Gesamtes Protokol
Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung
ist eröffnet.
Der Deutsche Bundestag weiß sich in diesen Tagen
einig mit den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesre-
publik Deutschland in der Trauer über die Opfer der
heftigen Erdbeben, die Taiwan in den letzten Tagen,
seit der Nacht zu Dienstag, dem 21. September 1999,
heimgesucht haben. Mehr als 2 000 Menschen starben,
fast 8 000 wurden verletzt, und mehr als 600 Menschen
werden immer noch unter den Trümmern vermißt. Rund
100 000 Menschen sind ohne Obdach.
Spontan war die internationale Hilfsbereitschaft, und
sie verdient Dank und Anerkennung. Ich spreche im
Namen des Deutschen Bundestages den betroffenen
Bürgern Taiwans unser tiefes Mitgefühl aus.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich
folgendes bekannt:
Der frühere Kollege Günter Verheugen hat am 16.
September 1999 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen
Bundestag verzichtet. Als Nachfolger hat der Abgeord-
nete Reinhold Strobl am 17. September 1999 die Mit-
gliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich be-
grüße den neuen Kollegen sehr herzlich.
Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 29.
September 1999 mitgeteilt, daß der Abgeordnete Uwe
Hiksch nach seinem Austritt aus der SPD seit dem 28.
September 1999 nicht mehr Mitglied der SPD-
Bundestagsfraktion ist.
Sodann teile ich mit, daß der Kollege Hans Martin
Bury als stellvertretendes Mitglied aus dem Vermitt-
lungsausschuß ausscheidet. Die Fraktion der SPD
schlägt als Nachfolgerin die Kollegin Anke Fuchs
vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre
keinen Widerspruch. Damit ist die Kollegin Anke Fuchs
als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß
bestimmt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, auf die für
Freitag vorgesehene Beratung des Antrags der Fraktion
der Bündnis 90/ Die Grünen „Verbot quecksilberhaltiger
Fieberthermometer“ zu verzichten
und den Antrag statt dessen bereits heute ohne Debatte
an die Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie mit den Ver-
einbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion der
F.D.P. hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesord-
nung um die Beratung ihres Gesetzentwurfs zur Siche-
rung der Pressefreiheit zu erweitern. Das Wort zu die-
sem Geschäftsordnungsantrag hat der Kollege van Es-
sen.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktionmöchte heute in eine erste Lesung ihres Gesetzentwurfeszur Sicherung der Pressefreiheit eintreten und bittet Siedafür um Ihre Zustimmung. Nachdem die Vertretungender Journalisten, aber auch Verleger und Intendantenimmer drängender die notwendigen gesetzlichen Schrittezu einer Verbesserung der Pressefreiheit fordern, bin ichdavon ausgegangen, daß unser Debattenwunsch in derinterfraktionellen Runde der Ersten Geschäftsführernicht auf den Widerstand der anderen Fraktionen stoßenwürde. Leider war es nicht so. Die F.D.P.-Bun-destagsfraktion bedauert es sehr, daß sie offensichtlichallein an einer Verbesserung der für eine Demokratie sowichtigen Pressefreiheit interessiert ist.
Metadaten/Kopzeile:
5122 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Die Sache duldet nämlich keinen Aufschub. Wollenwir zusehen, daß – ähnlich wie in Bremen – unterDurchbrechung jedes VerhältnismäßigkeitsgrundsatzesRedaktionsräume weiter durchsucht werden? Wollen wiruntätig bleiben,
wenn weiter Filmmaterial von Fernsehanstalten überDemonstrationen nur deshalb beschlagnahmt wird, weildie Polizei ihre eigene Beweissicherungspflicht nicht soernstgenommen hat, wie sie es eigentlich müßte, unddeshalb Kameraleute unnötig in Gefahr geraten? Läßt esuns kalt – wie offensichtlich Herrn Schlauch –, wenn dieneuen elektronischen journalistischen Medien nicht vomgesetzlichen Schutz erfaßt sind?Eine rechtlich klar abgestützte Pressefreiheit, ohne ju-ristische Grauzone, ist fundamental für eine Demokratieund verträgt nicht den Verschiebebahnhof, den SPD undGrüne heute offensichtlich ansteuern.
Es komme mir niemand mit dem Argument, manbrauche Zeit, um unseren Entwurf zu prüfen. Alles, waswir vorgeschlagen haben, liegt seit Jahren auf dem Tisch
und konnte seit drei Wochen genau gelesen werden.
– Richtig, Herr Schlauch, wir haben dafür gekämpft, undwir tun es weiter.
Es ist für uns auch kein Argument, daß die Bundesju-stizministerin ähnliches plane. Erstens ist das Parlamentinsgesamt und die Opposition im besonderen keine Un-terabteilung irgendeines Ministeriums,
und zweitens wartet die Öffentlichkeit inzwischen auf soviele von der Ministerin angekündigte Vorhaben, daßdies die Verschiebung auf den Sankt-Nimmerleins-Tagbedeuten würde.
Pressefreiheit ist eine der Basissäulen der Demokra-tie. Wir brauchen die Diskussion jetzt.
Deshalb bitte ich Sie um die Zustimmung zu unseremVorschlag, heute darüber zu debattieren.Herzlichen Dank.
Für die SPD-
Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Wilhelm
Schmidt.
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Das ist schon abenteu-
erlich, wie der Kollege van Essen den Geschäftsord-
nungsantrag seiner Fraktion hier begründet. Jemand, der
16 Jahre lang die Gelegenheit gehabt hat, dies in diesem
Hause mit seinem Koalitionspartner durchzusetzen, fin-
det nun nicht mehr die Zeit, noch ein oder zwei Wochen
zu warten. Was hier passiert, ist so was von heuchle-
risch, daß wir das nicht akzeptieren können.
Es ist in diesem Hause mit gutem Grund in der Ge-
schäftsordnung festgelegt, daß es Fristen gibt. Die sind
in aller Regel eingehalten worden, sowohl in der ver-
gangenen Wahlperiode mit Ihrer Mehrheit als auch in
dieser Wahlperiode mit unserer Mehrheit. Denn wir
müssen den Fraktionen des Hauses Gelegenheit geben,
sich auf die Dinge vorzubereiten. Wenn wir zudem noch
wissen, daß in dem Ministerium, das Sie gerade ange-
sprochen haben, nämlich im Ministerium der Justiz, ein
entsprechender Gesetzentwurf zur Pressefreiheit erar-
beitet wird – an dem wir übrigens mitwirken –, dann, so
kann ich nur sagen, ist es völlig übertrieben, an dieser
Stelle diese Hast an den Tag zu legen. Wir meinen, daß
diese uns derzeit eher schadet, als daß sie uns hilft. Las-
sen Sie uns das nächste Sitzungswoche, wenn Sie ein
Aufsetzungsrecht haben, ordentlich miteinander beraten.
Da es dann der Geschäftsordnung entspricht, gibt es
überhaupt keinen Grund, das abzulehnen.
Zum heutigen Zeitpunkt erkläre ich für meine Frakti-
on – gleichermaßen für die Koalition –, daß wir nicht
daran interessiert sind, dieses Thema gewissermaßen
über das Knie zu brechen. Wir werden selbst einen sorg-
fältig erarbeiteten Gesetzentwurf vorlegen. Das, was Sie
uns jetzt präsentieren – ohnehin nur in einem Schnell-
schußverfahren –, wäre dem sicherlich nicht angemes-
sen. Es ist überhaupt kein Verschiebebahnhof, schon gar
nicht verschieben wir die Angelegenheit auf den Sankt-
Nimmerleins-Tag. Die Debatte findet nur nicht heute
statt. Dem bitte ich Sie zuzustimmen.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen erteile ich das Wort der Kolle-
gin Kristin Heyne.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon be-zeichnend, daß in dieser Geschäftsordnungsdebatte – ichfinde das eigentlich einen sehr guten Stil – die anderenbeiden Oppositionsfraktionen nicht reden.
– Sie standen nicht auf der Rednerliste. Dann kommtgleich noch ein Beitrag. Aber der Kollege von der CDUJörg van Essen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5123
(C)
(D)
zumindest möchte nicht reden. Ich glaube, das machtschon deutlich, daß es nicht darum geht, die Rechte derOpposition zu unterdrücken.Lieber Kollege van Essen, Sie wissen, was der tiefereSinn einer Geschäftsordnungsdebatte ist. Sie haben dieGelegenheit genutzt, noch einmal eindrücklich darzu-stellen, daß es notwendig ist, die Pressefreiheit zu si-chern, und das gerade durch eine Zuspitzung des Zeug-nisverweigerungsrechts für Journalisten. Ich will ganzdeutlich sagen, lieber Kollege van Essen: Das ist nichtder Punkt, über den wir heute streiten.Für eine freie Presse und für die freie Berichterstat-tung ist es in der Demokratie grundlegend, daß Journali-sten ihre Informanten nicht preisgeben müssen. Bündnis90/Die Grünen haben in der vergangenen Legislaturpe-riode einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt.Von der F.D.P. gab es dazu keinerlei Unterstützung, Siehaben sich weggedrückt. Jetzt, wo es nichts mehr durch-zusetzen gibt, schwenken Sie das liberale Fähnchen.
Es ist erklärtes und wichtiges rechtspolitisches Zielder Koalition, die Pressefreiheit zu sichern. Wir wollendas Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten auchunter Berücksichtigung der neuen Kommunikations-technologien verbessern. Das ist keine Frage in der Ko-alition, das wird geschehen.Strittig ist jetzt einzig die Frage, ob der Gesetzent-wurf der F.D.P. heute oder in der nächsten Woche, wennbereits das Aufsetzungsrecht besteht, verhandelt wird.Ich möchte ganz klar sagen: Es hat gute Gründe, daß wireinen Antrag nicht sofort aufsetzen, sondern eine Fristvon drei Wochen einräumen. Denn wenn wir uns alsParlament noch einigermaßen ernst nehmen, ist es gut,wenn jede Fraktion vor der Debatte hier im Plenum einegewisse Zeit hat, ihre eigene Position zu finden, in denArbeitsgruppen und Fraktionsgremien zu diskutierenund – sofern sie es will – mit einer eigenen Vorlage indie Debatte einzusteigen.Eine sachgerechte Debatte braucht eine solche Vorbe-reitungszeit. Wenn wir das Parlament als Ort des ge-zielten Streits um die beste Lösung ansehen, dann soll-ten wir die selbst gesetzten Spielregeln auch einhalten.Es darf nicht sein, daß dieses Haus zu einer reinenWahlkampfbühne verkommt.
Lieber Kollege van Essen, bei allem Verständnis für dieNervosität in den kleinen Parteien – diese können wirIhnen durchaus nachfühlen.Natürlich gibt es eilbedürftige Vorlagen und Anträge,die eine Woche später verhandelt unter Umständenschon ihren Sinn verloren haben. Für solche Fälle hat esimmer einvernehmliche Regelungen gegeben. Das wirdauch so bleiben. Daß aber ein erheblicher Schaden ent-steht, wenn wir Ihren Antrag, verehrter Kollege van Es-sen, erst in der nächsten Woche verhandeln, kann ichnicht nachvollziehen. Ein solcher Eilbedarf erschließtsich mir vor dem Hintergrund, daß Sie nicht nur 16,sondern 29 Jahre Zeit hatten, diese Sicherung durchzu-setzen, nicht.
Lassen Sie uns in sorgfältigen Beratungen zu einemguten Gesetz kommen. Meine Fraktion lehnt den Antragauf Änderung der Tagesordnung für heute ab.
Für die PDS-
Fraktion hat das Wort der Kollege Roland Claus.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Ich will es noch einmal sagen, damit wirrichtig verstanden werden: Wir befinden uns in der Ge-schäftsordnungsdebatte, und das Parlamentsrecht, daswir uns selbst gegeben haben, besagt, daß man, wennman einen Antrag einbringt, drei Wochen warten muß,bevor er behandelt wird.
Die F.D.P. wollte nur eine Woche warten.Wenn ich das interpretieren darf, heißt das, die F.D.P.schlägt uns vor, daß Gnade vor Parlamentsrecht ergehensoll. Ich will Sie nur daran erinnern, daß Sie, meine Da-men und Herren von den Freien Demokraten, gestern inder Amnestiedebatte genau umgekehrt argumentiert ha-ben.
Ich hatte schon überlegt, ob hier nicht BundesministerEichel zur Debatte spricht; denn diese Debatte hättenwir uns wirklich sparen können. Wir hätten sie uns aufzwei Arten sparen können: zum einen, indem die F.D.P.auf diese starrsinnige Reaktion verzichtet hätte, zum an-deren, indem die Koalition etwas großmütiger gewesenwäre – wir hatten das in der Besprechung auch angeregt– und gesagt hätte, wir nehmen an einer solchen Diskus-sion keinen Schaden, lassen wir sie doch zu.
Aber beide Seiten wollten sich nicht bewegen.Wir haben nicht in der Sache zu argumentieren, abereines will ich den Autorinnen und Autoren natürlich sa-gen: Sie nennen Ihren Gesetzentwurf „Gesetz zur Siche-rung der Pressefreiheit“. Ich möchte Sie fragen: Geht esnicht ein bißchen bescheidener? In dem Gesetzentwurfist nichts von dem enthalten, was darauf steht. Es istdoch ein großes Wort.
Kristin Heyne
Metadaten/Kopzeile:
5124 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Vielleicht haben Sie die Flucht in eine Tagesord-nungsdebatte angetreten, weil der Inhalt ein bißchendürftig ist. Sie sagen sich wohl: Der wichtigste Kampfist der Kampf um die Überschriften. Sie hoffen auf dieSchlagzeile „F.D.P. für die Pressefreiheit und alle ande-ren dagegen“. Ich könnte Ihnen ein probates Mittel nen-nen. Wir könnten Ihnen nämlich mit unserer Zustim-mung das Leben ganz schön schwer machen.
