglichst
gar nicht entstehen zu lassen. Wir brauchen auch Reha-
bilitation in jeder Form, um bei unvermeidbaren Schä-
den möglichst wenig an Funktionseinschränkungen und
sozialer Benachteiligung entstehen zu lassen.
Schließlich brauchen wir dauerhafte Sozialleistungen
bei einer Behinderung, wie zum Beispiel Rente und
Pflege – aber erst dann, wenn alle anderen Möglichkei-
ten ausgeschöpft sind, die den Betroffenen ein sozial
und wirtschaftlich eigenverantwortliches Leben sichern
können.
An den Grundsätzen der Rehabilitationspolitik wer-
den wir nichts ändern. Hier ist uns Kontinuität wichtig.
Es gelten auch weiterhin die Grundsätze: Prävention vor
Rehabilitation, Rehabilitation vor Rente und Pflege,
Selbsthilfe vor Fremdhilfe, ambulant vor stationär. Da-
bei streben wir eine weitestgehende Normalität für die
Betroffenen an.
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert,
PDS-Fraktion?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja.
Herr Minister, vielen Dank, daß
Sie gleich am Anfang deutlich gesagt haben, daß Sie die
Fähigkeiten von behinderten Menschen in den Vorder-
grund stellen wollen. Aber wäre es nicht an der Zeit, diese
Formeln Reha vor Rente, Reha vor Pflege usw. zu ergän-
zen durch Reha plus Rente oder Reha plus Assistent?
Denn es kann doch nicht sein, daß das eine gegen das an-
dere ausgespielt wird. Behindertenpolitik kann sich doch
nicht in Rehabilitationspolitik erschöpfen. Es muß endlich
als Teil des Ganzen begriffen werden. Sehen Sie das nicht
auch so? Ich habe Befürchtungen, daß die Diskussion auf
die Reha-Politik begrenzt wird, obwohl wir eigentlich
über Behindertenpolitik reden müßten.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozi-
alordnung: Ich verstehe das als Vorrangprinzip und nicht
als Ausschluß. Natürlich haben wir auch Rehabilitation
in unserem Rentensystem. Ich möchte Rehabilitation
nicht ausgeschlossen sehen, sondern in dem Sinne eines
Grundsatzes des Vorrangs und Nachrangs, nicht des
Ausschlusses.
Wir wollen die angesprochenen Grundsätze noch bes-
ser, noch wirkungsvoller und mit noch besseren Ergeb-
nissen für die Betroffenen umsetzen. Aus unserer Sicht
können die vorhandenen Ressourcen noch besser einge-
setzt werden. Mit Ressourcen meine ich vor allem die
menschlichen Fähigkeiten, in erster Linie die der Betrof-
fenen, aber ebenso die von der Gesellschaft bereitge-
stellten Mittel in Form von Arbeit und Geld.
Es muß eine Hinwendung zu einer frühzeitigeren und
umfassenden Rehabilitation erfolgen. Rehabilitation darf
nicht als Phase, die erst nach Abschluß der Akutbe-
handlung einsetzt, sondern muß als eine übergreifende
Zielsetzung angesehen werden.
Fachübergreifende Frührehabilitation ist notwendig,
um die physischen und psychischen Lebensqualitäten
der Betroffenen schnell zu verbessern, die Rückkehr in
das soziale Umfeld rascher zu ermöglichen, Pflegebe-
dürftigkeit zu verhindern oder zumindest hinauszuzö-
gern, den Aufenthalt im Krankenhaus und in der Reha-
Einrichtung insgesamt zu verkürzen – auch, um Kosten
zu senken. Zeit ist kostbar, und zwar im wahrsten Sinne
des Wortes für die Betroffenen, für die Gesellschaft und
im Sinne einer Kostenersparnis im Gesundheitswesen.
Entsprechendes gilt natürlich auch für die ambulante
Gesundheitsvorsorge, nicht zuletzt dort, wo sich am-
bulante und stationäre Dienste und Einrichtungen noch
immer als zwei getrennte Welten verstehen, nicht als zu-
sammengehörige Teile eines umfassenden, kundenori-
entierten Dienstleistungsangebotes.
Nicht nur in medizinischer, sondern auch in berufli-
cher Hinsicht ist es unstrittig, daß Rehabilitation so
schnell wie möglich einsetzen muß. Sie ist um so wirk-
samer, je eher sie tatsächlich erbracht wird.
Internationale Studien gehen davon aus, daß die
Chancen, wieder in Arbeit zu kommen, nach sechs Mo-
naten Abwesenheit von der Arbeit bei 50 Prozent liegen.
Nach einem Jahr liegen die Chancen nur noch bei
20 Prozent und nach zwei Jahren bei 10 Prozent. Hier
muß sich viel ändern. Lange Wartezeiten, lange Bear-
beitungszeiten von Anträgen zur beruflichen Wiederein-
gliederung behinderter und von Behinderung bedrohter
Arbeitnehmer sind Hürden, die rasch abgebaut werden
müssen – zum Nutzen der betroffenen Menschen, zum
Nutzen für die Gesellschaft, auch aus Kostengründen.
Eng damit verbunden ist die Organisation eines ziel-
gerichteten Eingliederungsmanagments. Ein solches
Eingliederungsmanagement muß Ausgliederungen aus
dem Arbeitsleben wirksam verhindern. Unsere Instru-
mente wirken heute nur für einen engen Personenkreis
und leider oft zu spät, um behinderten und von Behinde-
Bundesminister Walter Riester
6928 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
rung bedrohten Menschen ihre berufliche Eingliederung
zu erhalten.
Ziel muß es sein, Behinderten und von Behinderung
bedrohten Menschen ihre Arbeitsplätze zu erhalten.
Wenn das nicht gelingt, muß mit allen geeigneten Mit-
teln ein neuer Anlauf zur Wiedereingliederung in das
Arbeitsleben gefördert werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit bin
ich an einem Punkt angekommen, der mir große Sorge
bereitet: die in den letzten Jahren angewachsene über-
durchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit schwerbehin-
derter Menschen. Im Oktober waren es bundesweit rund
190 000 Schwerbehinderte, die arbeitslos waren. Die
Arbeitslosenquote Schwerbehinderter lag bei 17,7 Pro-
zent. Im Westen war sie mit 16,6 Prozent etwas günsti-
ger, in den neuen Ländern mit 24,3 Prozent erheblich
schlechter.
Die Entwicklung in den letzten zehn Monaten 1999
hat zwar einen Rückgang der spezifischen Arbeitslosen-
quote von 18,5 Prozent im Januar auf 17,7 Prozent im
Oktober 1999 erbracht. Das ist aber natürlich bei weitem
nicht zufriedenstellend.
Gleichzeitig ist der Anteil der beschäftigten Schwer-
behinderten an den Belegschaften in den vergangenen
Jahren immer weiter gesunken. Die Beschäftigungs-
quote liegt mittlerweile bei nur noch 3,9 Prozent. Über-
haupt nicht zufriedenstellend ist der Beschäftigungsan-
teil Schwerbehinderter bei den privaten Arbeitgebern,
der mit 3,4 Prozent im Jahr 1997 seinen tiefsten Stand
seit Jahren erreicht hat.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehin-
derter wird damit zu einer besonderen politischen Her-
ausforderung. Der Trend der letzten Jahre zu einer im-
mer geringer werdenden Bereitschaft, Schwerbehinderte
zu beschäftigen, muß umgedreht werden.
Unter den beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern
gibt es inzwischen einen Anteil von 37,5 Prozent, die
nicht einen einzigen Schwerbehinderten beschäftigt ha-
ben. Es gibt zwar auch Arbeitgeber, die gewissenhaft
und vorbildlich sind. Die Zahl derer, die ihr Beschäfti-
gungssoll erfüllt oder übererfüllt haben, ist aber leider
mit 24 100 viel zu gering. Das kann nicht so bleiben.
Das darf nicht so bleiben.
Die Verpflichtung, im Rahmen solidarischer Verant-
wortung einen bestimmten Teil der Arbeits- und Ausbil-
dungsplätze für schwerbehinderte Menschen bereitzustel-
len, muß wieder ernst genommen werden. Nirgendwo an-
ders hat der Satz, daß Solidarität mit Schwächeren ein un-
verzichtbarer Kitt ist, der unsere Gesellschaft zusammen-
hält, größere Berechtigung als genau an diesem Punkt.
Dabei erscheint das Problem, Arbeitslosigkeit
Schwerbehinderter zu lösen, durchaus lösbar. Wenn je-
der der 71 200 beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber,
die heute keinen Schwerbehinderten beschäftigen, nur
einen beschäftigen würde, wäre das Problem schon ent-
schärft. Wenn jeder der 189 300 beschäftigungspflichti-
gen Arbeitgeber nur einen Schwerbehinderten zusätzlich
einstellen würde, wäre das Problem zumindest rechne-
risch gelöst.
Schwerbehinderte sind leistungsbereit und leistungs-
willig. Wer die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
tatenlos hinnimmt, wer meint, sich durch die Zahlung
einer Ausgleichsabgabe von seiner Verantwortung ge-
genüber den Schwerbehinderten freikaufen zu können,
der verweigert diesen behinderten Menschen die Teil-
nahme am Arbeitsleben und damit auch ein Stück weit
die Teilhabe am Leben in dieser Gesellschaft.
Schwerbehinderte Menschen, ich sagte es, sind lei-
stungsfähig und nicht weniger qualifiziert als Nichtbe-
hinderte. Wenn der Arbeitsplatz richtig ausgewählt oder
der Behinderung angepaßt ist, wenn Gebrauch gemacht
wird von den technischen Möglichkeiten, um einen Ar-
beitsplatz oder das Arbeitsumfeld behindertengerecht
auszustatten, dann können Schwerbehinderte die gleiche
Leistung erbringen wie Nichtbehinderte.
Viele Behinderte – wir wissen es – sind gerade auf
Grund ihrer Behinderung besonders motiviert, ihre Lei-
stungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und auch hohe
berufliche Anforderungen zu erfüllen.
Meine Damen und Herren, der Abbau der Arbeitslo-
sigkeit ist das oberste Ziel der Bundesregierung. Ein
Schwerpunkt dabei ist, die Arbeitslosigkeit Schwerbe-
hinderter zu bekämpfen. Wir haben in der Koalitions-
vereinbarung festgelegt, daß die spezifischen beschäfti-
gungsfördernden Instrumente zur Eingliederung der
Schwerbehinderten verbessert und weiterentwickelt
werden sollen. Dabei geht es aus meiner Sicht um eine
ganze Reihe von Instrumenten.
Es geht erstens darum, die Erhöhung der Wirksamkeit
des Systems von Beschäftigungspflicht und Ausgleichs-
abgabe zu erreichen, zweitens um die Schaffung von
Anreizen zur Beschäftigung Schwerbehinderter, drittens
um die Stärkung der Rechte der Schwerbehinderten und
ihrer Vertretungen, viertens um eine bessere Zusam-
menarbeit zwischen den Personalverantwortlichen und
den Betriebs- und Personalräten, fünftens um den Aus-
bau der Dienstleistungen der Bundesanstalt und der
Hauptfürsorgestellen und sechstens um die Vermeidung
von Kündigungen durch möglichst frühzeitige präventi-
ve Maßnahmen.
Wir wollen auf diesem Gebiet mit allen Beteiligten
ein möglichst hohes Maß an Gemeinsamkeiten für eine
unverzügliche Gesetzesinitiative erzielen, die die Be-
schäftigungssituation Schwerbehinderter verbessern hel-
fen soll.
Bundesminister Walter Riester
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6929
(C)
(D)
Meine Damen und Herren, es ist unser Ziel, mög-
lichst rasch den Entwurf eines Neunten Buches des So-
zialgesetzbuches vorzuschlagen. Das Schwerbehinder-
tenrecht wird ein Teil dieses Gesetzbuches sein. Zur
Vorbereitung des Sozialgesetzbuchs IX haben wir von
Beginn an den Kontakt zu den Betroffenen und ihren
Verbänden gesucht. Viele wertvolle Anregungen stam-
men von den Betroffenen selbst. Wenn wir heute fest-
stellen können, daß die zum Sozialgesetzbuch IX vor-
gelegten Eckpunkte auf breite Zustimmung stoßen, so ist
das auch Resultat der guten und vertrauensvollen Zu-
sammenarbeit mit den Behinderten selbst und ihren
Verbänden.
Dafür möchte ich mich bedanken und möchte gleichzei-
tig sagen: Das soll und muß auch so bleiben. Diese Zu-
sammenarbeit wollen wir fortsetzen und dabei insbeson-
dere auch eine enge Kooperation mit den Ländern su-
chen, damit es bei der Fortentwicklung der Behinderten-
politik zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens
kommt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns in der Behindertenpolitik parteiübergreifend zu-
sammenarbeiten!
Dieses Politikfeld eignet sich nicht zur separaten politi-
schen Profilierung. Es sollte vielmehr unser gemeinsa-
mes Interesse sein, behinderten Menschen zu einem
Maximum an Solidarität und Lebensqualität zu verhel-
fen.
Der Weltbehindertentag ruft uns ins Gedächtnis,
daß es in dieser Hinsicht noch viel zu tun gibt. Wir alle
sollten es uns zur Aufgabe machen, den Handlungs-
bedarf unabhängig von diesem Tag auch weiterhin zu
erkennen und dementsprechend zu agieren. So sehe ich
eine Chance, für viele Probleme, mit denen unsere
behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger heute zu
kämpfen haben, auch eine Lösung zu finden.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, Herr Minister
Riester, ist die Behindertenpolitik kein Thema für par-
teipolitische Profilierung. Wir wollen im Bereich der
Behindertenpolitik mit Ihnen gemeinsam etwas bewe-
gen. Denn wir müssen etwas bewegen; das ist ein The-
ma, das uns allen am Herzen liegt. Deshalb begrüße ich
ausdrücklich, daß wir heute – wenn auch einen Tag vor
dem UN-Welttag für den behinderten Menschen – diese
Debatte führen. Ich freue mich auch, daß Vertreterin-
nen und Vertreter von Behindertenverbänden und
-organisationen anwesend sind und wir sie bei uns als
Gäste begrüßen können.
Sie sind uns ganz wichtige Ansprechpartner, gerade weil
sie oft selber betroffen sind und von den Problemen bes-
ser wissen. Manches haben wir heute in der politischen
Diskussion, weil sie es an uns herangetragen haben.
Ich freue mich auch sehr, morgen erleben zu können,
daß sich der Deutsche Behindertenrat konstituiert. Das
ist ein Vorhaben, das schon länger währt. Ich danke al-
len, die sich zusammengesetzt und sich engagiert haben,
so daß es möglich ist, Selbsthilfegruppen und Behin-
dertenorganisationen unter einem Dach zu vereinen. Ich
glaube, es wird ein gutes, es wird ein schlagkräftiges
Sprachrohr für die Behindertenbelange sein – auch ge-
genüber der Politik.
Viele von Ihnen haben sich an der sehr erfolgreichen
„Aktion Grundgesetz“ beteiligt, die uns in großartiger
Weise auf die Situation von Behinderten aufmerksam
gemacht hat. Sie haben dabei den richtigen Ausgangs-
punkt gewählt. Das Grundgesetz sagt uns ausdrücklich:
Die Menschenwürde ist unantastbar, und jeder Mensch
hat die gleiche Würde. Das muß unser Ausgangspunkt
sein. Deshalb ist im Grundgesetz ausdrücklich verankert
worden, daß niemand auf Grund einer Behinderung be-
nachteiligt werden darf.
Daher ist diese Debatte für mich wichtig, denn wir
zeigen damit, daß die Situation von Menschen mit Be-
hinderung uns Politikerinnen und Politikern nicht
gleichgültig ist. Wir setzen damit quasi ein Zeichen da-
für, daß wir uns bemühen wollen, daß Chancengleich-
heit und die Beteiligung von Menschen mit Behinderung
in dieser Gesellschaft möglich sind. Diese Debatte ist
sozusagen ein Symbol für unser Bemühen. Ich finde das
wichtig, denn Politik lebt auch von Symbolen.
Problematisch wird es allerdings dann, wenn Politik
nur aus Symbolen besteht. Aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen, gerade dieses Gefühl beschleicht mich in der
heutigen Debatte schon so ein bißchen. Denn man muß
einfach feststellen: Wir haben nichts Konkretes vorlie-
gen; wir haben nichts, worauf wir verweisen können,
wenn es darum geht, was wir im letzten Jahr geschafft
haben, wo etwas passiert ist, wo es einen Schritt vor-
wärts gegeben hat.
Wenn wir extra eine solche Debatte führen, dann würde
es uns, denke ich, gut anstehen, wenn wir heute bei-
Bundesminister Walter Riester
6930 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
spielsweise über ein konkretes Gesetz diskutieren
könnten oder wenn wir beispielsweise darauf verweisen
könnten, in der Arbeitsmarktsituation für Schwerbehin-
derte habe sich etwas zum Positiven entwickelt.
Frau Schmidt-Zadel, ich verstehe Ihre Aufregung.
Nun weiß ich auch, daß alles seine Zeit braucht. Es ist
eben so, daß die Wünsche oft größer als das Machbare
sind. Ich sage das auch selbstkritisch. Sie haben ja recht:
So manches von dem, was wir vorhatten, haben wir in
den 16 Jahren auch nicht geschafft. Ich bedaure das aus-
drücklich.
Dabei muß man aber eines sagen: Wir hatten viel damit
zu tun, in den neuen Bundesländern eine vergleichbar
gute Situation für behinderte Menschen, wie wir sie im
Westen haben, zu schaffen.
Das hat große Anstrengungen erfordert. Wenn man ein-
mal vergleicht, wie die Situation für Menschen mit Be-
hinderungen zu DDR-Zeiten war, dann stellt man fest,
daß wir sehr erfolgreich waren. Uns ist also schon eine
ganze Menge gelungen.
Dennoch bleibt – da haben Sie recht – Handlungsbe-
darf. Deshalb will ich Sie jetzt gar nicht pauschal kriti-
sieren und Sie auch nicht an dem messen, was wir alles
hätten machen wollen und können. Vielmehr will ich Sie
nur an Ihren eigenen Ansprüchen, an Ihren eigenen Ver-
sprechen messen – an nichts anderem.
Schauen wir doch in die Koalitionsvereinbarung! Sie
haben sich doch ein ehrgeiziges Programm vorgenom-
men, in dem alles schön drinsteht. Wir haben also nicht
den Streitpunkt, überlegen zu müssen, was es zu tun
gibt. Vielmehr kennen Sie den Handlungsbedarf; Sie
haben das aufgelistet. Dazu kommt noch: Sie waren
doch lange Jahre in der Opposition und haben sehr viele,
sehr weitreichende Vorschläge gebracht.
Man muß doch die Frage stellen: Sind diese Vorschläge
es heute gar nicht mehr wert, eingebracht zu werden?
Wo bleiben sie denn? Warum werden sie nicht im Ple-
num behandelt?
Ich meine, dieses Jahr mit Rotgrün war auch bezogen
auf die Behindertenpolitik ein verlorenes Jahr.
Dabei könnten Sie sich – Herr Minister, da haben Sie
vollkommen recht – auf eine breite Unterstützung im
Parlament verlassen. Ich habe für meine Fraktion bei je-
der Debatte zu diesem Thema deutlich gemacht, daß wir
Sie unterstützen wollen. Wir können den Weg gemein-
sam gehen, wenn es um die Verbesserung der Belange
von Menschen mit Behinderungen geht.
Was steht konkret an? Ganz oben auf Ihrer Agenda
steht die Schaffung eines Sozialgesetzbuches IX. Keine
Frage, das ist kein einfaches Unterfangen; wir sagen das
aus Erfahrung. Aber es ist notwendig, das Rehabilita-
tions- und Schwerbehindertenrecht neu zu kodifizieren,
um die Leistungen und auch das Verfahren der Lei-
stungserbringung anzugleichen und besser zu verzahnen.
Immerhin gibt es hierfür schon Eckpunkte. Ich denke,
sie sind in den Zielvorstellungen durchaus konkret. Um
so wichtiger wäre es, zu wissen, wie es im Gesetz kon-
kret formuliert sein soll.
– Es wäre mir lieb, wenn wir dies heute klären könnten.
– In den Eckpunkten wird unter anderem die Einrich-
tung von gemeinsamen Auskunfts- und Beratungs-
stellen aller Rehabilitationsträger in Aussicht gestellt.
Ich denke, angesichts der jetzigen Beratungssituation ist
dies ein höchst sinnvolles, ein notwendiges Ansinnen;
denn oft erleben wir, daß die Betroffenen von Pontius zu
Pilatus geschickt werden, wenn es um Fragen der Reha-
bilitationsleistungen geht.
Offen bleibt allerdings die Konkretisierung: Wer wird
dort sitzen? Sind nur die Leistungsträger beteiligt? Wel-
che Mitsprachemöglichkeiten haben die Betroffenen?
Gibt es Selbsthilfeorganisationen?
Nicht außer acht lassen sollte man auch die Frage der
Finanzierung. Wenn die Beratungsstellen ihrer Aufgabe
gerecht werden wollen, müssen sie professionell arbei-
ten. Das ist nicht umsonst zu haben. Sicherlich wird es
irgendwann Effizienzgewinne geben; aber das wird
zeitlich verlagert eintreten. Das heißt: Irgend jemand
wird zunächst einmal diese Kosten tragen müssen.
In diesem Zusammenhang komme ich auf den
Finanzierungsvorbehalt insgesamt, der in Ihren Eck-
punkten genannt wird. In Anbetracht der Haushaltssi-
tuation ist dies verständlich. Trotzdem, so denke ich,
müssen wir uns klarmachen, um was es eigentlich geht.
Es geht um Leistungen, die die Menschen mit Behinde-
rungen nötig haben, die sie brauchen. Es sind existentiell
notwendige Hilfen. Es geht also nicht um einen Lei-
stungskatalog mit Luxusgütern, zwischen denen man
auswählen kann, sondern um Leistungen, die sich am
Bedarf dieser Menschen orientieren.
Außerdem sprechen Sie selber von Effizienzreserven
in dem Rehabilitationssystem und davon, daß durch eine
bessere Verzahnung und Harmonisierung Einsparungen
möglich sind. Vor diesem Hintergrund erscheint mir der
Finanzierungsvorbehalt als nicht sachgerecht.
Ein Weiteres, was ich in dem Eckpunktepapier für
unbefriedigend gelöst halte, ist der Umgang mit der
Eingliederungshilfe. Sicherlich ist der Ansatz, daß der
Sozialhilfeträger, wenn er Leistungen für Rehabilitation
erbringt, mit den Rehabilitationsträger gleichzustellen
ist, anzuerkennen. Das ist ein guter Schritt. Trotzdem
aber erfolgt die Leistungserbringung für Rehabilitation
unter den Prinzipien des Bundessozialhilfegesetzes. Das
heißt, Sie bleiben bei der inkompatiblen Konstruktion,
die wir heute haben: Einerseits soll der Eingliederungs-
Claudia Nolte
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6931
(C)
(D)
hilfe ein Vorrang eingeräumt werden, aber andererseits
gelten die Prinzipien der Sozialhilfe, zum Beispiel die
Nachrangigkeit.
Dieses Problem zeigt sich heute doch besonders
deutlich bei den Versuchen der Sozialhilfeträger, Ein-
richtungen der Eingliederungshilfe in Pflegeeinrichtun-
gen nach dem Pflegeversicherungsgesetz umzuwandeln,
wo eben keine Eingliederung mehr stattfindet. Wir ha-
ben im Bundestag deutlich gemacht, daß dies nicht dem
Sinn und dem Ziel des Gesetzgebers entspricht. Aber
trotzdem wird dies gemacht. Hier besteht also Hand-
lungsbedarf, um eine deutliche Abgrenzung der Einglie-
derungshilfe von der Pflegeversicherung sicherzustellen.
Ebenso unbefriedigend ist es, daß auf Grund der dop-
pelten Nachrangigkeit Einkommen und Vermögen he-
rangezogen werden. Für betroffene Eltern bedeutet dies
beispielsweise, daß sie auch für 60- oder 70jährige Kin-
der noch aus ihrem eigenen Einkommen und Vermögen
aufkommen müssen, weil sie diese Lasten nach dem
Prinzip der Nachrangigkeit gemäß dem Bundessozialhil-
fegesetz zu tragen haben.
Ich komme zu keinem anderen Schluß, als daß die
Eingliederungshilfe aus dem Bundessozialhilfegesetz
herauszulösen ist.
Meines Erachtens bietet sich das Sozialgesetzbuch IX
an. Man könnte sie dort einbeziehen.
Es wundert mich wirklich, daß vollkommen verges-
sen wird, daß Sie bis vor einem Jahr diejenigen waren,
die ein Leistungsgesetz gefordert haben.
Heute findet nicht einmal eine Diskussion darüber statt.
Es ist nicht einmal zu merken, daß es Kämpfe in der
Fraktion gibt. Es wird sich selbstverständlich dem Diktat
des Bundeskanzlers untergeordnet, keine Leistungsge-
setze in dieser Legislaturperiode einzubringen. Ich finde
das schon erstaunlich. Ich sage Ihnen: Das rächt sich. Es
rächt sich, daß Sie früher den Mund etwas voll genom-
men haben und daß unser Gedächtnis noch recht gut
funktioniert.
Deshalb möchte ich jetzt nicht den gleichen Fehler
machen. Ich sage ganz offen: Ich bin mir nicht sicher, ob
ich in meiner Fraktion die Mehrheit für ein Leistungsge-
setz bekommen würde. Aber ich werbe dafür, einen
Weg zu finden, damit wir die Eingliederungshilfe vom
BSHG trennen können. Die Ausgaben für die Eingliede-
rungshilfe erfolgen doch schon heute. 15 Milliarden DM
jährlich sind kein Pappenstiel. Das heißt, es geht gar
nicht um die Ausweitung von Leistung und mehr Geld,
sondern es geht um die Frage der Zuordnung. Wo, auf
welcher Ebene, müssen die Ausgaben getätigt werden?
Es geht eventuell um die Verlagerung der Zuständigkeit
von kommunaler Ebene auf Bundesebene. Man muß
einfach den Versuch unternehmen, zu fragen, ob die
Kommunen und Länder bereit sind, die Eingliederungs-
hilfe auf den Bund zu verlagern – natürlich mit dem da-
zugehörenden Finanzvolumen; das ist gar keine Frage.
Zwischen Bund und Ländern sind schon ganz andere
Summen transferiert worden als 15 Milliarden DM. Las-
sen Sie uns das in Angriff nehmen, Herr Riester! Versu-
chen Sie, hier vorwärts zu kommen!
Zu Ihrem zweiten Vorhaben, dem Gleichstellungsge-
setz, liegt uns gar nichts vor. Man hört ab und zu: Das
Justizministerium arbeitet daran. – Aber was letztendlich
in dem Gesetz stehen wird, wissen wir nicht. Das bleibt
vorerst ein Geheimnis.
Die Fragen, ob ein Gleichstellungsgesetz die Erwar-
tungen, die wir heute an ein solches Gesetz knüpfen, je-
mals erfüllen kann, ob es klug ist, alles in einem Arti-
kelgesetz regeln zu wollen, und ob es nicht einfacher
wäre, notwendige Änderungen in Einzelgesetzen, die
wir heute haben, vorzunehmen, finde ich berechtigt.
Diese Fragen sollten Sie sich selber noch einmal stellen.
Ich will das aber nicht vertiefen. Wenn Sie den großen
Wurf schaffen, ist es um so besser. Niemand hat etwas
dagegen.
Ich möchte deutlich machen, was für mich in diesem
Zusammenhang oberste Priorität hat. Wir müssen es
schaffen, sicherzustellen, daß Menschen mit Behinde-
rung im Alltag nicht überall Barrieren gegenüberstehen,
ob sie im öffentlichen Raum sind, ob sie auf der Straße
sind, ob sie in ein Gebäude wollen, ob sie eine Straßen-
bahn oder einen Bus benutzen wollen. Wir können es
nicht zulassen, daß solche Dinge neu angeschafft und
neu gebaut werden, die nicht zugänglich sind, die nicht
barrierefrei sind, weil damit Ausgrenzung stattfindet.
Daß es möglich ist, in diesem Bereich etwas zu schaf-
fen, zeigen uns die USA mit ihrem ADA. Wir haben
dort in vielen Städten sehr gute Zugänglichkeiten; ich
finde das beeindruckend. Die Erfahrung von dort lehrt,
daß erst dann Veränderungen möglich werden, wenn der
einzelne die Gelegenheit hat, sich einen barrierefreien
Zugang einzuklagen. Auch wir sollten darüber nachden-
ken, inwieweit man dem einzelnen eine solche Rechts-
position zukommen läßt, damit er sich selber im Zweifel
Barrierefreiheit verschaffen kann. Wir wissen inzwi-
schen – das ist mehrfach belegt –, daß Barrierefreiheit
bei Neuanschaffung oder Neubau – ob es Verkehrsmittel
sind, ob es Gebäude sind – nicht wesentlich teurer ist,
daß die Kosten erträglich sind.
Ein dritter großer Bereich liegt mir am Herzen – den
haben Sie, Herr Minister Riester, dankenswerterweise
auch angesprochen –: Das ist die Eingliederung Schwer-
behinderter in den Arbeitsmarkt. Auch hier haben Sie
angekündigt, die Vermittlung von Schwerbehinderten
auf den ersten Arbeitsmarkt voranzutreiben und be-
währte wie neue Instrumente der Arbeitsmarktpolitik
einzusetzen und auszubauen. Sie haben das Problem
unter Berücksichtigung der Gründe, die aus unserer
Sicht ein Handeln erforderlich machen, ausführlich be-
schrieben. Aber Sie haben es erst einmal nur beschrie-
ben. Falls Aktivitäten stattgefunden haben sollten, muß
Claudia Nolte
6932 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
das sehr im verborgenen geschehen sein. Wir haben es
einfach nicht registrieren können.
Im Ausschuß wurde auf meine Anfrage dazu gesagt,
man wolle jetzt die Ideen sammeln – das haben Sie hier
auch noch einmal deutlich gemacht; Sie haben auch
einige Ideen genannt – und die Arbeitgeber um Selbst-
verpflichtung bitten. Ich kann nur hoffen, daß Sie damit
Erfolg haben; denn die Arbeitslosenstatistik spricht eine
deutliche Sprache. Schwerbehinderte sind mit 17 Pro-
zent überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen.
Kaum ein privatwirtschaftliches Unternehmen erfüllt
die Beschäftigungsquote. Im Durchschnitt liegt sie bei
3,4 Prozent. Viele Unternehmen beschäftigen keinen
Behinderten. Ich finde das beschämend. Auch hier findet
Ausgrenzung statt. Deshalb müssen wir da neue Wege
gehen.
Es liegen bereits einige Erfahrungen vor. Wir haben
inzwischen gute Erfahrungen beispielsweise mit den In-
tegrationsfachdiensten gemacht, die sich sehr gezielt
und engagiert in Zusammenarbeit mit der freien Wirt-
schaft um Integration bemühen. Aber deren finanzielle
Basis ist bis heute noch nicht geklärt. Wir haben bis
heute noch keine gesetzliche Absicherung dieser Dien-
ste. Es ist für sie nirgendwo eine Perspektive gesetzlich
verankert. Ich meine, dem könnte relativ kurzfristig ab-
geholfen werden. Gerade wenn sich abzeichnet, daß man
für die Arbeit am SGB IX länger braucht, sollte man
überlegen, ob man nicht jetzt schon im Schwerbehin-
dertengesetz die Absicherung der Integrationsfachdien-
ste vornimmt.
Ich halte es für wichtig, dabei auch Entwicklungen
aus dem europäischen Raum zur Kenntnis zu nehmen
und gegebenenfalls das, womit dort positive Erfahrun-
gen gemacht werden, zu übernehmen. Gerade weil es
unser Ziel sein muß, daß Menschen mit Behinderung
selbstbestimmt leben können, müssen wir die Ansätze
unterstützen, die genau das fördern.
Zu einem selbstbestimmten Leben gehört für mich
zum Beispiel ganz selbstverständlich dazu, daß der Be-
troffene Wahlmöglichkeiten hat, daß er zum Beispiel
im Bereich der beruflichen Integration auswählen kann,
ob er lieber in eine Werkstatt für Behinderte, in einen
Integrationsbetrieb oder in einen Integrationsfachdienst
möchte oder ob er vielleicht doch besser eine Arbeitsas-
sistenz in einem normalen Betrieb übernehmen möchte.
Inwieweit eine solche Wahlfreiheit durch ein per-
sönliches Budget unterstützt werden kann, finde ich
schon prüfenswert. Nicht jemand anders würde festle-
gen: „Für dich ist die Werkstatt für Behinderte das beste;
dort paßt du hin“, sondern der einzelne könnte im Rah-
men seines Budgets, das ihm zur Verfügung steht, selbst
zwischen unterschiedlichen Anbietern entscheiden und
sagen: Das ist das, was ich mir vorstelle. Dort will ich
hin. Das kann ich mir mit meinem persönlichen Budget
quasi kaufen.
Natürlich hängt das von der Höhe eines solchen Bud-
gets ab. Es kann sogar daran scheitern; denn wenn es
nicht hoch genug ist, dann kann man im Zweifel nichts
machen. Auf der anderen Seite aber würden dadurch
Regelmechanismen nach dem Prinzip von Angebot und
Nachfrage in Gang gesetzt, durch die beispielsweise
Effizienzsteigerungen, vor allem auch Qualitätsverbes-
serungen erreicht werden könnten. Das heißt, wir sollten
offen sein für neue Instrumente und für neue Wege und
von den Erfahrungen anderer lernen.
Herr Minister, auch diesmal sage ich Ihnen für meine
Fraktion zu: Wir möchten mit Ihnen zusammenarbeiten
und Sie dort unterstützen, wo wir Verbesserungen errei-
chen können. Das ist uns ein wichtiges Anliegen.
Aber vergessen Sie nicht: Die Zeit vergeht schnell – ich
spreche wiederum aus Erfahrung –; ein Jahr ist schon
vergangen, ohne daß sich etwas Konkretes getan hätte.
Deshalb fordern wir Sie auf: Setzen Sie Ihre Verspre-
chen in die Tat um! Sie können mit unserer Unterstüt-
zung rechnen.
Vielen Dank.
Ich erteile nun das
Wort der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/
Die Grünen.
gen! Liebe Frau Nolte, die Tatsache, daß Sie uns heute
einen Antrag vorlegen, in dem Sie den Wunsch zum
Ausdruck bringen, daß die Koalition das tut, was in
ihrem Koalitionsvertrag steht, bestärkt uns natürlich in
unseren Vorhaben und freut uns. Aber Sie können sicher
sein, daß wir das alles auch ohne diesen Antrag tun wer-
den, daß wir das, was wir uns vorgenommen haben, tat-
sächlich umsetzen werden und daß wir nicht nur darüber
reden, wie das in den vergangenen Jahren bei Ihnen der
Fall gewesen ist.
Daß wir innerhalb eines Jahres nicht alles das umsetzen
können, was wir uns vorgenommen haben, sondern
Schritt für Schritt, aber sehr stringent vorgehen, werden
Sie uns sicherlich zugestehen.
Ich möchte heute vor allen Dingen diejenigen begrü-
ßen, die dieses Parlament nicht so häufig besuchen bzw.
besuchen können. Ich freue mich, daß so viele Betroffe-
ne den Weg zu uns nach Berlin in den Bundestag gefun-
den haben. Ich bin mir sicher, daß der eine oder die an-
dere eine Menge Geschichten erzählen könnte: wie er
Tage vorher die Bahnfahrkarte reservieren mußte, um
mit dem Rollstuhl mitgenommen zu werden, wie sie
viele Wochen vorher eine Gebärdendolmetscherin oder
einen Gebärdendolmetscher gesucht und gebucht hat
und was für ein organisatorischer Aufwand nötig war,
damit heute – leider nur oben auf der Tribüne – gebärdet
werden kann. Ich hoffe, daß dies auch für diejenigen, die
am Fernseher sitzen, deutlich ist, und begrüße insbeson-
Claudia Nolte
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6933
(C)
(D)
dere die, die heute dieser Debatte auf diese Weise folgen
können. Hoffentlich ist das in Zukunft viel öfter der Fall.
Kollegin Göring-
Eckardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Seifert, PDS-Fraktion?
Frau Kollegin Göring-
Eckardt, ich freue mich ja, daß Sie begeistert darüber
sind, daß hier so viele Gäste mit Behinderung zuhören.
Aber meinen Sie nicht, daß Sie als Vertreterin der Re-
gierungskoalitionsfraktionen dafür hätten sorgen kön-
nen, daß zumindest heute ein oder zwei Gebärdendol-
metscher unten im Plenum stehen und unsere Reden
dolmetschen?
– Blind bin ich ja nicht. Ich meine, unten im Plenum,
damit alle sehen, was Gebärdendolmetscher eigentlich
leisten, und sie nicht da oben versteckt sind.
wünscht – ich bin sogar davon ausgegangen, daß es so
sein würde –, daß hier unten gebärdet wird. Wenn Sie
nach oben blicken, dann sehen Sie, daß die Kameras
auch auf die Gebärdendolmetscherinnen und Gebär-
dendolmetscher gerichtet sind. Das ist übrigens nicht
nur einer, sondern es sind vier, wenn ich das richtig
weiß. Wir im Plenum müssen uns zwar die Mühe ma-
chen, nach hinten zu schauen, aber die Öffentlichkeit
sieht, daß dies im Deutschen Bundestag möglich ist.
Ich hoffe, daß es in Zukunft sehr viel häufiger der Fall
sein wird.
All die Betroffenen können – bis auf den Kollegen
Seifert – heute hier nicht sprechen. Deswegen möchte
ich versuchen, soweit mir das möglich ist, mich ein we-
nig auf das einzulassen, was sie betrifft. Ich freue mich
insbesondere, daß wir im Anschluß an diese Debatte hier
im Reichstag einen Empfang haben werden, bei dem wir
tatsächlich ins Gespräch kommen können.
Die Koalitionsarbeitsgruppe Behindertenpolitik hat
im vergangenen Jahr eine recht stille, aber dennoch er-
folgreiche Arbeit geleistet, die von gegenseitigem Re-
spekt und einer Befruchtung der Ideen getragen war.
Das meine ich jetzt gar nicht in bezug auf die beiden
Koalitionspartner, sondern das meine ich in bezug auf
die Kommunikation mit den Betroffenen.
Mit unserem Eckpunktepapier zum SGB IX haben
wir einen Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik
eingeleitet. Dazu gehört nicht nur, daß wir die Debatte
mit Ihnen und nicht über Ihre Köpfe hinweg führen. Da-
zu gehört auch, daß wir Ihre Kompetenz und Ihre Ideen
künftig im Vorfeld, aber auch bei der Umsetzung einbe-
ziehen. Dazu gehört ferner, daß Ihre Kompetenzen im
gesamten Verlauf der Rehabilitation stärker und vor al-
len Dingen individuell einbezogen werden.
Von den vier Punkten im Koalitionsvertrag, von dem
bereits meine Vorrednerin und mein Vorredner gespro-
chen haben, ist unserer Fraktion die Anerkennung der
deutschen Gebärdensprache immer besonders wichtig
gewesen. Unter welchen Kommunikationshemmnissen
ertaubte oder gehörlose Menschen leiden, ist für uns
immer noch nicht deutlich und ist, so glaube ich, auch
schwer nachvollziehbar. Das Gefühl, blind zu sein, kann
man nacherleben, wenn man sich die Augen verbindet,
ein bißchen jedenfalls. Wie es sich anfühlen mag, im
Rollstuhl mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt
zum Wochenendeinkauf zu fahren, das kann man erle-
ben, wenn man sich für einen Tag in den Rollstuhl setzt.
Ich selbst habe das gemacht. Die Erfahrung, wie es ist,
ungefragt irgendwo hingeschoben zu werden, hat mich
über den Unterschied zwischen gut und gutgemeint be-
lehrt. Wie es ist, einen Arm oder ein Bein nicht bewegen
zu können, das erfährt man, wenn man sich einmal Arm
oder Bein gebrochen hat. Spätestens am zweiten Tag
sitzt man fluchend unter der Dusche, weil Wasser unter
den Gips gelaufen ist oder weil man sich mit links nicht
die Zähne putzen kann.
Aber wie ist es wohl, wenn man nichts mehr hören
kann, wenn man die Ironie im Gespräch nicht mehr mit-
bekommt, wenn man eine Frage nicht erkennt, wenn
man über Witze nicht mehr lachen kann, wenn man fra-
gend in fragende Gesichter blickt, wenn man auch das,
was man selbst sagt, nicht hören kann? Wer von uns
kann sich wirklich vorstellen, was es bedeutet, wenn
Denken und Sprechen auf einmal gleichzeitig und nicht
mehr nacheinander, wie wir Hörende es gewohnt sind,
stattfinden? Versuchen Sie einmal, das zu simulieren.
Ich kann Ihnen sagen: Es geht nicht.
Für gehörlose Menschen sind aus diesem Grund Ge-
bärdendolmetscher eine notwendige Assistenz, die sie
brauchen, um am Leben der Gesellschaft, die immer
noch eine hörende Gesellschaft ist, um an den Aktivitä-
ten, die immer noch „hörende“ Aktivitäten sind, tat-
sächlich teilzunehmen, denn es ist auch ihre Gesell-
schaft, an der sie teilnehmen möchten. Wir haben dafür
zu sorgen, daß sie dies auch können.
Aus diesem Grunde haben wir die Anerkennung der
Gebärdensprache in den Koalitionsvertrag aufgenom-
men. Die Ausführung wird den beiden großen bedeut-
samen Gesetzeswerken obliegen, die sich diese Koali-
tion vorgenommen hat: einmal die Schaffung eines An-
tidiskriminierungsgesetzes, in dem die deutsche Gebär-
densprache als eigenständige Sprache für Gehörlose an-
erkannt werden soll, und auch das Sozialgesetzbuch IX.
Hierin sollen sozialrechtliche Aspekte wie beispiels-
weise ein Indikationskatalog für die Gewährung von
Dolmetscherstunden festgeschrieben werden.
Katrin Göring-Eckardt
6934 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
An diesem Beispiel wird zudem eines deutlich: Es
gibt nicht den oder die Behinderten. Barrierefreiheit, de-
ren Gewährung aus Art. 3 des Grundgesetzes zwingend
folgt, bedeutet für den einzelnen eben etwas ganz Indi-
viduelles. Gehörlose Menschen haben eine eigene Spra-
che und Kultur. Sie möchten, daß ihre Welt von uns Hö-
renden anerkannt wird. Sie wollen nicht anders werden,
sie sind anders. Das wollen und müssen wir akzeptieren.
Rehabilitation kann nicht bedeuten, normal zu ma-
chen. Rehabilitation kann nur bedeuten, mit Verschie-
densein zu leben. Genau das ist eine Aufgabe für uns
alle. Wir alle müssen damit leben, daß niemand in der
Welt dem anderen gleicht, auch wenn das für manche
eine unangenehme Vorstellung sein mag. Aber Blonde
sind nun einmal nicht dunkelhaarig, Große sind nicht
klein, Schüchterne nicht wagemutig und Frauen nicht
Männer. Wir alle sind verschieden. Jede und jeder ist sie
oder er selbst. Dann ist es egal, ob jemand im Rollstuhl
sitzt, wie zum Beispiel Silke Schwarz, die Siegerin bei
den Paralympics im Rollstuhlfechten, die heute unter
uns ist,
oder ob jemand nicht hören kann wie unsere Fraktions-
mitarbeiterin Sabine Schmidt-Brücken, die dort oben auf
der Tribüne sitzt, oder ob jemand geistig behindert ist
wie zum Beispiel mein Freund Jonathan, zwölf Jahre.
Dann ist Behinderung nicht mehr wichtig, sondern es ist
notwendig, daß wir lernen zu verstehen, uns zu verste-
hen, miteinander zu kommunizieren, daß wir Barrieren
abbauen, die einem beweglichen Menschen in unserer
Gesellschaft entgegenstehen.
Aus diesem Grund wird einer der Eckpfeiler des neu-
en SGB IX die individuelle Wahlfreiheit in der Le-
bensgestaltung sein. Jede und jeder soll selbst entschei-
den können, welche Form der Unterstützung sie oder er
in Anspruch nehmen will. Barrieren lernt übrigens jede
und jeder von uns kennen. Wir können das mitunter
auch sehr schnell nachvollziehen, wenn jemand alt oder
krank wird, aber vielleicht viel undramatischer, wenn
man einfach nur mit dem Kinderwagen in einer Stadt
unterwegs ist. Barrieren gibt es immer noch viel zu vie-
le, übrigens vor allem in den Köpfen der Menschen.
Statt gegenseitigem Kennenlernen und Verstehen gibt es
Mitleid. So ist es kein Wunder, daß Hemmnisse beim er-
sten Kontakt entstehen.
Wo ist zum Beispiel die Anerkennung der qualitativ
hochwertigen Arbeit, die die Beschäftigten in den Werk-
stätten leisten, für die ihnen ein angemessener Lohn zu-
steht? Wo ist das Verstehen, daß ergotherapeutische
Konzepte in psychiatrischen Kliniken nichts mit Basteln
und Beschäftigen zu tun haben? Wir alle prägen das Bild
einer Gesellschaft. Wir alle sind dafür verantwortlich,
welchen Stellenwert Menschen mit Handicap in unserer
Gesellschaft einnehmen.
Ich habe mich gefreut, daß in der „Sportschau“ vor
einigen Wochen ein Beitrag über Wettkämpfe von Men-
schen mit Behinderungen gezeigt wurde. Es ist ein
wichtiger Schritt, daß zum Beispiel die Paralympics zu-
sammen mit den Olympischen Spielen stattfinden. Ich
wünsche mir mehr davon. Denn dies alles gehört nicht
in eine Berichterstattung über gesellschaftliche Rand-
gruppen.
Behindertenpolitik ist nicht losgelöst zu betrachten.
Sie hat sehr viele Dimensionen. Sie ist Rechtspolitik, sie
ist Bau- und Verkehrspolitik, sie ist Frauenpolitik, sie ist
Arbeitsmarktpolitik, sie gehört zur Gesundheitspolitik,
wenn die Grenzen zwischen Behinderung und chroni-
scher Erkrankung fließend werden, und sie ist auch
Sozialpolitik.
Solange es eine spezifische Arbeitslosenquote von
rund 18 Prozent für Menschen mit Handicap gibt, so
lange muß es spezifische Instrumente des Arbeitsmark-
tes geben. Wir werden vor allen Dingen Integrations-
fachdienste und Integrationsfirmen fördern, die in den
vergangenen Jahren erfolgreiche Arbeit geleistet haben,
und sie in eine Regelfinanzierung überführen.
Das SGB IX wird sich hinsichtlich des Rehabilita-
tions- und Behindertenbegriffs an dem der WHO orien-
tieren, und damit wird deutlich zum Ausdruck gebracht,
daß „Behinderung“ eine gesellschaftliche Zuschreibung
ist und nicht mit einem individuellen Defizit zu tun hat,
das man etwa reparieren müßte.
Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, bitte
ich Sie, dieses Thema weiter zu verfolgen. Ich bitte Sie,
mehr zu tun für Kommunikation und Verstehen, mehr zu
tun für den Abbau von Barrieren, wo immer Sie es kön-
nen. Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen und ein
deutliches Zeichen für Integration und gegen Ausgren-
zung zu setzen.
Vielen Dank.
Auf die Zwischen-
frage des Kollegen Seifert hin will ich noch einmal aus-
drücklich betonen: Wir haben vier Gebärdendolmet-
scher. Die Tatsache, daß sie dort oben auf der Tribüne
stehen, ist sowohl mit dem Gehörlosenverband wie mit
dem Sender Phoenix verabredet, damit er genau dieses
übertragen kann. Wenn Sie hier unten stünden, hätte
niemand etwas davon, lieber Kollege Seifert.
Nunmehr erteile ich der Kollegin Irmgard Schwaet-
zer, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist eine
gute Tradition, daß dieses Parlament sich jedes Jahr zum
Weltbehindertentag ganz speziell mit den Fragen der
Integration der Behinderten beschäftigt.
Katrin Göring-Eckardt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6935
(C)
(D)
– Herr Kollege Haack, das ist nicht wahr. Wir haben
immer zum Behindertentag eine solche spezielle Debatte
gehabt.
Ich glaube nicht, daß es irgend jemanden gibt, der das
Ziel der Integration nicht ganz oben in der Prioritäten-
skala der Behindertenpolitik festmacht.
Ich meine, daß es wichtig ist, sich immer wieder ein-
mal klarzumachen, was es denn bedeutet, behindert in
dieser Gesellschaft zu sein. Insofern würde ich es begrü-
ßen, wenn die Behindertenverbände regelmäßig, minde-
stens einmal im Jahr, mit uns gemeinsam solche Tage
durchführen würden, bei denen wir einschlägige Erfah-
rungen sammeln können, indem wir uns zum Beispiel an
unserem Arbeitsplatz in einem Rollstuhl fortbewegen
oder aber, wie das die Blindenverbände im vergangenen
Jahr getan haben, uns mit einer entsprechenden simu-
lierten Behinderung im Deutschen Bundestag bewegen.
Die Eindrücke, die ich dabei gesammelt habe, werde ich
in meinem Leben sicherlich nicht vergessen: mit einer
Brille, die eine Behinderung durch eine Retinitis pig-
mentosa simulierte, durch den Deutschen Bundestag zu
gehen und praktisch nicht mehr in der Lage zu sein, oh-
ne fremde Hilfe zum Beispiel zu telefonieren.
Ich denke, liebe Kollegin Göring-Eckardt, daß die
Behinderten, die heute hier im Parlament sind, von uns
und vor allen Dingen natürlich von den Regierungsfrak-
tionen wissen möchten, was denn bitte jetzt konkret in
dieser Legislaturperiode zur Verbesserung der Situation
der Behinderten gemacht werden soll.
Dafür haben Sie ja, solange Sie noch in der Opposition
waren, immer ganz tolle, weitreichende Anträge gestellt.
Sie hätten bereits ein Jahr lang die Chance gehabt, exakt
diese Anträge in Gesetze umzusetzen.
– Ich rede gerade von Ihren Forderungen in der Opposi-
tion und der Tatsache, daß wir heute,
auch in dem, was Herr Riester vorgetragen hat, noch
nichts Konkretes gehört haben, wie denn nun Ihr Zeit-
plan zur Diskussion des Sozialgesetzbuches IX aussieht,
wobei Sie immerhin auf Vorarbeiten, die die alte Koali-
tion geleistet hat, zurückgreifen können.
Es ist ja nicht so, daß Sie da bei der Stunde Null anfan-
gen müßten, sondern Vorarbeiten dazu sind ja bereits
geleistet worden. Das ist eine sehr schwierige Materie.
Frau Kollegin Nolte hat auf ein paar spezielle
Aspekte hingewiesen, die ich noch einmal aufgreifen
will. Ich glaube, daß die Formulierung des Sozialge-
setzbuches IX wirklich die zentrale Aufgabe dieser
Legislaturperiode sein wird. Insofern frage ich mich, ob
es seitens der Regierungsfraktionen tatsächlich ein erster
Schritt zur Vernunft ist, daß die von Ihnen früher immer
erhobene Forderung nach einem eigenständigen Lei-
stungsgesetz zumindest in der Debatte heute noch keine
Rolle gespielt hat.
Wir müssen im SGB IX das Schwerbehindertenrecht
und das Rehabilitationsrecht zusammenfassen. Ich kann
das, was Claudia Nolte gesagt hat, nur ausdrücklich un-
terstreichen: Die derzeit noch im Sozialhilferecht ange-
siedelte Eingliederungshilfe muß dort dringend mit in-
tegriert werden. Das wird sehr schwierig, vor allen Din-
gen was die Verschiebung der Finanzströme anbetrifft.
Aber es ist einfach die erste Voraussetzung dafür – die
Behindertenverbände sehen das ganz genauso –, daß das
von Ihnen, Herr Riester, eben geforderte „Eingliede-
rungsmanagement“ tatsächlich realisiert werden kann.
Wenn Sie den von Ihnen hier erwähnten Begriff ernst
meinen – wir können ihn unterstreichen –, dann müssen
Sie diese drei Dinge zusammenfassen und kodifizieren.
Wir warten auf Ihre Vorschläge; denn es muß endlich
damit Schluß sein, daß Zuständigkeitsstreitigkeiten auf
dem Rücken von Behinderten ausgetragen werden. Das
Verschieben von Kosten zwischen Sozialhilfe, Pflege-
versicherung und anderen Rehabilitationsträgern degra-
diert Behinderte zu einer Kostenstelle. Das ist das
Schlimmste, was wir uns in einer humanen Gesellschaft
überhaupt leisten können; deswegen muß damit Schluß
sein.
Wir wollen eine einheitliche Definition für die ver-
schiedenen Anspruchsgrundlagen, und dafür sollte die
differenzierte Definition der Weltgesundheitsorganisa-
tion maßgebend sein. Diese Definition ist gegliedert in
„dauerhafter Schaden“, „funktionelle Einschränkung“
und „soziale Beeinträchtigung“. Ich glaube, daß uns die
Orientierung an diesem internationalen Maßstab einen
guten Schritt weiterbringen würde.
Ich möchte noch zwei andere Prinzipien, die allen
Überlegungen zugrunde liegen sollen, kurz erörtern: das
Normalitätsprinzip und das Prinzip der Flexibilität.
Das Normalitätsprinzip beschreibt doch nichts an-
deres als das, was wir alle wollen: eine möglichst große
Selbständigkeit und eine möglichst große Eigenverant-
wortung der Behinderten. Zusammen mit den Behin-
derten sollen die für sie notwendigen Hilfen geschaffen
werden, damit sie ihr Leben möglichst selbständig und
eigenverantwortlich gestalten können.
Flexibilität bedeutet, daß die zur Verfügung gestell-
ten Hilfen für spezielle Zielgruppen ausgestaltet sein
müssen; zum Beispiel müssen für behinderte Frauen und
Dr. Irmgard Schwaetzer
6936 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Mütter andere Hilfen als für andere Behindertengruppen
zur Verfügung gestellt werden.
Das barrierefreie Bauen ist inzwischen auch in
Deutschland verankert worden. Dennoch warne ich da-
vor, es einfach und ohne jedes Nachdenken überall an-
zuwenden. Es gibt Lebenssituationen, in denen es sinn-
voll sein kann, andere Normen zugrunde zu legen, zum
Beispiel bei bestimmten Arten geistiger Behinderungen.
Andere Formen des Bauens im Wohnbereich können die
Betreuung von Behinderten erleichtern.
Behinderte sind leistungsbereit und leistungsfähig.
Die Integration in den Arbeitsmarkt muß sich exakt an
diesen Kriterien orientieren. Daher ist es mehr als
bedauerlich, daß sich die berufliche Situation Schwerbe-
hinderter in den letzten Jahren weiter verschlechtert hat.
Auch wir finden es betrüblich, daß 37 Prozent der
Arbeitgeber keinen einzigen Schwerbehinderten be-
schäftigen. Aus der Situation vieler ganz kleiner Betrie-
be ist das nachvollziehbar; dennoch ist es beklagens-
wert.
Besonders fragwürdig ist allerdings, daß die Quote
von 6 Prozent auch im öffentlichen Dienst – speziell auf
der Länderebene – immer seltener erfüllt wird. Zwar ist
die Quote von 5,2 Prozent im gesamten öffentlichen Be-
reich höher als die der privaten Arbeitgeber mit 3,4 Pro-
zent. Aber angesichts der besonderen Bedingungen und
der Notwendigkeit, daß der öffentliche Dienst eine Vor-
reiterfunktion ausüben sollte, ist dies nicht zufrieden-
stellend.
Es muß auch gefragt werden, ob durch gutgemeinte
Vorschriften die Integration von Behinderten in die
Arbeitswelt wirklich gefördert wird. Ich denke, wir müs-
sen immer wieder das Kündigungsschutzrecht prüfen
und uns fragen, ob dessen Ausgestaltung tatsächlich den
Zielen der Integration von Behinderten gerecht wird
oder ob es nicht eher dazu führt, daß Behinderte – ge-
rade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten – aus dem
Arbeitsmarkt herausgehalten werden. Die Ausgleichs-
abgabe ist im Moment im wesentlichen ein Finanzie-
rungsinstrument für Beschäftigungsförderungsmaßnah-
men zugunsten Schwerbehinderter in der Wirtschaft. In
dieser Funktion wird sie sicherlich auch noch benötigt.
Neue Wege sollten auch im Bereich des Wohnens
von Behinderten gegangen werden. Gerade der Tat-
sache, daß die Behinderten ihr Leben schon immer
möglichst selbständig gestalten wollten, müssen wir bei
der Zurverfügungstellung von Wohngruppen und bei
Angeboten an betreutem Wohnen mehr als bisher Rech-
nung tragen. Aber darüber hinaus dürfen wir nicht zulas-
sen, daß gerade diejenigen Eltern, die die Betreuung
ihres behinderten Kindes selbst in die Hand nehmen, im
Rahmen der Sozialhilfe gegenüber denjenigen Eltern
benachteiligt werden, die ihr Kind in ein Heim bringen
müssen, wodurch sie finanziell weniger belastet werden
als dann, wenn sie ihr Kind zu Hause betreuen. Hier
muß es dringend Veränderungen geben.
Frau Kollegin, Sie
haben Ihre Redezeit schon überschritten.
Die Formulie-
rung des Sozialgesetzbuchs IX als wichtigste und zen-
trale Aufgabe der Behindertenpolitik in dieser Legisla-
turperiode erfordert auch das Aufeinanderzugehen. Wir
warten auf die Vorschläge der Regierungskoalition, die
sie aber bisher – leider – nicht unterbreitet hat.
Danke schön.
Das Wort hat nun
der Kollege Ilja Seifert, PDS-Fraktion.
Zum Internationalen Betroffenentag
Einmal jährlich sind wir wichtig.
Kein Kommentar, der uns nicht ehrt.
Kein andres Thema ist mehr wert.
Die Öffentlichkeit ist uns pflichtig.
Wir dürfen sogar selber kommen,
Uns freuen über solche Ehre,
Die längst nicht selbstverständlich wäre.
Das Herzchen klopft uns ganz benommen.
Der Tag soll doch der uns're sein.
Wir können sagen, was wir brauchen,
Im Thema ganz nach unten tauchen. –
Wieso hebt ihr das Glas mit Wein?
Ihr könnt den Tag für euch verwalten.
Laßt uns den Rest des Jahrs gestalten!
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Liebe Freundinnen und Freunde auf der Tribüne!
Wir müssen anerkennen: Die neue Regierung versucht,
die Behindertenbewegung wesentlich ernster zu nehmen
als ihre Vorgängerin.
Dies ist mehr als nichts, und das sollten wir gebührend
schätzen. Dennoch darf es nicht bei Symbolen bleiben.
Ich selbst befinde mich in einer zwiespältigen Rolle: Ich
darf hier reden, weil ich ein Mandat der PDS habe. Aber
ich fühle mich mindestens genauso stark als Behinder-
tenbewegter, der als solcher nur auf der Tribüne sitzen
und nicht reden dürfte.
Wir verhandeln hier über Menschenrechtspolitik. So
freue ich mich, daß sich der Deutsche Bundestag – ich
kann mich nicht entsinnen, daß das in den letzten Jahren
so gewesen ist, aber Frau Schwaetzer ist schon länger im
Parlament als ich – am Vortage des Weltbehindertenta-
ges in der Kernzeit zwei Stunden Zeit nimmt, um über
Grundsätze der Behindertenpolitik zu reden. Allerdings
bedaure ich, daß im vorliegenden Antrag der Koalition
wieder ausschließlich von Rehabilitationspolitik die Re-
de ist. Rehabilitation macht wirklich nur einen kleinen
Dr. Irmgard Schwaetzer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6937
(C)
(D)
Teil der Lebensbedingungen von behinderten Menschen
aus.
Wenn wir nicht begreifen, daß Behindertenpolitik
wesentlich mehr als nur die Zusammenfassung von Re-
habilitations- und Schwerbehindertenrecht umfaßt – die
Behindertenpolitik sollte nämlich jedem den ihm gebüh-
renden Platz einräumen –, dann werden wir nicht wirk-
lich vorankommen. Insofern finde ich, daß Sie im
Grundansatz mit Ihren Eckpunkten zur Novellierung des
SGB IX, denen außerdem noch ein ziemlich überkom-
mener Rehabilitationsbegriff zugrunde liegt, viel zu
kurz greifen. Sie sagen zwar, Sie wollten die WHO-
Kriterien anlegen, in vielen konkreten Punkten geht es
aber ausschließlich um die berufliche Rehabilitation
und, wenn man Glück hat, noch ein wenig um die medi-
zinische; von sozialer Rehabilitation ist kaum die Rede.
Daß die soziale Rehabilitation den eigentlichen Kristal-
lisationspunkt der Rehabilitation ausmacht, kommt in
Ihren Eckpunkten nicht zum Tragen. Daß dieser Begriff
irgendwo steht, hat noch keinerlei inhaltliche Bedeu-
tung. Insofern handelt es sich in den meisten Fällen nur
um Absichtserklärungen, die leider alle unter dem Ko-
stenvorbehalt stehen, der wie ein Damoklesschwert alles
zu zerschlagen droht, was Sie in den voranstehenden,
durchaus positiv zu bewertenden Sätzen erklären.
Noch witziger finde ich allerdings den vorliegenden
CDU/CSU-Antrag. Ihre Rede, Frau Nolte, griff ja we-
sentlich weiter als Ihr Antrag. Wenn Sie im ersten Satz
Ihres Antrages schreiben, daß viele behinderte Men-
schen enttäuscht sind, daß sich seit dem Regierungs-
wechsel nichts verändert hat, im übernächsten Satz aber:
„Geblieben sind enttäuschte Erwartungen“, dann muß
man zumindest sagen, daß es Ihre Regierung war, die in
erster Linie dafür gesorgt hat, daß die Erwartungen ent-
täuscht wurden.
– Ich freue mich, daß sie es zugeben. Sie sind ja auch
lernfähig, und wir wollen gemeinsam etwas bewegen.
Ich freue mich allerdings, daß Sie inhaltlich, Frau
Nolte, viele Punkte unseres Teilhabesicherungsgeset-
zes, das wir schon im April einbrachten, aufgegriffen
und in Ihrem Antrag weiterverarbeitet haben. Durch eine
solche parteiübergreifende Zusammenarbeit könnte man
die Behindertenpolitik ziemlich weit voranbringen. Das
sollte positiv vermerkt werden. Es wird den Besuchern
auf der Tribüne vielleicht auch Hoffnung geben.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich
den von der PDS eingebrachten Änderungsantrag genau
anzusehen. Wir wollen hier nicht die Weltrevolution
ausrufen, sondern wir wollen, daß Sie eine Petition, die
sich mit Fragen der Behindertenpolitik und mit Behin-
derten in Heimen befaßt, der Regierung zur Berücksich-
tigung empfehlen und nicht bloß zur Kenntnisnahme.
Wir verfolgen mit unserem Antrag keine besonders
weitreichenden Absichten; deshalb bitte ich Sie, uns in
diesem Punkte zu folgen. Die Eingaben der Betroffenen
sollten von der Regierung viel ernster genommen und
stärker berücksichtigt werden.
Worum geht es nun inhaltlich in der Behinderten-
politik, wenn wir von einer Behindertenpolitik im größe-
ren Rahmen, bei der die Rehabilitation nur einen kleinen
Teil ausmacht, reden?
Erstens muß man begreifen – das ist hier schon mehr-
fach gesagt worden –, daß es sich hierbei um eine Quer-
schnittsaufgabe handelt, die alle Politikbereiche umfaßt.
Insofern ist schon die Ansiedlung des Behindertenbe-
auftragten im Sozialministerium falsch. Als Beauf-
tragter des Sozialministeriums kann man nicht darauf
hinwirken, daß § 1 des Baugesetzbuches durch den Satz
ergänzt wird: „Gebäude und Einrichtungen sind barrie-
refrei zu gestalten.“ Eine solche für alle verbindliche
und bindende Vorschrift kann man vom Sozialressort
aus nicht festschreiben lassen. Vom Sozialressort aus
kann man auch nicht dafür sorgen, daß in Zukunft keine
behindertenfeindlichen und damit menschenfeindlichen
Busse, Straßenbahnen, Eisenbahnen und dergleichen in
Betrieb genommen werden.
Es geht also darum, Behindertenpolitik als Quer-
schnittsaufgabe zu erkennen und institutionell abzu-
sichern. Das betrifft natürlich alle anderen Ebenen vom
Land über die Kreise bis zu den Kommunen genauso.
Zweitens. Wir brauchen ein bindendes Gleichstel-
lungsgebot. Darum kommen wir nicht herum. Seit
einem Jahr reden Sie davon, daß das Justizministerium
eine diesbezügliche Initiative ergreifen wird. Solange
ich nicht eine einzige konkrete Zeile lesen kann, sind
diese Ankündigungen wesentlich weniger wert, als es
aussieht.
Drittens brauchen wir Verbandsklagerechte.
Welcher behinderte Mensch hat überhaupt die Kraft, die
Zeit und das Geld, die Rechte, die ihm zustehen, einzu-
klagen? Was nützt es jemandem, wenn er vielleicht in
der letzten Instanz nach drei oder fünf Jahren recht be-
kommt? Dann ist er längst im Heim oder tot.
Schließlich brauchen wir endlich die Gültigkeit des
Finalitätsprinzips. Bis jetzt gilt es nicht. Wenn wir die
Eingliederungshilfe aus dem BSHG herausnehmen
wollen, kann man sie hervorragend mit den Leistungen
des Bundesversorgungsgesetzes und der Beamtenver-
sorgung zusammenfassen. Das alles sind steuerfinan-
zierte Leistungen. Wir brauchen überhaupt nicht mehr
Geld. Wir brauchen nur das Geld, das vorhanden ist, so
zu verteilen, daß es keinen Unterschied mehr macht, ob
man von Geburt an behindert ist oder das „Glück“ hatte,
einen Arbeitsunfall zu haben. Insofern braucht die Teil-
habe, um die es geht, eine Sicherung, die auch eine ma-
terielle Komponente hat. Diese ist das Leistungsgesetz,
das wir brauchen.
Dr. Ilja Seifert
6938 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Daß die Regierung jetzt sagt, daß sie es in dieser Le-
gislaturperiode nicht mehr will, halte ich für einen nicht
zu akzeptierenden Rückschritt. Der Maßstab, der an Be-
hindertenpolitik angelegt werden muß, ist, wieviel Teil-
habe am Leben der Gemeinschaft sie jedem einzelnen
behinderten Menschen bringt.
Ich will nicht verhehlen, daß ich mich auch über eini-
ge Punkte in diesen SGB-IX-Eckpunkten freue, seien es
die Beratungsstellen, sei es die besondere Berücksichti-
gung der Probleme von behinderten Frauen. Auch die
Tatsache, daß die deutsche Gebärdensprache endlich
anerkannt werden soll, ist ein gewaltiger Fortschritt, den
wir Behinderte alle begrüßen. Dennoch: Wo bleibt die
finanzielle Absicherung der Selbsthilfearbeit, damit wir
unsere Kompetenz auch so einbringen können, wie es
möglich wäre? Sie alle sagen ja, daß sie da sei. Das ist
ein Punkt, auf dem wir aufbauen können.
Meine Redezeit geht zu Ende. Ich hätte gern wesent-
lich länger geredet. Erlauben Sie mir zum Abschluß
noch einen lyrischen Beitrag:
Die Alpen sind
Nicht für mich gefaltet. Berge
Verweigern
Dem Rollstuhl
Den Weg. Aufwärts
Nicht anders
Als abwärts. – Trotzdem
War ich da.
Venedig ist
Nicht für mich gebaut. Die Kanäle
Tragen
Den Rollstuhl
Nicht. Und viele Brücken
Sind stufig. – Dennoch
War ich da.
Freunde
Traf ich und
Weniger
Erfreute. Die Welt ist
Nicht eingestellt
Auf mich, auf
Meine Lebensweise. Aber:
Wir
sind
da!
Danke schön.
Ich erteile dem Kol-
legen Karl-Hermann Haack, SPD, das Wort.
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute, am
Vortag des Welttages für Behinderte, eine solche
Grundsatzdebatte zu Lebensentwürfen von Menschen
mit Behinderungen hier im Deutschen Bundestag füh-
ren, so ist dies, Frau Schwaetzer, ein Novum. Erstmalig
tritt anläßlich eines solchen Tages der Deutsche Bun-
destag zusammen. Das hat nichts damit zu tun, daß wir
in den letzten Jahren auch behindertenpolitische Debat-
ten geführt haben. Dies war eine bewußte Entscheidung
der Bundesregierung, um deutlich zu machen, daß sich
ein Politikwechsel inhaltlicher Art in der Behinderten-
politik vollzieht.
In diesem Zusammenhang bedaure ich es außeror-
dentlich, daß anläßlich dieser Debatte des Deutschen
Bundestages, bewußt in die Kernzeit gelegt, eine elek-
tronische Barriere aufgebaut worden ist. Denn diese
Debatte wird lediglich im „Phoenix“-Kanal übertragen;
„ZDF“ und „ARD“ zeigen nur Seifenopern. Menschen
mit Behinderungen, die von ihren Verbänden auf diese
Debatte hingewiesen worden sind, sind durch diese
elektronische Barriere gehemmt, heute morgen etwas
darüber zu erfahren, wie Politiker mit diesem Thema
umgehen. Ich finde das nicht in Ordnung.
Wir wollen aus Anlaß des Welttages der Behinderten
heute darlegen, was der Bundestag zu diesem Thema zu
sagen hat. Die heutige Situation ist deshalb anders als
die früherer Jahre, nicht nur weil am morgigen Tag der
Deutsche Behindertenrat durch die deutschen Behinder-
tenverbände und Selbsthilfeorganisationen gegründet
wird, sondern auch weil die Zeit für die Neugestaltung
der Behindertenpolitik reif ist. In den letzten Jahren war
dieser Tag Anlaß – so auch 1998 –, daß die Organisatio-
nen uns Politiker eingeladen bzw. vorgeladen und uns
befragt haben, welche Konsequenzen wir aus der
Grundgesetzänderung von 1994 zu ziehen gedenken.
In Art. 3 steht nämlich geschrieben: „Niemand darf we-
gen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
In der Tat ist es so, Frau Nolte und Frau Schwaetzer,
daß diese Klage und die Frage der Behindertenorganisa-
tionen berechtigt war; denn trotz mehrfacher Zusagen in
Regierungserklärungen und Koalitionsvereinbarungen
hat sich nichts getan. Frau Nolte und Frau Schwaetzer,
ich finde es charmant, daß Sie nach nur einem Jahr Re-
gierungszeit etwas Konkretes fordern. Sie hatten 16 Jah-
re Zeit, das Thema „Menschen mit Behinderungen“ in
den Mittelpunkt einer politischen Querschnittsaufgabe
zu stellen.
Dies haben Sie nicht getan.
Wenn ich Ihren Antrag lese, dann komme ich zu dem
Ergebnis, daß ein Teil aus unseren Vorlagen von Ihnen
Dr. Ilja Seifert
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6939
(C)
(D)
abgeschrieben wurde und daß ein Teil aus Polemik ge-
gen rotgrüne Vorhaben besteht.
Frau Schnieber-Jastram, weil Sie sich so empören,
will ich unter anderem darauf hinweisen, daß der Spit-
zenkandidat der CDU in Schleswig-Holstein, Rühe, im
Frühjahr dieses Jahres erklärt hat, daß das Beauftrag-
tenwesen beendet werden müsse.
Der Behindertenverband von Schleswig-Holstein fragte
in diesem Zusammenhang, ob auch der Behindertenbe-
auftragte davon betroffen sei.
– Sie sprechen von Alibifunktion. Damit wissen wir al-
so, daß eine Politikerin, die in Schleswig-Holstein das
Amt der Ministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales
anstrebt, erklärt, es handele sich um eine Alibifunktion.
Schönen Dank! Damit sind wir am Ende der Gemein-
samkeit angelangt.
Wie sieht die Bilanz aus?
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-
Fraktion, haben sich gegen alle Ansätze gewehrt, ein
Gleichstellungsgesetz zu machen. Sie haben das Projekt
„Eingliederung von Menschen mit Behinderungen“ im
Rahmen des Sozialgesetzbuches IX zwar 1987, 1990
und 1994 in Ihre Koalitionsabkommen aufgenommen,
aber Sie haben es nie umgesetzt. Nein, Sie haben dieses
Gesetz zur Eingliederung von Menschen mit Behinde-
rungen in Ihren politischen Schubladen verschimmeln
lassen.
Da Sie auf einen Referentenentwurf aus Ihrer Regie-
rungszeit abheben, will ich sagen: Wir haben uns diesen
Referentenentwurf angesehen. Wir alle waren aber der
Meinung, daß wir ihn auf Grund seiner Qualität sozusa-
gen in die politische Tonne treten können.
Des weiteren haben Sie nicht einmal Ansätze zu einer
europäischen Beschäftigungspolitik für Menschen mit
Behinderung entwickelt. Der jetzige Arbeitsminister hat
im Frühjahr dieses Jahres in Dresden einen internatio-
nalen Kongreß veranstaltet. Bei dieser Gelegenheit hat
er gesagt: Menschen mit Behinderungen müssen in Eu-
ropa überall arbeiten können. – Unter welchen Voraus-
setzungen muß dies geschehen? Da ist eine Konvention
verabschiedet worden, die heute Bestandteil europäi-
scher Beschäftigungspolitik ist.
Das ist die Bilanz eines Jahres.
Wir haben uns vorgenommen, es auf jeden Fall bes-
ser zu machen. Wir wollen den Verfassungsgrundsatz
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden“ durch Gesetze für den Alltag verbindlich ma-
chen. Wir haben uns vorgenommen, ein Sozialgesetz-
buch IX als Gesetzbuch zur Eingliederung von Men-
schen mit Behinderungen auf den Weg zu bringen. Wir
haben uns vor allen Dingen vorgenommen, unsere Vor-
haben nicht gegen die, sondern mit den Menschen mit
Behinderungen zu erarbeiten und umzusetzen.
Insofern haben wir ein gutes Jahr politischer Arbeit
hinter uns. Wenn wir heute die Kolleginnen und Kolle-
gen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, als Be-
sucher hier auf der Tribüne und beim anschließenden
Empfang durch den Bundestagspräsidenten Wolfgang
Thierse begrüßen dürfen, meine ich, daß das auch ein
Ausdruck dafür ist, Ihnen allen, meine sehr verehrten
Damen und Herren, für das Vertrauen, das Sie uns ent-
gegengebracht haben, ein herzliches Dankeschön zu sa-
gen.
Wir befinden uns in der Auseinandersetzung um
einen Paradigmenwechsel; denn es gibt ein neues
Selbstverständnis und daraus resultierend neue Lebens-
entwürfe für Menschen mit Behinderungen. Auf diesen
Paradigmenwechsel gilt es zu reagieren. Fakt ist: So-
zialpolitik, Verbände sowie Einrichtungen der Behin-
dertenhilfe mit den dort Beschäftigten, nicht zuletzt die
vielen ehrenamtlich Tätigen haben in den vergangenen
50 Jahren dazu beigetragen, den Begriff Sozialstaat
Bundesrepublik Deutschland auch für Menschen mit
Behinderungen erfahrbar zu machen.
Wir wollen diesen humanen und gesellschaftlichen
Fortschritt und diese positiven Ergebnisse der Sozial-
staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, gerade
vor dem Hintergrund unserer geschichtlichen Erfahrun-
gen von 1933 bis 1945 – ich erwähne das Wort Euthana-
sie –, zur Grundlage weiterer Gestaltung und zur
Grundlage, einen neuen Pfad zu finden, machen.
In Richtung der ehemaligen DDR will ich sagen:
Auch dort gibt es sicherlich einiges aufzuarbeiten.
Kollege Haack, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?
Ja.
Wenn Sie gerade bei
der Bilanz sind: Wie können Sie sich erklären, daß in Ih-
rer Fraktion der Beschluß gefaßt worden ist, eine Bio-
ethik-Enquete-Kommission nicht einzurichten, bei der
es zum Beispiel um die Versuche mit Nichteinwilli-
gungsfähigen gehen sollte? Und wenn Sie das Thema
Euthanasie ansprechen, darf ich Sie fragen: Welche
Karl-Hermann Haack
6940 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Maßnahmen plant die Bundesregierung, die Tötung von
behinderten Kindern vor der Geburt gesetzlich einzu-
schränken?
Zum ersten
Teil Ihrer Frage will ich Ihnen sagen: Als Mitglied des
Europarates bin ich der Auffassung – diese vertrete ich
dezidiert –, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland,
aber auch international das Thema Vor- und Nachteile
der Bioethik-Konvention hinreichend diskutiert haben
und zu Ergebnissen gekommen sind. In dem Arbeits-
kreis der letzten Legislaturperiode haben wir uns unter
dem vormaligen Minister Schmidt-Jortzig verabredet,
uns erst die amtlich übersetzte Fassung sämtlicher Pro-
tokolle vorlegen zu lassen und dann weiterzusehen.
Wenn wir jetzt eine Enquete-Kommission für Bioethik
oder Biotechnologie einsetzen würden, stünden wir ge-
wissermaßen auf einer Stufe, auf der nichts Weiteres ge-
schieht. Aus meinen Erfahrungen im Europarat weiß
ich: Ein bestimmtes Quorum reicht, um die Bioethik-
Konvention verbindlich zu machen.
Ich sage Ihnen, welche Auffassung ich intern hin-
sichtlich des Verfahrens vertrete. Man muß die gegen-
seitigen Argumente sortieren, wie wir es auch damals
beim Transplantationsgesetz in bezug auf die Festlegung
des Todeszeitpunktes gemacht haben. Damals gab es
mehrere Versionen, von denen wir uns auf drei geeinigt
haben. Über diese Versionen hat jeder im Deutschen
Bundestag nach seinem Ethikverständnis abgestimmt.
So, stelle ich mir vor, wollen wir das auch bei der Bio-
ethik-Konvention machen.
Ich möchte jetzt in meiner Rede fortfahren. Wir ent-
wickeln heute generell neue Fragestellungen und Per-
spektiven. Das gilt an der Schwelle zum neuen Jahrtau-
send ebenso in der Behindertenpolitik. Das wird uns
auch in der öffentlichen Debatte durch die Betroffenen
selber deutlich gemacht.
Es gibt eine Debatte über das Thema: Soll ein
Mensch mit Behinderungen ein Objekt der Fürsorge
sein, oder muß er sich nicht selbst definieren in einem
Konzept von selbstbestimmtem Leben? Ich habe die Si-
tuation sehr persönlich erfahren in einem Gespräch mit
einer promovierten Biologin, die Rollstuhlfahrerin ist
und keine Arbeit findet. Sie muß heute bei der Hauptfür-
sorgestelle um eine Arbeitsassistenz betteln. Dem wol-
len wir eine Ende machen. In einem Sozialgesetzbuch
IX wollen wir versuchen, den Rechtsanspruch auf Ar-
beitsassistenz einzulösen.