Aber solche taktischen Spiele würden bedeuten, diesesParlament nicht ernst zu nehmen. Deshalb fällt unsereZustimmung aus.Die Beharrung auf dieser Tagesordnungsdebatte,meine Damen und Herren, zeugt ein bißchen von IhrerStarrsinnigkeit. Ich will Ihnen eines sagen: UnsereKompetenz für bittere Niederlagen ist sicher unbestrit-ten. Man muß Niederlagen auch als Niederlagen anneh-men, um sie überwinden zu können. Kommen Sie wie-der runter, dann könnte es sein, daß Sie auch wiederraufkommen.
An die Adresse der Koalition noch einmal der Aufruf:Ersparen Sie uns diese Abstimmung. Wir werden uns,wenn sie nicht zu verhindern ist, bei der Abstimmungenthalten.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir kommen zur Abstimmung. Wer
stimmt für den Aufsetzungsantrag der Fraktion der
F.D.P.? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der
Stimme? – Damit ist der Antrag der Fraktion der F.D.P.
mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
bei Stimmenthaltung von CDU/CSU und PDS bei Zu-
stimmung der F.D.P.-Fraktion abgelehnt worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Wahlprü-
fungsausschusses
zu den gegen die Gültigkeit der Wahl zum 14.
Deutschen Bundestag eingegangenen Wahlein-
sprüchen
– Drucksache 14/1560 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Dr. Wolfgang Bötsch
Anni Brandt-Elsweier
Jörg van Essen
Manfred Grund
Hans-Joachim Hacker
Steffi Lemke
Dr. Peter Paziorek
Hans-Christian Ströbele
Dieter Wiefelspütz
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Es wird aber
das Wort zur Berichterstattung gewünscht. Das Wort hat
die Kollegin Erika Simm.
Sehr verehrter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie nach jeder Bun-destagswahl muß auch der 14. Bundestag über Wahlein-sprüche entscheiden, in denen wahlberechtigte Bürgerund Bürgerinnen Einwendungen gegen die Vorbereitungund Durchführung der Wahlen, gegen die Stimmenaus-zählung in Wahllokalen und Wahlkreisen oder gegen dieVorschriften des Wahlrechtes selbst erheben.Gegen die Wahlen zum 14. Deutschen Bundestagsind 110 Wahleinsprüche eingegangen, über die heutezu entscheiden ist. Diese Anzahl entspricht den in frühe-ren Wahlperioden gemachten Erfahrungen, abgesehenvon der letzten, bei der wegen der Überhangmandatsfra-ge außergewöhnlich viele, nämlich rund 1450 Wahlein-sprüche eingegangen waren.Die Wahleinsprüche betreffen unterschiedliche Fra-gen des Wahlrechts. Überwiegend decken sie zwar kei-nen Wahlfehler auf, in einigen Fällen aber schon. DerWahlprüfungsausschuß geht jedem Vortrag gründlichnach, nicht zuletzt um für künftige Wahlen Mißständeabstellen zu können. Anregungen für eine Überprüfungder Wahlrechtsvorschriften werden üblicherweise ineiner Entschließung mit Prüfungsbitten an die Bundes-regierung zusammengefaßt. Dazu verweise ich auf Zif-fer 3 der Beschlußempfehlung. Aus diesen Prüfungsbit-ten ist insbesondere die Anregung hervorzuheben, dieauch vom Bundeswahlleiter unterstützt wird, das Be-rechnungsverfahren durch die Einführung des Rang-maßzahlverfahrens nach Sainte Laguë/Schepers zu ver-einfachen. Zu überlegen bleibt auch, ob es zweckmäßigist, weiterhin Umschläge für die Wahl in Wahllokalenvorzuschreiben. Abgebaut werden sollten jedenfalls Be-einträchtigungen, die behinderten Menschen faktisch ei-ne Teilnahme an der Wahl erschweren.Die Vorbereitung der Beschlußempfehlungen desWahlprüfungsausschusses zu den einzelnen Wahlein-sprüchen braucht insgesamt ihre Zeit; im Einzelfall malmehr, mal weniger. Trotzdem empfiehlt es sich nicht,das Plenum mehrmals mit Wahleinsprüchen zu befassen,sondern vielmehr die Entscheidung über alle eingegan-genen Wahleinsprüche – so wie wir das heute tun – füreine einzige Plenarberatung zusammenzufassen. Diesdauert dann zwar bis zur Erledigung aller eingegangenenWahleinsprüche etwas länger, der Wahlprüfungsaus-schuß bemüht sich aber, möglichst rasch zu entschei-den. Zu berücksichtigen bleibt aber, daß oft zeitrau-bende Nachforschungen zur Aufklärung des Sachver-halts erforderlich sind. Außerdem können sich die Mit-glieder des Wahlprüfungsausschusses gerade im erstenJahr der Wahlperiode nicht nur mit Wahleinsprüchen be-fassen.Wenn hier auch kein vollständiger Bericht über jedeneinzelnen Wahleinspruch möglich und angebracht ist, sosoll doch exemplarisch auf einige Gesichtspunkte hin-gewiesen werden, die bei der Wahl zum 14. DeutschenBundestag zu Einsprüchen geführt haben.Roland Claus
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5125
(C)
(D)
Erstaunlich ist, daß bei den Einsprüchen zur letztenBundestagswahl Beschwerden wiederholt werden, dieeigentlich geklärt sein sollten bzw. die sich auf Fehlerbeziehen, die ausgemerzt sein sollten. Daß nach der Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Über-hangmandaten die entsprechenden Wahlrechtsvor-schriften wiederum als verfassungswidrig angegriffenwerden, mag noch verständlich sein, weil das Bundes-verfassungsgericht selber in dieser Frage gespalten war.Aber weniger verständlich ist, daß in einigen Wahlbe-zirken noch immer in unzulässiger Weise einseitigeWahlpropaganda zu nahe vor dem Eingang des Wahl-lokals gemacht wird. Selbstverständlich sollte auch sein,daß Vertreter der Staatsorgane in amtlicher Eigenschaftkeine Wahlwerbung betreiben dürfen. Dennoch mußte ineinem Fall ein Wahlfehler festgestellt werden, weil einBürgermeister im amtlichen Mitteilungsblatt seinerKommune eine bestimmte Kandidatin befürwortet hatte.Bedauerlich ist auch, daß sich einige Wahlvorständenicht peinlich genau an die Wahlrechtsvorschriften hal-ten. Die erforderliche Schulung an Hand der Broschürendes Bundeswahlleiters hat stattgefunden. Trotz dieserSchulung können Wahlfehler vorkommen und dann un-übersehbare Auswirkungen haben. Beispiele dafür sindder Wahleinspruch von Walter Hirche und anderen Mit-gliedern der F.D.P., abgedruckt in Anlage 96, und derWahleinspruch von Axel Weirich, abgedruckt in Anlage99. Die Wahleinsprüche beruhen auf einer Abweichungdes vorläufigen Wahlergebnisses vom endgültigenamtlichen Wahlergebnis. Die F.D.P. hat danach näm-lich einen Sitz an die PDS verloren. Für diese Wahlein-sprüche spielen verschiedene Wahlfehler in verschiede-nen Ländern eine Rolle. Es geht hier insbesondere dar-um, daß in einzelnen Wahlbezirken Stimmzettel ohneamtliche Kuverts ausgegeben wurden und anschließendteilweise für gültig und teilweise für ungültig erklärtworden sind. Trotz dieser Fehler sind diese Wahlein-sprüche letztlich nicht erfolgreich, also in der Sprachedes Wahlprüfungsrechts „offensichtlich unbegründet“,weil eine Vergleichsrechnung ergeben hat, daß dieseFehler letztlich auf die Mandatsverteilung keine Aus-wirkung hatten. Dies ist jedenfalls die Auffassung derMehrheit des Wahlprüfungsausschusses. Der F.D.P.-Vertreter im Wahlprüfungsausschuß ist dieser Auffas-sung nicht gefolgt und beantragt deswegen getrennteAbstimmung über die oben erwähnten Wahleinsprüche.Ich bitte den Herrn Präsidenten, in entsprechender Wei-se zu verfahren.Erlauben Sie mir noch einen Hinweis auf das gelten-de Wahlrecht, ohne daß ich Ihr Abstimmungsverhaltenbeeinflussen möchte. Nach dem geltenden Wahlrechthätte eine Ablehnung der Beschlußempfehlung desWahlprüfungsausschusses nicht zur Folge, daß demWahleinspruch stattgegeben wird; vielmehr wird mit derAblehnung der Wahleinspruch an den Wahlprüfungs-ausschuß zurücküberwiesen, der dann noch einmal überdiesen Einspruch entscheidet. Eine erneute Beschluß-empfehlung des Wahlprüfungsausschusses muß derDeutsche Bundestag dann akzeptieren.Der Wahlprüfungsausschuß hat die Beschlußemp-fehlung einstimmig verabschiedet, bis auf die beidenWahleinsprüche der F.D.P., die ich vorher genannt habe,die sind mit sechs gegen eine Stimme – ohne Enthaltun-gen – zurückgewiesen worden.Herr Präsident, ich möchte Sie noch auf einen weite-ren Sachverhalt hinweisen. In Anlage 41 der Beschluß-empfehlung auf Drucksache 14/1560 ist leider ein Feh-ler passiert. Dort heißt es: „Der Wahleinspruch wird zu-rückgewiesen.“ Statt dessen muß es heißen: „Der Wahl-einspruch wird als unzulässig zurückgewiesen.“ Ich bit-te, in dieser Form über die Beschlußempfehlung ent-scheiden zu lassen.Ich möchte die Gelegenheit nicht verstreichen lassen,ohne mich bei den Kollegen im Wahlprüfungsausschußund insbesondere auch bei den Mitarbeitern und Mitar-beiterinnen des Sekretariats sehr herzlich für die kolle-giale Zusammenarbeit zu bedanken.Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Be-schlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zuzu-stimmen.
Wir kommen nunzur Abstimmung. Die Fraktion der F.D.P. hat Einzelab-stimmung zu den Beschlußempfehlungen des Wahlprü-fungsausschusses zu den Anlagen 67, 86 und 96 unterNr. 2 der Drucksache 14/1560 verlangt.Bevor wir abstimmen, weise ich darauf hin, daß – dieKollegin Simm hat es gerade schon gesagt – bei Nicht-zustimmung zu den Beschlußempfehlungen des Aus-schusses diese gemäß § 13 des Wahlprüfungsgesetzesals an den Wahlprüfungsausschuß zurückverwiesengelten.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung zu An-lage 67? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DieBeschlußempfehlung zu Anlage 67 ist mit den Stimmenvon SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen undmehrheitlich der PDS gegen die Stimmen der F.D.P. undbei einer Enthaltung von der PDS angenommen.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung zu An-lage 86? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen?– Auch diese Beschlußempfehlung ist gegen die Stim-men der F.D.P. mit den Stimmen des ganzen Hauses imübrigen angenommen.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung zu An-lage 96? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen?– Die Beschlußempfehlung zu Anlage 96 ist mit dergleichen Mehrheit wie bei der Abstimmung zuvor ange-nommen.Wir stimmen jetzt über die übrigen Punkte der Be-schlußempfehlung mit der von der Kollegin Simm so-eben vorgetragenen Berichtigung zu Anlage 41 ab. Werstimmt für diese Beschlußempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Stimmenthaltungen? – Die Beschlußemp-fehlung insgesamt ist mit den Stimmen des ganzen Hau-ses angenommen.Erika Simm
Metadaten/Kopzeile:
5126 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu der Unter-richtung durch die BundesregierungBericht über die Lebenssituation von Kindernund die Leistungen der Kinderhilfen inDeutschland – Zehnter Kinder- und Jugend-bericht – undStellungnahme der Bundesregierung– Drucksachen 13/11368, 14/272 Nr. 115,14/1681 –Berichterstattung:Abgeordnete Rolf StöckelChristian SimmertIngrid FischbachKlaus HauptMonika Balt b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu der Unter-richtung durch die BundesregierungVorschlag für einen Beschluß des Europäi-schen Parlaments und des Rates zur Einfüh-rung des Gemeinschaftlichen Aktionspro-gramms „Jugend“– Drucksachen 14/74 Nr. 2.69, 14/1065 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Hans-Peter BartelsChristian SimmertKlaus Holetschek c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hei-di Knake-Werner, Dr. Klaus Grehn, Dr. RuthFuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder PDSKindergelderhöhung auch für Kinder im So-zialhilfebezug– Drucksache 14/1308 –
Was die Koalitionäre von damals hinterlassen haben,das war mehr als nur ein Scherbenhaufen. Es war geradefür die Kinder und Jugendlichen eine Katastrophe; dennmit ihrer hemmungslosen und verantwortungslosenSchuldenmacherei haben CDU/CSU und F.D.P. die jun-ge Generation geradezu bestohlen. Sie haben den jungenLeuten nicht nur den Zuschuß zum Zahnersatz geklaut;vielmehr waren Sie auch auf dem besten Wege, ihnendie Zukunft zu stehlen.
Den Anspruch auf den Zuschuß zum Zahnersatz ha-ben wir den Jugendlichen sofort zurückgegeben. Umden Schuldenberg abzubauen, um eine Politik umfas-sender sozialer Gerechtigkeit überhaupt wieder möglichzu machen, um diesen Staat von Grund auf zu moderni-sieren, brauchen wir etwas mehr Zeit.Ich möchte ein Wort an die Kolleginnen und Kolle-gen der PDS richten. Sie haben einen Antrag vorgelegt,mit dem Sie die Regelsätze der Sozialhilfe um den Be-trag der Kindergelderhöhung anheben möchten.
Ich will einmal davon ausgehen, daß das gut gemeint ist.Man könnte ja auch auf die Idee kommen, es sei einepopulistische Forderung und Sie wollten uns unterstel-len, daß uns die Sozialhilfeempfänger gleichgültig seien.
Ich entgegne Ihnen darauf, daß wir die Sozialhilfe be-reits um 3,5 Prozent angehoben haben, während diePreissteigerungsrate nur bei 0,6 Prozent lag.
Ihr Modell würde dazu führen, daß die Kommunen nochstärker durch Sozialhilfeleistungen belastet würden unddaß sie als Kostenträger mit hoher Wahrscheinlichkeit inPräsident Wolfgang Thierse
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5127
(C)
(D)
anderen kinder- und jugendpolitischen Bereichen Ein-sparungen vornehmen würden.
Das haben wir auch auf dem Kindertag des Kinderhilfs-werks in Berlin – die Ministerin war ja da – mit den hie-sigen Trägern sehr intensiv diskutiert.Wir verfolgen ein anderes Ziel.
Wir wollen nicht nur durch eine aktive Arbeitsmarktpo-litik, sondern auch durch eine Verbesserung der sozialenInfrastruktur die Grundlage dafür schaffen, daß Kinderund Familien unabhängig von der Sozialhilfe werden.
Kollegin Gleicke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schenk?
Nein, ich möchte heute gerne imZusammenhang vortragen.
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht dehnt denArmutsbegriff ausdrücklich auch auf die Lebenslagenund die Umwelt der Kinder aus. Dazu gehören der Zu-gang zu Betreuungseinrichtungen, die Erreichbarkeitvon Schulen, die Spiel- und Freizeitmöglichkeiten zuHause, in der Nachbarschaft und in der näheren Umge-bung. Dort, wo das Wohnen unattraktiv ist, beispiels-weise wegen der hohen Umweltbelastung in den Innen-städten, gibt es soziale Brennpunkte bzw. entstehenneue, wenn man nichts unternimmt. Mit unserem Pro-gramm „Die soziale Stadt“ machen wir die Städte auchfür Kinder und Jugendliche attraktiver. Wir fördern densozialen Wohnungsbau und arbeiten an einer gesamt-deutschen Wohngeldnovelle.Kinder sind eine Bereicherung, nicht nur für ihre El-tern, sondern für die ganze Gesellschaft.
Deshalb ist auch die gesamte Gesellschaft für sie ver-antwortlich. Das sage ich in aller Deutlichkeit an dieAdresse all derer, die von Selbstverantwortung redenund etwas ganz anderes meinen. Auch wir wollen mehrSelbstverantwortung. Wir wollen aber keine Ellenbo-gengesellschaft, in der jeder gnadenlos seine eigenenInteressen verfolgt. Gemeinwohl ist mehr als die Summevon Einzelinteressen. Familien brauchen die Solidaritätder gesamten Gesellschaft.
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht sagt auch, daßes zu den Aufgaben des Staates gehört, einen angemes-senen und bedarfsgerechten Ausgleich zwischen denen,die Kinder haben, und denen, die keine Kinder haben,herzustellen. Es kann und darf doch nicht so sein, daßein Leben ohne Kinder Wohlstand bedeutet und ein Le-ben mit Kindern Verzicht und Entsagung.
Die Familien brauchen Unterstützung sowie gesicherte,überschaubare und gerechte Rahmenbedingungen. Dashat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entschei-dung eingefordert. Diese Entscheidung war gleichzeitigeine nachträgliche Ohrfeige für die christliberale Koali-tion.
Wir haben das Familienförderungsgesetz und eineNeuregelung des Familienleistungsausgleichs auf denWeg gebracht. Ab dem Jahr 2000 gilt ein Betreuungs-freibetrag in Höhe von über 3 000 DM für jedes Kindbis zur Vollendung des 16. Lebensjahrs. Das Kindergeldwird noch einmal auf 270 DM im Monat für das ersteund zweite Kind erhöht. Diese Politik verdient wirklichden Namen Kinder- und Familienpolitik.
Als Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSUund F.D.P., noch an der Regierung waren, haben Siesich nicht darum gekümmert. Das ist schlimm genug.Etwas anderes finde ich ganz einfach beschämend:Ich finde es unerträglich, wie Sie auf die Forderung nachÄchtung der Gewalt in der Familie reagiert haben. Siehaben damals behauptet, die Eltern würden durch ent-sprechende Gesetze in unverhältnismäßiger Weise kri-minalisiert. Wir haben da andere Vorstellungen. UnserLeitbild ist das einer gewaltfreien Erziehung. Durch dasGesetz, das wir auf den Weg gebracht haben, sollenKinder vor körperlicher Bestrafung, seelischen Verlet-zungen und anderen Entwürdigungen geschützt werden.Gleichzeitig wird ein Anspruch auf Beratung in einerNot- und Konfliktlage festgeschrieben. Unser Anliegenist, die Eltern bei ihrer Erziehungsarbeit zu unterstützen.Dabei ist festzustellen, daß die Länder mehr von denSpielräumen im Bereich der Kinder- und JugendhilfeGebrauch machen könnten, die ihnen durch die Ausfüh-rungsgesetze eingeräumt werden. Die Landesjugend-ämter haben hier eine wichtige Funktion, weil sie dieTätigkeit der Träger der öffentlichen und freien Jugend-hilfe und die Weiterentwicklung der Kinder- und Ju-gendhilfe anzuregen und zu fördern haben.Der Kinder- und Jugendplan des Bundes fördertzusätzlich die Handlungsfelder, die Leistungen für Kin-der und Jugendliche bieten. Die Bundesregierung hat dieMittel in diesem Haushalt deutlich – um 12 Millio-nen DM auf insgesamt 192 Millionen DM – erhöht. Wirwerden für die Weiterentwicklung präventiver Konzepteund eine enge und verbindliche Kooperation und Ver-netzung der Angebote sorgen, um frühzeitig, zielgenauund umfassend Kindern und Jugendlichen helfen und siefördern zu können.Die Chancengleichheit bleibt unser Ziel. Sie mußendlich hergestellt werden. Das verlangt von uns eineentschiedene Politik der sozialen Integration und derFörderung benachteiligter Gruppen.Beim Übergang in den Beruf stoßen insbesondereMädchen und junge Frauen nach wie vor auf große Hin-dernisse. Diese massive Benachteiligung im Erwerbs-leben kann nicht länger hingenommen werden. DafürIris Gleicke
Metadaten/Kopzeile:
5128 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
steht das Programm „Frau und Beruf“ der Bundes-regierung.Bundeskanzler Schröder hat in seiner letzten Regie-rungserklärung völlig zu Recht die Frage gestellt, wieunsere jungen Menschen unsere Gesellschaft und unsereZukunft gestalten sollen,
wenn wir ihnen nicht einmal die Möglichkeit geben, fürsich selber zu sorgen. Deshalb war es so wichtig undrichtig, daß die neue Bundesregierung mit dem Sonder-programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit entschlossen gegen diesen gesellschaftlichen Skan-dal vorgegangen ist.
Deshalb ist es gut, daß das Sonderprogramm allen Spar-zwängen zum Trotz fortgesetzt wird. Für das Jahr 2000werden erneut 2 Milliarden DM für laufende und neueMaßnahmen zur Verfügung stehen.
Damit werden Brücken zu Ausbildung und Beruf ge-schlagen.Aber auch die Arbeitgeber werden in die Verantwor-tung genommen. Im Rahmen des „Bündnisses für Ar-beit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ wurde einAusbildungskonsens vereinbart. Allen Jugendlichen, diebis zum heutigen Tage bei den Arbeitsämtern als un-vermittelt gemeldet sind, wird je nach regionalen Gege-benheiten ein möglichst wohnortnahes Ausbildungsver-hältnis im gewünschten Berufsfeld angeboten. Die Wirt-schaft hat zugesagt, 1999 den demographisch bedingtenZusatzbedarf an betrieblichen Lehrstellen zu decken undmindestens 10 000 Lehrstellen zusätzlich anzubieten.Darüber hinaus müssen Ausbildungsverbünde gestärktwerden. Viele kleine und mittlere Unternehmen insbe-sondere im Handwerk sind nicht mehr zu einer vollstän-digen Ausbildung in der Lage. Ihnen müssen starkePartnerbetriebe zur Seite gestellt werden.Wir brauchen zukunftsorientierte Ausbildungsplätze.Wir wollen in die Köpfe investieren. Die junge Genera-tion hat längst verstanden, daß Innovation, Forschungund Technologie wichtig sind. Berührungsängste kenntsie in aller Regel nicht, im Gegenteil. Deshalb wollenwir Zug um Zug die Schulen ans Netz bringen, nicht nurum die Kinder und Jugendlichen mit einer faszinieren-den Technik vertraut zu machen, sondern auch damit sielernen, mit dieser Technik verantwortungsvoll umzuge-hen. Denn die neuen Medien wirken auf die Persön-lichkeit zurück und verändern gängige Wertvorstellun-gen. Wir müssen deshalb Wege finden, unsere Kindervor Inhalten wie Gewaltverherrlichung, Rassismus undPornographie wirkungsvoll zu schützen.
Verbote helfen da nur bedingt weiter. Was wir brauchen,ist eine Erziehung zur Eigenverantwortung. Die Kinderund Jugendlichen müssen einen Sinn darin sehen, in die-ser Welt zu leben. Es geht um die Kultur des Aufwach-sens in unserem Land.Jugendliche lassen sich nicht einfach vorschreiben,welche Wertvorstellungen sie haben sollen. Wenn unse-re Werte Bestand haben sollen, dann müssen sie in derRealität erlebbar sein. Vor allem wollen JugendlichePolitik nicht einfach nur nachvollziehen. Sie wollenvielmehr aktiv mitgestalten. Deshalb werden wir Kin-dern und Jugendlichen helfen, sich stärker direkt an derDemokratie zu beteiligen.Im Bildungsprozeß müssen Eigenschaften erworbenwerden, die für den Erhalt und die Weiterentwicklungeines sozialen und demokratischen Zusammenlebenswichtig sind. Wir stehen in der Verantwortung, dieRahmenbedingungen dafür zu schaffen, daß sich dieKinder und Jugendlichen entfalten und zu selbstbewuß-ten Menschen heranwachsen können.Es besteht die Chance, die Jugend für die Idee eineroffenen, freiheitlichen und sozialen Demokratie zu be-geistern. Das bedeutet einen Staat, der nicht bevormun-det, sondern Freiheit garantiert sowie Chancen und Per-spektiven eröffnet, Bildungsstätten, die jedem Mann undjeder Frau zugänglich sind, soziale Sicherungssysteme,die als Solidargemeinschaften bei Krankheit und Noteintreten und über einen gerechten Generationenvertragim Alter ein Leben in Würde ermöglichen, eine Gesell-schaft, in der es sich lohnt, Verantwortung für andere zuübernehmen.Ich danke Ihnen.
Ich erteile der Kolle-
gin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Der Zehnte Kinder-und Jugendbericht vom 25. August 1998, den unserefrühere Bundesjugendministerin Claudia Nolte vorgelegthat, ist der erste Bericht, der sich ausschließlich Kindernund Jugendlichen unter 14 Jahren widmet.
Er enthält viele Vorschläge, wie die Situation von Kin-dern und Jugendlichen verbessert werden kann. Der Be-richt ist eine gute Grundlage zur Weiterentwicklung derKinder-, Jugend- und Familienpolitik. Er enthält vielepositive Vorschläge.Ich hätte mir seinerzeit im Interesse der Familien undKinder eine sachliche Auseinandersetzung mit den Er-gebnissen des Berichts gewünscht. Doch Sie, meineDamen und Herren von der damaligen Opposition, ha-Iris Gleicke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5129
(C)
(D)
ben einen dreihundertseitigen Bericht auf einen einzigenAspekt verengt, nämlich auf den der Kinderarmut. Werdamals die von Ihnen aufgeregt angezettelte Kampagneverfolgt hat, um den Bericht zu einem reinen Armutsbe-richt abzustempeln, der kann sich heute nur wundern.Sie haben den Bericht zu reinen Wahlkampfzweckenmißbraucht.
Sie haben versprochen, Kinderarmut zu beseitigen.Was ist aus Ihren vollmundigen Versprechungen gewor-den? Sie haben bisher keinen einzigen neuen Arbeits-platz geschaffen. An diesem Maßstab wollten Sie sichimmerhin messen lassen.
Sie planen, die Arbeitslosenhilfe abzubauen. Dieshätte die Folge, daß weitere Haushalte mit Kindernin die Abhängigkeit von Sozialhilfe gelangen wür-den. Die Familien, die bereits von Sozialhilfe leben, ha-ben Sie mit Ihrer Steuerpolitik noch mehr belastet. Denndie Auswirkungen der Energiesteuer treffen diese Fami-lien ganz besonders, ohne daß sie an einer Entlastungdurch eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträgeteilhaben.
Auch die Kindergelderhöhung geht an den Sozial-hilfeempfängern vorbei. Kinderreiche haben Sie grund-sätzlich aus Ihrer Förderung ausgeschlossen; denn esgab keine Erhöhung für das dritte Kind und für weitereKinder. Auch im jetzt eingereichten Gesetzentwurf istdies nicht vorgesehen. Wie wir gestern in der Anhörungzur Familienförderung gehört haben, wird dies von denVerbänden als grobe Ungerechtigkeit empfunden.
Während unserer Regierungszeit haben wir die Lei-stungen für Familien von 27 Milliarden DM auf 77 Mil-liarden DM erhöht, also immerhin fast verdreifacht. Dasmüssen Sie erst einmal nachmachen.
Der Vorschlag zur Umsetzung des Urteils des Bun-desverfassungsgerichtes ist, wie der Präsident des Deut-schen Familienverbandes zu Recht feststellt, nur eineMinimallösung und für Familien eine tiefe Enttäu-schung. Sie haben im Wahlkampf große Erwartungengeweckt, denen Sie jetzt in keinster Weise gerecht wer-den.
Und was das Schlimmste ist: Sie haben nicht nur denBericht, sondern vor allem die sozial Schwachen miß-braucht, um Stimmen zu gewinnen.