Wir kommen, meine Damen und Herren, aus unter-
schiedlichen Welten, wenn wir uns diesem Thema nä-
hern. Es sind gewissermaßen drei Welten, die wir mit-
einander verbinden wollen. Zum einen, resultierend aus
den zwei Weltkriegen, entstand die Kriegsopferversor-
gung. Das Schwerbehindertengesetz ist eine Folge von
Behinderungen, die im Arbeitsleben erworben worden
sind. Zum anderen gibt es Menschen, die seit der Geburt
Behinderungen haben und seitdem von Sozialhilfe leben
und deren Lebensperspektive von der Sozialhilfe be-
stimmt ist. Schließlich rückt der Anspruch von Men-
schen mit Behinderung in den Vordergrund, die selbst-
bestimmt leben wollen.
Allen gemeinsam, meine Damen und Herren, ist der
Anspruch, daß sie sagen: Niemand darf wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden. Sie wollen mit uns
darüber reden.
Konkret bedeutet dies: Behindertenpolitik, ein
Gleichstellungsgesetz ist ein Bürgerrecht. Die Sozial-
politik, hier das Gesetz zur Eingliederung von Menschen
mit Behinderungen, ist dann die sozialpolitische Ergän-
zung. Es ist linke Verfassungstradition – das will ich
sehr deutlich sagen –, den Anspruch auf das Bürgerrecht
mit sozialpolitischen Maßnahmen zu verknüpfen. Sonst
realisiert sich das Bürgerrecht nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Men-
schenbild ist das der Chancengleichheit. Jeder soll die
Möglichkeit haben, sein Leben selbstbestimmt zu ge-
stalten. Das heißt, nicht mehr der fürsorgliche Staat,
sondern das Bürgerrecht der Teilhabe soll im Selbst-
verständnis der Menschen ihre Lebensbedingungen
bestimmen.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Dieser Grund-
satz benachteiligt nicht die Menschen, die in Einrich-
tungen der Behindertenhilfe leben und betreut werden.
Er stellt auch nicht in Frage, was dort von Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern in der freien Wohlfahrtspflege, in
den kirchlichen Organisationen und von anderen Trä-
gern geleistet wird. Wir brauchen deren Arbeit auch in
Zukunft. Für unsere politische Praxis bedeutet dies vor
allem: Die gesetzliche Umsetzung des Benachteili-
gungsverbotes des Grundgesetzes und die Schaffung ei-
nes effizienten Instrumentenkastens stehen in einem in-
neren Zusammenhang.
Insofern, Herr Seifert, können Sie getrost sein: Das,
was Sie als Leistungsgesetz einfordern, wollen wir in
das Sozialgesetzbuch, in das Gesetz zur Eingliederung
von Menschen mit Behinderungen, einbringen. Derzeit
sind für Menschen mit Behinderungen und deren Ein-
gliederung, ungefähr sieben soziale Sicherungssysteme
zuständig, es gelten unzählige Gesetze und eine Menge
Verordnungen. Dieses Elend muß ein Ende haben.
Sozialstaatliche Akzeptanz bedeutet auch, meine sehr
verehrten Damen und Herren, daß man sich nicht nur
inhaltlichen Fragen hingibt, sondern auch der bürokrati-
schen Frage: Folgt die Dienstleistung dem Menschen
oder folgt der Mensch der Dienstleistung? Das ist die
Kernfrage, die wir im Sozialgesetzbuch IX zu lösen ver-
suchen, indem wir mehrere – insgesamt sieben – soziale
Sicherungssysteme zusammenfassen, um zu einem ver-
nünftigen Ergebnis zu kommen.
Wir kommen noch einmal zu dem Thema der Umset-
zung des Benachteiligungsverbotes. Es steht für uns
Hubert Hüppe
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6941
(C)
(D)
außer Frage: Es gibt nach wie vor in deutschen Gesetzen
diskriminierende Bestimmungen, etwa gegenüber Ge-
hörlosen, die dort als Taubstumme und als nicht voll ge-
schäftsfähige Personen eingestuft werden. Das Netzwerk
behinderter Juristinnen und Juristen, meine Damen und
Herren, mit dem wir hervorragend zusammenarbeiten,
hat uns einen ganzen Katalog diskriminierender Vor-
schriften in Landesgesetzen, Bundesgesetzen, Rechts-
verordnungen und Geschäftsbedingungen von Versiche-
rungen vorgelegt, mit der Bitte, uns um deren Beseiti-
gung zu bemühen.
Noch immer ist es nicht planerische und bauliche
Normalität, den Belangen von Menschen mit Behinde-
rungen gerecht zu werden. Gute Beispiele, die es durch-
aus gibt, zeigen, wie unsinnig und unbedacht in vielen
Fällen gehandelt wird.
Mobilität ist in unserer Gesellschaft fast zu einem
Menschenrecht erkoren; sie ist aber für Menschen mit
Behinderungen oft ein schwieriges Unterfangen. Reisen
sind damit verbunden, Hürden und Hemmnisse über-
winden zu müssen, und man hat Hemmungen, eine Rei-
se überhaupt anzutreten.
Wir glauben, meine Damen und Herren, daß diese
Gesellschaft es nicht länger rechtfertigen kann, Men-
schen aus Gründen juristischer Komplexität der Materie
in Rechten und Bewegungsfreiheiten einzuschränken.
Dazu bedarf es eines Instrumentariums, das sich aus
dem Grundrechtsartikel 3 Abs. 3 ableitet.
Ein Beispiel, wie dieser Artikel jetzt schon eine
Eigendynamik entwickelt: Es gibt Gerichtsurteile zum
Einbau von Treppenliften. Da sagt das eine Gericht, daß
das in einem Mietshaus geschehen muß, und ein anderes
Gericht sagt, daß das nicht geschehen darf. Nun geht es
zur nächsten Instanz. Es wird deutlich, wie dieser Arti-
kel 3 Abs. 3 – „Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden“ – eine Eigendynamik entwickelt.
Daneben gibt es das Sozialgesetzbuch IX. Wir wollen
das Recht so vereinheitlichen, daß die Menschen mit
Behinderungen bei der Beantragung von Leistungen
nicht mehr zu Pfadfindern ihrer eigenen Situation wer-
den müssen, sondern daß die Dienstleistung auf den
Menschen zugeht. Hier sehen wir eines der größten Ak-
zeptanzprobleme unserer Sozialstaatlichkeit.
Zum Schluß zu den Finanzen. Ich bin ganz deutlich:
Wir haben das Gespräch mit den Verbänden behinderter
Menschen und anderen Organisationen gesucht. Ich habe
eindeutig gesagt: Wir werden uns in dem Finanztableau,
das sich aus dem Ergebnis vom 31. Dezember 1998 er-
gibt, bewegen. Wir haben in der Pflegeversicherung einen
Deckel bei 1,7 Prozent. Wir haben in der Rentenversiche-
rung als Fortschreibung entweder die Steigerung auf
Grund der Nettogrundlohnsumme oder aber den Inflati-
onsausgleich. Darum geht der politische Streit. Im Ge-
sundheitswesen diskutieren wir das Globalbudget, das zur
Zeit nicht durchsetzbar ist, das ich aber aus prinzipiellen
Gründen für richtig halte. Wir werden einen anderen Pa-
rameter der finanziellen Steuerung finden. Aber dann
kann es nicht sein, daß ein soziales Sicherungssystem,
nämlich das SGB IX, mit einem Ausgabenvolumen von
55 Milliarden DM, davon 15 Milliarden DM Eingliede-
rungshilfe für Menschen mit Behinderungen, sich der
Finanzfrage nicht stellt. Denn die Solidarität gegenüber
Menschen mit Behinderungen bedeutet auch, Akzeptanz
bei denen zu erzeugen, die diese Solidarität bezahlen. Das
sind diejenigen, die Steuern und Abgaben bezahlen. Das
dürfen wir nicht als Gegensatzpaar sehen, sondern müs-
sen versuchen, das in einem gesellschaftlichen Diskurs im
Ergebnis als Symbiose darzustellen.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort der Kollegin Birgit Schnie-
ber-Jastram, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-
dent! Sehr geehrter Herr Haack, ich möchte gern auf das
eingehen, was Sie soeben gesagt haben,
und sehr deutlich machen, daß ich überhaupt kein Pro-
blem mit Behindertenbeauftragten habe – dort, wo sie
Kompetenz haben und nicht nur Symbolfigur sind, um
auch das sehr deutlich zu sagen.
Ich will Ihnen auch noch einmal klarmachen, welche
Erwartungen wir an einen sehr guten Behindertenbeauf-
tragten haben. Ich finde schon, daß er über die Partei-
grenzen hinweg die Interessen der Behinderten bündeln
muß und nicht polarisieren darf.
Gerade am Beispiel Schleswig-Holstein möchte ich
Sie daran erinnern, daß aus Ihren Reihen der erste und
ein ausgesprochen guter – von Ihnen vielleicht nicht so
sehr geliebter – Behindertenbeauftragter hervorgegan-
gen ist, nämlich damals Eugen Glombig, der in Schles-
wig-Holstein eine ganz wichtige Arbeit geleistet hat.
Ich will deutlich machen: Behindertenpolitik heißt
nicht nur, einen Behindertenbeauftragten zu benennen,
der auf Veranstaltungen auftritt, sondern Behinderten-
politik heißt, daß man überall dort, wo Anliegen disku-
tiert werden, auch Menschen mit Kompetenz hat, die
diese Anliegen vertreten. Das gilt nicht nur für die Sozi-
alpolitik, das gilt für die Arbeitsmarktpolitik, für die Ge-
sundheitspolitik, für den Wohnungsbau und viele andere
Bereiche, nicht zuletzt auch für die Finanzpolitik. Vor
diesem Hintergrund wundere ich mich schon ein biß-
chen, daß auf der Regierungsbank kaum Vertreter dieser
Ressorts anwesend sind, die die Interessen und die Be-
lange Behinderter genauso angehen wie Sie als Behin-
dertenbeauftragten.
Karl-Hermann Haack
6942 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Noch einmal ganz deutlich: Behindertenbeauftragte
brauchen wir überall da, wo sie große Kompetenz haben.
Eins werden Sie mir zugestehen – jedenfalls denke
ich nicht, daß Sie mir das absprechen werden, Herr
Haack –: Ich kann ein langjähriges Engagement in die-
sem Bereich vorweisen. Überall dort, wo ich politisch
gearbeitet habe, habe ich auf diesem Feld gearbeitet. Ich
freue mich, daß ich mit Kompetenz sehr viel für Behin-
derte tun werde.
Kollege Haack.
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Frau Schnieber-
Jastram, ich finde es ja sehr gut, daß Sie sagen, ein Be-
hindertenbeauftragter müsse kompetent sein.
Zu der Zeit, als der Kollege Rühe das leichtfertig gesagt
hat, war der Präsident des Deutschen Gehörlosen-
Bundes, Dr. Hase, als Landesbehindertenbeauftragter in
Schleswig-Holstein im Amt. Das ist ein hochkompeten-
ter Mann.
– Ich rede über Schleswig-Holstein. Frau Schnieber-
Jastram ist in dem Kabinett von Herrn Rühe als Arbeits-,
Gesundheits- und Sozialministerin vorgesehen.
Deshalb reden wir darüber.
Zudem will ich sehr deutlich machen: Ich bin Ihrer
Auffassung,
daß man sagen kann, die Frage der Neugestaltung von
Lebensentwürfen von Menschen mit Behinderungen sei
kein Gegenstand politischen Streites. Ich verstehe mein
Amt aber so: Wenn Moderation durch Vorurteile und
durch Ideologie
im Endergebnis gehindert wird, dann werde ich streit-
bar; dafür bin ich benannt. Sie kennen mich: Diesen
Streit stehe ich durch.
Ich erteile dem Kol-
legen Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Behindertenbe-
auftragter Karl-Hermann Haack, ich hätte mir von dir
heute eigentlich eine Rede gewünscht, in der du dich –
was du auch oft tust – als Anwalt der Behinderten dar-
gestellt hättest,
in der du aber auch ein bißchen Wert auf die Feststel-
lung gelegt hättest, daß sich die Politiker von allen Par-
teien im Deutschen Bundestag doch einig sind, daß wir
uns um die Behinderten sorgen, daß wir möchten, daß
Behinderte – soweit sie es auf Grund ihrer Behinderung
können – in unserem Land ein normales Leben führen,
daß sie mitten in der Gesellschaft ihren Platz haben und
daß man mit ihnen ganz normal umgeht. Viele Behin-
derte – ich glaube, ich kann mir auf Grund einer in mei-
ner Familie vorhandenen Situation ein Urteil erlauben –
wollen gar keine Sonderbehandlung, sondern wollen
ganz normal angenommen werden und dabeisein – wie
wir auch. Ich hätte mir gewünscht, daß du das dargestellt
hättest und daß du nicht gemeint hättest, wegen weniger
Punkte spalten zu müssen und sagen zu müssen, daß
jetzt die SPD und die Grünen – die neue Koalition – das
Rad neu erfindet.
Ich finde es auch ungerecht, daß in dieser Debatte
gesagt wird, in den 16 Jahren, in denen Union und
F.D.P. Verantwortung getragen haben, sei für Behin-
derte nichts getan worden.
Das ist doch nicht wahr. Gegen ganz viele Widerstände
in dieser Gesellschaft haben Union und F.D.P. – und in
der Endphase doch mit der SPD zusammen – die Pfle-
geversicherung durchgesetzt. Das ist doch wahr. Mit
der Pflegeversicherung haben wir die Situation von
Hunderttausenden von Menschen vor allen Dingen in
der häuslichen Pflege – aber auch in der stationären –
grundlegend verbessert.
Lieber Kollege Seifert, bei allem Respekt davor, daß
Sie Ihre Aufgabe als Abgeordneter auch mit einer Be-
hinderung wahrnehmen: Ich habe gerade in das Hand-
buch des Deutschen Bundestages geschaut. Sie waren
SED-Parteisekretär.
Birgit Schnieber-Jastram
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6943
(C)
(D)
Wenn Sie das waren, dann ist es gut, daß Sie das of-
fen hineinschreiben. Ich habe 1990 bei meinen ersten
politischen Einsätzen in den neuen Ländern eine Behin-
derteneinrichtung in der Nähe von Schwerin besucht. In
diesem Behindertenheim herrschte eine Situation vor,
wie wir sie uns in unseren Heimen überhaupt nicht mehr
vorstellen können.
Wenn etwas wahr ist, dann dies: Wie sozial eine Ge-
sellschaft ist, welche inneren Werte eine Gesellschaft
hat, erkennt man immer daran – ich glaube, da sind wir
uns alle einig –, wie sie mit den Schwächsten der Ge-
sellschaft umgeht.
Dazu gehört der Umgang mit Kindern, mit älteren Leu-
ten und insbesondere mit behinderten Menschen. Des-
wegen sage ich Ihnen: Das System, dem Sie als SED-
Parteisekretär gedient haben, war ein unsoziales und in-
humanes System.
Ich lasse mich nicht gerne von Menschen wie Ihnen im
Bereich der Sozialpolitik belehren.
Kollege Laumann,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Gut, das können
wir machen.
Herr Kollege Laumann, ich
möchte Sie fragen, ob es nicht vielleicht auch in Ihrer
Biographie den einen oder anderen Bruch gibt. Darf ich
Sie bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß ich
Parteisekretär in einer kleinen kulturpolitischen Ein-
richtung war, mehrfach nicht gewählt wurde, dann aber
– nachdem ich vielleicht etwas für die Mitglieder getan
hatte – doch gewählt wurde, und daß ich die Behinder-
tenpolitik der DDR schon seinerzeit in vielen Punkten
kritisiert habe? Darf ich Sie fragen, ob Sie das schon
wissen?
Ich habe noch eine Frage: Wie vereinbaren Sie die
scharfe Kritik an der Behindertenpolitik und insbeson-
dere an den Behinderteneinrichtungen der DDR mit
dem, was wir immer wieder hören – Stichwort: Gewalt
gegen Alte, Gewalt in der Pflege –, insbesondere aus
München und anderen westdeutschen Großstädten?
Lieber Kollege
Seifert, zunächst einmal entspricht es meinem Men-
schenbild als Katholik, daß ich jedem Umkehr, Buße
und Neuanfang zugestehe.
Dazu gehört aber, daß man zu dem, was man vorher ge-
tan hat, steht.
Wenn Sie heute in Ihrer Rede etwas zu Ihren Erfahrun-
gen, die Sie dort gemacht haben, gesagt und nicht nur
kritisiert hätten, dann wären Sie viel glaubwürdiger ge-
wesen.
Zu Ihrer Frage hinsichtlich der Gewalt in der Pflege:
Seitdem ich dem Deutschen Bundestag angehöre, be-
schäftige ich mich sehr intensiv – viele wissen das – mit
der Pflegeversicherung. Alle Gesetze sind eindeutig. Sie
wissen, daß die staatlichen Kontrollen immer irgendwo
ein Ende haben. Ich finde, man kann am besten gegen
Gewalt in der Pflege vorgehen, wenn man dieses The-
ma nicht tabuisiert, wenn man ganz oft darüber redet
und wenn man versucht, ein gesellschaftliches Bewußt-
sein dafür zu schaffen. Man sollte nicht weggucken. Das
ist es, was wir gemeinsam dagegen tun sollten.
Es gibt aber nicht nur Gewalt in der Pflege. Es muß
auch gesagt werden, daß in den vielen Einrichtungen un-
seres Landes jeden Tag Tausende von Menschen damit
beschäftigt sind, die Pflegebedürftigen und Behinderten
aufopferungsvoll, mit Kompetenz und Herz zu betreuen,
zu pflegen und zu versorgen.
Ich meine, in einer solchen Debatte sollte man sagen,
daß wir diesen Menschen sehr dankbar sein können.
Ich will noch einen Punkt ansprechen. In dieser De-
batte wurde gesagt: In eurer 16jährigen Regierungszeit
hättet ihr doch alles machen können: das Sozialgesetz-
buch IX, die Leistungsgesetze! Ich war damals in der
Arbeitsgruppe meiner Fraktion „Kodifizierung Sozialge-
setzbuch IX“. Wir hatten damals eine Vorlage, von der
Sie gesagt haben: Die schmeißen wir jetzt in die Tonne.
Wir waren in der Lage – das will ich ganz offen sagen –,
die verschiedenen Gesetze für Behinderte, die zur Zeit
völlig unübersichtlich auf mehrere Gesetzbücher verteilt
sind, in einem Gesetzbuch, nämlich dem Sozialgesetz-
buch IX, zusammenzufassen. Wir hatten damals aber
keine finanziellen Möglichkeiten, Leistungen zu verbes-
sern, und zwar auch deswegen, weil wir nach 1990 im
Eiltempo unser Geld für die Behinderten- und Sozial-
politik eingesetzt haben, um die Strukturen in Ost-
deutschland nachhaltig zu verbessern.
Was wir damals alle gemeinsam unter Verantwortung
von Norbert Blüm und Helmut Kohl in der Behinderten-
politik in Ostdeutschland gemacht haben, war, ein Tem-
po vorzulegen, wie es Menschen einer ganzen Genera-
tion in anderen Gebieten nicht erlebt haben. Ich finde,
das festzustellen, gehört auch dazu.
Karl-Josef Laumann
6944 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Ich stehe dafür ein, daß es mir – wie uns allen –
wichtiger war, dort die schlimmsten Strukturen zu ver-
bessern, bevor wir dann notwendige und wünschens-
werte Maßnahmen bei uns im Westen, wo wir alles in
allem einen guten Standard haben, durchgesetzt haben.
Deswegen, lieber Kollege Haack: Wirken Sie in Ihrem
Amt nicht so parteipolitisch. Setzen Sie sich für Behin-
derte ein. Denken Sie aber daran, daß es Menschen, die
sich für Behinderte einsetzen, in allen Parteien, in allen
Fraktionen des Deutschen Bundestages und in allen
gesellschaftlichen Schichten unseres Landes gibt.
Hierzu will ich noch etwas sagen. Ich habe mir meine
heutige Rede etwas anders gedacht, aber auf Grund der
letzten Beiträge mußte ich sie anders halten. Ich habe in
meinem Bundestagswahlkampf viele Podiumsdiskussio-
nen geführt und habe manchen von Ihnen, der hier sitzt,
bei diesen Podiumsdiskussionen getroffen. Mir hat da-
mals Ihre beißende, Ihre ätzende Kritik an der Sozial-
und Behindertenpolitik der damaligen Bundesregierung
weh getan. Damals haben Sie den Leuten Leistungsge-
setze versprochen.
Ich kann ein Jahr nach Ihrer Regierungsübernahme von
diesen Leistungsgesetzen nicht einmal im Ansatz, nicht
einmal mit einem Fernglas irgend etwas erkennen. Das
ist doch die Wahrheit.
Sie sollten hier nicht so vollmundig reden und den Men-
schen versprechen, was Sie bei der Pflegeversicherung
alles machen würden. Sie haben bei vielen Podiumsdis-
kussionen gesagt: Wenn wir an die Regierung kommen,
wird alles verändert. Was haben Sie gemacht? Bis jetzt
fast gar nichts. Sie haben der Pflegeversicherung
dadurch, daß Sie die Arbeitslosenhilfeempfänger im
Zusammenhang mit der Bemessungsgrundlage anders
bewerten – Herr Riester, dafür haben Sie die Verant-
wortung –, 500 Millionen DM entzogen und damit die
Grundlage für Leistungsverbesserungen in diesem
System für die nähere Zukunft zerstört.
Ich hätte mir, Herr Kollege Haack, gewünscht, daß der
Behindertenbeauftragte der Bundesregierung in dieser
Frage das Wort für die Behinderten ergriffen hätte.
Deswegen glaube ich, daß Sie den Einwand der Kol-
legin Schnieber-Jastram verstehen müssen. Einen Be-
hindertenbeauftragten zu haben, macht nur Sinn, wenn
er gerade in einer solchen Frage sein Wort erhebt, auch
wenn es gegen die eigene Partei geht, und für die Behin-
derten einsteht. Ansonsten macht es keinen Sinn.
Zum Schluß möchte ich aus meiner ganz persönli-
chen Sicht ein Thema ansprechen, das wir im Deutschen
Bundestag als Gesetzgeber zu verantworten haben. Ich
weiß, daß es hier keine leichte Lösung gibt. Der Kollege
Hüppe hat das Thema mit einer Zwischenfrage ange-
sprochen. Die Abtreibungsproblematik läßt eine Ge-
sellschaft nie in Ruhe. Ich weiß das. Ich bin mir über die
Wege, wie man das ungeborene Kind am besten schüt-
zen kann, nicht sicher. Ich weiß auch nicht, wie man es
am besten macht. Ich bin bislang bei allen Abstimmun-
gen im Bundestag dafür eingetreten, daß wir einen kla-
ren rechtlichen Schutz haben. Ich war mit meiner Mei-
nung immer in der Minderheit im Bundestag. Ich sehe
jetzt in meiner Kirche, wie schwer wir uns tun im Kon-
flikt zwischen der grundsätzlichen Position und der
Frage, was man in der Seelsorge machen müßte. Das ist
die Frage, die in der katholischen Kirche zur Zeit disku-
tiert wird.
Aber ich kann folgendes nicht verstehen – das sage
ich ganz offen; darüber müssen wir als Abgeordnete re-
den können und ich möchte das in der Behindertende-
batte sagen –: Wenn bei einer Untersuchung festgestellt
wird, daß ein ungeborenes Kind wahrscheinlich behin-
dert ist, liegen die Fristen für eine Abtreibung nicht nur
in den ersten drei Monaten, sondern weit darüber hinaus.
Ich finde, das ist ein unerträglicher Zustand. Das ist
meine persönliche Meinung.
Es ist ein unerträglicher Zustand, daß eine andere
Rechtsnorm bei behinderten ungeborenen Kindern gilt
als bei anderen. Ich sage nur: Laßt uns in Ruhe überle-
gen, ob man in diesem Land mit diesem Unterschied in
der Rechtsnorm wirklich leben kann. Ich meine, man
kann damit nicht leben. Laßt uns das nicht zum partei-
politischen Streit machen, sondern laßt uns überlegen,
wie man eine Lösung finden kann, die unseren ethischen
Auffassungen gerecht wird, die aber auch unseren Auf-
fassungen vom Bild der Frau gerecht wird, und laßt uns
die Fragen, die mit einer solchen Situation verbunden
sind, in einen verantwortbaren Zusammenhang bringen.
Mein abschließender Appell ist einfach nur, daß Sie
die weitere Debatte vielleicht nicht so parteipolitisch
führen und daß Sie, lieber Kollege Haack, demnächst Ihr
Amt für die Behinderten ausüben, aber nicht für die
Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
Schönen Dank.
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Karl-Hermann Haack,
SPD.
Herr Lau-
mann, ich möchte auf Ihre Bemerkung eingehen, man
solle ein solches Amt nicht politisieren.
Karl-Josef Laumann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6945
(C)
(D)
Als ich mein Amt angetreten habe, haben wir uns
darauf verständigt, zunächst einmal eine Bestandsauf-
nahme darüber zu machen, welche Konzepte die politi-
schen Parteien für den Umgang mit Menschen mit Be-
hinderung haben. Wir haben eine Synopse gemacht:
CDU, CSU, F.D.P, Grüne, PDS.
Wir sind dann in eine zweite Runde gegangen und ha-
ben eine Synopse zu der Frage gemacht, was Behinder-
tenverbände von Politikern erwarten. Das waren die so-
genannten Wahlprüfsteine für die Bundestagswahl 1998.
Wenn Sie diese Synopse betrachten, dann stellen Sie
fest, daß es signifikante Unteschiede gibt. Ich will dies
einmal an Hand eines Beispiels auf abstrakter Ebene
deutlich machen.
– Hören Sie doch einmal zu!
Es gibt in der Gesellschaft ein unterschiedliches Ver-
ständnis von Situationen, was dann auch seinen politi-
schen Ausdruck findet. Das ist so. Ich will das an dem
Gebot deutlich machen, daß niemand wegen seiner Be-
hinderung benachteiligt werden darf. Wir haben einen
Diskussionsprozeß durchgeführt und haben gesagt: Dies
ist ein Bürgerrecht. Nach linker Verfassungstradition ist
es erst dann ein Bürgerrecht, das eingelöst werden kann,
wenn man dazu einen sozialpolitischen Instrumentenka-
sten hat. Das ist der qualitative Sprung, der auf unserer
Seite stattgefunden hat,
indem wir einen inhärenten Zusammenhang hergestellt
und gesagt haben: Ein Benachteiligungsverbot, ein
Gleichstellungsgebot als ein Bürgerrecht hat im Alltag
nur dann Sinn, wenn es sozialpolitisch ausgestaltet ist.
Das ist linke Verfassungstradition, und das nehme ich
für mich in Anspruch. Das habe ich bei Ihnen nie vorge-
funden.
Ich erteile nunmehr
das Wort dem Kollegen Laumann zur Erwiderung.
Herr Kollege
Haack, ich wünschte wirklich, Sie hätten endlich begrif-
fen,
daß man als Behindertenbeauftragter nicht in einer linken
Verfassungstradition stehen muß, sondern daß man An-
walt der Behinderten mit Herz und Verstand sein muß.
Ich habe mir noch einmal die ersten drei Artikel unse-
res Grundgesetzes angeschaut. Da heißt es in Art.1
Abs. 1:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt.
In Art. 2 Abs. 1 steht:
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer
verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige
Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Das gilt alles auch für behinderte Menschen. In Art. 3
Abs. 3, neu eingefügt, der Satz:
Niemand darf wegen seiner Behinderung benach-
teiligt werden.
Ich meine, treffender, als es in unserem Grundgesetz
steht, kann man das, wie man mit Menschen, auch mit
Menschen mit einer Behinderung umgehen muß, gar
nicht ausdrücken, zumal wenn Sie noch die Formulie-
rung der Präambel „Im Bewußtsein seiner Verantwor-
tung vor Gott und den Menschen“ hinzunehmen.
Ich bin mit dem Sozialausschuß einmal in Amerika
gewesen.
Dort gibt es ein Diskriminierungsverbot und all diese
Dinge. Man kann zwar, wenn man drei, vier Tage in
einem Land ist, nicht die gesamte Sozialpolitik des Lan-
des beurteilen. Ich will den Amerikanern auch nicht un-
recht tun. Aber mein Eindruck war schon – es waren ja
auch Kollegen der Sozialdemokratischen Partei dabei –,
daß es in Amerika zwar ein Diskriminierungsverbot
gibt, daß aber der sozialpolitische Instrumentenkatalog
und die Hilfen, die man dort hat, bei weitem nicht so gut
ausgebaut sind wie bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland.
Ich finde, wir können schon stolz darauf sein, was
dieses Land, was diese Gesellschaft in den letzten
50 Jahren im Bereich der Sozialpolitik auch und gerade
für Behinderte gemacht hat.
Wir müssen uns neuen Aufgaben stellen. Das bein-
haltet auch stärkere Eigenverantwortung der Behinder-
ten. Ich finde die „Budgetidee“, die meine Kollegin
Nolte vertreten hat, toll. Wir müssen uns darüber Ge-
danken machen, wo Menschen, die ein Leben lang in
Behindertenwerkstätten gearbeitet haben, im Alter blei-
ben.
– Das haben wir ja gelöst: In der Regel bleiben sie in
den Wohnheimen der Behindertenwerkstätten, die für
diese Menschen nicht nur Arbeitsplatz, sondern Wohn-
ort und Lebensumfeld sind.
Karl-Hermann Haack
6946 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Ich sage Ihnen ganz klar: Von der ethischen, von der
inneren Verfassung her und in bezug auf das Menschen-
bild, das die Christlich Demokratische Union und die
Christlich-Soziale Union haben, paßt zwischen uns und
die Behinderten nicht ein Blatt Papier. Wir sind da ganz
nah bei den Menschen. Sie können sich darauf verlas-
sen, daß das auch in Zukunft so bleibt.
Ich erteile das Wort
der Bundesministerin Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geben Sie
mir Gelegenheit zu dem Versuch, das einzulösen, was
alle Seiten die ganze Zeit voneinander fordern: nicht in
Parteipolitik zu verfallen. Das war nämlich eigentlich
ein guter Anfang, den wir heute morgen gemacht haben.
Wenn man einmal von den üblichen parlamentari-
schen Scharmützeln absieht – ich werde jetzt jeder Ver-
suchung widerstehen, mich daran zu beteiligen –, war
heute morgen erkennbar, was sich in der behindertenpo-
litischen Diskussion verändert hat. Ich selber habe erst
vor fünf Jahren aktiv mit Behindertenpolitik angefangen.
Damals war ich – weil ich von den Grünen komme und
mit einer anderen Art der Debatte vertraut war – schon
ziemlich überrascht darüber, wie paternalistisch und be-
vormundend über Menschen mit Behinderungen, für die
man etwas tun müsse, gesprochen wurde. Das entdecke
ich in den Reden hier überhaupt nicht mehr. Ich glaube,
man kann heute für alle Fraktionen, für alle Rednerinnen
und Redner reklamieren, daß dieser Paradigmenwechsel
vollzogen worden ist. Es geht allen Seiten um eine Poli-
tik auf gleicher Augenhöhe, die weiß, daß Menschen mit
Behinderungen für sich selber sprechen können, daß sie
ihre eigenen Interessen formulieren können, daß sie Ex-
pertinnen und Experten in eigener Sache sind, daß man
ihnen nichts gnädig zuweisen oder gar für sie sprechen
muß.
Ich glaube aber – das schien auch in den Beiträgen
des Kollegen Laumann und anderen auf –, daß in dieser
Debatte Ehrlichkeit dazugehört. Sie haben gesagt: Ihr
habt den Mund so voll genommen; deswegen sind wir
nicht mit dem wenigen, was seit einem Jahr geschieht,
zufrieden. – Das mag sein. Gleichwohl hat er selber zu-
gegeben, daß vieles von dem, was die Behindertenpoli-
tiker der Union gewollt haben, in den letzten Jahren
nicht gelungen ist, weil es finanzielle Restriktionen,
weil es aber auch systemische Restriktionen gibt. Ich
komme darauf im Zusammenhang mit der Pflegeversi-
cherung gleich noch zu sprechen. Deswegen wäre Ehr-
lichkeit von allen Seiten angebracht.
In gewisser Weise ist das bitter, für die Betroffenen,
die aus gutem Grund ungeduldig sind und sagen: „Es
langt uns, ihr sagt uns zu lange Gutes“, sowieso. Aber
auch für diejenigen, die – wie war die Forderung gera-
de? – „mit Herz und Verstand“ Behindertenpolitik ma-
chen – was nicht nur, aber auch der Behindertenbeauf-
tragte tut –, ist das bitter. Denn sie alle kämpfen seit Jahr
und Tag in diesem Bereich.
Ich glaube, daß wir alle trotzdem nicht überheblich sein
sollten. Das liegt an finanziellen und anderen Restriktio-
nen, und darüber müssen wir im einzelnen sprechen. Es
ist deswegen wichtig, festzustellen, daß sich der Ton
und der politische Stil ändert – das reklamiere ich, wie
gesagt, für alle Seiten hier im Haus –, weil ich glaube,
daß dies die Voraussetzungen der Behindertenpolitik
ändert.
Weil das schon die ganze Zeit Thema war, will ich
auf zwei Punkte, die in mein Ressort fallen, genauer
eingehen. Was die Pflegeversicherung in diesem Bereich
leistet, ist – das ist bei aller Kritik unbestritten – ein Er-
folg. Wir stellen aber fest, daß gerade die Regelungen,
die man gemacht hat, weil man sie für eine Frage des
Bürgerrechts und der Gleichbehandlung hielt, zurück-
fielen auf die Behinderten. Das ist übrigens ein Problem,
das wir schon in der letzten Legislaturperiode festge-
stellt haben. Wir haben alle miteinander darüber gespro-
chen, und haben alle gesehen, wie schwer das zu regeln
ist. Ich will auch nicht verhehlen, daß auch ich finde,
daß wir längst weiter sein müßten.
Ich kann dazu nur sagen: Wir sind ein anderes Pro-
blem mit oberster Priorität angegangen, die Qualitätssi-
cherung in der professionellen Pflege. Das ist das
Stichwort, das der Kollege Seifert vorhin schon aufge-
griffen hat. Gerade angesichts der vielfältigen Kritik, die
Sie in den letzten Monaten daran geübt haben, daß wir
häufig zu schnell vorgehen, sollten Sie uns in diesem
Fall gestatten, Schritt für Schritt vorzugehen.
Ich will, daß wir diese Abgrenzungsproblematik lö-
sen. Ich weiß, daß dieses Problem in der Opposition, die
es auch politisch mit zu verantworten hat, genauso gese-
hen wird wie bei uns. Alle Seiten wissen, wie schwierig
dies ist. Wir werden das Sozialhilferecht ändern müssen.
Wir werden dort viele Fragen klären. Sie wissen, daß
dies für die Kommunen unabhängig von der parteipoliti-
schen Färbung der dortigen Führung schwierig ist. Es
wäre sehr wertvoll, wenn sämtliche Vertreter heute ge-
meinsam die Verabredung treffen, daß wir dies tun müs-
sen.
Ich habe nicht sehr viel Redezeit, deswegen muß ich
im Parforceritt noch ein anderes Thema, das schon von
den Kollegen Laumann und Hüppe angesprochen wurde,
aufgreifen. Nicht zuletzt durch die Debatte, die in den
letzten Wochen in den Feuilletons anläßlich der Thesen
von Peter Sloterdijk geführt wurde, haben wir festge-
stellt, daß das Thema der biomedizinischen Entwick-
lung viele Menschen sehr bewegt. Wir sind durch die
Entwicklung, die die mo derne Biotechnologie bietet,
mit ganz neuen Möglichkeiten, auch Machbarkeiten
konfrontiert. Das, was wir bislang für möglich hielten,
wird täglich verändert und erweitert. Das bedeutet, daß
Karl-Josef Laumann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6947
(C)
(D)
wir in allen Bereichen unseres Lebens viel stärker mit
ethischen Fragen beschäftigt sein werden. Diese stehen
meines Erachtens ganz weit oben auf der Tagesordnung.
Wir haben dazu sehr zwiespältige Positionen und Ge-
fühle.
Gerade die immer weiter reichenden Möglichkeiten
der pränatalen Diagnostik bedeuten für viele Familien
ebenso eine Hilfe wie auch eine Bedrohung. Denn was
sollen sie tun, wenn ihnen ihr Arzt sagt, daß das Kind,
auf das sie sich auch gefreut haben, mit einer Behinde-
rung zur Welt kommen wird, und auch manches Mal der
Rat zur Abtreibung gegeben wird? Das beschäftigt mich
sehr. Ich glaube, das Problem wird nicht durch eine Ver-
änderung des § 218 des Strafgesetzbuches gelöst. Wir
werden, so glaube ich, eher das ärztliche Standesrecht
ändern müssen. Wir befinden uns zur Zeit in einer Dis-
kussion über einen praktikablen Vorschlag hierzu.
Über diese Frage hinaus beschäftigt mich die Frage,
wie all diese neuen Möglichkeiten unsere Wahrnehmung
der Welt und des Lebens, unsere Wahrnehmung von
Leid und von Behinderung verändern. Ich frage mich,
ob durch diese Möglichkeiten nicht auch die Gefahr be-
steht, daß der Fortschritt, den wir im Hinblick auf das
gesellschaftliche Bewußtsein erreicht haben, wieder zu-
rückgeht und wir wieder zu einer schleichenden Ab-
wertung behinderten Lebens kommen. Das treibt mich
um, obwohl ich weiß, was auch die Eltern umtreibt, die
sich in einem solchen Fall gegen das Kind entscheiden.
Ich habe angekündigt, daß dies in den Gesetz-
gebungsprozeß eingebunden werden wird. Wir werden
die Diskussion darüber führen, und zwar über die Frak-
tionsgrenzen hinweg. Ich glaube, die am Ende dabei
herauskommenden Gesetze werden auf einem Konsens
beruhen. Entscheidend wird sein, daß wir uns darüber
klar werden, wie wir mit diesen Möglichkeiten umge-
hen, welche Perspektive es für ein Leben mit Krankheit
und Behinderung gibt. Ich will nicht verhehlen, daß ich
mich dazu bekenne, daß ich mir eine Gesellschaft wün-
sche, in der sich Eltern auf ein Kind mit Behinderung
genauso freuen wie auf ein Kind, das gesund geboren
wird.
Als
nächster Redner hat der Kollege Detlef Parr von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich möchte noch einige Bemerkungen zum
Änderungsantrag der PDS zur Pflegeversicherung ma-
chen. Der Kollege Laumann hat es schon angesprochen.
Wenn die PDS hinsichtlich der Pflegeversicherung aktiv
wird, stellt sie höchstens utopische Forderungen. Sie
hofft dabei auf den Beifall der Ahnungslosen und
kommt bisher zum Glück nicht in die Verlegenheit, ihre
Versprechungen einlösen zu müssen. Ihre Forderungen
laufen nämlich auf eine Leistungsausweitung hinaus, die
schlicht unbezahlbar ist.
Tatsache ist, daß die Pflegeversicherung seit ihrem
Bestehen für viele Menschen zu großen Verbesserungen
geführt hat. Im letzten Jahr konnten sie mehr als
1,7 Millionen Menschen in Anspruch nehmen. Dabei
war von Anfang an klar, daß die Leistungen wohl zu
einer wesentlichen Entlastung der finanziellen Situation
der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen führen
sollten. Eine vollständige Übernahme der Pflegekosten
war aber nie vorgesehen, meine Damen und Herren von
der PDS.
Schaut man sich die Zahlen an, dann wird sehr
schnell klar, wie unerfüllbar eine derartige Forderung
ist. Viel schlimmer: Das Bundesversicherungsamt be-
fürchtet, daß es für die Pflegekassen wegen der Spar-
politik der Bundesregierung einerseits und der demogra-
phischen Entwicklung in den nächsten Jahren anderer-
seits finanziell sehr eng werden könnte.
Herr
Kollege Parr, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Seifert von der PDS?
Bitte schön.
Bitte
schön.
Herr Kollege Parr, sind Sie so
freundlich, den Zuschauerinnen und Zuschauern wenig-
stens zu sagen, daß unser Antrag überhaupt nicht auf
Ausweitung der Pflegeleistungen gerichtet ist, sondern
daß unser Antrag dahin geht, daß wir die Petition einer
Petentin ernster zu nehmen wünschen, als sie einfach
nur „zur Kenntnis“ zu nehmen?
Das ist die eine Seite Ihres
Antrages. Wenn man das aber in eine Novellierung des
Pflegeversicherungsgesetzes umsetzt, so wie Sie sie be-
absichtigen, hätte das die Konsequenz einer entspre-
chenden Ausweitung, und diese können wir so nicht
akzeptieren.
Der Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung wird
in vier Jahren aufgebraucht sein, wenn die Beitragsein-
nahmen etwa gleichbleiben, der Lohnzuwachs nur ge-
ringfügig ausfällt und die erwarteten Ausgabensteige-
rungen eintreffen. Durch das Sparpaket der Bundesre-
gierung – auch das hat Herr Kollege Laumann ange-
sprochen – entgehen der Pflegekasse rund 400 bis
500 Millionen DM pro Jahr, die Arbeitsminister Riester
im Gegenzug in seinem Etat einsparen kann. Wir haben
diesen ungenierten Eingriff des Arbeitsministers heftig
kritisiert, und wir bleiben auch bei unserer Kritik an die-
ser Selbstbedienung, meine Damen und Herren!
Hinzu kommen Mehrausgaben von 800 bis
900 Millionen DM pro Jahr, die auf die steigende Zahl
älterer Menschen zurückzuführen sind. Jedes Jahr wer-
Bundesministerin Andrea Fischer
6948 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
den weitere 100 000 Menschen zum Pflegefall. Diese
Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Man braucht
kein Prophet zu sein, um vorherzusehen, daß wir bald
eine Diskussion um Beitragssatzerhöhungen haben wer-
den, und das, obwohl wir uns alle einig sind, daß die
Lohnnebenkosten nicht weiter steigen dürfen.
Meine Damen und Herren, eine solide, an Sachargu-
menten orientierte Politik verbietet den Griff in die Pfle-
gekasse für kurzfristige Spareffekte. Solch ein Verschie-
bebahnhof zwischen Sozialversicherungszweigen ist
ohnehin nur eine Buchung von der rechten Tasche in die
linke Tasche. Vermeintliche Überschüsse in öffentlichen
Kassen wecken jedoch regelmäßig Begehrlichkeiten.
Davor hat die F.D.P. immer wieder gewarnt, und es
macht heute überhaupt keinen Spaß festzustellen: Wir
hatten recht. Wir haben doch nicht aus purer Leichtfer-
tigkeit immer wieder gefordert, die Überschüsse in der
Pflegeversicherung an die Zahler, also an die Arbeit-
nehmer und Arbeitgeber, zurückzuzahlen, sondern weil
wir wußten, daß gefüllte Kasse sinnlich macht.
Damit ist die Problematik der Pflegekasse allerdings
noch längst nicht hinreichend beschrieben. Zu der stei-
genden Zahl Pflegebedürftiger kommen nämlich die
enormen Schwierigkeiten, die bestimmte Krankheits-
bilder verursachen. Ich denke dabei vor allem an die
Demenzkranken, deren Pflege enorm aufwendig ist und
deren spezielle Bedürfnisse oft bis heute noch nicht aus-
reichend berücksichtigt werden.
Der immer noch relativ enge, verrichtungsbezogene
Pflegebegriff der Pflegeversicherung erschwert gerade
bei psychischen Erkrankungen sachgerechte Hilfe. Ohne
Zweifel müssen wir da einiges besser machen, aber wir
müssen bei diesen Überlegungen, Frau Kollegin, immer
die Grenzen der Belastbarkeit der Beitragszahler und die
Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen im
Auge behalten. Leistungsausweitungen sind aus unserer
Sicht nur dort zulässig, wo es unbedingt notwendig ist
und wo wir entsprechende Deckungsvorschläge machen
können.
Die Zeichen der Zeit deuten längst auch in der Pflege
in Richtung stärkerer Eigenvorsorge. Wer es ehrlich
meint, der muß das klar und deutlich sagen. Es ist ver-
antwortungslos, den Menschen vorzugaukeln, der Staat
könne für jedes Lebensrisiko zu 100 Prozent einstehen.
Wir wissen alle: Das ist nicht machbar, weder bei der
Pflege noch bei der Gesundheit. Die Forderung an den
Staat kann nur lauten: Sorgen wir für gute Rahmen-
bedingungen, geben wir dem einzelnen den finanziellen
Spielraum für eigenes Handeln. Deshalb brauchen wir
endlich eine konsequente Steuerreform, die Mittel für
Vorsorgemaßnahmen freischaufelt.
Letzte Bemerkung: Wir müssen gleichzeitig die
Qualitätsverbesserung in der Pflege vorantreiben. In
Baden-Württemberg hat der Medizinische Dienst der
Krankenversicherung vor kurzem im Rahmen einer
Wirtschaftlichkeitsprüfung festgestellt, daß wirtschaft-
lich arbeitende Pflegeeinrichtungen durchaus in der La-
ge sind, zu heutigen Pflegesätzen qualitativ hochwertige
Pflege zu leisten. In dieser Richtung sollten wir weiter-
arbeiten und entsprechende Anreize setzen. Schwarze
Schafe müssen konsequent verfolgt werden und von der
Anbieterseite verschwinden. Wie eine Gesellschaft mit
ihren Schwächsten umgeht – auch da hat der Kollege
Laumann recht – sagt viel über ihren inneren Zustand
aus. Das sollte uns täglicher Ansporn in der gemeinsa-
men Arbeit sein.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Regina Schmidt-
Zadel von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich möchte auf den Aus-
gangspunkt der heutigen Debatte – den Internationalen
Tag der Behinderten, den wir morgen begehen – zu-
rückkommen. Wenn in diesem Plenum zum erstenmal
eine Debatte zu diesem Thema stattfindet, dann will ich
auch einmal darauf hinweisen, daß dies auf Anregung
des hier eben gescholtenen Behindertenbeauftragten
geschieht. Er versteht sich als Anwalt der behinderten
Menschen in diesem Land.
– Herr Parr, von „parteipolitisch-polemisch“ sollten Sie
nicht sprechen. Ich denke, auch Behindertenpolitik ist
eine politische Frage, der wir heute morgen in einer
politischen Diskussion nachgehen.
Sie haben auf den Behindertenbeauftragten hingewie-
sen. Sie selbst hatten über 16 Jahre einen Behinderten-
beauftragten – ein netter Mensch –; nur hat man sehr
wenig von ihm gehört. Er war nicht einmal bei allen
Verbänden bekannt. Das ist bei uns anders, und wir
werden eine andere Behindertenpolitik in diesem Lande
machen.
Wir sollten die Debatte heute nicht zu einer Debatte
über § 218 ummünzen. Herr Laumann, ich habe Ach-
tung vor Ihrer Haltung; aber wir behandeln heute ein an-
deres Thema. Auf das, was Sie angesprochen haben,
werden wir in nächster Zeit eingehen, und wir werden
für Veränderungen sorgen.
Ich möchte auf den Kern der Debatte zurückkommen.
Vor 50 Jahren ist unsere Verfassung, das Grundgesetz, in
Kraft getreten. Das Grundgesetz hat ein beinahe umfas-
sendes Benachteiligungsverbot enthalten. In der Kom-
Detlef Parr
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6949
(C)
(D)
mission, die sich vor fünf Jahren mit der Aufnahme des
Benachteiligungsverbots Behinderter in das Grundgesetz
beschäftigte, gab es harte Auseinandersetzungen, auf die
ich heute nicht eingehen will. Was gesagt wurde – zum
Beispiel, daß man dann auch für Glatzköpfige ein Be-
nachteiligungsverbot einführen müßte –, ist nachzulesen.
Wir sind stolz darauf, daß im Grundgesetz jetzt steht,
niemand dürfe wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden.
Es hat 45 Jahre gedauert – diese Kritik richtet sich an
alle Seiten –, bis die Gleichstellung behinderter Men-
schen Verfassungsrecht erhielt. Es waren 45 Jahre, in
denen in der Behindertenpolitik viel erreicht wurde, in
denen die Gleichstellung vor allem im Vertrag von Am-
sterdam – auch darauf sollte man am Internationalen
Tag der Behinderten hinweisen – europaweit fixiert
wurde, in denen behinderten Menschen bisher aber noch
vieles verwehrt blieb.
Die Erfahrungen seit Aufnahme des Benachteili-
gungsverbotes für behinderte Menschen in das Grundge-
setz vor fünf Jahren zeigen: Papier ist sehr geduldig.
Verfassungsrechtliche Theorie und gesellschaftliche
Wirklichkeit klaffen oftmals weit auseinander. Verbote
mit Verfassungsrang allein reichen nicht aus, wenn sich
in den Köpfen der Menschen – daran will ich erinnern –
nichts ändert.
Wer zum Beispiel die vielen unseligen Nachbar-
schaftsklagen kennt, in denen es um behinderte Men-
schen geht – ich erinnere an den Fall Düren, wo geistig
Behinderten quasi ein Maulkorb verpaßt wurde –, der
weiß genau, was in dieser Debatte heute und mit unse-
rem Antrag gemeint ist.
Von einer wirklich gleichberechtigten Teilhabe be-
hinderter Menschen in unserer Gesellschaft sind wir fünf
Jahre nach Aufnahme des Benachteiligungsverbots in
das Grundgesetz noch weit entfernt. Dazu hat sicherlich
beigetragen – selbst wenn das heute völlig anders darge-
stellt wird –, daß sich unsere Vorgängerregierung in die-
ser Frage nicht gerade übermäßig ins Zeug gelegt hat,
um das Benachteiligungsverbot durch die Vorlage ent-
sprechender gesetzlicher Regelungen mit Leben zu er-
füllen.
Es ist wichtig und anerkennenswert, wenn Sie, Frau
Nolte, darauf hinweisen, daß in den neuen Bundeslän-
dern sehr viel getan worden ist. Aber es geht auch um
die Situation bei uns und um das Benachteiligungsver-
bot. In dieser Frage hätten Sie eine Menge mehr tun
können, als Sie tatsächlich getan haben.
Auch wenn Sie sich noch soviel aufregen, sage ich: Im
Reformstau der letzten 16 Jahre sind auch Teile der Be-
hindertenpolitik unter die Räder geraten. Dies muß heute
hier deutlich gemacht werden.
Ich möchte auch auf den Vorwurf eingehen, wir hät-
ten in einem Jahr nicht genug getan. Ich möchte sehr
deutlich darauf hinweisen: Seit dem 27. September 1998
ist der Reformstau auch in der Behindertenpolitik be-
endet.
Wir haben in einem Jahr sehr viel erreicht, mehr als Sie
in 16 Jahren.
Wir werden Ihnen in den nächsten Jahren einen Gesetz-
entwurf vorlegen, mit dem Sie sich auseinandersetzen
müssen.
Ich hätte mich sehr gefreut, Frau Nolte, wenn es ein An-
gebot gegeben hätte und wenn wir dies gemeinsam ge-
macht hätten. Sie hätten unseren heutigen Antrag unter-
stützen können. Es wäre ein schönes Zeichen gewesen,
wenn wir heute einen gemeinsamen Antrag hätten ver-
abschieden können.
Ich möchte darauf hinweisen, daß die beiden Koali-
tionsfraktionen und die federführenden Ministerien in
wenigen Monaten eine gemeinsame Plattform für die
Formulierung des SGB IX erarbeitet haben. Ich möchte
in diesem Zusammenhang auch die Einbeziehung der
Betroffenen – dies hören wir von allen Seiten –, ihrer
Organisationen und Verbände ausdrücklich herausstel-
len, die im Rahmen von Verbandsanhörungen, Werk-
stattgesprächen und weiteren Gesprächsforen an der Er-
arbeitung der Eckpunkte, die Ihnen vorliegen, beteiligt
wurden.
Frau
Kollegin Schmidt-Zadel, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Laumann?
Bitte.
Herr
Laumann, bitte schön.
Frau Kollegin
Schmidt-Zadel, Sie haben in Ihrer Rede gerade darauf
Regina Schmidt-Zadel
6950 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
hingewiesen, sie hätten in einem Jahr mehr für die Be-
hinderten erreicht als wir in 16 Jahren. Wir haben in die-
sen 16 Jahren in Deutschland ein flächendeckendes Netz
von Berufsförderungswerken aufgebaut. Wir haben in
diesen 16 Jahren über 100 Projekte im Bereich der Inte-
grationswerkstätten durchgeführt. Wir haben die Pflege-
versicherung auf den Weg gebracht. Ich möchte Sie jetzt
bitten, drei Punkte zu nennen, die Sie in einem Jahr für
die Behinderten durchgesetzt haben.
Herr Kollege Lau-
mann, ich lasse mich von Ihnen nicht auffordern, hier
Punkte zu nennen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie sich die Eckpunkte,
die wir vorgelegt haben und die in das Gesetz aufge-
nommen werden, anschauen, dann müssen Sie zugeben,
daß wir mehr als drei Punkte vorgelegt haben. Wir ha-
ben eine ganze Menge vorgelegt. Sie werden sich in der
nächsten Debatte in einem Jahr wundern, welches Ge-
setz wir vorlegen werden und welche Veränderungen es
gegeben hat.
Ich möchte noch einmal auf das Sozialgesetzbuch IX
eingehen, das Sie nicht verabschiedet haben. Sie haben
ja selber darauf hingewiesen, daß Sie es nicht geschafft
haben, die Unübersichtlichkeit der bestehenden Systeme
zu beenden und die Entscheidungen für die Leistungs-
erbringer, aber auch für die Leistungsträger und vor al-
lem für die betroffenen Personen selbst transparenter zu
machen. Die behinderte Frau, der behinderte Mann und
auch die Eltern eines behinderten Kindes müssen wis-
sen, welche medizinischen Leistungen, welche Leistun-
gen der Eingliederung und welche Angebote der sozia-
len Rehabilitation für sie in Frage kommen. Im „Pflich-
tenheft“, so nennen wir es, des neuen Sozialgesetzbuchs
IX wird deshalb an erster Stelle stehen, wie die Inan-
spruchnahme und die Erbringung von Leistungen so
bürgernah wie möglich organisiert werden können.
Das SGB IX wird Regelungen schaffen, mit denen der
bereits bestehende, aber in der Realität nie zufrieden-
stellend gelöste Auftrag gemeinsamer Auskunfts- und
Beratungsstellen durch die Träger umgesetzt werden
kann. Wenn Sie heute mit behinderten Menschen reden,
dann sagen diese Ihnen, daß sie zuerst siebenmal ihre
Lebensgeschichte erzählen müssen, bevor sie eine ver-
nünftige Auskunft bekommen. Weil wir behinderten
Menschen solche Auskünfte ersparen wollen, ändern wir
dies; denn die Auskunfts- und Beratungsstellen werden
so besetzt sein, daß die Behinderten über alle Leistungs-
arten – medizinische, berufliche und soziale Rehabilita-
tion – verbindlich informiert werden.
Der Mensch mit Behinderung oder auch der chronisch
Kranke sollen sich nicht primär mit der Frage auseinan-
dersetzen müssen, welche Stelle in welcher Stadt für
seinen Antrag zuständig ist.
Wenn wir im nächsten Jahr die vorliegenden Eck-
punkte in ein Gesetz überführen und die Arbeiten für ein
Gleichstellungsgesetz beginnen, dann gehören selbstver-
ständlich auch andere Defizite in den bestehenden So-
zialsystemen auf den Prüfstand.
Ich möchte auf die Pflegeversicherung eingehen und
verweise in diesem Zusammenhang auf die Debatte in
der letzten Legislaturperiode, als es um die Umwand-
lung von Einrichtungen der Behindertenhilfe in Pflege-
einrichtungen ging. Mit großer Mehrheit wurde im April
1998 ein Entschließungsantrag verabschiedet, in dem die
Sozialhilfeträger aufgefordert wurden, diese Umwand-
lung zu stoppen. Leider hat dieser damals verabschie-
dete Appell in der Praxis keine Wirkung gezeigt. Noch
immer – das finde ich nicht okay und mit mir auch viele
andere nicht – entlasten sich die Träger der Sozialhilfe
zu Lasten der Pflegeversicherung oder zu Lasten der
Behinderten. Wir werden auch hier Änderungen vor-
nehmen. Vor allen Dingen werden wir sehr sorgfältig
die Schnittstellen zwischen dem Bundessozialhilfegesetz
und der Pflegeversicherung prüfen und bestehende Pro-
bleme im nächsten Jahr lösen.
Ihre Aussage, Herr Parr, in der Pflegeversicherung
habe es keine Veränderung gegeben, ist nicht richtig.
Wir haben in diesem Jahr Veränderungen vorgelegt und
durchgezogen,
die Sie in der letzten Legislaturperiode blockiert haben.
Das möchte ich heute einmal sehr deutlich sagen.
Sie, Herr Hüppe, sprachen eben die Enquete-
Kommission an: Es stimmt nicht, daß in unserer Frak-
tion über die Einsetzung einer Enquete-Kommission
nicht mehr nachgedacht wird. Das Gegenteil ist der Fall.
Wir denken darüber sehr ernsthaft nach. Auch ich würde
mich freuen, wenn sie eingesetzt würde. Ich kann da
aber nur für mich und nicht für die Fraktion reden.
Ich möchte noch einmal auf den morgigen Tag der
Behinderten eingehen, an dem weltweit auf die Belange
behinderter Menschen aufmerksam gemacht wird. Die
heutige Debatte hat gezeigt, daß es allerhöchste Zeit ist,
daß etwas geschieht.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum Ab-
schluß sagen: Die Interessen der behinderten Menschen
sind bei der rotgrünen Regierungskoalition in den besten
Händen. Das darf ich Ihnen heute versichern.
Vielen Dank.
Karl-Josef Laumann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6951
(C)
(D)
Als
nächster Redner hat der Kollege Matthäus Strebl von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Mei-
ne sehr verehrten Damen und Herren! Unter Führung
von CDU/CSU und F.D.P. wurde 1994 das Verbot der
Diskriminierung von Behinderten in Art. 3 des Grund-
gesetzes verankert – das wurde heute schon mehrfach
zitiert –:
Niemand darf wegen seiner Behinderung benach-
teiligt werden.
Uns geht es um Beteiligungsgerechtigkeit. Hierfür haben
wir wesentliche rechtliche Voraussetzungen geschaffen.
Im Rahmen der Umsetzung dieses Artikels ist es
sinnvoll, in einem neuen SGB IX die verschiedenen
Förderregelungen zu vereinheitlichen und auf weniger
Instanzen zu konzentrieren. Dies spart Verwaltungsko-
sten und schafft für die Betroffenen und ihre Angehöri-
gen mehr Übersicht. Die bisher vorliegenden Eckpunkte,
Frau Schmidt-Zadel, der Regierungskoalition sind sehr
allgemein, um nicht zu sagen: dürftig.
Natürlich geht es um die gesellschaftliche Umsetzung
eines Verfassungsrechtes. Unser Grundgesetz ist eine
Zusammenfassung der Werte und Grundhaltungen in
unserer Bevölkerung. Es schafft Rechtsbewußtsein. Es
befördert den Konsens gegen jede Diskriminierung. Die
Frage ist nur: Wie gehen Vermieter, Arbeitgeber, Nach-
barn, Verwandte, soziale und kulturelle Einrichtungen
mit den Ansprüchen behinderter Mitbürger um? Der Ge-
setzgeber kann eine Bewußtseinsänderung fördern, er
kann sie jedoch nicht per Gesetz erzwingen. Die heutige
Debatte und die weitere politische Auseinandersetzung
um das SGB IX sind wichtig, werte Kolleginnen und
Kollegen, um das öffentliche Bewußtsein für die anste-
henden Aufgaben zu schärfen.
Es ist bedauerlich – das sage ich klar und deutlich –,
daß die Schröder-Regierung erst eine einjährige Warte-
zeit, eine Warteschleife benötigt hat, bevor sie diese sehr
allgemeinen Eckpunkte vorlegen konnte.
Mein Vorwurf an die heutige Koalition ist: Wenn Sie
schon in der letzten Legislaturperiode, als Sie noch in
der Opposition waren, nicht nachgedacht haben, dann
hätten Sie doch wenigstens in den letzten zwölf Mona-
ten Ihrer Regierungszeit detaillierte Vorstellungen ent-
wickeln können.
Geld kann nicht ersetzen, was an gesellschaftlicher
Teilhabe tagtäglich neu gelebt werden muß. Es muß je-
doch klar sein, daß es ohne ein Mehr an Geld auch nicht
gehen wird. Von daher ist der Finanzierungsvorbehalt
ein Stoppschild gegen alle gutgemeinten Eckpunkte der
Regierungsvorlage. Weil der Kanzler die Richtung an-
gibt, sage ich in diesem Zusammenhang: Schröders wei-
ße Salbe kleistert alles zu.
Gerade in dieser sensiblen Frage brauchen wir eine
neue Ehrlichkeit, Wahrheit und Klarheit. Das sind wir
den betroffenen Menschen schuldig. Wir sind zu einer
parteienübergreifenden Initiative bereit. Effizienz und
eine stärkere Vereinheitlichung des Förderrechts begrü-
ßen wir vom Grundsatz her. So fordern wir wie die gro-
ßen Fachverbände, daß die Eingliederungshilfe für Be-
hinderte nicht mehr als Sozialhilfeleistung, sondern
durch ein Leistungsgesetz des Bundes organisiert wird.
Dieses würde die Nachrangigkeit der Sozialhilfe mit
Bedürftigkeitsprüfung durch einen allgemeinen Rechts-
anspruch ablösen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das geht
nicht zum Nulltarif. Der Bund hat sich durch das soge-
nannte Sparpaket mit fast 5 Milliarden DM zu Lasten
der Länder und Kommunen finanziell entlastet. Strei-
chen Sie den Finanzierungsvorbehalt, und geben Sie ei-
nen Teil des Ersparten an die Betroffenen weiter! Dies
wäre fair gegenüber den Behinderten und ihren Angehö-
rigen, aber auch gegenüber den Kommunen und den
Ländern, die ohnehin sehr vieles zu schultern haben.
Es ist nicht einzusehen, daß nur Opfer von Krieg,
Verbrechen und Impfschäden ohne Rücksicht auf Ein-
kommen und Vermögen staatliche Leistungen erhalten,
während von Geburt an behinderte Menschen mit ihren
Eltern auf Dauer von der Sozialhilfe abhängig sind.
Von daher wäre es sinnvoll, die Eingliederungshilfe für
Behinderte aus dem Bundessozialhilfegesetz herauszu-
nehmen und als einkommens- und vermögensunabhän-
gige Leistung in das SGB IX zu integrieren. Die bisheri-
gen Koalitionseckpunkte sind in dieser Frage nicht aus-
sagekräftig.
Der Grundsatz, wonach „Rehabilitation vor Rente
und vor Pflege“ geht, muß stärker betont werden. Dies
verhindert viele Sozialgerichtsprozesse zwischen den
verschiedenen Leistungskassen im Interesse der Betrof-
fenen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
müssen verhindern, daß ältere schwerbehinderte Men-
schen von der Eingliederungshilfe auf Hilfe zur Pflege
verwiesen werden. Hier müssen alle Möglichkeiten aus-
geschöpft werden, um den Zustand des behinderten
Menschen zu verbessern. Dies darf nicht an finanziellen
Sachzwängen scheitern. Wir wollen keine Versor-
gungsmentalität; wir wollen Hilfe zur Selbsthilfe, soweit
es irgend möglich ist.
Nochmals: In den Koalitionseckpunkten kollidiert das
Ziel einer Besserstellung und Stärkung der Beratungs-
stellen für die Rehabilitation mit dem Vorbehalt der Fi-
nanzierbarkeit. Darauf weise ich eindringlich hin: Nach-
dem schon die Familienpolitik nicht von der Familien-
6952 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
ministerin gestaltet, sondern vom Finanzminister for-
muliert wird, sollte nicht auch das sensible Thema
„SGB IX und Behinderte“ unter rein fiskalischen Erwä-
gungen abgehakt werden.
Die Koalitionsarbeitsgruppe möchte alle Träger der
Rehabilitation – ich zähle sie auf: Unfallversicherung,
Kranken- und Pflegeversicherung, Rentenversicherung,
Bundesanstalt für Arbeit, Jugendhilfe und Sozialhilfe –
gesetzlich verpflichten, umfassende Rehabilitationsbe-
ratungen durchzuführen.
Diese Beratung wird bereits sehr professionell von den
Kassen durchgeführt. Warum neue Bürokratien schaf-
fen, wenn die bisherigen Anlauf- und Beratungsstellen
vorhanden sind? Wir sollten vielmehr dafür sorgen, daß
die vorhandenen Stellen in enger Zusammenarbeit mit
den Einrichtungen und Verbänden arbeiten. Auch dies
würde viele Wege verkürzen und die vorhandenen Mit-
tel effizient nutzen.
Neben den staatlichen Einrichtungen sind auch die
freien Träger in den Beratungsdienst gleichberechtigt
zu integrieren. Dazu gehören auch länderübergreifend
geltende einheitliche Kriterien und Konditionen für die
Rehabilitation und den Beratungsdienst. Echte Teilhabe-
chancen entstehen dann, wenn wir den Betroffenen ein
persönliches Budget einrichten, so daß sie als hilfeein-
kaufende Kunden auftreten können. Statt Bittsteller
sollte der Betroffene Auftraggeber sein. Deshalb sollten
wir auch eine Verlagerung von der Objekt- zur Subjekt-
förderung diskutieren. In den Niederlanden oder auch in
Großbritannien wird dies erfolgreich praktiziert. Laßt
uns gemeinsam eine Lösung anstreben, die sich auch an
den guten Erfahrungen unserer Nachbarländer und ande-
rer EU-Länder orientiert!
Die Koalitions-Eckpunkte von SPD und Grünen se-
hen auch einen Rechtsanspruch zur Einstellung eines
Behinderten vor, wenn die Pflicht zur Beschäftigung
Behinderter von einem Arbeitgeber nicht voll erfüllt
wird und wenn der Bewerber im Vergleich zu allen an-
deren die gleiche Qualifikation nachweist. Dies, so mei-
nen wir, wäre ein Eingriff in die Entscheidungsfreiheit
eines Unternehmens. Dieser Eingriff würde die Arbeit-
geber, aber auch die Betriebs- und Personalräte betref-
fen. Es ist der Versuch, Bewußtseinsänderung per Ge-
setz zu erzwingen.
Bei 4 Millionen Arbeitslosen macht es keinen Sinn,
die Bereitstellung von Arbeitsplätzen unnötig zu er-
schweren. Würde die Schröder-Regierung durch eine
Investitionsbeschleunigung und durch eine durchgrei-
fende Steuerreform die allgemeine Arbeitslosigkeit bes-
ser bekämpfen, dann wäre dies der beste Weg, auch die
Arbeitslosigkeit im Bereich der Behinderten abzubauen.
Doch auch hier setzt der Bundeskanzler weniger auf
eine konzeptionell durchdachte Politik als auf symbo-
lische Gesten und ein Aussitzen der demographischen
Entwicklung. Ich sage klar und deutlich: Schröder setzt
darauf, daß die geburtenschwachen Jahrgänge den Ar-
beitsmarkt entlasten. Daher behaupte ich: Schröder setzt
auf die Pille statt auf die Politik.
Die Absichtserklärung, wonach in den betreuten
Werkstätten die Entgelte erhöht und die Mitbestimmung
verbessert werden sollen, kollidiert mit der Deckelung
der Kostensätze und mit dem Finanzierungsvorbehalt.
Wir brauchen mehr Brücken in den ersten Arbeitsmarkt.
Derzeit liegt die Arbeitslosenquote bei Behinderten mit
18 Prozent über der allgemeinen Arbeitslosenquote. Die
öffentlichen Arbeitgeber – ebenso die Arbeitgeber, die
sich stark aus öffentlichen Mitteln finanzieren – sind ge-
fordert, Behinderte verstärkt einzustellen.
Das Koalitionspapier hat heute vormittag aber einen
Zweck erfüllt: nämlich die heute stattfindende und sich
weiter fortsetzende parteiübergreifende Diskussion zum
SGB IX. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, werden unsere
Positionen mit den Behindertenverbänden besprechen
und in das Gesetzgebungsverfahren einbringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, schaffen
wir zügig ein SGB IX! Dies sind wir dem betroffenen
Personenkreis schuldig.
Als
nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Irmingard
Schewe-Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
leginnen und Kollegen! „Geschlecht: behindert – beson-
deres Merkmal: Frau“: Noch heute trifft dieser Buchtitel
aus den 80er Jahren unverändert zu. Er macht deutlich,
daß Frauen mit Behinderung doppelt benachteiligt
sind: zum einen als Behinderte und zum anderen als
Frauen. Obwohl Frauen und Mädchen mit Behinderung
etwa 5 Prozent der Bevölkerung ausmachen – das sind
annähernd 4 Millionen Menschen –, sind sie noch weit-
gehend unsichtbar. Ich möchte an dieser Stelle meine
Enttäuschung darüber ausdrücken, daß Sie, Frau Kolle-
gin Nolte, obwohl Sie bis vor einem Jahr Frauenministe-
rin waren, in Ihrer 20minütigen Rede nicht einmal das
Wort „Frau“ erwähnt haben.
Krüppelfrauen, so nennen sich feministisch orien-
tierte behinderte Frauen selbst. Sie greifen zu dieser
Provokation, um auf ihre Situation aufmerksam zu ma-
chen. Denn behinderte Frauen hatten bisher keine aus-
reichende Lobby. Ihre besondere Situation wurde in der
Behindertenpolitik kaum beachtet, als Gebärende waren
sie in der Medizin nicht eingeplant und als Mütter nicht
vorgesehen. Das müssen wir jetzt ändern!
Matthäus Strebl
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6953
(C)
(D)
Ich freue mich, daß die Bundesregierung schon Ende
dieses Jahres eine Koordinierungsstelle einrichten wird,
bei der behinderte Frauen in der Bundesrepublik
Deutschland zentral ihre Probleme benennen können.
Ich komme zum Arbeitsmarkt. Obwohl über 80 Pro-
zent der Frauen mit Behinderung eine qualifizierte Be-
rufsausbildung haben, verfügt nicht einmal jede zweite
über einen Arbeitsplatz. Dagegen sind zwei Drittel der
behinderten Männer erwerbstätig. Dies ist eine Diffe-
renz, die ins Auge sticht. Dieser Zustand ist nicht ak-
zeptabel, denn Ausbildung und Arbeit sind von großer
Bedeutung. Der eigene Verdienst fördert Unabhängig-
keit und Selbstvertrauen. Die selbstbestimmte Teilhabe
behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben ist
das Ziel, an dem wir uns parteiübergreifend orientieren
sollten. Die berufliche Rehabilitation ist eine notwendi-
ge Voraussetzung dafür.
Schauen wir uns allerdings den Frauenanteil bei den
Maßnahmen an, die auf Eingliederung in das Erwerbsle-
ben und auf Absicherung der Erwerbstätigkeit abzielen,
stellen wir fest, daß die Politik auf diesem Auge bisher
blind war. Nur jede dritte Maßnahme galt einer Frau.
Bei den Berufsbildungswerken verschärft sich die
Situation. Hier ist lediglich jeder fünfte Platz mit einer
Frau besetzt. Was ist die Ursache? Die rechtlichen Vor-
aussetzungen für den Erhalt einer Fördermaßnahme
orientieren sich bisher ausschließlich an einer für Män-
ner typischen Erwerbsbiographie. Frauen, die als Haus-
frauen gearbeitet und ihre Kinder betreut haben, haben
bisher kaum Chancen, eine Umschulung zu erhalten.
All diese Fakten sind nicht neu. Wissenschaftliche
Studien belegen sie seit den 80er Jahren. Hier besteht
politischer Handlungsbedarf. Diesem wird die rotgrüne
Koalition in einem neuen Sozialgesetzbuch IX nach-
kommen. Die Eckpunkte liegen bereits vor. Künftig
sollen spezifische Frauenförderprogramme den Anteil
der behinderten Frauen an allen Maßnahmen erhöhen.
Wohnortnahe und dezentrale Rehabilitation soll es auch
Müttern ermöglichen, sich daran zu beteiligen. Behin-
derte Mütter – sie machen immerhin 70 Prozent aller
behinderten Frauen aus – brauchen aber auch Maßnah-
men in Teilzeitarbeit, verbunden mit Kinderbetreuung.
Aber auch Frauen, die weder am Erwerbsleben noch
an einer beruflichen Rehabilitation teilnehmen, benöti-
gen Hilfen für die Kinderbetreuung. Sondervorrichtun-
gen an Kinderwagen, Tragehilfen und Umbau eines
Pkws sind nur einige Stichwörter. Bisher sind derartige
Hilfen an die Erwerbstätigkeit gekoppelt. Ich empfinde
das als ungerecht.
In der Kürze der Zeit habe ich Ihnen nur einen klei-
nen Ausschnitt der notwendigen Maßnahmen aufzeigen
können, die eine gleichberechtigte Partizipation von be-
hinderten Frauen erfordert. Die Grünen werden sich da-
für einsetzen, daß das wenigstens am Anfang des dritten
Jahrtausends endlich erreicht werden kann.
Ich sehe, ich habe noch einige Sekunden Zeit. – Herr
Laumann, ich würde gerne noch auf Sie eingehen. Wir
haben vorhin von der medizinischen Indikation ge-
sprochen. Sie haben gesagt, im Rahmen der medizini-
schen Indikation würden Kinder mit Behinderung abge-
trieben.
Daran sehe ich, daß Sie nicht genau wissen, wie die me-
dizinische Indikation definiert ist. Für diese reicht es
nicht aus, daß ein Embryo behindert ist. Hinzu kommen
muß das Leid der Mutter, hinzu kommen muß, daß ihr
Leben in Gefahr ist. Nur diese Koppelung ermöglicht
die Berufung auf die medizinische Indikation.
Ich weiß auch, daß es Probleme damit gegeben hat
und daß Mißbrauch stattgefunden hat. Wir müssen eine
Änderung in den ärztlichen Standesrichtlinien herbeifüh-
ren.
Eine Gesetzesänderung ist hierfür nicht notwendig.
Danke schön.
Als
letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt
die Kollegin Silvia Schmidt von der SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe diese
lebhafte Diskussion verfolgt und möchte, bevor ich
direkt auf das Thema eingehe, auf die Frage von Herrn
Laumann zurückkommen, was die SPD-Fraktion bisher
geändert habe. Sie hat einiges geändert, zum Beispiel in
der Pflegeversicherung. Es bedeutet zum Beispiel für
Frauen sehr viel, wenn bei einer Scheidung das Kinder-
geld nicht mehr auf das Pflegegeld angerechnet wird.
– Herr Laumann, hören Sie bitte zu! Ich möchte Ihnen
das nur ganz kurz schildern. Ich bleibe ruhig, bleiben Sie
es auch.
Der Deutsche Bundestag hat bereits in seinem Fami-
lienförderungsgesetz festgehalten, daß Eltern und deren
Kinder, die vollstationär versorgt werden, ein Teilkin-
dergeld oder einen Teilfreibetrag erhalten. Gleichzeitig
haben sie natürlich noch die Möglichkeit, andere Begün-
stigungen einzufordern. Das sind nur zwei Beispiele. Ich
könnte das jetzt weiter fortsetzen. Ich hatte mir noch
einiges aufgeschrieben. Zum Beispiel gibt es auch bei
der Urlaubsvertretung bei pflegebedürftigen Menschen
Erleichterungen. Es gibt Erleichterungen bei der Nacht-
pflege. Es sind nicht nur drei Punkte. Wir lassen das am
besten jetzt. Wir müssen uns nicht gegenseitig Vorhal-
tungen machen. Ich glaube, wir steigen jetzt einfach
einmal in die Debatte ein.
Irmingard Schewe-Gerigk
6954 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Schade, daß ich nicht mehr die Gäste hier im Haus
begrüßen kann. Denn ich wäre vor einem Jahr mit Si-
cherheit ebenfalls eine Vertreterin von Behinderten ge-
wesen, die vielleicht dort oben Platz genommen hätte.
Ich bin jedenfalls sehr glücklich, daß wir heute in die-
sem Hohen Haus die Gelegenheit haben, über die Be-
hindertenpolitik und die Rehabilitation zu debattieren.
Es besteht ein massiver Regelungsbedarf. Fortschritte
sind längst überfällig. Ich freue mich, daß die Rednerin-
nen und Redner aller Fraktionen eine gleichberechtigte
Teilhabe der Behinderten am Arbeitsleben und in der
Gesellschaft insgesamt einfordern. Ich freue mich insbe-
sondere, daß die CDU/CSU-Fraktion in ihrem Antrag
unter Ziffer 6 die Regierung auffordert – ich zitiere –:
ihre im Koalitionsvertrag gegebenen Ankündigun-
gen umzusetzen, nämlich
– die Selbstbestimmung und die gleichberechtigte
gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen
zu fördern
– die Vermittlung von behinderten Menschen auf
den ersten Arbeitsmarkt voranzutreiben und be-
währte wie neue Instrumente der Arbeitsmarkt-
politik hierzu einzusetzen und auszubauen
– bravo! –
– und das im Grundgesetz verankerte Benachteili-
gungsverbot für behinderte Menschen nachhaltig
umzusetzen
Diese uneingeschränkte Zustimmung der CDU/CSU
zu den Zielen der neuen Bundesregierung begrüße ich
ausdrücklich. Diese Zustimmung zeigt aber auch ganz
deutlich, daß sich unsere Regierung auf dem richtigen
Weg befindet.
– Abwarten, Frau Nolte.
Ich muß mich bei Ihrer Fraktion natürlich fragen, was
sie in den letzten Jahren eigentlich getan hat.
– Wir lassen das jetzt einmal mit den Leiern.
Sie haben sehr viel Zeit gebraucht. Sie hatten sicher-
lich Ihre Gründe dafür. Wir sind ein Jahr dran und ar-
beiten mit dem Behindertenbeauftragten Karl-Hermann
Haack sehr intensiv an dieser Problematik in unserer
Arbeitsgruppe. Ich glaube, wir haben da schon sehr viel
erreicht.
Wenn wir nun an die Gesetzesformulierung herange-
hen, freue ich mich, daß wir in diesem Hohen Hause
gemeinsam an die Probleme, die mit Sicherheit auch
strittig sind, herangehen, um sie gemeinsam lösen zu
können. Denn, wie gesagt, zwischen allen Rednern und
Rednerinnen besteht ja ein Grundkonsens über den
Handlungsbedarf. Das ist positiv. Das ist wichtig. Vor
allen Dingen kann es die Menschen mit Behinderung
freuen. Es läßt auch auf sachkundige Diskussion, faire
Auseinandersetzungen bei der Novellierung des Rehabi-
litationsrechtes wie auf den Verzicht auf Polemik
schließen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch kurz etwas zur Legende über die angebliche
Progressivität der DDR-Behindertenpolitik sagen. Die
Politik der ehemaligen DDR ist entgegen allen rechtli-
chen Ansprüchen und sozialen Verlautbarungen weit
hinter dem Niveau der Bundesrepublik Deutschland zu-
rückgeblieben. Das ist ein vernichtendes Urteil. Das
weiß ich. Ich bin mir sicher, daß nicht alle Abgeordneten
des Deutschen Bundestages diesen Satz mittragen. Ich
weiß aber sehr wohl, wovon ich rede; denn ich habe be-
reits zu DDR-Zeiten zunächst als Krankenpflegerin und
anschließend als Sozialarbeiterin im Behindertenbereich,
in einem Rehabilitationszentrum, einer Vorzeigeein-
richtung der DDR, gearbeitet.
Lassen Sie mich nur ein Beispiel nennen. In der frü-
heren DDR entschieden Ärzte in den Kreisrehabilitati-
onsstellen über das Wohl, das Schicksal und das Leben
von behinderten Menschen. Es wurde nur aus rein medi-
zinischer Sicht geprüft und entschieden. Sozial- oder
Rehapädagogen und Therapeuten wurden dabei nicht
gefragt. Sie waren lediglich schmückendes Beiwerk.
Selbst in meinem Haus gab es einen ärztlichen Direktor.
Seit 1990 haben wir in der Reha-Politik mit großen
Anstrengungen und hohem finanziellen Aufwand einen
großen Schritt vorwärts getan.
In der Trägerlandschaft, bei der Enthospitalisierung und
dem Bau von sozial- und heilpädagogischen stationären,
teilstationären sowie ambulanten Einrichtungen wurde
die gesamte Qualität wesentlich verbessert. Mitarbeitern
stehen Fort- und Weiterbildungskurse zur Verfügung.
Neue Berufsbilder zeigen andere, bessere Wege. Gebaut
wurden neue Werkstattplätze. In Sachsen-Anhalt allein
kamen seit 1990 5 070 neue Plätze hinzu. Es gibt behin-
dertengerechte Wohnungen, geschützte Wohnformen; es
entstand ein Netz von Beratungssystemen und -stellen.
Die Leistungen, die von den Ländern und den Kommu-
nen erbracht wurden, waren enorm.
Ihren Anteil daran hat aber auch die alte Bundesregie-
rung. Dafür spreche ich Ihnen meine Anerkennung aus.
Ich halte das für ein Gebot der politischen Fairneß.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Bun-
desminister für Arbeit und Sozialordnung und der
Behindertenbeauftragte der Bundesregierung haben in
ihren Reden schon deutlich gemacht, daß der Schwer-
punkt eines zukünftigen Behindertenrechts die rechtliche
Gleichstellung der behinderten und der nicht behinder-
ten Menschen, die Beendigung der Divergenz und Un-
übersichtlichkeit des bestehenden Rehabilitationsrechtes
Silvia Schmidt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6955
(C)
(D)
sowie die Verbesserung der Koordinierung und Koope-
ration sowie die Überwindung der teilweise unüber-
sichtlichen Strukturen sein werden. Sie haben ebenfalls
klargestellt, daß Leistungen, Dienste und Einrichtungen
den Betroffenen einen möglichst weitgehenden Raum
zur eigenverantwortlichen Gestaltung geben sollen.
Ich fordere aber weiterhin: Man sollte sich dem Em-
powerment-Prinzip anschließen, denn Lebensziel kann
nur die Selbstbemächtigung eines Behinderten sein.
Weitere wesentliche Inhalte sind die rasche und
möglichst parallele Klärung der Rehabilitationsbedürf-
tigkeit und der Kostenübernahme. Dafür streben wir die
Einrichtung gemeinsamer Auskunfts- und Beratungs-
stellen aller Rehabilitationsträger an. Sie sollten den
Antragsteller verbindlich, umfassend und trägerneutral
informieren. Selbstverwaltungen haben dabei für uns
Vorrang. Wir wollen, daß unterschiedliche Auffassun-
gen der Leistungsträger nicht zu Lasten von Menschen
mit Behinderungen gehen. Es darf in Zukunft nicht mehr
sein, daß Jugend- und Sozialamt debattieren und durch
ständig neue Gutachten prüfen lassen, ob ein Kind eine
seelische oder eine geistige Behinderung hat, und damit
letztlich nur die Leistung zählt und nicht das Kind und
das Kind damit auch zum sekundären Faktor wird.
Wir wollen die Rehabilitationsträger zu einem ge-
meinsamen Handeln beim Reha-Zugang und Reha-
Management verpflichten und eine bessere Verzahnung
des Leistungsgeschehens in der Rehabilitation errei-
chen. Dazu gehört die Koordinierung der Gesamtpla-
nung.
Ich möchte noch ganz kurz auf Frauen mit Behinde-
rungen eingehen; meine Redezeit ist nicht mehr allzu
lang. Frauen mit Behinderungen haben bei der Rehabi-
litation besondere Bedürfnisse und sehen sich speziellen
Problemen gegenüber. Diesem besonderen Hilfebedarf
von Frauen mit Behinderungen, insbesondere von
behinderten Müttern und Alleinerziehenden mit behin-
derten Kindern, gilt es Rechnung zu tragen. Varianten
dafür sind Teilzeitmöglichkeiten in Beruf und Quali-
fizierung, Hilfe bei der Schwangerschaft und bei der
Erziehung von Kindern, Koordinierungs- und Bera-
tungsstellen für behinderte Frauen.
Beispielhaft für die Integration behinderter Menschen
ist die Arbeit in den Sportverbänden. Hier ist besonders
der Deutsche Behindertensportverband, der im übri-
gen von dieser Regierung im neuen Haushalt eine deut-
liche Aufstockung der Mittel erfahren hat,
aktiv dabei.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusam-
menhang die außergewöhnlichen Leistungen der behin-
derten Sportler selbst. Sie führen unsere Bundesrepublik
seit Jahren an die Leistungsspitze der Welt.
Meine Damen und Herren, es ist unbestritten noch ein
langer Weg, bis wir zu einem ausformulierten Gesetz-
entwurf kommen. Wir werden eine Vielzahl unter-
schiedlicher Interessen und Meinungen haben. Aber ich
glaube, daß diese Regierung auf einem richtig guten
Weg ist. Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Antrag zu!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zu-
nächst zu der Beschlußempfehlung des Petitionsaus-
schusses. Das ist die Sammelübersicht 94 auf Drucksa-
che 14/1982. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Frak-
tion der PDS auf Drucksache 14/2244 vor. Wer stimmt
für den Änderungsantrag der PDS? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser Änderungs-
antrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS
abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti-
tionsausschusses auf Drucksache 14/1982? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Dann ist diese Beschluß-
empfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,
der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der
PDS angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/2237 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/2234 soll zur feder-
führenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und
Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für
Wirtschaft und Technologie, den Ausschuß für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuß für Ge-
sundheit und den Ausschuß für Angelegenheiten der
Europäischen Union überwiesen werden. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ger-
hard Friedrich , Angelika Volquartz,
Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Eckpunkte für eine BAföG-Reform
– Drucksache 14/2031 –
Silvia Schmidt
6956 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Cor-
nelia Pieper, Jürgen W. Möllemann, Detlef Parr,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Bundes-
ausbildungsförderungsgesetzes
– Drucksache 14/2253 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Kollegin Angelika Volquartz von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Qualität von Bildung
und Ausbildung ist für die Chancen des einzelnen maß-
geblich, und sie ist ein wesentlicher Faktor, wenn es um
die Entwicklung des Wettbewerbs in unseren Ländern
geht. Bildung und Forschung müssen deshalb in
Deutschland wirklich Priorität haben. Über den Zugang
zu dem weitgefächerten Bildungsangebot nach der
Grundschule dürfen nur Begabung und Neigung ent-
scheiden. Die Forderung lautet deshalb: Chancenge-
rechtigkeit für den Zugang zu allen weiterführenden
Bildungsgängen und für schulische bzw. hochschulische
Bildung einerseits und praktische Ausbildung anderer-
seits. Das sind Grundsätze, über die in diesem Haus si-
cher Einigkeit besteht.
Meine Damen und Herren, wir sind aber in dieses
Parlament gewählt worden, um dafür Sorge zu tragen,
daß aus Grundsätzen praktische Entscheidungen werden,
die den Studierenden helfen. Wenn diese jungen Men-
schen fragen, was diese Bundesregierung der großen
Ankündigungen denn getan hat, dann sieht die Antwort
zum BAföG so aus: Mit der Verabschiedung der
20. BAföG-Novelle hat die Bundesregierung für Ende
1999 die notwendige BAföG-Reform zunächst vollmun-
dig angekündigt. Zuletzt hat die Bildungsministerin am
25. November hier im Plenum ein Eckpunkteprogramm
für Ende des Jahres angekündigt. Ich finde, das Ende des
Jahres ist nicht mehr so schrecklich weit. Wir sind ge-
spannt.
Aber anstatt diesen Versprechen nachzukommen, hat
der Bundesfinanzminister anläßlich der Vorlage des
Haushalts für das Jahr 2000 erklärt, daß die Bundesre-
gierung erst im Jahre 2001 – also ein Jahr später als an-
gekündigt – im Zusammenhang mit der nächsten Stufe
des Familienleistungsausgleichs über die Reform der
Ausbildungsförderung entscheiden will. Da der Fami-
lienleistungsausgleich nach dem Willen der Regierung
aber erst im Jahr 2002 in Kraft treten soll, ist die große
BAföG-Reform in sehr weite Ferne gerückt und damit
ein Wahlversprechen gebrochen.
Die BAföG-Reform ist nicht in der mittelfristigen
Finanzplanung vorgesehen. Wo bleibt da die Priorität
für Bildung, meine Damen und Herren? In diesem Zu-
sammenhang, Herr Berninger von den Grünen, schaue
ich insbesondere Sie an, die Sie doch immer progressiv
sein und mit Druck agieren wollen. Es verstärkt sich der
ganz fatale Eindruck, daß der Finanzminister auch der
Bildungsminister ist. Es ist aber eines der größten Pro-
bleme, wenn nicht der für die Bildung Zuständige über
die Bildung entscheidet, sondern der Finanzminister der
Bestimmer ist.
– Es geht um Ihre Politik, verehrter Kollege.
Sie haben eine große BAföG-Reform angekündigt. Da-
mit sind Sie in den Wahlkampf gezogen. Aber bis heute
liegt nichts dazu auf dem Tisch. Das sind die Fakten.
Weil es hier um die Vernachlässigung sozialer
Aspekte in der Bildungspolitik durch die derzeitige
Bundesregierung geht, setzen wir auf die Unterstützung
unserer Initiative durch die Mehrheitsfraktionen. Viel-
leicht können die ihrer eigenen Regierung ja einmal ein
bißchen Beine machen. Das wäre nicht gerade das
Schlechteste.
Wir fordern die Bundesregierung mit Nachdruck auf,
einen Gesetzentwurf zur Änderung des BAföG vorzule-
gen, der Mitte 2000 zum Schul- bzw. Semesterbeginn in
Kraft treten kann.
Sie müssen sich einmal die bildungs- und gesell-
schaftspolitisch untragbare Situation vor Augen führen,
daß lediglich acht von 100 Kindern aus einkommens-
schwachen Familien Hochschulen besuchen,
obwohl ihr Anteil in der gymnasialen Oberstufe bei
33 Prozent liegt.
Verehrte Kollegin, wenn Sie einen solchen Zwischen-
ruf machen, müssen Sie daran denken, daß die Länder,
die im letzten Jahr noch überwiegend sozialdemokra-
tisch regiert wurden, mit abgelehnt haben, daß es zu
einer Einigung kommt. Das muß man doch einmal ganz
deutlich sagen.
Unser Ziel muß also sein, daß diejenigen, die die Fä-
higkeit haben zu studieren, unabhängig von ihren sozia-
len Verhältnissen auch studieren können. Die Geförder-
tenquote – da sind wir uns alle einig – darf nicht weiter
sinken; sie muß steigen.
Aber, meine Damen und Herren, es reicht nicht, le-
diglich die Freibeträge und die Bedarfssätze anzuheben,
wenn wir das Hauptziel der BAföG-Reform erreichen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6957
(C)
(D)
wollen, nämlich eine deutliche Verbesserung der Ge-
fördertenquote. Wir wollen, daß die Gefördertenquote
auf mindestens 25 Prozent aller dem Grunde nach Be-
rechtigten angehoben wird. Dies kann erreicht werden,
wenn zukünftig bei der Prüfung für die Zulassung zur
Förderung auf eine Anrechnung des Kindergeldes und
gleichartiger Vergünstigungen, zum Beispiel der Kin-
derzulagen aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder
der Kinderzuschüsse aus der gesetzlichen Rentenversi-
cherung, verzichtet wird. Dadurch würde der Effekt
vermieden, daß der Staat mit der einen Hand gibt und
mit der anderen wieder nimmt. Genau dies haben Sie ja
gerade praktiziert. Die Kindergeldanhebung führt näm-
lich zu einer fiktiven Anhebung des Gehalts der Eltern
und dadurch zu weniger Antragsberechtigten. Durch die
Nichtanrechnung von Kindergeld und ähnlichen Lei-
stungen aber würde es Leistungsverbesserungen in Höhe
von 450 bis 500 Millionen DM geben. Die monatlichen
Förderungsleistungen würden sich dadurch um durch-
schnittlich 150 DM erhöhen. – Das wäre schon etwas. –
Dies entspräche einer Freibetragserhöhung von durch-
schnittlich 15 Prozent. Auf diese Weise könnte das Ziel
sehr schnell erreicht werden, denn eine Steigerung um 1
Prozentpunkt bewirkt eine Zunahme von rund 3 900
geförderten Auszubildenden bzw. Studierenden. Ver-
zichtet man auf die Kindergeldanrechnung, so bedeutet
dies eine Steigerung der Zahl der Geförderten um rund
59 000. Ich finde, das ist eine Zahl, über die wir gemein-
sam nachdenken sollten.
Meine Damen und Herren, ein Weiteres: Viele Stu-
dierende scheuen sich, einen BAföG-Antrag zu stellen,
weil die Regelungen sehr unübersichtlich sind. Die der-
zeitige Situation, in der die Studierenden während des
Semesters eher einen Nebenjob wahrnehmen, als einen
BAföG-Antrag zu stellen, ist aus unserer Sicht nicht
länger hinnehmbar. Ich meine allerdings nicht die Stu-
dierenden, die nebenher arbeiten, weil sie Lebens- und
Berufserfahrung sammeln wollen. Die werden wir im-
mer haben, und das soll auch so bleiben. Hier muß also
unterschieden werden.
Die rechtlichen Regelungen müssen im Interesse der
Auszubildenden und eines einfacheren Vollzugs ge-
strafft werden. Das erhöht die Akzeptanz des Gesetzes,
vor allem bei den Eltern, den Schülern und den Studie-
renden. Auch sollten die Vorschriften zur Ermittlung des
anzurechnenden Einkommens stärker den Regeln des
Einkommensteuerrechts angepaßt werden. Das würde
Vereinfachungen bringen.
Meine Damen und Herren, das Subsidiaritätsprinzip
bei der Förderung ist richtig. Es darf jedoch nicht dazu
führen, daß vollgeförderte Auszubildende nach Beendi-
gung der Ausbildung vor einem Schuldenberg stehen.
Deshalb wollen wir die derzeitige Regelung von Darle-
hen und Zuschuß ändern. Die Ausbildungsförderung soll
– wie bisher – bis zu einem monatlichen Betrag von
800 DM als Darlehen und als Zuschuß geleistet werden.
Darüber hinaus soll – und das ist das Neue – die weitere
Förderung voll als Zuschuß erfolgen. Dadurch würden
die Auszubildenden stärker entlastet. Mit unserem heu-
tigen Antrag würde die maximale Darlehensbelastung
bei einem Studium von Höchstbeträgen von über 30 000
DM auf 24 000 DM sinken. Das kann sich sehen lassen,
das sind 6 000 DM weniger Schulden. Damit müßten
jährlich etwa 82 Millionen DM, die heute als Darlehen
ausgegeben werden, durch Zuschüsse ersetzt werden.
Meine Damen und Herren, das bisherige BAföG-
System steht im Einklang mit der neuen Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts, nach der die Familie
zugleich eine Erziehungs- und Wirtschaftsgemeinschaft
ist. Deshalb wollen wir den bisherigen Familienlei-
stungsausgleich beibehalten und so die Familie stärken.
Die Zahlung eines Ausbildungsgeldes direkt an die
Studierenden als Ersatz für Kindergeld, Kinderfreibetrag
und Ausbildungsfreibetrag halten wir jedoch nicht für
richtig. Hier muß man sich einmal klarmachen, daß das
Ausbildungsgeld allein nicht ausreicht, um studierende
Kinder von Unterhaltsleistungen ihrer Eltern unabhängig
zu machen. Es reicht einfach nicht!
Gegen dieses Ausbildungsgeld sprechen vor allen
Dingen auch verfassungsrechtliche Bedenken. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum
Familienlastenausgleich müßte bei diesem von Frau
Bulmahn angekündigten Teil der BAföG-Eckpunkte der
Sockelbetrag deutlich über dem Kindergeld liegen. Eine
Begrenzung der Ausgaben für dieses Ausbildungsgeld
kann es nur geben, wenn die Auszahlung des Geldes von
BAföG-Kriterien abhängig gemacht wird. Damit würde
der Unterhaltsanspruch gegen die Eltern entfallen. Ge-
gen dieses Ausbildungsgeld, für das sich nun auch die
Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. stark machen,
spricht nach unserer Auffassung – neben den schon er-
wähnten verfassungsrechtlichen Bedenken – auch die
Ungleichbehandlung erwachsener Studierender und an-
derer Auszubildender. Was geschieht mit den Eltern, die
Unterhalt leisten? Wir müssen Ihnen, liebe Frau Pieper,
leider einen Korb geben, den vierten Korb, der sich zu
den drei anderen gesellt. Wir können aber darüber dis-
kutieren, wie man gemeinsam verfahren kann.
Meine Damen und Herren, wir bitten Sie alle um
Unterstützung für unseren Antrag, weil wir damit ge-
meinsam drei wichtige Ziele erreichen wollen: Erstens.
Für einen großen Kreis Studierender und Auszubilden-
der wird die materielle Situation deutlich verbessert und
damit auch die Chance für einen rascheren und quali-
fizierteren Studienabschluß deutlich erhöht. Zweitens.
Wir setzen ein klares Signal in der Bildungspolitik. Die-
ses Signal ist Ausdruck sozialer Verantwortung. Drittens
aber würde eine Regierung, die offenbar geneigt ist, die
Studienförderung auf die lange Bank zu schieben, auf
ein etwas zügigeres Tempo gebracht, gleichsam von der
Dampflok auf den Transrapid. Einige von Ihnen wollen
ihn ja durchaus.
Daran mitzuwirken, verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen von den Mehrheitsfraktionen, müßte doch für uns
alle ein Vergnügen sein – im Interesse der jungen Men-
schen.
Danke schön.
Angelika Volquartz
6958 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Brigitte
Wimmer von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Vol-
quartz, um an Ihren letzten Satz anzuschließen: Die
Dampflok waren wohl Sie; denn Sie haben bisher regiert.
Ich möchte mit folgendem Satz beginnen:
1998 haben die Ausgaben von Bund und Ländern
für die Studienförderung einen Tiefstand erreicht.
Mit diesem Satz beginnt die Presseerklärung der CDU-
Kolleginnen und -Kollegen zu ihrem eigenen Antrag.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein vernichtenderes
Urteil hätte ich nicht fällen können.
Sie geben damit zu, daß Ihre Partei für den Tiefstand der
Studienförderung verantwortlich ist. 16 Jahre lang haben
Sie keine durchgreifende Reform des BAföG hinge-
kriegt, im Gegenteil. Jetzt, drei Wochen vor Weihnach-
ten, versuchen Sie, gewissermaßen als Weihnachtsmann
oder als Christkind, den Studierenden einen Gabenteller
zu präsentieren. Die Studierenden nehmen Ihnen Ihre
milde Gabe aber sicherlich nicht ab. Sie wissen nämlich
zu genau, daß es CDU/CSU und auch F.D.P., Frau Kol-
legin Pieper, waren, die die BAföG-Kasse leergeräumt
haben.
Frau Kollegin Pieper, bevor Sie sich zu einer Zwi-
schenfrage melden,
rate ich Ihnen: Lesen Sie die Begründung zu Ihrem Ge-
setzentwurf. Mein Urteil darüber ist noch vernichtender.
Es gab ja irgendwann einmal einen Herrn Möllemann und
einen Herrn Ortleb, die hier als Minister verantwortlich
waren. Ich an Ihrer Stelle wäre einmal ganz ruhig.
Frau
Kollegin Wimmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pieper?
Nein, ich er-
laube keine Zwischenfrage.
– Regen Sie sich doch nicht auf! Sie haben Ihre ver-
nichtende Bilanz schriftlich dargelegt. Das müssen Sie
nicht noch durch eine Zwischenfrage unterstreichen.
– Herr Singhammer, ganz ruhig.
Ich sage Ihnen noch einmal die Zahlen: 1992 waren
im BAföG-Topf noch 2,5 Milliarden DM, 1996 noch
ganze 1,5 Milliarden DM. Von 1993 bis 1997 sank die
Zahl der geförderten Studierenden von 408 000 auf
238 000.
Frau Kollegin Volquartz, weil Sie es vorhin ange-
sprochen haben: 1982 war eine der ersten Maßnahmen
der neuen Regierung von CDU/CSU und F.D.P., das
BAföG in seinem Kern zu zerstören. Damals waren wir
schon bei einer Gefördertenquote von fast 35 Prozent.
Sie ist hinuntergerauscht bis auf 17 Prozent. Deswegen
schließe ich mich Ihrem Urteil ausdrücklich an: F.D.P.
und CDU/CSU haben dafür gesorgt, daß am Ende ihrer
Regierungszeit die Studienförderung einen Tiefpunkt er-
reicht hat.
Wir haben deshalb unmittelbar nach Regierungsüber-
nahme mit der 20. BAföG-Novelle sehr schnell wenig-
stens Ihre schlimmsten Ungerechtigkeiten – um das
Wort „Schweinereien“ zu vermeiden – repariert. Wir
haben nicht nur geredet, sondern wir haben gehandelt.
Seit der 20. BAföG-Novelle werden 23 000 Studierende
zusätzlich gefördert. Ein Auslandsstudium bis zu einem
Jahr bleibt bei der Förderungshöchstdauer unberück-
sichtigt. Ausbildungsabbruch oder Fachrichtungswech-
sel aus wichtigem Grund werden bis zum vierten Fach-
semester zugelassen.
Frau
Kollegin Wimmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Volquartz?
Wenn die Frau
Kollegin Volquartz das unbedingt will, bitte schön.
Bitte
schön, Frau Volquartz.
Frau Kollegin
Wimmer, können Sie mir den Unterschied zwischen der
20. BAföG-Novelle und der von uns verantworteten 19.
Novelle deutlich machen?
Ich habe es
gerade gesagt: Wir haben die Verschlechterungen besei-
tigt, Ihre Schweinereien repariert.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6959
(C)
(D)
Zwei von ihnen habe ich benannt, eine dritte füge ich
hinzu: Studierende, bei denen sich die Studiendauer
durch eine Gremientätigkeit verlängert hat, erhalten für
diese Zeit auch nach der Förderungshöchstdauer wieder
Förderung. Zudem haben wir die Studienabschlußförde-
rung bis zum 30. September 2001 verlängert. Dem ha-
ben Sie zugestimmt – zu Recht, das fand ich auch gut –,
aber wir waren es, die das in Angriff genommen haben.
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage von Frau Volquartz?
Wenn es der
Wahrheitsfindung dient, bitte schön.
Frau
Volquartz.
Frau Kollegin
Wimmer, können Sie mir einmal erklären, worin ange-
sichts der Tatsache, daß Sie genau die gleiche Anhebung
vorgenommen haben wie wir, die „Schweinerei“ be-
stand?
Eine der
Schweinereien bestand zum Beispiel darin, daß Ihre
Partei den Studierenden immer vorgeworfen hat, sie sei-
en immobil, sie würden nicht ins Ausland gehen, aber
gleichzeitig die Studienförderung in diesem Bereich ver-
schlechtert bzw. gestrichen hat. Wir haben das repariert.
Das war eine der Schweinereien.
Jetzt zu dem, was uns in gewisser Weise verbindet.
Ihr Antrag enthält einige Anregungen, über die man
durchaus reden kann. Außerordentlich bedauerlich finde
ich aber, daß die Offenheit, die Ihr Kollege Mayer noch
bei der Debatte zum 20. BAföG-Änderungsgesetz einge-
fordert hat, anscheinend in Vergessenheit geraten ist. Ich
erinnere daran, daß der Kollege Mayer im Februar die-
sen Jahres gesagt hat:
Eine Strukturreform der Ausbildungsförderung des
Bundes, die diesen Namen wirklich verdient, wird
nur dann gelingen, wenn wir alle unsere fest einge-
fahrenen Positionen auch einmal verlassen.
Und weiter:
Es sind schon einige
– gemeint sind Modelle –
vorgelegt worden. Ich füge hinzu, daß wir bereit
sind, darüber nachzudenken, ob die finanzielle Lei-
stung des Kindergeldes den erwachsenen Studie-
renden direkt oder – wie bisher – über die Eltern
gegeben wird.
Damals waren Sie noch offen; es ist außerordentlich be-
dauerlich, daß Sie heute nicht mehr bereit sind, auf die-
sem Wege weiterzugehen.
Ihr Antrag enthält aber auch einige Punkte, die von
uns klar abgelehnt werden. Ein Beispiel: Es gelten jetzt
schon Leistungsüberprüfungen als integraler Bestandteil
der jeweiligen Studienordnung. Neue, zusätzliche Hür-
den lehnen wir ab. – Schön finde ich Ihre Forderung,
den Verwaltungsaufwand so gering wie möglich zu
halten. Liebe Kollegen und Kolleginnen, das ist ebenso
wohlfeil wie selbstverständlich.
Konkreter werden Sie aber nicht. Man denke nur daran,
was für einen Berg an Verwaltungsaufwand Sie beim
Meister-BAföG aufgeschüttet haben; das müssen und
werden wir jetzt korrigieren. Ich verspreche, daß wir
dann, wenn die Ministerin die Eckpunkte für eine
Strukturreform vorgelegt hat, auch darauf achten wer-
den, daß unnötige Bürokratie vermieden wird.
Wir werden die anstehende Strukturreform sorgfältig
erarbeiten und auf den Weg bringen. Im Gegensatz zur
früheren Regierung ist diese Reform für uns eine zen-
trale Frage. Sie reden von Chancengleichheit, wir ar-
beiten dafür.
Sie haben die Zahlen schon genannt, Frau Kollegin Vol-
quartz: Von 100 Kindern aus einkommensschwachen
Familien erreichen mittlerweile 33 die gymnasiale Ober-
stufe. Den Sprung zur Hochschule wagen aber nur acht.
Ihr Anteil an den Studierenden sank in den letzten
15 Jahren von 23 Prozent auf 14 Prozent. Hier muß das
BAföG helfen. Es muß – gestützt auf eine solide Fi-
nanzbasis – Ängste abbauen.
Seit Jahren fehlen Verläßlichkeit und Planbarkeit. Die
Studierenden wußten nicht, was auf sie zukommt und ob
und wieviel Förderung sie erhalten. Wir wollen und wir
werden das ändern. Wir wollen den Generationenvertrag
im Bereich der Bildung auf eine neue, dauerhafte und
tragfähige Grundlage stellen.
Wir schaffen die Trendwende in der Ausbildungsförde-
rung.
Wir schaffen die Trendwende hin zu mehr Chancen-
gleichheit und Gerechtigkeit. Dabei gehen wir als SPD-
Fraktion vom Drei-Körbe-Modell aus und wissen, daß
wir eine Reihe von rechtlichen Fragen klären müssen.
Das müssen wir sorgfältig tun. Gerade weil uns die
Strukturreform so wichtig ist – das haben wir immer
wieder betont –, wollen wir sicher sein, daß wir keine
Fehler machen.
Brigitte Wimmer
6960 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Frau Kollegin Pieper, die Schlampigkeit und Schlud-
rigkeit, mit der Sie den von Ihnen vorgelegten Gesetz-
entwurf erarbeitet haben, darf sich nur eine Oppositions-
fraktion erlauben, aber keine Regierungsfraktion.
Sie wären die ersten, die uns das hämisch präsentieren
und sagen würden: Ihr habt schlampig gearbeitet. Wir
machen es sorgfältig. Wir werden auf der Grundlage der
in Kürze vorliegenden Eckpunkte im neuen Jahr ge-
meinsam und gründlich über die Inhalte dieser Struktur-
reform diskutieren und dann entscheiden. Sie sind herz-
lich eingeladen, konstruktiv mitzuarbeiten.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Martin
Mayer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau
Kollegin Wimmer, Sie haben davon gesprochen, daß ich
vor einem Dreivierteljahr in der Debatte gesagt hätte,
wir wären offen für eine Diskussion darüber, den Stu-
denten das BAföG direkt auszuzahlen. Wir sind immer
offen für eine sachliche Diskussion.
Insofern brauche ich dem nichts hinzuzufügen und auch
nichts wegzunehmen. Aber die Bundesregierung hat es
immer noch nicht geschafft, ein schlüssiges und klares
Konzept dafür vorzulegen, wie die direkte Auszahlung
des BAföG mit dem Unterhaltsrecht und anderen recht-
lichen Vorschriften in Einklang gebracht werden kann.
Erst dann kann eine sachliche Debatte über dieses The-
ma stattfinden.
Die Bundesregierung hat in diesem Fall wie in vielen
anderen Fällen – die Koalition liebt die handwerkliche
Arbeit nicht – große Ankündigungen gemacht und letzt-
lich Pfusch vorgelegt, so daß wir jedenfalls beim
gegenwärtigen Stand einer direkten Auszahlung des
BAföG nicht zustimmen können.
Frau
Wimmer, zur Erwiderung.
Herr Kollege
Mayer, es hilft erstens nichts, wenn Sie jetzt noch ein-
mal Ihre Offenheit formulieren. Ihr Antrag spricht eine
andere Sprache; tut mir leid.
Zweitens. Die Frau Ministerin hat immer wieder an-
gekündigt,
zuletzt in der Haushaltsdebatte, daß sie die Eckpunkte
vorlegen wird, und sie wird sie vorlegen.
Im Gegensatz zu vielen Damen und Herren im Haus,
Herr Kollege Mayer, habe ich eine handwerkliche Aus-
bildung. Deswegen lege ich großen Wert darauf, daß
dieser Gesetzentwurf sehr solide formuliert wird.
Als
nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Pieper von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte eigentlich gehofft,
daß wir heute eine sachliche Diskussion über die Bun-
desausbildungsförderung führen.
Aber ich stelle fest, daß sich die Kollegin Wimmer von
der SPD-Fraktion hier in billiger Polemik zu diesem
Thema darstellt.
Es ist ein Skandal, daß die Bundesbildungsministerin,
die 1998 im Bundestagswahlkampf den Studenten ver-
sprochen hat, als erstes werde sie, wenn sie Bundesbil-
dungsministerin sei, eine BAföG-Reform machen, bis
heute, bis zum Ende des Jahres 1999, keinen Gesetzent-
wurf vorgelegt hat. Das halte ich für Wahlbetrug, das
halte ich für skandalös.
Das ist kennzeichnend für Ihre Regierung, fragen Sie die
Menschen auf der Straße. Halten Sie hier im Deutschen
Bundestag bitte nicht so billige Reden ohne Inhalt!
Ich habe schon einmal deutlich gemacht, daß Sie es lie-
ber mit Erich Kästner halten sollten, der gesagt hat: Es
gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Ich frage mich: Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf?
Sie kündigen lediglich ein Dreikörbemodell an, während
wir einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, meine Damen
und Herren, den ich Ihnen noch einmal kurz vorstellen
und begründen möchte.
Brigitte Wimmer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6961
(C)
(D)
Natürlich ist es so, sehr verehrte Frau Kollegin
Wimmer, daß die Anzahl der Anspruchsberechtigten
nach dem BAföG gewaltig gesunken ist. Wenn Sie den
neuen Bericht des Deutschen Studentenwerkes kennen,
so wissen Sie, daß es dramatisch ist, was sich da voll-
zieht.
Aber Sie wissen auch – vielleicht aber auch nicht, weil
Sie damals noch nicht im Bundestag waren –,
daß die F.D.P. bereits 1995 einen Antrag zur Reform der
Bundesausbildungsförderung im Deutschen Bundestag
eingebracht hat. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
Ich frage Sie, warum Sie in der Debatte über das
20. Änderungsgesetz unseren Antrag, in dem es um die
Angleichung der Wohngeldzuschüsse für Studierende
in Ost und West ging, abgelehnt haben.
Das ist doch keine Politik, die man nach draußen dar-
stellen kann. Das halte ich nicht für sozial gerecht, son-
dern für sozial ungerecht.
Verhindern Sie nicht die Beratung unseres Gesetz-
entwurfs im Bildungsausschuß! Nehmen Sie zur Kennt-
nis,
daß wir einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der nicht
nur die Studierenden berücksichtigt, sondern auch die-
jenigen, die eine höhere Berufsausbildung anstreben und
aus einkommensschwachen Familien kommen. Wir sind
nämlich der Auffassung, daß es bei diesem Thema in der
Bildungspolitik mehr denn je um Chancengleichheit
geht. Wenn Sie sich die Zahlen ansehen, dann erkennen
Sie, daß eine Erhöhung der Anzahl der Studierenden, die
aus einkommensstarken Familien kommen, zu verzeich-
nen ist.
Ich denke, das ist eine Riesenungerechtigkeit. Dieses
Hohe Haus hat dafür zu sorgen, daß sich das sehr bald
ändert.
Wir schlagen ein Dreikörbemodell vor, das ich jetzt
noch einmal kurz erläutern möchte: Wir wollen im er-
sten Korb, daß ein ein Ausbildungsgeld, eine Grundför-
derung in Höhe von 500 DM monatlich einkommens-
unabhängig an jeden Auszubildenden gezahlt wird, ein
Ausbildungsgeld, in dem Kindergeld bzw. Kinderfrei-
betrag und Ausbildungsfreibetrag zusammengefaßt wer-
den. Ich darf den Kolleginnen und Kollegen von der
Union ganz deutlich sagen: Es gibt zu diesem Thema
eindeutige Aussagen von Verfassungsrechtlern, von
Steuerrechtlern, die als Sachverständige für die zustän-
dige Arbeitsgruppe der Bund-Länder-Kommission gear-
beitet haben, zum Beispiel Professor Dr. Wieland von
der Universität Bielefeld. Er hat deutlich gesagt, daß die
Sockelförderung auch nach dem Urteil von Karlsruhe
rechtlich machbar ist, daß die neuen Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts dem nicht entgegenstehen
und das Bundesverfassungsgericht bereits das Kinder-
geld als einheitliche Unterstützung für die Familien ja
auch gebilligt hat. Daraufhin hat der Bundesfinanzhof in
einem Urteil klargestellt, daß sich die Höhe des Sockel-
betrages möglichst an einem ziemlich hohen Steuersatz,
an einem Steuersatz von 45 Prozent, orientieren muß.
Ich denke, hier kommen wir nicht überein. Das muß
dringend im zuständigen Ausschuß geklärt werden; wir
sollten die Beratungen darüber nicht aufschieben.
Der zweite Korb sieht nach unseren Vorstellungen
einen Zuschuß in Höhe von 350 DM vor, der einkom-
mensabhängig ist. Dieser Zuschuß sollte allerdings an
den Ausbildungserfolg und an den Abschluß gebunden
sein.
Der dritte Korb – so schlagen wir es vor – sieht ein
unverzinsliches Darlehen von bis zu 750 DM monat-
lich vor, das natürlich nach Ablauf von fünf Jahren zu-
rückgezahlt werden muß.
Meine Damen und Herren, ich stelle nochmals fest:
Die Bundesregierung verzögert die Vorlage eines Ge-
setzentwurfes, hält die Auszubildenden und Studieren-
den in diesem Land hin, schiebt das Gesetz auf die lange
Bank. Im Jahr 2001 einen Gesetzentwurf vorzulegen
heißt, ein Jahr vor dem Bundestagswahlkampf zu versu-
chen, wieder auf Stimmenfang zu gehen und bis dahin
das Gesetz auf die lange Bank zu schieben.
Das halten wir für falsch. Deswegen wollen wir jetzt zu
diesem Thema eine Beratung im zuständigen Ausschuß
des Deutschen Bundestages. Deswegen haben wir diesen
Gesetzentwurf eingebracht, um Ihnen auf die Beine zu
helfen.
Meine Damen und Herren von den Regierungspartei-
en, Sie können ja meinen, es sei nicht alles richtig, was
in dem Gesetzentwurf steht. Ich meine allerdings, er ist
eine gute Grundlage, auf der man diskutieren kann. In
unserem Gesetzentwurf sind viele Vorschläge des Deut-
schen Studentenwerkes eingeflossen. Wenn Sie den Be-
richt des Deutschen Studentenwerkes zur Kenntnis ge-
nommen haben und wenn Sie die Situation der Studie-
renden und Auszubildenden in diesem Land kennen,
dann kommen Sie nicht umhin, dieses Dreikörbemodell
zu unterstützen.
Deswegen sage ich als letztes: Entziehen Sie sich
nicht Ihrer Verantwortung. Tragen Sie dazu bei, daß wir
Cornelia Pieper
6962 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
in diesem Hohen Haus endlich eine Mehrheit für die
BAföG-Reform zustande bringen.
Vielen Dank.
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Matthias Ber-
ninger, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
beiden für die heutige Debatte eingebrachten Vorlagen
kommt zum Ausdruck, daß es im gesamten Haus ein
großes Interesse an der BAföG-Reform gibt. Bei allem
Streit möchte ich vorweg sagen: Ich halte das für eine
sehr gute Nachricht, weil die Reform des BAföG aus
meiner Sicht in den nächsten Jahren eines der zentralen
Reformvorhaben sein wird.
Warum? Es steht eigentlich überall geschrieben, daß
wir auf dem Weg in die Wissensgesellschaft sind.
Gleichzeitig beklagen diejenigen, die Wissenspolitik
betreiben, daß der Zugang zur Wissensgesellschaft in
unserem Land äußerst ungleich verteilt ist. Dieses Pro-
blem haben auch alle Vorredner dargestellt. Wir können
uns dafür gegenseitig die Schuld geben. Ich denke, für
dieses Problem sollte man niemandem die Schuld geben;
vielmehr muß man es aus der Welt schaffen.
Wenn uns das nicht gelingt, werden wir auf dem Weg
in die Wissensgesellschaft das zentrale Problem haben,
daß wir bestehende soziale Ungerechtigkeiten verstär-
ken, neue soziale Ungerechtigkeiten erzeugen und ge-
sellschaftliche Ressourcen in einer Größenordnung, die
wir uns nicht leisten können, verschwenden, weil wir
Menschen mit der Fähigkeit, in der Wissensgesellschaft
etwas zustande zu bringen, den Zugang zu den entspre-
chenden Institutionen verweigern.
Deswegen ist es das oberste Gebot, daß Fairneß beim
Zugang zu den entsprechenden Institutionen wiederher-
gestellt wird.
Alle Parteien streiten sich darüber, wie man das auf
den Weg bringt. Ich verstehe sehr gut, daß die Opposi-
tion sagt, ihr wäre es lieber, wenn die Bundesregierung
ihren Vorschlag bereits auf den Tisch gelegt hätte. Ich
verstehe es gut, wenn Sie darauf hinweisen, daß es bis
Ende des Jahres nicht mehr lange hin ist. Aber ich kann
Sie an dieser Stelle beruhigen: Die Koalitionsfraktionen
wollen die BAföG-Reform. Sie wollen sie deshalb, weil
sie für uns eine der zentralen Reformmaßnahmen ist.
Ich kann Sie an einer zweiten Stelle beruhigen: Mit
der Verabschiedung des Bundeshaushaltes, dem zu ent-
nehmen ist, daß wir – obwohl wir überall sparen – in
den nächsten Jahren für Zukunftsinvestitionen 1 Mil-
liarde DM mehr ausgeben und insgesamt ein Volumen
von 10 Milliarden DM für Reformen in Bildung und
Wissenschaft zur Verfügung stellen,
sind die Weichen für eine BAföG-Strukturreform in die
richtige Richtung gestellt.
Ein Streitpunkt kommt in beiden Vorlagen der Oppo-
sition zum Ausdruck: Gehen wir den Weg in den alten
Bahnen, wollen wir die Förderung der Studierenden
immer stärker an das Elternhaus koppeln, oder wollen
wir eine elternunabhängige Förderung? Darüber sind
Sie sich – übrigens auch innerhalb der CDU/CSU-
Fraktion – nicht einig. Obwohl der Name des Kollegen
Jork auf dem Antrag der CDU/CSU steht, applaudierte
Herr Jork, als Frau Pieper Elternunabhängigkeit einge-
fordert hat.
Ich glaube, daß die CDU/CSU auf dem Holzweg ist,
wenn sie in ihrem Antrag schreibt:
dergeld, Kinderfreibetrag und Ausbildungsfreibe-
trag lehnen wir ab, ...
Ich halte das für einen Fehler, weil ich glaube, daß Eltern-
unabhängigkeit der zentrale Bestandteil einer zeitgemä-
ßen BAföG-Strukturreform ist.
Warum ist das so? Die Familie die Sie, Frau Vol-
quartz, im Auge haben – in der die Eltern viel Geld für
das Studium ihrer Kinder aufbringen; meistens bringen
sie mehr auf, als von ihnen erwartet werden kann und als
der Gesetzgeber vorschreibt –, gibt es natürlich. Aber es
haben in Deutschland Veränderungen stattgefunden. Es
gibt nicht nur diese Familie. Es gibt viele Kinder, die in
Familien aufwachsen, die Scheidungen durchlebt haben.
Dort sind die Väter zwar noch verpflichtet, für ihre Kin-
der zu zahlen; aber sie tun es immer öfter nicht mehr. Es
geht also darum, dieser Tatsache mit Blick auf die Rea-
lität der Studierenden in Deutschland Rechnung zu tra-
gen. Sie warten nicht auf die Politik, sondern flüchten
sich in Arbeit neben dem Studium. Sie arbeiten nicht,
um Lebenserfahrungen zu sammeln, sondern um ein
einigermaßen vernünftiges Auskommen während des
Studiums zu haben. Wir alle beklagen die Folge, näm-
lich daß in Deutschland viel länger studiert wird als in
jedem anderen Land. Auch dies ist ein Grund, warum
Cornelia Pieper
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6963
(C)
(D)
wir eine BAföG-Reform dringend brauchen. Wir wollen
die Studierenden wieder in die Lage versetzen, sich auf
das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich auf das Stu-
dium.
Auch dies ist ein Grund, warum meine Fraktion ge-
sagt hat: Wenn wir Wissenspolitik betreiben wollen,
dann ist es wichtig, Forschungsinstitutionen zu fördern
und in den Hochschulbau zu investieren. All dies haben
wir im Bundeshaushalt – für alle nachvollziehbar und
nachlesbar – erreicht. Aber es ist ebenso wichtig, daß
wir in die Menschen, in die Studierenden investieren
und ihnen den Zugang zu den Hochschulen erleichtern.
Wir stehen vor einer Prioritätenverschiebung, und
zwar zugunsten von Bildungsausgaben im Bundeshaus-
halt. Dies ist die Voraussetzung für eine BAföG-
Strukturreform. Damit bin ich bei einer Kernfrage auch
des Antrags der F.D.P.-Fraktion angelangt, nämlich bei
den Kosten. Sie machen in Ihrem Antrag einen Vor-
schlag, der Kosten verursacht. Sie behaupten, die Kosten
seien weitestgehend deckungsfähig – dann zählen Sie
alles mögliche auf.
In Wahrheit ist es so – dies gehört zur Redlichkeit da-
zu –: Ihr Gesetzentwurf würde 16 Milliarden DM Ko-
sten verursachen, wenn er in diesem Hause eine Mehr-
heit fände. Aber auf der Habenseite stehen zur Deckung
nicht mehr als 10 Milliarden DM zur Verfügung. Kein
Finanzminister der Welt würde 6 Milliarden DM aus-
geben wollen, um eine BAföG-Strukturreform zu finan-
zieren. Mit diesem Problem müssen wir uns alle redlich
auseinandersetzen.
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Bitte schön.
Herr Berninger, wissen
Sie, daß wir insbesondere mit dem ersten Korb eine Sy-
stemumstellung vorschlagen? Das heißt, wir wollen, daß
das Kindergeld, die Kinderfreibeträge und die Ausbil-
dungsfreibeträge – zusammen sind das 14 Milliarden
DM – nicht mehr über das Finanzministerium und das
Familienministerium, sondern im Rahmen der Ausbil-
dungsförderung direkt an die Anspruchsberechtigten, die
Studierenden und die Auszubildenden, ausgezahlt wer-
den. Dadurch entstehen keine zusätzlichen Kosten in
Höhe von 14 Milliarden DM. Darauf haben wir in unse-
rem Gesetzentwurf auch hingewiesen. Es handelt sich
vielmehr um eine Systemumstellung, das heißt, es wird
zwischen den Haushalten der verschiedenen Ressorts
zugunsten des Bundesbildungsministeriums umge-
schichtet.
zentrale Frage an, die für das Gelingen der BAföG
Strukturreform von Bedeutung ist. Es ist mir überhaupt
nicht neu, daß wir bei der Beantwortung der Frage, wie
die Transfers in die Taschen der Studierenden fließen
sollen, verschiedene, heute gezahlte Transfers auf den
Prüfstand stellen müssen und daß die Transfers teilweise
zur Gegenfinanzierung eines anderen Vorschlags ver-
wandt werden können. Wir haben in der letzten Legis-
laturperiode einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem
wir genau dies als eine zusätzliche finanzielle Ressource
für die BAföG-Reform mobilisieren wollten.
Nur – dies gehört zur Redlichkeit dazu –, es gibt,
wenn Sie von einem Grundförderungssockel in Höhe
von 500 DM ausgehen, eine Deckungslücke zwischen
dem Geld, das der Staat heute bereitstellt, und dem
Geld, das Sie ausgeben müssen. Dies ist – nebenbei ge-
sagt – zur Zeit eines der zentralen Probleme im Rahmen
der Abstimmung der Ressorts über den Entwurf der
Bundesregierung.
Trotzdem, ich halte dies für einen wichtigen Punkt,
weil in der Öffentlichkeit nicht deutlich wird, daß wir
dann, wenn wir über das BAföG reden, immer nur über
das BAföG für die Armen sprechen, deren Studium eben
nicht durch Steuertransfers vom Staat begünstigt wird,
und daß wir gerade das BAföG für die Wohlhabenden
aus dem Blick verlieren. In Deutschland werden Kinder
aus Familien, die über ein einigermaßen hohes Ein-
kommen verfügen, vom Staat finanziell mehr subventio-
niert als Kinder von geringverdienenden Eltern. Dies ist
ein sozialpolitischer Skandal, den wir mit unserer
BAföG-Reform bekämpfen wollen. Dies ist auch der
Unterschied zur CDU/CSU-Fraktion, die genau diese
Ungleichheit aufrechterhalten möchte. Eine Jahrhundert-
reform des BAföG muß diese Ungleichheit beseitigen.
Dies ist für mich ein zentraler Punkt.
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Bitte
schön, Frau Pieper.
Herr Berninger, ist Ihnen
bekannt, daß wir gerade mit unserem Dreikörbemodell,
das wir in unserem Antrag vorgeschlagen haben – auch
wenn die Förderung im zweiten und dritten Korb ein-
kommensabhängig ist –, das sogenannte Mittelstands-
Matthias Berninger
6964 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
loch schließen wollen bzw. gerade auch Familien mit
mittleren Einkommen, die an der Schwelle zur Förde-
rung sind, berücksichtigen? Sind Sie nicht mit mir der
Auffassung, daß wir dann, wenn wir uns in der politi-
schen Frage, ob es eine Reform der Bundesausbildungs-
förderung geben soll, einig sind, die Details im Bil-
dungsausschuß des Deutschen Bundestages diskutieren
sollten?
wollten hier die Details mit mir diskutieren. Ich finde es
vernünftig, daß man die Probleme sowohl im Plenum als
auch im Ausschuß klar anspricht. Ich bin völlig Ihrer
Meinung, daß wir im Bildungsausschuß über diese Re-
form reden müssen. Das größte Problem, Frau Pieper,
sehe ich aber darin, daß die CDU/CSU, obwohl alle
Fraktionen in diesem Hause eine grundlegende BAföG-
Reform wollen, mit ihrem Antrag Abschied von dem
Vorhaben genommen hat, eine wirklich mutige Reform
auf den Weg zu bringen. Deswegen habe ich ein Pro-
blem mit dem CDU/CSU-Antrag.
Vor diesem Hintergrund bin ich gespannt, ob sich die
CDU/CSU im Bildungsausschuß noch in eine andere
Richtung bewegen wird.
Herr
Berninger, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Jork von der CDU/CSU-Fraktion?
Herr
Jork, bitte schön.
Danke. – Lieber
Kollege Berninger, wahrscheinlich liegt irgendwo ein
Mißverständnis vor. Mein Sohn hat studiert und voriges
Jahr sein Studium beendet. Halten Sie es nicht für an-
gemessen, daß er kein BAföG bekam und ich sein Stu-
dium vollständig – und zwar gerne – finanziert habe?
Dieser Standpunkt ist mit Sicherheit kein Ausgangs-
punkt, um Differenzen zwischen unseren Fraktionen
auszumachen.
rung wahrscheinlich nicht selber gemacht. Hätten Sie sie
nämlich selber gemacht, wüßten Sie, welche Steuerver-
günstigungen der Staat Ihnen bei Ihrem hohen Einkom-
men – ich habe ja in etwa das gleiche Einkommen – für
das Studium Ihres Sohnes gewährt hat.
Diese Förderung kommt Ihnen zugute und würde auch
mir zugute kommen, wenn ich noch, wenn mein Sohn
studiert, über ein solches Einkommen verfüge. Wer aber
nicht über ein solches Einkommen verfügt, hat keinen
Zugang zu dieser Form staatlicher Subvention für die
Wohlhabenden.
Diese Gerechtigkeitslücke zu schließen, ist ein zentrales
Anliegen unserer Reform.
Auch den zweiten von Ihnen angesprochenen Punkt
möchte ich ganz klar beantworten: Gerechtigkeitsfragen
spielen bei der anstehenden BAföG-Reform eine zen-
trale Rolle. Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft hat
der Staat die Aufgabe, die Möglichkeiten dafür zu schaf-
fen, daß alle Anschluß an diese finden können.
Es zeigt sich allerdings auch, daß diejenigen, die ein
Hochschulstudium erfolgreich abgeschlossen haben,
später über wesentlich höhere Einkommen verfügen als
der Durchschnitt der Bevölkerung.
Meiner Einschätzung nach ist es zur Schließung einer
weiteren Gerechtigkeitslücke entscheidend, daß Akade-
miker, wenn sie später viel verdienen, einen höheren
Beitrag dafür bereitstellen, daß die nächste Generation
die Möglichkeit hat, in diesen Bildungsinstitutionen et-
was zu lernen. Das ist noch eine offene Frage zwischen
den Koalitionspartnern und auch in der Gesellschaft.
Wir sollten über sie hier fair diskutieren, weil ansonsten
die Gesamtbevölkerung Privilegien für Leute finanziert,
die auf Grund des Besuches einer Hochschule später ein
sehr hohes Einkommen haben, während der Durch-
schnitt der Bevölkerung dieses nicht hat und höchstens
indirekten Nutzen aus dieser Ausbildung zieht. Das ist
eine wichtige Frage, über die wir reden müssen.
Herr
Kollege, erlauben Sie eine weitere Zusatzfrage des Kol-
legen Dr. Jork?
Cornelia Pieper
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6965
(C)
(D)
Ihnen ist doch
sicherlich klar, Herr Berninger, daß ein Unterschied
zwischen steuerlicher Berücksichtigung von Ausbil-
dungskosten und einer Grundförderung für Ausbildung
besteht. Könnten Sie mir einmal erklären, wie Sie die
von Ihnen vorgesehene Grundförderung durch eine Re-
duzierung der steuerlichen Berücksichtigung aufbauen
wollen? Vielleicht können Sie uns in diesem Zusam-
menhang auch sagen, wo Ihr BAFF-Modell geblieben
ist?
Das
waren jetzt eine ganze Reihe von Zusatzfragen. In der
Geschäftsordnung steht, daß nur eine Zusatzfrage zuläs-
sig ist und diese kurz und präzise zu stellen ist. Ebenso
ist diese kurz und präzise zu beantworten. Ich bitte, bei-
des zu berücksichtigen.
Das Studium wird heute häufig in der Form finan-
ziert, daß der Staat auf Einnahmen verzichtet, indem er
Eltern, deren Kinder studieren, Steuervergünstigungen
gewährt. Frau Pieper hat es schon angesprochen, daß es
gerechter wäre, wenn im Rahmen einer BAföG-
Strukturreform Transparenz in diese Form der Förde-
rung gebracht würde und diese Steuervergünstigungen
nicht mehr gewährt würden, aber dafür alle Studieren-
den bezüglich der Transferzahlungen gleich behandelt
würden. Das wäre ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit und
Transparenz; das wollen wir mit unserer BAföG-Reform
erreichen.
Auch Ihre zweite Frage beantworte ich der Fairneß
halber: Es gibt einen Unterschied zwischen der Position
meiner Fraktion und der der SPD-Fraktion bezüglich der
politischen Bewertung unseres BAföG-Vorschlages.
Ich persönlich glaube, daß es angemessen ist, eine
vernünftige BAföG-Reform damit zu verbinden, daß
die Gewinner dieser Reform – alle und nicht nur die
BAföG-Geförderten – einen Anteil an der Finanzierung
der Strukturreform erbringen, der höher liegt als das,
was etwa den Vorstellungen der F.D.P.-Fraktion oder
auch des Studentenwerks zugrunde gelegt worden ist.
Ich habe das immer wieder sehr deutlich gesagt und ste-
he auch dazu. Ich bin aber kompromißbereit, weil für
mich nicht entscheidend ist, daß wir hier eine akademi-
sche Debatte darüber führen, welcher Weg der beste ist.
Entscheidend ist vielmehr, daß diese Regierung einen
mutigen Schritt zur Strukturreform des BAföG in Gang
setzt.
Aufgrund meiner Kenntnis der Arbeit der Bundesregie-
rung bin ich davon überzeugt, daß sie dieses Ziel errei-
chen wird.
Meine Damen und Herren, ich betone noch einmal:
Die Wissensgesellschaft wird keine Wissensgesellschaft
für alle werden, wenn wir mit der BAföG-Reform nicht
vorankommen. Mein Appell richtet sich vor allem an die
CDU/CSU, die in den Ländern eine Verantwortung für
diese BAföG-Reform hat und deren Landesfinanzmi-
nister stets kritisch überprüfen, ob es eine BAföG-
Reform geben soll oder nicht. Die CDU/CSU sollte sich
überlegen, ob sie nicht auf denselben Zug aufspringt, auf
dem alle anderen Fraktionen in diesem Hause bereits
sitzen, und den Mut für eine umfassende Reform auf-
bringt. Sie sollte sich überlegen, ob sie die Opposition
gegen eine solche umfassende Reform aufgibt, da Bund
und Länder gemeinsam diese BAföG-Reform auf den
Weg bringen müssen. Es geht also nicht nur um die
Bundesregierung, sondern auch um die Haltung der
Länder. Ich weiß, daß sie in der Abstimmung sind. Ich
weiß auch, daß Sie die Positionen, die Sie diesem An-
trag zugrunde gelegt haben, zur Position der Länder ma-
chen wollten. Damit könnten Sie eine BAföG-
Strukturreform, die für mehr Transparenz und mehr Ge-
rechtigkeit sorgt, über die Länderseite blockieren. Mein
Wunsch ist, daß Sie so etwas nicht tun, sondern daß wir
eine offene Diskussion darüber führen und im Sinne der
Studierenden baldmöglichst eine BAföG-Reform auf
den Weg bringen, die diesen Namen verdient und nicht
nur eine Reparatur entlang des bestehenden und, wie ich
finde, völlig zu Recht von vielen Vertretern dieses Hau-
ses kritisierten BAföG sein wird.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Maritta Böttcher von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! In der Haushaltsdebatte
wurde von der Ministerin zum wiederholten Male bestä-
tigt, daß das Versprechen, zum Jahresende solide Eck-
punkte für die BAföG-Reform vorzulegen, eingehalten
wird. Damit werden auch die Vorgaben der Koalitions-
vereinbarung eingehalten, in der es hieß, daß ein in
Bundestag und Bundesrat zustimmungsfähiges Konzept
für eine grundlegende Reform der Ausbildungsförde-
rung bis Ende 1999 vorliegen wird. Von Herrn Hilsberg
wurde darüber hinaus versprochen, daß eine einheitliche
Sockelförderung für alle Studenten durchgesetzt werden
soll. Das steht ebenfalls im Einklang mit der Koalitions-
vereinbarung.
Das hört sich alles sehr gut an und könnte demzufolge
eigentlich nur noch am Veto des Finanzministers schei-
tern. Davon gehen offensichtlich CDU/CSU und F.D.P.
mit ihren Gegenvorschlägen aus.
Kurz nach dem Verfassungsgerichtsurteil zum Fami-
lienleistungsausgleich war ja bereits allerorten die Rede
davon, daß damit die Reform gescheitert sei, weil sie
unbezahlbar geworden ist. Dies ist aber erst einmal kein
Argument gegen Sockelmodelle, weil erhöhtes Kinder-
6966 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
geld bzw. entsprechende Freibeträge, in welcher Form
auch immer, ohnehin gezahlt werden müssen.
Die grundsätzliche Frage ist, ob am derzeitigen
System der Ausbildungsförderung festgehalten und mit
weiteren Novellen daran herumgebastelt werden soll
oder ob Auszubildende und Studierende endlich wie
Erwachsene behandelt werden sollen.
Die Gründe, die im CDU/CSU-Antrag gegen Sok-
kelmodelle vorgebracht werden, können genauso gegen
das bisherige BAföG-System insgesamt ins Feld geführt
werden. Sie sprechen also weniger gegen eine Umge-
staltung und eher für die Abschaffung der bisherigen
Fördersystematik. Es gibt keinen Grund, erwachsene
Studierende – Herr Jork, um genau diesen Punkt geht
es – und andere Auszubildende ungleich zu behandeln.
Behandeln wir sie also gleich! Das Ausbildungsgeld in
der jetzigen Ausstattung würde nicht ausreichen, um
studierende Kinder wirtschaftlich unabhängig zu ma-
chen. Sorgen wir also dafür, daß es reicht!
Im Moment kommen Unterhalt leistenden Eltern die
Leistungen bzw. Steuervergünstigungen des Familien-
leistungsausgleichs zugute. Das wäre mit einer verän-
derten Fördersystematik anders. Die Eltern stünden dann
nämlich außen vor.
Schließlich dürfen Zahlungen des Ausbildungsgeldes
nicht von BAföG-Kriterien abhängig gemacht werden;
auch das haben wir immer wieder angemahnt. Lei-
stungsnachweise haben in Sozialleistungsgesetzen nichts
zu suchen.
Wir sind uns wohl alle darüber einig, daß in der Aus-
bildungsförderung grundsätzlich und zugleich schleu-
nigst etwas getan werden muß. Die jetzigen BAföG-
Ausgaben entsprechen dem Stand von vor 20 Jahren –
mit dem kleinen Unterschied, daß es damals 900 000
Studierende gab und daß es heute 1,8 Millionen Studie-
rende gibt.
Außerdem ist das BAföG trotz Reparatur-Novelle so
unzureichend ausgestattet, daß Studierende mitunter lie-
ber jobben, als sich für einen minimalen Förderanspruch
den Restriktionen dieses Gesetzes zu unterwerfen.
Wer zum Beispiel mit einem Förderanspruch von
160 DM gerade einmal 380 DM dazuverdienen darf und
wer auch von den Eltern nicht viel erwarten kann, ist in
den großen Universitätsstädten nicht überlebensfähig.
Das wissen Sie alle.
Diese Lebensfremdheit muß endlich behoben werden,
wenn die Sprüche von Chancengleichheit für Studieren-
de aus einkommensschwächeren Schichten ernst ge-
meint sind. Dafür müssen in ausreichendem Umfang
staatliche Mittel bereitgestellt und das BAföG grundle-
gend reformiert werden.
Wenn es nun schon um Eckpunkte für eine BAföG-
Reform geht, so wäre vieles, was im Antrag der
CDU/CSU gefordert wird, eine erhebliche Verbesserung
im Vergleich zum jetzigen Zustand. Der Pferdefuß ist
für mich aber das Festhalten an der alten Struktur, die
erwachsene Kinder auf Gedeih und Verderb den unter-
haltspflichtigen Eltern ausliefert.
In den Diskussionen um das Kindergeld wird die
Chance vertan, nicht nur über einen gerechten Lasten-
ausgleich für Familien, sondern auch über ein Grund-
einkommen der jungen Generation nachzudenken. Die
PDS fordert seit Jahren eine bedarfsgerechte und be-
darfsdeckende elternunabhängige Grundsicherung
auch für Studierende. Sie befindet sich übrigens hier in
Übereinstimmung mit dem fzs, dem Dachverband der
Studierendenorganisationen. Auch diese sollten zu Rate
gezogen werden, wenn es um Kriterien für Gesetzesän-
derungen geht.
Die Forderungen lauten in Kurzform: Chancengleich-
heit und Verteilungsgerechtigkeit,
Orientierung der Studienfinanzierung an den tatsächli-
chen Biographien der Studenten, Bedarfsorientierung,
Elternunabhängigkeit und Transparenz.
Für uns werden alle Strukturveränderungen daran zu
messen sein.
Der Gesetzentwurf der F.D.P., der leider erst heute
morgen auf den Tisch kam,
ist zumindest eine Grundlage für die Diskussionen im
Ausschuß, auf die ich sehr gespannt bin. Ich bin im üb-
rigen auch sehr gespannt darauf, ob wir uns endlich dar-
auf verständigen können – ich wiederhole mich –,
Studierende wie erwachsene Menschen und nicht wie
elternabhängige Kinder im Alter bis zu 14 Jahren zu
behandeln.
Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Thomas Rachel von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das BAföG
ist ein wichtiges sozialpolitisches Gesetz, das Chancen-
gerechtigkeit in der Ausbildung sicherstellen soll. Aber
es gibt Reformbedarf.
Maritta Böttcher
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6967
(C)
(D)
Die Aufwendungen von Bund und Ländern für die
Studenten haben im vergangenen Jahr 1,7 Milliar-
den DM betragen. Wir haben rund 225 000 BAföG-
geförderte Studenten. Wir müssen aber feststellen, daß
dies ein Tiefststand bei der staatlichen Ausbildungsför-
derung ist.
Vor 20 Jahren hat es genauso viele Mittel gegeben.
Allerdings gab es damals nur 900 000 Studierende; heute
sind es doppelt so viele, nämlich 1,8 Millionen.
Ich denke, wir alle haben Fehler gemacht.
Die letzte unionsgeführte Bundesregierung hat beim
BAföG Fehler begangen; mit ihr haben aber auch alle
SPD-geführten Bundesländer Fehler begangen. Denn
das BAföG wird gemeinsam von Bund und Ländern fi-
nanziert. Insofern müssen auch Bund und Länder für die
Entwicklung gemeinsam geradestehen. Das Absinken
der Zahl der BAföG-Geförderten hätte nicht weiter zu-
gelassen werden dürfen. Ich meine, das müßten wir
einmal öffentlich zugeben.
Wir dürfen aber bei der Problemanalyse nicht stehen-
bleiben. Wir müssen jetzt und nicht erst im Jahre 2001
Änderungen für die BAföG-Studierenden durchführen,
so daß die Änderungen im Jahr 2000 in Kraft treten
können.
Die letzte Regierung hat BAföG-Bedarfs- und Frei-
beträge angehoben. Frau Bulmahn hat ihre Reform als
Trendwende verkauft, obwohl im vergangenen Jahr nur
eine Erhöhung des BAföG um 15 DM auf den Weg ge-
bracht wurde. Das ist keine deutliche Verbesserung der
BAföG-Gefördertenquote. Ich finde, das ist Schönreden,
aber kein Anpacken des Problems.
Nun hätte die Ministerin heute die Möglichkeit ge-
habt, vor dem versammelten Deutschen Bundestag ihren
Vorschlag für eine BAföG-Reform vorzulegen.
Sie, Rotgrün, haben auch in Ihrer Koalitionsvereinba-
rung angekündigt, bis Ende dieses Jahres Ihren Vor-
schlag vorzulegen. Wir haben in diesem Jahr noch drei
Plenartage im Deutschen Bundestag. Sie haben diese
Chance vertan, und das ist schade für diesen Studien-
standort Deutschland.
Das von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte BAFF-
Modell scheint sich erledigt zu haben. Es hätte 10 bis
15 Milliarden DM gekostet. In der Opposition fordert es
sich eben leichter, als wenn man selber Regierungsver-
antwortung übernommen hat.
Bei den betroffenen Studenten klingeln die Alarm-
glocken. Die Aussagen von Finanzminister Eichel hin-
sichtlich einer Verschiebung der Reform auf das Jahr
2002 klingen in allen Ohren. Das Studentenwerk hat be-
reits davon gesprochen, daß durch die Verschiebung der
BAföG-Reform ein politischer Skandal drohe.
Wenn das so weitergeht, haben wir die groteske
Situation, daß der Bund im nächsten Jahr durch die
Rückzahlung der BAföG-Geförderten mehr einnimmt,
als er für die BAföG-Förderung der aktiv studierenden
Generation ausgibt. Konkret: Der Bund, der 1999 durch
die BAföG-Rückzahlung an das Bundesverwaltungsamt
659 Millionen DM einnimmt, will im Jahr 2000 nur
627 Millionen DM für Zuschuß-BAföG und Zinsaus-
fälle ausgeben. Das heißt, im nächsten Jahr hat der Bund
durch die Höhe der BAföG-Rückzahlungen keine
Kosten beim BAföG. Er gibt also keine eigene Mark
aus. Ich finde, das ist grotesk.
Hauptziel unserer BAföG-Reform soll es sein, den
Anteil der BAföG-Geförderten wieder nachhaltig zu er-
höhen. Wir wollen, daß das Gesetz im Sommer nächsten
Jahres in Kraft tritt. Kernpunkt ist der Auftrag des Bun-
desverfassungsgerichtes, die Familien zu stärken. Ich
empfinde es als himmelschreiende Ungerechtigkeit, daß
sich nach der heutigen Rechtslage Vergünstigungen für
Familien, zum Beispiel Kindergelderhöhungen, bei der
Bemessung des BAföGs unmittelbar negativ auswirken.
Mit jeder Erhöhung des Kindergeldes sinkt der Anteil
der BAföG-Berechtigten. Mit anderen Worten: Eine
Kindergelderhöhung ist eine fiktive Gehaltsanhebung
für die BAföG-Bezieher.
Allerdings nicht alle Familien haben das Problem;
denn diejenigen, die keine BAföG-geförderten Kinder
haben, profitieren voll von der Anhebung des Kinder-
geldes. Dies ist eine Ungerechtigkeit, die wir mit unse-
rem Vorschlag beseitigen wollen.
In unserem BAföG-Reformmodell schlagen wir des-
halb vor, das Kindergeld im Rahmen der Bedürftigkeits-
prüfung beim BAföG nicht mehr als Einkommen anzu-
rechnen. Damit werden die Freibeträge für die Studenten
um 15 Prozent erhöht. 60 000 Studenten mehr würden
BAföG bekommen. Die monatliche Förderleistung wür-
de um 150 DM steigen. Das sind konkrete Fakten zum
Wohle der Studierenden in Deutschland.
Der zweite Kernpunkt unseres Vorschlages ist, daß
wir die Hemmschwelle für Kinder aus einkommens-
schwachen Familien bei der Aufnahme des Studiums
abbauen wollen. Deshalb schlagen wir vor, den Darle-
hensbeitrag in der Weise zu begrenzen, daß nur noch
bis zu einem monatlichen Betrag von 800 DM die eine
Hälfte als Darlehen und die andere Hälfte als Zuschuß
Thomas Rachel
6968 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
gezahlt wird. Eine darüber hinausgehende Leistung soll
voll als Zuschuß erfolgen. Damit sinkt die Darlehens-
belastung für Studenten mit BAföG-Höchstförderung,
die ja gerade aus den sozial schwächeren Familien
kommen. Jugendlichen aus einkommensschwachen Fa-
milien soll so ein größerer Anreiz für ein Studium gege-
ben werden.
Unser BAföG-Reformmodell kostet 600 Millio-
nen DM. Es ist damit, im Vergleich zu allen anderen
Vorschlägen hier im Hause, seriös, finanzierbar und in
kürzester Zeit zum Wohle der Studenten umsetzbar. Wir
freuen uns über die Reaktion der Hochschulrektoren-
konferenz, die den Vorschlag der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion hinsichtlich einer schnellen BAföG-Reform
begrüßt hat.
Wie sehen die Alternativen aus? Die F.D.P. begeht
mit dem Vorschlag einer Sockelförderung einen Sy-
stembruch. Sie rechnet selber mit Kosten von
16 Milliarden DM für ihr Modell. Selbst wenn man die
bisherigen Ausgaben für Kindergeld und steuerlichen
Kinderfreibetrag in dieses Finanzvolumen mit einrech-
net – das macht 6,5 Milliarden DM aus –, bleibt eine rie-
sige Finanzierungslücke.
Auch die Vorschläge der SPD hinsichtlich eines Sok-
kelbetrages sind nicht viel besser. Denn das Studenten-
gehalt wirft mehr Probleme auf, als es zur Lösung der
Herausforderungen beiträgt. Eine Art Studentengehalt
brächte eine Aufspaltung in Kinder, die einen akademi-
schen Beruf anstreben, und solche, die einen anderen
Berufsweg einschlagen.
Dies verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz. Junge
Erwachsene – das sage ich an die SPD gewandt – sind
junge Erwachsene, egal ob sie eine Berufsfachschule,
eine Akademie oder eine Hochschule besuchen. Wir
sind gegen ein Sonderrecht für Studierende.
Sehr geehrte Damen und Herren, entweder machen
Sie die Zahlung des Sockelbetrags von BAföG-
Kriterien, zum Beispiel dem Bestehen der Zwischen-
prüfung, abhängig – dann müßten Sie aber das Unter-
haltsrecht ändern; viel Spaß mit den Rechtspolitikern! –,
oder Sie zahlen das Studentengehalt wie bisher das Kin-
dergeld für jeden immatrikulierten Studenten bis zum
27. Lebensjahr, egal, ob er die Ernsthaftigkeit des Studi-
ums durch Bestehen der Zwischenprüfung beweist oder
ob er nur flüchtiger Gast an der Uni ist.
Herr
Kollege Rachel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Böttcher von der PDS-Fraktion?
Aber bitte.
Frau
Böttcher, bitte schön.
Herr Rachel, ich möchte
Ihnen gern eine kurze Zwischenfrage stellen, weil Sie
mich etwas irritiert haben. Ist Ihnen bekannt, daß es kein
Studentengehalt, ähnlich dem Lehrlingsentgelt, gibt?
Denn BAföG ist bekanntlich zu Teilen zurückzuzahlen,
und die Azubis können ihr Geld behalten.
Vielen Dank für Ihre
Frage, Frau Böttcher. Richtig ist, daß ein Ausbildungs-
geld, wie es bei der SPD in der Diskussion ist, da es sich
nach den bisherigen Vorschlägen der SPD allein auf
Studierende bezieht, ein Studentengehalt ist. Hierzu sa-
gen wir ganz klar, daß dann entweder BAföG-Kriterien
einbezogen werden müssen – dann müssen Sie aber das
Unterhaltsrecht ändern – oder die Studierenden bis zum
27. Lebensjahr Zahlungen erhalten; das hätte Milliar-
denausgaben zur Folge und würde dazu führen, daß die
BAföG-Reform nicht finanzierbar wäre und die Stu-
denten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten müssen.
Das halten wir für falsch. Deswegen haben wir eine se-
riöse, finanzierbare BAföG-Reform vorgelegt.
Erlauben
Sie eine Zusatzfrage von Frau Böttcher?
Bitte.
Herr Rachel, nehmen Sie
auch zur Kenntnis, daß es um niemand anderen als Stu-
dierende gehen kann, weil sie die einzige Gruppe sind,
die kein Geld erhält? Über wen sollte die SPD-Fraktion,
die Sie genannt haben, sonst sprechen und schreiben?
Frau Böttcher, ich
schlage vor, daß Sie sich damit auseinandersetzen, daß
es auch junge Erwachsene gibt, die in einer beruflichen
Ausbildung sind und ebenfalls BAföG bekommen kön-
nen. Wir möchten, daß eine Gleichbehandlung derjeni-
gen, die in einer beruflichen Ausbildung sind, und der-
jenigen an den Universitäten stattfindet. Ein Zweiklas-
senrecht wird es mit uns nicht geben.
Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem Sockelbe-
trag lösen Sie das eigentliche BAföG-Problem nicht.
Das eigentliche Problem besteht nämlich darin, daß die
Förderquote seit Jahren sinkt, weil die Freibeträge
nicht ausreichend an die gestiegenen Lebenshaltungs-
kosten angepaßt wurden. Deshalb machen wir den
Vorschlag, die Leistungen innerhalb des bestehenden
Systems deutlich zu erhöhen. Wir machen das Angebot
einer zügigen Reform zum Wohle der Studierenden
ohne Änderungen im Steuerrecht, ohne Änderungen im
Unterhaltsrecht und ohne verfassungsrechtliche Risiken.
Für unser Modell spricht, daß alle Auszubildenden
gleichbehandelt werden, egal, ob sie eine schulische
Ausbildung oder eine Hochschulausbildung wahrneh-
Thomas Rachel
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6969
(C)
(D)
men. Eine finanzielle Besserstellung allein der künftigen
Akademiker wird mit uns nicht stattfinden.
Unser BAföG-Vorschlag ist auch gerecht, weil er,
dem Subsidiaritätsprinzip folgend, Personen aus
finanziell bessergestellten Familien von einer Inan-
spruchnahme öffentlicher Gelder ausschließt.
Mein Fazit: Unser BAföG-Modell ist realisierbar. Es
hilft den Studierenden, die darauf angewiesen sind. Des-
halb möchte ich Sie herzlich bitten, dem Vorschlag der
Unionsfraktion zuzustimmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als
letzten Redner zu diesem Tagesordnungspunkt gebe ich
dem Parlamentarischen Staatssekretär Wolf-Michael
Catenhusen das Wort.
W
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ein
wichtiges Ergebnis hat diese Debatte gebracht: Es hat,
wenn ich das richtig mitverfolgt habe, von allen Fraktio-
nen des Hauses Erklärungen dazu gegeben, daß sich
auch die Bildungspolitik des Bundes in dieser Legisla-
turperiode am Ziel der Chancengerechtigkeit und
Chancengleichheit orientieren soll. Es ist von allen
Rednern hervorgehoben worden, daß wir gerade in der
Wissensgesellschaft nach dem modernen Verständnis
eines Generationenvertrages Verantwortung dafür tra-
gen, daß durch optimale Bildungsbeteiligung, durch
möglichst hochwertige Bildung und durch den Abbau
von Zugangsschranken, die aus sozialen Gründen beste-
hen könnten, dem Prinzip der Chancengerechtigkeit zum
Erfolg verholfen werden soll.
Ich denke, meine Damen und Herren, wenn man etwa
zwischen sozialdemokratisch geführten Bundesländern
und christdemokratisch geführten Bundesländern einmal
die Übergangsquoten vergleicht, kommt man zu einem
sehr eindeutigen Ergebnis, wie es denn mit der Chan-
cengerechtigkeit, etwa in der Frage der weiterführenden
Schulen, aussieht – ein Thema, das Sie sich, Frau Vol-
quartz, ja in Ihrer Schattenrede heute zu eigen gemacht
haben. Ich hoffe, daß Vertreter CDU-geführter Kultus-
ressorts der Länder genau dieselbe Rede halten werden,
die Sie heute hier gehalten haben.
Ich stimme Frau Volquartz ausdrücklich in ihrer Fest-
stellung zu, daß Bildung und Forschung in Deutschland
hohe Priorität haben müssen. Ich denke, es ist ein gutes
Zeichen, daß, ausgelöst durch Erklärungen der Bundes-
ministerin Frau Bulmahn, alle Fraktionen dieses Hauses
einen Wettstreit um ein aus ihrer Sicht möglichst gutes
BAföG-Modell begonnen haben.
Das ist ein großer Fortschritt.
Es ist auch ein Fortschritt, daß zumindest die F.D.P.
die Position, die noch im Bericht des federführenden
Ausschusses für Bildung und Forschung aus dem Jahre
1997 zur 19. BAföG-Novelle zu lesen war, aufgegeben
hat, daß Sie nämlich gesagt haben, man könne sich nur
eine kostenneutrale Strukturreform des BAföG vorstel-
len. Es ist gut, daß die F.D.P. diese Position jetzt, nach
zwei Jahren, aufgibt. Überhaupt bin ich der Meinung,
daß es eine schöne Entwicklung sein könnte, wenn wir
zu einer BAföG-Strukturreform kämen, die diesen Na-
men verdient und von einer breiten Mehrheit in diesem
Hause getragen wird, weil dies auch die Chancen erhöht,
daß wir hier zu einer Lösung kommen, die dann auf der
Länderseite breite Zustimmung finden wird. Wir brau-
chen diese Zustimmung.
Natürlich müssen Sie Verständnis dafür haben, daß
Sie sich bei Ihrem sportlichen Ehrgeiz, jetzt in der Frage
des Tempomachens mit der Regierung sozusagen Kopf
an Kopf zu laufen, die Frage gefallen lassen müssen,
was denn die Gründe für Ihre plötzliche Temposteige-
rung sind. Gut, wir haben Sie mit einer Ankündigung
herausgefordert; das ist in Ordnung. Aber man kann na-
türlich die leise Frage aufwerfen, ob nicht vielleicht
auch das Verdrängen des eigenen Versagens bei der Si-
cherung des Studiums für junge Menschen unabhängig
vom Geldbeutel der Eltern ein unausgesprochenes
wichtiges Motiv Ihrer heutigen Eile und der Vorlage
Ihrer Anträge ist. Es ist vielleicht auch ein bißchen
Freud, wenn Sie den Deutschen Bundestag jetzt fest-
stellen lassen wollen – ich zitiere –:
Schon seit einigen Jahren sprechen sich alle Frak-
tionen des Deutschen Bundestages für eine umfas-
sende Reform der Ausbildungsförderung … aus.
Wer so seine eigene Vergangenheit zu kompensieren
versucht, meine Damen und Herren, darf sich nicht
wundern, wenn man dezent, aber erkennbar auf diese
interessante Entwicklung hinweist.
Ich denke Sie gehen in die richtige Richtung, und das
freut uns auch.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Pieper,
Ihre Frage, bitte.
Thomas Rachel
6970 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Herr Catenhusen, ist Ih-
nen nicht bekannt, daß die F.D.P. in der Regierungsko-
alition mit der Union, damals aber eigenständig, mit
dem Drei-Körbe-Modell schon im Jahre 1995 einen
ähnlichen Antrag eingebracht hat?
W
Ja,
das weiß ich noch. Die Schwierigkeit ist nur, daß Sie
immer in dem Moment, wo Regierungsvorhaben zur
Abstimmung standen, den Ausschlag dafür gegeben ha-
ben, daß es in der Praxis zur Absage an weitergehende
Vorschläge gekommen ist. Und wenn ich Ihnen das
einmal vorsichtig sagen darf: Die Minister Möllemann
und Ortleb hatten ja beide zumindest einige Jahre Zeit,
das, was Sie dann im Jahre 1995 gefordert haben, in
Angriff zu nehmen. Aber ich respektiere die erkennbare
Bereitschaft der Bildungspolitikerinnen und Bildungs-
politiker aus CDU/CSU und F.D.P., mehr zu machen,
als die alte Regierung getan hat.