Gerade weil das Thema Armut sehr ernst zu nehmen istund wir kontinuierlich daran arbeiten müssen, Armut zuverringern, sage ich Ihnen: Dieses Verhalten ist schäbig.
Keiner von uns hat je bestritten, daß es Armut inDeutschland gibt.
So kann zum Beispiel Arbeitslosigkeit zu einer solchenSituation führen. Wir müssen Armut von den Wurzelnher bekämpfen.
Die Reformen, die wir eingeleitet haben, wurden vonIhnen rückgängig gemacht. Sie dienten der Bekämpfungder Arbeitslosigkeit. Ihre bisherige Politik hat dagegenArbeitsplätze vernichtet.
Ich erinnere nur an das 630-Mark-Gesetz.Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht, der sich aufunsere Regierungszeit bezieht, stellt fest: Kindheit inDeutschland ist eine gute Kindheit. Kinder können ge-sund aufwachsen. Ihnen stehen Schulen und Kindergär-ten offen. Das ist erfreulich. Und doch müssen wir wei-ter darauf hinwirken, daß die Kinderfreundlichkeit in derGesellschaft zunimmt. Kinder und Jugendliche brauchenein Klima der Sicherheit, in dem sie angstfrei lebenkönnen. Sie sind angewiesen auf Anerkennung, Per-spektiven und auch Verläßlichkeit.Was haben Sie denn bislang getan, um Kindern undJugendlichen zu mehr Schutz zu verhelfen? Sie wollten– so sieht es die Koalitionsvereinbarung vor – wirksa-mere Konzepte zum Schutz von Kindern vor sexuellerGewalt entwickeln. Die Bundesjugendministerin be-zeichnet dieses Thema als einen Schwerpunkt ihrer Ar-beit. Aber wo bleiben denn die Konzepte?
Wo bleibt die Weiterentwicklung der einschlägigen Ge-setzgebung?Sie erinnern sich: Auf Initiative der Union wurden inder letzten Legislaturperiode eine Reihe von gesetzli-chen Maßnahmen gegen Sexualverbrechen verabschie-Maria Eichhorn
Metadaten/Kopzeile:
5130 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
det. Ein Meilenstein war das im April 1998 in Kraft ge-tretene Strafrechtsreformgesetz. Es hat für den sexuellenMißbrauch von Kindern und die Verbreitung kinderpor-nographischer Schriften eine stärkere strafrechtlicheBewertung und ein bedeutend höheres Strafmaß als zu-vor festgelegt. Weiterhin haben wir die Sicherungsmaß-nahmen gegen rückfällige Täter verschärft. Besonderswichtig sind auch die von uns initiierten Regelungen zurVerbesserung des Schutzes kindlicher Opferzeugen.Hinzu kommen vielfältige Präventionsmaßnahmen.Bei Ihnen lese ich bisher nur Absichtserklärungen,auch in dem heute vorgelegten Entschließungsantrag,mehr nicht. Sie bräuchten nur unsere Empfehlungenaufzugreifen
und könnten so den Schutz der Kinder wirksam weiter-entwickeln.
Wir fordern, daß das Anbieten von Kindern fürStraftaten des sexuellen Mißbrauchs, besonders mittelsmoderner Kommunikationstechnologien, härter bestraftwird. Es ist Ihre Aufgabe, darauf hinzuwirken, daß inden Mitgliedstaaten der Europäischen Union europaweitausreichende Standards zur Bekämpfung der Kinder-pornographie und sonstiger sexueller Ausbeutung vonKindern und Jugendlichen geschaffen werden.Wie kommen Sie denn Ihrer Pflicht nach, den Ju-gendschutz in den Medien zu verbessern? Bislang Fehl-anzeige! Besonders die neuen Medien bieten vieleChancen, aber auch Gefahren für Jugendliche. Die Uni-on hat dafür gesorgt, daß mit dem Inkrafttreten desInformations- und Kommunikationsdienste-Gesetzesnationale Schutzregelungen geschaffen wurden, die auchinternational Vorbildfunktion haben.Zum Ende der letzten Legislaturperiode hat meineFraktion einen Entschließungsantrag zum nationalen undinternationalen Jugendschutz vorgelegt. Er ist eine guteGrundlage und Fundgrube für Ihre weitere Arbeit, wennSie irgendwann einmal damit anfangen.Die Kinder- und Jugendkriminalität ist ein alarmie-rendes Zeichen, auch wenn glücklicherweise nur eineMinderheit der Jugendlichen kriminelle Taten begeht.Die Kinder- und Jugendhilfe leistet einen wichtigenBeitrag, um Jugendlichen, die auf die schiefe Bahn ge-raten sind, zu helfen. Doch das Grundwissen um Rechtund Unrecht, das der wichtigste Baustein der Präventionist, muß bereits in der Familie vermittelt werden. Hiermüssen zur Herausbildung des RechtsbewußtseinsWerte wie Ehrlichkeit, Treue, Verantwortung und Rück-sichtnahme geprägt werden.Besonders im Hinblick auf jugendliche Täter ist dieelterliche Erziehungsverantwortung zu stärken. Ich fragemich, meine Damen und Herren von der Regierungs-fraktion: Wie sieht Ihr Beitrag zur Bekämpfung der Ju-gendkriminalität aus?
Wenn wir heute ernsthaft darüber sprechen, daß elterli-che Erziehungsverantwortung gestärkt werden soll, dannist es schon ein Stück aus dem Tollhaus, wenn Mitglie-der der Regierungsfraktion Bündnis 90/Die Grünengleichzeitig eine Amnestie für Kleinkriminelle fordern.
Wie sollen denn Eltern darin bestärkt werden, ihrenKindern den Unterschied zwischen Recht und Unrechtbeizubringen? Wie sollen sie die Einsicht in die Folgenvon Gesetzesübertretungen vermitteln, wenn Vertreterder Regierungsfraktionen die Diskussion um Schuld undStrafe der Lächerlichkeit und Beliebigkeit anheimstel-len?
Wir haben mit der Reform des Kindschaftsrechtsdie Rechte von Kindern nachhaltig gestärkt, was in demBericht eine sehr positive Resonanz findet. Die von derRegierung jetzt vorgelegte gesetzliche Festschreibungdes Rechts auf gewaltfreie Erziehung wird nichts brin-gen; denn die bestehenden gesetzlichen Tatbeständewenden sich heute schon gegen unzulässige Erzie-hungsmethoden. In den Köpfen der Eltern und Erzie-hungsberechtigten muß sich etwas tun. Da haben Sie dieMöglichkeit, entsprechende Aufklärungsarbeit zu lei-sten.
Meine Damen und Herren, welche Perspektiven bie-ten Sie den Jugendlichen? Ihr Sofortprogramm gegenJugendarbeitslosigkeit hat sich als Potemkinsches Dorfentwickelt, wie in der „FAZ“ vom 14. September 1999nachzulesen ist.
Kollegin Eichhorn,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolf?
Bitte.
Danke schön. – Frau
Eichhorn, da Sie in Bayern und damit in der Nähe von
Österreich leben und da Sie in der letzten Legislaturpe-
riode Mitglied im Familien- und Frauenausschuß waren,
frage ich Sie, ob Sie sich noch daran erinnern, wie wir
das dort diskutiert haben und was der Vertreter aus
Österreich gesagt hat? Er hat gesagt, auch sie wollten
nicht den Strafrichter in die Ehen bringen. Aber es sei
eine Frage der Bewußtseinsbildung, daß Kinder eine Er-
ziehung erfahren dürften, die gewaltfrei sei. Er sagte, es
sei eine ganz wesentliche Bewußtseinsfrage, und deswe-
gen hätten sie es in ihre Gesetzgebung hineingeschrie-
ben. Können Sie dem folgen – wir machen doch auch
Gesetze zur Bewußtseinsveränderung – und sagen, daß
unsere Kinder gewaltfrei erzogen werden müssen?
Sehr geehrte FrauKollegin Wolf, wir haben mit der Reform des Kind-schaftsrechts bereits einen entsprechenden Passus in dasMaria Eichhorn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5131
(C)
(D)
Gesetz eingefügt – das wissen Sie –, der genau dieserBewußtseinsbildung dient. Eine Kriminalisierung derEltern, liebe Frau Kollegin, lehnen wir auf jeden Fall ab.
Ich komme zurück zu dem Artikel aus der „FAZ“vom 14. September 1999, in dem es heißt, daß sich dasSofortprogramm der Regierung zur Jugendarbeitslosig-keit als Potemkinsches Dorf erwiesen hat;
denn das Programm ersetzt keine Lehrstellen und keineArbeitsplätze.
Zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit wie derArbeitslosigkeit insgesamt müssen Sie endlich eineSteuerreform in Angriff nehmen, die die Wirtschaft, ins-besondere den Mittelstand, entlastet, damit wieder neueArbeitsplätze geschaffen werden. Zur Verbesserung derChancen der Jugendlichen auf dem Ausbildungs- undArbeitsmarkt sollten Sie in den noch von Ihnen regiertenBundesländern – es werden immer weniger – eine Bil-dungsreform vornehmen, die Schüler und Auszubilden-de auch international wettbewerbsfähig macht.Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie ha-ben noch einen weiten Weg vor sich. Nur durch Tatenkönnen Sie beweisen, daß Sie die Verantwortung fürKinder und Jugendliche ernst nehmen; denn Ankündi-gungen ersetzen keine Politik. Und das, was Sie bisherim Bereich der Kinder- und Jugendpolitik gemacht ha-ben, Frau Ministerin, waren nur Ankündigungen.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Anlaß der heutigen Debatte ist eine Serie von Skanda-
len: der Skandal, daß es in einem der reichsten Länder
der Welt Kinderarmut gibt, der Skandal, daß diese
Kinderarmut in den letzten Jahren stark zugenommen
hat, und vor allem der Skandal, daß die alte Regierung
von Union und F.D.P. diesen Skandal zuerst vertuschen
und dann beschönigen wollte.
Dieser Skandal setzt sich leider in dem heute vorlie-
genden Entschließungsantrag von CDU und CSU fort.
Wer die reale Armut in diesem Land, wer die Erkennt-
nisse von unabhängigen, von ihm selbst bestellten Sach-
verständigen ohne schlüssige Argumente anzweifelt,
verspielt für mich jede kinderpolitische Glaubwürdig-
keit.
Unabhängig davon ist festzustellen: Vielen Kindern
in unserem Land geht es heute besser als früheren Gene-
rationen von Kindern. Der Familienalltag ist demokrati-
scher geworden, und der materielle Standard ist besser
denn je, aber eben nur im Durchschnitt, denn Armut ist
leider kein Randgruppenproblem mehr. Sie trifft das
Kind, dessen Vater zuwenig oder keinen Unterhalt be-
zahlt, sie trifft das Kind von arbeitslosen Eltern, und sie
trifft auch immer mehr Kinder in Familien mit regelmä-
ßigem Einkommen. Das ist die Erblast, die die rotgrüne
Regierung hier vorgefunden hat.
Eine kinderfreundliche Politik kann uns erst dann ge-
lingen, wenn sie auch den Wandel in den Familien-
strukturen berücksichtigt. Der Zehnte Kinder- und Ju-
gendbericht fordert aus vielen Gründen mehr Rechte für
Kinder.
Kollegin Deligöz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rönsch?
Nein,ich werde dadurch doch nicht schlauer.
Das heißt zum einen, Kinder als eigenständige Per-sönlichkeiten ernst zu nehmen und ihre Beteiligungs-rechte auszubauen, und auch deshalb fordern die Koali-tionsfraktionen die Rücknahme der Vorbehalte der altenRegierung gegen die UN-Kinderrechtskonvention.Zum anderen wollen wir einen besseren Kinder-schutz; denn es ist längst erwiesen: Die meisten Gewalt-und Sexualverbrecher waren in ihrer Kindheit selbst Op-fer brutalster Gewalt. Dem Kreislauf, daß Täter selbstOpfer waren und später andere zu Opfern machen, wol-len wir durchbrechen. Das Recht von Kindern auf ge-waltfreie Erziehung ist dafür ein wichtiges rechtspoliti-sches Instrument.
Wir werden uns trotz der schwierigen Haushaltslagedafür einsetzen, daß genügend Mittel für Aufklärung,Prävention und Beratung zur Verfügung stehen. Ihr Ein-satz für Beratungsstellen, aber auch für bessere Kinder-betreuungsmöglichkeiten ist sehr lobenswert, liebe Kol-leginnen und Kollegen von der Union, und wenigstensan dieser Stelle deutet sich bei Ihnen ein Kurswechselan. Wir werden Sie an Ihren Taten messen, nicht zuletztin der Länderkammer und in den Kommunen.Thematisieren werden wir in dieser Wahlperiode aberauch die ökologischen Kinderrechte, denn immer mehrKinder leiden an Rückenschmerzen, an Allergien, anchronischen Krankheiten wie Asthma und Neurodermi-Maria Eichhorn
Metadaten/Kopzeile:
5132 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
tis. Viele dieser Gesundheitsprobleme sind umweltbe-dingt. Noch immer werden die Schadstoffgrenzwerte annormalgewichtigen Erwachsenen ausgerichtet, und Luft-schadstoffe werden in Nasenhöhe von Erwachsenen er-faßt. Das muß und das wird eine rotgrüne Umweltpolitikändern.
Leider nur gegen das Votum der Union tritt das neueStaatsangehörigkeitsrecht in Kraft. Hier geboreneKinder ausländischer Eltern werden damit rechtlich vonGeburt an das, was sie nach unserem Willen bereits sindund auch bleiben werden: Sie werden zu Inländern undInländerinnen. Dieses Geburtsrecht auf einen inländi-schen Paß ist nach internationaler Erfahrung ein wichti-ger Baustein für eine gelungene Integration, und es istfair. Kinder ausländischer Eltern können nun zum Bei-spiel an Klassenfahrten ins Ausland teilnehmen, ohnevon Visabestimmungen behindert zu werden.Mitentscheiden müssen Sie von der Opposition aufjeden Fall beim Familienleistungsausgleich. Das Urteildes Verfasssungsgerichts zur Familienbesteuerung hatvor allem auf die Höhe der steuerlichen Freibeträge ab-gestellt. Diese entlasten um so stärker, je höher das Ein-kommen der Eltern ist. Um so wichtiger ist uns deshalbeine weitere Erhöhung des Kindergeldes. Zum 1. Januar2000 wird nun der Freibetrag erhöht, gleichzeitig aberauch das Kindergeld für die ersten beiden Kinder umnochmals 20 DM angehoben.Das bedeutet eine Kindergelderhöhung von jährlich600 DM pro Kind – und das innerhalb der ersten15 Monate der rotgrünen Regierung.