Frau Volquartz hat vorhin den kecken Satz formu-
liert, bei unserer Regierung sei der Finanzminister der
Bildungsminister. Das, liebe Frau Pieper, war offenkun-
dig Ihr Problem. Sie haben 16 Jahre lang daran mitge-
wirkt, daß die Bildungsminister, ob von der F.D.P. oder
der CDU, objektiv den Auftrag hatten, mitzuhelfen, den
BAföG-Titel auszuplündern,
und zwar bei einem allgemeinen Anstieg des Bundes-
etats. Wir sind in einer ganz anderen Situation, um auch
das einmal deutlich zu machen. Wir haben das schwieri-
ge Unternehmen gestartet, eine Strukturreform des
BAföG in einer Situation vorzubereiten, in der der Bun-
deshaushalt real schrumpft.
Das ist ein ganz anderes Unternehmen, eine ganz an-
dere Herausforderung als in den Jahren, in denen Sie
den Gesamtetat jährlich erhöht, gleichzeitig aber den
Bildungsetat gekürzt haben. Das ist doch die Entwick-
lung, mit der man sich – auch mit Würdigung Ihres An-
trags, Frau Pieper, von 1995 – auseinandersetzen muß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Caten-
husen, Frau Pieper hat eine zweite Frage.
W
Aber
gerne.
Frau Präsidentin, es han-
delt sich um eine Nachfrage. – Herr Staatssekretär, darf
ich Ihren Worten entnehmen, daß die Bundesregierung
bis Ende dieses Jahres noch eine BAföG-Reform in
Form eines Gesetzentwurfes vorlegen und nicht nur dar-
über reden wird?
W
Frau
Pieper, ich entnehme Ihrer Nachfrage, daß Sie glauben,
ich würde darauf in meinem vorbereiteten Redetext
nicht eingehen. Da ich dieser Erwartung nicht gerecht
werden will, verzichte ich an dieser Stelle darauf, Ihre
Frage zu beantworten, komme aber natürlich auf das
Thema zurück.
Die heutige Debatte ist – das ist wichtig – die Vor-
bereitung wichtiger Debatten im nächsten Jahr, in
denen bestimmte Ausgangspositionen beschrieben wer-
den und in denen die Opposition die Chance sieht, zum
Thema strukturelle BAföG-Reform zum erstenmal nach
16 Jahren differenziert Stellung zu nehmen. Das ist in
Ordnung, und das begrüßen wir auch. Allerdings ist
– zumindest bei der Union – der Mut, was die Frage der
strukturellen Reformen angeht, offenkundig noch sehr
schwach entwickelt. Frau Kollegin Wimmer hat den
Beitrag im Plenum vom Herrn Kollegen Mayer vom Fe-
bruar 1999 schon erwähnt. Ich will daraus einmal zitie-
ren, denn er hat damals eine sehr begrüßenswerte Aus-
sage getroffen:
Bei der Diskussion über die neue Struktur der Aus-
bildungsförderung sollten wir auch über unkonven-
tionelle Modelle nachdenken. Es sind schon einige
vorgelegt worden. Ich füge hinzu, daß wir bereit
sind, darüber nachzudenken, ob die finanzielle Lei-
stung des Kindergeldes den erwachsenen Studie-
renden direkt oder – wie bisher – über die Eltern
gegeben wird. Über diesen Punkt sollten wir durch-
aus einmal nachdenken.
Recht gebrüllt, Herr Kollege Mayer! Es wäre sehr
schön, wenn sich diese Ankündigungen auch im Gesetz-
entwurf der Union niedergeschlagen hätten.
Ich nehme auf Grund der Zwischenbemerkung von
Kollege Mayer zur Kenntnis, daß diese Absage nur vor-
läufig ist.
Das kann man zwar dem Text nicht entnehmen, aber es
wäre schön, wenn wir über die Frage eines Ausbil-
dungsgeldes nicht nur gemeinsam mit der F.D.P. beraten
könnten, sondern wenn es auch die Bereitschaft der
Union gäbe, mit uns darüber konstruktiv zu reden.
Meine Damen und Herren, es gibt für die Bundesre-
gierung keinen Anlaß, in der heutigen Debatte, die übri-
gens zirka eine Woche vor der Vorlage des nächsten
BAföG-Berichts liegt, die Eile der Opposition, die sich
nicht auf die Debatte, die nächste Woche in Kenntnis
dieses Berichtes gelaufen wäre, einlassen will, zu teilen.
Das ist Ihre Strategie; was Sie sich dabei gedacht haben,
ist nicht unser Problem. Wir hätten es für sinnvoll
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6971
(C)
(D)
gehalten, diese Debatte nächste Woche zu führen. Sie
gibt uns aber keinen Anlaß, von dem eingeschlagenen
Weg der gründlichen Vorbereitung einer strukturellen
BAföG-Reform abzugehen,
die in den Koalitionsfraktionen Unterstützung findet,
die, wie ich finde, für die Opposition diskussionsfähig
ist und die berechtigte Anliegen der Studierenden und
des Deutschen Studentenwerkes aufnimmt.
Es gibt nun einmal einen wichtigen Unterschied zwi-
schen Regierungshandeln und Oppositionstun. Wir müs-
sen mit der Bekanntgabe unserer Eckwerte auch die
Frage der Finanzierung beantworten können.
Da Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich an Ihren
Finanzministern 16 Jahre lang die Zähne ausgebissen
haben, versuchen Sie jetzt, Ihre – ich nenne das einmal
so – Etappe des Dauerfrustes im Wettstreit um Wochen,
Monate und Tage zu kompensieren. Ich will Ihnen ganz
deutlich sagen: Wir haben den Ehrgeiz, unter schwieri-
gen Umständen eine strukturelle Reform auf den Weg
zu bringen.
Wir sind in der Phase der Ressortabstimmung. An dieser
Stelle möchte ich Ihnen noch einmal die Grundprämis-
sen, von denen wir uns bei unseren Reformüberlegungen
leiten lassen, deutlich machen.
– Wissen Sie, abstrakt ist das ja sehr überzeugend, von
einem Mitglied einer Regierungspartei, die selbst jahre-
lang die Bildungsminister gestellt hat, ist das aber eine
beschämende Aussage.
Es bleibt auch nach sozialdemokratischem Verständ-
nis die staatliche Aufgabe, jedem jungen Menschen die
finanzielle Grundlage für eine den jeweiligen Fähigkei-
ten entsprechende qualifizierte Ausbildung zu sichern.
Das ist die subsidiäre Verpflichtung des Staates; sie
greift dort, wo die primär geforderte solidarische Ver-
antwortung der Familiengemeinschaft finanziell über-
fordert ist.
Es ist nicht die Vorstellung der Bundesregierung, daß
diese Familienverantwortung mit der Volljährigkeit der
Kinder automatisch enden muß –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Caten-
husen, es besteht der Wunsch nach einer weiteren Zwi-
schenfrage.
W
– ich
möchte zunächst diesen Gedanken zu Ende ausführen –
und daß, unabhängig von der finanziellen Leistungsfä-
higkeit der Eltern, ein bedarfsdeckender genereller
Zahlungsanspruch junger Auszubildender gegenüber der
staatlichen Gemeinschaft ein richtiger Weg ist. Dort
aber, wo die subsidiäre Pflicht des Staates mangels aus-
reichender finanzieller Leistungsfähigkeit der Familie
gefordert ist, muß der Staat gegebenenfalls mit einer der
Familie möglichen Teilleistung den vollen finanziellen
Bedarf eines jungen Menschen decken, der sich kon-
zentriert und zielstrebig seiner Ausbildung widmen will
und soll.
Ich denke, wir haben als Gesellschaft ein bildungs-
politisches Interesse daran, daß junge Menschen ihre
Ausbildung zügig durchlaufen können, ohne aus finan-
ziellen Gründen zu studienzeitverlängernder Erwerbstä-
tigkeit gezwungen zu sein.
Bitte, Frau Kollegin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ihre Frage, bitte,
Frau Kollegin.
Herr Staatssekre-
tär Catenhusen, Sie sind bislang die Aussage schuldig
geblieben, wann von Ihnen ein Konzept auf den Tisch
gelegt wird. Ich frage deshalb noch einmal: Wann wird
das der Fall sein?
W
Sie
müssen sich innerhalb Ihrer Fraktion einmal darauf ver-
ständigen, was Sie von mir wissen wollen. Die letzte
Frage lautete, ob wir Anfang des nächsten Jahres den
Gesetzentwurf vorlegen. Sie müssen das einmal im
Protokoll nachlesen. – Erlauben Sie mir, daß ich am
Schluß meiner Rede auf Ihre Frage eingehe.
Ein weiteres Prinzip sieht die Bundesregierung in der
sozial gerechten Verteilung staatlicher Förderleistungen.
Sie ist nicht allein durch das Subsidiaritätsprinzip ge-
währleistet. Zum einen nämlich gibt es im Rahmen des
Familienleistungsausgleichs die bekannte Diskussion
zur steuerrechtlichen Berücksichtigung: Wegen des pro-
gressiven Steuertarifs wirkt sich für die Gruppe der Ein-
kommensstärkeren ein Freibetrag in absoluten Beträgen
stärker aus als bei Einkommensschwächeren; das hat
Herr Berninger in seinem Beitrag angesprochen. Zum
anderen gibt es auch innerhalb der Gruppe der Förde-
rungsberechtigten in der Spreizung zwischen Teil- und
Vollförderung, je nach eigener finanzieller Leistungs-
fähigkeit, noch erhebliche Unterschiede hinsichtlich der
Folgen einer finanziellen Beteiligung der Studierenden
selbst durch die darlehensweise gewährten Förderungs-
anteile.
Hierzu hat Frau Ministerin Bulmahn bereits im
Frühjahr dieses Jahres deutlich gemacht, daß wir es
nicht für sozial ausgewogen halten, ausgerechnet die fi-
nanziell Schwächsten, die folglich den höchsten Förder-
Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
6972 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
anteil erhalten, mit der höchsten Darlehensbelastung in
das Berufsleben zu entlassen.
Wir begrüßen es sehr, daß Sie in Ihren Anträgen die
Vorschläge von Frau Bulmahn aufgenommen haben.
Ich freue mich, heute feststellen zu können, daß ein
wichtiger Baustein unserer BAföG-Reform Ihre inhaltli-
che Unterstützung finden wird.
Zum Thema „Zusammenspiel staatlicher Transferlei-
stungen“, das im Rahmen der Reform der Ausbildungs-
förderung unter dem Stichwort „Sockelmodell“ viel-
leicht etwas verkürzt diskutiert wird, hat Frau Bulmahn
schon im Sommer deutlich gemacht, daß für sie die
Chancengleichheit für Jugendliche von einkommens-
schwächeren Eltern im Vordergrund steht. Sie hält Ver-
besserungen sowohl hinsichtlich der Zahl der Förderbe-
rechtigten als auch hinsichtlich der Förderkonditionen
innerhalb der Gruppe der BAföG-Empfänger für unab-
dingbar.
Meine Damen und Herren, es gehört für uns zum mo-
dernen Generationenverständnis, daß künftig volljährige
junge Menschen in Ausbildung mit finanziell leistungs-
fähigen Eltern nicht ausschließlich auf den monatlichen
Wechsel der Eltern angewiesen sind.
Die Frage des Kollegen Rachel, ob dies allein auf BA-
föG-Empfänger begrenzt bleibt oder ob auf Grund der
Gleichheitsgrundsätze ein solches Ausbildungsgeld
nicht auch an alle jungen Menschen, die sich in der
Ausbildung befinden, gezahlt werden soll, ist berechtigt.
Aber das muß natürlich Auswirkungen auf das finanzi-
elle Volumen dieser Strukturreform haben.
Es gibt deutliche Anhaltspunkte dafür, daß nicht alle
Eltern die für die Ausbildung ihrer Kinder zugedachten
staatlichen Leistungen in vollem Umfang oder über-
haupt an ihre Kinder weitergeben. Die rechtlichen wie
auch finanziellen Fragen, die durch die verfassungsge-
richtlichen Beschlüsse zum Familienleistungsausgleich
Ende des letzten Jahres aufgeworfen wurden, haben
einen umfangreichen Prüfungsbedarf ergeben, über den
sich die Oppositionsfraktionen mit einem eleganten
Sprung hinwegsetzen können. So ist im Gesetzentwurf
der F.D.P. die Formulierung zu finden:
Diese Kosten sind weitgehend deckungsfähig durch
die bisher in Form des Kindergeldes bzw. Kinder-
freibetrages und Ausbildungsfreibetrages bereitge-
stellten Mittel.
Meine Damen und Herren, das Schöne dabei ist, daß
hinter dem Wort „weitgehend“ eine bestimmte Summe
steht. Vielleicht können Sie es selbst einmal sagen: Mei-
nen Sie damit eine halbe Milliarde DM, 1 Milliarde DM,
2 Milliarden DM? Das ist eine spannende Frage. Oder
meinen Sie damit die 5 Milliarden DM, die Herr Ber-
ninger in den Raum stellt? Wir werden kein Papier vor-
legen, in dem wir bei der Frage der Finanzierung von
„weitgehend“ sprechen, sondern wir werden auf Mark
und Pfennig gegenrechnen müssen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab-
schluß noch folgende Feststellung machen: Wir haben
einen umfangreichen Prüfungsbedarf. Er war größer, als
wir zu Jahresanfang vermuten konnten – durch das Ver-
fassungsgerichtsurteil, durch das Zukunftsprogramm der
Bundesregierung. Dadurch wird uns nämlich zu der In-
vestitionsmilliarde, die wir bekommen, ein solidarischer
Beitrag zur Abdeckung des Defizits im Bundeshaushalt
im Rahmen der Neuverschuldung auferlegt. Das sind
Herausforderungen, die wir bewältigen müssen. Wir
stehen bei der Aufstellung der Eckpunkte der Ausbil-
dungsförderung jetzt in Zusammenarbeit mit den betei-
ligten Ressorts. Wir sind mit den Arbeiten in unserem
Ministerium fertig. Sie verstehen, daß wir in dieser Fra-
ge mit dem Familienministerium, dem Finanzministeri-
um und dem Justizministerium gewisse Absprachen
herbeiführen müssen. Wir sind zuversichtlich, daß wir
bald zu einem guten Ergebnis kommen.
Ich sage Ihnen allerdings auch zu der wunderschönen
Frage der Opposition: 16 Jahre haben Sie an der Struktur
nichts geändert, aber die heutige Regierung wird daran
gemessen, ob sie morgen oder übermorgen handelt.
Meine Damen und Herren, bei dieser Meßlatte bleiben
wir heute sehr gelassen.
Wir stehen mit dieser BAföG-Reform im Wort gegen-
über den Studierenden. Ich glaube, daß wir dieses Ver-
sprechen auch einlösen werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2031 zu überweisen: zur federführenden
Beratung an den Ausschuß für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den
Rechtsausschuß, den Ausschuß für Arbeit und Sozial-
ordnung, den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend und den Haushaltsausschuß. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2253 zu überweisen: zur federführenden
Beratung an den Ausschuß für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den
Rechtsausschuß, den Finanzausschuß, den Ausschuß für
Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend und den Haushaltsaus-
schuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung. Gibt es hierzu
anderweitige Vorschläge? – Auch das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6973
(C)
(D)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16a bis 16d sowie
Zusatzpunkt 5 auf:
16. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Protokoll vom 29. November 1996 auf Grund
von Artikel K.3 des Vertrags über die Euro-
päische Union betreffend die Auslegung des
Übereinkommens über den Schutz der finan-
ziellen Interessen der Europäischen Gemein-
schaften durch den Gerichtshof der Euro-
päischen Gemeinschaften im Wege der
– Drucksache 14/2120 –
Überweisungsvorschlag:
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verlängerung der Geltungsdauer des Interna-
tionalen Kaffee-Übereinkommens von 1994
– Drucksache 14/2125 –
Überweisungsvorschlag:
Jelpke, Rosel Neuhäuser, Petra Pau und der
Fraktion der PDS
Schaffung der gesetzlichen Voraussetzun-
gen für die Erteilung einer Aufenthaltsbe-
fugnis für lange in Deutschland lebende
– Drucksache 14/2066 –
Überweisungsvorschlag:
regierung
Haushaltsführung 1999
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 12 26
Titel 732 01 – Baumaßnahmen zur Unter-
bringung der Bundesregierung außerhalb
des Parlamentsviertels in Berlin – in Höhe
von 105 Mio. DM und bei Kapitel 12 26 Ti-
tel 526 45 – Planungskosten für Baumaß-
nahmen außerhalb des Parlamentsviertels
in Berlin – in Höhe von 15 Mio. DM
– Drucksache 14/1809 –
Überweisungsvorschlag:
brachten Entwurfs eines Zweiten Eigentums-
fristengesetzes
– Drucksache 14/2250 –
Überweisungsvorschlag:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fortsetzung der Berichterstattung der Bun-
desregierung zum Stand der Deutschen
Einheit
– Drucksache 14/2238 –
Überweisungsvorschlag:
(C)
– Drucksache 14/1929 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/2257 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Hierzu liegt der Antrag auf eine persönliche Erklä-
rung des Kollegen Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion, vor.
Bitte, Kollege Kutzmutz.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Ich halte das ERP-Sondervermögen
nach wie vor für das mit Abstand wichtigste Darlehens-
förderinstrument für Existenzgründer und Mittelständler.
Gerade deshalb möchte ich mein gegenüber den Vorjah-
ren verändertes Abstimmungsverhalten begründen und
zugleich bedauern, daß sich nur PDS und CSU ur-
sprünglich für eine Debatte im Plenum eingesetzt haben.
Ich lehne den Entwurf des ERP-Wirtschaftsplans
2000 ab, weil die Förderkulisse gegenüber dem Ansatz
von 1999 um 2,5 Milliarden DM reduziert werden soll.
Die Begründung, man bewege sich damit im Rahmen
der tatsächlichen Ausgaben dieses Jahres, ist für mich
nicht stichhaltig. Alle zugänglichen Geschäftszahlen der
beiden bundeseigenen Förderbanken belegen, daß deren
Eigenprogramme im Existenzgründungs-, Mittelstands-
und Umweltbereich in diesem Jahr erheblich stärker in
Anspruch genommen wurden, also den Betroffenen of-
fensichtlich die günstigeren, aber eben auch haushalts-
wirksamen ERP-Konditionen gezielt vorenthalten wer-
den.
Ich lehne den Entwurf und die damit verbundene
Kürzung darüber hinaus deshalb ab, weil mit den ge-
genwärtig steigenden Marktzinsen erfahrungsgemäß
auch die gezielte Nachfrage nach ERP-Förderung an-
schwellen wird und so das geringe Fördervolumen sich
tatsächlich in weniger Arbeitsplätzen als eigentlich
möglich niederschlagen wird.
Ich lehne den ERP-Haushalt 2000 ab, weil die Bun-
desregierung – wie schon 1999 und anders als ihre Vor-
gängerin – keinerlei Zinszuschüsse aus dem Bundes-
haushalt für Kredite für Investitionen in den neuen Bun-
desländern bereitstellen will, gerade durch diesen feh-
lenden dreistelligen Millionenbetrag aber die ERP-
Förderung als Ganzes, und zwar in Ost wie in West, ver-
ringert wird.
Ich lehne den ERP-Haushalt auch ab, weil die statt
dessen nun beginnende sogenannte konservative Anlage
von ERP-Vermögen an den Kapitalmärkten meines Er-
achtens Risiken für die Substanz und damit für die För-
derkulisse als Ganzes in sich birgt, die von den ver-
gleichsweise bescheidenen Mehreinnahmen nicht auf-
gewogen werden; denn wer einmal anfängt anzulegen,
der wird zwangsläufig immer kecker und spekuliert so
lange, bis er sich und damit das Vermögen verspekuliert
hat.
Ich lehne den ERP-Haushalt darüber hinaus ab, weil
die Bundesregierung im kommenden Jahr mindestens
ein halbe Milliarde DM weniger zur Refinanzierung des
alten Eigenkapitalhilfeprogramms als erforderlich be-
reitstellen will und damit absehbar nicht nur den Finanz-
rahmen der mit dessen Abwicklung betrauten Förder-
bank belastet. Sie führt zugleich das Hauptmotiv für die
Überführung dieses wichtigen Förderprogramms in das
ERP-Sondervermögen ad absurdum, die Eigenkapitalhil-
fe von der Kassenlage des jeweiligen Bundesfinanzmi-
nisters unabhängiger zu gestalten.
Ich lehne den ERP-Haushalt 2000 nicht zuletzt des-
halb ab, weil sich in der gestrigen Sitzung des federfüh-
renden Ausschusses herausstellte, daß von Parlamenta-
riern – im konkreten Fall der CSU und F.D.P. – bereits
vor Monaten eingereichte Fragen bis gestern nicht
beantwortet waren. Schon aus diesem Grund ist die
Beschlußfassung heute eigentlich unzulässig.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, der Ausschuß für Wirtschaft und Tech-
nologie empfiehlt auf Drucksache 14/2257, den Gesetz-
entwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. – Wer
Vizepräsidentin Petra Bläss
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6975
(C)
(D)
stimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist damit gegen
die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 17c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanz-
reformgesetzes
– Drucksache 14/2095 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 14/2252 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer
Jochen-Konrad Fromme
Klaus Wolfgang Müller
Carl-Ludwig Thiele
Heidemarie Ehlert
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthal-
tung der PDS-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom-
men.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17d auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung zu
dem Änderungsantrag der Abgeordneten Moni-
ka Balt, Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der PDS zu
dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU,
BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN, F.D.P. und PDS
Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht
– Drucksache14/1, 14/3, 14/2008 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Roland Claus
Jörg van Essen
Joachim Hörster
Dr. Uwe Küster
Steffi Lemke
Der Ausschuß empfiehlt, den Änderungsantrag auf
Drucksache 14/3 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlußempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17e auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haus-
haltsausschusses zu der Unter-
richtung durch die Präsidentin des Bundesrech-
nungshofes
Bericht des Bundesschuldenausschusses über
seine Tätigkeit sowie die Verwaltung der Bun-
desschuld im Jahre 1998
– Drucksachen 14/1430, 14/1616 Nr. 1.6,
14/2093 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael von Schmude
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Uwe-Jens Rössel
Der Ausschuß empfiehlt, den Bericht entsprechend
der Drucksache 14/1430 zur Kenntnis zu nehmen. Wer
stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlung ist einstim-
mig angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Beschlußempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 17 f:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 98 zu Petitionen
– Drucksache 14/2193 –
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht
98 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 g:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 99 zu Petitionen
– Drucksache 14/2194 –
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelüber-
sicht 99 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 h:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 100 zu Petitionen
– Drucksache 14/2195 –
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelüber-
sicht 100 ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 17 i:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 101 zu Petitionen
– Drucksache 14/2196 –
Vizepräsidentin Petra Bläss
6976 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelüber-
sicht 101 ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haus-
haltsausschusses zu dem Entwurf
eines Gesetzes über die Feststellung des Bundes-
hier: Abstimmung einer Entschließung unter
Nr. 2 der Beschlußempfehlung
– Drucksachen 14/1400, 14/1680, 14/1923 –
Der Haushaltsausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/1923 die An-
nahme einer Entschließung. Es handelt sich um die Auf-
forderung der Bundesregierung, die sogenannte Ministe-
rialzulage zu überprüfen. Wer stimmt für diese Be-
schlußempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 und den Zusatz-
punkt 7 auf:
5. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
– Drucksache 14/2139 –
ZP7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entbindung von der Schweigepflicht gegen-
über dem Untersuchungsausschuß
– Drucksache 14/2236 –
Zu dem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungs-
ausschusses liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. vor, über den wir nach Schluß der Aussprache
namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-
Fraktion hat der Kollege Frank Hofmann.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die „Frankfurter Rund-
schau“ titelt heute: „Merkel sieht CDU in ‘schwieriger
Lage’“.
Mit dieser Aussage gesteht die Generalsekretärin nach-
träglich ein, daß das Konzept der CDU in der Aktuellen
Stunde vom 10. November nicht aufgegangen ist.
Sie, Frau Merkel, haben uns, der SPD, vorgeworfen, wir
würden nur ablenken wollen. Nur zwei Wochen später
läßt sich auf Grund der Eingeständnisse aus den Reihen
der CDU das Fazit ziehen: Sie haben ein Ablenkungs-
manöver erster Güte inszeniert; gebracht hat es Ihnen
nichts.
Der Deutsche Bundestag wird heute die Einsetzung
des Untersuchungsausschusses beschließen. Der Aus-
schuß soll und wird aufklären, inwieweit Spenden, Pro-
visionen und andere finanzielle Zuwendungen oder
Vorteile an die von CDU/CSU und F.D.P. geführte
Bundesregierung geflossen sind. Der Ausschuß soll und
wird aufklären, inwieweit diese dazu geeignet waren,
politische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen bzw.
Entscheidungsprozesse beeinflußt haben.
Dem Hause liegt ein Änderungsantrag der F.D.P. vor,
der unseren Antrag zwar insgesamt übernimmt, ihn aber
auf die damaligen Oppositionsparteien SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und PDS erweitert.
Dies halte ich – mit Verlaub – für geradezu lächerlich.
Wie konnten Spenden an die PDS die damals von
CDU/CSU und F.D.P. geführte Bundesregierung beein-
flussen? Auf die Erklärung, wie das funktionieren soll,
Herr Gerhardt, bin ich gespannt.
Praktisch zielt der Antrag darauf ab, Zeugen der
SPD zu vernehmen. Das kann der Untersuchungsaus-
schuß ohnehin. Dies ergibt sich bereits aus dem Antrag
der Regierungskoalition. Die F.D.P. will sich offenbar
mit ihrem Antrag ins Gespräch bringen. In Wahrheit ge-
rät sie damit nur ins Gerede. Wir lehnen den Antrag ab.
Auf Vorschlag des Vorsitzenden der SPD-Bundes-
tagsfraktion hat der geschäftsführende Vorstand heute
beschlossen, daß dem Ausschuß 15 Mitglieder angehö-
ren sollen.
Die SPD-Bundestagsfraktion beantragt hiermit, die Zahl
der Ausschußmitglieder auf 15 festzusetzen, die nach
dem System von Ste. Laguë/Schepers bestimmt werden.
Warum? – Wir lassen uns nicht auf Nebenkriegs-
schauplätze ein; wir wollen zur Sache kommen.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6977
(C)
(D)
In der CDU mangelt es noch immer an der Bereit-
schaft, die Karten auf den Tisch zu legen. Wo ist die
Koffermillion? Wie ist das mit den Konten in der
Schweiz? Heiner der Wissende, Volker der Ahnungslo-
se? Wie paßt das zusammen?
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Op-
position, wir geben Ihnen mit unserem Entschließungs-
antrag Gelegenheit, die Aufklärung zu beschleunigen.
Entbinden Sie Ihre Steuerberater und Wirtschaftsprü-
fer, insbesondere Herrn Weyrauch, von der Schweige-
pflicht.
Helmut Kohl hat Spenden kassiert, versteckt, ver-
schwiegen, verheimlicht und sich ein eigenes Finanz-
reich geschaffen. Woher kamen die Schwarzgelder? Von
wem kamen sie? Wo gingen die Gelder hin? Wofür ha-
ben die Spender Gelder gegeben? War das nur so zum
Spaß, um sich selbst eine Freude zu machen, oder haben
sie handfeste Interessen verfolgt und durchgesetzt? Wo-
für hat Kohl die Gelder ausgegeben? Hat er das nur so
getan, um sich selbst eine Freude zu bereiten, oder hat er
damit handfeste Interessen verfolgt und durchgesetzt?
Gab es einen Geheimbund Kohl/Kiep/Weyrauch/Lüthje?
Oder wußte die Parteispitze Bescheid?
Wie kommen Sie eigentlich, Frau Merkel und Herr
Schäuble, mit der Häme der CSU klar? Der Vorsitzende
der CSU-Landesgruppe behauptet stolz: Bei uns in der
CSU gibt es keinen patriarchalischen Führungsstil.
Der Generalsekretär der CSU will Ihnen, Frau Merkel,
ein bis zwei Tage Zeit lassen, dann werde die Koffer-
million auftauchen. Ist das noch Ihre Schwesterpartei?
Helmut Kohl hat sich durch die Verteilung von Gel-
dern seine Macht gesichert. Er habe es nicht zu seinem
eigenen persönlichen Vorteil gemacht, wie er in seiner
Mea-culpa-Erklärung behauptet, sondern für die CDU.
Diese Mea-culpa-Erklärung von Herrn Kohl enthält Ent-
schuldigungsgründe, die ebenso der Gedankenwelt eines
Mario Puzo entsprungen sein könnten. Was ist das für
ein Verständnis von Parlamentarismus und Demokratie,
wenn Gesetze weniger wichtig sind als persönliches
Vertrauen?
Was hält so ein Parteivorsitzender eigentlich von uns,
vom Parlament, vom Gesetzgeber, von der Bevölke-
rung?
Helmut Kohl hat gewußt, welche Wirkung Geld hat,
als er die Schwarzgelder verteilte. Welche Wirkung
hatten die Schwarzgelder auf Helmut Kohl? Ist dies
nicht eine bestechende Logik?
Einen Neuanfang ohne vollständige Aufklärung kann
es nicht geben. Der Untersuchungsausschuß muß und
wird aufklären – aufklären bei der Schmierölspur von
Leuna, bei den Schmiergeldpanzern, die nach Saudi-
Arabien geliefert wurden, sowie bei den Airbus- und
Hubschraubergeschäften mit Kanada und Thailand.
Der Untersuchungsausschuß muß und wird einen
wichtigen Beitrag für unsere Demokratie leisten.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU, Wolfgang
Schäuble.
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Um das Wichtigste zuerst zu sagen: Die CDU/CSU-
Fraktion stimmt dem Antrag auf Einsetzung eines Un-
tersuchungsausschusses zu.
Ich bin, Herr Kollege Hofmann, ein wenig überrascht,
wie man in einer Rede – das haben Sie gerade schön
gemacht – sagen kann, welchen riesigen Aufklärungs-
bedarf man hat, aber wenn man Ihnen zugehört hat, hatte
man zugleich den Eindruck, Sie wüßten schon alles,
denn Sie haben alle Wertungen schon vorgetragen.
Also, es ist ein schmaler Grat, und Sie waren doch ein
wenig in der Gefahr, mißverstanden zu werden, als wür-
den Sie alles schon wissen und als würden Sie eine
Menge Behauptungen aufstellen. Das könnte ja den Ein-
druck erwecken, als ginge es Ihnen gar nicht um Aufklä-
rung,
sondern darum, möglichst viele Verdächtigungen auszu-
streuen, so nach dem Motto, daß immer etwas hängen-
bleibt.
Wir stimmen dem Antrag auf Einsetzung des Unter-
suchungsausschusses zu, weil wir in der Tat der Mei-
nung sind, daß, wenn der Verdacht besteht, Entschei-
dungen einer Bundesregierung, der Regierung von Hel-
Frank Hofmann
6978 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
mut Kohl oder irgendeiner anderen, aber hier geht es um
die Regierung von Helmut Kohl – –
– Verehrte Kollegen, wir sind der Meinung, wenn der
Verdacht besteht, Entscheidungen einer Bundesregie-
rung, in diesem Fall Entscheidungen der Regierung von
Helmut Kohl, seien durch Zahlungen von Geld beein-
flußt worden, dann ist das ein so schwerwiegender Ver-
dacht, daß er im Interesse unserer Demokratie so rasch,
vollständig, lückenlos und vorbehaltlos wie irgend mög-
lich aufgeklärt werden muß. Deswegen stimmen wir
dem Antrag auf Einsetzung des Untersuchungsausschus-
ses zu.
Ich sage Ihnen meine persönliche Meinung auch
gleich an dieser Stelle. Ich bin sehr sicher in meiner Ein-
schätzung – –
– Herr Kollege Ströbele, ich darf doch meine Meinung
sagen. Es gehört ja zu den ganz grundlegenden und fun-
damentalen Rechten einer freiheitlichen Demokratie,
daß man seine Meinung sagen kann.
Ich bin mir in der Einschätzung sicher, daß Entschei-
dungen der Regierung Kohl – ich vermute übrigens,
Entscheidungen jeder Bundesregierung, die wir in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hatten –
niemals käuflich gewesen sind, und ich hoffe, daß dies
auch in der Zukunft so bleiben wird. Ich werde alles,
was in meiner Möglichkeit steht, tun, damit auch in Zu-
kunft sicher gestellt wird, daß niemals der Verdacht,
Entscheidungen einer frei gewählten Regierung der
Bundesrepublik Deutschland seien käuflich, Bestätigung
finden kann.
Wir leisten unseren Beitrag; die Sache ist für uns
nicht einfach, es schadet uns auch, niemand von uns hat
Freude daran. Daran gibt es doch gar keinen Zweifel.
Schadenfreude ist übrigens etwas, was ich verstehen
kann. Wir haben sie manchmal auch, aber meistens
währt sie nicht so furchtbar lange. Deswegen: Genießen
Sie sie, denn sie ist bald wieder vorbei.
Jetzt will ich noch eine zweite Bemerkung machen.
Ich hoffe, Sie halten sich an Ihren eigenen Antrag.
Ich bin übrigens froh, daß wir uns über die Anzahl
der Ausschußmitglieder und die Zusammensetzung des
Ausschusses nicht mehr streiten müssen. Es ist gut, daß
wir in diesem Punkt übereinstimmen.
Was den Antrag auf Einsetzung eines Untersu-
chungsausschusses anbetrifft, möchte ich, damit Sie
wissen, was Sie beantragen und wem wir zustimmen
sollen, folgendes sagen: Sie beantragen, zu prüfen, ob
Zahlungen
geflossen sind bzw. gewährt wurden, die dazu ge-
eignet waren, politische Entscheidungsprozesse
dieser Bundesregierungen und/oder deren nachge-
ordnete Behörden zu beeinflussen …
– Ja, aber in diesem Zusammenhang. – Es kann also
nicht darum gehen, die Finanzpraxis einer Partei – in
diesem Fall der Christlich Demokratischen Union – mit
den Mitteln eines Untersuchungsausschusses aufzuklä-
ren.
– Bleiben Sie ganz ruhig. Mir liegt daran, daß wir es in
großer Ruhe klären. – Wir haben im Laufe der Jahre,
gelegentlich durch Urteile des Verfassungsgerichts zu-
sätzlich veranlaßt, die Regeln für die Parteienfinanzie-
rung generell, einschließlich der Rechnungslegung, ver-
schärft. Diese Regeln gelten, an diese Regeln müssen
wir uns halten.
– Entschuldigung, ich rede gerade öffentlich, und jeder,
der es hören will und der ein Interesse daran hat, daß es
geklärt wird, soweit es geklärt werden kann, kann es hö-
ren. Sie erwarten doch von uns und im besonderen von
mir Beiträge zur Klärung. Nehmen Sie es doch so, wie
ich es sage. Sie können gar nichts dagegen einwenden.
Wir alle müssen uns an diese Regeln halten. Das hat
zweierlei Konsequenzen. Die Regeln über die Rech-
nungslegung und über die Veröffentlichung von Partei-
finanzen sind abschließend. Es kann nicht sein, daß die
eine Partei strengeren Maßstäben oder anderen Mitteln,
zum Beispiel denen der Strafprozeßordnung oder denen
eines Untersuchungsausschusses,
anderen Regelungen von Transparenz, Öffentlichkeit und
Rechnungslegung als die anderen Parteien unterliegt. Die
Wettbewerbsgleichheit muß eingehalten werden.
Deswegen sage ich mit großer Ruhe und Klarheit: Wenn
der Untersuchungsausschuß dazu mißbraucht werden
sollte, dann würde er rechtswidrig handeln. Wir werden
genau diese Grenze mit aller Entschiedenheit einhalten.
Damit es auch klar ist: Die Angelegenheit hat eine
weitere Seite. Für uns selber besteht Anlaß – ich habe
das ja vor zwei Tagen der Öffentlichkeit gesagt –, zu
überprüfen – wir machen Sonderprüfungen, parteiintern
wie durch unabhängige Wirtschaftsprüfer –, ob wir, die
Christlich Demokratische Union, uns an die Regeln des
Parteienfinanzierungsgesetzes gehalten haben. Ich sage
vor dem Forum der Nation und vor der deutschen Öf-
fentlichkeit: Die Christlich Demokratische Union wird
alles tun, damit auch für die Vergangenheit geklärt wird,
ob wir uns an das Parteienfinanzierungsgesetz gehalten
haben. Soweit wir uns daran nicht gehalten haben, wer-
den wir das, was irgend möglich ist, nachholen. Wenn
Dr. Wolfgang Schäuble
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6979
(C)
(D)
sich daraus Konsequenzen ergeben, dann sind sie für uns
bitterer als für andere. Dazu stehen wir. Die Prüfung
muß aber nach den Regeln des Parteienfinanzierungsge-
setzes und nicht nach anderen vonstatten gehen.
Herr Kollege Struck, ich bitte bei der Frage dieses
Antrags – er gehört eigentlich eher in den Untersu-
chungsausschuß als ins Plenum – zu berücksichtigen, ob
und inwieweit wir einen Menschen, der als Wirt-
schaftsprüfer für uns tätig war, von seiner Schweige-
pflicht entbinden müssen. Da ist die Grenze: Soweit es
zum Untersuchungsauftrag gehört: ja, soweit es um die
allgemeine Parteienfinanzierung geht: nein.
Sonst schafft man eine dauerhafte Ungleichheit der Be-
dingungen für den Wettbewerb zwischen den Parteien.
– Vielleicht mögen Sie nicht verstehen. – Diese Grenze
bitte ich einzuhalten.
Ich sage Ihnen: Wir werden alles, was in unseren
Möglichkeiten steht, zur Aufklärung dessen, was nach
dem Einsetzungsantrag zum Untersuchungsauftrag des
Untersuchungsausschusses gehört, beitragen. Wir wer-
den das, was die Finanzierung der CDU angeht, was die
Finanzierung und das Finanzgebaren der CDU
Deutschlands anbetrifft, soweit es irgend möglich ist, in
Ordnung bringen. Auch wenn die Konsequenzen bitter
sind, werden wir sie tragen. Wir arbeiten mit Hochdruck
an der Aufklärung.
Ich möchte darauf hinweisen, wie leicht eine Aussage
mit einem Dunstschleier aus Verdächtigungen, Gerüch-
ten und Andeutungen umgeben wird. Ich habe bei-
spielsweise erlebt, wie eine große deutsche Tageszeitung
angesichts meiner Aussage – diese ist nach meiner si-
cheren Erinnerung noch immer wahr –: „Ich habe Herrn
Weyrauch noch nie in meinem Leben getroffen“ – man
muß wohl jetzt sagen: noch nicht getroffen; denn ich
werde ihn wahrscheinlich in absehbarer Zeit im Zuge
der Aufklärungsarbeit treffen – spekuliert hat, es sei
doch eigentlich ganz unwahrscheinlich, daß ich ihn nicht
getroffen habe. Eigentlich ist das eher nicht unwahr-
scheinlich. Es ist sofort gefragt worden: Wieso lügt der
Schäuble und sagt, daß er den gar nicht getroffen habe?
Ich hatte gesehen, daß Herr Kollege Struck das miß-
verstanden hat. Wenn ich anwesend gewesen wäre, hätte
ich ihm gleich gesagt, daß ihm wohl ein Irrtum unterlau-
fen sei; denn Sie haben aus meiner Aussage „Ich habe
Herrn Weyrauch nie getroffen“ geschlossen, daß ich
Herrn Schreiber nie getroffen hätte. Ich habe Herrn
Schreiber sehr wohl einmal getroffen.
– Ja, ich habe Herrn Schreiber getroffen. Ich sage Ihnen
auch, bei welcher Gelegenheit: Die damalige Schatzmei-
sterin der CDU Deutschlands, Brigitte Baumeister – eine
von mir hoch geschätzte Kollegin –, hatte im Wahl-
kampf – den genauen Zeitpunkt weiß ich nicht mehr; ich
glaube, es war 1994 – Persönlichkeiten, von denen wir
gehofft haben, daß sie uns durch Spenden helfen wer-
den, unsere Wahlkampfkosten zu finanzieren, zu einem
Gesprächsabend eingeladen.
– Herr Ströbele, jetzt machen Sie mal langsam! Ich
erkläre es doch gerade. Welche Aufklärung wollen Sie
eigentlich, wenn Sie immer dann, wenn ich etwas sage,
dazwischenrufen? Sie bringen mich nicht aus der Ruhe.
Ich füge übrigens hinzu: Ich halte nach wie vor den
Einsatz von Mitgliedern, von Beitragszahlern, aber auch
von Menschen, die mit ihren Spenden die Arbeit demo-
kratischer Parteien fördern, für demokratische Parteien
für verdienstvoll im Interesse unserer Demokratie. Ich
danke allen.
Aber die Regelungen des Parteiengesetzes müssen ein-
gehalten werden. Wenn gegen sie verstoßen worden ist,
müssen die Konsequenzen getragen werden.
Wie gesagt: Brigitte Baumeister hat damals – dies
war irgendwann im Spätsommer oder im Frühherbst
1994 – Persönlichkeiten zu einem Gesprächsabend in
einem Hotel in Bonn eingeladen und sie mit dem Frakti-
onsvorsitzenden – dies war ich damals wie heute – zu-
sammengebracht. Während dieses Gesprächsabends ha-
be ich einen Herrn kennengelernt, der sich mir als ein
Mann vorgestellt hat, der ein Unternehmen leitet. Ich
habe später festgestellt, daß es dieser Herr Schreiber
war.
– Ich weiß nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen –
ich sage dies noch einmal mit großer Ruhe –, was Sie
eigentlich wollen: Wollen Sie nun, daß wir aufklären,
wie es war? Oder wollen Sie
jede wahre Erklärung durch Verdächtigungen und Ver-
leumdungen immer gleich unmöglich machen? Überle-
gen Sie es sich!
Auf der damaligen Veranstaltung bin ich Herrn
Schreiber begegnet. Das war es.
– Ohne Koffer, das heißt: Ich habe vielleicht einen Ak-
tenkoffer dabei gehabt. Ich weiß es nicht mehr genau. Es
ist jedenfalls im Spätsommer oder im Herbst 1994 we-
der von Panzern noch von ähnlichem die Rede gewesen.
Dr. Wolfgang Schäuble
6980 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Zum Abschluß möchte ich noch eine Bemerkung ma-
chen. Ich sage für die CDU Deutschlands als Parteivor-
sitzender und für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion als
Fraktionsvorsitzender: Wir werden alles dazu beitragen,
daß so rasch wie möglich und so vollständig wie mög-
lich aufgeklärt wird, was Gegenstand des Untersu-
chungsausschusses ist. Wir werden alles aufklären, was
immer wir aufklären können. Wir werden das in Ord-
nung bringen, was – möglicherweise – nicht in Ordnung
gewesen ist, unabhängig von den Konsequenzen. Wir
werden dies insbesondere deswegen so schnell wie
möglich tun, weil es für unser Land notwendig ist, daß
wir wieder möglichst schnell über die Politik in diesem
Lande reden und nicht über Verdächtigungen und Affä-
ren. Die rotgrüne Regierung ist zu schwach. Unser Land
hat eine bessere Regierung verdient.
Deswegen brauchen wir eine starke Opposition. Diesem
Auftrag widmen wir uns weiterhin.
Genießen Sie in aller Ruhe die paar Tage, in denen
von den Schwächen, die Sie haben, abgelenkt wird!
Aber täuschen Sie sich nicht: In der deutschen Politik
ringen Mehrheit und Minderheit darum, welcher Weg
der richtige für die Zukunft unseres Landes ist. Unter
der Führung von Rotgrün war dieses Jahr ein verlorenes
Jahr für Deutschland.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Chri-
stian Ströbele.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, daß der
Saaldienst den Besucher, der sich hier unzulässig ver-
halten hat, bereits abgeführt hat.
Es spricht jetzt der Kollege Christian Ströbele.
Kollegen! Das, was der Kollege Schäuble soeben gesagt
hat, hörte sich schon ganz anders an als das, was von der
rechten Seite des Hauses bei der Aktuellen Stunde vor
drei Wochen geäußert wurde. Damals wurden wir noch
beschimpft, daß wir ein Thema hochziehen und den
Deutschen Bundestag mit einer solchen Spendenaffäre
beschäftigen wollten.
Der Kollege Koppelin hat damals gesagt:
Ich habe auch den Eindruck, daß die CDU über-
haupt nichts vertuscht.
Herr Kollege Koppelin, ich habe mich gewundert, war-
um Sie die CDU so in Schutz genommen haben.
Wenn ich aber heute im „Stern“ lese, daß Gelder an
Herrn Möllemann und an Herrn Genscher gezahlt wor-
den sein sollen, dann kann ich das verstehen und auch
nachvollziehen, daß Sie sich so in die Bresche geworfen
haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Strö-
bele, es gibt eine Frage des Kollegen Westerwelle. Las-
sen Sie diese zu?
hier der Wahrheit dienen.
Herr Kollege
Ströbele, Sie haben hier soeben unter anderen den Eh-
renvorsitzenden der Freien Demokratischen Partei Hans-
Dietrich Genscher beschuldigt, er habe Gelder bekom-
men, und gesagt, damit sei politisches Verhalten bewirkt
worden.
Dieses haben Sie ausdrücklich so erklärt. Sind Sie bereit,
eine solche haltlose Unterstellung zurückzunehmen, die
noch nicht einmal in diesem Artikel so erhoben wird? Es
ist eine Unverschämtheit, in welcher Art und Weise Sie
hier eine Persönlichkeit durch die Jauche ziehen!
Das ist eine unverschämte Art und Weise. Es zeigt, daß
Sie nicht Ihrem Berufsethos als Volljurist gerecht wer-
den, sondern Wahlkampf betreiben und Diffamierungen
streuen. Das ist eine Unverschämtheit!
Antrag, den Ihre Fraktion hier eingebracht hat, richtig
verstehe, gehen Sie dort von der Behauptung aus, daß
von der PDS über die SPD bis hin zum Bündnis 90/Die
Grünen alle Parteien an dieser Spendenaffäre beteiligt
sein sollen. Sonst macht dieser Antrag ja überhaupt kei-
nen Sinn. Sie stellen solche Behauptungen in den Raum.
Ich habe nur eine Erklärung für diesen Reinwaschver-
such des Kollegen Koppelin in der letzten Debatte des
Deutschen Bundestages zu diesem Thema zu finden ver-
sucht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Ströbele, es
gibt eine weitere Frage des Kollegen Westerwelle.
Dr. Wolfgang Schäuble
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6981
(C)
(D)
haben.
Sind Sie bereit,
Ihre eben aufgestellte Behauptung zurückzunehmen?
Sie haben ausdrücklich von Geldzahlungen an Hans-
Dietrich Genscher gesprochen.
Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß im
Antrag der Freien Demokratischen Partei überhaupt kei-
ne Behauptungen aufgestellt wurden, sondern lediglich
von Fragen die Rede ist, die beantwortet werden müs-
sen? Es ist ein Unterschied, ob man Fragen formuliert
oder Behauptungen aufstellt.
daß Sie sich ärgern, weil Sie nun zusammen mit der
CDU in dieser Affäre in einem Boot sitzen. Ich kann
aber nur zur Kenntnis nehmen, daß gestern in Ticker-
meldungen und heute im „Stern“ zu lesen ist, daß auch
Gelder in Richtung F.D.P. geflossen sein sollen. Das
wird man hier doch noch sagen dürfen. Oder darf die
ganze Bevölkerung darüber reden, nur wir im Deutschen
Bundestag nicht? Dieses müssen Sie doch einmal zur
Kenntnis nehmen.
Aber, Herr Kollege Westerwelle, ich bin sicher, daß wir
im Untersuchungsausschuß Gelegenheit haben, auch der
Frage nachzugehen, ob Gelder geflossen sind und, wenn
ja, warum, wohin, zu welchem Zweck und an wen.
Die Generalsekretärin der CDU, Frau Dr. Merkel, hat
in der letzten Debatte zu diesem Thema gemahnt, wir
sollten es mit der „gebührenden Wahrhaftigkeit“ behan-
deln. Frau Kollegin Merkel, Sie und Herr Kohl haben
sich an die Öffentlichkeit gewandt und erklärt, Sie hät-
ten die Kassen der CDU überprüft, dort sei kein Geld
angekommen, dort sei die Million nicht angekommen.
Zugleich steht in der Presse und wird von Ihren Ange-
stellten bestätigt, daß die Million zwar nicht angekom-
men, aber von der CDU-Spitze schon wieder ausgege-
ben worden sei, nämlich an ihre Angestellten: 370 000
DM an den einen und über 200 000 DM für Anwalts-
kosten an den ehemaligen Schatzmeister. Das müssen
Sie uns einmal erklären.
Erklären Sie uns nach der letzten Äußerung des Kol-
legen Kohl, daß er die Kassen geprüft habe und keinen
Eingang habe feststellen können, ferner einmal, ob er
denn auch die Kassen geprüft hat, die wir als schwarze
Kassen bezeichnen und von denen er wortschöpfend
sagt, das sei eine „von den üblichen Konten der Bundes-
schatzmeisterei praktizierte getrennte Kontenführung“!
So kann man versuchen, das zu umschreiben.
Aber es sind und bleiben schwarze Kassen, die man
anlegt, um zu verbergen, daß und woher man Geld be-
kommen hat, und um zu umgehen, daß das geschieht,
was im Parteiengesetz vorgeschrieben ist, daß man
nämlich das Geld deklariert und daß die Öffentlichkeit
und der Deutsche Bundestag davon erfahren und ihre
Kontrollrechte wahrnehmen können. Um diese Konten
geht es. Sind sie auch von Herrn Kohl überprüft wor-
den? Ist da auch festgestellt worden, daß 1 Million DM
nicht eingegangen ist? Herr Weyrauch sagt als Zeuge
– immerhin vor einem Richter – etwas anderes, und Ihr
ehemaliger Bundesschatzmeister Leisler Kiep sagt auch,
daß er diese 1 Million DM dort eingezahlt habe.
Sagen Sie doch einmal etwas Konkretes. Schwafeln Sie
nicht herum und erzählen Sie nicht immer wieder, Sie
würden die Wahrheit ans Licht bringen und helfen. Das
tun Sie gerade nicht.
Der Abgeordnete Kohl hat vor zwei Tagen erklärt,
daß er von der Existenz dieser Konten gewußt und sie
für richtig gehalten habe. Er hat hinzugefügt, daß er,
falls es sich um ein Vergehen gegen das Parteiengesetz
handele, das „nicht gewollt“ habe. Wie kann uns Herr
Kohl, der heute leider nicht hier ist, erklären, daß er
schwarze Konten geführt habe, daß auf diesen schwar-
zen Konten Gelder eingegangen seien, daß er davon ge-
wußt habe und daß er das Geld ausgegeben habe, aber
daß er nicht gewollt habe, daß das Parteiengesetz um-
gangen wird? Das paßt doch nicht zusammen. Wenn er
es gekannt und entsprechend gehandelt hat, dann hat er
es auch gewollt.
Wie kann er versuchen, uns und die Öffentlichkeit mit
solchen Haarspaltereien hinzuhalten? Die Wahrheit muß
hier auf den Tisch. Herumgerede reicht nicht.
Wir müssen jetzt Erklärungen Ihres damaligen Par-
teivorsitzenden sehr sorgfältig lesen. In dieser Erklärung
stand eben nicht, Entscheidungen der Bundesregierung
unter Leitung von Helmut Kohl seien niemals gekauft
worden. Vielmehr sagte er wörtlich, „von mir getroffene
politische Entscheidungen“ sollen nicht käuflich gewe-
sen sein. Läßt das bewußt offen, daß vielleicht Entschei-
dungen von anderen Mitgliedern der damaligen Bundes-
regierung käuflich gewesen sind?
6982 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Ich rede nicht nur von dem damaligen Staatssekretär
im Verteidigungsministerium, dem inzwischen interna-
tional mit Haftbefehl gesuchten Herrn Pfahls, sondern
ich rede auch von den anderen Mitgliedern der Bundes-
regierung, die an dem Panzergeschäft beteiligt gewesen
sind, weil sie ihm nach vorherigem Zögern und vorheri-
ger Ablehnung zugestimmt haben. Gilt diese Erklärung
auch für diese Damen und Herren, oder gilt sie nur für
Helmut Kohl? Dieser Frage werden wir nachgehen.
Verzeihen Sie, nach dem, was wir von seiten der
CDU und des Helmut Kohl in der Flick-Spendenaffäre
an unwürdigem Spiel mit der Wahrheit und mit der aus
dem Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenkenden For-
mulierung „Black out“ erlebt haben, können wir nicht
glauben, daß Helmut Kohl und die CDU-Spitze von
einem Koffer mit einer Million nichts gewußt haben,
ohne daß die ganze Wahrheit gesagt und nicht nur ver-
sichert wird, es seien keine Entscheidungen zu kaufen
gewesen. Immerhin hat der damalige Bundesschatzmei-
ster der CDU diesen Koffer in einem Einkaufszentrum
am Bodensee in Empfang genommen.
Es steht nicht gut um die CDU. Sie können jeden Tag
die Zeitung aufschlagen – man kommt mit dem Lesen
überhaupt nicht nach – und etwas Neues erfahren. Heute
finden Sie in der „Welt“ wieder umfassende Erklärun-
gen zu dem, was Sie, Herr Schäuble, hier zugegeben ha-
ben, nämlich daß Sie Herrn Schreiber getroffen und mit
ihm gesprochen haben. Das hat er selber in einem Inter-
view erklärt.
Ich bin sicher: Das wird nicht die letzte Veröffent-
lichung sein; das wird nicht das letzte sein, was über
Ihre Konten, ihren Verwendungszweck und ihre Herkunft
herauskommt. Wir werden täglich neue Meldungen lesen
können. Ich frage mich: Wie wollen Sie der Bevölkerung
noch verkaufen, daß diese mageren Erklärungen, die Sie
heute gegeben haben, die volle Wahrheit sind?
Wir haben in diesem Land vor 30 Jahren eine Rebel-
lion der Jugend, vor allen Dingen der studentischen Ju-
gend, gegen die Verlogenheit und gegen das Verdrängen
von Wahrheiten des damaligen Establishments und der
damals herrschenden politischen Klasse gehabt. Wir fin-
den heute bei den Wählerinnen und Wählern einen Poli-
tikverdruß vor, der sich durch die Weigerung, an
Wahlen teilzunehmen, politische Veranstaltungen zu be-
suchen und sich politisch zu artikulieren und zu engagie-
ren, deutlich zeigt.
Sie tun alles, um diesen Frust der Bevölkerung, vor
allem den der Jungen, zu schüren, weil Sie ein gebro-
chenes Verhältnis zur Wahrheit haben.
Von Ihnen und den Funktionsträgern Ihrer Partei wird
immer nur gerade soviel zugegeben, wie ohnehin schon
bekannt ist, wie von der Staatsanwaltschaft schon er-
mittelt worden ist oder wie von Ihrem Dissidenten,
Herrn Geißler, schon durch Veröffentlichung in der
Zeitung bekanntgemacht worden ist. Nur das, aber nicht
die ganze Wahrheit wird zugegeben. So etwas erlebe ich
sonst nur – wenige Kilometer von hier entfernt – vor
dem Kriminalgericht in Moabit, vor dem sich kleine
Ganoven herausreden wollen.
Ich sage Ihnen: Wenn sich bewahrheiten sollte, daß
für die Entscheidung des Bundessicherheitsrates und
der Kohl-Regierung über den Verkauf der 36 Fuchs-
Panzer an Saudi-Arabien Millionenbeträge an Regie-
rungsmitglieder und an die CDU gezahlt wurden, dann
steht es ganz besonders schlecht um die CDU. Wenn
sich dann noch bewahrheiten sollte – in diesem Punkt
ermitteln die französischen Behörden, die in ihren Er-
mittlungen durch den Einbruch in das Büro der zustän-
digen Richterin und durch den Diebstahl eines großen
Teils der Akten behindert werden –, wenn dann noch
herauskommt, daß für den Verkauf von Minol und
Leuna an Elf Aquitaine Millionenbeträge auch an die
CDU geflossen sind, dann droht der CDU Deutschlands
das Schicksal ihrer Schwesterpartei in Italien.
Wenn Sie wirklich eine schnelle und schonungslose
Aufklärung – ohne Rücksicht auf das Ansehen von Per-
sonen – wollen und eine Staatskrise verhindern wollen,
dann sollte jeder, der Verantwortung getragen hat, vor
dem Deutschen Bundestag der deutschen Bevölkerung
mitteilen, was gewesen ist. Sagen Sie bei dieser Gele-
genheit aber alles! Äußern Sie sich auch zu den Fragen,
ob die schwarzen Konten aus Immobiliengeschäften ge-
füttert worden sind und ob es auch im Norden Deutsch-
lands Waffendeals gegeben hat! Legen Sie die Fakten
besser heute auf den Tisch, als daß sie übermorgen oder
nächste Woche in der Zeitung stehen!
Wenn Sie wirklich wollen, daß es nicht zu einer
Staatskrise kommt – wenn sich alles bewahrheiten
sollte, was heute über Korruptheit, Verflechtungen,
Schmiergeldzahlungen und Käuflichkeit bezüglich der
CDU und jetzt auch der F.D.P. in der Zeitung steht,
dann kommt es in der Tat zu einer Staatskrise –, dann
befreien Sie – und geben das zu Protkoll dieser heutigen
Bundestagssitzung – Ihren Steuerberater von der
Schweigepflicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Strö-
bele, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
rungsfähigkeit und um die Glaubwürdigkeit der Politik
Hans-Christian Ströbele
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6983
(C)
(D)
in diesem Lande, in Deutschland. Wenn es uns nicht ge-
lingt, hier im Bundestag und im Untersuchungsausschuß
vollständig Klarheit zu schaffen, dann hat diese Repu-
blik durch Ihre Praktiken für immer einen Schaden er-
litten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Kollege Ströbele, Sie haben
mit Ihren haltlosen und unbewiesenen Behauptungen
und Unterstellungen gezeigt, daß Sie ganz offensichtlich
die Unschuldsvermutung des Rechtsstaates nicht ken-
nen.
Ich hoffe, daß nach Ihrer skandalösen Rede die Grünen,
die Sie vorgeschickt haben, nie wieder behaupten wer-
den, eine Rechtsstaatspartei zu sein.
Die F.D.P.-Fraktion sagt ein eindeutiges Ja zu dem
Untersuchungsausschuß. Wir sind für eine umfassende
Aufklärung und stehen zu der Verpflichtung des
Grundgesetzes, das in Art. 21 vorschreibt, daß Parteien
über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie
über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft ablegen
müssen. Schwarze Kassen sind damit ausgeschlossen,
und dies aus gutem Grunde. Für den Bürger muß näm-
lich nachvollziehbar sein, wer finanziellen Einfluß auf
die Parteien und ihre Funktionsträger hat, die in der
Politik entscheiden.
Aber nur, wenn von vornherein klar ist, daß mit völ-
liger Offenheit aufgeklärt wird, werden wir den für die
Politik bereits eingetretenen Schaden begrenzen können.
Diese Offenheit sage ich für meine Fraktion und für
meine Partei zu.
Wir haben eine Erweiterung des Untersuchungs-
auftrages auf alle im Bundestag vertretenen Parteien
beantragt, um von vornherein zu verdeutlichen, daß es
keine Untersuchungshürden geben darf. Es hat mich
außerordentlich geärgert, daß es im Vorfeld nicht gelun-
gen ist, zu einer einvernehmlichen Formulierung des
Untersuchungsauftrages zu kommen, was bisher nahezu
immer gelungen ist. Um so mehr freue ich mich über die
Unterstützung unseres Antrages durch die anderen
Oppositionsfraktionen.
Den Widerstand der Koalition kann ich mir nicht er-
klären. Wer nichts zu verbergen hat, muß doch für eine
völlige Offenheit sein!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege van
Essen, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Ströbele?
Nein. – Es darf keine
Auslegungstricks geben, ob die damaligen Oppositions-
fraktionen zu den sonstigen Institutionen gehören, wie
sie der Antrag von SPD und Grünen aufführt. Man kann
nämlich mit gutem Grund der Auffassung sein, daß die
Beschränkung auf die damaligen Regierungsparteien
und -fraktionen
den Untersuchungsauftrag im Bereich der organisierten
Staatlichkeit, also Regierung und Parlament, ausdrück-
lich begrenzt.
Wie notwendig eine völlige Freiheit der Untersu-
chung ist, zeigt das Interview des Waffenhändlers
Schreiber im „Stern“.
– Hören Sie doch einmal zu. – Wenn er dort zu erkennen
gibt, daß er sich nicht nur eine gute Regierung, sondern
auch eine gute Opposition wünscht, und das dann durch
die Zahlung eines namhaften Geldbetrages unterstreicht,
dann macht das deutlich, daß er offensichtlich die ge-
samte politische Landschaft pflegen wollte, wie das im-
mer so verharmlosend heißt.
Der vom „Spiegel“ abgedruckte Vermerk des damali-
gen Verteidigungsstaatssekretärs Pfahls, nach dem das
Interesse an der Lieferung der „Spürfüchse“ aus der
Mitte des Parlaments und damit des gesamten Bundesta-
ges kam, macht deutlich, daß hier eine Beschränkung
auf die damaligen Regierungsfraktionen nicht erfolgt ist.
Auch das kann nicht wegdiskutiert werden.
Wir freuen uns, daß auch der Druck der F.D.P. dazu
beigetragen hat,
daß wir zu einer verfassungsgemäßen Größe des Aus-
schusses kommen. Es war doch geradezu schäbig – und
kein Nebenkriegsschauplatz, wie es der Kollege Hof-
mann uns hier weismachen wollte –, daß der größten
Oppositionsfraktion nur drei Sitze zugestanden werden
Hans-Christian Ströbele
6984 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
sollten. Mit der nun gefundenen Größe ist nämlich
sichergestellt, daß auch die Opposition die Unter-
suchungsmaterie auf eine ausreichende Zahl von Be-
richterstattern verteilen kann. Das wird zu einer Be-
schleunigung der Untersuchung führen, an der wir sehr
interessiert sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege van Es-
sen, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, erneut nicht. Nach
der skandalösen Rede von Herrn Ströbele gebe ich ihm
keine Gelegenheit zu einer Zwischenfrage.
Je schneller wir nämlich zu Ergebnissen kommen,
desto hilfreicher ist es für uns alle und für das Ansehen
der Politik.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird mit Max Stadler
und Hildebrecht Braun zwei in der Untersuchungsarbeit
erfahrene Kollegen als Mitglied und Stellvertreter in den
Ausschuß entsenden, um eine ergebnisorientierte und
zügige Arbeit zu sichern. Wir wollen, daß der Ausschuß
möglichst schnell seine Arbeit aufnimmt, und werden in
ihm konstruktiv mitarbeiten.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
PDS spricht jetzt die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Anlaß, der uns den heu-
tigen Tagesordnungspunkt 5 beschert hat, ist besonders
unerfreulich, da er mit Unregelmäßigkeiten bei der
Parteienfinanzierung zusammenhängt. Seien Sie sich
sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß wir der Ein-
setzung dieses Ausschusses weder mit Schadenfreude
noch mit Genugtuung zustimmen! Dazu ist die Thematik
viel zu ernst, und zwar sowohl für das Ansehen des
Bundestages als auch für das Ansehen aller in ihm ver-
tretenen Parteien und auch für die Glaubwürdigkeit der
Politik.
Wir halten die kurzfristige Einsetzung des von der
Regierungskoalition beantragten Untersuchungsaus-
schusses für dringend geboten. Die bisherigen Äußerun-
gen zur Spendenpraxis der CDU haben mehr Fragen
aufgeworfen als Antworten gegeben. Es ist unmöglich,
das gesamte Fragenspektrum an dieser Stelle aufzuli-
sten. Im Kern geht es darum, das Spendenaufkommen
im Rahmen des Untersuchungsauftrages, insbesondere
im Zusammenhang mit den unter Ziffer II des Einset-
zungsantrages genannten Geschäften und Verkäufen, zu
ermitteln. Auf dieser Grundlage muß dann festgestellt
werden, ob und, wenn ja, in welchem Umfang materielle
Zuwendungen unter Verstoß gegen das Parteiengesetz
verwaltet und verwendet wurden. Schließlich stellt sich
die komplizierteste Frage: ob mit solchen Spenden auf
die politische Willensbildung Einfluß genommen wer-
den sollte und schlußendlich auch Einfluß genommen
wurde.
Nebenbei gesagt: Ich weiß nicht, was die CDU gerit-
ten hat, die jüngste Pressekonferenz mit dem Slogan
„Mitten im Leben“ im Rücken durchzuführen.
Ich bin mir sicher, daß die Mehrzahl der Bundesbürge-
rinnen und -bürger nicht über solche von Herrn Dr. Kohl
eingeräumten inoffiziellen Konten verfügt. Hier ist drin-
gend eine systematische parlamentarische Klärung der
zugrundeliegenden Sachverhalte notwendig.
Die Reihenfolge kann für uns aber nur sein: erstens
Klärung des Sachverhalts durch umfassende Beweiser-
hebung, zweitens rechtliche und politische Würdigung
des erhobenen Beweismaterials und drittens gegebenen-
falls Unterbreitung von Empfehlungen für das weitere
Vorgehen. Nach Beendigung der Arbeit des Untersu-
chungsausschusses wird das Plenum vor der Aufgabe
stehen, grundsätzlich über gesetzgeberische Konsequen-
zen in der Parteienfinanzierung nachzudenken.
Wir werden nicht Gleiches mit Gleichem vergelten,
auch wenn die CDU in der Vergangenheit mit der PDS
nicht immer fair umgegangen ist. Das ist nicht meine
Maxime und auch nicht die meiner Fraktion in diesem
Untersuchungsausschuß.
Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht nicht um
falsche Rücksichtnahme. Auch in diesem Ausschuß wird
zu Recht niemandem etwas geschenkt werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Entschuldigung, Frau
Kollegin Kenzler, für die Unterbrechung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da mir jetzt mehr-
fach signalisiert worden ist, daß es ziemliche akustische
Probleme gibt,
möchte ich Ihnen versichern, daß ich das mehrfach nach
hinten weitergegeben habe. Es wird daran gearbeitet. Ich
bitte Sie aber auch im Interesse der Rednerin, dieser Re-
de mit etwas mehr Ruhe zu folgen.
Das gleiche gilt für die folgenden Reden vor der na-
mentlichen Abstimmung.
Ich danke Ihnen; Entschuldigung, Frau Kollegin
Kenzler.
Trotz harter Auseinan-
dersetzungen bei der Aufklärung der aufgeworfenen
Fragen und Unklarheiten dürfen jedoch nicht Sachlich-
keit und Fairneß auf der Strecke bleiben.
Jörg van Essen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6985
(C)
(D)
Unsere grundsätzliche Zustimmung zum Einset-
zungsantrag hatte ich bereits signalisiert. Was den An-
trag der Regierungsfraktionen zur Entbindung von der
Schweigepflicht betrifft, so sollte dieser an den Unter-
suchungsausschuß überwiesen werden, da er das Proce-
dere betrifft. Die Entbindung von der Schweigepflicht
sehe ich als Selbstverständlichkeit im Interesse einer
schnellstmöglichen Wahrheitsfindung an.
Auch dem Änderungsantrag der F.D.P.-Fraktion wer-
den wir uns nicht verschließen. Wir haben keinen
Grund, diesen Antrag abzulehnen, auch wenn die Be-
gründung nur sehr vage Anhaltspunkte für etwaige
Spendenunregelmäßigkeiten bei den damaligen Opposi-
tionsparteien enthält.
Bemerkenswert ist, daß die Regierungsparteien Ein-
sicht gezeigt haben und der Streit um die Ausschußgrö-
ße beigelegt werden konnte.
Auf eines möchte ich abschließend noch hinweisen.
Auch wenn die konkrete Prüfung von etwaigen Rechts-
verstößen auf einfachgesetzlicher Grundlage, insbeson-
dere des Parteiengesetzes, erfolgen muß, geht es hier
keinesfalls nur um die Einhaltung von Rechtsformalien
oder um innerparteiliche Entscheidungsstrukturen. Das
Gebot der Transparenz der Parteienfinanzierung hat
Verfassungsrang. Die Parteien müssen gemäß Art. 21
des Grundgesetzes „über die Herkunft und Verwendung
ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechen-
schaft geben“. Es geht also um nichts Geringeres als die
Verfassung, auf deren Einhaltung der Bundeskanzler
feierlich vereidigt wurde. Diesem Artikel liegt die Er-
wägung zugrunde,
daß die politische Willensbildung innerhalb einer
Partei von Personen oder Organisationen erheblich
beeinflußt werden kann, die den Parteien in größe-
rem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung stel-
len. Eine derartige Verflechtung von politischen
und wirtschaftlichen Interessen soll offengelegt
werden.
Das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner be-
kannten Entscheidung zur Parteienfinanzierung aus-
drücklich betont.
Damit zeigt sich einmal mehr auch an diesem Bei-
spiel, daß das Recht immer Form eines bestimmten In-
halts ist und unsere Untersuchungen nicht einfach nur
etwaige formale Rechtsverstöße zum Inhalt haben, son-
dern die Einhaltung eines wichtigen Verfassungsgrund-
satzes auf dem Prüfstand steht. Das sollten wir deshalb
auch bei zukünftigen Auseinandersetzungen nicht aus
dem Auge verlieren.
Ich danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Ta-
gen werden Erinnerungen wach, Erinnerungen an den
Flick-Skandal Anfang der 80er Jahre und Erinnerungen
an die mittlerweile sprichwörtlichen Blackouts des da-
maligen Bundeskanzlers und an einen vorbestraften
Bundesminister. Der Flick-Skandal hat Auswirkungen
gehabt. 1984 wurde unter dem Eindruck der Affäre das
Verfahren der Parteienfinanzierung neu geregelt. Ziel
war, mehr Transparenz einzuführen, um so das Vertrau-
en der Öffentlichkeit in das Parteiensystem wiederher-
zustellen.
Das seither geltende Drei-Säulen-System ist ein
sinnvolles und gutes System. Die Finanzierung von
Parteien durch Mitgliedsbeiträge, staatliche Zuwendun-
gen und Spenden verhindert oder bietet zumindest eine
gewisse Sicherheit – seit den letzten Tagen kann man
sich da nicht mehr sicher sein –, daß Parteien nicht von
wirtschaftlichen Interessen abhängig werden.
Als Juristin weiß ich, daß jeder so lange als unschul-
dig gilt, bis seine Schuld voll und ganz erwiesen ist.
Dies gilt auch und ganz besonders für den Untersu-
chungsausschuß. Keine Vorverurteilung, keine Vorwür-
fe, die nicht auf Fakten beruhen! Und dennoch: Was be-
reits jetzt an Fakten bekannt ist, kann einen schon er-
schüttern.
Also ehrlich, meine Damen und Herren: Die Geschichte
mit dem in der Schweiz übergebenen Koffer mit einer
Million DM wäre jedem Krimiautor zu banal. Aber of-
fensichtlich ist nichts so banal wie das richtige Leben.
Von wem stammt diese Million? Wer wußte davon?
Wirklich nur Herr Kiep? Oder hatten, wie wir heute le-
sen konnten, auch die Herren Schäuble und Rühe zu-
mindest Kontakt zum Kofferträger Schreiber? Wo ist
das Geld geblieben? Hat es jemals Eingang in die Re-
chenschaftsberichte gefunden, und, wenn ja, warum ist
es dann nicht wie üblich überwiesen worden? Wieweit
sind solche Zahlungen geeignet, politische Entscheidun-
gen zu beeinflussen?
Bisher haben Sie von der CDU nicht sonderlich zur
Aufklärung all dieser Fragen beigetragen. Helmut Kohl
hat nur das bestätigt, was bereits bekannt war. Was ich
gehört habe, hatte fast schon eine tragische Dimension:
Da erklärt ein gewesener Bundeskanzler, daß er sich
über demokratische Gebote wie die Transparenz der
Parteienfinanzierung hinwegsetzt, weil er das für seine
Partei für notwendig hält. Was ist das für ein Demokra-
tieverständnis, muß ich Sie da fragen.
Haben Sie und insbesondere Herr Kohl wirklich
nichts aus der Flick-Affäre gelernt? Ist Ihnen das Ver-
trauen der Menschen in die Parteiendemokratie wirklich
so wenig wert? Herr Kohl hat den Grundsatz der Klar-
Dr. Evelyn Kenzler
6986 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
heit der Parteienfinanzierung mit Füßen getreten und für
unsere Demokratie kaum wiedergutzumachenden Scha-
den angerichtet.
Welches Bild entsteht bei den Bürgerinnen und Bürgern,
insbesondere bei jungen Menschen, wenn man den Ein-
druck hat, daß Gesetze verletzt, zumindest aber umgan-
gen werden können, weil der Betroffene glaubt, es gebe
dafür eine höhere Legitimation? Jeder Politiker – ganz
besonders ein Bundeskanzler, wie Herr Kohl es damals
war – muß die Demokratie wahren und sich an Recht
und Gesetz halten. Da gibt es keine Sonderrechte. Das
muß ganz klar sein.
Herr Kohl wird vom Olymp der Geschichte herabsteigen
und uns, den Mitgliedern im Untersuchungsausschuß,
Rede und Antwort stehen müssen – nach Recht und Ge-
setz.
Die Kollegin Merkel und der Kollege Schäuble ver-
suchen nun, den Eindruck zu erwecken, als hätten sie,
als hätte die neue CDU mit all dem nichts zu tun; glei-
ches gilt für Herrn Rühe. Gleichzeitig konnten wir aber
lesen, daß die Gehälter für CDU-Politiker von diesen
Ander-/Sonderkonten gezahlt wurden. Da frage ich
mich, ob der Herr Rühe nicht einmal auf seinem Bank-
konto nachschaut, von welchem Konto denn sein Gehalt
kommt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU-
Fraktion, der Rücktritt von Helmut Kohl als Parteivor-
sitzender war erst vor knapp einem Jahr. Jetzt werden
wir feststellen müssen, was in dieser kurzen Zeit alles
am Finanzgebaren der CDU geändert wurde. Wir wer-
den auch herausfinden, ob politische Entscheidungen
von finanziellen Zuwendungen abhängig gemacht wur-
den. Schließlich werden wir Licht in die Affäre um den
Mineralölkonzern Elf Aquitaine, einen der größten Mi-
neralölkonzerne der Welt, den Herr Schäuble angeblich
nicht einmal kennt, bringen.
Auf der Pressekonferenz der CDU am Dienstag war
von Helmut Kohl ein bemerkenswerter Satz zu hören. Er
erklärte wörtlich – das möchte ich zitieren –:
… dass für mich in meinem gesamten politischen
Leben persönliches Vertrauen wichtiger als rein
formale Überprüfung war und ist.
Da stellt sich jetzt die Frage, zu wem Helmut Kohl denn
Vertrauen hatte, wenn angeblich weder der damalige
Parteivorstand noch der Generalsekretär Rühe, noch der
heutige Vorsitzende der CDU von diesem Vorgehen
Kenntnis hatten.
Zu wem hat er denn dann dieses Vertrauen gehabt? Zu
Ihnen offensichtlich nicht, Herr Schäuble.
Mir würde es schon zu denken geben, wenn Ihr Ehren-
vorsitzender zu Waffenhändlern und Finanzjongleuren
Vertrauen hat, zu Ihnen aber nicht.
Meine Damen und Herren, mir klingen noch die Re-
debeiträge und Zwischenrufe vom 10. November dieses
Jahres im Ohr, als dieses Thema auf Antrag meiner
Fraktion in einer Aktuellen Stunde behandelt wurde.
Das ist gerade einmal drei Wochen her. Frau Merkel hat
erklärt, daß sich der Bundestag mit den CDU-Finanzen
beschäftige, sei – jetzt zitiere ich wörtlich – „Psycho-
gramm für den wirklich erbärmlichen Zustand der Re-
gierungsfraktionen“
und wir würden das Thema nur absichtlich aufbauschen.
Frau Kollegin Merkel, ich glaube, angesichts der mitt-
lerweile offen liegenden Sachverhalte wäre eine Ent-
schuldigung angebracht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lam-
brecht, Sie müssen zum Schluß kommen.
Der Ausschuß wird
die Vorgänge lückenlos aufklären und die entsprechend
Schuldigen benennen – ohne Ansehen der Person, ohne
Ansehen ihrer gesellschaftlichen Stellung und ohne An-
sehen ihrer Parteizugehörigkeit. Das sind wir nämlich
der Öffentlichkeit und der Demokratie schuldig.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Gerd Höfer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich war noch so in die Rede meiner Vorredne-
Christine Lambrecht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6987
(C)
(D)
rin vertieft, daß ich gar nicht mitbekommen habe, daß
ich jetzt reden kann.
– Herr Dr. Schäuble, Sie werden froh gewesen sein, daß
sie endlich aufgehört hat; denn das, was sie gesagt hat,
war nicht ganz ohne.
Da ich bestimmte Dinge weiß, will ich versuchen, in
dem kurzen Redebeitrag, den ich zu leisten habe, den
Konjunktiv zu vermeiden. Selbst der Konjunktiv sorgt
schon auf der rechten Seite des Hauses für Aufregung.
Herr van Essen, es hat mich wirklich geärgert, daß sie
versucht haben, an Hand von Sekundärliteratur Beweise
zu zimmern, obwohl doch der Kollege vor Ihnen nur den
Konjunktiv gebraucht hat. Er sagte: Das könnte viel-
leicht sein; oder: Das hätte sein können.
Das hat zu einer Aufregung geführt, die sonst nicht üb-
lich ist.
Ich will mich nicht auf Sekundärliteratur beziehen.
Ich weiß auch nicht so genau, ob das, was geäußert wur-
de, auch in der „Welt“ von heute, in einem Interview mit
Herrn Schreiber, noch bestandsfest ist, wenn wir ihn –
ich hoffe, möglichst bald; wir werden hoffentlich nicht
bis zum Jahr 2003 warten müssen, also bis alles verjährt
ist – hören werden. Ich gehe einmal auf das ein, was
man schon heute handfest nachweisen kann.
Ich frage mich, wie es möglich ist, daß es zu einem
Geschäftsabschluß über den Spürpanzer Fuchs in
Höhe von 440 Millionen DM kommen konnte. Ich habe
mir erlaubt, einmal nachzufragen, was ein solcher Pan-
zer 1991 gekostet hat. Bei einer Auftragssumme von
440 Millionen DM und einer Anzahl von 36 Panzern
– damit das Bild plastisch wird, möchte ich einmal pri-
mitiv vorgehen –, müßte ein Panzer über 10 Millionen
DM gekostet haben. Man hätte damals eigentlich wissen
müssen, daß er keine 10 Millionen DM kostet. Die klei-
ne Ausführung dieses Panzers, also der Standardpanzer,
hat damals etwa 1,1 Millionen DM gekostet. Die Luxus-
ausführung des Fuchs, der ABC-Fuchs, der Spürfuchs,
hat um die 2,2 Millionen DM gekostet. Wenn man das
mit 36 multipliziert, muß man doch fragen, wo der Rest
des Geldes geblieben ist.