Alleinerziehende mit kleinen und mittleren Einkommendürfen bei dieser Neuregelung des Familienleistungs-ausgleichs nicht benachteiligt werden. Die von uns ein-geholten Expertisen bestätigen, daß dieses Ziel erreich-bar ist.
Ganz wichtig ist mir ein weiterer sozialpolitischerPunkt: Nach der bisherigen Gesetzeslage profitieren So-zialhilfeempfänger von dieser Kindergelderhöhungnicht. Denn das gesamte Kindergeld und damit auch je-de Erhöhung werden als Einkommen gewertet und vonder Sozialhilfe abgezogen. Nach den Befunden imZehnten Kinder- und Jugendbericht über die dramati-sche Erblast in bezug auf Kinderarmut halten wir dies inder Tat für nicht hinnehmbar. Meine Fraktion hat des-halb nach Wegen gesucht, damit die im kommendenJahr anstehende Kindergelderhöhung auch den sozial ammeisten benachteiligten Kinder zugute kommt.
Dafür bieten sich zwei Wege an: Ein Weg ist dieSchaffung eines Sondertatbestands, zum Beispiel für denKinderbetreuungsaufwand, im Warenkorb der Sozialhil-fe. Bei einer solchen Regelung ist allerdings darauf zuachten, daß dieser Posten in der Praxis nicht mit anderenLeistungen verrechnet werden kann, etwa mit den vonden Sozialhilfeträgern übernommenen Kindergartenge-bühren.Ein anderer Weg ist eine Freistellungsregelung imKindergeldgesetz. Die Kindergelderhöhung um 20 DMwird dabei als nicht anrechenbar auf andere Sozialhilfe-leistungen definiert. Eine solche Freistellungsregelungwürde sich in eine lange Reihe von ähnlichen Bestim-mungen einfügen, die schon heute Gültigkeit besitzen,Freistellungsregelungen, die für alle bedürftigkeitsbezo-genen Leistungen gelten, also auch für die Sozialhilfe.Weil der Lösungsweg aus meiner Sicht noch offenist, kann ich dem PDS-Antrag an dieser Stelle nicht zu-stimmen. Ich finde es wieder einmal sehr bezeichnend,daß sich die PDS zwar eine richtige Forderung ans Re-vers heftet, sich aber keine Gedanken über Umsetzungs-probleme macht. Das ist Opposition de Luxe.
Welcher Weg auch gewählt wird, die gute Nachrichtist auf jeden Fall: Wir nehmen diese Sache mehr alsernst. Ich hoffe, daß wir in der Koalition einen gemein-samen Weg dafür finden werden, der nicht nur dasSparpaket schont, sondern auch eine angemesseneKompensation für die Kommunen vorsieht.Auch Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker müssensich dem Kriterium der Generationengerechtigkeitstellen. Die Schuldenlast des Bundes hat sich seit Be-ginn der 80er Jahre mehr als versechsfacht. Jährlichmüssen allein 80 Milliarden DM für Zinszahlungen auf-gewendet werden. Wir meinen: Die Finanzierung derStaatsaufgaben darf nicht auf künftige Generationen ab-geschoben werden.
Dennoch ist klar, daß heute unterbleibende Ausgabenfür eine faire Bildungspolitik nicht folgenlos bleiben.Zur Nachhaltigkeit gehört deshalb auch, daß wir die ex-ternen Kosten einer Sparpolitik offenlegen und vermei-den müssen, also Kosten, die durch Krankheit, sozialenAbstieg sowie durch die Vergeudung von Talenten undvon gesellschaftlichen Ressourcen entstehen. Auch inder Sparpolitik brauchen wir Kostenwahrheit. Generellmuß gelten: Bei den Kurzen wird nicht gekürzt!Gerade in der Kinderpolitik sehe ich es als entschei-dende Aufgabe, die Wahrnehmung für soziale Zusam-menhänge zu schärfen. Denn nur so können wir dieGrundlagen dafür schaffen, daß eine freiheitliche Ge-sellschaft auf Dauer am Leben erhalten wird. Dies solltedas Wissen um die Veränderbarkeit von sozialen Zu-ständen und vor allem den Willen, etwas zu verändern,umfassen. Fehlen diese Voraussetzungen, entsteht einNährboden für autoritäres Denken und repressiveHandlungsmuster. Die Passage im vorliegendenCDU/CSU-Antrag, in dem gefordert wird, daß das Er-wachsenenstrafrecht wieder bei Jugendlichen ange-Ekin Deligöz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5133
(C)
(D)
wendet wird, ist in diesem Zusammenhang ein traurigesNegativbeispiel.
Ähnliches erleben wir übrigens auch bei Migrantinnenund Migranten, deren Probleme nicht auf sozialeSchwierigkeiten, sondern auf scheinbar unveränderlicheFaktoren wie Kultur und Religion zurückgeführt wer-den.Zwei weitgehend verlorene Jahrzehnte in der Kinder-und Jugendpolitik können wir mit einem einzigen Kraft-akt nicht beheben. Der Weg zu einer kinderfreundliche-ren Gesellschaft ist keine Kurzstrecke, sondern ein Ma-rathon. Die rotgrüne Koalition ist auf diesem Weg ersteSchritte gegangen. Sie ist entschlossen, diesen Weg fort-zuführen. Das ist in unserem Entschließungsantrag do-kumentiert, und darauf können wir stolz sein.Danke schön.
Das Wort hat nun
der Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen! Liebe Kollegen! Wir sind uns einig: Kinder sinddie Zukunft unserer Gesellschaft. Deshalb begrüßt dieF.D.P.-Fraktion diese kinderpolitische Debatte in diesemHohen Hause.Wenn unsere Gesellschaft zukunftsfähig werden will,muß sie Kindern mehr Chancen bieten. Der Zehnte Kin-der- und Jugendbericht enthält wichtige Anregungen fürdie zukünftige Kinderpolitik; wir danken ausdrücklichder Kommission für ihre differenzierte und präzise Ar-beit.
Die F.D.P. unterstützt grundsätzlich die von der Kom-mission geforderten Verbesserungen zur Kinderpolitik.Ich möchte auf einiges eingehen.Wichtig für die Entwicklung und das Aufwachsenvon Kindern ist ein intaktes Lebensumfeld. Es mußnicht perfekt und problemlos sein, es muß aber Lösun-gen anbieten. Gute Wohnbedingungen sind für dasAufwachsen der Kinder und für ihre Familien unabding-bar. Aber Kinder brauchen mehr Lebensraum auch imunmittelbaren Wohnumfeld, etwa Spielplätze, Rück-zugsräume und eine kindgerechte Infrastruktur.
Dabei sind die altersspezifisch differenzierten Bedürf-nisse zu berücksichtigen.Wenn wir Kinder als Subjekte betrachten, müssen wirsie ihrem Entwicklungsstand gemäß an den Entschei-dungen beteiligen, die ihr Kinderleben berühren. Bei derPlanung der Stadt, des Wohnumfeldes oder des Ver-kehrs müssen Kinder stärker als bisher in die Entschei-dungen einbezogen werden. Wirkliche mitbürgerlicheKinderbeteiligung stellt nicht nur einen wichtigen Bei-trag zur Lebensumfeldgestaltung für Kinder dar, sondernauch einen Beitrag für Erziehung zu demokratischemGrundverhalten. Wesentlich für eine neue Kultur desAufwachsens unserer Kinder ist aber auch mehr Rück-sichtnahme auf kindliche Bedürfnisse und Verhaltens-weisen im Alltag.Neben diesem äußeren Lebensumfeld müssen wirauch im inneren Lebensumfeld auf die Bedürfnisse derKinder Rücksicht nehmen. Das betrifft insbesonderepornographische, gewaltverherrlichende Darstellungenin den Medien, vor allem im Internet. Es muß einenRaum, auch einen Zeitraum geben, wo sich Kinder freivon schädlichen Einflüssen entwickeln können.Der Familie kommt hier besondere Bedeutung zu.Sie ist der wichtigste Ort für Kinder, um soziale Kom-petenz zu entwickeln. Dabei muß der Begriff der Fami-lie weit gefaßt werden; die heute in der Gesellschaftvielfältig gegebenen Lebensentwürfe müssen berück-sichtigt und toleriert werden. Jede Lebens- und Verant-wortungsgemeinschaft, in der Menschen miteinander le-ben und füreinander einstehen und in der Kinder auf-wachsen, ist gleich zu behandeln; denn es geht umChancengleichheit für die Kinder, nicht um die Bewer-tung der Lebensentwürfe ihrer Eltern.
Selbstverständlich ist die finanzielle Ausstattung derFamilien ein entscheidender Faktor. Leider hat die Dis-kussion um den Begriff der Kinderarmut die Sachdis-kussion um die wirtschaftliche Lage von Familien mitKindern im Kinder- und Jugendbericht zu sehr in denHintergrund gedrängt. Wie Armut zu definieren ist, istumstritten. Die Kommission mißt nicht Armut, sondernEinkommensungleichheit.Unabhängig von der Definition von Armut dürfen diewirtschaftlichen Probleme von Familien mit Kindernnatürlich nicht vernachlässigt werden. Wir verkennennicht, daß es in vielfältiger Weise Not bei Kindern undJugendlichen gibt. Ebenso vielfältig müssen aber auchdie Lösungsansätze sein. Es trifft doch zu, daß geradeFamilien mit Kindern erheblichen finanziellen Belastun-gen ausgesetzt sind. Zugleich wird der Beitrag, den siedurch das Erziehen der Kinder leisten, bisher nicht inausreichendem Maße honoriert. Die steigende Zahl vonKindern, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, ist einAlarmsignal.Die F.D.P. begrüßt, daß die Bundesregierung durchdas Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Han-deln gezwungen wurde. Der von der Bundesregierungvorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Familienförde-rung geht aber unserer Ansicht nach nicht weit genug.
Von der Neuregelung in Form höherer Steuerfreibeträgehaben Familien mit geringem Einkommen nichts: Zwargibt es 20 DM mehr an Kindergeld, doch bei Sozialhil-Ekin Deligöz
Metadaten/Kopzeile:
5134 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
feempfängern wird das Kindergeld mit der Sozialhilfeverrechnet. Bei den sozial Schwächsten kommt von derKindergelderhöhung nichts an.Alleinerziehende werden durch den Wegfall des§ 33 c Einkommensteuergesetz sogar schlechtergeselltals bisher. Dazu kommt, daß die Regierung durch denÖkosteuerunfug Familien mit Kindern in besonderemMaße abschöpft.
Das, meine Damen und Herren, ist keine Familienpolitikfür die sozial Schwachen und schon gar kein sozialpoli-tischer Quantensprung.
Kein Wunder, daß die Enttäuschung bei vielen Familienund vor allen Dingen bei den Familienverbänden sehrgroß ist!
Die F.D.P. fordert, daß das familiäre Existenzmini-mum, das aus dem existentiellen Sachenbedarf des Kin-des, dem Betreuungsbedarf ab dem Jahr 2000 und demErziehungsbedarf ab dem Jahre 2002 besteht, als Fami-liengeld zusammengefaßt wird. Erreicht das familiäreEinkommen dieses Existenzminimum nicht, soll eineAufstockung als Kindergeldzuschlag erfolgen. Zusätz-lich sollte es die Möglichkeit geben, Kinderbetreu-ungskosten als Werbungskosten oder Betriebsausgabenüber den steuerlichen Pauschbetrag hinaus abzusetzen.Meine Damen und Herren, Not bei Kindern und Ju-gendlichen hat aber noch andere Ursachen als die finan-zielle Lage der Familien. Kinder leiden in unserer Ge-sellschaft nicht primär an ökonomischer Armut, sondernvielmehr an emotionaler Armut.
Kinder brauchen Anerkennung und Geborgenheit. Siebrauchen Menschen, die sie schützen, wenn sie nichtweiterwissen oder weiterkönnen. Kinder brauchen buch-stäblich menschliche Nähe und Wärme. Die aus demMangel an emotionaler Zuwendung resultierende Notvon Kindern führt allzuoft zum Mißbrauch von Drogen,zur Ausflucht in Gewalt oder in die Kriminalität. Hiersind neben der Bundesregierung Länder und Kommu-nen, vor allem Kirchen, Schulen und ganz besondersEltern sowie jeder einzelne Bürger verantwortlich. Dasunverzichtbare Engagement des einzelnen für unsereKinder kann nicht durch Gesetze und staatliche Vor-schriften allein verordnet werden.
Kinder sind gegenüber jeder Gewalt, die ihnen ange-tan wird, wehrlos. Besonders unmenschlich ist es, wennKinder von denen verraten werden, denen sie besondersvertrauen: von Eltern und Betreuern. Von den engstenBezugspersonen im Stich gelassen, sind sie mit ihremLeid völlig allein. Wir müssen gemeinsam alles daran-setzen, gegen die Scheußlichkeit des sexuellen Miß-brauchs von Kindern zu kämpfen und Kinder vor einemSchicksal zu bewahren, das eigentlich in unvorstellbarerWeise erniedrigt, demütigt und quält, das ihnen dieKindheit nimmt und ihr ganzes weiteres Leben vergiftet.