Offen ist die Frage, ob das Geld in einem System ver-
schwunden ist; denn einer allein wird diese Masse Geld
wohl nicht bekommen haben. Die Fragen, ob es ein sol-
ches System gegeben hat, ob dieses System mit Namen
belegt werden kann, mit einem oder auch mit mehreren,
werden sich hoffentlich klären lassen, wenn wir durch
den Untersuchungsausschuß, wird er endlich eingesetzt,
bestandskräftige Beweise bekommen. Man wird auch
klären müssen, ob noch heute führende Unionspolitiker,
aber auch F.D.P.-Politiker unter den Namen sind, die in
diesem Zusammenhang auftauchen werden. Welche
Rolle hat das Nichtwissen gespielt? Nichtwissen kann
nämlich auch zu Duldung führen. Auch diese Frage ist
zu klären.
Von daher bin ich froh, daß wir nun von der Sekun-
därliteratur wegkommen und endlich zu dem kommen,
was wir hören und auch beweisen können. Es kann doch
nicht sein, daß ein Geschäft abgeschlossen wird, daß al-
so jemand ein Angebot zu überhöhten Preisen macht,
weil er weiß, daß er davon etwas abzweigen kann. Des-
halb stellt sich nicht nur die Frage, ob Politik käuflich
ist, sondern auch, ob Politik solche Systeme ermöglicht
und duldet, wo solche Preisvorstellungen zustande
kommen.
Das müssen Sie sich fragen lassen.
Dazu gehört ein Apparat; ohne Apparat geht es nicht.
Diese Frage berührt mich insbesondere, weil ich als
Mitglied des Verteidigungsausschusses weiß, wie
schwierig manche Dinge zu „handlen“ sind. Aber das
sollte offen geschehen. Es sollte nicht dazu führen, daß
man sich daran noch bereichert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Rainer Wend, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Die Schlagzeile der
„Bild“-Zeitung vom 1. Dezember 1999 – wann kann ein
Sozialdemokrat schon mal mit einem gewissen Vergnü-
gen eine Schlagzeile der „Bild“-Zeitung zitieren? – lau-
tete wie folgt:
Kohls schwerer Gang. Schwarze CDU-Kassen. Er
gibt alles zu.
„Kohls schwerer Gang“ mag stimmen, „schwarze CDU-
Kassen“ dürfte mit Sicherheit stimmen. Ich kann aber
bedauerlicherweise noch nicht erkennen, daß Herr Alt-
kanzler Kohl bereits alles zugegeben hat.
Mir stellen sich nämlich nach wie vor folgende Fragen:
Wie viele der zugegebenen Schwarzkonten hat es ge-
geben? Um wieviel Geld geht es bei den verdeckten
Spenden? Wie viele Millionen wurden auf wie viele
Schwarzkonten eingezahlt? Wer waren die Spender?
Wofür wurden die Spenden verwendet? Vor allem aber,
meine Damen und Herren von der CDU: Wer wußte in
Ihrer Partei von den Methoden der Parteienfinanzierung
außer Altkanzler Kohl? Generalsekretär Geißler schien
Bescheid gewußt zu haben. Erwarten Sie, daß wir glau-
Gerd Höfer
6988 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
ben, daß sein Nachfolger als Generalsekretär, Herr Rü-
he, von gar nichts wußte?
War er denn – im Gegensatz zu seinem Vorgänger
Geißler – der depperte Generalsekretär, der keine Ah-
nung von gar nichts hatte? War er Ihr General, oder war
er Ihr Sekretär, meine Damen und Herren? Diese Frage
werden Sie auch beantworten müssen.
Vor allem aber: Warum um alles in der Welt, Herr
Schäuble, wurden die Spenden nicht auf ein normales
CDU-Konto eingezahlt? War es deshalb, weil die Spen-
der anonym bleiben wollten? Wenn ja, warum wollten
Sie anonym bleiben? Kohl hat gesagt, er habe nur im
Interesse der CDU handeln wollen. Warum, Herr
Schäuble, war es im Interesse der CDU, daß die Spender
anonym blieben?
Warum war es im Interesse der CDU, daß die Verwen-
dung der Spenden an den demokratisch gewählten Gre-
mien der CDU vorbeilief? Bei all dem drängt sich die
entscheidende Frage auf: Sollten die Spenden dazu die-
nen, politische Entscheidungen zu beeinflussen?
Meine Damen und Herren, was ist Bestechung? Ein-
fach stellen wir uns das wie folgt vor: Ein Geldlieferer
spendet die Summe x und verlangt, daß die Regierung
die Handlung y dafür vollzieht. Auf deutsch: Schreiber
gibt Millionen, die Bundesregierung liefert Panzer.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, daß es
nicht so gewesen ist, daß es keine Einflußnahme in die-
ser direkten Form gab. Aufgrund der dubiosen Umstän-
de – Herr Schäuble, das haben Sie eben selber einge-
räumt – muß allerdings auch diese Frage im Unter-
suchungsausschuß geklärt werden.
Meine Sorge ist – darauf möchte ich eine Minute
verwenden – ein wenig tiefer gehend. Ich zitiere aus der
„Berliner Zeitung“ vom 30. November 1999:
Der Begriff „anfüttern“ stammt aus der Sprache der
Mafia und bedeutet, einem Beamten oder Amts-
träger so lange kleine Geschenke ohne Verlangen
einer Gegenleistung zu machen, bis der Beschenkte
die Gegenleistung auch ohne Verlangen gewährt.
Es handelt sich im weitesten Sinn um die Pflege der
politischen Landschaft, um die sich Teile der deut-
schen Wirtschaft
– wie es ironisch heißt –
nicht erst seit der Flick-Affaire unbestreitbare Ver-
dienste erworben haben.
Wurde also, meine Damen und Herren, durch Zah-
lungen an die CDU auf Schwarzkonten, die den Spender
und die Verwendung der Spenden im unklaren ließen,
ein Klima geschaffen, in dem zwangsläufig politische
Entscheidungen im Interesse der Geldgeber getroffen
wurden, ohne daß dieses von diesen Geldgebern immer
direkt und ausdrücklich verlangt wurde?
Je sicherer der Geldgeber weiß, daß er anonym bleibt,
je sicherer der Empfänger weiß, daß er beim Empfang
und bei Verwendung der Gelder nicht kontrolliert wird,
um so eher entsteht ein Klima der wechselseitigen Vor-
teilsnahme, der wechselseitigen Beeinflussung und der
wechselseitigen Inanspruchnahme. Deshalb muß der
Untersuchungsausschuß prüfen, ob das System Kohl in
diesem Sinne zur politischen Korruption geführt hat,
meine Damen und Herren.
Altbundeskanzler Kohl hat folgenden Amtseid gelei-
stet:
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren,
Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die
Gesetze des Bundes wahren und verteidigen …
werde.
Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet:
Sie
– nämlich die politischen Parteien –
müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer
Mittel … öffentlich Rechenschaft geben.
Ich frage: Wurde durch die Schwarzkonten der CDU,
die Herkunft und Verwendung von Spendengeldern ver-
schleiert haben, nicht gegen das Grundgesetz verstoßen?
Ich frage weiter: Hat Altbundeskanzler Kohl dann nicht
gegen seinen Amtseid verstoßen?
Meine Damen und Herren von der Union, ich glaube,
wir stehen heute erst am Anfang der Aufklärung einer
Affäre. Sie haben die Pflicht und die Schuldigkeit, hier-
an mitzuwirken. Helfen Sie dabei, diese aufzuklären!
Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht! Entbinden Sie
Ihren Wirtschaftsprüfer Weyrauch von der Schweige-
pflicht, damit wir endlich weiterkommen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Es wird
getrennte Abstimmung gewünscht.
Wir stimmen zunächst über den ersten Absatz des
Antrages auf Drucksache 14/2139 mit der soeben in der
Debatte vom Kollegen Frank Hofmann vorgetragenen
Änderung ab, daß der Ausschuß 15 Mitglieder, nach
Schepers zusammengesetzt, haben soll. Der Änderungs-
antrag der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 14/2232
ist damit gegenstandslos. Wer stimmt für den ersten Ab-
satz des Antrages auf Drucksache 14/2139 in dieser Fas-
sung? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? –
Der erste Absatz ist damit einstimmig angenommen.
Dr. Rainer Wend
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6989
(C)
(D)
Wir stimmen jetzt über den Abschnitt I des Antrages
auf Drucksache 14/2139 ab. Dieser Abschnitt betrifft die
Festlegung des Untersuchungsauftrages. Hierzu liegt ein
Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Druck-
sache 14/2247 vor. Die Fraktion der F.D.P. verlangt
namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu-
nehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer mit der Auszählung
zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der na-
mentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie
höflichst darum, Ihre Plätze wieder einzunehmen. Da
wir im folgenden noch vier weitere Abstimmun-
gen vom Platz aus durchführen, möchte ich gern
eine Übersicht über das Abstimmungsverhalten be-
kommen.
Ich gebe zunächst das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung über den Änderungsantrag der
Fraktion der F.D.P. zu Abschnitt I des Antrages auf
Drucksache 14/2139 bekannt: Abgegebene Stimmen
571. Mit Ja haben gestimmt 274, mit Nein haben ge-
stimmt 297.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 571;
davon:
ja: 275
nein: 296
Ja
SPD
Reinhold Strobl
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Friedrich Bohl
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Hartmut Büttner
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens
Peter H. Carstensen
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Manfred Grund
Horst Günther
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt
Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Steffen Kampeter
Manfred Kanther
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link
Wolfgang Lohmann
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Christa Reichard
Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt Rossmanith
Adolf Roth
Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt
Andreas Schmidt
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-
Schilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Rudolf Seiters
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Vizepräsidentin Petra Bläss
6990 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Michael Stübgen
Dr. Rita Süssmuth
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Gert Willner
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
F.D.P.
Hildebrecht Braun
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Gisela Frick
Horst Friedrich
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Petra Bläss
Maritta Böttcher
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann-Kasten
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Manfred Müller
Kersten Naumann
Christine Ostrowski
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Nein
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Lothar Binding
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter Bruckmann
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich
Harald Friese
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Wolfgang Grotthaus
Karl Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Dieter Maaß
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer
Michael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Andreas Pflug
Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Vizepräsidentin Petra Bläss
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6991
(C)
(D)
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth
Birgit Roth
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Horst Schild
Horst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
Volkmar Schultz
Ilse Schumann
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dr. Angelica Schwall-Düren
Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Dr. Cornelie Sonntag-
Wolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Hans-Joachim Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie Wright
Uta Zapf
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika Beer
Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Klaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Antje Vollmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete(r)
Adam, Ulrich, CDU/CSU Behrendt, Wolfgang, SPD Dr. Böhmer, Maria, Bühler , Klaus,
Dr. Hornhues, Jäger, Renate, SPD CDU/CSU CDU/CSU
CDU/CSU Lintner, Eduard, CDU/CSU Lörcher, Christa, SPD Lotz, Erika, SPD
Dr. Lucyga, Christine, SPD Maaß , Neumann (Gotha), Schloten, Dieter, SPD
Schmitz , Erich, CDU/CSU Gerhard, SPD von Schmude, Michael,
Hans Peter, CDU/CSU Schütz , Siebert, Bernd, CDU/CSU CDU/CSU
Zierer, Benno, CDU/CSU Dietmar, SPD
Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über Abschnitt I des Antrags auf
Drucksache 14/2139 in der dort vorgesehenen Fassung
ab. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Abschnitt I ist bei Enthaltung der
F.D.P.-Fraktion angenommen.
Wir stimmen jetzt noch über die Abschnitte II bis IV
des Antrages auf Drucksache 14/2139 ab. Wer stimmt
dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Abschnitte II bis IV sind einstimmig angenommen.
Damit ist der Antrag auf Drucksache 14/2139 insge-
samt angenommen.
Ich stelle damit fest, daß der Untersuchungsausschuß
gemäß Art. 44 Abs. 1 des Grundgesetzes eingesetzt ist.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 14/2236 zur Entbindung von der Schweige-
pflicht gegenüber dem Untersuchungsausschuß. Die
Fraktion der CDU/CSU wünscht Überweisung an den
soeben eingesetzten Untersuchungsausschuß. Die Koa-
litionsfraktionen wünschen Abstimmung in der Sache.
Nach ständiger Übung geht der Antrag auf Ausschuß-
überweisung vor. Wer stimmt für die von der CDU/CSU
beantragte Ausschußüberweisung? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Antrag auf Ausschußüber-
Vizepräsidentin Petra Bläss
6992 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
weisung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.-
und PDS-Fraktion abgelehnt.
– Wir im Präsidium sind uns einig, daß das eine Mehr-
heit war.
Wir stimmen deshalb sogleich in der Sache ab. Wir
kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktio-
nen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 14/2236.
Hierzu gibt es eine Erklärung zur Abstimmung des
Kollegen Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte gern zu meinem Ab-
stimmungsverhalten eine Erklärung abgeben.
Zunächst sind wir und bin auch ich selbstverständlich
dafür, daß der gesamte Sachverhalt aufgeklärt wird. In-
sofern hoffe ich sehr, daß die CDU den Wirtschaftsprü-
fer von der Schweigepflicht befreit, weil das eine der
wichtigsten Voraussetzungen ist, um etwas Licht in be-
stimmte dunkle Seiten dieser Angelegenheit bringen zu
können.
Ich füge hinzu, daß bei der Aufklärung auch noch an-
dere wichtige Fragen eine Rolle spielen, die hier in
einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Ich erwäh-
ne nur eine Sache, die heute ansonsten überhaupt noch
keine Rolle gespielt hat und die für mein Abstimmungs-
verhalten wichtig ist.
Wenn nämlich rechtmäßige Spenden nicht deklariert
wurden, dann hat derjenige, der sie nicht deklariert hat,
zugleich in Kauf genommen, daß die staatlichen Zu-
wendungen an die CDU geringer ausfielen, als sie aus-
gefallen wären, wenn diese Spenden deklariert worden
wären. Das kommt einem Untreuetatbestand zum
Nachteil der CDU sehr nahe. Wenn jemand so etwas
macht, dann muß er schon sehr gute Gründe dafür ha-
ben, wenn er gleichzeitig behauptet, das Ganze sei zum
Nutzen der CDU gewesen. Insofern bedarf auch diese
Frage noch einer Aufklärung, und das wird, wie ich
meine, sehr interessant sein.
Wenn ich dennoch gegen diesen Antrag stimmen
werde, so will ich das begründen. Das hat zwei Gründe.
Erstens. Aus dem Antrag ergibt sich überhaupt nicht,
an wen er sich eigentlich richtet. Der Bundestag kann ja
wohl eine gesetzliche Schweigepflicht nicht aufheben.
Das kann nur der Mandant des Wirtschaftsprüfers.
Also soll wohl gemeint sein, auch wenn es so nicht in
dem Antrag steht, daß man den Mandanten des Wirt-
schaftsprüfers auffordert, den Wirtschaftsprüfer von der
Schweigepflicht zu befreien.
Ich habe ganz erhebliche rechtsstaatliche Bedenken
dagegen, einen solchen Beschluß des Bundestages zu
fassen, sosehr ich in der Sache dafür bin.
Das will ich Ihnen auch begründen. Wenn der Bundes-
tag anfängt, Mandanten aufzufordern, ihre Anwälte,
Wirtschaftsprüfer oder wen auch immer von der
Schweigepflicht zu befreien, erzeugen wir einen öffent-
lichen Druck, der die gesetzliche Schweigepflicht selbst
ad absurdum führt.
– Nein, Herr Struck, hören Sie mir einen Moment zu! –
Ich habe das schon einmal erlebt. Damals betraf es Sie.
Ich habe einen ungeheuren öffentlichen Druck auf Eng-
holm erlebt, bis er faktisch gezwungen war, seinen An-
walt von der Schweigepflicht zu befreien. Ich möchte
einen solchen öffentlichen Druck nicht haben. Ich
erwarte das in diesem Falle von dem Mandanten,
aber ich möchte keinen öffentlichen Druck gegen
irgendeinen Mandanten zur Aufhebung der Schweige-
pflicht haben.
Wenn der Mandant die Schweigepflicht nicht auf-
hebt, kann jeder seine Schlüsse daraus ziehen – das ist
etwas ganz anderes –,
aber einen öffentlichen Druck zur Aufhebung einer
Schweigepflicht zu erzeugen heißt, dieses damit verbun-
dene Recht nicht mehr ernst zu nehmen. Damit entsteht
eine Situation wie damals für Engholm. Es war in Wirk-
lichkeit nicht seine Entscheidung. Die Öffentlichkeit hat
ihn zu einer solchen Entscheidung gezwungen. Dann
gibt es das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und
Anwalt oder Wirtschaftsprüfer oder wem auch immer
nicht mehr.
Deshalb muß das eine Entscheidung der CDU blei-
ben. Wir können alle appellieren, aber wir sollten nicht
mit einem Beschluß des Bundestages, also des höchsten
Organs der Bundesrepublik Deutschland, einen Man-
danten unter Druck setzen, denjenigen, der die Schwei-
gepflicht hat, davon zu befreien. Das ist meines Erach-
tens rechtsstaatlich und auch verfassungsrechtlich höchst
bedenklich. Deswegen werde ich gegen diesen Antrag
stimmen, sosehr ich mir auch wünsche, daß die Schwei-
gepflicht aufgehoben wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wer stimmt für den
Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 14/2236 zur Entbindung von der
Schweigepflicht gegenüber dem Untersuchungsaus-
schuß? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? Der Antrag ist
gegen die Stimmen von CDU/CSU, der F.D.P.-Fraktion,
Vizepräsidentin Petra Bläss
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6993
(C)
(D)
der PDS-Fraktion und einigen Stimmen aus der SPD-
Fraktion angenommen.
– Enthaltungen? – Es gab einige Enthaltungen aus den
Reihen der SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sitzungsvor-
stand ist sich über das Ergebnis der Abstimmung auch
nach der Gegenprobe nicht einig. Wir kommen daher
zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
14/2236 zur Entbindung von der Schweigepflicht ge-
genüber dem Untersuchungsausschuß durch Zählung der
Stimmen. Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, recht
schnell den Saal zu verlassen, damit die Abstimmung
zügig erfolgen kann.
Ich bitte die beiden Schriftführer, die Kollegen Schur
und Schemken, ihre Plätze an den Türen einzunehmen.
Haben alle Schriftführerinnen und Schriftführer ihren
Platz an den Türen eingenommen? Könnte ich bitte ein
Zeichen bekommen? – Das ist der Fall. Ich bitte, die Tü-
ren zu schließen. Die Abstimmung ist eröffnet.
Könnte ich einen
Hinweis von den Schriftführern bekommen? Ich möchte
in Kürze die Abstimmung schließen.
Ich gebe einen Hinweis an die Schriftführerinnen und
Schriftführer, da ich feststelle, daß Kolleginnen und
Kollegen vor der Tür stehen, aber den Saal nicht betre-
ten. Ich beabsichtige, in Kürze die Abstimmung zu
schließen, und bitte alle Kolleginnen und Kollegen, jetzt
sofort in den Plenarsaal zu kommen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Abstim-
mung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
keinen Kollegen mehr in das Plenum kommen zu lassen
und die Türen zu schließen.
Sollte ich feststellen, daß diese Anweisung nicht beach-
tet wird, werde ich die Sitzung unterbrechen. – Ich habe
die Abstimmung geschlossen. Ich bitte, die Türen zu
schließen.
Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen, damit wir in
den Beratungen fortfahren können.
Bevor ich das Ergebnis des Hammelsprungs bekannt-
gebe, will ich sagen: Es gibt in diesem Hause parla-
mentarische Regeln.
Der amtierende Präsident muß darauf achten, daß Ab-
stimmungen nicht verkürzt werden. Er muß aber auch
darauf achten, daß sie nicht verzögert werden.
Die Hinweise, die ich bekommen habe,
haben mich dazu veranlaßt, dreimal darauf hinzuweisen,
– ich bitte Sie, Ruhe zu bewahren –, daß ich beabsichti-
ge, in Kürze die Abstimmung zu schließen. Darauf habe
ich die Schriftführer hingewiesen.
Ich gebe nunmehr das Ergebnis der Abstimmung be-
kannt: Mit Ja haben gestimmt 230 Kolleginnen und
Kollegen, mit Nein haben gestimmt 220, Enthaltun-
gen 2. Der Antrag ist daher angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 6 b auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Ein modernes Stiftungsrecht für das 21. Jahr-
hundert
– Drucksache 14/2029 –
(C)
Ich möchte deswegen gleich zu Beginn darauf hin-
weisen, daß der Kern des Antrages, den wir heute hier
auf den Weg bringen wollen, ist, zu einer solchen Neu-
orientierung beizutragen. Ich möchte das mit dem Hin-
weis verbinden, daß zu einer solchen grundsätzlichen
Neubestimmung des Stellenwertes von Stiftungen
zwei Entwicklungen beitragen, die sich nach unserem
Verständnis in einer sehr sinnvollen und wünschens-
werten Weise miteinander verbinden lassen.
Wir haben ganz offensichtlich einen objektiven Be-
darf an der Übernahme öffentlicher, jedenfalls gesamt-
gesellschaftlicher Aufgaben, die nicht mehr und schon
gar nicht komplett als staatliche Aufgaben wahrgenom-
men und erfüllt werden können. Trotz oder vielleicht ge-
rade wegen einer Staatsquote, die nun seit Jahren relativ
stabil um die 50 Prozent pendelt, ist der Staat mit der
Wahrnehmung wichtiger gesamtgesellschaftlicher Auf-
gaben zunehmend überfordert. Es besteht die objektive
Notwendigkeit, darüber nachzudenken, wie diese Auf-
gaben anders wahrgenommen werden können, wenn der
Staat und die öffentlichen Körperschaften diese Aufga-
ben nicht wahrnehmen können.
Erfreulicherweise korrespondiert mit diesem objekti-
ven Bedarf eine wachsende subjektive Bereitschaft vie-
ler Bürgerinnen und Bürger, ihr eigenes erarbeitetes
Einkommen und Vermögen für gemeinwohlorientierte
Aktivitäten zur Verfügung zu stellen, wenn ihnen dieser
Staat dafür nur angemessene und faire Rahmenbedin-
gungen anbietet. Genau die zu schaffen muß das zentrale
Anliegen des deutschen Gesetzgebers sein.
Deutschland braucht ein einfaches, ein übersichtli-
ches, ein bürgerfreundliches Stiftungsrecht, das privates
Engagement ermutigt und zugleich das Gemeinwohl
fördert. Ein neuer Weg ist erforderlich, nicht weil die
alten Wege ganz offenkundig nichts taugten, sondern
weil sie nicht ausreichen. Ein neuer Weg ist erforderlich,
der Veränderungen in Staat und Gesellschaft ermöglicht,
die Vision der aktiven Bürgergesellschaft ernst nimmt
und dem Stiftungswesen den Stellenwert gibt, der an die
mehrere Jahrhunderte alte stolze Tradition privaten En-
gagements für das Gemeinwohl anknüpft.
Ich muß kaum erläutern, daß Stiftungen ein wichti-
ger, wahrscheinlich nicht verzichtbarer Baustein für den
Aufbau des dritten Sektors zwischen dem Staat und der
Wirtschaft sind, der für Bürgerengagement, Ehrenamt-
lichkeit und gesellschaftliche Mitwirkung steht. Der
Bürger soll für das Gemeinwohl tun können, was er sel-
ber tun und leisten will und was der Staat nicht leisten
kann. Der einzelne sollte auch mehr Gestaltungsspiel-
raum und mehr Verfügungsgewalt über sein eigenes,
selbst erarbeitetes Einkommen und Vermögen haben. Je
mehr das Gemeinwohl von der Gesellschaft autonom,
über staatliche Verantwortung hinaus gefördert werden
soll, desto wichtiger wird die Entwicklung einer nach-
haltigen Stiftungskultur, für die dann allerdings substan-
tiell geänderte Rahmenbedingungen erforderlich sind.
Wir müssen uns alle gemeinsam dafür verantwortlich
fühlen, daß Stiftungen im Bewußtsein der Bürger – und
nicht nur einiger weniger Bürger, sondern möglichst
vieler Bürger – als Möglichkeit zur Gestaltung des Ge-
meinwohls jenseits von Staat und Markt verankert sind.
Daher ist es besonders wichtig, daß Stiftungen eine ein-
fach zu handhabende Rechtsform sind. Davon kann bei
aller Sympathie für die gegenwärtige Situation ernsthaft
keine Rede sein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6995
(C)
(D)
Das geltende deutsche Stiftungsrecht wird trotz beacht-
licher Bemühungen der Landesgesetzgeber, die ich aus-
drücklich würdigen möchte, durch eine Vielzahl unter-
schiedlicher Rechtsnormen diesem Anspruch nicht ge-
recht.
Man muß in diesem Zusammenhang darauf verwei-
sen dürfen, daß das deutsche Stiftungsprivatrecht ge-
genwärtig auf nicht weniger als zehn bundesgesetzlichen
Normen und 478 landesrechtlichen Vorschriften, Nor-
men und Regelungen beruht. Dies spricht sehr dafür,
daß wir uns darum bemühen, einen vernünftigen, über-
schaubaren, nachvollziehbaren einheitlichen Rechtsrah-
men zu schaffen, was nicht notwendigerweise bedeuten
muß, daß überall und ganz konkret in jedem Bundesland
präzise dieselbe Praxis und Struktur besteht. Aber für
jeden, der dem Gedanken einer Stiftung aufgeschlossen
ist, muß es eine nachvollziehbare und nicht an jeder
Stelle anders geregelte rechtliche Konstruktion geben.
Übrigens spricht für einen solchen einheitlichen
Rechtsrahmen auch, daß wir auf diese Weise für das
Stiftungsrecht eine ähnliche Klarheit gewinnen können,
wie sie für das Vereinsrecht, das Genossenschaftsrecht
und das Recht der Kapitalgesellschaften als schiere
Selbstverständlichkeit gilt. Wenn die Stiftungen die Be-
deutung haben sollen, die wir in Festvorträgen gerne
immer wieder beschwören, dann müssen wir auch an
dieser Stelle dafür sorgen, daß sie rechtlich ähnlich ge-
stellt sind, wie es für andere für selbstverständlich
gehalten wird.
Meine Damen und Herren, wir machen in unserem
Antrag eine ganze Reihe sehr konkreter Vorschläge da-
zu, wie sich sowohl der zivilrechtliche Rahmen für die
Arbeit von Stiftungen verändern und verbessern läßt als
auch die steuerlichen Rahmenbedingungen weiterent-
wickelt werden können. Ich muß sie hier ganz gewiß
nicht im einzelnen vortragen und will nur auf ganz we-
nige Punkte aufmerksam machen.
Wir wollen den Stiftungsbegriff bei Neugründungen
– ich weise ausdrücklich darauf hin: bei Neugründun-
gen – auf gemeinwohlorientierte Vorhaben begrenzen
und damit schon in der Terminologie verdeutlichen, daß
es viele gute Gründe gibt, diese Form gemeinnützigen
gesellschaftlichen Engagements in einer besonderen
Weise hervorzuheben.
Wir wollen den Rechtsanspruch auf Stiftung, der in
vielen Landesstiftungsgesetzen entweder gar nicht oder
nur unbefriedigend geregelt ist, unmißverständlich klar-
stellen. Wir wollen die Gründung von Stiftungen er-
leichtern, durch Eintragung in ein Stiftungsregister ver-
einfachen. Wir wollen mehr Flexibilität schaffen, was
die Änderung von Stiftungszwecken zu Lebzeiten des
Stifters und die Möglichkeit betrifft, auch Stiftungen auf
Zeit einzurichten. Wir wollen – das ergibt sich zwangs-
läufig parallel zu dem veränderten Stellenwert – auch
die Rechenschaftspflichtigkeit von Stiftungen neu und
möglichst einheitlich regeln. Denn je größer die Gestal-
tungsspielräume sind, desto größer muß die Transparenz
sein, die sich damit verbindet.
Wir wollen selbstverständlich die verfassungsrecht-
lich garantierte Autonomie der kirchlichen Stiftungen
wahren, und wir wollen genauso ausdrücklich Bestands-
schutz für alle existierenden Stiftungen sicherstellen –
übrigens einschließlich des Begriffs Stiftung, den sie
nach geltendem Recht völlig korrekt erworben haben.
Insbesondere geht es uns darum, die sogenannten
Bürger- und Gemeinschaftsstiftungen zu ermöglichen,
zu ermutigen und zu erleichtern, weil gerade dies ein In-
strument ist, mit dem man nicht nur signalisieren kann,
daß die Gründung von Stiftungen kein Privileg ver-
meintlich weniger wirtschaftlich und finanziell beson-
ders leistungsfähiger Mitbürger ist, sondern auch signa-
lisieren kann, daß sich durch gemeinsame Aktivitäten
vieler Bürger manche bedeutenden Anliegen des Ge-
meinwohls befördern lassen.
Dies soll seinen Niederschlag im Rechtsrahmen, aber
auch im Steuerrecht finden.
Ich bin deswegen gerade den Kolleginnen und Kolle-
gen aus den einschlägigen Finanz- und Haushaltsberei-
chen dankbar, daß sie sich angesichts der ungewöhnlich
delikaten Materie: „Wie geht man mit diesem Thema
des Steuerrechts und damit verbundener Einnahmeaus-
fälle um?“ in einer bemerkenswert konstruktiven und
hilfreichen Weise an diesen Beratungen beteiligt haben.
Dabei haben wir uns in unserem Antrag aus guten Grün-
den und nach manchen Verirrungen – die ich gleich ein-
räumen will – in unserem eigenen Beratungsgang ganz
darauf beschränkt, steuerrechtlich nur zwei Fragen – aber
die beiden wesentlichen Fragen – zu adressieren: Er-
stens. Wie muß der Steuergesetzgeber mit Stiftungen
umgehen, damit sie die ihnen zugedachte Aufgabe auch
wirklich angemessen erfüllen können? Zweitens: Was
ist die angemessene Behandlung, die Stifter bzw. Spen-
der erfahren müssen? Jedenfalls müssen wir über ein
Stiftungsrecht nicht sämtliche offenen Fragen des deut-
schen Steuerrechts klären. Alle Versuche in der Vergan-
genheit, das – nicht als Zielsetzung, aber als Nebenwir-
kung – regeln zu wollen, haben mit in das Dickicht ge-
führt, das einer Neuordnung des deutschen Stiftungs-
rechts in den vergangenen Jahren offenkundig im Wege
gestanden hat.
Ich möchte Sie auf einen Vorschlag aufmerksam ma-
chen, den wir Ihrer aufgeschlossenen Behandlung drin-
gend anempfehlen möchten, nämlich den Gedanken, für
die Organisation der Gründung und der Beaufsichtigung
von Stiftungen auch die Möglichkeit der Selbstverwal-
tung ins Auge zu fassen. Wenn dies für wichtige Berei-
che der Wirtschaft möglich ist, dann sollte es erst recht
für einen Bereich, in dem wir in besonderer Weise die
Bürger selbst Ziele verfolgen lassen wollen, möglich
sein, wenn es denn schon nicht – worauf wir ausdrück-
lich verzichtet haben – obligatorisch so vorgeschrieben
werden soll.
Ich möchte auch auf die Initiative des Landes Baden-
Württemberg hinweisen, das vor einigen Wochen einen
Dr. Norbert Lammert
6996 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundesrat einge-
bracht hat, der mit vielen dort verankerten Vorschlägen
sehr zu meiner optimistischen Einschätzung beiträgt,
daß es jetzt gelingen könnte, in einem gemeinsamen
Anlauf des Deutschen Bundestages unter Mitwirkung
der Länder und des Bundesrates wirklich den großen
Wurf eines neuen Stiftungsrechts zu realisieren, um den
wir uns miteinander seit vielen Jahren bemühen.
Stiftungen sind keine Ersatzkasse der öffentlichen
Haushalte. Daran darf kein Zweifel sein.
Aber sie sind nicht nur eine willkommene, sondern eine
zunehmend notwendige Ergänzung öffentlicher Haus-
halte, was die Realisierung von Gemeinwohlinteressen
angeht. Insofern gehen manche Einwände mancher
Steuerabteilungen, mancher Ministerien an dem vorbei,
was politisch zur Debatte steht. Wir, die Unionsfraktio-
nen, haben keinen Zweifel daran, daß der Nutzen des
gemeinwohlorientierten Einsatzes privater Einkommen
und Vermögen allemal höher ist als die damit verbunde-
nen Steuerausfälle.
Nun wollten wir heute eigentlich neben unserem An-
trag auch den vielfach angekündigten Gesetzentwurf der
Koalitionsfraktionen lesen. Das ist ein Phantom, von
dem ständig gesprochen wird, das aber noch niemand
gesehen hat. Nun liegt mir jede Polemik oder Häme
fern, weil ich sehr genau weiß, mit welchen Widerstän-
den Sie da zu tun haben, und sehr vermute, daß es zum
Teil genau die gleichen Leute sind, die in den vergange-
nen Jahren auch unsere Bemühungen um die Realisie-
rung eines ehrgeizigen Stiftungsrechts mit gutgemeinten
Ratschlägen aufgehalten haben. Dieses Parlament sollte
schon heute –
– ich bin sofort fertig, Herr Präsident – keinen Zweifel
daran lassen, daß wir zwar auf die Beratung von Sach-
verständigen in den Steuerabteilungen allergrößten Wert
legen, daß aber die Steuerabteilung des Finanzministe-
riums nicht der deutsche Gesetzgeber ist.
Die Abwägung, was wir für den Paradigmenwechsel
brauchen, über dessen Notwendigkeit ich hier gespro-
chen habe, muß der Gesetzgeber treffen; sie kann nicht
im Ministerium getroffen werden.
Wir wollen jedenfalls unsere konstruktive Zusam-
menarbeit für den noch abzuwartenden, aber hoffentlich
bald vorliegenden Gesetzentwurf der Koalition aus-
drücklich anbieten. Wir sind fest entschlossen, dazu bei-
zutragen, daß wir als Regierung und Opposition gemein-
sam die Neugestaltung des deutschen Stiftungsrechts
– als vielleicht erstes relevantes Projekt in dieser Legis-
laturperiode – in diesem Bundestag als ein Reformwerk
verabschieden können, das den Ansprüchen gerecht
wird, die ich vorhin habe vortragen dürfen.
Ich würde jetzt ger-
ne dem Kollegen Ludwig Stiegler das Wort geben, aber
eine Fraktion dieses Hauses hat beantragt, die Sitzung zu
unterbrechen, damit alle Mitglieder des Ältestenrates an
der Sitzung des Ältestenrates teilnehmen können. Die-
sem Antrag ist stattzugeben. Die Wiedereröffnung der
Sitzung wird rechtzeitig bekanntgegeben.
Ich unterbreche die Sitzung.
Wir setzen die un-
terbrochene Sitzung fort.
Wir sind bei der Beratung des Antrages der Fraktion
der CDU/CSU zu einem modernen Stiftungsrecht für
das 21. Jahrhundert.
Ich gebe nunmehr für die SPD-Fraktion dem Kolle-
gen Ludwig Stiegler das Wort. – Sie haben lange warten
müssen. Deswegen werden wir Ihre Rede mit besonde-
rer Aufmerksamkeit verfolgen.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Die CDU/CSU kümmert sich um das
21. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert hatte sie für das
Stiftungsrecht keine Zeit.
Ich würde beinahe sagen: Willkommen im Klub! End-
lich sind Sie da und machen nun als letzte Fraktion eine
Vorlage, nachdem die anderen Fraktionen ihre Arbeit
bereits getan haben.
Aber es ist so wie im Weinberg des Herrn: Wer als letz-
ter kommt, beansprucht natürlich auf Grund christlicher
Güte auch eine Anerkennung dafür. Insofern kann man
das gerade noch gelten lassen.
Die CDU/CSU kommt sehr spät. 16 Jahre haben Sie
regiert, wenn ich mich recht erinnere, und 16 Jahre ist
nichts geschehen, obwohl das Thema in allen Koali-
tionsvereinbarungen und Regierungserklärungen ange-
sprochen war. Noch heute ist es so, daß die CDU/CSU
bei diesem Thema nicht einmal mit den von ihr regierten
Ländern abgestimmt ist. Es gibt einen einstimmigen Be-
schluß der Stiftungsreferenten auf der Innenministerkon-
ferenz, also einschließlich der CDU-geführten Länder.
Das heißt, die CDU/CSU handelt hier im Grunde auf
eigene Rechnung. Nicht einmal im eigenen Hause
herrscht da Ordnung.
Herr Otto, Sie haben gefragt, wo wir sind. Wir sind
mit unserem Gesetzentwurf sehr weit. Ich sehe hier zum
Beispiel Frau Vollmer und Jörg Tauss; sie haben sich
mit diesem Thema beschäftigt. Es ist in der Koalitions-
vereinbarung festgeschrieben. Die Koalition hat die
Dr. Norbert Lammert
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6997
(C)
(D)
Entwürfe gemacht. Wir stehen sozusagen kurz vor der
Finalisierung der Arbeit,
und zwar nicht etwa mit einem an die Bundesregierung
gerichteten Antrag, endlich etwas zu tun, sondern mit
einem fertigen Gesetzentwurf.
Das ist der Unterschied. Die Verhandlungen werden
noch im Dezember abgeschlossen sein, so daß wir sehr
bald handlungsfähig sind und nicht warten müssen, bis
die Bundesregierung in Abstimmung mit den Ländern
einen Wunschkatalog der CDU/CSU abgearbeitet hat.
Wir werden uns auf die steuerliche Förderung kon-
zentrieren und die anderen Bereiche nicht jetzt angehen.
Man könnte dafür gute Argumente bringen; das schließe
ich gar nicht aus. Aber wenn jetzt beides zusammenge-
faßt würde, der zivilrechtliche Teil und der steuerliche
Teil, dann führte das nur dazu, daß auch für den steuer-
lichen Teil eine unendlich lange Zeit benötigt würde.
Wenn ich die beteiligten Kreise höre, stelle ich fest, daß
sie eher daran interessiert sind, daß der materielle Teil
erledigt wird und daß es vorangeht.
Ich will hier nicht verhehlen, daß wir auch in der
SPD-Fraktion eine durchaus ernste Diskussion über das
Thema hatten.
Es gibt bei uns die Kulturpolitiker, zum Beispiel Monika
Griefahn und Jörg Tauss, die das federführend betreiben
und sehr stark pushen. Es gibt aber auch bei uns Finanz-,
Wirtschafts- und Kommunalpolitiker, die sehen, daß
Steuerausfälle eine geringere Gestaltungsmöglichkeit
etwa der Kommunen bedeuten und daß die Destinatäre
keinen Anspruch haben. Diese Fragen werden durchaus
erörtert, also demokratische Gestaltung einerseits versus
private Gestaltung andererseits. Das ist bei uns ernsthaft
behandelt worden. Dennoch sind wir durch lange Dis-
kussionen zu der Überzeugung gelangt, daß der Grund-
satz der Bürgergesellschaft seine Unterstützung ver-
dient. Wir haben uns insgesamt dahin bewegt. Wir un-
terstützen die Bemühungen, in Deutschland eine Stif-
tungskultur zu pflegen.
Wir sagen aber in gleicher Weise – damit das klar ist,
was die Liberalen, aber auch Teile der Union betrifft –:
Das Stiftungsrecht ist kein Ersatz für den Sozialstaat.
Man kann nicht sagen, daß man in Zukunft soziale
Sicherheit mit Rechtsansprüchen hintanstellt und sagt:
Ihr habt ja die Möglichkeit, euch an Stiftungen zu wen-
den. – Das ist nicht die Alternative.
Das Stiftungsrecht muß es zusätzlich und unterstützend
geben. Natürlich ist das Stiftungsrecht für uns auch kein
Steuersparmodell; das ist klar.
Die Vorstellungen der CDU/CSU bedeuten meiner
Ansicht nach keinen großen Fortschritt. Ich gehe sie
einmal durch.
Das Bundesstiftungsgesetz. Sie werden wegen der
Bundeszuständigkeit Probleme mit den eigenen Ländern
bekommen. Wir haben heute, was etwa das Stiftungs-
recht betrifft, die Situation, daß das Konzessionssystem
ein gebundenes System ist und daß deshalb zwischen
dem Normativsystem und dem Konzessionssystem fak-
tisch kein großer Unterschied mehr besteht. Ich stimme
Ihnen zu, wenn Sie sagen, wir müßten das Genehmi-
gungsverfahren und ähnliches beschleunigen. Aber das
ist – das sagen alle Fachleute, auch der Bundesverband
Deutscher Stiftungen – nicht das eigentliche Problem.
Ich habe auch Zweifel, ob es möglich ist, daß wir die
Stiftung als solche plötzlich nur noch gemeinnützigen
Zwecken vorbehalten. Wir haben heute ein umfassendes
Stiftungsrecht. Wir haben im Bürgerlichen Gesetzbuch
die juristische Person Stiftung. Wir können die Gemein-
nützigkeit in den Steuergesetzen bestimmen. Ich glaube
nicht, daß wir diesen tiefen Eingriff in das Recht der ju-
ristischen Personen vornehmen sollten. Die Bestands-
schutzprobleme würden jahrelang Verwirrung stiften.
Wer von Ihnen Registererfahrungen hat – die Juristen
unter Ihnen werden sie haben –, der weiß, daß es auch
Registerverfahren geben kann, die kein Zuckerschlecken
sind. Auch in Registerverfahren gibt es Ärger. Dazu
kann man die Vereine und andere befragen. Denn auch
für das Register muß geprüft werden, ob die Ansprüche
gegeben sind. Eine reine Eintragung wird nicht genügen.
Ich habe mit Amüsement gelesen, daß Sie Rechen-
schaft über die Verwendung der Stiftungserträge verlan-
gen, daß also die CDU/CSU Transparenz verlangt.
Wenn ich mir das vor dem aktuellen Hintergrund des
vorherigen Tagesordnungspunktes anschaue, muß ich
sagen: Das ist ein bemerkenswerter Fortschritt.
Manchmal hat man das Gefühl, als würde der Wolf
plötzlich sagen: Wir werden alle Vegetarier. – Da habe
ich meine Probleme.
Diese Bosheit muß nach dem Vorherigen sein. Die müs-
sen Sie ertragen.
Ludwig Stiegler
6998 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Meine Damen und Herren, schon nach dem geltenden
Recht werden die Stiftungen steuerlich gefördert. Wir
wollen die gemeinnützigen Stiftungen zusätzlich för-
dern. Wir können das wegen des besonderen Auftrages
und wegen der Nachhaltigkeit der Verwendung und der
Förderzwecke auch vor dem Gleichheitsgrundsatz be-
gründen.
Bei uns geht die Diskussion momentan um zwei
Dinge.
Zum einen: die Förderhöhe. Da muß ich sehen, daß
der Finanzminister bei dem zerrütteten Haushalt, den Sie
den Herrschaften, die hier sitzen, und Frau Hendricks
hinterlassen haben, scharf hingeschaut. Das gilt auch für
die Länderfinanzminister. Es sind nur die beglückt, die
keinen Landesfinanzminister in ihren eigenen Reihen
haben. Es gibt nichts Schwierigeres, als Finanzminister
zu sein. Aber die Finanzminister haben eben ihre beson-
dere Aufgabe. Dafür, daß sie nicht mit der Spendierhose
über Land gehen können, muß man Verständnis haben.
Sonst würden sie ihre Rolle verkennen.
Zum anderen: die Breite der Förderung. Unser
Ausgangspunkt war: Wir wollen die ganze Breite der
gemeinnützigen Zwecke einbeziehen. Das führt natür-
lich zu Steuerausfällen und zu entsprechenden Folgen
für die Länder, was die Erbschaftsteuer, und für Bund
und Länder, was die Einkommensteuer betrifft. Das muß
man wissen. Also diskutieren wir: Kann man die Zwek-
ke etwas enger fassen? Aber wie? – Da sind wir noch
nicht fertig, aber kurz vor dem Abschluß. Der Finanz-
minister sagt: Je breiter die Zwecke, desto geringer der
Förderbetrag. Die Sicht des Finanzministers begeistert
uns da zwar nicht und überzeugt uns nicht, aber das Ar-
gument ist durchaus da.
Herr Lammert, wir denken, daß Ihr Vorschlag, die
Förderung prozentual auf den Gesamtbetrag der Ein-
künfte zu beziehen, nicht zielführend ist. Wir denken
eher, daß wir absolute Beträge nennen sollten, damit
auch Leute, deren Gesamtbetrag der Einkünfte nicht so
hoch liegt und die sich dennoch aus irgendeinem Grunde
entschließen, etwas zu tun, an den Segnungen des Stif-
tungssteuerrechts teilhaben können. Wir denken an den
Sonderfreibetrag von 50 000 DM, über den wir aber ins-
gesamt mit dem Finanzminister noch nicht einig sind.
Das wird aber in den nächsten Tagen geschehen. Dann
werden wir einen Kompromiß zwischen Breite und Hö-
he des Anspruches finden müssen. Denn daß wir nicht
ins Uferlose gehen können, ist auch uns klar. Auch
Ihnen müßte das nach dem Haushalt, den Sie hinter-
lassen haben, klar sein.
Herr Kollege
Stiegler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lammert?
Selbstverständlich.
Ich möchte Sie,
Herr Kollege Stiegler, da wir über viele Fragen mög-
lichst ruhig und möglichst sachlich reden wollen, auf
unsere vorhin ausdrücklich vorgetragene Auffassung
hinweisen. Ich stutze nur ein bißchen bei Ihren Bemer-
kungen zu den steuerrechtlichen Fragen. Auch diese
wird man abwägen müssen: absolute Beträge, relative
Beträge von der Steuerschuld. Die Argumentation, die
Sie vortragen, entspricht nach meinem Eindruck noch
genau der traditionellen Vorstellung von der Behand-
lung von Stiftungen, als handele es sich um die Großzü-
gigkeit des Staates, den Bürgern einen Teil ihrer Steuer-
schulden zu erlassen.
In Wahrheit geht es darum, daß wir die Bürger in die
Lage versetzen müssen, über die von ihnen erarbeiteten
Einkommen und Vermögen zum größeren Teil selber
disponieren zu können, und daß es ein ganz selbstver-
ständliches Gebot auch für den Steuergesetzgeber sein
muß, demjenigen, der Geld für gemeinwohlorientierte
Zwecke zur Verfügung stellen will, dafür eine faire
Möglichkeit zu geben. Wir dürfen uns aus der Perspek-
tive einer Modernisierung des Steuerrechts auf die Ar-
gumentation gar nicht einlassen, als sei hier die Großzü-
gigkeit des Staates gegenüber der Gesellschaft gefordert.
Es geht darum, –
Herr Kollege, Sie
müssen eine Frage stellen.
– der Groß-
zügigkeit von Bürgern gegenüber staatlichen Aufgaben
Raum zu geben.
Ich kann diese Schalmei
durchaus hören. Wir haben aber auch Staatsaufgaben.
Wir haben auch Grundprobleme. Wir haben soeben um
ein Sparpaket von 30 Milliarden DM gekämpft, und Sie
haben uns weiß Gott das Geschäft nicht erleichtert. Vor
zehn Jahren wären die Staatskassen noch in einer ande-
ren Verfassung gewesen; da hätte man das ohne Beden-
ken großzügig machen können. Wir haben aber einen
Finanzminister, der momentan mühselig Ihre Hinterlas-
senschaft, Ihr Erbe, sozusagen Ihre Stiftung
gegenüber dem Bundeshaushalt in Ordnung bringen
will. Vor diesem Hintergrund muß man das sehen. Herr
Tauss oder Frau Vollmer sagen mit großer Begeisterung:
Wir wollen dem Bürger die Möglichkeit geben, sich für
seine Zwecke zu engagieren. Wir sehen aber auf der an-
deren Seite, daß der Finanzminister sagt: Die Steuerver-
zichte haben eben auch Konsequenzen für unser allge-
meines Handeln, und nun müssen wir uns eben auf einen
Kompromiß hin bewegen. Begeisterung hilft weder der
Staatskasse noch dem Stiftungswesen, vielmehr wird
uns hier nur eine realitätsbezogene Gesetzgebung, die
wir miteinander hinbringen, insgesamt weiterführen.
Ludwig Stiegler
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 6999
(C)
(D)
Herr Kollege
Stiegler, Ihr Fraktionskollege Urbaniak möchte eine
Frage an Sie richten.
Hans immer; das ist eine
Ehre.
Herr Kollege
Stiegler, man kann es ja wenden, wie man will. Sie ha-
ben Gott sei Dank die Bedeutung und Aufgabe des Sozi-
alstaates herausgestellt. Er ist ja gegenüber der gesamten
Bevölkerung und, wenn Menschen in Schwierigkeiten
kommen, für alle Lebenslagen verpflichtet. Wenn wir
dieses Stiftungsrecht so, wie es entwickelt wird, voran-
treiben, dann bedeutet das selbstverständlich auch, weil
ja Steuerausfälle verkraftet werden müssen, Leistungen
des Staates bereitzustellen, um bei einer verworrenen
Finanzlage, die uns hinterlassen worden ist, klarzukom-
men. Und es ist doch klar, daß der Finanzminister auf
seinen Haushaltsausschuß, dem ich angehöre, achten
muß. Die Mitglieder des Haushaltsausschusses sagen:
Leute, überzieht das nicht! – Dennoch kommt man in
der Frage des Stiftungsrechts voran.
Was meinen Sie denn, in welcher Größenordnung
Steuerausfälle zu erwarten sind?
Die Einschätzungen gehen
weit auseinander, aber wenn ich jetzt einmal alles zu-
sammenfasse, dann schätzt der Finanzminister bei der
Vorlage, die wir da haben, eine gute Milliarde DM bei
Bund, Ländern und Gemeinden. Das ist die Größenord-
nung.
– Das wird bestritten. Teilweise wäre das nur dann der
Fall, wenn die Leute jetzt alle wie bei der Bausparkasse
am Jahresende sagen würden: „Jetzt rennen, schnell
noch stiften!“ Also stiften statt Steuern. Das würde also
nur dann gelten, wenn es so käme. Diese Einschätzung
ist sicher nicht zwingend, aber es handelt sich jedenfalls
um einen spürbaren Betrag bei Bund und Ländern.
Ich sage einmal: Wenn es 1 Milliarde DM wäre, hät-
ten wir für die gemeinnützigen Zwecke 3 Milliarden
DM zur Verfügung. Man muß ja sehen: Das Stiftungs-
recht ist im Normalfall kein Steuersparmodell,
weil der Stifter aus seinem Vermögen endgültig Geld
weggibt. Er leistet also selber etwas, während die ande-
ren Steuersparmodelle der Vermögensbildung dienen.
Insofern kann man es rechtfertigen, wenn ich diese Vo-
lumina für den Sozialstaat und das Volumen sehe, das
man für Stiftungen hat. In der Richtung, denke ich, kön-
nen wir uns aufeinander zubewegen.
Ich glaube, daß ich auch mit ihnen arbeiten kann.
Herr Kollege
Stiegler, Frau Kollegin Süssmuth möchte sich als Dritte
im Bunde auch noch an Sie wenden.
Ich bin für jede Verlänge-
rung meiner Redezeit dankbar.
Das wird nicht an-
gerechnet.
Herr Stiegler, ge-
rade haben Sie selbst erklärt, es gehe nicht um Steuer-
sparmodelle, sondern um bürgerschaftliches Engage-
ment und damit um Aufgaben, die die Bürger selbst
übernehmen und die der Staat – wie eben schon einmal
gesagt wurde – überhaupt nicht in gleicher Weise leisten
kann. Wenn ich einen Paradigmenwechsel einleiten will,
muß ich von der Betrachtung „Was entgeht mir?“ weg-
und zu der Betrachtung „Was wird geleistet, was ich
selbst gar nicht leisten kann?“ hinkommen. Wenn ich
das sehe, dann müßte es im Stiftungsrecht doch nicht
nur auf der steuerlichen Ebene, sondern auch auf der
von Ihnen kritisierten Ebene, bei der man es nach Ihrer
Ansicht alles beim alten belassen sollte, einen grund-
sätzlichen Reformansatz geben. Da Sie das für den
steuerrechtlichen Teil eben schon selbst anerkannt ha-
ben, ist meine Frage: Warum gibt es nicht entsprechend
einem veränderten bürgerschaftlichen Engagement auch
ein grundlegend neues Stiftungsrecht?
Wer bisher das Zivilrecht
vorspannen wollte, der wollte immer nur Verzögerung.
Wir haben nun einmal zur Kenntnis zu nehmen, daß die
Länder wirklich Aktien haben.
Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, daß das Grundge-
setz in den Regelungen zur konkurrierenden Gesetzge-
bung 1994 geändert worden ist. Das heißt, der Begrün-
dungszwang für bundeseinheitliche Regelungen ist we-
sentlich schärfer geworden. Wenn wir uns jetzt auf eine
Diskussion mit den Ländern einlassen würden, würden
wir für den steuerrechtlichen Teil sehr viel Zeit verlie-
ren.
7000 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Frau Süssmuth, Sie sprachen vom Paradigmenwech-
sel. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie diesen Paradig-
menwechsel dem Theo Waigel oder seinen Vorgängern
beigebracht hätten.
Das ist wie bei den Mauern von Jericho: Man muß sie
häufig umkreisen, bevor sie stürzen. Insofern versuchen
wir, das Verständnis für das Ganze in geduldiger und
solidarischer Arbeit zu wecken. Ich sage es noch einmal:
Ein Drittel Steuerverzicht führt zu einem Plus von zwei
Dritteln bei den Mitteln für die Stiftungszwecke – was
man sonst nicht hätte. Das ist eine gemeinsame Aufga-
be, die wir zu erledigen haben.
– Nein! Aber wir sind erst im ersten Jahr. Es ist immer
toll, daß manche erst in der letzten Minute kommen und
fragen: Wieso seid ihr nicht schon da? Das ist fast wie
bei Igel und Hase.
Herr Kollege
Stiegler, nun hat auch noch die Kollegin Griefahn den
Wunsch, mit Ihnen zu reden.
Lieber Ludwig Stiegler,
ich habe noch eine Frage zum Ausfall in Höhe von
1 Milliarde DM. Diese Zahl beruht ja auf der Grundla-
ge von sehr komplizierten Berechnungen. Wenn ich
mir anschaue, wer hohe Beträge für gemeinnützige
Zwecke, die auch jetzt schon steuerabzugsfähig sind,
spendet und mir dann einmal überlege, daß man, wenn
man 5 000 neue Leute für eine Zustiftung oder eine
Bürgerstiftung fände, 50 Millionen DM an Verlust
hätte, und wenn ich schließlich bedenke, wie wenig
Stiftungskultur es bislang in Deutschland gibt, dann
frage ich Sie: Sind diese 50 Millionen DM nicht eine
viel realistischere Summe als die 1 Milliarde DM, die
im Raum steht?
Jetzt ist Barbara Hendricks
nicht mehr da. Ich hätte diesen Beitrag gern an den Bun-
desminister der Finanzen weitergeleitet. Wir beide be-
mühen uns ja gemeinsam, ein realistisches Bild zu
zeichnen. Dazu muß ich allerdings sagen, daß nicht der
Bundesfinanzminister, sondern die Länderfinanzminister
das Hauptproblem sind. Im steuerrechtlichen Teil sind
mit dem Buchwertprivileg, mit der Rücklagenbildung,
mit der Zustiftung, mit der Spendenabzugsregelung und
der ganzen Breite der Erbschaftsteuerregelungen doch
eine Reihe von Tatbeständen vorhanden, die wir beden-
ken müssen. Ich glaube aber, wir werden mit dem
Finanzminister in dieser Woche noch im einzelnen einig
werden.
Meine Damen und Herren, in einem Punkt möchte
ich dem Finanzminister helfen. Ich meine die miß-
bräuchlichen Gestaltungsformen – ich meine Doppel-
stiftungen, das Stichwort Hertie-Stiftung und was auch
immer –, bei denen man wirklich sehen kann, daß die
Kautelarjurisprudenz Gestaltungsformen schafft, die
weniger dem gemeinnützigen Zweck als dem Zweck
von bestimmten Stifterfamilien dienen. In diesem Punkt
sollten wir den Finanzminister parallel zum Gesetzge-
bungsverfahren begleiten und heute schon ankündigen,
daß rückwirkend alle Gestaltungsformen beseitigt wer-
den, bei denen man erkennen kann, daß sie mehr den
Stiftern als den Destinatären dienen. Ich glaube, inso-
weit sollten wir uns einig sein.
Im Mittelalter war die „pia causa“ Grundlage der
Stiftungen. Die „pia causa“ der Moderne ist die Ge-
meinnützigkeit, die Gemeinwohlorientierung, aber nicht
das Steuersparmodell. Darüber sind wir uns alle einig.
Deshalb sage ich Ihnen: Die CDU/CSU ist im Klub
willkommen. Wir nehmen auch diejenigen, die in der
letzten Stunde kommen, im Weinberg der Stiftungsar-
beiter auf.
Vielen Dank.
Ich gebe nunmehr
für die F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Hans-Joachim
Otto das Wort.
Lieber
Herr Kollege Stiegler, vorweg bestätige ich Ihnen gerne,
daß auch frühere Regierungskoalitionen ihre liebe Not
mit den jeweiligen Finanzministern hatten.
Es gibt allerdings einen Unterschied: Die damaligen
Koalitionen haben es unterlassen, ständig in der Öffent-
lichkeit anzukündigen, sie würden in der nächsten
Woche eine Reform des Stiftungsrechts vorlegen.
Ich habe einmal nachgezählt: Diese Koalition hat
zwölfmal angekündigt, sie werde in der nächsten Woche
damit überkommen. Das ist nicht erfolgt.
Herr Kollege Otto,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Antje
Vollmer?
Ich habe
von Herrn Stiegler gelernt, daß man so zu mehr Redezeit
kommen kann. Gerne, Frau Kollegin Vollmer.
Ludwig Stiegler
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7001
(C)
(D)
Meine Frage ist auch ganz kurz. Lieber Herr Kollege
Otto, ist Ihnen bekannt, daß – jedenfalls meiner Erinne-
rung nach – die damaligen Koalitionen in vier Koali-
tionsvereinbarungen festgeschrieben haben, sie wollten
das Stiftungsrecht reformieren? Sie haben es viermal er-
klärt und viermal nicht gehalten. Ist Ihnen das bekannt?
Ich danke
Ihnen ausdrücklich für diesen Hinweis. Ich bestätige
Ihnen, daß sich die F.D.P. beharrlich darum bemüht hat,
Dinge voranzubringen.
Da wir aber keinen Finanzminister, leider auch keinen
Länderfinanzminister gestellt haben, war es uns nicht
beschieden, diese Dinge auf den Weg zu bringen.
Nachdem wir aber gehört haben, daß diese Regierungs-
koalition hier auf einem guten Weg ist, bin ich der Hoff-
nung, daß wir vielleicht sogar noch vor Weihnachten
gemeinsam ein Stück des Weges gehen können.
Da bald Weihnachten ist, will ich vorab feststellen:
Ich glaube, davon ausgehen zu dürfen, daß sich alle
Fraktionen dieses Hauses für mehr privates, bürger-
schaftliches Engagement zur Lösung von Gemein-
schaftsaufgaben aussprechen werden.
Ich will Ihnen ohne jedes Wenn und Aber zubilligen,
Herr Stiegler, daß eine Belebung der Stiftungskultur
den Sozialstaat in keiner Weise überflüssig macht. Das
ist überhaupt keine Frage; darum geht es nicht. Im übri-
gen geht es nicht nur um sozialstaatliche Ziele, sondern
auch um kulturpolitische Ziele, um den Umweltschutz,
den Denkmalschutz etc.
Wir sind uns auch darin einig, Herr Kollege Stiegler,
daß in Deutschland ein großer Nachholbedarf besteht.
Dies verdeutlicht die Situation in den USA, in Großbri-
tannien, aber auch in der Schweiz. Betrachten wir auch
einmal die Situation um die letzte Jahrhundertwende in
Deutschland! Damals gab es rund 100 000 Stiftungen.
Im Moment sind es aber nur zirka 8 000. Ich kann des-
halb mit Freude feststellen, daß in diesem Haus Über-
einstimmung darüber besteht, daß wir eine Renaissance
der Stiftungskultur brauchen. Das halte ich für eine sehr
wichtige Aussage. Darauf sollten wir in den weiteren
Beratungen Wert legen.
Wir brauchen aber über alle Fraktionsgrenzen hinweg
ein klares, deutlich vernehmbares Signal an die Gesell-
schaft, an potentielle Stifter. Die Psychologie ist hier
sehr wichtig. Deswegen darf die Reform nicht in mehre-
re kleine Reförmchen aufgespalten werden; denn diese
würde eigentlich niemand so richtig wahrnehmen.
Herr Kollege Stiegler, wenn Sie der Auffassung sein
sollten, bei uns sei irgend jemand daran interessiert, die-
se gemeinsame Reform zu verzögern, dann sage ich
Ihnen: Dies kann falscher nicht sein. Wir als F.D.P.-
Fraktion drängen nachweislich darauf, daß wir hier vo-
rankommen.
Sie weisen auch immer auf den Bundesrat hin. Ich
muß Ihnen entgegnen: Sie haben sich in der letzten Wo-
che bei der Gesundheitsreform auch nicht von den Län-
dern aufhalten lassen. Sie haben das hier im Bundestag
verabschiedet.
Lieber Herr Stiegler, in aller Klarheit: Der steuerrecht-
liche Teil bedarf der Zustimmung des Bundesrates.
Es überzeugt mich überhaupt nicht, den zivilrecht-
lichen Teil herauszunehmen. Das ist meines Erachtens
eine Chimäre, die Sie hier aufbauen.
Das zweite, meine Damen und Herren, was wir nicht
tun dürfen, ist, Neidkomplexe zu schüren, wenn wir die-
ses klare Signal haben wollen. So wichtig die breite
Stiftungskultur ist, die Sie eben angesprochen haben,
Frau Kollegin Griefahn, so sollten wir uns über eines
nicht täuschen: Gerade die von Ihnen so oft geschmäh-
ten Reichen, Wohlhabenden, Erfolgreichen in der Ge-
sellschaft, sind es, die etwas – und ich sage: mehr – für
die Gemeinschaft tun können und sollen. Wenn wir wis-
sen, daß das Durchschnittsvermögen der Stiftungen in
Deutschland 5 Millionen DM beträgt, dann wissen wir
auch, daß jede Deckelung von Steuerfreibeträgen auf
die von Ihnen vorgeschlagenen 50 000 DM oder 40 000
DM von Übel sind. Sie sind kontraproduktiv.
Mit 50 000 DM, Herr Kollege Stiegler, können Sie keine
neue Stiftung gründen. Darüber sind wir uns einig. Sie
können allenfalls zustiften.
– Ich bin für die Bürgerstiftung, Herr Kollege Stiegler.
Ich bin für sie, um das ganz klar zu sagen. Aber Bürger-
stiftungen sind nicht alles. Wir brauchen auch Mäzena-
tentum, große Taten, Stiftungen, die mit einem Millio-
nenvermögen ausgestattet sind und wichtige Ziele ver-
folgen. Das würde man mit Ihrem Vorschlag konterka-
rieren.
Meine Damen und Herren, in der heutigen Presse
konnte man lesen, daß das Stiftungsrecht, die Erb-
schaftsteuer und die Besteuerung der Kapitaleinkünfte
einen Dreiklang bilden sollen und nunmehr als Chefsa-
che von Gerhard Schröder darüber entschieden werden
soll.
7002 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Nun denn, das finde ich gut. Gerhard Schröder wartet
sicher sehnsüchtig auf unseren Rat. Deshalb will ich ihn
nicht länger warten lassen.
Herr
Kollege Otto, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Kollege
Tauss darf bei mir immer Fragen stellen.
Herr Kollege Otto, ich bin fast
gerührt. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß die
Zahl von 50 000 DM den seitherigen Satz, der möglich
ist, nicht ersetzt und daß wir vielleicht doch darüber
nachdenken sollten? Insofern bitte ich Sie, Ihre Kritik zu
überprüfen. Sind Sie bereit, daran mitzuwirken, daß wir
uns, wenn es um eine Unternehmensteuerreform geht,
die wir mit großer Sorgfalt vorbereiten und die wir
machen wollen, und im Zusammenhang mit weiteren
Reformschritten im Steuerbereich Gedanken machen, ob
nicht auch etwas für Stiftungen getan werden kann, so
daß es sinnvoll wäre, darüber zu diskutieren, endlich
einen ersten Schritt folgen zu lassen?
Lieber
Herr Kollege Tauss, ich möchte Ihnen zunächst einmal
sagen: Dieser von Ihnen erwähnte Freibetrag ist ein
Phantom. Wenn wir wenigstens einmal Ihren Gesetz-
entwurf vor uns sehen könnten, dann wüßten wir mehr.
In der Presse liest man immer von einer kompletten
Deckelung. Wenn es so ist, daß es ein zusätzlicher Frei-
betrag ist, dann antworte ich Ihnen: Jede Form von Dek-
kelung ist vor dem Hintergrund, ein psychologisches Si-
gnal zu setzen, nicht gut. Deswegen empfehle ich Ihnen,
auf jede Art von Deckelung in diesem Bereich zu ver-
zichten. Aber wir können uns darüber einmal in Ruhe
unterhalten, wenn Ihr zwölfmal angekündigter Gesetz-
entwurf vor uns auf dem Tisch liegt.
Zu dem Thema Stiftung als angebliches Steuerspar-
modell hat Herr Stiegler – das will ich ausdrücklich sa-
gen – gute Worte gefunden. Ich hoffe, Sie werden es bei
der weiteren Beratung noch im Auge behalten. Wir
sollten uns vor Augen halten, daß jeder Stifter der Ge-
sellschaft, der Gemeinschaft aus seinem erarbeiteten
Privatvermögen mindestens doppelt soviel gibt, wie er
als Steuervorteil zurückbekommt, und zwar endgültig
und unwiderruflich. Deswegen ist die Bilanz der Stif-
tungsrechtsreform für die Gesellschaft in jedem Fall
positiv, nicht nur wegen des Geldes, sondern auch we-
gen privater Mitarbeit, denn wir wissen doch, daß rund
90 Prozent aller Stiftungen in Deutschland ehrenamtlich
geführt werden, so daß die Stifter nicht nur Geld geben,
sondern sich sinnvollerweise auch privat für die Zwecke
engagieren, für die sie gestiftet haben.
Meine Damen und Herren, man fragt sich also: Was
hält uns bei der großen Übereinstimmung, die hier zum
Ausdruck kommt, davon ab, den großen Wurf zu wa-
gen? Hier bin ich dem Kollegen Jörg-Otto Spiller dank-
bar, der vor kurzem die Schlüsselfrage in dankenswerter
Klarheit formuliert hat. Ich zitiere den Kollegen Spiller:
„Es kann nicht sein, daß jeder, statt Steuern zu zahlen,
selbst darüber entscheiden kann, was mit seinem Geld
passiert.“
Meine Damen und Herren, hier sehen Sie anschaulich
den Unterschied zwischen freiheitlichen und staatsgläu-
bigen Politikern.
Während der freiheitliche möglichst viel bürgerschaftli-
che Verantwortung anstrebt, versucht der staatsgläubige,
dem Bürger möglichst viel wegzunehmen und es dann
nach seinem Gusto wieder umzuverteilen und unter die
Menschen zu bringen.
Es stellt sich hierbei eine gewisse Machtfrage: Wie-
viel Verantwortung will ich dem einzelnen Bürger geben
und wieviel Verantwortung dem Staat? Deswegen freue
ich mich sehr, daß Herr Schröder das zur Chefsache ge-
macht hat.
Wir stehen vor einer interessanten Weichenstellung. Die
Stiftungsrechtsreform ist sicherlich nicht der Nabel der
Welt und auch nicht ein allmächtiger Problemlöser.
Aber die Frage, wie wir mit der Stiftungsrechtsreform
umgehen, ist ein Lackmustest für die Freiheitlichkeit un-
serer Gesellschaftsordnung.
Da stehen wir vor einer sehr wichtigen Weggabelung:
Wollen wir mehr Neid, oder wollen wir mehr Bürger-
sinn haben? Unsere Antwort als Liberale ist sehr klar.
Ich habe leider nicht die Zeit, auf den Gesetzentwurf
der F.D.P. und den Änderungsantrag näher einzugehen.
Unser Gesetzentwurf – ich lege Wert darauf, dies deut-
lich zu machen – ist bisher der einzige Gesetzentwurf,
der ordnungsgemäß eingebracht worden ist.
Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, insbeson-
dere für die verehrten Kolleginnen und Kollegen von
Rot und Grün: Wir betrachten unseren Gesetzentwurf als
ein Angebot an die anderen Fraktionen. Deswegen ha-
ben wir einen Änderungsantrag eingebracht, mit dem
wir uns auf das zubewegen, was die CDU in ihrem – wie
ich finde – insgesamt sehr sinnvollen Antrag gemacht
hat und was die Grünen in der letzten Legislaturperiode
gemacht haben, Stichwort: Registrierungsverfahren als
Entstehungstatbestand. Das ist von uns ein Angebot in
vielfältiger Hinsicht, damit wir uns aufeinander zubewe-
gen.
Deshalb abschließend mein Appell an die Kollegen
von SPD und Grünen: Werfen Sie Ihr Herz über die
Hans-Joachim Otto
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7003
(C)
(D)
Hürde, geben Sie dem Bürgersinn mehr Raum, trauen
Sie sich, eine mutige Stiftungsrechtsreform durchzufüh-
ren.
In diesem Sinne werden wir mit Ihnen konstruktiv und
fair in den nächsten Wochen und Monaten hoffentlich
zu einer erfolgreichen Stiftungsrechtsreform kommen.
– Das hoffe ich doch sehr.
Danke schön.
Als
nächster Rednerin gebe ich das Wort der Kollegin Antje
Vollmer von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
für niemanden ein Geheimnis: Ich mag Stiftungsdebat-
ten; ich kann davon gar nicht genug haben. Erstens mei-
ne ich, daß da tatsächlich neue Ideen auftauchen, näm-
lich die Ideen einer Bürgergesellschaft. Zweitens ent-
stehen neue Gemeinsamkeiten über die Fraktionen hin-
weg, was neue Ideen wirklich brauchen.
– Drittens wird auch die Opposition kreativ. Was die
Opposition angeht, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU, so habe ich auf Grund Ihrer Beiträge zwei Sa-
chen begriffen: Einmal haben Sie 16 Jahre lang ganz
intensiv über das Stiftungsrecht meditiert.
Das begrüße ich; denn auch ich habe das getan. Aber
ich hätte es noch mehr begrüßt, wenn heute endlich der
Gesetzentwurf vorgelegt worden wäre, von dem ich da-
mals immer vermutet habe, Sie hätten ihn in der Schub-
lade.
Es wäre für Sie als Opposition heute eine völlig gefahr-
lose Möglichkeit gewesen, ihn einmal vorzulegen.
– Darauf komme ich gleich noch.
Im Jahre 1997 hat es nur einen Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen gegeben, mit dem das, was die
F.D.P. heute auf den Tisch gelegt hat, und auch der An-
trag der CDU/CSU sehr viele Ähnlichkeiten haben, was
ich ja nur begrüßen kann.
Es fehlte Ihnen offensichtlich nicht daran, in eine ähnli-
che Richtung zu denken. Aber es fehlte Ihnen trotz der
mächtigen politischen Kaliber, die Sie in Ihren Reihen
hatten, doch wohl an der Kraft, es gegenüber dem
Finanzminister umzusetzen, oder vielleicht an der Kraft
des früheren Finanzministers, es gegenüber seinem
Ministerium durchzusetzen.
– Das ist ein schönes offenes Wort. Ich finde überhaupt,
diese Debatte verläuft erfreulich offen.
Damals war es so, daß wir gerne eine Anhörung auf
der Basis unseres Gesetzentwurfes durchführen woll-
ten. Unser Gesetzentwurf liegt jetzt zwar noch nicht
vor, aber weil wir die Sache beschleunigen wollen, ha-
ben wir für den 15. Dezember eine Anhörung be-
schlossen. Damals war die Anhörung leider eher eine
Art Winkelmesse; sie durfte nicht öffentlich stattfin-
den. Der damalige und heutige CDU-Fraktionsvor-
sitzende, Herr Dr. Schäuble, hat an den Bundesverband
Deutscher Stiftungen, Professor von Campenhausen,
einen Brief geschrieben – den habe ich nicht geheim
bekommen, sondern der wurde in der Dokumentation
des damaligen Expertengespräches abgedruckt –, in
dem es hieß:
Die Änderungen des Privatrechts sind weder erfor-
derlich noch geeignet, um die Situation privater
Stiftungen zu verbessern und zur Gründung neuer
Stiftungen zu ermutigen.
Offensichtlich war das damals falsch. Das zeigt auch
Ihr heutiger Antrag. Ich begrüße diese Einsicht. Sie ha-
ben nachgedacht, und wir können jetzt gemeinsam agie-
ren. Wie schon Ludwig Stiegler gesagt hat: Willkom-
men im Klub der Stiftungsfreunde, die wir hier offen-
sichtlich alle sind!
Ich habe auch schon auf die erfreulichen Ähnlichkei-
ten unserer Vorstellungen hingewiesen. Allerdings hät-
ten Sie sich in manchem noch etwas genauer an unser
Vorbild halten sollen, dann wären Ihnen einige Unge-
reimtheiten nicht unterlaufen. Damit komme ich jetzt zu
Ihrem Antrag.
So schreiben Sie in der Problemdarstellung, daß das
Besondere des Instituts der Stiftung darin besteht – ich
zitiere –,
daß das vom Stifter eingebrachte Vermögen auf
Dauer an den von ihm festgelegten Zweck gebun-
den ist ... Damit bietet die Stiftung neben der Ver-
läßlichkeit der Mittelvergabe eine einzigartige Ge-
staltungsfreiheit ...
Hans-Joachim Otto
7004 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Dem kann ich nur voll zustimmen. Nur, Sie widerspre-
chen sich selbst, wenn Sie dann fordern, der Stifter solle
zu Lebzeiten den Stiftungszweck wieder ändern kön-
nen, und zulassen, daß eine Stiftung nur auf Zeit besteht.
Ich habe in meiner langen Beschäftigung mit dem
Stiftungsrecht gelernt, daß das gerade dem Sinn und
dem Ernst einer Stiftung widerspricht.
Denn nur wenn der Stifter weiß, daß er auf Dauer für
den Stiftungszweck, den er gewählt hat, als Person gera-
destehen muß – sogar über seine Lebenszeit hinaus –,
werden mit Ernst gute Zwecke auf Dauer gewählt. Eben
diesen Ernst wollen wir. Das sei übrigens auch dem
Finanzminister gesagt.
Sie wollen des weiteren, daß der Begriff „Stiftung“
nur noch verwendet werden darf, wenn ein gemein-
wohlorientiertes Vorhaben verfolgt wird. Das ist in die
richtige Richtung gedacht; da stimme ich Ihnen zu. Aber
Sie verschweigen, was das in der Konsequenz ihres Ge-
dankens bedeutet: nämlich daß Familienstiftungen, die
ausschließlich für den Unterhalt gewisser Familienange-
höriger bestimmt sind, also nicht dem Gemeinwohl die-
nen, oder Stiftungen, die den Zweck haben, Unterneh-
men zu führen, nicht mehr möglich wären.
Ich gestehe: Auch wir haben überlegt, die Bezeich-
nung „Stiftung“ als eine Art Gütesiegel zu schützen und
nur auf gemeinwohlorientierte Institutionen anzuwen-
den. Doch mußten wir akzeptieren, daß dies ein zu gro-
ßer Einschnitt in die Rechtstradition unseres Landes
dargestellt hätte. Das habe ich in langen, langen Diskus-
sionen mit dem Bundesverband Deutscher Stiftungen
begriffen. So haben wir einen anderen Weg eingeschla-
gen, der, so glaube ich, besser ist und dennoch in die
Richtung dessen geht, was Sie wahrscheinlich wollen,
nämlich die Gemeinnützigkeit wesenhaft mit den Stif-
tungen zu verbinden. Wir werden die Gründung von
Familienstiftungen, die ausschließlich den Sinn haben,
einen bestimmten Teil von Familienangehörigen ohne
jede gemeinnützige Tätigkeit zu unterstützen, erschwe-
ren, genauso wie wir vor allen Dingen darauf achten
werden – dafür brauchen wir noch eine gewisse Zeit –,
daß auch Stiftungsgründungen aus wirtschaftlichen
Zwecken erheblich erschwert werden.
– Bitte schön.
Sie er-
lauben eine Zwischenfrage des Kollegen Otto. – Bitte,
Herr Otto.
Frau
Kollegin Dr. Vollmer, kann ich Ihren Worten in einer
offenen Debatte, die wir jetzt führen, entnehmen, daß
Sie das Institut der Stiftung als ein ganz normales, nicht
gemeinnütziges Rechtsinstitut ablehnen? Andersherum
gefragt: Warum eigentlich wollen Sie die Stiftung nicht,
wie in den vergangenen Hunderten von Jahren, als ein
spezifisches Rechtsinstrument anerkennen, das auch für
nicht gemeinnützige Zwecke Verwendung finden kann?
Sie haben mich exakt falsch verstanden. Was Sie gesagt
haben, war eben meine Kritik an dem Antrag der
CDU/CSU. Ich habe gelernt, daß man den Begriff nicht
so eng als Gütesiegel fassen kann, wie ich das wollte.
Um so mehr muß ich sorgfältig darauf achten, daß nur
das Gemeinnützige gefördert
und daß der Mißbrauch des Stiftungsbegriffs zum Bei-
spiel durch das Institut von Doppelstiftungen zu rein
wirtschaftlichen Zwecken unterbunden wird. Hierzu gibt
es eine breite Zustimmung – wie ich sehe, auch hier im
Haus – selbst unter den großen Stiftern, weil auch ihnen
an einer Klärung sehr gelegen ist. Das ist die Lehre, die
wir aus den Erfahrungen, die in den USA gemacht wor-
den sind, ziehen können, die genau diese Trennung spä-
ter vorgenommen haben. Sie ahnen wohl, daß es hier um
die Interessen großer Stiftungen geht. Um das sorgfältig
zu machen, brauchen wir den Dialog mit dem Justizmi-
nisterium und auch mit den Ländern über den zivil-
rechtlichen Teil. – Damit wäre die Frage beantwortet.
An dieser Stelle möchte ich auch die Frage, die Sie
vorhin in der Debatte gestellt haben, beantworten, näm-
lich warum wir die Reform in zwei Schritten machen.
Das machen wir genau aus dem erwähnten Grund. Jeder,
der sich so lange wie ich mit dem Stiftungsrecht be-
schäftigt hat, weiß, daß der steuerrechtliche Teil der mit
Abstand schwierigste Teil ist. Damit fangen wir jetzt an.
Wir sind redlich stolz darauf – es hat vieler Debatten
und großer Anstrengungen bedurft –, daß wir das hinbe-
kommen. Dies ist der materielle Durchbruch. Das ist der
magische Punkt, über den wir hinweg mußten.
Auf Ihre Frage, ob die Tatsache, daß wir hier noch
keinen Gesetzentwurf vorliegen haben, ein gutes oder
ein schlechtes Zeichen ist, sage ich Ihnen – und das se-
hen Sie an unseren Mienen –: Es ist ein gutes Zeichen.
Ich bitte Sie, noch so kurz zu warten, bis wir gemeinsam
unsere Vorstellungen in der Anhörung miteinander ver-
gleichen können.
Der steuerrechtliche Teil ist der materiell sehr viel
schwierigere. Das war auch der Grund, warum Sie dies
in der Vergangenheit nicht hinbekommen haben. Aber
Dr. Antje Vollmer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7005
(C)
(D)
der zivilrechtliche Teil gehört dazu. Das wissen wir alle,
das weiß auch die Regierung. Mit den Gesprächen dazu
haben wir bereits begonnen. Die Justizministerin ist
nicht zufällig hier, sondern genau aus diesem Grunde.
Vor allen Dingen wegen der Länder brauchen wir dafür
noch eine gewisse Zeit. Der Gesetzentwurf wird aber
kommen. Die einzige sinnvolle Trennung, die man vor-
nehmen kann, ist die zwischen dem Steuerrecht und dem
Zivilrecht. Beides wird folgen. Das Versprechen haben
wir gegeben, und wir werden es einhalten.
Frau
Kollegin Vollmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lammert?
Ja, gern.
Bitte,
Herr Lammert.
Frau Kollegin
Vollmer, habe ich Ihre Bemerkung mit den freudigen
Mienen ob des noch nicht vorgelegten Gesetzentwurfs
richtig verstanden, daß die Aussichten auf ein wirklich
gründliches, modernes Stiftungsrecht um so größer sind,
je länger der Gesetzentwurf nicht vorliegt?
Nein. Lieber Herr Kollege Lammert, auch Sie wissen,
daß ich schon damals, als wir die Mehrheit noch nicht
hatten, den Versuch gemacht habe, im Stiftungsrecht
mittels der mir sehr wohl bekannten Bereitschaft in der
CDU/CSU und in der F.D.P. sogar mit Hilfe des dama-
ligen Bundeskanzlers Helmut Kohl etwas zu bewegen.
Sie wissen auch, was Helmut Kohl damals gesagt hat.
Ich habe erklärt: Man kann doch schon den zivilrechtli-
chen Teil ändern. Er hat geantwortet: Nein, man kann
nur etwas im Rahmen der großen Steuerreform machen.
Er hat schon damals gewußt, was wir jetzt erfahren
haben, nämlich daß man den steuerrechtlichen und den
zivilrechtlichen Teil im Zusammenhang sehen muß. Aus
diesem Grunde haben wir in den letzten Monaten so
viele ernste und druckvolle Debatten geführt.
Unsere fröhlichen Mienen zeigen Ihnen, daß wir in
diesem zentralen Punkt sehr dicht an einer Lösung sind.
Ich glaube, damit kann man sich dann auch sehen lassen.
Das wird in den nächsten Tagen erfolgen.
Ich möchte nur noch ein letztes Argument nennen,
weil immer wieder gefragt worden ist: Warum denn die-
se 50 000 DM? Dazu gab es immer Mißverständnisse.
Wir behalten die Abzugsfähigkeit von Spenden bis zu
einer Höhe von 5 bis 10 Prozent des steuerpflichtigen
Einkommens bei. Es geht um die zusätzlichen 50 000
DM ausschließlich für den Zweck von Stiftungen.
Dazu haben Sie gesagt: So kommen Sie nicht an das
ganz große Geld heran. Nun zeigt aber die Erfahrung,
daß die Stiftungskultur in Deutschland so arm geworden
ist, daß sogar diejenigen mit den ganz hohen privaten
Einkommen nicht einmal diese 10-Prozent-Grenze aus-
schöpfen. Für diese müssen wir also nichts tun. Für die-
se müssen wir eine Atmosphäre schaffen, damit auch sie
endlich das ihre zum Gemeinwesen beitragen.
Wir wollen an diejenigen appellieren, die kleinere
Einkommen haben, die mit den 5 oder 10 Prozent nie-
mals an eine Steuerschuld in Höhe von 50 000 DM he-
rankommen würden, die aber trotzdem bereit sind, die-
ses dem Gemeinwesen zur Verfügung zu stellen. Wir
haben schon gesagt: Das ist kein Steuerschlupfloch, man
häuft damit kein privates Vermögen an, sondern man
gibt das endgültig, definitiv dem Gemeinwesen, und die
meisten der Stifter tun noch viel mehr. Das ist ja die er-
staunliche Erfahrung bei den Stiftern, daß sie nicht nur
ihr Geld dafür geben, sondern daß sie darin ihr zweites
Lebenswerk und meistens ihr schöneres Lebenswerk se-
hen.
Dafür brauchen sie eine gewisse öffentliche Akzep-
tanz. Diese Akzeptanz schaffen wir. Das ist auch Ge-
genstand der Debatte, die jetzt in den Kommunen läuft.
Die Kommunen werden davon ungeheuer profitieren.
Darum setze ich auch darauf, daß die Länder nicht wi-
dersprechen werden. Sie handelten nämlich gegen ihre
eigenen Interessen, wenn sie das tun würden. Das Geld,
das sich sonst irgendwo weltweit anonymisieren würde,
landet bei ihnen. Ich hoffe, daß wir das alle unterstützen
und damit diesen Stiftungsfrühling auch erreichen.
Ich danke Ihnen.
Als
nächster Redner hat Kollege Dr. Heinrich Fink von der
PDS-Fraktion das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich
unvermeidlich, daß bei der ersten Lesung des vorliegen-
den Antrags der CDU/CSU-Fraktion die bekannten und
die angekündigten Gesetzentwürfe der anderen Parteien
zu diesem Gegenstand mitgedacht werden. Deshalb
werde ich mich in dieser knappen Redezeit darauf be-
schränken, mich vor allem zum für uns Grundsätzlichen
zu äußern.
Wie bereits bei verschiedenen Gelegenheiten betont,
unterstützt die PDS-Fraktion die angestrebte Reform des
Stiftungswesens, soweit sie darauf gerichtet ist, für eine
breite Palette eindeutig gemeinnütziger Zwecke privates
Dr. Antje Vollmer
7006 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Vermögen heranzuziehen. Sie haben also auch die PDS
mit im Boot.
Frau Vollmer hat eben von dem zweiten Lebenswerk
gesprochen. Ich kenne viele ältere Leute, die nicht viel
Geld haben, aber dieses Geld gern so einsetzen möchten,
daß es auch noch einen Sinn hat. Diese Menschen
möchten der Gesellschaft gern das zurückgeben, was sie
von ihr gewonnen haben.
Über die vor allem von den Kulturpolitikern mit
dem Reformprojekt verbundenen Hoffnungen und Wün-
sche ist in den Begründungen der erwähnten parlamenta-
rischen Initiativen, in Anhörungen, in Stellungnahmen
involvierter Verbände und in unzähligen Expertisen so-
wie in den eben so eloquent vorgetragenen Reden viel
zu lesen und zu hören gewesen. Diesen Wünschen und
Hoffnungen schließen wir uns an.
Es gehört aber, glaube ich, zu den Aufgaben einer
linken Oppositionspartei, auf ein paar grundlegende
Voraussetzungen und Begleiterscheinungen aufmerksam
zu machen, die aus unserer Sicht darüber entscheiden
werden, ob diese Erwartungen auch in Erfüllung gehen
werden.
Erstens. Die über die Institution der Stiftung für das
Gemeinwohl zu erschließenden finanziellen Mittel müs-
sen Mittel sein, die der Kultur, der Wissenschaft, dem
sozialen Bereich zusätzlich zur jetzigen Versorgung die-
ser Bereiche durch den Staat zur Verfügung stehen. Sie
dürfen nicht gegenwärtiges Engagement des Staates
ersetzen – da stimme ich Herrn Stiegler voll und ganz
zu –
oder gar dessen weiterem Zurückziehen aus diesen Be-
reichen Vorschub leisten.
In der mehr oder weniger unverbindlichen öffentli-
chen Debatte herrscht weitgehend Konsens zu diesem
Punkt. Es fehlt aber nach wie vor an überzeugenden
Nachweisen dafür, wie diese Zusätzlichkeit der von den
Stiftungen erwarteten Mittel wirklich abgesichert wer-
den kann. Diese Frage sollte auf jeden Fall den Experten
bei der Anhörung im Kulturausschuß am 15. Dezember
1999 vorgelegt werden.
In diesem Sinne bedarf auch der steuerrechtliche Teil
des vorliegenden Antrags, der bis hin zur Bonusregelung
im Rahmen der Erbschaftsteuer von den kursierenden
Vorschlägen die am weitesten reichenden vereint, einer
weiteren Aufhellung.
Zweitens. Das für die Stiftungsrenaissance herange-
zogene Argument der leeren Staatskassen läßt die PDS
nicht gelten. Im Zuge der vor kurzem geführten Haus-
haltsdebatte haben wir eine ganze Reihe von Einnahme-
und Einsparmöglichkeiten aufgezeigt, mit denen ganz
sicher einiges von dem zu realisieren wäre, was nun
möglicherweise über den Ausbau des Stiftungswesens
erreicht werden kann.
Drittens. Auch das der schlechten Kassenlage zur
Seite gestellte konstruktive Argument, wonach mit dem
Stiftungsboom ein Schritt in Richtung auf eine sich
selbst verwaltende Bürgergesellschaft gegangen wird,
liegt nicht so ohne weiteres auf der Hand. Selbst unter
Einbeziehung der Idee von Bürger- und Gemeinschafts-
stiftungen dürfte klar sein, daß an einer solchen Bürger-
gesellschaft der überwiegende Teil der Bevölkerung
nicht teilhaben könnte.
Es bedarf noch vieler Überlegungen und praktischer
Schritte, um auch denjenigen die Möglichkeit zu direk-
terer und umfassender Teilnahme an den gesellschaftli-
chen Prozessen einzuräumen, die das nicht über einen
bemerkenswerten freiwilligen finanziellen Beitrag tun
können. Die allein über Stiftungen und ähnliche Instru-
mentarien erreichte Bürgergesellschaft wäre also besten-
falls eine privilegierte Teilgesellschaft.
Obwohl ich noch weitere drei Punkte habe, ist meine
Zeit leider schon zu Ende. Herr Stiegler, die Pia causa
hat uns viel Kunst geschaffen. Heute kommt es darauf
an, sie zu erhalten. Das wäre für mich in diesem Mo-
ment wirklich die Causa politica, auf die wir uns mit der
Stiftung einlassen.
Schönen Dank.
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Norbert Rött-
gen von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Mei-
ne Damen und Herren! Die entscheidende Frage, die zu
diesem Thema gestellt werden muß, lautet: Wird es in
dieser Legislaturperiode eine wirkliche Reform des
Stiftungsrechts geben, eine Reform, die den grundlegen-
den gesellschaftspolitischen und staatspolitischen Be-
gründungen, die hier im wesentlichen vorgetragen wor-
den sind, gerecht wird? Oder wird es irgendein Reförm-
chen geben, wird nur an einer Schraube gedreht? Oder
wird es einen Durchbruch geben, wie er allerdings nicht
im allgemeinen Konsens gefordert worden ist? Es gehört
zur Ehrlichkeit der Debatte, festzustellen, daß es unter-
schiedliche Akzente gab. Aber die Mehrheit in diesem
Hause sagt: Wir brauchen einen Durchbruch.
Stiftungen sind eine Strategie zur Bewältigung von
zwei großen Trends – sie sind zum Teil Krankheiten un-
serer Gesellschaft und unseres Staates –, mit denen wir
uns herumschlagen. Der eine große Trend besteht in der
Erosion der Gesellschaft. Die beiden großen Trends sind
zum einen der Pol der individuellen Selbstentfaltung,
der Selbstbestimmung – das ist ein wichtiger Bereich –,
und zum anderen der Pol der Erwartung staatlicher Pro-
blemlösung. Innerhalb dieser beiden Blöcke wird das
Gesellschaftliche zerrieben und ausgezehrt. Ob es die
Krise der Parteien, der Vereine, der Bürgerinitiativen
oder der Familie ist: Wir haben einen Mangel an Gesell-
schaft.
Dr. Heinrich Fink
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7007
(C)
(D)
Der zweite Trend ist die Überforderung des Staates.
Der Staat ist in einem Maße überfordert, daß er selbst
dort, wo er unersetzbar ist, nicht mehr effizient genug
handelt. Eine Strategie für die Legitimation von Stiftun-
gen besteht darin, für eine Entlastung des Staates – wo
es die Bürger leisten können – und für mehr Bürgerge-
sellschaft einzutreten. Dies steht im Zentrum der De-
batte über moderne Gesellschaftspolitik und über mo-
dernes Staatsverständnis.
Darüber besteht kein allgemeiner Konsens. Die ent-
scheidende Frage ist, ob wir eine Reform zustande brin-
gen, die der Dimension dieser Erwartungen gerecht
wird, oder ob wir dieses Ziel verfehlen.
Ich will frank und frei einräumen, daß die vorherige
Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. diese Reform nicht
zuwege gebracht hat. Das können wir alle, die wir in
dem Wunsch nach Erreichen dieses Ziels vereint sind,
nur feststellen und bedauern. Wir haben diese Kraft
nicht aufgebracht. Sie, Frau Dr. Vollmer, haben Ende
der letzten Legislaturperiode – das war begrüßenswert –
eine Initiative ergriffen, die der Sache Dynamik verlie-
hen hat. Die CDU/CSU-Fraktion hat heute erstmals eine
Konzeption zu dem gesamten Thema vorgelegt.
Die Frage aber ist: Was wird die rotgrüne Regierung
tun? Herr Stiegler und Frau Vollmer, ich muß sagen: Ih-
re heutigen Einlassungen nähren die Erwartung, daß es
erneut eine Absage an eine wirkliche Reform des Stif-
tungsrechts in Deutschland geben wird. Das ist die ent-
täuschende Zwischenbilanz, die ich aus der heutigen
Debatte ziehen muß.
Was Sie vorhaben, ist ein kleines Schräubchen. Sie
können doch nicht behaupten, es gebe einen Durchbruch
beim Stiftungsrecht, wenn jetzt diese 50 000-DM-
Regelung eingeführt wird. Dies ist eine einzige Rege-
lung. Sie drehen nur an einem Schräubchen. Selbst da-
mit tun Sie sich so schwer, daß Sie noch nicht einmal
heute dazu etwas vorlegen können. Wenn diese Debatte
einen Sinn machen soll, dann muß man die Frage an die
Koalition stellen, ob sie bereit ist, in der Auseinander-
setzung mit allen Fraktionen dieses Hauses an einer
wirklichen Stiftungsrechtsreform mitzuarbeiten. Dies
ist die politische Frage, die Sie beantworten müssen,
übrigens auch Sie persönlich, Frau Vollmer. Das, was
sich hier abzeichnet und was die Koalition Gesetz wer-
den lassen möchte, ist meilenweit von Ihrem eigenen
Gesetzentwurf entfernt.
Wenn Sie auch noch diesen in der Schublade lassen,
dann haben auch Sie persönlich ein Glaubwürdigkeits-
problem. Deshalb appelliere ich an die Koalitionsfrak-
tionen, das Thema jetzt nicht dadurch totzumachen, daß
man ein Reförmchen macht. Wir haben nichts gemacht.
Ich beschönige dies mit keinem Wort. Aber dadurch ist
die Chance auf eine vernünftige Reform erhalten geblie-
ben.
– Ja, natürlich! Wenn Sie jetzt angesichts dieses kompli-
zierten Themas verkünden würden, dies sei die große
Reform und in der Sache wäre sie es tatsächlich nicht –
dies können Sie angesichts Ihrer eigenen Vorstellungen,
die Sie in Form des Gesetzentwurfs publiziert haben, gar
nicht bestreiten –, dann wäre dieses Thema auf Jahre
hinweg tot und damit wäre eine große Chance vertan.
Ich kann nur für unsere Fraktionen appellieren – das gilt
auch für die F.D.P.-Fraktion; Sie, Herr Otto, haben es
auch getan –: Sie haben die Mehrheit in diesem Hause.
Sie können entscheiden: Wir wollen nicht zusammen-
wirken; wir machen unsere Minimallösung; wir versu-
chen, irgend etwas auf den Weg zu bringen. Wenn Sie
dies machen, dann heißt das, daß es in dieser Legislatur-
periode keine Reform des Stiftungsrechts gibt, die die-
sen Namen auch verdient und die die Erwartungen, die
die Mehrheit in eine solche Reform setzt, erfüllt. Dies
wäre dann das traurige Ergebnis Ihrer Bemühungen.
– Herr Stiegler, warum weigern Sie sich denn?
Was haben Sie denn so Großartiges zu verlieren? Wenn
es wirklich stimmt, daß es keine Lippenbekenntnisse
sind, die Sie, Frau Vollmer, die Grünen und die SPD ab-
gegeben haben, dann gibt es für Sie keinen Grund, sich
dieser gemeinsamen Anstrengung zu entziehen. Wir
appellieren: Tun Sie dies nicht! Wirken Sie mit uns
zusammen!
– Was heißt hier „kleine Schritte“? Das sind Alibi-
schritte. Wir fordern: Wirken wir zusammen! Nehmen
Sie uns beim Wort und bei dem, was wir schriftlich vor-
gelegt haben! Machen Sie es!
– Spät, aber es kommt!
Wenn wir es so machen wie Sie, dann wird es erst gar
nicht kommen.
Drei Gedanken, die wir für wichtig halten:
Erstens. Wir brauchen das Zivilrecht, ohne jede Fra-
ge. Es gibt eine Vielfalt, die unüberschaubar geworden
ist. Fragen Sie doch einmal einen Bürger, den wir für
eine Spende für eine Stiftung gewinnen wollen: Was ist
eigentlich eine Stiftung? Es gibt privatrechtliche Stif-
tungen, öffentlich-rechtliche Stiftungen, rechtsfähige
und nicht rechtsfähige Stiftungen. Wir brauchen Klarheit
Norbert Röttgen
7008 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
und Schutz für die Marke Stiftung. Dies müssen wir för-
dern!
Zweitens. Wenn Stiftungen gesellschaftliche Selbst-
verwaltung initiieren sollen: Drängt es sich dann nicht ge-
radezu auf, daß wir die Stiftungen aus der staatlichen
Stiftungsaufsicht entlassen und eine Stiftungsselbstver-
waltung einführen? Es ist ein geradezu faszinierender
Gedanke, daß wir dann auch das, was die Stiftung indivi-
duell tun soll, in eine institutionelle Form überführen.
Drittens. Wir brauchen die Förderung eines Leitbil-
des. Das Zivilrecht hat die Funktion, ein Leitbild zu eta-
blieren, nämlich die rechtsfähige, gemeinwohlfördernde
Stiftung. Dafür können wir werben.
Herr
Kollege Röttgen, erlauben Sie abschließend noch eine
Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?
Sehr gerne.
Sie ha-
ben Ihre Redezeit schon eine halbe Minute überschrit-
ten.
Ich habe das Minus
nicht gesehen. Ich hatte mich schon über die wundersa-
me Vermehrung der Sekunden gefreut.
Trotz-
dem haben Sie noch die Gelegenheit, eine Zwischenfra-
ge zu beantworten.
Bitte, Frau Vollmer.
Herr Kollege Röttgen, Sie haben eben den Gedanken
aufgegriffen, mit dem auch ich sehr sympathisiere,
nämlich daß wir die staatliche Stiftungskonzession im
Sinne eines Rechtes auf Stiftung auflösen sollten. Wären
Sie bereit, die Mehrheit der CDU-geführten Bundeslän-
der für diesen Gedanken zu gewinnen?
Entweder haben Sie
mich mißverstanden, oder ich habe mich nicht klar ge-
nug ausgedrückt. Ich bin der gleichen Auffassung wie
Sie,
daß die bisher geltende Regelung, die vom Begriff Kon-
zession ausgeht, abgeschafft werden sollte und daß das
verfassungsrechtlich begründete Recht auf Stiftung
– das ist ja herrschende Meinung – auch positivrechtlich
fixiert wird. Ich teile ebenso die Auffassung des Kolle-
gen Stiegler, daß dieser Punkt, weil in verfassungskon-
former Auslegung des heutigen Rechts dies die schon
heute gültige – zwar nicht geschriebene – Rechtslage ist,
nicht wirklich wichtig ist. Dennoch teile ich Ihre Auffas-
sung, daß wir es aufschreiben sollten.
– Wir werben dafür. Auch die CDU/CSU-Fraktion ist
dafür.
Ich habe allerdings nicht diesen Punkt angesprochen,
sondern unser Vorschlag geht viel weiter. Wir wollen
nicht nur vom Konzessionssystem wegkommen, sondern
gehen in unserem Vorschlag so weit, daß wir sagen, daß
Stiftungen sich selber verwalten sollen. Wir wollen kei-
ne staatliche Aufsicht, sondern wollen, daß die Stiftun-
gen eigenverantwortlich handeln. In anderen Bereichen
funktioniert das doch hervorragend. Das ist einer unserer
innovativen Vorschläge. Versperren Sie sich nicht, dis-
kutieren Sie mit uns! Diesen Appell richte ich abschlie-
ßend an Sie.
Wir sollten unsere eigenen Worte ernst nehmen – Sie
die Ihren, wir die unsrigen –, zusammenwirken, die ge-
genseitigen Vorschläge anhören und nicht abblocken.
Dann kann in dieser Legislaturperiode etwas beim Stif-
tungsrecht herauskommen. Ansonsten werden wir nur
ein mageres Ergebnis erreichen und eine große Chance
vertun. So lautet unser Appell an Sie.
Danke sehr.
Ab-
schließend hat das Wort der Staatsminister Michael
Naumann.
D
Herr Abgeordneter Röttgen, vor fast zwei
Jahrhunderten hat Schelling die berühmte theologische
Frage gestellt: Warum ist nicht Nichts, sondern Etwas?
Ich hätte mir nie vorgestellt, daß ich hier darauf eine
politologische Antwort bekomme.
Ihre Idee der creatio ex nihilo „Wir machen über-
haupt nichts, dann wird es schon irgendwie werden“, hat
natürlich eine Voraussetzung: Das war der Regierungs-
wechsel nach der Bundestagswahl. Der nächste Schritt
in Fragen des Stiftungsrechtes, also der Schritt hin zu
dem Etwas, den Sie jetzt schon wieder in Frage stellen,
wird uns in der Tat vorwärtsbringen und zu dem Etwas
Norbert Röttgen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7009
(C)
(D)
führen. Dieses Etwas ist dann logischerweise wesentlich
mehr als nichts.
Herr Abgeordneter Lammert, Sie haben die Frage ge-
stellt, warum die Novellierung des Stiftungsrechts, das
man jetzt plötzlich so emphatisch wünscht, 16 Jahre lang
gescheitert sei. Sie haben dann gesagt: Sie ist gescheitert
– ich zitiere Sie jetzt wörtlich, weil Sie oft das Gefühl
haben, ich hätte Sie falsch zitiert –, „aus welchen Grün-
den auch immer“. Ich lese Ihnen den einzigen und we-
sentlichen Grund mit Erlaubnis des Präsidenten vor. Es
handelt sich um einen Brief des Finanzministers Theo
Waigel vom 29. Juni 1995 an den Kulturkreis der deut-
schen Wirtschaft, der ja Ihrer Partei nicht sehr fern steht,
wie man jetzt zugleich befürchten muß, wie auch hoffen
darf. Da heißt es:
Ziel der Bundesregierung bei der Steuerpolitik ist
es, neben der Entlastung der Bürger und Unterneh-
men auch eine Vereinfachung des Steuerrechts zu
erreichen. Entsprechend bitte ich um Verständnis,
wenn ich Vorschlägen für weitere Differenzierun-
gen in Fragen des Stiftungs- und Spendenrechts im
Steuerrecht nicht folgen möchte.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Theo Waigel
Das war der Grund dafür, daß es mit dem Spenden- und
Stiftungsrecht nicht vorwärtsgegangen ist.
– Ich komme gleich darauf, Herr Abgeordneter.
Meine Damen und Herren, die Reform des Stif-
tungsrechtes ist ein vorrangiges Ziel dieser Koalition.
Ich stehe auch nicht an, darauf hinzuweisen, daß es auch
ein vorrangiges Ziel der Vizepräsidentin dieses Hohen
Hauses, Antje Vollmers, ist. Mit ihr zusammen wird die-
ses Projekt vorwärtsgetrieben.
Sie sagen ja jetzt schon in der Opposition, Sie würden
mit Vergnügen in den Speisewagen der Reform mit
einsteigen wollen. Wir müssen ihn aber erst einmal auf
die Schienen setzen. Dabei sind wir.
Wir wollen einer aktiven Stiftungskultur in unserem
Lande Vorschub leisten und neue Möglichkeiten für
Mäzene, Mäzenatentum, Stifter und Kultursponsoren
eröffnen. Uns werden ja immer Ankündigungen vor-
gehalten. Wenn sie dann eingelöst worden sind, heißt es
bedauerlicherweise nicht, daß wieder einmal eine An-
kündigung eingelöst worden sei. Aber Sie müssen sich
leider darauf einstellen, daß wir auch diese Ankündi-
gung umsetzen werden. Gestatten Sie mir, noch einmal
den Grund dieser Ankündigung, den wir alle gemeinsam
schätzen, nämlich die Beförderung einer mäzena-
tischen Gesellschaft, darzustellen. Dazu zitiere ich den
Bundeskanzler aus seiner Rede auf der Berliner Mu-
seumsinsel vom 4. Oktober:
Mit ersten Schritten zur Reform des Stiftungsrechts
wird unsere Regierung den Weg ebnen zu einer
mäzenatisch eingestimmten Bürgergesellschaft –
nicht, weil sich der Staat aus seiner kulturpoliti-
schen Verantwortung trollen will, sondern, im Ge-
genteil, weil die großen Aufgaben der Restauration
von Museen und Kulturdenkmälern in ganz
Deutschland sich uns allen stellen, in gemeinsamer
Verantwortung. …
Kulturelles mäzenatisches Engagement des einzel-
nen gilt in manchen anderen Nationen als heitere, ja
stolze Teilnahme an jenem Gespräch, in dem eine
Gesellschaft darüber nachdenkt, was sie ist,
– Sie hatten recht, Herr Röttgen, darüber müssen wir
nachdenken –
was sie will, was sie ordnet und was sie in Zweifel
zieht. Und immer waren es die Künste, die in dieser
Diskussion die interessantesten und manchmal auch
die schönsten Akzente setzten. Ohne sie würden
wir verstummen.
Es ist erwähnt worden, daß es vor der Jahrhundert-
wende über 100 000 Stiftungen in Deutschland gab.
Meine Herren von der Opposition, damit hat sich das
numerisch kleine Bürgertum einen Freiraum der Selbst-
darstellung in jener verkrusteten Gesellschaft der Ari-
stokratie, der Bürokratie und des Militärs geschaffen.
Dieser Freiraum der Selbstdarstellung hat uns das kultu-
relle Erbe beschert, das wir heute alle pflegen.
Man muß nur zur Museumsinsel hinübergehen und sich
das anschauen. Dieses Erbe aufzunehmen ist nicht mehr
parteipolitisch besetzt. Lassen Sie mich das einmal ganz
offen sagen: Der Stiftungsgedanke ist ein Gedanke der
Neuen Mitte.
– Dazu zählen Sie auch, Herr Otto.
Herr
Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Otto?
Staatsminister Dr. Michael Naumann
7010 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
D
Ja, gerne.
Bitte
schön, Herr Otto.
An-
gesichts der großen Gemeinsamkeit, die Sie eben
beschworen haben, und angesichts der salbungsvollen
Worte des Herrn Bundeskanzlers frage ich Sie, Herr
Staatsminister: Sind Sie wirklich der Auffassung, daß
Sie einen solchen großen Wurf, eine Renaissance der
Stiftungskultur, hinbekommen, wenn Sie schlicht und
einfach einen Steuerfreibetrag von 50 000 DM einrich-
ten?
D
Ich hatte Ihnen schon gesagt, die Frage
„Warum ist nicht Nichts, sondern Etwas“ ist der erste
Schritt. Das heißt, es muß etwas dasein.
Herr Michelbach, Sie können nicht, wie 16 Jahre lang
praktiziert, über den großen Wurf nachdenken und dann
sagen: Wir haben nichts geschafft; das ist die Chance für
den großen Wurf. Das geht nicht. Das ist logisch nicht
schlüssig und auch historisch falsch.
Herr Abgeordneter, ich vertraue auch auf Ihre Koope-
ration. Im übrigen ist es ja nicht so, daß es einzig und
allein bei diesen 50 000 DM geblieben ist und bleiben
wird; im Gegenteil.
– Ja, ich bin dankbar.
Wir legen endlich etwas Neues vor.
Ich begrüße es, daß die Innenminister der Länder auf
ihrer Konferenz in Görlitz Mitte November die Einrich-
tung einer Arbeitsgruppe von Bund und Ländern zur Re-
form des Stiftungsprivatrechts angeregt haben. In die-
ser Arbeitsgruppe sollen alle Vorschläge ohne Vorbe-
halte geprüft und beraten werden. Das heißt, wir sind auf
einem gemeinsamen Weg auch zu dem ersehnten großen
Wurf. Wenn es nicht unbedingt Ihrer sein sollte, Herr
Abgeordneter Lammert, so werden doch viele Ihrer Ge-
danken in diesem Entwurf wieder auftauchen.
Wichtigste steuerrechtliche Neuerung im Koalitions-
entwurf wird, wie gesagt, ein Sonderausgabenabzug
für Spenden an gemeinnützige Stiftungen sein. Dies
trägt dem Umstand Rechnung, daß Stiftungen im Ge-
gensatz zu anderen gemeinnützigen Organisationen zu-
nächst einen Grundstock an Kapital aufbauen müssen.
Daraus kann sich dann eine stetigere und besser bere-
chenbare Förderung ergeben, als dies bei gemeinnützi-
gen Organisationen der Fall ist, die vom jährlichen
Spendenaufkommen leben. Spenden an Stiftungen bis zu
einer bestimmten Höhe sollen künftig zu 100 Prozent
von der Steuer abgesetzt werden können. Dadurch wer-
den vor allem kleinere und mittlere Stiftungsgründungen
und Zustiftungen begünstigt. Durch dieses neue Gesetz
wird also genau jener bürgergesellschaftliche Impuls ge-
fördert, den Herr Röttgen sich wünscht.
Für denjenigen, der höhere Beiträge stiftet – das ist
ganz wichtig, um keine Verwirrung im Lande aufkom-
men zu lassen –, bleibt es bei der Grundsatzregelung,
daß der Stifter diese Beträge bis zu einer Höchstgrenze
von 5 Prozent und im Bereich von Bildung und Kultur
von 10 Prozent seines Einkommens jährlich steuerlich
geltend machen kann, und zwar über einen Zeitraum von
sieben Jahren.
Eindeutig verbessern werden wir auch die Rückla-
genbildung der Stiftungen. Diese Forderung aus dem
Stiftungsbereich ist alt. Wer, so wie ich, für eine Stif-
tung gearbeitet hat, erlebt es oft genug, daß Rücklagen-
bildungen – ich möchte es einmal so ausdrücken – durch
phantasielose Staatskanzleien verhindert werden. Es
wird in Deutschland von den Stiftungsleitungen erwar-
tet, daß sie finanziell phantasielos und kameralistisch
operieren und dadurch das Stiftungskapital mittelfristig
vernichten. Dieses wollen wir in Zukunft verhindern.
Nicht kleinreden sollte man, Herr Lammert, auch die
Erweiterung des Buchwertprivilegs, das heißt die
steuerfreie Einbringung von Betriebsvermögen in Stif-
tungen;
– das haben Sie zwar nicht gesagt; aber Sie haben ge-
sagt, daß nichts weiter da ist; dies ist ja auch schon da –
– Geduld, es wird schon etwas dasein –
sowie die Ausdehnung der Befreiung von der Erbschaft-
und Schenkungsteuer über den Bereich der Bildungs-
und Kulturstiftungen hinaus auf weitere förderungswür-
dige Zwecke.
Neben den Verbesserungen zum Stiftungssteuerrecht
hat die Bundesregierung bereits wichtige steuerliche
Erleichterungen zugunsten von mehr Bürgerengage-
ment in der Kultur umgesetzt. Das werden Sie doch hof-
fentlich bemerkt haben. Sie haben nämlich im Bundesrat
zugestimmt. Hierzu zähle ich insbesondere die Neure-
gelung des Spendenrechts.
Die seit Jahren – Herr Abgeordneter Lammert, noch
so ein kleines Ding ex nihilo – nicht zuletzt vom Bun-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7011
(C)
(D)
desverband Deutscher Stiftungen geforderte und jetzt
erst vorgenommene Abschaffung des sogenannten
Durchlaufspendenverfahrens – für den Laien: des
Verfahrens, in dem sich der Staat die Hände an Stif-
tungsgeldern wärmte, die monatelang in irgendwelchen
behördlichen Kassen lagen, ehe sie weitergereicht wur-
den – haben wir gemeinsam mit dem Bundesrat durch-
gesetzt. Spenden an kulturelle Einrichtungen waren bis-
her nur auf einem verwaltungs- und zeitaufwendigen
Weg als Durchlaufspende über eine juristische Person
des öffentlichen Rechts möglich. Das ist vorbei.
Ab 1. Januar 2000 wird dies anders. Gemeinnützige
Organisationen sind dann außerdem berechtigt, Spen-
denbescheinigungen selbst auszustellen. Damit gilt
erstmalig: Auch Kulturstiftungen und Fördervereine, de-
ren Mitglieder keine besondere Gegenleistung für ihren
Mitgliedsbeitrag erhalten, können darüber hinaus auch
Spendenquittungen über Mitgliedsbeiträge ausstellen.
Das hört sich alles komplizierter an, als es ist. Dies sind
genau die kleinen Schritte, die eben zu jener mäzenati-
schen und neuen gesellschaftlich engagierten und parti-
zipatorischen Bürgergesellschaft beitragen, von der hier
die Rede ist.
Um eine neue Stiftungskultur in Deutschland zu
schaffen, reicht es nicht aus, daß der Bundestag einige
vernünftige Gesetze beschließt.
Die Bedeutung und die Leistungen von Stiftern und
Stiftungen müssen mehr als bisher ins öffentliche Be-
wußtsein gerückt werden. Der pietistische Grundton,
dem Sie zum Beispiel in Schwaben, einem höchst stif-
tungsfreudigen Landstrich unserer Nation, begegnen, ist
nicht mehr zeitgemäß. Stiftern, die anonym bleiben
wollen, weil sie sich von den Nachreden und dem Neid
der Nachbarn hüten möchten, muß man zurufen: Tretet
nach vorn! Zeigt euren Nachbarn und den Bürgern des
Landes, daß ihr engagiert seid und mitmachen wollt!
Wenn dann noch ein wenig altrömische Fama abfällt,
dann ist das so schlecht nicht.
Im Zuge der Novellierung des Stiftungsrechts wird
man auch über das Thema Vermögensverwaltung dis-
kutieren müssen, ohne daß es hierbei sofort um Ände-
rungen gesetzlicher Regelungen geht. Eine vorrangige
Aufgabe wird darin bestehen, auch aus diesem Haus auf
ein modernes Vermögensmanagement hinzuwirken. Im
Unterschied zu den USA wird bei uns die ungeschmä-
lerte Vermögenserhaltung überbetont. Ein in Maßen ri-
sikofreudigeres und professionelleres Anlageverhalten
könnte auch in Deutschland nicht schaden.
– Selbstverständlich auch in Stiftungen.
Es ist unverkennbar: Der angewachsene und stetig
anwachsende Vermögensberg in Deutschland ist, so
sollte man hoffen, ein Nährboden für Stiftungen. Die
deutschen Privathaushalte verfügen nach Berechnungen
des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und
Raiffeisenbanken am Ende dieses Jahres über ein ge-
schätztes Geldvermögen von fast 6 Billionen DM. Nach
einer Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge
in Köln aus diesem Jahr wird die Aufbaugeneration der
nachfolgenden Generation bis zum Jahre 2004 rund
1 Billion DM Geldvermögen, rund 700 Milliarden DM
aus Immobilienwerten und rund 300 Milliarden DM
aus fälligen Lebensversicherungen vererben. Experten
schätzen die künftige jährliche Erbmasse in Deutschland
auf 250 Milliarden DM.
Diesem stetig anwachsenden privaten Reichtum steht
ein Staat gegenüber, der – das ist ganz klar – seit Jahren
von Haushaltsnöten geplagt wird.
Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen: Der Staat
soll nicht aus seinen kulturellen Verpflichtungen entlas-
sen werden. Dies ist absolut nicht gewollt. Es ist aber
sehr wohl klar, daß dieser Staat, wenn ich der Analyse
von Herrn Röttgen folgen soll – und auch möchte; wir
lesen beide Beck –, nicht im luftleeren Raum existieren
kann, sondern für die Bürger und die Gesellschaft da ist.
Die Gesellschaft selbst wird sich in ihrer Selbstordnung
und in ihrem kulturellen Selbstverständnis ohne die Hil-
fe des Staates ebenfalls nicht artikulieren können.
In dieses Spannungsverhältnis soll ein renoviertes
Stiftungsrecht ordnend und fördernd eingreifen. Ein
solches modernes Stiftungsrecht hat – ich wiederhole
es – 16 Jahre lang auf seine creatio ex nihilo gewartet.
Danke schön.
Ich
schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-
sung der Vorlage auf Drucksache 14/2029 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gisela Frick, Hildebrecht Braun
, weiteren Abgeordneten und der
Staatsminister Dr. Michael Naumann
7012 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuer-
gesetzes
– Drucksache 14/1731 –
Überweisungsvorschlag:
Die sozialste Politik, die wir uns überhaupt vorstellen
können, ist die Unterstützung der Schaffung neuer Ar-
beitsplätze.
Das ist unser Leitbild. Im Rahmen dieses Leitbildes
bringen wir heute den Gesetzentwurf zur Abschaffung
der Trinkgeldbesteuerung ein.
Neue Arbeitsplätze – ich denke, hierüber besteht im
Hause Einigkeit – werden vor allem im Dienstlei-
stungsbereich entstehen. Allein für den Bereich des
Tourismus geht man von einem Potential von 400 000
Arbeitsplätzen aus. Die Frage ist: Schöpfen wir dieses
Potential aus, oder vernichten wir eher noch bestehende
Arbeitsplätze? Wir reden vom Jobmotor Tourismus. Ein
Motor läuft dann, wenn gutes Öl verwendet wird, das,
auf unser Beispiel bezogen, bestehen müßte aus Eigen-
initiative, Selbstverantwortung und Leistungsbereit-
schaft; ein Motor läuft nicht, wenn das verfaulte Wasser
alter Ideologien eingefüllt wird. Dann stottert dieser
Motor.
Wir müssen wieder durchstarten, und deshalb bringen
wir heute diesen Gesetzentwurf ein.
– Er hat sehr viel damit zu tun. Das Problem ist, daß Sie,
Herr Kollege Müller, das nicht begreifen wollen.
Welche Situation haben wir denn heute in der
Dienstleistungsgesellschaft? Ich gebe Trinkgeld, wenn
ich mit einer Leistung zufrieden bin, wenn ich gut be-
dient werde. Ich schiele dann doch nicht auf den Unter-
nehmer, sondern ich gebe es demjenigen, der mich be-
dient, der die Dienstleistung erbringt. Deshalb handelt es
sich hier nicht um ein Einkommen, sondern es handelt
sich um eine Schenkung von dritter Seite.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die Bun-
desregierung gefragt, wie hoch eigentlich das Aufkom-
men aus der Trinkgeldbesteuerung ist. – Lapidare Ant-
wort: Das ist nicht zu beziffern.
Ich habe die Bundesregierung gefragt, wie hoch
eigentlich die Verwaltungskosten sind. – Lapidare Ant-
wort: Das ist nicht zu beziffern.
Kann es eigentlich sinnvoll sein, Steuern zu erheben,
wenn ich weder den Ertrag noch den Verwaltungsauf-
wand kenne?
Ich habe die Bundesregierung gefragt, wie das in an-
deren Ländern geregelt ist. – Die Bundesregierung hat
geantwortet: Zum Beispiel in Frankreich gibt es die
Trinkgeldbesteuerung.
Ich habe mich informiert. Ich habe auch ein Gesetz
gefunden. Das gibt es tatsächlich. Nur habe ich keinen
einzigen Betroffenen gefunden, der von der Existenz
dieses Gesetzes wußte. Jeder in der Gastronomie, egal,
wo ich gefragt habe, hat mir gesagt: Bei uns werden
freiwillig gezahlte Trinkgelder – nur um die geht es –
nicht besteuert. Das ist die Tatsache.
Ich habe natürlich auf die Frage gewartet: Warum
habt ihr das nicht schon längst gemacht? Meine Damen
und Herren, wir sind in einem gigantischen Wandel be-
griffen. Wir müssen bei manchem umdenken. Deswegen
fordere ich alle Steuerpolitiker auf, hier über ihren
Schatten zu springen. Wenn die einen Arbeitszeitverkür-
zung haben und das Wochenende für sie am Freitag um
12 Uhr beginnt und andere abends und am Wochenende
arbeiten müssen, dann müssen wir Anreize bieten, um
das zu fördern.
Fragen Sie doch heute abend einmal eine Bedienung:
Wie versteuern Sie das Trinkgeld? Sie wird Ihnen sagen:
Bin ich eigentlich total besteuert?
Meine Damen und Herren, die SPD – ich appelliere
jetzt an sie – hat vor der Bundestagswahl klar verspro-
chen, die Trinkgeldbesteuerung abzuschaffen. Bundes-
kanzler Schröder hat dies klar versprochen. Ich sage an
die Adresse der Grünen: Ihr Außenminister, Joschka
Fischer, hat gesagt, man könne sich vorstellen, was pas-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7013
(C)
(D)
siert wäre, wenn ihm als Taxifahrer jemand ans Trink-
geld gegangen wäre.
Deswegen frage ich Sie jetzt: Wo bleibt die Erfüllung
Ihrer Versprechungen?
Ich kann nur Matthäus 23, Kap. I, zitieren, wo es
heißt: Sie reden aber nur und handeln nicht danach.
Das ist ein Prinzip, das wir leider immer wieder fest-
stellen müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir bringen
hier einen Gesetzentwurf ein, auf den die Branche war-
tet. Niemand von denen, die die ganze Woche, auch
abends und an Wochenenden, ihre Freundlichkeit, ihre
Servicebereitschaft und ihr Lächeln einsetzen, um uns
das Leben ein Stück leichter zu machen, würde verste-
hen, wenn die Mehrheit des Hauses diesen Gesetzent-
wurf gegen die eigene Überzeugung ablehnte.
Ich weiß, daß es in allen Fraktionen sehr viele gibt, die
eigentlich inhaltlich mit uns übereinstimmen. Dann kann
man doch vielleicht einmal über den Schatten springen
und einem Gesetzentwurf, der richtig ist, zustimmen,
auch wenn er von der Opposition kommt.
Deshalb sage ich Ihnen: Sagen Sie ja zu unserem Ge-
setzentwurf! Sagen Sie ja zu mehr Dienstleistungsbereit-
schaft! Sagen Sie damit ja zu mehr Arbeitsplätzen in un-
serem Land!
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Schild.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Herr Kollege Burgbacher, wir können
natürlich auch an eine frühere Debatte von heute an-
knüpfen, wo es auch um Schenkungen ging.
Man muß sich, wenn man über Schenkungen redet, zu-
mindest darüber im klaren sein, in welchem Umfang
man Schenkungen – – Bei Trinkgeldern sind es erst
einmal kleinere Geschenke; wir haben sie im Einkom-
mensteuerrecht begrenzt.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burgba-
cher?
Ja, gut.
Bitte.
Herr Kollege, wären
Sie bereit, diesen – ich gebrauche das Wort bewußt –
billigen und dem Thema überhaupt nicht angemessenen
Vergleich zurückzunehmen? Ich finde, das paßt nun
überhaupt nicht hierher.
Herr Kollege Burgbacher, so,
wie das Thema hier vorgetragen wird, wird es nach mei-
ner Einschätzung dem Ernst des Anliegens nicht ge-
recht.
Steuerrecht ist nicht etwas, was man so einfach so mit
allgemeinen Bemerkungen wegwischt, sondern das ist
eine ernste Angelegenheit.
Bei jeder Änderung des Steuerrechts müssen wir uns
ganz ernsthaft überlegen, welche Folgen und Konse-
quenzen sie hat. Es ist doch nicht einfach so, als hätte
man, wenn man eine Regelung aus dem Steuerrecht
streicht, alle Probleme gelöst.
Ich will einmal eines sagen: Sie haben ein Herzens-
anliegen entdeckt, offensichtlich ein ganz dringliches.
Wenn ich mir den Gesetzentwurf anschaue, sehe ich,
daß es ja so dringlich sein soll, daß die Neuregelung
möglichst noch rückwirkend zum 1. Oktober dieses Jah-
res in Kraft tritt. Da darf dann in der Tat mal die Frage
erlaubt sein – es ist vielleicht unangemessen, sie an Sie
zu richten, Herr Kollege Burgbacher –: Wieso sind ei-
gentlich die letzten 16 Jahre, die Sie Gelegenheit hatten,
diesem Anliegen Rechnung zu tragen, nicht genutzt
worden? Diese Frage darf doch erlaubt sein. Offensicht-
lich hat doch erst die Muße der Oppositionszeit zu dieser
Erkenntnis und zu der Gewißheit verholfen, daß man in
der Opposition durchaus Populäres fordern kann, ohne
unbedingt für die Konsequenzen eintreten zu müssen.
Ernst Burgbacher
7014 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Sie begründen Ihren Antrag damit, daß die Versteue-
rung dieser freiwillig gezahlten Trinkgelder nicht mehr
zeitgemäß sei. Was ist denn daran so unzeitgemäß? Wer
bereit ist, für die in der Gastronomie üblichen Stunden-
löhne zu arbeiten, tut das in der Regel deshalb, weil er
weiß, daß Trinkgelder hinzukommen.
Das ist also kein zufälliges und unerwartet erlangtes Ge-
schenk, sondern fester Bestandteil der Erwartungen, mit
denen die Ausübung einer in der Regel geringbezahlten
Tätigkeit verbunden ist.
Trinkgelder sind auch durchaus realistisch als Ar-
beitslohn zu bezeichnen, da sie als Entgelt für die
Dienstleistung eines Arbeitnehmers gewährt werden. In
der Regel werden Trinkgelder ja auch beim Barlohn
einkalkuliert. Auch das spricht dafür, zumindest ernst-
haft darüber nachzudenken, ob nicht Trinkgelder auch
weiterhin zum Arbeitslohn zählen.
– Darauf komme ich auch noch zu sprechen.
Eines muß man auch bedenken: Das Ausklammern
von Trinkgeldern – nur das wollte ich vorhin mit meiner
Eingangsbemerkung andeuten – aus dem Arbeitslohn
birgt eindeutig die Gefahr von Mißbräuchen. Darüber
haben wir uns in der Vergangenheit häufig genug be-
klagt. Im übrigen hat darauf auch die Bareis-
Kommission, die von der früheren Bundesregierung ein-
gesetzte Einkommensteuerreformkommission, hinge-
wiesen. Sie hat zwar angesichts des Prüfungsaufwands
dafür plädiert, freiwillig gezahlte Trinkgelder steuerfrei
zu lassen, aber ausdrücklich auch darauf hingewiesen,
daß man dann den Mißbrauch durch Umwandlung von
Trinkgeldern in Lohnbestandteile unterbinden müsse.
Ich finde in Ihrem Gesetzentwurf keinen Hinweis dar-
auf, wie denn Vorkehrungen getroffen werden sollen,
um den Mißbrauch durch Umwandlung von Trinkgel-
dern in Lohnbestandteile zu verhindern.
Die gegenwärtige Regelung in § 3 Nr. 51 des Ein-
kommensteuergesetzes mit der Freigrenze von 2 400
DM ist im übrigen eine Barriere. Das muß man deutlich
sehen. Unabhängig von den Auswirkungen, die Sie vor-
hin im Hinblick auf Verwaltungsaufwand und auch Er-
trag dieser Steuer genannt haben, ist das eine Barriere
dagegen, daß freiwillige Zuweisungen oder Geschenke
für erwiesene Dienste zu einer unkontrollierten steuer-
freien Oase werden. Das müssen wir bedenken. Mit der
völligen Freigabe einer solchen Barriere wird eindeutig
ein neues Tor für Mißbrauch geöffnet.
Wie hoch darf denn in Zukunft dieses Geschenk sein?
– Das ist nicht unrealistisch.
Wir haben in der Vergangenheit immer wieder feststel-
len müssen: Wenn wir im Einkommensteuergesetz ein
Tor öffnen, wird auch Mißbrauch eine der möglichen
Folgen sein. Das gilt es zumindest zu bedenken.
Eines ergibt sich daraus auch: Wenn Sie meinen, ein
bestimmtes Problem auf diese Art und Weise lösen zu
können, dann bekommen wir neue ungeklärte Fragen.
Auch darauf muß man eine Antwort geben. Was ist denn
mit den Prinzipien der Gleichmäßigkeit der Besteuerung
und der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Lei-
stungsfähigkeit, wenn wir das einfach streichen?
Diese Prinzipien galten aber im Steuerrecht bis jetzt als
tragend und ich hatte immer gedacht, wir alle würden sie
ernst nehmen.
In der Begründung des Entwurfs findet sich ein Ar-
gument der Interessenvertreter des Gastronomiegewer-
bes, zu dem ich einige kritische Anmerkungen machen
möchte. Es heißt, die Gleichheit der Besteuerung kön-
ne nicht sichergestellt werden, da die Trinkgeldbesteue-
rung von den Angaben des Trinkgeldempfängers abhän-
ge und auch die Schätzungen des Finanzamts, die im
Zweifelsfalle durchgeführt würden, nicht genau seien.
Der Bundesfinanzhof – das wissen Sie so gut wie ich –
hat sich dieser Auffassung im übrigen nicht angeschlos-
sen. Er sieht in der einkommensteuerlichen Erfassung
von Trinkgeldern keinen Verstoß gegen den Gleich-
heitsgrundsatz des Grundgesetzes. Im übrigen verliert
eine Vorschrift des Einkommensteuergesetzes oder son-
stiger Gesetze ihre Bedeutung nicht einfach dadurch,
daß es im praktischen Vollzug Probleme gibt.
Meine Damen und Herren, ich will gerne einräumen,
daß die genaue Feststellung der Trinkgeldhöhe
schwierig ist. Das ist aber nicht nur in diesem Fall so; in
vielen Teilen des Einkommensteuerrechts bereitet die
exakte Feststellung der Höhe des Einkommens Schwie-
rigkeiten. Das kann also kein überzeugendes Argument
sein. Wer also – wie das in der Begründung des Gesetz-
entwurfes anklingt – die Gleichheit der Besteuerung
verletzt sieht, der muß bedenken, daß der Gesetzent-
wurf, so wie er jetzt vorgelegt wird, auch den Anspruch
auf Gleichbehandlung derjenigen Beschäftigten berührt,
die ihren Arbeitslohn bei gleicher wirtschaftlicher Lei-
stungsfähigkeit voll versteuern müssen. Das gilt auch für
Beschäftigte im Gastronomiegewerbe. Im Bereich der
Gaststätten gibt es Küchenpersonal.
Horst Schild
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7015
(C)
(D)
– Ja, das gibt es auch. – Diesen Beschäftigten ist ohne-
hin nicht so ohne weiteres verständlich, daß sie keine
steuerfreien Einkommensbestandteile haben.
Lassen Sie mich eines sagen, meine Damen und Her-
ren. Wir treten grundsätzlich dafür ein, daß jedes Ein-
kommen gegebenenfalls unter Berücksichtigung ange-
messener Pauschalen – das haben wir bei § 3 Nr. 51 des
Einkommensteuergesetzes – der Einkommenbesteue-
rung unterzogen wird und daß zum Ausgleich dafür die
Steuersätze für alle gesenkt werden.
Dem Grundsatz „Senkung der Steuersätze bei Verbreite-
rung der Bemessungsgrundlage“ ist bislang jedes halb-
wegs ernstzunehmende Steuerkonzept gefolgt. Ich den-
ke, das hat letztlich auch bei dem von Ihnen vorgestell-
ten Drei-Stufen-Konzept eine Rolle gespielt. Wie hätten
Sie denn sonst die 100 Millionen DM, die da unter dem
Strich fehlten, ausgleichen können, wenn Sie nicht die
Bemessungsgrundlage verbreitert hätten?
– Na gut. – Es erstaunt zumindest, daß die F.D.P. ein-
zelnen Interessengruppen weitergehende Begünstigun-
gen – –
– Nein, das ist kein Unsinn.
– Natürlich sind das Begünstigungen für bestimmte
Branchen, obwohl Ihr Steuerkonzept nun wirklich ver-
langt hätte, daß man die Bemessungsgrundlage verbrei-
tert.
Natürlich ergibt sich – das ist eben durch einen Zwi-
schenruf angedeutet worden – auch bei den Sozialversi-
cherungen ein Problem. Mit zusätzlicher Steuerfrei-
stellung würden auch der Sozialversicherung Beiträge
entzogen, zumindest dann, wenn man dem Mißbrauch,
daß aus Einkommensbestandteilen zukünftig Geschenke
oder Trinkgelder werden, nicht vorbeugt. Das steht na-
türlich dem Grundsatz der Finanzierung der sozialen Si-
cherungssysteme auf verläßlicher Basis entgegen.
Meine Damen und Herren, das Ziel der Bundesregie-
rung und auch der Koalition ist die steuerliche Entla-
stung für alle Steuerpflichtigen.
– Sie dürfen gerne eine Zwischenfrage stellen. – Diesem
Ziel sind wir beim Steuerentlastungsgesetz gefolgt, die-
sem Ziel sind wir bei der Familienentlastung gefolgt,
und diesem Ziel werden wir auch bei der Unterneh-
mensteuer Rechnung tragen. Diese Entlastung kommt
allen zugute – den Trinkgeldempfägern direkt oder indi-
rekt über die Lohnsteuerabsenkung und über die Kin-
dergeldbeträge.
Aber auch die Betriebe des Hotel- und Gaststättenge-
werbes – das ist ja Ihr Anliegen –
werden durch die Unternehmensteuerreform und auch
im Rahmen der Förderung der Existenzgründer sowie im
Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ profitieren. Im übrigen
hat der Bundeswirtschaftsminister im Juni im Touris-
musausschuß vorgestellt, welche Leistungen insofern
erbracht werden.
– Es ist doch unstrittig: Es waren 46 Millionen DM an
Krediten für Existenzgründer im Hotel- und Gaststätten-
gewerbe. Ein Drittel aller geförderten Objekte bei den
Gemeinschaftsaufgaben sind dem Tourismusbereich zu-
zuordnen.
Es ist doch nicht so, als sei hier nichts getan worden
und als müsse man über eine solche Regelung im Ein-
kommensteuergesetz diese Branche besonders berück-
sichtigen und hunderttausend neue Arbeitsplätze schaf-
fen.
Meine Damen und Herren, dieser Antrag trägt zwar
einem populären Anliegen der Tourismusbranche und
des Hotel- und Gaststättengewerbes Rechnung. Aber ich
denke, er ist nicht bis zum Ende durchdacht. Die Konse-
quenzen, die sich daraus ergeben würden, sollten wir
ausreichend im Rahmen der Ausschußberatung diskutie-
ren.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Noch bin ich
diejenige, die das Wort erteilt. Das Wort hat jetzt der
Abgeordnete Hans Michelbach.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn
dem F.D.P.-Antrag Populismus nachgesagt wird, dann
muß ich mich natürlich fragen, warum der Bundeskanz-
ler ausgerechnet vor den Bundestagswahlen dem Hotel-
und Gaststättenverband genau dies versprochen hat.
Horst Schild
7016 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Aber daß Sie jetzt versuchen zurückzurudern und „ver-
sprochen, gebrochen“ nicht ernst nehmen, nehmen wir
gerne zur Kenntnis.
Wenn man über Steuern redet, muß man die politi-
sche Ausgangslage und natürlich auch die Rechtslage
kennen und prüfen. Die politische Ausgangslage wird
durch eine aktuelle Umfrage bei 2 500 mittelständischen
Betrieben deutlich:
90 Prozent halten die Politik derzeit für absolut mit-
telstandsfeindlich. Für 86 Prozent sind die Standortbe-
dingungen nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine
nicht besser geworden. Das macht die Unzufriedenheit
der Betriebe deutlich.
Fazit: Die wirtschaftliche Erholung in Europa schlägt
sich eben nicht im deutschen Mittelstand nieder. Kein
Wunder; denn in keinem europäischen Land müssen
Betriebe und Arbeitnehmer so hohe Steuern zahlen wie
in Deutschland. Das ist Tatsache.
Insbesondere für die Dienstleistungswirtschaft handelt
es sich durch die Verschlechterung der Rahmenbedin-
gungen um ein verlorenes Jahr.
Die allgemeine Verunsicherung hat zu Wachstumsein-
bruch, Konsumzurückhaltung, zum Rückgang der Net-
toumsatzrentabilität und zu Investitionshemmnissen ge-
führt. In Deutschland – nehmen Sie das bitte ernst! – ha-
ben viele Mittelständler immer weniger Gewinn und
viele Arbeitnehmer immer weniger Nettolohn. Das ha-
ben Sie zu verantworten.
Das ist das Kennzeichen rotgrüner Wirtschafts- und
Finanzpolitik.
Insbesondere die mittelständischen Betriebe und ihre
Mitarbeiter sind durch die Steuer- und Abgabenpolitik
stark belastet worden. Zusätzlich haben Sie bürokrati-
sche Überreglementierungen vorgenommen. Rotgrüne
Politik führt unsere mittelständisch geprägte Dienstlei-
stungswirtschaft geradezu in die Servicewüste. Leistung
wird nicht belohnt, sondern immer mehr belastet. Fol-
gende Steuer- und Abgabenerhöhungen sind festzuhal-
ten: die Einführung der Ökosteuer mit Mehreinnahmen
von 51 Milliarden DM bis zum Jahr 2002, die Neurege-
lung der 630-DM-Jobs, durch die Sie im Mittelstand
700 000 Arbeitsplätze vernichtet haben, die Scheinge-
winnbesteuerung durch das sogenannte Steuerentla-
stungsgesetz, die Steuerwillkür, zum Beispiel bezüglich
der Erschwerung der Teilwertabschreibung, die eine
wirtschaftsfeindliche Regelung darstellt, die Zusatzbela-
stungen durch das sogenannte Steuerbereinigungsgesetz
1999, zum Beispiel die Verschärfung der Abgabenord-
nung, die Verschiebung der versprochenen Betriebs-
steuerreform auf das Jahr 2001, jetzt die Planung zur
Abschaffung des Bankgeheimnisses und auch die Erb-
schaftsteuererhöhung, die morgen beschlossen werden
soll.
Meine Damen und Herren, mit diesem Zickzackkurs
und Belastungsszenario haben Sie bisher mehr Arbeits-
plätze in Deutschland vernichtet, als geschaffen wurden.
Diese Situation müssen wir beklagen.
Unser Konzept hingegen ist eine Steuerreform für
alle Steuerzahler mit Niedrigsteuersätzen, Vereinfa-
chung und Nettoentlastung. Wenn der Eingangssteuer-
satz niedrig ist, kommt dies natürlich jedem Arbeitneh-
mer zugute. Daraus kann sich steuerrechtlich vieles er-
geben.
Natürlich, meine Damen und Herren, könnte eine spe-
zielle Lösung beim Trinkgeld als Ausnahmetatbestand
die Dienstleistungsbetriebe, die Hotels und Gaststätten-
betriebe mit ihren Arbeitnehmern gezielt entlasten und
vielleicht auch weiter motivieren, weil wir Dienstleistung
fördern müssen. Das ist genau der richtige Ansatz.
Zur steuerrechtlichen Lage: Hier muß es sicher eine
steuerrechtliche Klärung im Rahmen dieses Antrags ge-
ben. Eine spezielle Trinkgeldsteuer, wie es immer wie-
der in der letzten Legislaturperiode von Ihnen verkündet
wurde, gibt es nach unserer Auffassung nicht.
Sie haben immer wieder vertreten, es gebe in Deutsch-
land eine Trinkgeldbesteuerung, und haben zusammen
mit Gewerkschaften des Hotel- und Gaststättengewerbes
die Bürger erheblich verketzert. Wir sollten hier Klarheit
schaffen. Arbeitnehmer müssen derzeit Trinkgelder als
Arbeitseinkommen versteuern, weil diese gemäß
Rechtsprechung und Steuerverwaltung im wirtschaftli-
chen Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis zuflie-
ßen. Sie haben jedoch keinen Rechtsanspruch darauf.
Während auf das Trinkgeld Lohnsteuer und Sozialversi-
cherungsbeiträge abgeführt werden müssen – das ist ein
wesentlicher Punkt –, wird es auf der anderen Seite bei
Zahlungen der Sozialkassen an die Versicherten, also
beim Rücklauf, zum Beispiel beim Arbeitslosengeld,
nicht berücksichtigt. Das ist nicht in Ordnung. Darüber
müssen wir anhand dieses Antrages grundsätzlich reden.
Meine Damen und Herren, entscheidend für die Frage
der Besteuerung ist, ob es sich hier tatsächlich um
Arbeitslohn handelt oder ob man nicht von einer frei-
willigen Zuwendung in Form einer Schenkung bzw.
einem Ausnahmetatbestand ausgehen muß.
Hans Michelbach
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7017
(C)
(D)
Es gibt dafür durchaus Argumente. Dafür spricht zum
Beispiel, daß der Gast grundsätzlich nicht immer Trink-
geld zahlt, sondern nur dann, wenn er sich gut bedient
gefühlt hat. Er honoriert mit seinem Trinkgeld als frei-
willige Zuwendung die Qualität der Dienstleistung, die
an die Person des Dienstleistenden gebunden ist. Sie
steht, meine Damen und Herren, daher grundsätzlich
nicht mit dem unmittelbaren Dienstverhältnis des
Arbeitgebers im Zusammenhang. Diese Argumentation
ist durchaus schlüssig.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion
wird die Frage, um welche rechtliche Form der Zahlung
es sich beim Trinkgeld tatsächlich handelt, im Zusam-
menhang mit dem Gesetzentwurf und dem Antrag
wohlwollend prüfen und zu diesem Thema auch Anhö-
rungen mit Sachverständigen durchführen. Wir sind
offen, uns dieser Debatte zu stellen. Grundsätzlich wol-
len wir aber eine Entlastung aller Steuerzahler und vor
allem Vereinfachungen im Steuerrecht.
Die Trinkgeldbesteuerung verursacht zum einen
einen extrem hohen Verwaltungsaufwand bei Arbeit-
nehmern, Arbeitgebern und auch bei der Finanzverwal-
tung. Sie müssen letzten Endes den Steuererfolg durch
die Ehrlichkeit der Arbeitgeber erklären. Der Arbeit-
geber haftet dafür. Es gibt hier sehr viele Probleme. Zu-
dem sind die geltenden Haftungsregelungen für die
Abführung der Sozialversicherungsbeiträge durch den
Arbeitgeber in dem Fall, daß ihm die Höhe der Trink-
gelder seiner Arbeitnehmer nicht bekannt sind, verände-
rungsbedürftig. Denn letzten Endes ist der Besteue-
rungserfolg, der auch dem Grundsatz der gleichmäßigen
Besteuerung unterliegt, bisher einfach sehr unterschied-
lich, weil es hier keine klare Bemessungsgrundlage gibt,
wenn es keine Ehrlichkeit gibt.
Daneben möchte die CDU/CSU-Fraktion, daß die
Dienstleistungen in Deutschland generell – das geht über
diesen Antrag hinaus; es ist wichtig, daß wir hierüber
eine Debatte führen – besser gewürdigt und gefördert
werden. Sollte sich nach der intensiven rechtlichen Prü-
fung ergeben, daß die Trinkgelder Arbeitslohn darstel-
len, sind wir durchaus für eine beträchtliche Anhebung
des Freibetrages, um damit Vereinfachungen im Prozeß
der Besteuerung zu erhalten.
Ich glaube, man sollte hier nicht grundsätzlich nein
sagen, sondern sollte alle Argumente prüfen, insbeson-
dere auch den Fragen des Ausnahmetatbestandes oder
der Anhebung des Freibetrages Rechnung tragen. Sicher
ist das der Weg, eine Servicewüste Deutschland zu ver-
hindern und Dienstleistungen attraktiver zu gestalten.
Denn der Dienstleistungssektor muß besser erschlossen
werden, wenn die Arbeitslosigkeit in Deutschland nach-
haltig bekämpft werden soll. Wir müssen uns insbeson-
dere bei den Dienstleistungsarbeitsplätzen etwas einfal-
len lassen. Genau das ist der richtige Weg.
Meine Damen und Herren, kommen Sie in der Steu-
erpolitik zur Vernunft – insbesondere was die Belastung
der Wirtschaft betrifft –, indem Sie eine Steuerreform
für alle Steuerzahler beschließen: Lassen Sie uns Ge-
spräche über eine echte Steuerreform führen! Nehmen
Sie Abstand von Teillösungen und neuen Komplizierun-
gen, wie etwa einem reinen Betriebssteuerkonzept zu
Lasten von Personengesellschaften, Einzelunternehmen
und Arbeitnehmern!
Unser Ziel muß sein, eine Steuerentlastung für alle Steu-
erzahler zu schaffen, um mehr Wachstum, Investitionen,
Konsum und Beschäftigung zu erreichen.
Wenn Sie jetzt – wie wir das in wenigen Wochen von
Bundesfinanzminister Eichel erwarten dürfen – ein rei-
nes Betriebssteuerkonzept mit einer lächerlichen Netto-
entlastung von 8 Milliarden DM auf den Weg bringen,
muß ich sagen: Das ist der falsche Weg. Sie müssen alle
Steuerzahler entlasten, um auch im Konsumbereich und
im Investitionsbereich weitere Fortschritte zu erzielen.
Ich hoffe, daß das gelingt und daß jetzt nicht eine ein-
seitige Betriebssteuerkonzeption, sondern eine Steuerre-
form für alle Steuerzahler stattfindet, die letzten Endes
auch diese Aspekte der Dienstleistungswirtschaft positiv
gestaltet.
Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Klaus Müller.
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Michelbach, ich mag Ihre Rede:
Man kennt sie; es kommt nämlich in der ersten Hälfte
immer wieder das gleiche darin vor. Ich gebe zu, in
Zeiten von Textbausteinen ist das auch kein Problem.
Ich will aber einräumen, daß Sie nach der Hälfte der Zeit
tatsächlich zur Sache gesprochen haben. Wenn ich Ihre
Rede zusammenfassen darf, dann würde ich das unter
dem Motto tun: Trinkgeld für alle!
Sie wollen tatsächlich durch mehr Trinkgeld bzw. durch
geringere Besteuerung des Trinkgeldes den Dienstlei-
stungsbereich stärken, Arbeitsplätze schaffen und die
Wirtschaft fördern. Bei aller Liebe – das gilt leider auch
für den Kollegen Burgbacher –: Glauben Sie im Ernst,
daß auch nur ein einziger Arbeitsplatz mehr geschaffen
würde, wenn wir die Trinkgeldbesteuerung in Deutsch-
land aufheben würden? Das ist doch nicht Ihr Ernst. Das
glauben Sie selber nicht.
Hans Michelbach
7018 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Das glaubt Ihnen auch niemand im Lande. Zweifelsohne
wäre das schön für jeden Betroffenen, der kellnert, Taxi
fährt oder sonst etwas tut, wofür er Trinkgeld erhält.
Das ist gar keine Frage, Herr Michelbach. Wenn Sie das
mit Freundlichkeit begründet hätten, dann hätte ich
Ihnen auch noch folgen können. Nur, mit Ihrer Argu-
mentation hat das leider nichts zu tun.
Verehrte Kollegen von CDU/CSU und F.D.P., Sie
kommen nicht um den Vorwurf herum: Das, was Sie an
dieser Stelle machen, ist heuchlerisch.
Sie hatten nun mal 16 Jahre lang Zeit, etwas daran zu
ändern. Wenn Sie jetzt Stücklein für Stücklein nichts als
populistische Wohltaten verteilen wollen, dann ist das
unredlich von Ihnen. Das finde ich extrem schade.
Ich möchte auf einen interessanten Widerspruch auf
seiten der F.D.P. zu sprechen kommen: Sie haben Ihren
Vorschlag auf der einen Seite damit begründet, es han-
dele sich ja um Schenkungen. Ich will einmal versu-
chen, diesen Gedankengang einen Moment lang nachzu-
vollziehen: Es handelt sich um Schenkungen. Gleichzei-
tig begründen Sie damit, daß Arbeitsplätze geschaffen
würden. Das ist doch ein Widerspruch in sich. Wenn wir
davon ausgehen, daß es Schenkungen sind, dann hat das
mit einem persönlichen Verhältnis zu tun, aber doch
überhaupt nichts mit der Schaffung von Arbeitsplätzen.
Ich finde, daß Sie da im weiteren Verfahren in den Aus-
schußberatungen noch einiges besser zu erklären hätten.
Zweite Bemerkung. Ich bin etwas enttäuscht gewe-
sen, weil ich auf der Tagesordnung gelesen habe: Bera-
tung des von „der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes“.
Ich dachte – ich lese immer Ihre Internetwerbung –: Su-
per, jetzt kommt das Konzept – 15, 25 und 35 Prozent –
und die Erklärung, wie Sie das finanzieren wollen. Dann
schlage ich das auf, und es ist eine mickrige DIN-A3-
Seite zu einem einzigen Punkt. Daß Sie noch nicht ein-
mal so ehrlich waren, es „Aufhebung der Trinkgeldbe-
steuerung“ zu nennen, sondern den pompösen Titel
„Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einkom-
mensteuergesetzes“ verwenden, ist, so finde ich, eigent-
lich unter Niveau. Zudem hat hier von seiten der F.D.P.
nicht ein einziger Steuerpolitiker geredet; es ist nicht
einmal mehr einer anwesend. Wo sind denn Ihre Kolle-
ginnen und Kollegen,
die sonst immer das große Wort von der Senkung der
Steuersätze und der Verbreiterung der Bemessungs-
grundlage schwingen? Mit diesem Entwurf verfolgen
Sie genau das Gegenteil.
Herr Michelbach, Sie sagen, Rotgrün habe nur Teil-
lösungen, es bedürfe einer Gesamtlösung. Ich sage:
d'accord, haben wir schon längst gemacht!
Bei uns sinken die Steuersätze, bei uns werden alle
Leute entlastet. Was Sie hier unterstützen, ist eine Teil-
lösung. Das ist leider – bei allem Respekt für die Gast-
wirtschaft – nichts als Klientelpolitik.
Ich will noch etwas zu dem konkreten Sachverhalt
sagen. Sie haben uns darauf angesprochen, was denn
wäre, wenn das Trinkgeld – so wie das zur Zeit eigent-
lich der Fall sein müßte – tatsächlich besteuert werden
würde. Ich habe mich einmal erkundigt, wie das bei de-
nen ist, die kellnern. Sie geben ganz ungeniert zu, daß
sie zwischen 30 und 50 Prozent ihres Nettoeinkommens
aus Trinkgeldern bekommen.
Ich empfehle Ihnen: Sprechen Sie, wenn Sie nachher mit
dem Taxi nach Hause fahren, einmal ganz in Ruhe mit
dem Fahrer. Wenn Sie Glück haben, bekommen Sie das
offen und ehrlich gesagt. Angesichts solcher Tatbestän-
de hat das nichts mehr mit Schenkung zu tun.
Ein anderes Beispiel: Ich weiß nicht, ob Sie einmal
das Vergnügen hatten, in einem Betrieb zu kellnern.
– Auch ich habe studiert. – Es ist gang und gäbe, daß
das Trinkgeld zwischen denen, die kellnern, und denen,
die hinten in der Küche arbeiten, geteilt wird. Denn bei-
de machen ihren Teil der Arbeit. Fragen Sie einmal in
den Restaurants, in den Kneipen nach! Das ist gängige
Praxis und, so finde ich, ein sehr fairer Ansatz. Dies wi-
derspricht diametral Ihrer These, daß es sich dabei um
eine individuelle Schenkung handelt. Das hat leider
nichts mit der Realität zu tun.
Ich weiß, daß es manchmal für Sie schwierig ist, das
anzuerkennen. Aber ich glaube, daß uns ein bißchen
mehr Redlichkeit in der Diskussion guttäte. Wir werden
das in der Finanzausschußberatung intensiv mit Ihnen
diskutieren, aber Ihre Argumentation müssen Sie noch
etwas schärfen.
Vielen Dank.
Klaus Wolfgang Müller
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7019
(C)
(D)
Das Wort zu
einer Kurzintervention hat der Kollege Burgbacher.
Lieber Herr Müller,
einiges kann man wirklich so nicht stehenlassen. Des-
halb habe ich mich zu einer Kurzintervention gemeldet.
Erster Punkt. Ich selber bin vorsichtig, Begriffe wie
„unredlich“, „unehrenhaft“ und ähnliches zu gebrau-
chen. Tatsache ist, daß die SPD, Ihr großer Koalitions-
partner, vor der Wahl klipp und klar versprochen hat, die
Trinkgeldbesteuerung abzuschaffen.
Dies hat Bundeskanzler Schröder versprochen. Fragen
Sie Herrn Fischer, wie er dazu steht! Ich kann Ihnen die-
se Äußerung übrigens nachher belegen, wenn Sie dies
wollen.
Zweiter Punkt. Eines haben Sie nicht begriffen oder
wollen Sie nicht begreifen – wahrscheinlich eher erste-
res –: Es geht darum, daß wir auf die umfassenden
Strukturveränderungen, die wir in unserer Gesellschaft
und unserer Wirtschaft haben, angemessen reagieren.
Die alte Koalition hat darauf reagiert, indem sie eine
große Steuerreform beschlossen hat. Darüber, ob wir
damit zu spät dran waren, diskutieren wir heute über-
haupt nicht. Tatsache ist: Sie war in diesem Hohen Hau-
se beschlossen und ist dann gescheitert.
Das schafft neue Voraussetzungen: Sie haben eine
solche Steuerreform eben nicht gemacht. Sie haben die
Betriebe, von denen wir heute reden, in nicht geringem
Maße belastet. Ich habe einmal an einem konkreten Bei-
spiel ausgerechnet – die Frau Staatssekretärin kennt die-
se Rechnung und hat sie bestätigt –, was bei einer Auf-
rechnung der Belastung durch die Ökosteuer mit der
Ermäßigung des Rentenversicherungsbeitrags heraus-
kommt. Was Sie sagen, stimmt eben nicht. Sie haben
diese Betriebe stärker belastet. Jetzt geht es darum, dar-
aus Konsequenzen zu ziehen.
Noch einmal ganz konkret zu dem, was Sie angespro-
chen haben: Es geht überhaupt nicht nur um die Gastro-
nomie, sondern um viele Bereiche. Allerdings ist es fast
ausschließlich in der Gastronomie so, daß das Finanzamt
im Rahmen der Betriebsprüfung Prozentsätze für Trink-
gelder ansetzt, die, soweit mir bekannt ist, zwischen 0,5
und 3,3 Prozent – eher am oberen Ende dieser Spanne –
liegen, und auf diesen Betrag dann Trinkgeldsteuer er-
hebt.
Meine Damen und Herren, wenn wir so vorgehen –
ich habe mich bei Finanzämtern nach genügend kon-
kreten Fällen erkundigt, ich kann Ihnen das auch gern
nachweisen –, verletzen wir erstens den Grundsatz der
Gleichheit der Besteuerung, und wir schaffen zweitens
ein System, das immer am Rande der Legalität ist. Auf
Grund der fundamentalen Veränderungen, die es gibt,
und weil wir Arbeitsplätze schaffen wollen – das ist sehr
wohl der Zusammenhang – müssen wir endlich umden-
ken. Das haben auch Sie früher besprochen. Das haben
auch wir in der Fraktion heftig diskutiert, das gebe ich
gern zu. Aber wir sind zu einem Ergebnis gekommen.
Ich bitte Sie, das ein Stück weit ernster zu behandeln
und nicht einfach so nebenher abzutun.
Zur Antwort
der Kollege Müller.
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Verehrter Kollege, ich nehme Ihr Anliegen
sehr ernst. Auch bei uns in der Fraktion gibt es darüber
Diskussionen. Das will ich gar nicht verhehlen. Aber bei
uns gibt es eine gewisse Stringenz in der Politik.
– Ich weiß, daß dies Ihnen von der CDU weh tut. Aber
– das gilt auch für Sie, Herr Michelbach – man kann
nicht gleichzeitig eine große Einkommensteuerreform
machen, Steuersätze senken, Bemessungsgrundlagen
verbreitern und sich bei den Punkten, bei denen dies op-
portun wäre – ich hätte mich auch im Wahlkampf hin-
stellen können und hätte zum Beispiel beim DEHOGA
viel Applaus bekommen; andere Kollegen haben ihn be-
kommen –, hinstellen und Punkt für Punkt die Dinge
verkaufen, die – angepaßt an das jeweilige Umfeld – an-
genehm, opportun, populistisch und schön sind. Das ist
gar keine Frage.
Herr Kollege, ich stimme Ihnen absolut zu, daß wir
uns auf die Dienstleistungsgesellschaft einstellen müs-
sen. Die wird kommen. Das ist gar keine Frage. Aber
wir beide haben sehr unterschiedliche Vorstellungen
darüber, wie die Dienstleistungsgesellschaft entsteht.
Unsere Antwort darauf ist die ökologische Steuerreform,
nämlich die Lohnnebenkosten zu senken und die Ener-
giebelastung langsam, sukzessiv, berechenbar zu erhö-
hen. Das hilft der Dienstleistungsgesellschaft. Das Pro-
blem sind die Lohnnebenkosten und wahrlich nicht die
Trinkgeldbesteuerung. Sie können mir nicht erzählen,
daß Ihre Vision einer Dienstleistungsgesellschaft etwas
mit der Frage nach der Besteuerung von Trinkgeldern zu
tun hat.
Wenn Sie davon ausgehen, daß in der Dienstlei-
stungsgesellschaft zukünftig dadurch Arbeitsplätze ent-
stehen, daß es höhere Trinkgelder gibt, haben wir einen
massiven politischen Dissens, und dann kann ich Ihnen
nur sagen, daß Sie leider auf einem Holzweg sind.
Nun erteile ich
der Kollegin Heidemarie Ehlert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Trinkgelder gehören heute schon
7020 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
zum Alltag, ob beim Friseur, in der Gaststätte oder im
Taxi. Ein gewisser Obolus wird einfach erwartet. Trink-
gelder sind für manche Berufsgruppen fast schon über-
lebensnotwendig, weil die Löhne so niedrig sind bzw.
weil von den Arbeitgebern, also der eigentlichen Klien-
tel der F.D.P., das Trinkgeld bei der Lohnfestlegung mit
eingeplant wird.
Allerdings ist das Trinkgeld eine freiwillige Leistung
des Kunden gegenüber dem Arbeitnehmer. Jeder kann,
aber keiner muß ein Trinkgeld geben. Insofern ist die
bisherige Regelung, die letztmalig 1990 geändert wurde,
die freiwillig gezahlten Trinkgelder bis auf einen Frei-
betrag in Höhe von 2 400 DM zu besteuern, zwar steuer-
systematisch korrekt, aber dennoch sehr fragwürdig.