Kinderschänder müssen geächtet werden. Wir dürfenaber auch die Opfer nicht allein lassen. Wir müssen allestun, um ihnen trotz der erlittenen Gewalt die Chanceeines erfüllten Lebens zurückzugeben.Die frühere Bundesregierung, meine Damen und Her-ren, hat hier eigentlich Eindrucksvolles geleistet.
Liberale Justizminister wie Klaus Kinkel, Sabine Leut-heusser-Schnarrenberger und Dr. Edzard Schmidt-Jortzighaben mit großem Engagement dafür gesorgt, daß dieHerstellung und Verbreitung kinderpornographischerDarstellungen mit bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug be-straft wird.
und daß der Mißbrauch von Kindern durch Deutsche imAusland auch in Deutschland strafrechtlich verfolgtwird.
Auch die Verbesserung beim Schutz kindlicher Zeugenträgt die Handschrift konsequenter liberaler Rechtspoli-tik.
Meine Damen und Herren, am 20. November wirddie Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationenzehn Jahre alt. Sie ist eine wesentliche Grundlage fürKinderpolitik zur Gestaltung der Zukunft unserer Ge-sellschaft. Die F.D.P.-Fraktion hat die seinerzeitigeVorbehaltserklärung der Bundesregierung bedauert.
SPD und Grüne waren als Oppositionsparteien gegendiese Vorbehalte. Wir fordern Sie auf, der damaligenOppositionshaltung nun auch in der Regierungsverant-wortung das entsprechende Handeln folgen zu lassen.
Wir werden es mit Sympathie begleiten.Heben Sie die Vorbehalte auf. Sachlich ist diese Er-klärung wegen der nicht gegebenen Rechtswirksamkeitohnehin überflüssig. Doch symbolisch wirkt sie wie einVorbehalt gegen fortschrittliche Kinderpolitik. Sie bela-stet den Dialog mit den Kinderorganisationen, die einenwesentlichen Beitrag für die zukünftige Gestaltung un-Klaus Haupt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5135
(C)
(D)
serer Gesellschaft leisten. Die Kinderkonvention mußmit wirklichem Engagement umgesetzt werden, denn sieist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer besseren Weltfür unsere Kinder.Ein wichtiger Punkt der Kinderrechtskonvention istdas Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung. Unse-re Gesellschaft braucht eine verstärkte Sensibilisierungfür gewaltfreie Erziehungsmittel.
Der verhängnisvolle Kreislauf von gelernter und weiter-gegebener Gewalt muß durchbrochen werden. Wir for-dern insbesondere das Familienministerium auf, Über-zeugungsarbeit gerade bei jungen Familien für gewaltlo-se Erziehung zu leisten. Denn die gesellschaftlicheNorm muß klar sein: Gewalt ist kein Erziehungsmittel.
Dieses Denken muß auch das vermeintliche Züchti-gungsrecht ersetzen.Unsere Gesellschaft braucht aber auch Zivilcourageund Engagement der Menschen, die außerhalb der Fa-milien als erste auf Mißhandlung von Kindern aufmerk-sam werden und helfend eingreifen könnten. Ärzte, Leh-rer, Sportvereinstrainer und andere können bei entspre-chender Aufmerksamkeit Gewalt gegen Kinder aufdek-ken und Hilfsmaßnahmen einleiten, wenn sie entspre-chende Hilfen durch die Jugendämter etc. an die Handbekommen.Die von der Koalition mit einer Gesetzesnovelle ver-folgte Absicht, Gewalt in der Erziehung zu ächten, wer-den wir kritisch begleiten. Die F.D.P. wird intensiv anden Beratungen der Gesetzesnovelle mitwirken, um eineklare und praxisnahe Definition des Gewaltbegriffes zuerreichen.
Eltern dürfen nicht kriminalisiert werden. Besonders dieinternationalen Erfahrungen mit einem Gewaltverbot inder Erziehung müssen berücksichtigt werden.Meine Damen und Herren, auch Perspektivlosigkeitist ein Problem für Kinder in unserem Land. Das betrifftalle Felder politischen Handelns. Perspektiven eröffneteine solide Wirtschaftspolitik, zum Beispiel mit einemeinfachen, dreigegliederten Steuersystem, am bestenmit den Steuersätzen 15, 25 und 35 Prozent. Wer stattdessen Industrien von vorgestern subventioniert, wäh-rend er zukunftsträchtige Technologien und Projekteaufs Abstellgleis schiebt, beraubt die jüngere Generationwesentlicher Chancen.
Perspektiven eröffnet eine Bildungspolitik mit flexiblenStrukturen, verkürzten Ausbildungszeiten, höherenQualitätsstandards. Hochbegabte aus allen Bildungs-schichten müssen frühzeitig erkannt und individuell ge-fördert werden.
Ebenso ist die individuelle Förderung von Lern- undLeistungsschwachen sowie von Kindern mit Behinde-rungen unabdingbar. Perspektiven eröffnet der Erhaltder ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Grund-lage für die künftigen Generationen. Ja, wir laufen inDeutschland Gefahr, die Wohltaten von heute durchHypotheken zu Lasten kommender Generationen zufinanzieren.Politik für die Zukunft unserer Kinder bedeutetschließlich auch, Gerechtigkeit zwischen den Generatio-nen herzustellen. Die F.D.P. fordert daher die Bundesre-gierung auf, jährlich eine Generationenbilanz vorzule-gen. Sie muß auf der einen Seite die Leistungen für Bil-dung und Ausbildung und auf der anderen Seite die Be-lastungen durch Staatsverschuldung, Pensionslasten,Generationenverträge wie die gesetzliche Rentenversi-cherung darstellen. Eine solche Generationenbilanz istauch ein wichtiger Baustein für die Sicherung der Zu-kunft unserer Kinder.
Kinderpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Wer einekinderfreundliche Gesellschaft schaffen will, muß in al-len Lebensbereichen mehr Rücksicht auf die Bedürfnis-se von Kindern nehmen. Alles staatliche Handeln mußdaraufhin überprüft werden, ob es der zukünftigen Ge-neration Lasten auferlegt oder sie entlastet. Kinder-freundliche Politik bedeutet, Kinderrechte zu stärken,unseren Kindern Perspektiven offenzuhalten und neuezu eröffnen. Die F.D.P. wird jede Bemühung in dieserHinsicht leidenschaftlich unterstützen.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Das Grundkonzept des ZehntenKinder- und Jugendberichtes geht von dem Konstrukt„Das Kind als Akteur in der Gesellschaft“ und „DasKind als eigenständiges Subjekt“ aus und fragt nach, wieweit die Gesellschaft ihrer Verpflichtung, eine Kulturdes Aufwachsens von Kindern zu erreichen, nachkommtund wie weit sie sie fördert und auch sichert.Es ist der erste Bericht, der ausschließlich der Le-benssituation von Kindern und den darauf bezogenenKinderhilfen gewidmet ist. Neben der umfangreichenund, wie ich meine, berechtigten Diskussion zum ThemaKinderarmut wurde auch den spezifischen Rechten undPartizipationschancen von Kindern breiter Raum gege-ben. Den Sachverständigen, die an diesem Bericht mit-gearbeitet haben, möchte ich an dieser Stelle ein herzli-ches Dankeschön sagen. Professor Krappmann, derLeiter der Sachverständigenkommission, hat ja heute aufder Besuchertribüne Platz genommen und verfolgt dieKlaus Haupt
Metadaten/Kopzeile:
5136 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Debatte zu dem Zehnten Kinder- und Jugendbericht imDeutschen Bundestag.
Es ist gut, daß der Zehnte Kinder- und Jugendbericht indiesem Haus weiter behandelt wird. Ich hoffe, daß er zurGrundlage der Arbeit der Bundesregierung gemachtwird.Enttäuschend sind allerdings einige der vorliegendenEntschließungsanträge. Auf den Antrag der CDU/CSU –und die Bemerkungen, die Frau Eichhorn in ihrer Redegemacht hat – möchte ich nicht weiter eingehen. DerBericht disqualifiziert sich aus meiner Sicht von selbst.Seine Diktion ist noch bornierter und arroganter als sei-nerzeit die Stellungnahme der abgewählten Bundesre-gierung und zeigt eigentlich nur, daß einige Kolleginnenund Kollegen in einer völlig anderen Welt leben. DasProblembewußtsein ist fast gleich null. BezeichnendesBeispiel dafür sind die restriktiven Bewältigungsstrate-gien, wie sie in der Position zur Frage der Jugendkrimi-nalität zum Ausdruck kommen. Wann, meine Damenund Herren der CDU/CSU, sind Sie endlich bereit undfähig dazu, das Kind nicht mehr über die Erwachsenenzu definieren, sondern es als eigenständige Persönlich-keit zu akzeptieren?
Zum Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen.Beginnen möchte ich mit einer positiven Forderung,nämlich der Forderung nach Zurücknahme der Vorbe-halte zur UN-Kinderrechtskonvention durch die Bun-desregierung, die meine Zustimmung und die Zustim-mung meiner Fraktion hat. Ich denke, daß diese Forde-rung schon längst überfällig war.Es gibt aber noch viele Fragen in Ihrem Entschlie-ßungsantrag, die beantwortet werden müssen. Ich denke,daß der Antrag insgesamt akzeptabler gewesen wäre,wenn diese Fassung einen Monat nach der Regierungs-übernahme vorgelegt worden wäre. Heute, mehr als einJahr nach der Bundestagswahl, wirkt er aus meiner Sichteinfach oberflächlich, unkonkret und halbherzig.Sie sind vom Wähler unter anderem beauftragt, diekinder- und familienpolitischen Probleme voranzubrin-gen, an denen sich die Regierung Kohl 16 Jahre lang –wenn sie es auch nicht zugibt – erfolg- und ideenlos ab-gearbeitet hat. Ich frage mich, was Sie mit diesem An-trag erreichen wollen: Warum diese Zurückhaltung undZögerlichkeit? Sie haben die Mehrheit und stellen dieRegierung in diesem Haus. Auf was und wen nehmenSie Rücksicht?Die unter Punkt 4 des Antrages aufgeführten Verbes-serungen in der Kinderpolitik sind beileibe nicht falsch.Aber nach einem Jahr hätten Kinder, junge Menschenund Erwachsene, die sich mit und für Kinder engagierensowie Verantwortung tragen, eigentlich konkretere Aus-sagen erwarten können.
Diese haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Grun-de schon in der letzten Legislaturperiode gemacht. Ichmöchte das an drei Beispielen verdeutlichen.Das erste Beispiel, die Stärkung der Kinderrechte.Wie soll das geschehen? Wollen Sie – wie verschie-dentlich angekündigt – Kinderrechte in die Verfassungschreiben? Wenn ja, in welchem Umfang und wann?Wo ist der entsprechende Antrag, der von der interes-sierten Öffentlichkeit diskutiert und möglichst noch indieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann? Ichbehaupte, daß die Verankerung der Kinderrechte in derVerfassung und deren Bekanntmachen ein weitererSchritt hin zu einem kinderfreundlichen Land ist. Kin-derpolitik wird dann nicht länger Randgruppenpolitiksein.
– Ach, Frau Rönsch, melden Sie sich doch, wenn Sieetwas wissen wollen.
Wir gewähren Ihnen Unterstützung, indem wir erneuteinen Antrag zur Änderung des Grundgesetzes vorlegen,nach dem Kinderrechte in der Verfassung festgeschrie-ben werden sollen. Auf diese Debatte und Ihr Abstim-mungsverhalten, meine Damen und Herren von der Re-gierungskoalition, bin ich schon heute sehr gespannt.Ein zweites Beispiel, die Verbesserung der Tagesbe-treuung für Kinder unter drei Jahren und schulpflichtigeKinder. Welche gesetzlichen Grundlagen wollen Sie da-für schaffen? Wo werden die Zuständigkeiten liegen?Wird es einen Rechtsanspruch auf öffentlich geförderteBetreuung von Kindern von null bis zwölf Jahren geben,der im SGB VIII analog zum jetzigen Anspruch aufeinen Kitaplatz verankert wird? Wie stellen Sie sich –auch uns als PDS werden diese Fragen immer gestellt –die finanzielle Ausgestaltung eines solchen Anspruchesvor? In welchem Umfang beteiligte sich der Bund andiesen Aufgaben?Übrigens: Der Hinweis auf die politische Zuständig-keit der Länder und der Kommunen ist zwar nichtgrundsätzlich falsch, muß aber meiner Meinung nach imFalle einer Erweiterung der Aufgaben der Länder undder Kommunen neu überdacht werden. Wenn derRechtsanspruch auf Tagesbetreuung ausgedehnt wird, istder Bund verpflichtet, sich an den finanziellen Belastun-gen zu beteiligen. Alles andere wäre aus meiner Sichtunseriös.Unsere Forderung dazu ist, Bedingungen dafür zuschaffen, daß eine Ganztagsbetreuung für Kinder vonnull bis zwölf Jahren gesichert werden kann. Dazu wirdes von der PDS-Fraktion einen Antrag zur Vereinbarkeitvon Familie und Beruf geben. Ich verweise an diesemPunkt auf die Frauendebatte, wo Frau Süssmuth genaudiese Forderung unterstützt hat.Das dritte und letzte Beispiel ist die Kinderverträg-lichkeitsprüfung bei allen Gesetzesvorhaben. NatürlichRosel Neuhäuser
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5137
(C)
(D)
unterstützen wir diese Forderung. Wer aber wird diesePrüfung vornehmen? Denken Sie zum Beispiel an einenKinderbeauftragten, an eine Ombudsperson, die mit aus-reichenden personellen und finanziellen Mitteln undpolitischer Kompetenz ausgestattet wird, um diese Prü-fung durchzuführen und ihren Ergebnissen Geltung zuverschaffen? Soll ein Gremium wie die Kinderkommis-sion diese Aufgabe wahrnehmen, was ich übrigens sehrbegrüßen würde? Dann wäre allerdings auch hier eineerhebliche Kompetenzerweiterung und die verbessertepersonelle Ausstattung unverzichtbar.All das sind keine neuen Forderungen. Wichtig istaus meiner Sicht, daß dieser Diskussionsprozeß zurKinderverträglichkeitsprüfung schnellstens im Interesseder Betroffenen geführt wird.Meine Damen und Herren, Herbert Grönemeyers Vi-sion „Gebt den Kindern das Kommando. Die Welt ge-hört in Kinderhände“ mag manchen erschaudern lassen.Ich denke aber, sie ist richtig. Entsprechend den wach-senden Fähigkeiten und Einsichten sollen Kinder selbstan der Lösung ihrer Probleme beteiligt werden. Einemoderne Politik für und mit Kindern muß Mit- undSelbstbestimmung ebenso wie soziale Gerechtigkeitbeinhalten.Kinderfreundliche Politik setzt für mich und meineFraktion zuerst und vor allem die Emanzipation der Er-wachsenen voraus. Da bleibt noch viel zu tun; das hatdie heutige Debatte gezeigt.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rolf Stöckel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Frau Eichhorn, ich habe Ihnen gut zugehört.Ich hatte den Eindruck, daß Sie Ihre Rede vom letztenJahr gehalten haben. Sie hätten eigentlich ein Jahr Zeitgehabt, den Zehnten Jugendbericht zu lesen. Dann hät-ten Sie Ihre falschen Schlüsse auch nicht wiederholenmüssen.