Auch der Verfahrensweg, die freiwillige Meldung der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über das erhaltene
Trinkgeld an den Arbeitgeber oder die Schätzung von
Trinkgeldeinkünften durch das Finanzamt – das sind üb-
rigens 3,5 Prozent des Umsatzes; das sollten Sie wissen,
wenn Sie einen solchen Antrag einbringen –, dient be-
stimmt nicht der Steuergerechtigkeit.
Mehr als fraglich ist allerdings, ob das Problem mit
dem Gesetzentwurf der F.D.P. gelöst wird. Viele Ar-
beitgeber zahlen so niedrige Löhne, weil sie meinen,
durch die Trinkgelder werden diese ja – zum Teil sogar
erheblich – aufgestockt. Es entspräche also der Steuer-
gerechtigkeit, wenn sie besteuert würden.
Andererseits kann natürlich keine Friseuse, kein
Kellner und auch keine Krankenschwester mit einem fe-
sten Trinkgeld rechnen, weil sie sich ihre Kunden bzw.
Patienten nicht aussuchen kann. Deshalb gibt es an man-
chen Tagen eben kein Trinkgeld.
Aus unserer Sicht sollte man besser über eine Erhö-
hung der Freibeträge für bestimmte Berufsgruppen
verhandeln, anstatt sie abzuschaffen. Daß das machbar
ist, zeigt die jüngste Anhebung der Freibeträge für
Übungsleiter. Noch besser allerdings wäre eine Anhe-
bung der Löhne, damit keine und keiner auf Trinkgeld
angewiesen ist,
sondern mit dem Arbeitslohn die Arbeitsleistung auch
entsprechend honoriert wird.
Das, meine Damen und Herren, ist kein Populismus,
wie man ihn uns immer vorwirft, sondern einfach sozial
gerecht.
Populistisch sind in diesem Fall die Kolleginnen und
Kollegen der F.D.P., die nun sogar von ihrem Strategie-
kongreß aus in die Wirtshäuser ziehen wollen, um bei
Wirten und Kellnerinnen und Kellnern Pluspunkte zu
sammeln – siehe „Frankfurter Rundschau“ vom
29. November 1999.
– Kollege Burgbacher, ich gebe Ihnen recht: Trinkgelder
sind ein persönlicher Dank für eine freundliche Dienst-
leistung. Aber manche Dienstleistungen werden ver-
dammt schlecht bezahlt, und dagegen sollten Sie auftre-
ten.
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/1731 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf.
– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes zur Neuordnung des Be-
rufsrechts der Rechtsanwälte und der Patent-
anwälte
– Drucksache 14/1958 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Gesetzes zur Neu-
ordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte
und der Patentanwälte
– Drucksache 14/1661 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 14/2213 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Manfred Kanther
Rainer Funke
Zu dem Gesetzentwurf der Regierungskoalition liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Widerspruch
dagegen höre ich nicht. Dann ist es auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Christine Lambrecht.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben
heute hier über einen Gesetzentwurf zu beschließen,
dessen maßgebliche praktische Folge ist, daß es ab dem
Heidemarie Ehlert
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7021
(C)
(D)
1. Januar 2000 für jeden Anwalt möglich sein wird, im
Anwaltsprozeß vor jedem Amts- und jedem Landgericht
im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufzutreten.
Dies kann dann unabhängig davon geschehen, in wel-
chem Landgerichtsbezirk er oder sie zugelassen ist.
Meine Damen und Herren, als Anwältin kann ich wie
sicherlich viele meiner Kolleginnen und Kollegen fest-
stellen, daß dies ein längst überfälliger Schritt ist. Ich
darf vielleicht einmal aus der Praxis berichten: Ich habe
eine Kanzlei in Viernheim. Ich bin am Landgericht
Darmstadt zugelassen. Das ist etwa 45 Kilometer ent-
fernt. Ich darf am Landgericht Darmstadt derzeit als
Anwältin auftreten, aber am Landgericht Mannheim, das
nur 7 Kilometer entfernt ist, ist mir das verwehrt, weil es
eben nicht in den entsprechenden Landgerichtsbezirk
fällt.
Sie sehen, das ist eine absurde Situation. Das empfin-
den nicht nur die Kolleginnen und Kollegen so, sondern
eben auch viele Mandantinnen und Mandanten. Es geht
darum, daß sich der Mandant einen Anwalt aussuchen
kann, zu dem er Vertrauen hat, und darum, daß er dann
auch sicher sein kann, daß er sich von diesem Anwalt in
einem Anwaltsprozeß bei dem entsprechenden Gericht
vertreten lassen kann und daß nicht erst ein zusätzlicher
Korrespondenzanwalt bzw. Unterbevollmächtigter be-
auftragt werden muß.
Derzeit besteht hinsichtlich der sogenannten Postula-
tionsfähigkeit eine in den alten und den neuen Bundes-
ländern unterschiedliche Rechtslage. In den alten Bun-
desländern einschließlich Gesamtberlins darf bis dato
ein Rechtsanwalt, wie schon beschrieben, nur vor dem-
jenigen Landgericht auftreten, in dessen Bezirk er oder
sie zugelassen ist. Eine solche Beschränkung der Zulas-
sung war in der DDR unbekannt, so daß dort jeder
Rechtsanwalt vor jedem Gericht postulationsfähig war.
Diese Regelung wurde nach der Wiedervereinigung für
das Gebiet der ehemaligen DDR befristet bis zum Ende
des Jahres 1994 beibehalten. Eine Ausnahme hiervon
bildet Gesamtberlin.
Der Deutsche Bundestag beschloß 1994, daß die un-
eingeschränkte Postulationsfähigkeit der Anwälte in den
alten Bundesländern zum 1. Januar 2000 und in den
neuen Bundesländern zum 1. Januar 2005 eingeführt
werden sollte. Der Grundgedanke dieser gespaltenen
Lösung war, die damals im Aufbau befindlichen
Rechtsanwaltskanzleien in den neuen Bundesländern
vor Konkurrenz aus den alten Bundesländern zu schüt-
zen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte 1995 diese
Regelung für teilweise verfassungswidrig. Es wurde eine
Übergangsregelung eingeführt. Aus dieser Regelung ließ
sich aber nicht mit Sicherheit entnehmen, ob Anwälte
mit Sitz in den neuen Bundesländern ab dem 1. Januar
2000 auch vor Gerichten in den alten Bundesländern
auftreten dürfen. Das hätte natürlich die Folge, daß An-
wälte aus den neuen Bundesländern auch in den alten
auftreten dürften; umgekehrt wäre das aber nicht der
Fall gewesen. Diese Unklarheit galt es zu beseitigen, da
ansonsten keine klare Rechtslage besteht. Für Anwälte
wie Mandanten wäre unsicher, wo die Anwälte auftreten
dürften. Deswegen ist eine unverzügliche Klärung erfor-
derlich. Bereits jetzt gibt es ein entsprechendes Verfah-
ren vor dem Bundesverfassungsgericht.
Wir haben uns im Rechtsausschuß zum Zwecke der
Klarstellung mit großer Einmütigkeit für die vorliegende
bundeseinheitliche Regelung entschieden. Jetzt liegt
eine befriedigende und Rechtssicherheit schaffende Re-
gelung vor. Wir brauchen heute, zehn Jahre nach der
Wiedervereinigung, nicht mehr nach Ost und West, nach
neuen und alten Bundesländern, zu unterscheiden.
Gerade am Beispiel Berlin kann man sehr schön se-
hen, daß Anwälte aus dem ehemaligen Ostteil keines-
wegs vor der Konkurrenz aus dem Westteil geschützt
werden müssen; vielmehr hat sich genau hier herausge-
stellt, daß dieser Konkurrenzschutz auf Grund der Quali-
fikation überhaupt nicht mehr erforderlich ist. Die An-
waltskanzleien haben sich der Konkurrenz gestellt und
ihr standgehalten.
Ich möchte noch kurz etwas zu dem Entschließungs-
antrag sagen. Die Forderung wurde laut, im Zusammen-
hang mit dieser Neuregelung nunmehr auch die Gebüh-
ren im Osten auf 100 Prozent anzuheben. Für meine
Fraktion kann ich sagen, daß es grundsätzlich anstre-
benswert ist, auch hier zu einer einheitlichen Regelung
zu kommen. Solange allerdings eine unterschiedliche
Einkommenssituation in den alten und in den neuen
Bundesländern gegeben ist, ist eine einheitliche Rege-
lung noch verfrüht; momentan wäre eine gesamtdeut-
sche 100prozentige Gebührenregelung noch nicht sach-
gerecht.
Wir sollten auch an die Mandantinnen und Mandan-
ten denken, die diese 100 Prozent der Gebühren zu zah-
len hätten. Das würde in den neuen Bundesländern zu
Problemen bei der Entscheidung über das Einreichen
einer Klage führen. Ich denke, eine solche Entscheidung
darf nicht vom Geldbeutel abhängen. Darüber hinaus
würde es in dieser Frage momentan kein Einverständnis
mit den Ländern geben. Eine einheitliche Regelung hätte
ja auch zur Folge, daß Gerichtskosten und Prozeß-
kostenhilfe höher wären, was zu Lasten der Länderhaus-
halte ginge.
Grundsätzlich werden wir sicherlich zu einer einheit-
lichen Gebührenregelung kommen müssen.
– Herr Funke, das wird sicherlich dann der Fall sein,
wenn sich die Einkommenssituation im Osten der im
Wegen angenähert hat. Für mich ist das eine der Grund-
voraussetzungen.
Wir haben heute einen großen Schritt in der tatsächli-
chen Umsetzung der deutschen Einheit getan. Es handelt
sich um einen großen rechtspolitischen Erfolg. Ich
möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen im
Rechtsausschuß für die sehr sachliche und qualifizierte
Zusammenarbeit bedanken.
Vielen Dank.
Christine Lambrecht
7022 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Manfred Kanther.
Ich bedanke mich
für die Promotion, Frau Präsidentin.
Auch ich war
erstaunt; aber so steht Ihr Name auf meinem Zettel.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Es geht um die Frage, ob wir
Rechtsunklarheit bestehen lassen dürfen, wenn ein west-
deutscher Anwalt vor einem Gericht in den neuen Bun-
desländern auftritt. Es geht darum, ob wir es den recht-
suchenden Bürgern zumuten können, daß sie mit einem
gut begründeten materiellen Anspruch nach Schwerin,
Erfurt oder Gera ziehen, wo ihnen dann möglicherweise
gesagt wird: Du hast einen westdeutschen Anwalt, der
kann hier nicht auftreten. Irgendwann bündelt der Bun-
desgerichtshof die Frage, wer wo auftreten darf.
Es ist nach einer Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts völlig ausgeschlossen – egal, für welche
Auffassung in diesem Streit mehr oder weniger spricht –,
daß man so mit den rechtsuchenden Bürgern umgeht.
Deshalb war es notwendig, daß wir diese Sache aufgrei-
fen. Das haben wir auch getan. Wir haben glücklicher-
weise eine einvernehmliche Lösung gefunden, so wie es
die Frau Kollegin vorgetragen hat. Deshalb möchte ich
dies nicht ein zweites Mal tun. Rechtssicherheit ist ein
wichtiger Aspekt des Rechtsstaates.
Mit der Gebührenfrage hat die Sache – dies wurde
richtig ausgeführt – nichts zu tun. Viele Aspekte lassen
eine Angleichung der Einkommen in den neuen Bun-
desländern an die in den westlichen Bundesländern
wünschenswert erscheinen. Trotzdem kann sie erst
schrittweise erreicht werden. Das ist im Anwaltsbereich
ähnlich. Eine solche Angleichung werden wir in hof-
fentlich nicht allzu ferner Zukunft erreichen. Aber
glücklicherweise hat die Anwaltschaft in den neuen
Bundesländern eine eigene respektable Position entwik-
kelt und kann Konkurrenzdruck aushalten, auch aus dem
Westen. Das Beispiel Berlin zeigt dies. Ich glaube des-
halb, daß wir eine notwendige Rechtsvereinheitlichung
bewirken können.
Danke sehr.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.
Kollegen! Wir erleben jetzt eine etwas verspätete An-
waltsstunde. Ich möchte zuerst ein paar kritische Worte
sagen, bevor ich auf das Gesetz zu sprechen komme. Ich
bin seit über 30 Jahren als Anwalt tätig und habe festge-
stellt, daß sich das Berufsbild des Rechtsanwalts in
Deutschland vor allen Dingen in den letzten fünf bis
zehn Jahren sehr stark verändert hat, und zwar für mein
Gefühl und für meine Begriffe nicht nur zum Vorteil.
Anwälte dürfen jetzt auch werben. Bald wird in Werbe-
spots für Anwaltskanzleien und für Anwaltsfirmen ge-
worben werden. Anwälte dürfen sich Fachanwälte nen-
nen, das heißt, sie dürfen sagen: Ich bin Fachanwalt für
Strafrecht oder für Arbeitsrecht. Sie dürfen sich also von
den anderen abheben. Das Dramatischste ist: Anwälte
dürfen jetzt auch Firmen gründen, so wie es in den USA
schon seit langem gang und gäbe ist. Riesige Anwalts-
firmen entstehen in der Bundesrepublik, die nahezu alle
Großstädte abdecken und den kleinen, gemütlichen An-
waltspraxen, die ganz nahe am Mandanten agieren, das
Wasser abgraben. Dies ist ein Problem. Aber diese Ent-
wicklung können wir – von meinem Standpunkt aus be-
trachtet: leider – nicht zurückdrehen. Es gibt auch im
Anwaltsbereich eine Markt- und Konkurrenzwirtschaft.
Es geht darum, wer sich auf dem Markt mit seinen mate-
riellen und finanziellen Mitteln am besten durchsetzt.
Die Anwälte, die Einzelpraxen oder kleine Praxen ha-
ben, werden zumindest in den Großstädten langfristig
auf der Strecke bleiben. Ich finde diese Entwicklung
nicht besonders begrüßenswert.
Das heutige Gesetz bringt in diesem Bereich eine
Vervollständigung. Ich glaube, es wäre falsch, zu sagen,
wir können und wollen diese Entwicklung zurückdre-
hen. Wir müssen natürlich auch zur Kenntnis nehmen,
daß auch die Anwälte, die Anwaltsvereinigungen und
die Anwaltskammern diese Entwicklung sehr stark for-
ciert haben, zum Beispiel weil in den entsprechenden
Vereinigungen die großen Anwaltsfirmen das Sagen ha-
ben oder aus praktischen oder irgendwelchen anderen
Gründen. Jedenfalls durfte bis vor einigen Jahren ein
Anwalt nur vor einem Landgericht oder einem Famili-
engericht, zum Beispiel in Berlin, in Stuttgart oder in
Tübingen, auftreten. Dadurch wurde erreicht, daß die
großen Firmen auch Platz für die kleinen Anwälte lassen
mußten. Dies ist bereits aufgeweicht, und mit diesem
Gesetz soll diese Entwicklung weitergeführt und die
Ungerechtigkeiten beseitigt werden, die durch diese
Aufweichung entstanden sind. In Zukunft soll jeder
Anwalt – darauf ist schon richtig hingewiesen worden –
an jedem deutschen Landgericht und an jedem deut-
schen Familiengericht tätig werden können. Dies wird
natürlich bedeuten, daß ein Anwalt aus München, Ham-
burg oder Berlin in Zukunft in Erfurt, Leipzig, Essen,
Düsseldorf oder Köln engagiert werden kann und vor
dem entsprechenden Landgericht auftreten kann.
Das halte ich – auch vor dem Hintergrund meiner Be-
rufserfahrungen als Anwalt – für außerordentlich pro-
blematisch, aber es ist nicht mehr zurückzudrehen. Es
geht uns jetzt darum, einheitliches Recht für ganz
Deutschland zu schaffen. Dazu ist dieses Gesetz sicher-
lich der richtige Weg. Es schafft Ungerechtigkeiten, die
bisher zwischen alten und neuen Bundesländern bestan-
den haben, ab und vereinheitlicht das Recht. Das ist
richtig; ich wollte trotzdem einige kritische Anmerkun-
gen zu dieser Entwicklung nicht unterlassen.
In der Frage, ob Anwälte aus Stuttgart, Berlin
oder München, die in Erfurt oder Leipzig tätig werden,
dasselbe verdienen sollen, was sie in Stuttgart oder Köln
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7023
(C)
(D)
verdienen, teile ich die Auffassung meiner Vorredner,
daß das völlig unvertretbar wäre. Ich bin zwar selber
Anwalt und weiß, daß die Kollegen auf mich schauen
und viele von ihnen dieses fordern. Sie sehen nämlich
nicht ein, daß sie für dieselbe Arbeit in einem der östli-
chen Länder weniger Geld bekommen, da sie, wenn sie
in Köln oder Berlin wohnen, auch höhere Lebenshal-
tungskosten bestreiten müssen. Dabei treten jetzt sicher-
lich Ungerechtigkeiten auf.
Eine andere Überlegung halte ich aber für wichtiger
und durchschlagender: Solange die Gehälter und Ein-
kommen, auch die der Arbeiter, Angestellten und Be-
amten im öffentlichen Dienst, im Osten geringer sind als
im Westen, wäre es überhaupt nicht zu vertreten und zu
vermitteln, daß die Menschen für Anwaltstätigkeiten in
Zukunft das gleiche wie bei Anwälten im Westen zahlen
sollen. Das kann erst dann kommen, wenn auch die
Löhne und Gehälter angeglichen werden.
Wir tragen also die Änderung des § 78 der Zivilpro-
zeßordnung mit, lehnen aber alle Bestrebungen ab, die
dahin gehen, daß die Anwälte im Osten die gleichen
Sätze wie die im Westen erhalten. Das wäre ungerecht;
deshalb müssen wir den Antrag der F.D.P. ablehnen.
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Kollegin Lambrecht hat die
grundlegenden Fragen angesprochen, so daß ich mir
vieles ersparen kann.
Eine Novellierung des § 78 ZPO ist ja einmal durch die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die
unterschiedlichen Meinungen im Schrifttum notwendig
geworden. Aber auch die vielleicht nicht ganz richtige
Antwort der Bundesregierung auf meine parlamentarische
Anfrage schuf neue Unsicherheiten. Jetzt wird durch die
Novellierung des § 78 ZPO Rechtssicherheit geschaffen.
Das heißt, daß alle bei einem Amts- und Landgericht in
Deutschland zugelassenen Rechtsanwälte ab 1. Januar
2000 bei allen Land- und Familiengerichten auftreten dür-
fen. Damit dient diese Novellierung auch der Herstellung
der Rechtseinheit in Deutschland. Es macht keinen
Sinn, zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung
zwei geteilte Rechtskreise hinsichtlich der Postulationsfä-
higkeit aufrechtzuerhalten.
Es gibt jetzt – damit komme ich zu dem Antrag der
F.D.P. – nur noch in einem Punkt eine unterschiedliche
und, wie ich meine, nicht vertretbare Regelung. Es han-
delt sich um den 10prozentigen Abschlag bei den
Rechtsanwaltsgebühren. Wir fordern mit diesem An-
trag, daß die Bundesregierung diesen Gebührenabschlag
unverzüglich aufhebt. Für gleiche Leistungen müssen
Anwälte in Ost und West auch die gleichen Gebühren
erhalten.
Schließlich sind ja die Kostenbelastungen – das wissen
Sie, Herr Kollege Ströbele, und haben es auch ehrli-
cherweise gesagt – der Kanzleien in Ost und West auch
vergleichbar. Sie bestrafen also bislang die Anwälte im
Osten, wo zudem in der Regel auch noch die Gegen-
stands- bzw. Streitwerte niedriger liegen.
Die Fortgeltung eines 10prozentigen Gebührenab-
schlages führt im übrigen zu einer nicht vertretbaren Ju-
stizbelastung, denn der Rechtspfleger muß jetzt immer
sorgfältig prüfen, ob Anwälte aus dem Westen oder dem
Osten aufgetreten sind; bei den Kostenfestsetzungsbe-
schlüssen wird das ja evident.
Auch unter dem verfassungsrechtlichen Gesichts-
punkt der Gleichbehandlung der Anwälte in Ost und
West plädiere ich daher für eine sofortige Aufhebung
des 10prozentigen Gebührenabschlags. Das wäre, Frau
Ministerin, ja auch jederzeit durch eine entsprechende
Rechtsverordnung der Bundesjustizministerin möglich.
Sie haben ja auch bereits genauso wie die Kollegin
Lambrecht angekündigt, daß das bald geschehen könnte.
Ich sehe nicht ein, warum Sie es, wenn Sie das im
Frühjahr nächsten Jahres sowieso machen wollen, nicht
gleich machen.
– Das ist nicht ungerecht, Herr Kollege Ströbele.
Mit der Novellierung des § 78 ZPO und der Abschaf-
fung des Gebührenabschlags wäre die Rechtseinheit in
Deutschland wieder hergestellt. Das wäre nur zu begrü-
ßen.
Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Evelyn Kenzler.
Für mich gibt es heute
sozusagen einen Sitzungsmarathon.
Wenn Sie
heute Geburtstag haben, möchte ich Ihnen gerne im
Namen des ganzen Hauses gratulieren.
Ich danke Ihnen für die
freundliche Gratulation. – Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Da unser Abstimmungsverhal-
ten hinsichtlich des Regierungsentwurfes von dem der
anderen Parteien abweichen wird, habe ich die Möglich-
keit, noch einige andere Aspekte einzubringen.
Hans-Christian Ströbele
7024 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
„Anwälte aus Ost und West bald gleichgestellt“, lau-
tet eine Meldung in der Presse zur Anhörung über die
Postulation. Der mit der Sache nicht näher Vertraute
dürfte diese Nachricht mit Genugtuung aufgenommen
haben: wieder ein kleiner Schritt zur Angleichung der
Arbeits- und Lebensverhältnisse. Wie schön, wenn es da
nicht ein Problem mit der Gerechtigkeit gäbe. Danach ist
die gleiche Behandlung von wesentlich Ungleichem
schlichtweg ungerecht. In einem solchen Falle wird be-
kanntlich die Gleichheit als ein Verbot an den Gesetzge-
ber verstanden, Ungleiches gleichzubehandeln.
Ungleich sind die Verhältnisse für die Rechtsanwälte
nachweislich noch immer. Es ist einfach nicht wahr,
wenn behauptet wird, der Schutz der Kanzleien in den
neuen Bundesländern sei nicht mehr notwendig, wie es
im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen heißt.
Die Struktur der Anwaltschaft ist im neuen Bundes-
gebiet nach wie vor völlig anders als im alten. Ich ver-
weise nur auf die deutlich kleineren Kanzleien, die sich
zum Teil noch in der Aufbauphase befinden, auf die viel
geringere Zahl von Fachanwälten, die auch eine fehlen-
de anwaltliche Spezialisierung signalisiert, auf schlech-
tere Weiterbildungsmöglichkeiten und nicht zuletzt auf
die niedrigeren Gebühren. Kurzum: Für ostdeutsche
Anwälte ist die Situation im Vergleich zu ihren west-
deutschen Kollegen eindeutig ungünstiger. Man darf
hier nicht nur den Vergleich zu Ostberlin nehmen; man
muß ihn zu allen neuen Bundesländern ziehen.
Sie wird durch den Gesetzentwurf nicht etwa verbessert,
sondern weiter verschlechtert.
Die Befristung der Ungleichbehandlung von Anwäl-
ten in Ost und West bis zum 31. Dezember 2004 war
bekanntlich als Schonzeit für die Ost-Anwälte bis zur
erwarteten Konsolidierung der wirtschaftlichen und
rechtlichen Verhältnisse in den neuen Bundesländern
gedacht. Wenn nunmehr völlig unvorbereitet dieser
Konkurrenzschutz zum Januar 2000 aufgehoben wird,
auf den die Anwälte im Glauben an den Bestandsschutz
vertraut haben, dann sähen sich ihre Kanzleien einem
überraschenden wirtschaftlichen Druck ausgesetzt, dem
sie nach Einschätzung der Sachverständigen aus den
neuen Bundesländern nicht gewachsen wären.
Auf der Anhörung hat ein Vertreter der Anwaltschaft
Ost in Abstimmung mit den Anwaltskammern geradezu
flehentlich um die Beibehaltung der Konkurrenzschutz-
klausel bis 2004 gebeten; ansonsten seien ein Kanzlei-
sterben größeren Ausmaßes sowie der Verlust von Ar-
beits- und Ausbildungsplätzen zu befürchten. Dem
Sekretariat des Rechtsausschusses liegen deshalb
Schreiben über Schreiben ostdeutscher Anwälte zur
Beibehaltung der Konkurrenzschutzklausel vor; ich kann
das aus meinem eigenen Büro bestätigen. Auch die ost-
deutschen Justizminister haben einstimmig befunden,
daß das vorgezogene Inkrafttreten des neugefaßten
§ 78 ZPO in allen Bundesländern nicht im Interesse der
Entwicklung der Rechtspflege in den neuen Bundeslän-
dern liegt.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Die PDS ist
selbstverständlich für eine schnellere Rechtsangleichung
und eine Gleichstellung der Bürger in unserem Lande,
zu der auch die Angleichung der Arbeitsbedingungen für
die einzelnen Berufsgruppen gehört. Doch ich frage
mich, was – außer einer klarstellenden Regelung – das
rechtspolitische Anliegen des Gesetzentwurfs sein soll.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lam-
brecht?
Ja.
Frau Kollegin, würden
Sie mir zustimmen, daß die Neuregelung des Berufs-
rechts insbesondere für die Kanzleien in den neuen
Bundesländern auch die Möglichkeit eröffnet – hier
werden zusätzliche Betätigungsfelder geschaffen –,
nunmehr in den alten Bundesländern aufzutreten?
Diese Feststellung ist
durchaus zutreffend. Aber man muß natürlich sehen, daß
auf Grund der ungünstigeren wirtschaftlichen Situation
viele Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern gar
nicht die logistischen Voraussetzungen haben, um von
dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.
Erlauben Sie
eine zweite Zwischenfrage?
Ja.
Ich denke, daß insbe-
sondere für Kanzleien, die in den Randgebieten zu den
alten Bundesländern liegen, diese Logistikprobleme
nicht sonderlich schwer zu lösen sein werden. Würden
Sie mir zustimmen, daß die unterschiedliche Gebühren-
regelung – die Gebühren in den neuen Bundesländern
liegen bei 90 Prozent – für Rechtsanwälte in den Rand-
gebieten unter Umständen sogar ein Wettbewerbsvorteil
gegenüber Rechtsanwälten aus den alten Bundesländern
sein könnte?
Ja, das könnte sein. Aber
man muß natürlich die durchschnittlichen Verhältnisse
der Anwaltskanzleien in den neuen Bundesländern se-
hen. Dann kommt man zu der Feststellung, daß es kein
Wettbewerbsvorteil ist, weil die Masse dieser Kanzleien
eben nicht in den Randgebieten liegt.
Ich möchte wiederholen: Die PDS ist selbstverständ-
lich für eine schnelle Rechtsangleichung und für eine
Gleichstellung der Bürger in unsrem Land auch der Be-
Dr. Evelyn Kenzler
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7025
(C)
(D)
rufsgruppen. Doch ich frage mich, was – außer einer
klarstellenden Regelung – Ihr Anliegen ist. Die Gleich-
stellung der Rechtsanwälte ist es offenbar nicht, denn
dann müßte parallel dazu zumindest die Aufhebung des
10prozentigen Gebührenabschlages für die Rechtsan-
wälte der neuen Bundesländer erfolgen.
Wenn sie nämlich jetzt in den alten Bundesländern tätig
sein können, ist diese Differenz nicht mehr nachzuvoll-
ziehen.
Ich appelliere deshalb insbesondere an meine Kolle-
ginnen und Kollegen Abgeordneten aus den neuen Bun-
desländern, gegen die Aufhebung der Sonderregelung zu
stimmen. Die Schaffung von Rechtsgleichheit produziert
hier Chancenungleichheit und damit letztlich auch Un-
gerechtigkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Kenzler, es ist etwas ungewöhnlich, trotz des Geburtsta-
ges fast den ganzen Tag im Parlament zu verbringen.
Wie auch immer: Ich möchte Ihnen an dieser Stelle im
Namen des ganzen Hauses zum Geburtstag gratulieren.
Ich erteile jetzt für die Bundesregierung dem Parla-
mentarischen Staatssekretär Eckhart Pick das Wort.
D
Ich möchte Ihnen, Frau Kenz-
ler, ganz persönlich gratulieren. Herzlichen Glück-
wunsch zu Ihrem Geburtstag! Dreifach hält ganz beson-
ders gut.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung begrüßt den Gesetzentwurf der Koali-
tionsfraktionen. Sie bedankt sich beim Rechtsausschuß
für die hervorragende und zügige Arbeit. Es freut uns
vor allen Dingen, daß die Beratungen auf Basis eines
breiten Konsenses stattgefunden haben. Wir halten die
Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts von 1994 in
einem wichtigen Punkt für klärungsbedürftig; denn – das
ist schon gesagt worden – die Rechtslage ist alles andere
als eindeutig. Auch der Spruch des Bundesverfassungs-
gerichtes hat in dieser Frage leider nicht zu mehr
Rechtsklarheit geführt.
Der vorliegende Gesetzentwurf führt also zu mehr
Rechtsklarheit und zu mehr Rechtssicherheit. Vor al-
len Dingen wird dadurch ein Zustand aufgehoben, der
heute eigentlich nicht mehr angemessen ist, nämlich daß
wir zwei getrennte Zulassungsgebiete, Ost und West,
haben. Dieser Zustand wird am 31. Dezember dieses
Jahres voraussichtlich enden. Ein erneuter Anlauf, um
dieses Gesetz auf den Weg zu bringen, war notwendig.
Die Schaffung eines einheitlichen Zulassungsgebietes ist
die richtige Lösung.
Frau Kenzler, ich habe sehr viel Verständnis für Ihre
Bemerkungen, die Sie bezüglich der ostdeutschen An-
wältinnen und Anwälte gemacht haben. Aber ich denke,
daß es 10 Jahre nach der Einheit zumutbar ist, daß wir
für gleichartige Verhältnisse sorgen und – auf diesen
Punkt ist schon hingewiesen worden – durch diesen Ge-
setzentwurf den Anwälten die Möglichkeit eröffnen, an
allen Gerichten postulieren zu können. Ich denke, dies
ist für die Kolleginnen und Kollegen aus den neuen
Bundesländern ein großer Vorteil. Es handelt sich also
um eine sinnvolle Regelung. Im übrigen haben wir fest-
zustellen, daß sich die Verhältnisse insofern normalisiert
haben, als die Anwaltsdichte in den neuen Bundeslän-
dern der in den vergleichbaren Flächenländern im alten
Bundesgebiet durchaus entspricht. Insoweit ist der Stand
in den entsprechenden Oberlandesgerichtsbezirken
schon sehr stark angenähert. Von daher bedarf das
Dienstleistungsangebot der Kanzleien in den neuen Bun-
desländern nicht mehr eines besonderen Schutzes. Das
sehen die Anwaltsverbände genauso. Ich habe allerdings
auch viel Verständnis für die, die diesen neuen Rechts-
zustand für sich selber nicht so eindeutig als vorteilhaft
sehen. Ich meine allerdings, zehn Jahre nach der Wie-
dervereinigung ist es an der Zeit, hier für einheitliche
Rechtsvoraussetzungen zu sorgen.
Ich möchte noch eine Bemerkung zum Entschlie-
ßungsantrag der F.D.P. machen. Der Abschlag, der
durch den Einigungsvertrag eingeführt worden ist, be-
zieht sich auf die Anwaltsgebühren sowie die Gebüh-
ren und Entschädigungssätze nach den übrigen Kosten-
gesetzen. Wir haben hier eine ganze Reihe von gesetz-
lichen Regelungen, in denen dieser Abschlag noch gül-
tig ist. Ich darf für die Bundesregierung sagen, daß wir
alle Bestrebungen unterstützen, die zur Herstellung glei-
cher Lebensbedingungen in Ost und West führen. Des-
wegen, Herr Funke, haben wir für das Anliegen des An-
trags großes Verständnis. Trotzdem kann die Bundes-
regierung diesem Vorschlag derzeit noch nicht entspre-
chen. Sie wissen, daß das Bundesministerium der Justiz
durch den Einigungsvertrag ermächtigt ist, diese Ermä-
ßigungssätze zur Anpassung an die wirtschaftlichen
Verhältnisse neu festzusetzen oder aufzuheben. Ein we-
sentlicher Parameter zur Beurteilung der wirtschaft-
lichen Verhältnisse sind die Einkommensverhältnisse.
Diese sind bekanntlich noch nicht so weit angenähert.
Insofern haben wir auch nicht die Ermächtigung, jetzt
schon zu handeln. Aber wir werden die Entwicklung ge-
nau im Auge behalten. Das ist auf die Dauer kein tragba-
rer Zustand; das wird auch von uns so gesehen. Wir
wollen hier in Zukunft zu einer Annäherung kommen.
Allerdings – das ist die letzte Bemerkung – wollen wir
das nicht wider die neuen Bundesländer tun, die uns ge-
beten haben, mit einer entsprechenden Anhebung noch
zu warten. Aber ich denke, aufgeschoben ist nicht auf-
gehoben.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Dr. Evelyn Kenzler
7026 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Geset-
zes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte
und der Patentanwälte auf den Drucksachen 14/1958
und 14/2213 Buchstabe a. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Gesetzentwurf gegen die Stimmen der PDS-Fraktion
angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksa-
che 14/2256. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen der Regierungsmehr-
heit abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des
Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechts-
anwälte und der Patentanwälte auf Drucksache 14/1661.
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/2213
unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf für erledigt zu er-
klären. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlung ist mit allen
Stimmen des Hauses angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kersten Naumann, Eva-Maria Bulling-Schröter,
Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Die Rolle der deutschen Landwirtschaft in der
europäischen Agrarpolitik und die Strategie
der Bundesregierung bei der Mitgestaltung
der Agenda 2000
– Drucksachen 14/353, 14/1122 –
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der
Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
PDS-Fraktion die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Als die PDS-Fraktion im zeitigen
Frühjahr eine Große Anfrage zur Rolle der Bundesrepu-
blik bei der Mitgestaltung der Agenda 2000 stellte, in
der sie verlangte, die Spezifika der einzelnen Länder zu
analysieren, um davon Initiativen abzuleiten, ging sie
davon aus, daß die Antwort schnell kommt. Denn wir
wollten im Interesse der Bäuerinnen und Bauern kon-
struktiv an der Gestaltung der Agenda mitarbeiten. Doch
was geschah? Die Bundesregierung zögerte diese Ant-
wort hinaus. Ich kann dabei nicht an Zufall oder an
überlastete Beamte glauben.
Nichtsdestotrotz hat das Thema nicht an Aktualität
verloren. Der Agrarminister servierte uns nach der
Haushaltsdebatte goldene Worte von einer „verantwort-
baren“ Balance im Agrarhaushalt zwischen großen und
kleinen Betrieben, zwischen sozialer Stabilität und
Wettbewerbsfähigkeit, zwischen Ost- und West-
deutschland. Diese goldenen Worte und der Entschlie-
ßungsantrag der SPD sind die Fortsetzung der Antwor-
ten der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
PDS. Von Politikwechsel also keine Spur.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es den Bau-
ern mit der Agenda 2000 und den Einsparungen im
Agrarhaushalt so gut geht, wie Minister Funke Eigenlob
austeilt, dann steht die Landwirtschaft vor einem Boom
von Arbeitsplatzangeboten, und der ländliche Raum
steht nicht nur vor „blühenden Landschaften“, sondern
vor dem Paradies auf Erden.
Der Clou ist aber, daß der Minister bereits jetzt laut dar-
über nachdenkt, ob und inwieweit die steuerlichen Son-
derregelungen für die Landwirtschaft heute noch ihren
Zweck erfüllen.
Wie weit will er die Landwirte eigentlich noch knebeln?
Wenn sich die Agrarpolitik der klassischen Mittel der
Politik der Marktwirtschaft bedient, dann könnte die
Landwirtschaft gleich von anderen Ministerien und von
Institutionen der Wirtschaft verwaltet werden, und wie-
der könnte Minister Funke wahnsinnig einsparen – ange-
fangen bei seinem Ministerium.
Defizite in der Wettbewerbsfähigkeit, wie sie auch
im Entschließungsantrag der SPD beschrieben werden,
sind historisch begründet. Die Bundesregierung kann
doch nicht innerhalb weniger Jahre das Leitbild der
Landwirtschaft wechseln wie andere ihr Hemd.
Wenn es im SPD-Antrag heißt: „Chancen der deut-
schen Land- und Ernährungswirtschaft auf den Märkten
verbessern“, dann steht dahinter doch die Sicherung von
Marktanteilen auf Kosten anderer Länder und nicht
wettbewerbsfähiger Betriebe – und das bei einer Regie-
rung, die für sich in Anspruch nimmt, europafreundlich
und gerechtigkeitsliebend zu sein. Und wenn es im An-
trag der SPD weiter heißt, daß „Voraussetzungen für die
positive Entwicklung der landwirtschaftlichen Einkom-
men geschaffen werden“, dann ist das angesichts des
brachialen Agenda- und Sparprozesses reine Makulatur.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7027
(C)
(D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, spätestens seit Se-
attle müßten Sie, meine Damen und Herren von der Re-
gierung, doch wissen, daß sich die Benachteiligten zur
Wehr setzen. Noch ist nicht abzusehen, ob ein tragfähi-
ger Kompromiß überhaupt möglich ist. Wenn die Bun-
desregierung in ihrer Antwort darauf verweist, daß die
„weitere Liberalisierung der Weltagrarmärkte ... nur ak-
zeptabel , wenn faire Wettbewerbsbedingungen
herrschen“, dann ist das politische Blindheit oder
Volksverdummung.
Wir haben in unserer Großen Anfrage bewußt nach
den verschiedenen Produktionsbedingungen für die
Landwirtschaft in Europa gefragt. Es zeigt sich, wie
differenziert die Bedingungen in den einzelnen europäi-
schen Ländern und Regionen sind und wie sich die
Wettbewerbschancen verteilen. Diese Differenziertheit
konnte auch nicht durch die Kohäsionsfonds und die
Agrarstrukturpolitik verringert werden. Noch immer ist
das Jahreseinkommen einer bäuerlichen Familie in Bel-
gien viermal so hoch wie in Griechenland. Es beträgt in
Italien in Betrieben mit 4 bis 8 Hektar nur etwa ein
Zehntel von dem in Betrieben mit über 100 Hektar. Al-
lein mit Marktinstrumenten, Umwelt- und Sozialstan-
dards sind keine gleichen Wettbewerbsbedingungen
realisierbar.
Die Entwicklungsländer befürchten zu Recht, daß
diese Instrumente vor allem dazu dienen sollen, Wett-
bewerbsvorteile für die Industrieländer zu schaffen. Aus
den Antworten der Bundesregierung ergibt sich, daß sie
mit einer zunehmenden „Abhängigkeit der Entwick-
lungsländer von Nahrungsmittelimporten aus Industrie-
ländern“ und „steigenden Weltmarktpreisen“ für Nah-
rungsgüter rechnet. Diese neue Form des Kolonialismus
wird gegenwärtig schon praktiziert, wenn zum Beispiel
mit Nahrungsmittel- und Ölhilfen politisches Wohlver-
halten erzwungen wird. Dies hat aber immer zu neuen
scharfen Konflikten geführt und ist gegen die Völker
gewandt.
Was wir brauchen, ist eine Weltwirtschaft, die es den
Völkern ermöglicht, ihre eigenen Potenzen zu entwik-
keln und unabhängig zu werden.
Die vorhergesagten steigenden Weltmarktpreise wer-
den den Hunger nicht besiegen, sondern noch vergrö-
ßern. Und wenn in den Hungerländern die Kaufkraft
fehlt, dann werden auch die Preise einbrechen und auf
die Produzenten zurückfallen. Sie fordern deshalb zu
Recht die Verwirklichung eines „europäischen Land-
wirtschaftsmodells“. Dieses hat der Wirtschafts- und
Sozialausschuß der EU erarbeitet, das wird sicher auch
Ihnen von der SPD bekannt sein.
Die PDS hat ihre Position im vorliegenden Entschlie-
ßungsantrag vorgelegt. Er enthält die Grundrichtungen
der Vorstellungen des EU-Ausschusses.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Regie-
rung, Ihre Verantwortung für Chancengleichheit für alle
Bäuerinnen und Bauern in Europa ernst nehmen, dann
können Sie gar nicht anders, als unserem Antrag zuzu-
stimmen.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Karsten Schönfeld.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Seit den Anfängen der europäischen
Integration ist die gemeinsame Agrarpolitik der wichtig-
ste Politikbereich des geeinten Europas. Die Landwirt-
schaft war in den letzten 40 Jahren mit großem Erfolg
ein zentrales Element der europäischen Einigung. Die
gemeinsame Agrarpolitik muß weiter reformiert werden,
um die langfristigen Perspektiven der europäischen und
der deutschen Landwirtschaft zu verbessern. Nur so
können die Wettbewerbsfähigkeit gesteigert und gleich-
zeitig die ländlichen Räume weiterentwickelt werden.
Wir verfolgen in der europäischen Agrarpolitik vor
allem drei Ziele: erstens die Schaffung einer wettbe-
werbsfähigen Landwirtschaft, die in der Lage ist, sich
auf die Anforderungen des Weltmarktes einzustellen
und den Landwirten einen angemessenen Lebensstan-
dard zu sichern; zweitens die Verwirklichung einer
nachhaltigen und qualitätsorientierten Landwirtschaft,
die mit gesunden, umweltfreundlichen und tiergerechten
Produktionsmethoden qualitativ hochwertige Erzeugnis-
se herstellt und damit die Verbrauchererwartungen er-
füllt; und schließlich drittens die Förderung lebendiger
ländlicher Räume und einer Landwirtschaft, die auch die
Lebensqualität auf dem Lande erhält und die Landschaft
bewahrt.
– Machen wir!
Die Bundesregierung hat in den Verhandlungen zur
Agenda 2000 substantielle Verbesserungen für die Land-
wirtschaft in Deutschland erreicht, auch wenn das von der
Opposition immer wieder in Abrede gestellt wird.
Negative Auswirkungen auf die Einkommen konnten
deutlich verringert werden. Die Benachteiligung größe-
rer landwirtschaftlicher Betriebe durch eine Begrenzung
der direkten Einkommensübertragungen haben wir ver-
hindert. – Ich hätte mir gewünscht, daß die Kollegin von
der PDS das auch einmal gewürdigt hätte. – Durch die
schrittweise Umsetzung der Beschlüsse und die zeitliche
Streckung der notwendigen Neuregelungen wird die
Anpassung der Betriebe an die neuen Rahmenbedingun-
gen erleichtert.
Der Bundesregierung sei an dieser Stelle nochmals
für die kluge Führung der Verhandlungen um die Agen-
da 2000 gedankt.
Kersten Naumann
7028 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Als Thüringer, liebe Kolleginnen und Kollegen, habe ich
in vielen Gesprächs- und Diskussionsrunden mit Land-
wirten erlebt, wie wichtig diese Verhandlungserfolge für
die Landwirte sind, vor allem auch für die Landwirte in
den neuen Ländern.
Trotzdem: Die Wettbewerbssituation der Land-
wirtschaft ist weiterhin schwierig. Es bestehen nach wie
vor Defizite hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit unse-
rer Betriebe. Es bestehen strukturelle Schwächen sowohl
in der Agrarstruktur als auch in der Verarbeitungs- und
Vermarktungsstruktur. Im europäischen Vergleich sind
die Betriebsgrößen in Deutschland klein, der Anteil des
Betriebseinkommens aus dem Absatz von Agrarpro-
dukten ist bei uns geringer als in vielen Nachbarländern,
genauso wie die Wertschöpfung in der Landwirtschaft.
Wir brauchen faire Wettbewerbsbedingungen für unsere
Landwirtschaft im internationalen Vergleich. Deshalb
treten wir in Europa für die Vereinheitlichung von ge-
setzlichen Regelungen ein. Das gilt etwa für die Fort-
entwicklung der Vorschriften zur Definition der guten
fachlichen Praxis und ihre praktische Anwendung und
Kontrolle. Außerdem setzen wir uns für die Schaffung
von EU-weit geltenden Tierhaltungsvorschriften und
eine weitergehende Harmonisierung des Tierarzneimit-
telrechts sowie für den Einstieg in eine Harmonisierung
der Energiebesteuerung ein.
Faire Wettbewerbsbedingungen müssen auch im
Rahmen der WTO-Verhandlungen durchgesetzt wer-
den. Forderungen anderer Länder im Hinblick auf eine
stärkere Liberalisierung der Agrarmärkte sind für uns
nur akzeptabel, wenn unsere hohen Standards im Um-
welt- und Tierschutzbereich Berücksichtigung finden.
Unter diesen Voraussetzungen können die anstehenden
Verhandlungen im Rahmen der WTO und zur Oster-
weiterung der EU die Chancen der deutschen Land- und
Ernährungswirtschaft auf den Märkten verbessern. Wir
wollen einen fairen Wettbewerb schaffen, damit unsere
Landwirtschaft ihre Marktchancen nutzen, gleichzeitig
ihren Beitrag zu intakten ländlichen Räumen leisten und
nach hohen Standards zum Schutz der Verbraucher und
der Umwelt produzieren kann.
Die Integration der Agrarwirtschaften der mittel-
und osteuropäischen Länder in den gemeinsamen
Binnen- und Agrarmarkt ist eine weitere wichtige Auf-
gabe bei der Verwirklichung der Europäischen Union.
Probleme bestehen vor allem auf Grund der schwachen
Wirtschaft in einigen dieser Beitrittsländer. In der För-
derperiode ab dem Jahr 2000 bis 2006 leistet die Euro-
päische Union deshalb Vorbeitrittshilfen in Höhe von
zusammen rund 3 Milliarden Euro, davon 520 Millionen
Euro für die Landwirtschaft. Um die gemeinsame euro-
päische Agrarpolitik zu festigen und um die Rolle der
deutschen Land- und Ernährungswirtschaft in Europa zu
stärken, sind Reformen in diesen drei Politikfeldern –
Umsetzung der Agenda 2000, Osterweiterung der Euro-
päischen Union und WTO-Verhandlungen – notwen-
dig.
Wir haben in unserem vorliegenden Entschließungs-
antrag die Bundesregierung aufgefordert, die Umset-
zung der Agenda 2000 weiterhin so vorzunehmen, daß
einseitige Nachteile für die Betriebe in bestimmten Re-
gionen – insbesondere in den neuen Ländern – vermie-
den werden.
Ostdeutschland hat sehr von den Verhandlungsergebnis-
sen der Agenda 2000 profitiert. Die Vermeidung von
Obergrenzen bei Direktzahlungen und die endgültige
Ausweisung von Grundflächen sind nur zwei wichtige
Resultate für unsere Betriebe.
Bei der weiteren Liberalisierung der Weltagrar-
märkte wird sich die Bundesregierung für faire Wett-
bewerbsbedingungen einsetzen. Auf europäischer Ebene
müssen wir dafür Sorge tragen, daß durch die WTO-
Verhandlungen die hohen Umwelt- und Verbraucher-
standards, Lebensmittelsicherheit und -qualität und Tier-
schutzbestimmungen des europäischen Landwirt-
schaftsmodells abgesichert werden.
Ich bin sicher, daß die anstehenden großen Aufgaben
deutscher und europäischer Agrarpolitik bei unserer
Bundesregierung in besten Händen sind.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Meinolf Michels.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Kollege Schönfeld, Schönreden
sollte nicht zum Markenzeichen deutscher Agrarpolitik
werden. Daß dies aber zunehmend der Fall ist, spiegelt
sich in den Antworten der Bundesregierung auf die Gro-
ße Anfrage zur Agrarpolitik wider. Da definiert die
Bundesregierung das europäische Agrarmodell unter an-
derem als eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft, die in
der Lage sein sollte, sich auf die Anforderungen des
Weltmarktes einzustellen und den Landwirten einen an-
gemessenen Lebensstandard zu sichern. Durch die Ent-
scheidungen der letzten Wochen – und gerade der letz-
ten Woche – bewirken Sie aber genau das Gegenteil.
Karsten Schönfeld
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7029
(C)
(D)
Allein die Folgen der nationalen Politikbeschlüsse
bis heute – darunter das sogenannte Steuerentlastungs-
gesetz, die erste und zweite Stufe der Ökosteuer sowie
das Haushaltssanierungsgesetz – belasten die deutsche
Landwirtschaft zusätzlich mit 3,5 Milliarden DM.
Davon sind die kleinen und mittleren Betriebe besonders
betroffen. Kollege Schönfeld, wir sollten immer das
ganze Deutschland sehen und nicht nur – wegen einer
besonderen Struktur – einen Teil.
Meine Damen und Herren, es ist Ihnen sicher nicht
entgangen: In der Landwirtschaft haben wir im letzten
Jahr in großen Teilen unseres Landes die beste Ernte, aber
die schlechteste Ertragslage seit vielen Jahren gehabt.
Hinzu kommen die Auswirkungen der Berliner Be-
schlüsse zur Agenda 2000 mit einer Belastung für die
Landwirtschaft in Höhe von nochmals 1,5 Milliarden
DM. Alles in allem sind es 5 Milliarden DM mehr bis
zum Jahr 2006.
Dies bedeutet 20 bis 25 Prozent weniger Einkommen
für die Landwirte. Keiner anderen Berufsgruppe ist
auch nur im Ansatz Vergleichbares zugemutet worden.
Meine Damen und Herren von der SPD und dem Bünd-
nis 90/Die Grünen, wissen Sie wirklich, was auf unseren
Höfen los ist?
Ich habe am Montag an einer Tagung des Wirt-
schaftsausschusses der Landwirtschaftskammer in Mün-
ster teilgenommen. Das Ergebnis war niederschmet-
ternd: 25 Prozent der Betriebe sind in ihrer Existenz auf
das äußerste gefährdet.
– Das sage ich gleich. – Es handelt sich im wesentlichen
um Betriebe, die in den letzten Jahren ihre Produktions-
struktur auf die Zukunft ausgerichtet haben. Heute werden
gerade sie durch die von der Bundesregierung beschlos-
senen Maßnahmen wie von einem Keulenschlag in ihrer
Existenz getroffen. Bei steigenden Kosten und ruinösen
Preisen führt die gestiegene Produktion geradezu in die
Ausweglosigkeit. Ich könnte dies detailliert darlegen.
Ich möchte Ihnen einmal in Erinnerung rufen, daß
auch ein landwirtschaftlicher Betrieb laufende Kosten zu
bedienen hat. Ist ihm dies nicht möglich, lebt er von sei-
ner Substanz. Dies bedeutet dann das Ende. Das Ergeb-
nis eines Strukturwandels ohne kostendeckende Preise
ist nicht die Veränderung der Struktur, sondern letzt-
endlich die Vernichtung der Existenz.
Meine Damen und Herren, Sie geben hinter vorge-
haltener Hand selber zu, wie hart und überproportional
die Einschnitte bei der Landwirtschaft ausgefallen
sind. Sie haben für Mitte Februar nächsten Jahres eine
Korrektur angekündigt. Damit bestätigen Sie zum einen,
daß unsere Kritik an Ihren Beschlüssen der letzten Wo-
che richtig war. Zum anderen bitte ich Sie herzlich, so
schnell wie möglich mit uns bezüglich Ihrer Verbesse-
rungsabsichten in Verbindung zu treten.
Wenn Sie es wirklich wollen, müssen Sie jetzt in die
Offensive gehen. Das heißt: Von der Steuergesetzge-
bung über den Haushalt und die Gemeinschaftsaufgabe
bis zur Gasölbetriebsbeihilfe müssen Sie unverzüglich
helfende Korrekturen einleiten, damit unsere Betriebe
im europäischen und internationalen Vergleich wieder
wettbewerbsfähig werden.
Die reale Situation der Landwirtschaft verlangt gera-
dezu nach der sofortigen Einführung einer Vorruhe-
standsregelung. Für die Betriebe aber, die sich dem
Strukturprozeß gestellt haben, muß es sofort einen zins-
günstigen Überbrückungskredit geben. Denn die
Schweinepreise sind so niedrig, daß die Betriebe alleine
nicht mehr überleben können.
Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulrike Höfken
das Wort.
Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Weil die
Redner der Opposition ihre Haltung in jeder Rede ste-
reotyp wiederholen, möchte ich eines betonen: Sie be-
klagen, der deutschen Landwirtschaft gehe es nicht be-
sonders gut. Es ist richtig, sie hat eine Reihe von Pro-
blemen. Die Tatsache, daß Sie dies jetzt beklagen, muß
aber doch auf Ihre verfehlte Agrarpolitik der letzten Jah-
re und Jahrzehnte zurückgeführt werden.
Ich denke gar nicht daran, Sie ungestraft dieses See-
mannsgarn spinnen zu lassen: Sie waren es, die die Mi-
neralölsteuer um 50 Pfennig erhöht haben.
Dazu haben Sie keinen Ton gesagt; Sie alle haben dies-
bezüglich unter dem Sofa gesessen. Die Situation ist
letztendlich deshalb so schlecht, weil Sie versäumt ha-
ben, die Landwirtschaft, einen durchaus bedeutenden
Wirtschaftszweig, in die Innovation zu führen und wett-
bewerbsfähig zu machen.
Die Agenda 2000 ist 1992 im Rahmen der Agrarre-
form geschaffen worden. Ich bin immer ein bißchen
platt, wenn die PDS die Agenda 2000 mit dem Begriff
Meinolf Michels
7030 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
„neoliberal“ versieht. Bei aller Liebe, die Agenda 2000
trägt deutliche Züge einer Staatswirtschaft. Beide mögen
miteinander zu tun haben, aber diese Staatsorientierung
ist ganz gewiß nicht von den Landwirten so gewollt
worden. Die Orientierung auf Interventions- und Sub-
ventionspolitik ist von der Vorgängerregierung inten-
diert worden und ist auch so vereinbart worden.
Die neue Bundesregierung hat in der kurzen Zeit seit
der Regierungsübernahme entscheidende Verbesserun-
gen in den Agenda-Verhandlungen durchgesetzt.
Die Einkommensrückgänge, die 1998 prognostiziert
worden sind, haben sich mehr als halbiert, und auch die
Nettozahlerposition ist besser geworden. Gerade auch
für die neuen Länder – das sage ich in Richtung PDS –
hat sich der Rückfluß aus den Strukturfonds deutlich
verbessert. Es gibt 500 Millionen Euro mehr pro Jahr.
Das kommt besonders den neuen Ländern zugute. Auch
die Betriebe sind weiter unterstützt worden.
Es hat einen Ausgleich im Fleischbereich gegeben, der
ganz vernünftig ist.
Ich will gar nicht verhehlen, daß es auch negative
Seiten gibt. Die Milchpolitik ist so nicht von uns ge-
wollt worden. Den Preisdruck würde ich immer als ne-
gativ bezeichnen. Auch die Finanzausstattung halte ich
nach wie vor für problematisch. Aber all das war weit
vorher angelegt.
Es geht mit der Agenda 2000 ja weiter. Wir sind noch
in der Phase der Ausgestaltung. Ich denke, hier gilt der
Satz, den wir in unseren Änderungsantrag hineinge-
schrieben haben: Es gibt keine Intentionen, Politik ein-
seitig zur Belastung von bestimmten Betrieben und Re-
gionen zu betreiben. Ganz im Gegenteil. Wir möchten
die Gebiete, in denen es etwas zu unterstützen gibt, auch
weiter unterstützen.
Ich wundere mich sehr, Kolleginnen von der PDS,
warum Sie die Frage von arbeitsplatzbezogenen Förde-
rungen überhaupt nicht aufnehmen. Das ist doch eine
Diskussion wert. Ich halte es für notwendig, die Modu-
lation unter solchen Gesichtspunkten zu diskutieren –
wie es in Frankreich gemacht wird –, und zwar ganz klar
nicht zu Lasten der ostdeutschen Betriebe.
Die Agenda 2000 – um das zu betonen – ist die not-
wendige Basis und die Voraussetzung für die Osterwei-
terung und vor allem für die WTO-Verhandlungen.
Auch das muß man ganz deutlich sagen. Würde es die
Agenda 2000 nicht geben, würde man mit einem Blu-
menstrauß von möglichen Forderungen in diese schwie-
rigen Verhandlungen hineingehen, dann hätte Europa
gar keine Chance, hier etwas durchzusetzen.
Ich finde auch – das gilt für den Entschließungsan-
trag –, die Bundesregierung und die Europäische Union
gehen mit einer Vielzahl von positiven Ausrichtungen in
die WTO-Verhandlungen, die sich deutlich von denen
der Vergangenheit unterscheiden, nämlich in Richtung
Stärkung der Entwicklungsländer, in Richtung Siche-
rung der Ernährung, in Richtung Umweltstandards, So-
zialstandards. Das allein sind schon positive Merkmale.
Das ist übrigens der Grund, warum viele Leute auf die
Straße gehen, weil sie befürchten, gerade diese Bereiche
könnten zu kurz kommen.
Noch ein letztes, kurzes Wort zum Wettbewerb.
Auch das ist ein Thema der Debatte.
– Ja, natürlich. – Wettbewerb braucht neue Kriterien.
Das sage ich in fast jeder Rede. Sehen Sie sich doch
einmal an, was in anderen Ländern passiert. Es gibt neue
Ökosteuern oder neue Besteuerungsforderungen oder
-formulierungen, die sich an ganz anderen Kriterien
orientieren.
Frankreich und Großbritannien besteuern Pflanzen-
schutzmittel, Dänemark besteuert Düngemittel, neun
Länder haben Ökosteuern.
Was Sie schildern, ist eine Welt von gestern, die sich an
Wettbewerbskriterien orientiert, die nicht mehr auf der
Höhe der Zeit sind.
Auch bei der Energiebetrachtung müssen Sie einen Ge-
samtzusammenhang herstellen, zum Beispiel auch die
Stromverbilligung in Höhe von 330 Millionen DM mit
einbeziehen.
Ich will nicht sagen, daß es keine Probleme gibt, aber
es gibt auch neue Perspektiven bei den erneuerbaren
Energien. Wir möchten auch als Koalition – SPD und
Bündnis 90/Die Grünen – dazu beitragen, daß die
Landwirtschaft von einer Neuausrichtung profitiert.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich frage mich
schon: Wo bin ich eigentlich? Wird hier Adam Riese
Ulrike Höfken
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7031
(C)
(D)
außer Kraft gesetzt? Wenn ich in die landwirtschaftli-
chen Betriebe hineingehe, dann erfahre ich genau das
Gegenteil. Sie predigen, die Wettbewerbsfähigkeit
wird verstärkt.
Das Gegenteil wird gemacht. Wir stehen mit einer
Agenda 2000 unter Belastungen, die die Landwirte in
ihren Einkommen zusätzlich trifft. Wir stehen am An-
fang einer WTO-Runde, die zusätzliche Belastungen
für die Landwirtschaft bringt. Sie kommen hierher und
sagen, wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit der Land-
wirte erhöhen. Was tun Sie? Sie tun genau das Gegen-
teil. Das ist nicht mehr nachvollziehbar. Es macht einem
auch schon gar keinen Spaß mehr, hier im Plenum im-
mer wieder das gleiche sagen zu müssen, weil Sie nicht
in der Lage sind, das einfache Einmaleins anzuerkennen.
Sie kürzen rigoros im Bereich der Umsatzsteuer um
ein Prozent. Wo bleibt denn da die Wettbewerbsfähig-
keit? Sie kürzen rigoros bei Betriebshilfsmitteln, wie
Dieselöl, bei denen es einen berechtigten Anspruch auf
eine Rückvergütung gibt; Sie ignorieren diesen An-
spruch einfach. Sie machen eine Differenzierung, wo-
nach Großbetriebe und Lohnunternehmer schlechter
gestellt sind. Sie sind permanent dabei, der Landwirt-
schaft zusätzlich Prügel zwischen die Beine zu werfen.
Dann kommen Sie hierher und sagen: Wir wollen die
Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Dann kommen Sie hier-
her und sagen: Die Nachhaltigkeit der Land- und Forst-
wirtschaft muß erhöht werden. Wie paßt denn so etwas
zusammen? Wie können wir denn erwarten, daß Land-
wirte wirklich nachhaltig und umweltgerecht produzie-
ren, wenn Sie ihnen mit Ihrer Art und Weise der Politik
die Existenz unter den Füßen wegziehen? Wir werden
eine Landwirtschaft bekommen, die nicht mehr die
Landwirtschaft der Vergangenheit sein wird; die Kul-
turlandschaft wird nicht mehr gepflegt werden. Unter
Ihrer Regierung wird es einen Kahlschlag geben, der
seinesgleichen sucht.
Um das zu erkennen, brauchen Sie meine Rede
eigentlich gar nicht zu hören. Sie brauchen nur einmal
selber in die Bücher der Landwirte hineinzusehen. Bei
mir in Baden-Württemberg hatten wir im vergangenen
Jahr ein Minus von 12 Prozent beim Einkommen der
Landwirte.
Schauen Sie mal, was daraus jetzt resultiert und was
passiert, wenn Ihre Beschlüsse – die haben wir jetzt erst
diskutiert; die wenigsten sind bisher umgesetzt worden,
das geschieht erst noch – umgesetzt werden.
Wir können doch nicht die Augen vor der Realität ver-
schließen und sagen: Was jetzt ist, haben die Alten zu
verantworten, und was neu ist, das brauchen wir noch
nicht zu betrachten. Das ist völliger Quatsch. Wir als
Politiker haben die Aufgabe, die Maßnahmen, die wir
hier ergreifen, auch entsprechend auf die Praxis zu
übertragen. Wir müssen uns fragen: Wie wirken sie sich
denn aus? Sie wirken sich katastrophal aus!
Ich bin wirklich der Meinung, daß von der Regierung
genau das Gegenteil von dem gemacht wird, was sie
eigentlich tun sollte, nämlich die Herausforderungen der
Agenda 2000 und der WTO entsprechend zu begleiten
und der Landwirtschaft zu helfen, die Herausforderun-
gen im Wettbewerb, in der Marktwirtschaft zu bestehen.
Wir dürfen nicht das Gegenteil tun, indem wir sie be-
schränken und zusätzlich belasten.
Dann sagt der Bundeslandwirtschaftsminister auch
noch fast höhnisch: Die Bauern sollen sich mehr um den
Markt kümmern. Ich möchte einmal irgendeine Branche
in dieser Republik sehen, die diesen Wettbewerb bei
solch unterschiedlichen Wettbewerbsvoraussetzungen
bestehen kann.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim.
Dr
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hier
ist eingangs kritisiert worden, daß zuviel Zeit zwischen
der Beantwortung der Großen Anfrage und der Diskus-
sion verstrichen sei. Offensichtlich hat die Zeit immer
noch nicht ausgereicht, sich mit dem Problem zu be-
schäftigen und es zu verstehen. Zumindest muß man zu
dem Ergebnis kommen, wenn man diese Debatte ver-
folgt.
Die Bundesregierung hat mit der Agenda-2000-
Entscheidung eine entscheidende Weichenstellung für
die Zukunft der Landwirtschaft in Deutschland und in
der Europäischen Union vorgenommen. Diese Entschei-
dung – das ist hier von keinem der Redner angesprochen
worden – ist alternativlos.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nau-
mann?
Dr
Ja, bitte.
Herr Thalheim, ich habe
vorhin nicht den Mangel an Zeit zwischen der Beant-
wortung und der Diskussion beklagt, sondern ich habe
Ulrich Heinrich
7032 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
bemängelt, daß zwischen der Anfragestellung und der
Beantwortung durch die Bundesregierung soviel Zeit
verstrichen ist. Es ist nicht so, wie Sie es hier jetzt dar-
stellen.
Dr
Frau Kollegin, meine Zeit reicht leider nicht dazu
aus, all Ihre unsinnigen Vorwürfe zu behandeln. Der
unsinnigste ist, daß wir als Bundesregierung die Pro-
blematik im Zusammenhang mit der Agenda 2000 nicht
ausreichend diskutiert hätten. Wir haben das im Aus-
schuß mehrfach getan – der Bundesminister war dabei
anwesend. Wir haben das hier im Plenum getan.
Der Vorwurf, daß wir keine Zeit gehabt hätten, das zu
diskutieren, ist weiß Gott aus der Luft gegriffen.
Noch einmal zu den Alternativen. Man stelle sich
einmal vor, die Europäische Union wäre in die Ver-
handlungen in Seattle ohne eine solche Reform gegan-
gen. Man hätte uns ausgelacht. Insofern ist mit der
Agenda 2000 eine ganz entscheidende Voraussetzung
dafür geschaffen worden, mit den Amerikanern, mit der
Cairns-Gruppe, mit den Entwicklungsländern auf einer
Augenhöhe zu verhandeln. Man stelle sich einmal vor,
wir hätten die Reform nicht gemacht. Was hätte Ludolf
von Wartenberg dann wohl geschrieben
– Siegfried Hornung, hör jetzt mal zu! –, der jetzt trotz
Agenda 2000 behauptet, die Industrie nehme die Land-
wirtschaft als Geisel? Das ist die Haltung in der Wirt-
schaft. Die Reform war notwendig, und sie war alterna-
tivlos.
Die Strategie, die Sie uns immer vorgehalten haben
– wir müssen warten, keine Vorleistungen –, war genau
der falsche Weg. So etwas behauptet heute nicht einmal
mehr der Bauernverband. Auch Sie sollten sehr vorsich-
tig sein, das immer wieder zu behaupten. Sie können
sich an dieser Stelle selbst betrügen – es gibt ja aktuell
viel darüber zu diskutieren –, aber Sie haben den Fehler
gemacht, auch die Bauern zu betrügen. Die Agenda
2000 war keineswegs eine Vorleistung; sie war die Vor-
aussetzung für erfolgreiche Verhandlungen in der WTO.
– Du kannst doch nicht bestreiten, Siegfried Hornung,
daß Reformen überfällig waren.
Schauen wir uns die Problematik im Rindfleischbe-
reich an: Es gab eine enorme Lagerhaltung, und keiner
wußte, was damit gemacht wird. Die Intervention bei
den Rindfleischpreisen hat sich zur schieren Geldver-
nichtung entwickelt. Hier mußte doch reformiert wer-
den.
– Über was denn sonst? Wollen wir neben der unsägli-
chen Milchkühekontingentierung noch eine Rinderkon-
tingentierung? Das ist doch keine Alternative.
Mit der Agenda 2000 ist eine klare Finanzperspektive
geschaffen worden. Vergegenwärtigen wir uns – das
sage ich an die Adresse der PDS, die uns soziale Kälte
und zuwenig Leistungen für die Landwirtschaft vorwirft
–, daß von der Europäischen Union immerhin 12 Milli-
arden DM an die Bauern zurückfließen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Thal-
heim, es besteht der Wunsch nach einer weiteren Zwi-
schenfrage. Lassen Sie diese zu?
Dr
Selbstverständlich.
Herr Staatssekretär,
ich gebe Ihnen ja recht, daß die Verhandlungen auf
europäischer Ebene und bei der WTO sehr schwierig
sind. Darüber können wir ganz offen reden. Aber wieso
haben Sie in dieser ohnehin schwierigen Situation die
Landwirtschaft mit 4,6 Prozent zusätzlich belastet, was
für einen Bauernhof mittlerer Größe zwischen 10 000
und 15 000 DM pro Jahr netto ausmacht?
Dr
Herr Kollege Michels, als erstes wäre die Zahl zu
hinterfragen.
– Da können Sie ruhig lachen.
Sie haben das Thema Schweine in die Debatte einge-
bracht. Gerade der Schweinemarkt wird zum Glück in
keiner Weise politisch beeinflußt. Wer heute von den
Verlusten in diesem Bereich spricht, der muß über die
Gewinne reden, als der Preis für Schweinefleisch bei
4 DM pro Kilo lag. Erst wenn man den Durchschnitt
bildet, kommt man zu dem richtigen Ergebnis bei der
Schweineproduktion.
Ihre Diskussion ist auch in anderen Bereichen verlo-
gen; die Kollegin Höfken hat das hier dargestellt. Allei-
ne zu Ihrer Zeit ist die Mineralölsteuer um 17 Pfennig
erhöht worden, während die Gasölrückerstattung in
derselben Zeit auf gleicher Höhe geblieben ist. Das
heißt, auch Sie haben den Bauern in die Tasche gegrif-
fen. Sie hatten nur den Vorteil, daß der Bauernverband
in der Allianz ruhig geblieben ist und das nicht zum öf-
fentlichen Thema gemacht hat.
Kersten Naumann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7033
(C)
(D)
Insofern trifft der Vorwurf der Unehrlichkeit nicht nur
Sie, sondern auch den Deutschen Bauernverband.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Thal-
heim, es besteht der Wunsch nach einer zweiten Zwi-
schenfrage des Kollegen Michels.
Dr
Aber gerne, ich bin gerade in der Übung.
Herr Staatssekretär,
es ist richtig: Selbstverständlich hat es über die Zeit ge-
sehen immer einen Wandel gegeben. Aber Sie regieren
erst ein Jahr. In diesem einen Jahr haben Sie in einer
Weise zugeschlagen, die sich in meinem Beispiel auf die
Größenordnung summiert, die ich eben genannt habe –
und dies in einer Zeit, wo es der Landwirtschaft auf
Grund der Preissituation so schlecht geht, wie es noch
nie der Fall war. Da ist von Hilfe, von Einfühlungsver-
mögen, von Rücksichtnahme wirklich überhaupt nichts
zu spüren.
Dr
Herr Kollege Michels, ich müßte Ihnen jetzt
eigentlich wieder die ganze Litanei zu dem Schulden-
berg, den Sie uns hinterlassen haben, herunterbeten.
Sie können da ruhig die Hände heben. Mir war es sowie-
so schon immer ein Bedürfnis, zu den Schulden – wenn
Sie die schon ansprechen – in einem Punkt Stellung zu
nehmen.
Ich finde es unseriös, so zu tun, als wären die Schul-
den bis 1982 die ganz schlechten Schulden gewesen.
Dann kommen bis zum Jahre 1990 schon bessere Schul-
den. Dann kommen von 1990 bis 1998 sehr gute und
dann wieder schlechtere Schulden. Das haben wir hier in
der letzten Haushaltswoche Tag für Tag gehört. Aber
was Sie vergessen – auch wenn es um die Schulden
durch die deutsche Einheit geht –, ist die Frage, wo die-
jenigen sitzen – das geht vor allen Dingen in Richtung
der F.D.P. –, die die Vorteile durch die Steuersparmo-
delle hatten, und welche Schulden allein durch die ver-
fehlte Treuhandpolitik aufgelaufen sind. Alles das haben
wir jetzt als Bundesregierung mit den vollen Konse-
quenzen zu tragen.
Insofern ist es völlig unseriös, jetzt hier uns gegenüber
den Vorwurf zu erheben, daß wir auf dem Rücken der
Bauern sparen würden.
Aber ich möchte Ihnen gern noch alles das aufzählen,
was an Positivem für die Landwirtschaft gemacht wurde.
Mit der Agenda 2000 sind die Voraussetzungen für eine
erfolgreiche WTO-Verhandlung geschaffen worden.
Wir hatten bei der Agenda 2000 die Strategie, die Be-
nachteiligungen Ostdeutschlands abzuschaffen. Darauf
ist schon mehrfach Bezug genommen worden. Aber,
Siegfried Hornung, auch hier noch einmal zum Mit-
schreiben: Karl-Heinz Funke hatte sich vorgenommen,
die Benachteiligung insbesondere der Rinderhalter durch
die Kiechle-Reform zu korrigieren. Auch das ist ein
Punkt, über den man nicht gern redet. Bei einem Produk-
tionsanteil im Rindfleischbereich in Höhe von 19 Prozent
sind nach Kiechle ganze 9 Prozent Prämienanteile geblie-
ben. Wenn die Agenda 2000 umgesetzt ist, werden es 14
Prozent sein. Dies ist eine erhebliche Leistung.
Nächster Punkt: Wir sind gegenwärtig dabei, die ka-
tastrophale Situation bei der Milchquote zumindest im
System ein wenig zu verbessern. Die Voraussetzungen
dafür sind mit der Agenda 2000 geschaffen worden. Wir
haben mit der Reform – ohne in ideologische Graben-
kämpfe zu verfallen – eine deutliche Marktorientierung
vorgenommen, indem die Intervention zurückgeführt,
aber ein breites Spektrum eröffnet wird, wo die Bauern
auch in Zukunft Geld verdienen, wo sie ihre Chancen
nutzen können. Auch wir wollen die Exportchancen nut-
zen. Wir wollen aber auch die regionalen Märkte nutzen.
Wir setzen auf herkömmliche, aber auch auf ökologi-
sche Produktion. Wir haben in diesem Bereich vor allen
Dingen nicht nur geredet, sondern auch gehandelt.
Stichwort Richtlinie über die künftige Legehennen-
haltung, Stichwort Ökorichtlinie im Tierbereich: Das ist
eine ganz wichtige Voraussetzung, um auch im Tierbe-
reich die Einkommenschancen zu erweitern. Hier sei
auch das Öko-Label genannt. Das gleiche gilt für die
Umweltorientierung, eine umweltgerechte Landwirt-
schaft, indem wir in der Zukunft die gute fachliche Pra-
xis zum Maßstab machen. Auch hier könnte noch viel
erwähnt werden.
Zum Abschluß noch eine Bemerkung, Frau Kollegin
Naumann, zu Ihrer Anfrage. Ich habe kürzlich in der Zei-
tung gelesen, daß sich zumindest der Vorstand der PDS
um eine mehr an der Wirklichkeit orientierte Politik be-
müht. In Ihrer Großen Anfrage war davon in der Tat we-
nig zu spüren, vor allen Dingen bei Ihrer Kritik an der Ka-
pitalverzinsung. Ich würde Ihnen empfehlen, nicht nur
diejenigen zu befragen, die Ihnen das in Ihren Antrag ge-
schrieben haben. Reden Sie vielmehr einmal mit Ihren
Bauern in Thüringen, und fragen Sie sie, wie hoch bei den
Anteilseignern in der Landwirtschaft die Kapitalverzin-
sung ist. Dann werden Sie feststellen, daß diese sehr ge-
ring ist. Angesichts dessen ist Ihre Kritik nicht angebracht.
Auch Sie müssen sich in der Zukunft entscheiden,
was Sie eigentlich wollen. Wenn man für die Markt-
chancen der osteuropäischen Länder oder der Entwick-
lungsländer eintritt, bedeutet das, daß wir denen die
Märkte öffnen müssen, damit sie stärker in die Europäi-
sche Union liefern können. Das ist aber eine Zeile weiter
bei Ihnen schon wieder Liberalisierung.
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
7034 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Es tut mir leid, ich komme an der Stelle nicht klar.
Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich, wenn Sie ernst ge-
nommen werden wollen, stärker an der Wirklichkeit zu
orientieren. Das, meine Damen und Herren von der an-
deren Seite der Opposition, gilt natürlich für Sie ebenso.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist Kollege Albert Deß für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! In diesem ersten Jahr rotgrüner Bundes-
regierung mußte die Landwirtschaft Veränderungen über
sich ergehen lassen, die Anlaß zu tiefer Sorge geben.
Ich habe bei einem Erntedankfest in Abwandlung
eines Zitats gesagt: Stell dir vor, es gibt Äcker und Wie-
sen, und keiner bewirtschaftet sie mehr. Diese Horror-
vorstellung könnte zumindest für viele Flächen in unse-
rem Land, in unserer Kulturlandschaft Wirklichkeit
werden, wenn Rotgrün diese Agrarpolitik so fortsetzt,
wie sie im ersten Regierungsjahr begonnen wurde.
Daß anscheinend im Bundeslandwirtschaftsministe-
rium in dieser Richtung gedacht wird, zeigt die Aussage
eines Spitzenbeamten, der da gesagt hat – ich zitiere –:
Wir müssen uns darauf einstellen, daß die mit der
Agenda 2000 beschlossene Orientierung auf dem
Weltmarkt auf Dauer Änderungen der heutigen
Kulturlandschaft mit sich bringt.
Ich bin sehr dankbar, daß ein Beamter so deutlich
ausspricht, was im Bundeslandwirtschaftsministerium
gedacht wird. Ich glaube, es ist ein parteiübergreifender
Konsens notwendig, damit auch in Zukunft in Deutsch-
land, in Europa flächendeckend Landbewirtschaftung
möglich ist.
Wenn einige glauben, Herr Staatssekretär Thalheim,
daß die deutsche Landwirtschaft am Weltmarkt wettbe-
werbsfähig ist, dann wird man sich darin gewaltig täu-
schen. Es gibt ein Gutachten über die Zuckerwirt-
schaft. Darin ist vor kurzem festgestellt worden, daß bei
einer totalen Liberalisierung die europäische Zucker-
wirtschaft nicht weltmarktfähig ist. Dabei haben wir in
der Zuckerwirtschaft die besten Strukturen, die besten
Verarbeitungs- und Vertriebsstrukturen, und trotzdem ist
dort eindeutig festgestellt worden, daß wir in Europa
nicht fähig sind, zu Weltmarktkosten zu produzieren.
Wer glaubt, daß durch einen Strukturwandel die Ein-
kommensproblematik gelöst werden kann, der muß
ebenfalls eines Besseren belehrt werden.
Wenn durch größere Agrarbetriebe die Einkommens-
problematik gelöst werden könnte, dann wären in Ame-
rika nicht über 41 Milliarden DM Agrarsubventionen
notwendig. Selbst die amerikanischen Großbetriebe wä-
ren zu einem großen Teil in ihrer Existenz gefährdet,
wenn der amerikanische Staat seine Leistungen einstel-
len würde.
Wenn Großbetriebe in der Lage wären, zu Welt-
marktbedingungen zu produzieren, dann müßten ja in
den neuen Bundesländern die Agrargroßbetriebe mit
1 000, 2 000 und 5 000 Hektar in der Lage sein, ohne
Ausgleichszahlungen zu produzieren. Sie sind es aber
nicht. Die Ausgleichszahlungen sind auch dort notwen-
dig, sonst würden diese Betriebe nicht überleben.
Damit ist auch der Beweis erbracht, daß Agrarbewirt-
schaftung in Europa und auch in anderen Teilen in
der Welt zu sogenannten Weltmarktagrarpreisen nicht
möglich ist. Das müssen wir einfach zur Kenntnis neh-
men.
Was jetzt national geschieht, wie man mit den Bauern
in diesem Land umgeht, ist meiner Ansicht nach schon
eine Abstrafaktion, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen.
Das ist genau das, was sich der Bundeskanzler in Vils-
hofen und in Cottbus erlaubt hat. Das waren doch Aus-
sagen, die an Arroganz gegenüber unserem Berufsstand
nicht mehr zu überbieten waren.
Wie die Auswirkungen sind, Herr Kollege Thalheim,
sieht man an einem Leserbrief – ich kann es aus Zeit-
gründen jetzt nicht detailliert ausführen, aber ich reiche
es Ihnen dann gern herüber –, der vor kurzem in einer
Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. Dort hat ein Land-
wirt, der 47,5 Hektar bewirtschaftet und bisher ein Jah-
reseinkommen von 49 900 DM – wohlgemerkt als Fa-
milieneinkommen – hat, exakt vorgerechnet, daß er
durch diese Beschlüsse der Bundesregierung mit einem
Einkommensverlust von über 9 000 DM pro Jahr rech-
nen muß. Dazu kommen weitere 9 000 DM durch die
Agenda 2000. Sein Einkommen wird um 18 000 DM
niedriger sein. Das ist über ein Drittel seines bisherigen
Einkommens. In unserem Lande wird keine Berufsgrup-
pe in dem Maße wie die bäuerliche belastet. Das muß
hier einmal klar und deutlich festgestellt werden.