Herr Haupt, ich schätze Sie als Kollegen in der Kin-derkommission. Ich nehme Ihnen voll und ganz ab, wasSie an guten Ideen, mit denen wir die Situation der Kin-der verbessern können, vorgebracht haben. Ich sage Ih-nen aber auch ganz klar: Christdemokraten und Sozial-demokraten hätten sich in 29 Jahren gewünscht, daß dieF.D.P. diese Vorschläge nicht ständig blockiert hätte.
Wie Kinder in Deutschland leben, dokumentiert derZehnte Kinder- und Jugendbericht. So wie dieser Be-richt von der damaligen Regierung behandelt wurde,kommt er allerdings einer Ressourcenverschwendunggleich, und zwar nicht nur in finanzieller, sondern auchin fachlicher Hinsicht. Es lag nicht daran, daß er viel-leicht überflüssig gewesen wäre; nein, es lag vielmehrdaran, daß der Zehnte Jugendbericht die Versäumnisseund die Zukunftshypotheken der 16 Jahre Ihrer Regie-rungsära deutlich widerspiegelte.
Mit der defensiven Stellungnahme der alten Bundes-regierung wurde der Bericht erst auf Druck der Opposi-tionsparteien buchstäblich in den letzten Tagen der 13.Legislaturperiode vorgelegt. Da war es für eine breiteöffentliche Diskussion und Würdigung zu spät. Sie hat-ten Ihre Chance, an der Schwelle zum nächsten Jahrtau-send die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und IhreReformfähigkeit zu beweisen. Sie haben sie nicht ge-nutzt und statt dessen eine beschränkte, selbstgerechteDebatte über die Armut von Kindern in Deutschland undder Dritten Welt geführt.
Das hat uns Sozialdemokraten und die Grünen ver-anlaßt, heute, kurz nach dem Weltkindertag am 20.September 1999 und vor dem 10. Jahrestag der Kinder-rechtskonvention der Vereinten Nationen am 20. No-vember 1999, eine neue Debatte über unseren Entschlie-ßungsantrag anzufachen, die Bewertung des Berichtsvorzunehmen und deutlich zu machen: Das soll Grund-lage unserer Regierungspolitik sein. Eine Politik, die dieProbleme und Zukunftschancen unserer Kinder und dernachfolgenden Generationen aus dem Blick verliert,wird es mit uns nicht geben.
Meine Damen und Herren, es muß damit Schluß sein,daß heute bereits verfrühstückt wird, was die folgendenGenerationen erst noch erwirtschaften müssen. Das istdie Erblast Ihrer Regierung, die Sie uns überlassen ha-ben, und die größte soziale Ungerechtigkeit gerade ge-genüber Kindern und Jugendlichen in unserem Land.
Die Rekordstaatsverschuldung, die Sie zu verant-worten haben, hat die Gestaltungsspielräume von mor-gen in höchstem Maß gefährdet. Die Aussagen, die dazuim Bericht der Sachverständigen stehen, haben Sie in Ih-rer Stellungnahme schlicht bestritten.
Unser Zukunftsprogramm ist ein erster Schritt in eineandere Richtung.
Er reicht noch nicht aus. Weitere werden folgen. Siemüssen auch folgen, wenn der Politikwechsel zu einernachhaltigen sozialen und ökologischen, aber auch öko-nomischen Entwicklung im Interesse der Kinder gelin-gen soll.Meine Damen und Herren, noch nie hat es einen soumfassenden Bericht über die Lebenssituation von Kin-Rosel Neuhäuser
Metadaten/Kopzeile:
5138 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
dern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutsch-land gegeben. Noch nie – der Sachverständigenkommis-sion sei Dank auch seitens der SPD-Fraktion – hat es soviele Anregungen und Empfehlungen für eine Politikgegeben, die sich der unterschiedlichen Lebenswirklich-keit von Kindern stellt und es nicht bei den üblichenAppellen zum Weltkindertag beläßt.Sie, Frau Eichhorn, haben dagegen – auch heute wie-der – zitiert: „Kindheit in Deutschland ist eine guteKindheit“.
Aber Sie haben die Sachverständigen nicht vollständigzitiert. Sie haben sie vorsätzlich falsch zitiert, nämlichdurch die Weglassung von „aber das trifft nicht für alleKinder in Deutschland zu“.Im Grunde wollten Sie nicht wahrhaben und wolltenSie darüber hinwegtäuschen, daß am Ende Ihrer geistig-moralischen Wende immer mehr, nämlich über 1 Milli-on, Kinder von Sozialhilfe leben müssen. Kinder zu ha-ben ist in Deutschland für Normalverdienende immermehr zu einem Armutsrisiko geworden, vor allem weilsich Ihre Familienpolitik, die Sie seit Wuermeling wieeine Monstranz vor sich hertragen, zuletzt schlicht alsverfassungswidrig erwiesen hat.
Der Bericht formuliert dies auch eindeutig. Ich zitieredie Sachverständigen:Wir halten es für einen gesellschaftlichen Skandal,daß der materielle Spielraum der Familien und da-mit ihre sozialisatorische und erzieherische Kraft inden 80er und 90er Jahren durch sämtliche Refor-men des Einkommens- und Steuersystems einge-engt statt erweitert wurde.
Herr Kollege Stök-
kel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Rönsch?
Es tut mir leid, Frau Rönsch.Ich glaube nicht, daß dies der Wahrheitsfindung dient,und dies ist meine erste Rede.
– Sie wissen ja, was das ist.Armut von Kindern war
und ist also ein Thema in Deutschland. Armut bedeuteteben nicht nur finanzielle Armut durch geringes Ein-kommen. Es geht vor allen Dingen um die Folgeerschei-nungen wie die Versorgung mit Arbeit, Bildung undmenschenwürdigem Wohnraum. Es geht um die Ge-sundheit von Kindern sowie um die Teilhabe am gesell-schaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Die Tat-sache, in einem reichen Land zu leben, erfahren Kinderanders als Sie, nämlich aus der Sicht ihrer Lebensum-stände im Vergleich mit den Gleichaltrigen in ihrem Le-bensumfeld.Die Dunkelziffer derjenigen, die auf Grund geringerEinkommen Ansprüche auf Leistungen des Staates hät-ten, diese Ansprüche aber aus Scham oder Unwissenheitnicht einfordern, ist noch weit höher einzuschätzen. Dasheißt, Armut findet mitten in unserer Gesellschaft statt.Die Europäische Kommission hat hier eine klare Defini-tion – Herr Haupt, die müßten auch Sie kennen –: Wermit seinem Einkommen 50 Prozent unter dem Durch-schnittseinkommen in Europa liegt, ist als arm einzu-schätzen. Armut gibt es vor allen Dingen bei Arbeitslo-sigkeit der Eltern, in Einelternfamilien, in kinderreichenFamilien und in Zuwandererfamilien.Mit der Erhöhung des Kindergeldes um insgesamt 50DM, der ersten Stufe der Steuerreform und den erhöhtenFreibeträgen beim Familienlastenausgleich ist es derneuen Regierung gelungen, innerhalb eines Jahres mehrfür die Existenzsicherung von Kindern und Familien zuerreichen als jeder vorherigen Regierung.
Wir hätten gern noch mehr gemacht, und es werdenauch weitere Stufen folgen. Aber das geht bei derErblast, die Sie uns hinterlassen haben, leider nicht so-fort.
Allein die Steuerreform bis 2002 führt bei einer Fa-milie mit zwei Kindern und durchschnittlichem Ein-kommen zu einer Entlastung von durchschnittlich 2 200DM pro Jahr. Unser Zukunftsprogramm macht Schlußmit einer unverantwortlichen und sozial ungerechtenSchuldenpolitik auf Kosten der Kinder und nachfolgen-der Generationen.
– Hört, hört! – Trotz der immensen Erblast, die wir vonIhnen übernommen haben, wird es keine Kürzungen imBundeskinder- und -jugendhaushalt für die Kinder- undJugendhilfe geben.
Uns ist jedes Kind gleich viel wert. Wir werden des-halb nicht nur einen Armuts- und Reichtumsbericht er-stellen, sondern es werden – ich sagte es bereits – weite-re Schritte einer gerechteren und zielgenaueren Sozial-und Steuerpolitik mit weniger bürokratischem Aufwandfolgen.Meine Damen und Herren, ich will darauf eingehen,daß auch innerhalb der Koalition Stimmen laut wurden– ich selbst fand das am Anfang eigentlich auch rich-Rolf Stöckel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5139
(C)
(D)
tig –, die Erhöhung des Kindergeldes bei Sozialhilfe-empfängern nicht als Einkommen anzurechnen. Es liegtheute ein entsprechender Antrag der PDS-Fraktion vor,der schon bewertet wurde. In der Tat wurden die Lei-stungen für Kinder in der Sozialhilfe nicht analog zudem Kindergeld und den Freibeträgen erhöht. Da esbeim Familienleistungsausgleich um die steuerliche Be-rücksichtigung von Kinderbetreuungskosten und nichtetwa um das Existenzminimum steuerpflichtig Beschäf-tigter geht, besteht hier zunächst auch kein Zusammen-hang. Wenn wir die konkreten Zahlen genauer betrach-ten, dann müssen wir feststellen, daß die gesamten mo-natlichen Sozialhilfeleistungen pro Kind durchschnitt-lich 641 DM betragen. Dazu kommen in den meistenFällen – das gilt nicht für alle Bundesländer – die Über-nahme der Kindergartenbeiträge und die Gebührenbe-freiung bei Inanspruchnahme anderer kommunaler Lei-stungen. Gering bis normal verdienende Arbeitnehmerkommen kaum in den Genuß dieser staatlichen Förde-rung. Die Regelsätze bei der Hilfe zum Lebensunterhaltsind von uns zum 1. Juli 1999 um 1,3 Prozent erhöhtworden. Diese Erhöhung lag über der Preissteigerungs-rate von 0,6 Prozent.Ich glaube nicht, daß die komplexen Benachteiligun-gen von Kindern in armen Familien, so wie sie imZehnten Kinder- und Jugendbericht beschrieben werden,durch eine Nichtanrechnung der Kindergelderhöhunggelöst werden können. Bei unterhaltsempfangenden Al-leinerziehenden wird der Betrag außerdem auch nochgeteilt. Was tatsächlich bei den Kindern ankommt – dieskann ich auch aus meiner beruflichen Erfahrung bestäti-gen –, ist äußerst fraglich.Nein, eine vernünftige Politik muß in gemeinsamerAnstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden sowieTarifpartnern an erster Stelle dafür sorgen, daß alles dafürgetan wird, daß Eltern, und gerade auch alleinerziehendeFrauen, die dazu in der Lage sind, wieder Arbeit bekom-men und nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sind.
Eine bedarfsgerechte Sicherung einer menschenwür-digen Existenz derjenigen, die es nicht aus eigener Kraftschaffen können, muß gewährleistet werden. Sie könnensich darauf verlassen, daß die gesamte SPD-Fraktionhinter diesem Ziel steht. In diesem Sinne werden wirauch in Zukunft die Höhe der Sozialhilfeleistungenüberprüfen. Aber eines steht wohl fest: Der Verschiebe-bahnhof der Kohl-Ära muß ein Ende haben.
Sie wissen, daß Sie die Arbeitslosen in die Sozialhilfeabgeschoben haben. Dies muß ich Ihnen nicht erklären.Nicht nur die neue Bundesregierung, sondern auch dieKommunen haben erkannt, daß wir aus der überbüro-kratisierten Verwaltung der Arbeitslosigkeit und derArmut, die während Ihrer Regierungszeit entstanden ist,herauskommen, indem wir sie aktiv bekämpfen. Dies istein guter Weg.
Die 220 Millionen DM, mit denen die PDS die Ge-meinden zusätzlich belasten will, sind meines Erachtensin eine öffentliche Infrastruktur, etwa in zusätzliche Be-treuungsangebote für Kinder und Jugendliche, sicherlichbesser investiert.Auf keinen Fall sollte Sozialpolitik meiner Meinungnach dazu führen, daß es attraktiver ist, Sozialhilfe zubeziehen, als eine Arbeit aufzunehmen und sich weiter-zuqualifizieren. Das Angebot dazu muß allerdings auchbereitgestellt werden. Es geht also nicht darum, Lei-stungsempfänger zu diskriminieren, sondern darum, einevernünftige, menschenwürdige Sozialpolitik zu entwik-keln, die die Selbsthilfepotentiale der betroffenen Men-schen aktiviert und ihnen neue Perspektiven gibt.