Niemand in der SPD kann behaupten, das nicht zu
wissen. Mein von mir sehr geschätzter Kollege Matthias
Weisheit – ich meine es so, wie ich es sage; er hat es
nicht leicht in seiner Fraktion – hat vor kurzem, am
10. November, einen Brief an seine Fraktion geschrie-
ben, aus dem ich zitieren darf:
Liebe Genossinnen und Genossen, die Auswirkun-
gen der Beschlüsse zur Haushaltssanierung und zur
Ökosteuer auf die Landwirtschaft sind beträchtlich.
Die meisten landwirtschaftlichen Familien werden
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7035
(C)
(D)
mehr oder minder deutliche Einkommenseinbußen
haben.
Recht hat er, der Matthias.
Daß seine Fraktion – genauso wenig wie die Bundes-
regierung – das nicht zur Kenntnis nehmen will, ist das
eigentlliche Problem.
Mich stört, daß die Würde unserer Bäuerinnen und
Bauern von dieser Bundesregierung mit Füßen getreten
wird.
Ein Berufsstand wird mit Füßen getreten –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Deß,
Sie müssen bitte zum Schluß kommen.
– ich komme zum Schluß –,
der dazu beiträgt, daß wir in unserem Land eine hohe
gesellschaftliche Stabilität haben, und der die Kultur-
landschaft prägt.
Wo ist unser Bundeslandwirtschaftsminister? Er ist
mehr Tiefseetaucher als Landwirtschaftsminister: Er
taucht vor den Problemen, die unsere Bäuerinnen und
Bauern haben, weg. In der langen Zeit, in der ich diesem
Parlament angehören darf, habe ich noch keinen Mi-
nister erlebt, der sich so wenig wie dieser Landwirt-
schaftsminister um die Sorgen unserer Bäuerinnen und
Bauern kümmert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2249. Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen
von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2255. Wer stimmt
dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-
Fraktion abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Norbert Barthle, Wolfgang Behrendt so-
wie weiterer Abgeordneter aus allen Fraktionen
Stärkung der freien Rede im Deutschen Bun-
destag
– Drucksache 14/1949 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem erteile ich
dem Kollegen Dirk Niebel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß dieser
Gruppenantrag tatsächlich – wenn auch nur in Teilen –
das Interesse aller Fraktionen gefunden hat. Durch die-
sen Gruppenantrag bringen Mitglieder aller Fraktionen
zum Ausdruck, daß sie mit der Darstellung, die wir in
diesem Parlament für die Öffentlichkeit teilweise abge-
ben, nicht zufrieden sind.
Ich bin im Vorfeld von dem einen oder anderen Kol-
legen angesprochen worden, ob ich nicht eine Rede
schreiben wolle, um sie dann langsam und schlecht vor-
zulesen, oder ob ich diese Rede vielleicht besser gleich
zu Protokoll geben möchte. Nein, ich möchte das nicht;
denn – auch wenn Frau Kollegin Rennebach das nie
glauben wird – dieser Antrag hat nicht das Ziel, hier eine
kabarettistische Veranstaltung aufzuziehen. Er verfolgt
vielmehr ein ernsthaftes Anliegen: Die Plenardebatten
des Deutschen Bundestages sind ein ganz wesentliches
Element, um der Öffentlichkeit Politik zu vermitteln und
um der Bevölkerung die Gründe unserer politischen Ent-
scheidungen deutlich zu machen.
Wir sollten dieses wesentliche Mittel, das uns in der
parlamentarischen Demokratie zur Verfügung steht,
stärken, und wir sollten versuchen, soviel und so interes-
sant wie möglich mit den Bürgerinnen und Bürgern in
diesem Land in Kontakt zu treten.
Schon die Debatten in der 11. Legislaturperiode,
1988, haben gezeigt – meine Kollegin Dr. Hildegard
Hamm-Brücher hat sich damals mit der freien Rede im
Parlament auseinandergesetzt –, daß dieses Thema ganz
wesentlich ist. Sie können in den Protokollen über die
Debatten von damals nachlesen, was wir in diesem Par-
lament alles bewegen wollten, um der Öffentlichkeit
klarzumachen, daß dieses Haus ein lebendiges Parla-
ment ist, ein Parlament, das seine Entscheidungsfindung
an die Bürgerinnen und Bürger weitergeben kann.
Wir sollten versuchen, mit Blickkontakt zu den Zuhö-
rerinnen und Zuhörern
– auch auf Zurufe, Frau Hendricks, und den Vorredner
eingehend – die Debatten interessant zu gestalten und zu
Albert Deß
7036 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
verhindern, daß im wesentlichen Langeweile, Trägheit
und Zähigkeit die Debatten bestimmen.
Der vorliegende Antrag hat schon etwas bewirkt.
Wenn Sie den heutigen Tag im Parlament verfolgt ha-
ben, dann werden Sie festgestellt haben, daß die meisten
Kolleginnen und Kollegen sehr an sich gearbeitet haben,
daß sie unsere Anregung, ihr eigenes Verhalten auf den
Prüfstand zu stellen, aufgenommen haben und daß sie
im wesentlichen vom Ablesen vorgefertigter Manu-
skripte abgegangen sind. Genau diesen Weg wollen wir
beschreiten. Wir wollen niemanden vorführen. Aber je-
der von uns, der hier an dieses Pult tritt, weiß doch im
Grunde, was er sagen möchte. Vielleicht gibt es den
einen oder anderen, der das nicht weiß; aber der redet
dann trotzdem.
Selbst, wenn die Formulierungen nicht ganz so rund
sind wie dann, wenn sie vorher aufgeschrieben worden
wären, ist es manchmal interessanter zuzuhören, als
dann, wenn man einer langweilig abgelesenen Rede fol-
gen muß. Wir alle wissen, daß dies so ist.
Lassen Sie mich zum Schluß einen Vergleich brin-
gen: Mit der freien Rede ist es ein bißchen so wie mit
dem Fallschirmspringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Niebel,
ich schaue in dieser Debatte etwas strenger auf die Ein-
haltung der Redezeit. Sie haben jetzt Ihre Redezeit über-
schritten.
Ich komme zum Schluß. – Man
muß sich immer wieder überwinden und Mut fassen. Ich
kann Ihnen versprechen, da ich mich in beiden Berei-
chen auskenne: Hinterher hat es eine Menge Spaß ge-
macht.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Christian Lange, SPD.
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mein Gott,
haben wir eigentlich nicht andere Probleme? Diese Fra-
ge drängt sich mir wirklich auf.
Im ersten Satz des § 33 unserer Geschäftsordnung
steht, daß wir frei sprechen sollen. Im zweiten Satz steht
in der Tat, daß wir unsere Aufzeichnungen benutzen
dürfen.
Bemerkenswert ist, Herr Kollege Niebel, daß Sie sich
als Liberaler hier für weitere Regulierungen ausspre-
chen. Dies finde ich besonders interessant.
Ansonsten führen Sie immer das Wort von der Deregu-
lierung im Munde und fordern weniger Gesetze. Jetzt
wollen Sie die Kolleginnen und Kollegen zwingen, auf
ihren Notizzettel zu verzichten. Verdammt noch mal,
das kann doch nicht der Sinn und Zweck sein!
Statt dessen müssen Sie die Eigenverantwortung der
Kolleginnen und Kollegen stärken, für lebhafte Debatten
zu sorgen. Dies bedeutet: Der eine kann eine gute Rede
mit Skript halten; der andere kann eine gute Rede ohne
Skript halten, und ein noch anderer kann überhaupt kei-
ne gute Rede halten. Dies ist auch wahr.
Außerdem gibt es eine ganze Reihe von interessanten
Instrumenten, wie zum Beispiel die Zwischenfrage oder
die Kurzintervention. In der letzten Sitzungswoche gab
es doch ein beredtes Beispiel dafür, wie man so etwas
machen kann. Ich erinnere an die Debatte über den
Kanzlerhaushalt und an die Rede unseres Fraktionsvor-
sitzenden. Dies war eine klassische Haushaltsrede, zum
Teil vom Skript vorgetragen, zum Teil frei gesprochen.
Es gab sogar zwei Zwischenfragen des Abgeordneten
Kohl. Dies hat doch zu einer lebhaften Debatte, ich be-
haupte: in der ganzen Bundesrepublik beigetragen. Dies
ist doch eine Tatsache!
– Doch, den nehme ich sehr ernst. – Deshalb kommt es
auf die Frage an: Wird die Debatte durch eine freie Rede
interessanter, ja oder nein? Ich denke, es kommt darauf
an, ob man etwas zu sagen hat und wie man es sagt.
Dies muß dem einzelnen Kollegen überlassen bleiben.
Dirk Niebel
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7037
(C)
(D)
Hier geht es nicht um Entertainment und auch nicht um
eine Polit-Talk-Show,
vielmehr geht es darum, das Pro und Kontra eines Ge-
setzesvorhabens abzuwägen. Dies bleibt jedem frei ge-
wählten Abgeordneten selbst überlassen. Deshalb gilt in
jedem Fall – ob nun mit Skript oder ohne Skript – ein
Satz des ehemaligen Stuttgarter Oberbürgermeisters, den
ich zitieren und sogar vorlesen möchte; denn auch das
Zitat ist eine rhetorische Figur, die man meines Erach-
tens nicht zerstören darf. Für ein Zitat braucht man ein
Skript, wenn man genau sein möchte. Auch Genauigkeit
ist ein Instrument in der politischen Debatte. Deshalb
gilt in jedem Fall das, was Manfred Rommel einmal
sagte:
Auch denke ich, es schadet nicht, wenn man denkt,
bevor man spricht.
Ich glaube, ein Manuskript hilft dabei.
Ich freue mich über die tollen Beiträge, die heute
abend noch gehalten werden und die zeigen werden, ob
die Forderung nach freier Rede berechtigt ist. Ich meine:
nein. Ich glaube, es kommt darauf an, die Eigenverant-
wortung der Kolleginnen und Kollegen für eine inhalt-
lich fundierte Rede zu stärken. Der eine macht es so, der
andere so. Ich denke, wir sollten es jedem einzelnen
überlassen, was er macht. Wir sollten deshalb den Grup-
penantrag ablehnen.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Norbert Barthle, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorlesen
aus der Geschäftsordnung gilt. Deshalb habe ich sie da-
bei.
Wir sollten den Antrag zur Stärkung der freien Rede
in dieser Debatte heute nicht lächerlich machen und auf
die Schippe nehmen, denn es geht um ein ganz ernst-
haftes Anliegen. Selbstverständlich ist es, wenn man den
§ 33 der Geschäftsordnung ernst nimmt – er besagt, daß
Reden grundsätzlich frei vorgetragen werden sollen –,
erlaubt, auf Zitate, Verordnungen und Textstellen zu-
rückzugreifen, die man zitieren oder auf die man ver-
weisen muß. Das ist doch gar keine Frage; dagegen ist
niemand. Insofern stimmt Ihre Argumentation nicht,
Herr Lange; sie war unlogisch. Eine frei vorgetragene
Rede ist noch lange nicht eine schlecht vorbereitete Re-
de. Das ist ein großer Unterschied.
Wir sollten uns einmal erinnern: Ein großer Prozentsatz
der guten Reden wurde frei vorgetragen. Diesen Ein-
druck kann man nicht bestreiten.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf den Sprach-
philosophen Ludwig Wittgenstein rekurrieren. Er sagte
einmal: Was ich weiß, kann ich auch sagen. Der Mann
sprach von „sagen“ und nicht von „ablesen“. Hier ist
auch der logische Umkehrschluß, der ja nicht immer
gilt, gültig: Was ich sage, das weiß ich auch. Was ich
frei vortragen kann, das habe ich verarbeitet und
gedanklich in mir getragen. Dazu stehe ich. Das kann
ich dann auch mit der nötigen Überzeugungskraft
vortragen. Darum geht es letztendlich. Das heißt, eine
frei vorgetragene Rede ist in jedem Fall glaubwür-
diger.
Es muß unser Anliegen sein, die Glaubwürdigkeit dieses
Hohen Hauses zu stärken. Wir haben erst vor einigen
Stunden ein schönes Beispiel erlebt, als unser Fraktions-
vorsitzender Wolfgang Schäuble zu einem so sensiblen
Thema wie dem des Untersuchungsausschusses frei ge-
sprochen hat. Das macht Reden glaubwürdig.
Ich möchte noch einen zweiten Aspekt anführen: Ne-
ben der Glaubwürdigkeit geht es um die Verständlich-
keit. Die Wählerinnen und Wähler, die Bürger, die uns
als Abgeordnete hierher geschickt haben, haben kein
Verständnis dafür, wenn wir uns in einer Debatte über
die Ökosteuer damit auseinandersetzen, ob der Wir-
kungsfaktor von GuD-Kraftwerken 57,5 Prozent oder
wieviel auch immer beträgt. Sie wollen wissen, welche
Auswirkungen ein Gesetz hat, wer etwas davon hat und
wer nicht.
Diese politische Interpretation kann man wesentlich bes-
ser vornehmen, wenn man sich von der Form einer
Fachauseinandersetzung wie in den Ausschüssen löst
und hier tatsächlich politisch argumentiert und disku-
tiert.
Hierzu sollten wir wieder stärker zurückfinden.
10 000 Reden werden innerhalb einer Wahlperiode
hier gehalten. Wenn es uns durch diesen Antrag auch
nur gelingt, einen kleinen Teil dieser Reden qualitativ
Christian Lange
7038 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
besser – weil frei vorgetragen – zu machen, dann haben
wir einen großen Erfolg errungen.
Neben der Verständlichkeit geht es auch noch um die
Unabhängigkeit. Ich beobachte mit etwas Sorge – gera-
de die angesprochene Haushaltsdebatte hat es gezeigt –,
daß sich so manche Rede in der Aneinanderreihung von
Zitaten aus Zeitungsberichten und -kommentaren sowie
von Zuschriften von Interessengruppen erschöpft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Barthle, ob
mit oder ohne Zettel, ich muß Sie trotzdem an die Rede-
zeit erinnern.
Das sollten wir uns
nicht antun, meine Damen und Herren. Als Politiker ha-
ben wir die Aufgabe, unser eigenes Gehirnschmalz an-
zustrengen, nicht Vorgedachtes nachzuplappern, son-
dern selbst zu argumentieren und selbst Stellung zu be-
ziehen. Das ist unsere Aufgabe; dafür wurden wir ge-
wählt.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube nicht, daß es irgend jemanden in diesem Haus
gibt, der oder die sich gegen eine freie Rede aussprechen
würde. Wir sind doch wirklich alle bemüht, in diesem
Raum immer wieder ein Klima von Gesprächskultur und
von Öffentlichkeitsarbeit herzustellen. Dies führt dazu,
daß auch Zuschauer und Zuschauerinnen oder die Leute,
die Debatten über das Radio verfolgen, nicht das Gefühl
haben, daß der Bundestag eine Vorlesung veranstaltet,
sondern den Eindruck gewinnen, daß dies ein Haus mit
demokratischer Kultur, mit Debattenkultur ist, in dem es
manchmal hoch hergeht, gelegentlich auch einmal etwas
heftiger zugeht, wie wir alle wissen.
Es werden bei uns aber auch manchmal Reden – das
möchte ich Ihnen zu bedenken geben – von neuen Kol-
legen und Kolleginnen gehalten, die zu Recht eine ge-
wisse Stütze beanspruchen,
um an Sicherheit zu gewinnen und hier in diesem Hau-
se mit Überzeugung auftreten zu können. Diese Si-
cherheit wird über die Jahre größer. Manche tun sich
dabei leichter, was auch davon abhängt, aus welchem
Beruf man kommt. Wenn man aus der Schule oder von
der Universität kommt, ist man es gewohnt, frei zu re-
den. Bei anderen Berufsbildern ist dies nicht so gege-
ben.
Aus diesem Grunde sollte es den einzelnen Kollegin-
nen und Kollegen überlassen bleiben, wie sie ihre Über-
zeugungen und ihre Argumente vortragen wollen.
Schließlich müssen sie selbst einschätzen, wie sie wahr-
genommen werden wollen.
Ein weiterer Punkt: Ich halte es für ein bißchen ei-
genartig, daß man Debatten mit freier Rede als Aha-
Erlebnis kurz vor Weihnachten kreiert. Entweder
möchte man, daß die freie Rede gestärkt wird, dann tut
man auch alles dafür, übrigens auch unter Kollegen und
Kolleginnen, diejenigen zu stärken, die hier noch etwas
„Hilfestellung“ in Form von Tips brauchen. Das gilt
dann aber bitte schön für das ganze Jahr und die ganze
Legislaturperiode und darf nicht nur ein Just-for-fun-
Erlebnis sein,
bei dem einzelne vielleicht frei reden dürfen oder müs-
sen, weil zufälligerweise Themen auf der Tagesordnung
sind, zu denen Personen reden, die sonst diese Möglich-
keit nicht haben.
Deswegen geht es aus unserer Sicht auf der einen
Seite um Entscheidungsfreiheit, aber zugleich auch um
die Möglichkeit, die freie Rede zu pflegen. Abgeordne-
te, die dies tun, gibt es in allen Fraktionen; das wissen
Sie. Es gibt in den letzten Jahren ja einige Mitglieder der
grünen Fraktion, die sich ohne einen einzigen Zettel ans
Rednerpult stellen.
Das gibt es in anderen Fraktionen genauso; das ist wun-
derbar.
Noch ein Argument – meine Redezeit ist zu Ende –
zum Schluß:
Wir alle wissen doch, woran es liegt, ob eine Debatte le-
bendig oder weniger lebendig ist. Das liegt zum Teil an
der Tageszeit,
teilweise auch am Thema. Letztlich liegt es daran, wie
öffentlichkeitswirksam ein Thema in der Außendarstel-
lung „abgefeiert“, also besprochen wird. Die Lebendig-
keit besteht natürlich auch darin, daß man auf Zwischen-
rufe und Zwischenfragen eingehen kann.
Norbert Barthle
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7039
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Scheel, jetzt müssen Sie aber wirklich zum Schluß
kommen.
Das mache ich sofort. – Das Eingehen auf Zwischenfra-
gen hat doch wirklich nichts damit zu tun, ob man eine
Redestruktur vor sich liegen hat oder nicht. Es ist doch
jedem selbst überlassen, Zwischenfragen zuzulassen. Ich
habe auch schon Kollegen erlebt, die hier ohne Manu-
skript standen und keine Lust hatten, auf irgendwelche
Zwischenfragen einzugehen, weil sie wußten, daß es bei
den Zwischenfragen bestimmter Kollegen immer dersel-
be Schmarren ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Christine Ostrowski, PDS.
Frau Präsidentin! Mei-
ne Damen und Herren! Ich habe den Antrag freudig un-
terschrieben und war hinterher ein bißchen erschrocken,
weil ich damit eine Art Selbstverpflichtung eingegangen
bin. Ich habe mir dann gedacht: Mein Gott, wie sollst du
jemals eine Haushaltsrede ohne Manuskript halten?
Dabei rede ich lieber frei. Aber hier tue ich es eigentlich
nicht, und ich sage Ihnen, woran das bei mir liegt. Ich
habe nämlich Angst: Ich habe Angst vor Peinlichkeiten,
Angst davor, daß ich mich beispielsweise verspreche
und verheddere und mir hinterher womöglich ein Wäh-
ler schreibt: Frau Ostrowski, ich hatte aber angenom-
men, daß Sie flüssig sprechen können, wenigstens fünf
Minuten lang.
Ich habe Angst, daß ich den Faden verliere, einen Ge-
danken anfange und nicht zu Ende bringe, mich dann
aber ein schadenfroher Zwischenruf ereilt. Ich habe auch
Angst davor, daß ich etwas ganz Wichtiges vergesse und
meine Fraktion mich hinterher kritisiert, weil ich das
Entscheidende nicht gesagt habe. Ich vermute einmal,
daß es auch vielen anderen von Ihnen so gehen wird,
auch wenn Sie es nicht zugeben.
Wenn ich aber im Saal sitze und mir stundenlang die
Debatten anhöre, dann geht es mir wiederum so: Bei
Reden, die vom Blatt abgelesen werden, oder bei Reden,
bei denen der Redner nicht aufblickt, bei denen also kein
Blickkontakt vorhanden ist – was denken Sie, wie ich
mich dann fühle? –, geht mir nicht nur die Rednerin und
der Redner aus dem Gedächtnis, sondern mir geht der
ganze Inhalt der Rede verloren, weil mich nichts an die-
ser Rede anregt und aufregt.
Das heißt: Der Inhalt ist für die Katz, wenn die Form
der Vermittlung nicht mit dem Inhalt übereinstimmt. Ich
vermute einmal, daß es auch vielen von Ihnen ähnlich
ergeht, wenn Sie sich diese Art von Reden anhören müs-
sen.
Wir sind Politiker. Unsere Aufgabe ist es, das Ver-
trauen der Menschen zu gewinnen. Für diese Aufgabe
haben wir nur ein einziges Arbeitsinstrument. Das ist die
Sprache. Ein anderes Instrument haben wir nicht.
Jeder Handwerksmeister pflegt sein Arbeitsinstrument.
Gerade weil die Sprache der Politik in den letzten Jahren
verlottert ist, haben wir die verdammte Pflicht und
Schuldigkeit, dieses Arbeitsinstrument zu hegen und zu
pflegen. Das heißt für uns als Politiker, daß wir die
Selbstüberwindung aufbringen müssen. Man muß die
Courage haben, ans Pult zu gehen und darauf zu ver-
trauen – vielleicht fällt der schadenfrohe Zwischenruf ja
aus –, daß ein kleines Maß an Solidarität vorhanden ist.
Man muß dieses Training machen. Drei Tage Rheto-
rikkurs reichen nicht aus. Wir brauchen diese Alltags-
übung. Wenn wir diesen Schritt der Selbstüberwindung
nicht schaffen, dann schätzen wir den Zuhörer geringer
ein als unsere eigene Befürchtung, hier etwas Peinliches
zu sagen. Ich denke, das darf nicht sein.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der
Kollege Jürgen Koppelin, F.D.P.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir den Antrag
noch einmal durchgelesen. Ich glaube, daß nur die Kol-
legin Scheel auf den Antrag richtig eingegangen ist. Der
Antrag besagt, Kollege Niebel, daß ja nur in der letzten
Plenarwoche, die noch um den Freitag gekürzt ist, die
freie Rede gepflegt werden soll.
Warum stellen Sie den Antrag nur für diese Woche und
nicht grundsätzlich?
Ich habe mir einmal angeschaut, wer alles den Antrag
unterschrieben hat, und habe mich kundig gemacht, was
7040 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
in der letzen Plenarwoche an Themen auf der Tagesord-
nung steht. Ich vermute, daß all diejenigen, die diesen
Antrag gestellt haben, in der letzten Plenarwoche mit
Redebeiträgen wahrscheinlich gar nicht zum Zuge
kommen werden. Das ist jedenfalls mein Eindruck.
Kollege Niebel, was hindert eigentlich den einzelnen
daran – Frau Kollegin Scheel hat schon darauf aufmerk-
sam gemacht –, frei zu sprechen, wenn er es will? Ich
akzeptiere aber, daß es Kolleginnen und Kollegen gibt,
die ein Manuskript oder Stichworte benutzen möchten.
Jeder soll es so machen, wie er will. Das finde ich völlig
in Ordnung. Das Entscheidende ist doch, was der Inhalt
der Rede ist und ob man sich damit auseinandersetzen
kann.
Lassen Sie uns die Praxis ansehen! Ich gebe zu, daß
ich meine Manuskripte hin und wieder mit zum Redner-
pult nehme. Warum? Als Mitglied einer kleinen Frakti-
on hat man nur kurze Redezeiten. Mit Hilfe des Manu-
skriptes weiß ich aber – eine DIN-A4-Seite entspricht
etwa anderthalb Minuten Redezeit –, daß ich mit meinen
fünf Minuten hinkomme.
Mir wäre es ja viel lieber, wir würden uns einmal
darüber unterhalten, warum die kleinen Fraktionen nur
so wenig Redezeit und die großen so viel Redezeit ha-
ben.
Der dritte und vierte Redner einer großen Fraktion er-
zählt ja doch immer nur das gleiche. Angesichts des Bei-
falls der Grünen will ich Ihnen von meiner F.D.P.-
Erfahrung berichten. Ich würde mir niemals von einem
Sozialdemokraten Redezeit schenken lassen – niemals.
Das tun Sie aber laufend.
Ich kann mit Schiller nur sagen:
Wenn gute Reden sie begleiten,
Dann fließt die Arbeit munter fort.
Wer hindert uns daran, gute Reden zu halten? Schiller
hat nicht von der freien Rede oder von der vom Manu-
skript abgelesenen Rede gesprochen. Er hat nur von der
guten Rede gesprochen. Diesbezüglich könnten wir uns
alle anstrengen. Wir könnten auch einmal darüber nach-
denken, ob zu manchen Themen so viel Redezeit not-
wendig ist. Natürlich weiß ich, daß bei den großen
Fraktionen jeder einmal zu Wort kommen soll.
Nun kommt ein weiteres Beispiel aus der Praxis – ich
habe es heute wieder erlebt –: Um etwa 14 Uhr bekom-
men Sie Anrufe von Vertretern der Medien, die fragen:
Was werden Sie heute sagen? Haben Sie einen Text?
Wir haben um 15 Uhr Redaktionsschluß und würden
dieses Thema gerne einbringen.
Um diese Zeit sind die Redakteure längst zu Hause und
bekommen nicht mehr mit, was wir hier reden.
– Ausnahmen gibt es immer. – Sie sind alle längst zu
Hause und haben ihre Beiträge geschrieben. Wir können
am nächsten Morgen in der Zeitung nur deshalb nachle-
sen, was wir hier diskutiert haben, weil sie unsere Ma-
nuskripte gehabt haben, Herr Kollege Niebel. Insofern
ist das praktisch.
Und stellen Sie sich einmal vor, in der Fragestunde
müßten die Parlamentarischen Staatssekretäre die Ant-
worten auf unsere Fragen plötzlich frei geben. Das wäre
ja entsetzlich!
Deswegen ist die Regierungsbank ja auch so schlecht
besetzt.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Mir ist es völlig
egal, wie jemand seine Rede gehalten hat, wenn sie ver-
nünftig ist. Aber, Kollege Niebel, der Sie für die freie
Rede sind: Vielleicht werden Sie einmal in eine Situati-
on kommen, in die ein englischer Politiker gekommen
ist – damit will ich schließen –, der eigentlich nur freie
Reden gehalten hat. Irgendwann war er doch einmal in
der Verlegenheit, die Rede zu halten, die ihm seine Mit-
arbeiter aufgeschrieben hatten und die er dabei hatte. Da
passierte folgendes: Er las Seite 1 vor, er las Seite 2 und
3 vor, und auf Seite 4 hatten ihm seine Mitarbeiter ge-
schrieben: Da du noch nie unsere Reden gehalten hast,
sieh jetzt zu, wie du weiterkommst.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Birgit Roth.
Guten Abend, Frau
Vorsitzende! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Interessierte! Lassen Sie mich mit einem Zitat von Albi-
nius beginnen: „Das Schwert schmerzt den Körper, die
Rede jedoch den Geist.“ Das wußten auch schon die al-
ten Griechen. Sie sagten: Die freie Rede, das ist die
Macht des Wortes, das ist die hohe Kunst, das ist die
höchste Wissenschaft schlechthin.
Denken Sie nur an Plato. Denken Sie an Cicero. Cice-
ro war sicherlich einer der brillantesten Redner, die wir
je hatten. Cicero stand zum Beispiel nachts im Kerzen-
schein vor dem Spiegel und übte seine Gestik und seine
Mimik für den nächsten Tag, für das Publikum, um es
zu fesseln durch seine Art und Weise, durch seine Spra-
Jürgen Koppelin
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7041
(C)
(D)
che, um es mitzureißen und vor allem um es zu überzeu-
gen.
– Aber sicherlich war dieses Publikum ein bißchen leiser.
Vor allem denken Sie an Aristoteles, an seine Vertei-
digungsrede. Denken Sie an das, was er gesagt hat, mit
welchem Wortwitz, mit welcher Dramaturgie, mit wel-
chem Engagement. Trotz allem: Gerade diese Rede be-
siegelte damals sein Todesurteil.
– Ablenken, daß ich den roten Faden verliere, gilt nicht.
Denken wir zurück an Aristoteles und an das, was er tat,
und vor allem daran, wofür er stand.
Ich denke, die Formulierungen der alten Griechen
sind heute noch so aktuell wie damals. Unsere eigentli-
che Waffe ist das Wort. Dessen Bedeutung sollten wir
nicht unterschätzen. In diesem Sinne bitte ich um Unter-
stützung für den Antrag von der F.D.P. – ohne Ansehen
der Person.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Axel Fischer, CDU/CSU.
Axel E. Fischer (CDU/CSU): Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Kollegin Roth, sehr beeindruckend, muß ich sagen! Sie
haben das gut geübt. Jetzt frage ich mich nur: Was ma-
chen Sie denn, wenn Sie länger sprechen müssen, wenn
Sie am Dienstag erfahren, Sie sollen am Donnerstag eine
halbe Stunde reden? Stehen Sie dann auch vor dem
Spiegel und üben, oder wie machen Sie das dann?
Ich möchte Ihnen eine wahre Geschichte erzählen.
Als ich am Wochenende zu Hause war, habe ich meiner
Frau erzählt, daß wir heute den Antrag debattieren wer-
den, den der Kollege Niebel gestellt hat
– den der Herr Kollege Niebel initiiert hat – und in dem es
darum geht, daß wir hier eine Woche lang ohne Manu-
skript sprechen sollen. Was glauben Sie, was meine Frau
dazu gesagt hat? Sie sagte: Wie bitte? Was macht ihr da?
Das kann ja wohl nicht wahr sein! Müßt ihr euch jetzt
schon vorschreiben lassen, wie ihr sprecht? Seid ihr nicht
alt genug, selbst zu entscheiden? Gibt es nicht schon ge-
nügend Regeln auf dieser Welt, die unnötig sind?
Gerade von der F.D.P. kommt so ein Antrag! Einen
solchen Antrag hätte ich ehrlich gesagt eher von der an-
deren Seite des Hauses erwartet. Dort sitzen doch die,
die normalerweise Regelungen vorschreiben und mei-
nen, anderen sagen zu müssen, wo es langgeht!
Lassen Sie uns uns weiter über dieses Thema unter-
halten, lassen Sie uns überlegen, was es bedeutet, eine
kurze Rede zu halten. Daß Redner, die hier schon sehr
häufig gesprochen haben, sich hinstellen und frei reden
können, erwarte ich schon. Aber es kam vorhin die Fra-
ge: Was machen wir mit jemandem, der zum erstenmal
hier spricht, der Angst hat und seinen Zettel als Stütze
mitnimmt?
Was machen Sie, wenn Sie eine längere Rede halten
müssen und den roten Faden nicht verlieren wollen?
Lange reden und labern kann man schon, aber wir wol-
len doch zur Sache kommen! Wir wollen doch deutlich
machen, um welche Positionen es uns geht.
– Den Vorschlag aus dem Zwischenruf muß ich gleich
aufgreifen, weil er eine gute Idee ist: Am Schluß stellt
man oben zu den Besuchern oder hinten in den Saal
Leute, die Schilder mit den Stichworten hochhalten.
Auch das kann nicht der Sinn der Sache sein.
Als ich diesen Antrag zum erstenmal gesehen habe,
habe ich zum Kollegen Niebel gesagt: Das kann doch
wohl nicht wahr sein! Wir haben doch keinen Karneval!
Wir wollen doch ernsthaft arbeiten. Wir müssen diesen
Antrag ablehnen, damit wir hier vernünftige Reden ha-
ben. Herr Kollege Niebel, ich sage Ihnen: Eine gute Re-
de – –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fi-
scher, es gibt eine Frage. Gestatten Sie die?
Axel E. Fischer (CDU/CSU): Ich
führe den Gedanken eben zu Ende. Gleich dürfen Sie
fragen.
Kollege Niebel, eine gute Rede hat nichts damit zu
tun, ob man sie abliest oder nicht. Eine freie Rede ist
nicht automatisch eine gute Rede.
Jetzt die Zwischenfrage, bitte.
Birgit Roth
7042 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Herr Kollege, ich bin
jetzt seit gut einem Jahr in diesem Hause. Dies ist die er-
ste Debatte, die wirklich spannend ist,
bei der alle, auch die, die gegen den Antrag sind, frei
sprechen. Würden Sie mir nicht zustimmen, daß die De-
batte heute gezeigt hat, daß der Antrag schon Wirkung
zeigt?
Axel E. Fischer (CDU/CSU): Herr
Kollege, ich stimme Ihnen insoweit zu, als ich eine Re-
dezeit von drei Minuten habe, und bei drei Minuten
kann ich das machen. Hätte ich eine Redezeit von zehn
Minuten oder einer Viertelstunde, dann hätte ich – das
garantiere ich Ihnen – ein Konzept, auf dem steht, was
ich ungefähr sagen will, oder eine ausformulierte Rede.
Bei so kurzen Reden und bei Themen, bei denen es nicht
ganz so relevant ist, ob man sich hundertprozentig kor-
rekt ausgedrückt hat, ist es eine andere Sache.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fi-
scher, es gibt noch eine Frage des Kollegen Bürsch.
Axel E. Fischer (CDU/CSU): Ja,
gerne. – Es macht Spaß.
Herr Kollege Fischer,
ist Ihnen Gustav Heinemann bekannt?
Ist Ihnen bekannt, daß Gustav Heinemann einmal gesagt
hat: „Wohl dem Politiker, der nichts zu sagen hat und
trotzdem schweigt.“? Stimmen Sie mir zu, daß diese
Marschroute jedes Manuskript entbehrlich macht und
wir insofern den Antrag von Herrn Niebel gar nicht
brauchen?
Axel E. Fischer (CDU/CSU): Da-
zu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn einer hier eine län-
gere, inhaltlich fundierte Rede halten will, möchte er die
Möglichkeit haben, Zitate zu bringen. Dann kommt er
ohne Manuskript nicht aus. Genau deshalb werden wir
diesen Antrag des Kollegen Niebel ablehnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt eine weitere
Frage vom Kollegen Michelbach.
Kollege Fischer, bei
mir zu Hause sagt man: Du mußt so reden, wie dir der
Schnabel gewachsen ist. – Aber ist es nicht für viele
Kollegen eine Reglementierung und etwas hochmütig,
wenn man in dieser Form jemandem vorschreiben will,
was er persönlich, kreativ ausdrücken will?
Früher in Bonn hatten wir einen parlamentarischen
Rednerwettbewerb. Vielleicht sollte man den wieder
einführen. Denn es heißt: Wisset, daß man nichts Herrli-
ches aus Wetteifer, nichts Edles aus Hochmut schaffen
kann. Vielleicht sollten wir uns das merken, Herr Fi-
scher.
Axel E. Fischer (CDU/CSU): Herr
Kollege Michelbach, ich muß Ihnen komplett recht ge-
ben. Das ist genau der Punkt, um den es geht.
Wir wollen, daß die Leute, die hier stehen und ihre Po-
sition beziehen, frei entscheiden können, wie sie spre-
chen: ob mit Manuskript oder ohne. Deshalb bitte ich,
den Antrag abzulehnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie sich
einmal vor, welches Regierungsprogramm der Bundes-
kanzler hier vorstellen sollte, wenn es ihm nicht jemand
aufschriebe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Lie-
be Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es hat durchaus etwas,
ordnungspolitischen Anträgen der F.D.P. zuzustimmen.
Das hat gerade für Grüne eine Faszination, der auch ich
mich nicht entziehen konnte.
Der Leidensdruck ist schon ganz enorm. Wenn wir
12, 15, 17 Stunden hier sitzen, Ausschuß hinter Aus-
schuß, Plenardebatte hinter Plenardebatte – auch dann
gewinnt dieser Antrag eine gewisse Faszination. Man
muß gerechterweise einmal sagen: Es handelt sich hier
um die Stärkung der freien Rede und nicht um den
Zwang zur ununterbrochenen Fortsetzung einer solchen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7043
(C)
(D)
Ich fühle mich ja durchaus immer zuständig auch für
die kabarettistischen Seiten dieses Bundestages, der die
Vorlagen am besten immer live liefert. Man muß sich ja
auch einmal auf das beziehen, was man in den Aus-
schüssen und im Plenum so vorgetragen bekommt. Ich
möchte verdeutlichen, wie es halt so ist und wie Sie es
empfinden, wenn man folgendes erzählt:
Die vorliegende Verordnung, über die wir heute
debattieren, sehr geehrte Damen und Herren, soll
zusammen mit Änderungen in der Chemikalien-
Verbotsverordnung und der Gefahrstoffverordnung
die Richtlinie 96/59/EG des Rates vom 16. Sep-
tember 1996 über die Beseitigung polychlorierter
Meinen Sie wirklich, so geht das auf Dauer, ohne daß
man ständig einschläft?
Es handelt sich hier also um einen Vorschlag zur
Stärkung der freien Rede, nicht der Freien Demokraten,
auch nicht des Kollegen Niebel, wie man meinen könn-
te,
auch nicht der Selbstverpflichtungserklärung. Ich finde,
zwei Tage kann man das einmal machen. Ich finde es
auch gut, daß man eine solche Debatte führt, die dann zu
einer Stärkung der freien Rede führt.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Carsten Hübner, PDS.
Als einziger bekennender
Gegner des Antrags bin ich hier mit Zetteln aufgetaucht;
ich finde, das ist zumindest folgerichtig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
– Ich lese das natürlich vor. Das ist ja nun eben mein
Standpunkt.
– Mit Betonung.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich den Antrag zur freien Rede das erste Mal in der
Hand hielt und zunächst nur die Überschrift gelesen
hatte, fand ich die Idee gut. Ich dachte nämlich, es han-
delt sich um etwas Substantielles. „Die Stärkung der
freien Rede im Deutschen Bundestag“ – der Titel macht
ja echt was her. Ich habe gedacht, es geht in Richtung
Freiheit der Rede, in Richtung Unabhängigkeit, gegen
Fraktionszwänge oder -drücke, gegen die Dominanz von
Parteilinien und das alle Debatten durchziehende
zwangsläufige Regierungs-Oppositions-Hickhack.
Aber weit gefehlt! Darum geht es gar nicht. Statt des-
sen kreist das Interesse der interfraktionellen Antrag-
stellerinnen und Antragsteller allein um die Frage, ob
die Rede vom Blatt, unter Zuhilfenahme von Notizen
oder gänzlich ohne Aufgeschriebenes dem Plenum dar-
geboten wird. Und das ist, mit Verlaub, entweder recht
dürftig und populistisch, oder es ist schlicht ein Witz.
Als hätten wir nichts Besseres zu tun!
Eine bestimmte Parteinahme wird natürlich gleich
mitgeliefert: Frei gehaltene Reden ermöglichen Sponta-
neität und Flexibilität und fördern gleichzeitig auch noch
kreative Assoziationen.
Die vorgelesenen oder sonstwie bekrückten Beiträge
hingegen seien monoton, schwächten die Konzentration
des Plenums und ließen nicht zuletzt auch die Rednerin-
nen und Redner selbst in ihren rhetorischen Fähigkeiten
verkümmern; außerhalb des Bundestages entstünde ge-
rade auch deshalb der Eindruck, die Abgeordneten seien
nicht genügend engagiert und motiviert.
Mal abgesehen davon, daß einer solchen Argumenta-
tion gerade noch das Sahnehäubchen in dem Sinne fehlt,
daß die mit Manuskript versehenen Kolleginnen und
Kollegen die Verursacher von Politik- und Politikerver-
drossenheit seien und daß Spannung und Dynamik in
diesem Haus von der Art des Vortrags und nicht etwa
von dessen inhaltlicher Schärfe und schlüssiger Positio-
nierung abhängig seien, geht der Antrag auch an der tat-
sächlichen Wahrnehmung unserer Arbeit in der Öffent-
lichkeit vorbei. Denn der politikfrustrierte oder zumin-
dest kritische Volksmund sagt nicht selten: „Reden kön-
nen sie ja, die Politiker, aber mehr auch nicht.“
Wir bekennenden Vorleserinnen und Vorleser hinge-
gen beweisen regelmäßig, daß wir nicht nur reden, son-
dern auch schreiben und lesen, sogar vorlesen können.
Und das ist doch schon mal was. Unterschätzen Sie das
nicht!
Liebe Kolleginnen und Kollegen Antragsteller, wor-
um ich Sie zum Abschluß noch bitten möchte, ist: Ha-
ben Sie Geduld mit uns Vorlesern, schlafen Sie bitte
nicht ein und erhalten Sie sich Ihre Spontaneität und
Flexibilität!
Ulrike Höfken
7044 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Und denken Sie bitte nur einen Moment über die
Worte des ehemaligen SPD-Abgeordneten Lattmann aus
einer Plenardebatte vom Mai 1980 – das ist also schon
lange her – nach, die ich als jemand zitieren möchte, der
für jeden seiner Beiträge bisher immer höchstens fünf
Minuten Zeit hatte:
Ich habe nur eine Viertelstunde Zeit. Inhaltlich ist
eine Menge zu sagen. Das bringe ich nur zu Ende,
wenn ich mich nicht auf die freie Rede einlasse.
Er war Schriftsteller.
Zitatende! Aufwachen! Danke!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die
zweifellos außergewöhnliche und sehr temperament-
volle Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag zur
Stärkung der freien Rede auf Drucksache 14/1949. Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?
– Der Antrag ist bei einer Enthaltung und bei einer Min-
derheit von Gegenstimmen abgelehnt. Das war ein ein-
deutiges Ergebnis; die Mehrheit hat sich gegen diesen
Antrag ausgesprochen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Wolfgang Gerhardt, Dr. Günter Rexrodt, Dr.
Edzard Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses
– Drucksache 14/1752 –
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir führen die Diskussion um das Schloß in dieser
Stadt seit sieben Jahren – übrigens nicht nur in dieser
Stadt; insofern ist es richtig, daß dies nicht nur die Stadt
betrifft. In allen überregionalen Zeitungen haben wir
diese Diskussion ebenfalls geführt, denn es ist ja auch
eine wichtige Diskussion. Wir haben diese Diskussion –
jedenfalls teilweise – im Berliner Abgeordnetenhaus ge-
führt, und diese Diskussion wurde – erlauben Sie mir,
daß ich dies sage – vor allen Dingen an Stammtischen
geführt, weil es so wunderschön ist, daß man so ein-
fach ja oder nein sagen kann, ohne weiterdenken zu
müssen.
Ich halte dies für bedenklich, weil das Gesamten-
semble, von dem Sie gesprochen haben – diesen Aspekt
teile ich –, zu wichtig ist, als daß man diese Diskussion
darauf reduzieren darf.
Was mich erstaunt, ist, daß die F.D.P. dazu eine so
geschlossene Meinung hat, nämlich: ja, Rekonstruktion
des Stadtschlosses. Ich habe bisher in allen Parteien –
meine eigene übrigens vollkommen eingeschlossen – die
unterschiedlichsten Positionen zu dieser Frage gehört.
Ich kenne leidenschaftliche Befürworter des Wiederauf-
baus des Berliner Schlosses, und ich kenne genauso
viele, die dies leidenschaftlich ablehnen. Beide Meinun-
gen gibt es. Ich weiß, es gibt sie auch bei den Grünen.
Bei der PDS weiß ich es nicht, weil dort eher die Frage
des Palastes der Republik im Vordergrund steht. Bei der
CDU weiß ich es auch, jedenfalls von Berliner Kolle-
gen. Bei der F.D.P. ist das anders. Bei einer solchen
Frage wundert mich das, weil sie eigentlich keine par-
teipolitische Frage ist. Das ist sehr erstaunlich. Aber Sie
haben sich darauf offensichtlich festgelegt.
Meine Damen und Herren, bei dieser Diskussion muß
man sich folgendes durchaus bewußt machen: Am An-
fang stand die Sünde des Abrisses. Diese Sünde basiert
auf einer Ideologie und nicht auf der Bausubstanz des
Schlosses. Wir haben diese Sünden häufiger. Ich denke
hier an die Leipziger Universitätskirche und auch an
Beispiele aus den alten Bundesländern. Das muß man
erst einmal wissen. Ich kenne keinen Menschen, der bis-
her gesagt hat, es ist ein Glück, daß es abgerissen wurde.
Darin sind sich alle einig.
Wenn das Schloß nach dem Krieg eine gute Substanz
gehabt hätte, hätte es heute bestimmt keine Diskussion
gegeben, dieses wieder aufzubauen. Das ist mir voll-
kommen klar. Zur Zeit ist diese Situation eine andere.
Weil die räumliche Situation so schlecht war, war es
klar, daß nach der Wende die Diskussion über diese
Raumwüste wieder begann: Was machen wir mit dem
Platz? Was machen wir mit dem ehemaligen Schloß?
Dies war eine Debatte, die teilweise die Form von Glau-
benskriegen angenommen hatte. Eines muß man sagen:
Bis heute liegt noch keine städtebauliche und architek-
tonisch akzeptierte, finanziell fundierte Konzeption des
Ortes vor, die der historischen und gegenwärtigen Be-
deutung des Ortes angemessen ist.
Das ist die Situation, vor der wir heute stehen.
Dr. Günter Rexrodt
7046 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Nun kommt die F.D.P. mit diesem Antrag zur Wie-
derherstellung des Schlosses und will damit den gordi-
schen Knoten durchschlagen. Meine Damen und Herren,
Sie machen es sich ein bißchen zu leicht. Denn am
Anfang der Diskussion darf meines Erachtens nicht die
Frage ja oder nein zur Rekonstruktion stehen, sondern
am Anfang muß meines Erachtens die Frage stehen,
welche Funktion von diesem Haus eigentlich wahrge-
nommen werden soll. Das ist die erste Frage, die wir uns
stellen müssen.
– Ja, Sie haben es aber sehr eingeschränkt. Ich beziehe
mich gleich auf Ihren Antragstext. Es gibt bei Befür-
wortern wie Gegnern eine Klarheit: Dieser Ort muß ein
Ort der Bürgerinnen und Bürger sein. Es muß ein Ort
sein, zu dem nicht nur Berliner, sondern auch auswärtige
Besucher gehen. Dieser Platz muß von den Menschen,
die dort hingehen, leben. Da genügt es nicht, zu sagen,
wie Sie es in Ihrem Antragstext formuliert haben, er
muß für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Wenn ich
jetzt ironisch werden würde, so kenne ich Orte und Ört-
chen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind. Dies ist mir
ein bißchen zu wenig.
– Entschuldigung, das ist Ihre Formulierung, Herr Rex-
roth. Das steht in Ihrem Antrag. Es muß ein Ort sein,
wohin möglichst viele Menschen kommen, um teilzu-
nehmen, um sich einzumischen und um sich zu vergnü-
gen.
– Nein, ich bin es nicht. Ich bin auch kein Berliner Se-
nator gewesen.
Dieser Ort muß sowohl tagsüber als auch nachts für
die Menschen an Attraktivität gewinnen.
Wir hatten in Berlin eine Diskussion, die mir sehr ge-
fallen hat, die Sie eigentlich kennen müßten, ob wir an
diesem Platz die große Bibliothek bauen. Vielleicht er-
innern Sie sich noch an diese Debatte. Dies war eine
tolle Sache.
Ich glaube, es ist eine Vielfalt von Angeboten not-
wendig: kulturelle Angebote, Ausstellungsflächen, Bi-
bliotheken, Theater, Restaurants, Kongreßzentrum mit
Hotel, aber kein reines Kongreßhotel, repräsentative
Räume, die vielleicht auch die Bundesregierung nutzen
kann. Ich glaube, viele sind sich über die erforderliche
Vielfalt im klaren. Vor der Frage Rekonstruktion oder
Bau von etwas Neuem muß vorab die Funktion geklärt
werden. Das ist das Entscheidende.
Herr Rexroth, ich stimme Ihnen zu: Die Kubatur des
alten Schlosses muß wieder bebaut werden.
– Auch das ist nicht mehr strittig. Herr von Boddin hat
vor zwei oder drei Jahren eine Attrappe aufgebaut.
Selbst Gegner des Wiederaufbaus des Schlosses haben
gesagt, der Mann hat sich Verdienste erworben. Ich sage
das auch. Ich habe mich auf die Treppe des Alten Muse-
ums gestellt und habe mir das angesehen. Plötzlich
nahmen die Räume Gestalt an. Es ist wichtig, daß die
Fläche, die bebaut war, wieder bebaut wird, nicht nur
wegen des Gebäudes, sondern wegen der Struktur der
umliegenden Plätze. Insofern war es gut, dies einmal zu
sehen, was nicht heißt, daß das, was damals aus Stoff
war, jetzt aus Stein gefertigt werden muß.
Zur Finanzierung, meine Damen und Herren: Der
Bund und das Land Berlin sind bereit, das Konzept in
öffentlicher und privater Partnerschaft zu finanzieren.
Sie sind auch bereit, Grundstücke in das Projekt einzu-
bringen. Das brauchen wir also nicht mehr zu fordern.
Ich glaube, hier gibt es schon eine Zustimmung. Hierzu
bedarf es keiner Anträge.
Es gibt aber auch Probleme. 1997, 1998 hat es einmal
ein Interessenbekundungsverfahren gegeben. Ich möchte
die Bundesregierung zitieren, um deutlich zu machen, zu
welchem Ergebnis man gekommen ist. Ich zitiere:
Die eingegangenen Angebote sehen in der Regel
einen zu hohen öffentlichen Nutzungsanteil vor, für
den der Bund keinen Bedarf hat, und fordern zur
Finanzierung zusätzliche öffentliche Mittel.
Sie sehen also, das rein privat zu machen, scheint
sehr problematisch zu sein. Es ist fraglich, ob das über-
haupt möglich ist. Zumindest aber besteht in diesem
Bereich noch Handlungsbedarf.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu der Frage:
Rekonstruktion, ja oder nein. Ich meine, daraus sollte
man kein Dogma machen.
– Dann haben Sie nicht zugehört. Ich sprach vor allem
über die Funktion, die noch geklärt werden muß.
Es gibt Beispiele für erfolgreiche Rekonstruktionen,
und es gibt Beispiele für erfolgreiche Nichtrekonstruk-
tionen, indem man Neubauten errichtet hat.
Eines scheint mir in den Köpfen ein bißchen querzu-
liegen. Beim Wiederaufbau – wie Sie es ja nennen – des
Schlosses denkt man womöglich an die Dresdner Frau-
enkirche. Bei dieser ist der Begriff in der Tat richtig.
Aber worum geht es hier? Die Nord-, West- und Süd-
seite sollen die Fassade des alten Schlosses erhalten.
Dann soll es eine Kuppel geben und einen Schlüterhof.
Das ist es dann auch. Das heißt dann „Wiederaufbau des
Berliner Schlosses“.
Eckhardt Barthel
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7047
(C)
(D)
Ich sage als alter Berliner oder Berufsberliner: Wir
haben eine wunderschöne Kongreßhalle. Der Berliner
Volksmund hat sie sofort in „schwangere Auster“ um-
getauft. Wenn wir allein die Fassaden rekonstruieren,
dann werden die Berliner auch eine treffende Bezeich-
nung finden, meinetwegen „Potemkinsches Schloß“,
was auch immer; sie sind sicherlich kreativer. Man muß
also ein bißchen aufpassen, wenn man den Begriff
„Wiederaufbau“ oder „Wiederherstellung“ verwendet,
aber im Grunde nur die Fassade rekonstruiert.
Daß die Fläche bebaut werden muß, daß die Achsen
sichtbar sind – völlig d‘accord. Das ist überhaupt nicht
das Problem. Ich glaube, hinter dem Wunsch nach
einem Wiederaufbau steht auch ein Mißtrauen gegen-
über der heutigen Architektur. Es gibt ja auch Gründe,
weshalb man dieses Mißtrauen haben kann. Es gibt aber
auch andere Beispiele.
Gestatten Sie mir, da die Debatte schon so lange dau-
ert, ein Zitat aus der Anfangszeit der Debatte um das
Schloß anzuführen. Die „Frankfurter Rundschau“
schrieb damals:
Kann sich die Architektur der Gegenwart trotz ihrer
Niederlagen – aber es gab doch auch das Gelingen
– wirklich damit bescheiden, eine Bauaufgabe wie
die Berliner Mitte ratlos den Rekonstrukteuren zu
überlassen?
Zumindest sollte man einmal darüber nachdenken, ob
es nicht auch heute etwas anderes gibt. Ich meine, die
heutige Architektur sollte zumindest eine Chance haben.
Ich meine, wenn die Nutzung und die Finanzierung
dieses Projektes – so will ich es einmal nennen – geklärt
sind, dann sollten in einem – so hoffe ich – letzten
Wettbewerb Gestaltungsvorschläge unterbreitet werden.
Ich bin auch der Meinung, weil ich das nicht dogmatisch
sehe, daß sich auch Andreas Schlüter an diesem Wett-
bewerb beteiligen sollte.
Ich möchte dann entscheiden, wenn wir die Gestal-
tungsentwürfe auf dem Tisch haben, aber nicht am grü-
nen Tisch und auf Grund einer Ideologie des doch etwas
Nach-rückwärts-Schauenden.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Bernd Neumann.
Frau Prä-
sidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Bar-
thel, als Nichtberliner wundert mich doch ein wenig, wie
lapidar Sie dieses Thema behandeln,
so, als wäre es nicht relevant und als wäre es völlig un-
angemessen, daß die F.D.P. einen solchen Antrag stellt.
– Daß die Beteiligung in bezug auf den zu behandelnden
Gegenstand häufig nicht angemessen ist, darüber sind
wir uns sicherlich einig; denn sonst wären Sie ja nicht
hier.
Lieber Herr Kollege Barthel, immerhin hat es sich die
neue Koalition in Berlin zum Ziel gesetzt, das ehemalige
Erscheinungsbild wiederentstehen zu lassen. Ich erinne-
re daran, daß sich Staatsminister Naumann – er ist jetzt
nicht hier – im Bundestagswahlkampf im letzten Jahr
sehr deutlich für den Wiederaufbau des Berliner Stadt-
schlosses ausgesprochen hat. Ich erinnere daran – auch
wenn das für Sie nicht relevant sein mag –, daß der
Bundeskanzler noch im Februar in einem Interview
sehr deutlich gemacht hat, daß er sich massiv für die
Wiedererstellung des Berliner Stadtschlosses, zumindest
in seinen Fassaden, auszusprechen gedenkt. Deshalb ha-
be ich das ganz ernstgenommen, auch den Antrag der
F.D.P.
Ich finde, das ist nicht nur – wie Sie es sagen – eine
Angelegenheit des Abgeordnetenhauses. Berlin ist die
Hauptstadt Deutschlands, und der Schloßplatz liegt im
Herzen dieser Hauptstadt. Die Rekonstruktion dieses
Areals ist in der Tat eine Frage nationalen kulturellen
Erbes. Dieses Thema verdient es, unabhängig von
dem Antrag der F.D.P. – ich begrüße dessen Zielset-
zung –, hier behandelt zu werden. Im übrigen ist der
Bund Miteigentümer. Schon insofern muß er Position
beziehen.
Ich finde, daß die Debatte über dieses Thema in
Teilen sehr ideologisch geführt wird. Es geht hier nicht
darum – zumindest aus meiner Sicht nicht –, Preußens
Gloria wieder hochleben zu lassen. Man kann sich
auch darüber streiten, ob das Berliner Stadtschloß
wirklich ein bedeutendes Symbol der deutschen Ge-
schichte ist
– sicherlich der preußischen, aber zu der Zeit war Preu-
ßen ja außerhalb des Deutschen Reiches. Das will ich
gar nicht tun. Wir wollen, wenn wir uns für die Ziel-
richtung des F.D.P.-Antrages aussprechen, auch nicht,
wie manche meinen, das alte Hohenzollernschloß auf-
bauen und schon gar nicht dafür öffentliche Gelder in
Milliardenhöhe ausgeben.
Es geht darum – wem sage ich das: Ihnen als Berli-
ner –, auf dem Schloßplatz im Herzen Berlins, heute,
wie man sehen muß, eine öde Stadtbrache, ein Gebäude
zu errichten, das sich in seinen äußeren Maßen, in seiner
Kubatur, an dem früheren Schloß orientiert und mit den
Fassaden des genialen Baumeisters Schlüter das histori-
sche Ensemble auf der Museumsinsel ergänzen und krö-
nen könnte. Ein solches Gebäude würde, in Verbindung
mit dem Alten Museum, Lustgarten, Berliner Dom,
Marstall, Schloßbrücke – Sie kennen das als Berliner,
Herr Kollege Rexrodt, viel besser –, Zeughaus, Schin-
kelplatz sowie der Rekonstruktion von Bauakademie
und Kommandantur, die ja vorgesehen ist, dazu beitra-
gen, daß ein zusammenhängender Komplex klassischer
Architektur entsteht, der, das kann man wohl so sagen,
Eckhardt Barthel
7048 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
weltweit einmalig ist. Deswegen hat dies, so finde ich,
auch unsere Aufmerksamkeit verdient.
Im übrigen haben Sie selbst gesagt, Herr Kollege
Barthel: Unabhängig von der Zielsetzung – ob Schloß
oder nicht – müssen wir ohnehin über die weitere Ver-
wendung dieses heute sehr unattraktiven Platzes disku-
tieren. Ein totaler Schloßwiederaufbau kommt – da sind
sich alle Fachleute einig – nicht in Frage; das ist illuso-
risch. Deshalb unterstützt die CDU/CSU-Fraktion die
Zielsetzung, ein Gebäude zu errichten, das zumindest
die Kubatur des alten Stadtschlosses umfaßt, um die
historische Fassade, also das äußere Erscheinungsbild
– so wie es die Koalition des neuen Berliner Senats vor-
sieht –, wiederherzustellen.
Zur Nutzung – hier zitiere ich eine Bundestagsdruck-
sache –:
Ziel des am 31. Mai 1996 vom Gemeinsamen Aus-
schuß Bund/Berlin verabschiedeten Nutzungskon-
zepts ist ein ausgewogenes Verhältnis von öffentli-
cher und kommerzieller Nutzung auf hohem Ni-
veau. Bund und Berlin haben im Rahmen des Inter-
essenbekundungsverfahrens daher besonderen Wert
auf Lösungen mit einem möglichst hohen Anteil an
öffentlicher Nutzung gelegt, durch die der heraus-
ragenden Stellung des Ortes Rechnung getragen
wird.
Ich will einfügen – weil Sie gesagt haben, die Diskus-
sion sei doch noch jung, das müsse noch viel intensiver
diskutiert werden –: Wahr ist, daß das schon seit vielen
Jahren diskutiert wird, daß es viele Pläne gibt und daß es
einen Gemeinsamen Ausschuß Bund/Berlin gibt, der
dies alles schon vorangetrieben hat. Deshalb ist die aus
den Reihen der F.D.P. gestellte Frage berechtigt, was
denn nun passiert.
Ich sage: Der wiedererrichtete Schloßkomplex sollte
der Öffentlichkeit zugänglich sein und auch privat ge-
nutzt werden können. Diese Nutzung muß zeitgemäß
und dem Orte entsprechend würdig, das heißt niveau-
voll, sein. Das unterstützen wir so, wie es dort formuliert
ist.
Zu den Finanzen; das ist ja die entscheidende Frage.
Ich habe der Äußerung einer Kollegin der Grünen aus
dem Abgeordnetenhaus folgendes Zitat entnommen:
Es ist besser, sich endlich um den Erhalt der beste-
henden Schlösser in den ostdeutschen Bundeslän-
dern zu kümmern, anstatt sich in milliardenschwe-
ren Schloßphantasien in Berlin zu verlieren.
Das ist aus meiner Sicht nicht die Alternative. Es
kann beides sein. Natürlich sind dem finanziellen Spiel-
raum insbesondere des Bundes, aber wohl auch des
Landes Berlin Grenzen gesetzt. Der Bund muß vor allem
das Interesse haben, daß der Bau kein dauerhaftes Zu-
schußgeschäft wird.
Ich glaube, daß wir von der Aussage des Bundes und
des Landes Berlin in dem Gemeinsamen Ausschuß aus-
gehen sollten, daß der Bund und das Land Berlin bereit
sind, die Grundstücke in dieses Projekt einzubringen.
Das wäre schon ein Anfang. Auch Spenden, gegebenen-
falls über eine Stiftung Berliner Stadtschloß – der Kol-
lege Rexrodt hat das angesprochen –, könnten zur Fi-
nanzierung vielleicht der Schloßfassade herangezogen
werden. Frau Kollegin Griefahn, wenn Sie schneller und
konkreter bei dem neuen Stiftungsrecht vorangehen und
sich durchsetzen würden, könnten hier wahrlich Anstöße
gegeben werden.
Die Realisierung steht und fällt aber mit der Beteili-
gung eines privaten Investors. Alles andere wäre Uto-
pie. Die Finanzierung kann im wesentlichen nur aus pri-
vaten Mitteln erfolgen. Was folgt daraus? Hier bin ich
etwas anderer Auffassung als Sie, lieber Kollege Bar-
thel. Wir sollten nicht weiter lange diskutieren, sondern
den Schluß ziehen: Es muß etwas passieren und voran-
getrieben werden.
Das Interessenbekundungsverfahren – Sie haben es
zitiert – im Hinblick auf potentielle Investoren hat
1997/98 stattgefunden. Eine gemeinsame Auswertung
von Bund und Ländern gibt es bisher nicht. Daraus folgt
die Forderung an beide: Die Vorlage eines abschließen-
den, ganz konkreten Nutzungskonzepts vom Land Ber-
lin und dem Bund ist die unverzichtbare Voraussetzung
für weitere Entscheidungen auch hier im Deutschen
Bundestag.
– Ich widerspreche Ihnen ja nicht in allem.
Dazu gehört auch die Antwort auf die Frage – inso-
fern geht mir der F.D.P.-Antrag in den Einzelheiten,
nicht in der Zielrichtung, Herr Kollege Rexrodt, etwas
zu weit –, welche Position Bund und das Land Berlin
künftig zu folgenden Punkten einnehmen: weiterhin
Erbbaurecht – kostenlos oder mit Zinsen? –, Veräuße-
rung des Grundstücks, Leasing-Modell oder eine eige-
ne Bauherrenschaft mit Konzession für private Nut-
zung? Dies alles sind Vorschläge, die innerhalb dieses
sogenannten Interessenbekundungsverfahrens gemacht
worden sind. Solange es hierzu keine konkreten Vorla-
gen gibt, sollte der Bundestag auch nicht abschließend
entscheiden. Deswegen ist es richtig, die Zielsetzung
des Antrags zu verfolgen, ihn an den Ausschuß zu
überweisen und die Bundesregierung in Verbindung
mit dem Berliner Senat um konkrete Stellungnahme zu
bitten.
Zum Schluß habe ich eine Frage – besonders an
Herrn Fink und die PDS gerichtet, denn das wird diese
Kollegen besonders interessieren –: Was wird aus dem
Palast der Republik?
Auch hier gibt es Vorarbeiten. Ich zitiere wiederum
den Gemeinsamen Ausschuß, der in seiner Sitzung am
23. März 1993 feststellt,
daß nach gutachterlichen Erkenntnissen eine volle
Entfernung des Spritzasbestes an allen zugängli-
chen Konstruktionsteilen nur durch Rückführung
Bernd Neumann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7049
(C)
(D)
auf den Rohbauzustand möglich ist. Eine Verwen-
dung dieses Rohbaus für die vorgesehene Nutzung
dieses Geländes erscheint aus städtebaulichen,
funktionalen und wirtschaftlichen Gründen nicht
zweckmäßig. Am 31. Mai 1996 hat dann der
Gemeinsame Ausschuß Bund/Berlin bekräftigt,
daß sich das in Aussicht genommene Nutzungskon-
zept
– das betrifft also die Kubatur des alten Stadtschlos-
ses –
in seiner Gesamtheit nicht in der gegenwärtigen
Form und Gestalt des Palastes der Republik umset-
zen läßt.
Was heißt dies? Das heißt: entweder das Stadtschloß
mit seiner historischen Fassade oder Wiederaufbau – das
wird es nach der Asbestsanierung sein – des Palastes der
Republik mit einem anderen Nutzungskonzept.
Meine Damen und Herren – auch an die PDS gerich-
tet –, für mich ist das keine ideologische Frage. Natür-
lich gibt es Argumente dafür, die ehemalige Volkskam-
mer zu erhalten. Aber das sind mehr politische Gründe.
Wir wollen die DDR-Vergangenheit nicht verdrängen,
obwohl es für Deutschland besser gewesen wäre, wir
hätten sie nie gehabt. Aber der Palast der Republik ist
kein typisches Signum der DDR-Bauweise. Er ist in
einem modernen Stil gebaut, eher westlich geprägt.
Aus meiner Sicht ist er häßlich. Typische DDR-Bau-
ten finden Sie in der Frankfurter Allee, in der Karl-
Marx-Allee, die alle auch deshalb erhalten werden
sollen.
Jetzt habe ich Sie wachgerüttelt. Deswegen sage ich
Ihnen zum Schluß, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen von der PDS: Sie sollten sich als Nachfol-
gepartei der SED bei diesem Thema sehr zurückhalten.
Ihre politischen Ziehväter, an der Spitze der SED-
Genosse Ulbricht, haben in einem Akt kultureller Barba-
rei das zwar durch den Krieg schwer beschädigte, aber
durchaus restaurierbare, schöne Stadtschloß abgerissen,
nur um einen Aufmarschplatz für die Kolonnen der SPD
zu bekommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Neumann,
Sie müssen bitte zum Schluß kommen.
Sie sollten
sich, lieber Herr Kollege Fink, im Hinblick auf Ihre
Ziehväter noch nachträglich dafür schämen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt Kol-
legin Franziska Eichstädt-Bohlig für die Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
hoffe, Sie kommen jetzt zur Ruhe.
Ich denke, wir sind uns in einem Punkt alle einig,
darin, daß dieser Ort von zentraler Bedeutung nicht nur
für Berlins Entwicklung ist, sondern daß er auch ein
Stück Symbolkraft für die künftige Entwicklung unseres
inzwischen wiedervereinigten Landes hat und daß er
deswegen gerade auch für die Vereinigung von besonde-
rer Bedeutung ist, und zwar politisch-geschichtlich,
städtebaulich-architektonisch und kulturell.
Aus meiner Sicht – deswegen haben für mich die
Diskussionsbeiträge meiner Vorredner etwas zu schnelle
Lösungen vorgesehen – muß deswegen die Entschei-
dungsfindung ein würdiger Akt demokratischer Kultur
sein.
Ich betone das deswegen so, weil ich nicht nur eben
in dem letzten Redebeitrag, sondern auch in den letzten
Jahren die Erfahrung gemacht habe, daß die Frage „Pa-
last oder Schloß“ eigentlich sehr stark als West-Ost-
Machtkampf behandelt worden ist: Wem soll denn die
Mitte Berlins gehören, den Ostdeutschen und Ostberli-
nern als Palast oder den Westdeutschen und Westberli-
nern als Schloß? Das hielt und halte ich für eine sehr
unglückselige Machtkampf- und Frontstellung.
Meiner Meinung nach müssen wir deswegen erneut
mit der Entscheidungsfindung beginnen, um eine neue,
gemeinsame, der Vereinigung wirklich konstruktiv die-
nende Basis für diese Entscheidung zu finden und das
nicht in der Form von Machtkampf weiterzuführen, wie
Sie es gerade eben hier demonstriert haben.
Aus meiner Sicht – ich sage das für mich persönlich;
wir haben keine Fraktionsdiskussion dazu gehabt – sind
folgende Punkte von ganz entscheidender Bedeutung.
Bernd Neumann
7050 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Erstens. Ich möchte, daß dies ein öffentlicher Ort ist
und bleibt. Er darf nicht privatisiert werden. Dazu muß
ich ganz deutlich sagen: Ich habe nichts dagegen, daß
wir dafür privates Geld sammeln, aber ich möchte nicht
– anders als es Kollege Barthel eben gesagt hat –, daß es
ein Ort des privaten Kapitals und der privaten Immobi-
lienrenditen wird, sondern es soll ein öffentlicher, de-
mokratischer Ort bleiben und auch in Zukunft wieder
werden,
auch wenn wir Schwierigkeiten haben, dafür die finan-
ziellen Mittel zu sammeln.
Ich muß auch sagen: Das Investorenauswahlverfah-
ren hat ja gezeigt, daß es nicht funktioniert. Selbst wenn
eine Wahnsinnsnutzfläche von 140 000 Quadratmetern
zu verwertender Renditefläche in diese Schloßfassade
hineingepreßt würde, rechnete es sich nicht, wenn die
öffentliche Hand nicht einerseits beim Kapital zur Miete
gehen und andererseits auch noch die Grundstücke gratis
zur Verfügung stellen würde.
– Ja, das muß man sich einmal klarmachen. Hier geht es
um eine grundsätzliche Entscheidung, was eigentlich öf-
fentliche Orte sind. Aus meiner Sicht sind sie nach wie
vor etwas anderes als eine privatwirtschaftlich funktio-
nierende Immobilie.
Der zweite Punkt, der mir wichtig ist, ist auch schon
von Kollegen Barthel angesprochen worden, nämlich
daß es erst noch einmal eine sehr intensive Diskussion
um die angemessene und würdige demokratische Nut-
zung gehen muß; denn der öffentliche Ort definiert sich
zuallererst durch die Nutzung.
Der dritte mir sehr wichtige Punkt ist, daß es nicht
um einen Machtkampf der einen Geschichte gegen die
andere Geschichte gehen darf. Auch das gehört mit da-
zu. Es darf nicht so sein, daß die eine Geschichte ent-
sorgt wird, um der anderen Raum zu geben; denn dann
wird es ein geschichtsloser Ort, und all die Wider-
sprüchlichkeit, auch die Tatsache – an dieser Stelle
stimme ich Ihnen, Herr Naumann, wieder zu –, in wel-
cher Form Ulbricht dieses Schloß demontieren und ab-
reißen ließ, war – so kann ich es fast nur sagen – absolut
kriminell: kulturell, städtebaulich, historisch. Dennoch
bin ich der Meinung, daß dieser Ort diese beiden Facet-
ten seine Geschichte weiterhin in der Zukunft transpor-
tieren muß und sie unseren Kindern und Kindeskindern
zur Geltung und zur Darstellung bringen muß, auch in
seiner Architektur. Es gibt eine Reihe von Beispielen,
die das positiv transportieren.
– Ja, ich kann es erklären. Es gibt sehr viele konstruktive
Beispiele für Entwürfe, die ein Spannungsfeld zwischen
dem Palast oder einem Teilpalast und einem Teilwieder-
aufbau des Schlosses vorsehen. Darüber haben sich Ar-
chitekten schon Gedanken gemacht. Das kann man auch
weiterhin tun.
Ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig ist. Ich habe
mit Ihrem Modell große Probleme, nicht nur weil es sich
um ein Immobilienmodell handelt, sondern auch, weil
es eine Schloßfassade über einer Tiefgarage vorsieht.
Diese Schloßfassade soll außen an Beton, womöglich
noch mit Wärmedämmung nach den neuen Bestimmun-
gen zur Energieeinsparung – für die ich mich ansonsten
enorm einsetze –, angeklebt werden. Damit wäre für
mich Herr Schlüter wirklich total entwürdigt.
Auch wenn meine Zeit abläuft, möchte ich den Berli-
ner Landeskonservator, Herrn Engel, zitieren, der dazu
einen sehr guten Beitrag geschrieben hat. Er sagt ganz
deutlich:
Es darf nicht um Kulisse gehen. Weder das Schloß
kann auf seine Außenfassade reduziert werden, noch
ist die in manchen Gesprächsäußerungen spürbare
„Großzügigkeit“ zulässig, dem Palast der Republik
durch Beibehalten von Fassade entlang der Spree-
front ein gewisses Überleben zuzugestehen.
Insofern müssen wir wirklich in die Debatte noch einmal
grundsätzlich einsteigen.
Mein letzter Punkt. Ich wünsche mir, daß das Verfah-
ren noch einmal neu und solide eröffnet wird; denn die
Entscheidungen des Gemeinsamen Ausschusses fanden
hinter verschlossenen Türen statt. Sie sind nicht in
einem demokratischen Prozeß gefällt worden. Von daher
wünsche ich mir, daß Bund und Berlin gemeinsam ein
Gremium von öffentlich wirklich angesehen Persönlich-
keiten zusammenrufen, die dieses Verfahren Schritt für
Schritt entwickeln und zur Entscheidung bringen.
Die gesellschaftliche Bedeutung des Ortes, die politi-
sche und symbolische Bedeutung der künftigen Gebäu-
de, die öffentliche oder private Trägerschaft – es geht
nicht darum, daß ich oder Sie recht behalten, sondern
darum, daß in dieser Angelegenheit eine Entscheidung
getroffen wird –,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Eich-
städt-Bohlig, Sie müssen zum Schluß kommen, bitte.
die Vorgaben für das Nutzungskonzept, die tatsächliche
Entscheidung über Abriß oder Erhaltung des Palastes,
die Entscheidung über den Umgang mit Schloßfassaden,
vielleicht sogar ein teilweiser Wiederaufbau, finanziert
aus Spenden, wie es bei der Frauenkirche in einer sehr
ernsthaften Form geschieht – all dies sind Punkte, zu
denen in unserer Gesellschaft intensive Diskussionen
geführt werden müssen. Auf der Grundlage eines sol-
chen Prozesses – egal, zu welcher Entscheidung er führt
– kann sich unsere ganze Gesellschaft mit diesem Ort in
einer neuen Form im nächsten Jahrhundert wieder iden-
tifizieren.
Franziska Eichstädt-Bohlig
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999 7051
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Dr. Heinrich Fink, PDS.
Sehr verehrte Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei diesem
Antrag der F.D.P. – ich nehme ihn sehr wörtlich und
ernst – geht es um die zukünftige Architektur der histo-
rischen Mitte Berlins und – was nach unserer Meinung
noch bedeutsamer ist – um den wichtigsten öffentlichen
Raum der Hauptstadt. Das sollte für alle diesbezüglichen
Überlegungen bestimmend sein. Dazu bedarf es zualler-
erst eines detaillierten und schlüssigen Nutzungskon-
zeptes für die gesamte Spree-Insel.
Solange sich aber der Bund und Berlin darauf nicht
geeinigt haben, sind nach Auffassung der PDS jegliche
Bebauungsvorschläge grundsätzlich abzulehnen. Daß
dieses Konzept noch immer nicht vorliegt und daß das
Areal auch im zehnten Jahr nach der Herstellung der
deutschen Einheit alles andere als eine Zierde der
Stadtmitte darstellt, das wissen und das sehen wir.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P., ich habe in Ihrem Antrag vergeblich den Palast
der Republik gesucht. Sie haben ihn zwar eben münd-
lich hinzugefügt; aber in Ihrem Antrag haben Sie ihn of-
fensichtlich bereits beerdigt. Dagegen wende ich mich
ganz entschieden.
Den Standpunkt der PDS in dieser Frage kennen Sie
gut. Wenn Sie sich mit der Materie beschäftigt haben,
dann wissen Sie auch, daß die PDS in dieser Stadt kei-
neswegs allein für den Erhalt des Palastes nach einer
Asbestsanierung eintritt. Ihn einfach abzureißen wäre
ebenso ein Zeichen von Arroganz und Siegermentalität
wie der seinerzeitige Abriß des Schlosses durch die
DDR-Führung.
Herr Naumann, ich möchte Sie wirklich freundlich
bitten, auf die Menschen, die Sie anreden, auch zu guk-
ken. Ich bin kein Kind von Ulbricht. Er hat mich nicht
erzogen.
Ich sage hier öffentlich: Der damalige Abriß des
Schlosses war ein Zeichen der Arroganz der Macht;
denn das Schloß war nur teilweise zerstört. Ich habe als
Student im Nordflügel des Schlosses eine Picasso-
Ausstellung gesehen. Man bringt Bilder von Picasso ja
wohl nicht in eine Ruine, die einer solchen Ausstellung
nicht mehr würdig wäre.
Der Abriß des Palastes wäre aber auch ein kaum ge-
ringerer architektonischer Frevel; denn er ist durchaus
als zeitgenössisches bauliches Denkmal anzusehen. Ich
darf Sie daran erinnern, daß auch Mitglieder der F.D.P.-
Fraktion im letzten Berliner Abgeordnetenhaus dies
schon zum Ausdruck gebracht haben.
Wenn wir für die Erhaltung des Palastes eintreten –
ob in der jetzigen Form oder im Ensemble mit dem
Schloß oder mit Teilen von ihm; je nachdem, wie es ein
Gesamtnutzungskonzept einmal vorsieht –, dann tun wir
das weit weniger aus nostalgischen Gründen, als uns
dies bisweilen unterstellt wird. Der Palast war ein
hochmodernes, multifunktionales Gebäude, und er war
– dies möchte ich noch einmal betonen – ein öffentli-
cher Raum. Dies sollte er auch bleiben bzw. wieder
werden.
Jegliche private oder staatliche Nutzung auf dem
Areal Spree-Insel – ob mit einem Hotel oder gar mit
einem Gästehaus der Regierung – wäre ein Affront ge-
gen die Interessen der Berlinerinnen und Berliner.
Nicht nur die Ostberliner möchten diesen Palast stehen
lassen.
Um zusammenzufassen: In jedem Fall muß die ge-
samte Spree-Insel ein öffentlicher Raum für öffentliche
Aktivitäten bleiben. Erst dann, wenn ein Gesamtkonzept
vorliegt, sollte entschieden werden, welches der Gebäu-
de dort Dominanz erlangt und in welcher architektoni-
schen Form.
Aus den genannten Gründen kann dies kaum ohne den
Palast gedacht werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fink,
Sie müssen zum Schluß kommen, bitte.
Ich möchte nicht uner-
wähnt lassen, daß auch nach der jetzigen Asbestsanie-
rung eine Instandhaltung und Nutzung des Palastes
im beschriebenen Sinne um ein Vielfaches kostengün-
stiger wäre als jeder Neubau.
Die PDS betrachtet den vorliegenden Antrag, so wie
er von der F.D.P. – ich betone: wörtlich – vorgelegt
worden ist, als nicht sachgerecht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fink,
Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.
Er führt in die falsche
Richtung. Deswegen müssen wir den Antrag ablehnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vor-
lage auf Drucksache 14/1752 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
7052 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 1999
(C)
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Ostrowski, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf
und der Fraktion der PDS
Novellierung des Eigenheimzulagengesetzes
– Drucksachen 14/471, 14/1999 –
Berichterstattung:
Abgeordnete
Elke Wülfing
Dr. Barbara Höll
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol-
leginnen und Kollegen Dieter Grasedieck, Dr. Michael
Meister, Franziska Eichstädt-Bohlig, Horst Friedrich
und Christine Ostrowski möchten ihre Reden
zu Protokoll geben.*) Sind Sie damit einverstanden? –
Ich sehe, das Haus ist damit einverstanden.
Damit kommen wir zur Beschlußempfehlung des
Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der
PDS zur Novellierung des Eigenheimzulagenge-
setzes auf Drucksache 14/1999. Der Ausschuß emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/471 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlußempfeh-
lung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ange-
nommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 3. Dezember 1999,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.