Um das zu erreichen, ist eine umfassende Reform – da-von bin ich überzeugt – unserer sozialen Sicherungssy-steme unausweichlich. Ich freue mich auf Ihre Vor-schläge dazu.Lassen Sie mich noch auf die Kinderrechte einge-hen. Am 20. November 1989 wurde die Kinderrechts-konvention von den Vereinten Nationen verabschiedet.Vor fast genau zehn Jahren verpflichtete sich die dama-lige Regierung beim Weltkindergipfel – einem großenEvent –, einen Zehn-Jahre-Aktionsplan zur Umsetzungder Kinderrechte in Deutschland aufzustellen. DiesenPlan hat es leider nicht gegeben.1992 wurde die Kinderrechtskonvention in Deutsch-land ratifiziert. Die damalige Bundesregierung hat sieals Meilenstein der Entwicklung des internationalenRechts gefeiert, allerdings nicht, ohne ihre defensiveHaltung in einer meiner Meinung nach unnötigen undüberflüssigen Erklärung im Anhang des Ratifizierungs-gesetzes zu dokumentieren.
Seitdem fordern über 90 Organisationen, die sich inDeutschland um die Angelegenheiten von Kindernkümmern und die in der National Coalition zusammen-geschlossen sind, die Rücknahme dieser Erklärung. Siehaben 1995 dem VN-Kinderrechtskomitee in Genf eineÜberprüfung Ihrer Vorbehalte versprochen. Allerdingsist nie etwas geschehen. Es wurde von Ihnen ein Vorbe-halt zum Recht des Kindes auf ein grundsätzlich ge-meinsames Sorgerecht der Eltern formuliert, obwohl dieReform des Kindschaftsrechts in Arbeit war und dieKonvention selbst das Kindeswohl bei Trennung derEltern in den Mittelpunkt stellt. Das Kinderrechtskomi-tee der Vereinten Nationen, das die nationale Umset-zung regelmäßig überprüft, begrüßt dagegen sogar aus-drücklich die Stärkung der Rechte der Kinder inDeutschland bei streitigen Sorgerechtsfällen durch unse-re Kindschaftsrechtsreform.Der Vorbehalt hinsichtlich des rechtlichen Beistandesund des Rechtes auf Berufung bei Straftaten in Bagatell-fällen ist formal sicherlich richtig, weil er beim Interna-Rolf Stöckel
Metadaten/Kopzeile:
5140 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
tionalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte er-klärt wurde.Zum Ausländerrecht. Daß in der Konvention für min-derjährige unbegleitete Flüchtlinge ein Recht auf „an-gemessenen Schutz und humanitäre Hilfe“ formuliert ist,wurde von der damaligen Regierung als möglichesSchlupfloch durch das bei uns geltende Einreise-, Asyl-und Ausländerrecht interpretiert. Wenn das deutscheAusländer- und Asylrecht mit den Verpflichtungen ausder Genfer Flüchtlingskonvention, dem Haager Min-derjährigenschutzübereinkommen und der Kinderrechts-konvention der Vereinten Nationen im Einklang steht,dann ist eine Erklärung über den Schutz vor sogenann-ten Fehl- und Überinterpretationen engagierter Flücht-lingsverbände womöglich überflüssig.
Anderenfalls müßte eine Überprüfung des Rechts undder praktischen Konsequenzen unumgänglich sein.Ich begrüße ausdrücklich, daß sich die neue Bundes-regierung für den angemessenen Schutz und die huma-nitäre Hilfe für minderjährige, unbegleitete Flüchtlingeund damit verbunden für ein entsprechendes europäi-sches Einwanderungs- und Flüchtlingsrecht vor allenDingen für Kinder einsetzen will.
Hinsichtlich der Altersgrenze für Soldaten sind wiruns in dieser Gesellschaft einig, daß unter 18jährigenicht zwangsrekrutiert und nicht als Kindersoldaten anKampfeinsätzen teilnehmen dürfen; das ist selbstver-ständlich. Die Bundesrepublik hat sich dafür auf inter-nationalen Konferenzen, unter anderem auf denen derInternationalen Arbeitsorganisation, eingesetzt.Zusammengefaßt: Die weitgehende Rücknahme derVorbehalte-Erklärung der damaligen Bundesregierungwäre ein deutliches Signal für mehr Kinderfreund-lichkeit in Deutschland. Die Bundesregierung sollte inihrem Zweitbericht an das VN-Kinderrechtskomitee,der in diesem Jahr vorgelegt wird, deutlich machen, daßsie im Gegensatz zu Ihnen grundsätzlich offensiv da-rangeht, die Kinderrechtskonvention in Deutschlandumzusetzen, wie es auch die Sachverständigenkommis-sion im Zehnten Kinder- und Jugendbericht empfohlenhat.
Herr Kollege Stök-
kel, Ihre Redezeit ist überschritten.
Meine Damen und Herren, ich
danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, dies war die erste Rede des Kollegen
Stöckel. Unsere herzliche Gratulation!
– Herr Kollege Zöller, man sollte unter diesen Umstän-
den etwas sanfter im Urteil sein.
Nun hat der Kollege Wolfgang Dehnel, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der vorliegende Zehnte Kin-der- und Jugendbericht enthält eine sehr umfassende Be-standsaufnahme und Analyse über die Lage von Kindernund über die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe.Ich muß gleich am Anfang sagen: Herr Stöckel und FrauGleicke, von Erblast und Schuldenberg ist in diesem Be-richt überhaupt nicht die Rede.Im Gegensatz zu Ihnen teile ich das Urteil der Sach-verständigen, daß Kindheit in Deutschland als eine gutebetrachtet werden kann,
zum Beispiel, weil Kinder gesund aufwachsen könnenund weil ihnen Spielplätze, Kindergärten und Schulenoffenstehen. Kinder sind die Zukunft einer jeden Gesell-schaft. Sie brauchen für ihr Aufwachsen optimale Be-dingungen. Wir leben in Deutschland nicht in einer kin-derfeindlichen, aber in einer zunehmend kinderent-wöhnten Gesellschaft. Die demographischen Statistikensprechen eine deutliche Sprache.Um dem entgegenzuwirken, haben die von derCDU/CSU geführte Regierung und unsere Fraktion un-ter Vorsitz von Herrn Dr. Schäuble in den vergangenenJahren enorme Verbesserungen durchgesetzt.
– Ihre Kollegen haben schon gesagt, daß davon über-haupt nichts im Bericht steht. Sie täuschen sich jetztschon wieder. – Allein in den vergangenen Legislaturpe-rioden haben wir den Familienleistungsausgleich – erbesteht aus Kindergeld und Kinderfreibetrag – um rund35 Prozent auf 50 Milliarden DM erhöht.
Die Familienleistungen des Bundes betrugen 1997 fast77 Milliarden DM. Das ist eine Leistung, die Sie nichtkritisieren sollten.
Rolf Stöckel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5141
(C)
(D)
Wir haben dafür gesorgt, daß die Erziehungsleistungbei der Rente stärker anerkannt wird.
Wir haben durch ein Arbeitsprogramm mit vielfältigenMaßnahmen den Schutz unserer Kinder vor sexuellemMißbrauch und vor der Kinderpornographie verbessertsowie die Maßnahmen gegen Kindersextourismus ver-stärkt. Wir haben die Rechte von nichtehelichen Kinderndurch das neue Kindschaftsrecht gestärkt.
Wir haben die Kinderbetreuungsmöglichkeiten durch dieVerankerung eines Rechtsanspruches auf einen Kinder-gartenplatz ausgebaut.
Es ist unmöglich, in zehn Minuten die Vielfalt der imBericht angesprochenen Themen sämtlich einer Bewer-tung zu unterziehen. Zur Verdeutlichung möchte ich denDamen und Herren auf der Tribüne sagen, daß erschließlich vier Hauptthemenkreise, 26 Gliederungs-punkte und 340 Unterpunkte auf 300 Seiten enthält. Da-zu kommen immerhin noch 40 Seiten mit Quellennach-weisen. Diesen Umfang kann man nicht auf einenSchlag bewältigen. Es bedarf also noch einer intensive-ren Auswertung in den verschiedenen Gremien, beiVerbänden und bei Trägern von Hilfeeinrichtungen. Ichbeschränke mich deshalb auf zwei Schwerpunkte desBerichtes: die Kinderarmut und die Kinderrechte.Für die Aussagen der Berichtskommission über einenAnstieg der Kinderarmut gibt es keinerlei Beweise.Das von der Kommission zugrunde gelegte Konzept, dasdie Armutsschwelle bei der Hälfte des Durch-schnittseinkommens der Bevölkerung ansetzt, ist zurMessung von Armut ungeeignet. Es stellt sich nämlichselber in Frage. Würden sich alle Einkommen verdop-peln, wäre nach dieser Definition die Armut trotzdemunverändert hoch. Das gebe ich einmal zu bedenken.Ich selber bin in der Nachkriegszeit in einer kinder-reichen Familie aufgewachsen. Ich habe wie viele Mil-lionen anderer Kinder Entbehrungen und Mangel in derdamaligen Zeit erlebt.
– Darauf komme ich jetzt zu sprechen. – Jedoch habenwir uns nie als arme Familie empfunden. BescheidenerLebensstil und das Leben in und mit der sozialistischenMangelwirtschaft haben sich bei uns tief eingeprägt.Auch das war ein Grund, daß nach den Protesten undDemonstrationen vor nun genau zehn Jahren die Mauerfiel. Ich bin heute froh und glücklich, daß ich jetzt andieser Stelle für mein Land und meine Heimat in diesemHause reden darf.
20 Meter weiter hinter uns befand sich die Mauer. Sietrennte unsere Kinder und Jugendlichen und auch unsselbst von Freiheit und Demokratie. Auch daran sollteman an diesem Tage denken.Ich verweise darauf, daß zwischen 1984 und 1994 dasdurchschnittliche Nettoeinkommen in den alten Bun-desländern um 50 Prozent gestiegen ist. Auch das realeEinkommen der einkommensschwachen Haushalte istgestiegen. Die von der Kommission vorgenommeneGleichsetzung von Armut und Sozialhilfebezug ist nichtakzeptabel. Insbesondere kann die steigende Zahl derSozialhilfeempfänger kein Hinweis auf wachsende Ar-mut in unserer Gesellschaft sein, da durch Leistungsver-besserungen der Kreis der Leistungsberechtigten ausge-weitet wurde.In Ostdeutschland haben sich die Einkommensver-hältnisse seit der Wiedervereinigung ebenfalls deutlichverbessert. Das reale Haushaltseinkommen hat sich al-lein von 1990 bis 1994 verdoppelt. In den neuen Bun-desländern lag der Anteil der Kinder und Jugendlichenaus einkommensschwachen Haushalten 1996 nach wievor niedriger als in den alten Ländern.Ganz besonders möchte ich hervorheben, wie es indem neuen Bundesland aussieht, aus dem ich komme:nämlich Sachsen. Die Berichtskommission führt nebender materiellen Problematik unter anderem aus, daßKinderarmut auch dann entstehen könne, wenn sozialeEinrichtungen fehlen würden. Dies sei in den neuenLändern deutlich geworden, als nach der Wende Betreu-ungseinrichtungen für Kinder weggefallen seien. DieseAussage kann ich für Sachsen nicht bestätigen. Ich beto-ne ausdrücklich: In Sachsen kann jedes Kind einen Platzin der Kinderkrippe, im Kindergarten oder im Schulhortbekommen, wenn seine Eltern dies wollen. Sachsen hatin dieser Hinsicht keine Probleme.
In Wirklichkeit wurden und werden nämlich zwei Sach-verhalte unzulässig vermischt: Aus dem Schließen vonKindereinrichtungen wird automatisch die Schlußfolge-rung gezogen, es seien nicht genügend Plätze vorhan-den. Natürlich wurden Kindereinrichtungen auch inSachsen geschlossen, aber zum Teil wegen Asbestver-seuchung, zum Teil wegen Baufälligkeit, deren Ursa-chen dem DDR-Regime anzulasten sind. Der Haupt-grund liegt aber darin, daß die Geburtenzahl zurückge-gangen ist. Der Platzabbau wurde also hauptsächlichdurch die demographische Entwicklung bestimmt.Weiterhin stellt die Kommission auf Seite 89 zwarfest – Sie merken, ich habe den Bericht gelesen –, daßein zentrales Merkmal von Armut Einkommensarmut seiund daß als arm gelte, wer Sozialhilfe beziehe oder we-niger als die Hälfte des statistischen Pro-Kopf-Einkommens in der Bundesrepublik erreiche. Sie sagtaber auch, daß Armut als Gefährdung der Aufrechter-haltung der physischen Existenz in Deutschland heuteWolfgang Dehnel
Metadaten/Kopzeile:
5142 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
selten sei. Insofern wird gesagt, daß es unterschiedlicheDefinitionen und Meßverfahren für Armut gibt. Daherist es nicht möglich, eine zutreffende Zahl für das Aus-maß an Armut unter Kindern und ihren Familien zu er-mitteln. Ich schlage deshalb vor, künftig diesen Armuts-begriff, der sehr umstritten ist, nicht mehr zu verwenden.Statt dessen sind die bestehenden sozialen Differenzie-rungen exakter zu analysieren und ihre Folgen für dieEntwicklung kindlicher Sozialsituationen genauer zuhinterfragen.Meine Damen und Herren, zum Themenkomplex„Kinder und ihre Rechte“ ist die Kommission der Auf-fassung, daß die Rechte der Kinder in der Sache aus-reichend in der Verfassung verankert sind, ganz im Ge-gensatz zu Ihnen, Frau Neuhäuser, die Sie hier etwasanderes wollen. Auch in den Gesetzen für Kinder- undJugendschutz, im alten Jugendwohlfahrts- und im neuenKinder- und Jugendhilfegesetz, sowie in der im Oktober1997 verabschiedeten Kinderstrafrechtsreform hat nachmeiner Auffassung die Verantwortung der Eltern undder Gesellschaft ebenso genügend Platz gefunden wiedas Recht der Kinder auf Schutz, Erziehung und sozialeAbsicherung.Ich zitiere:Eine zusätzliche rechtlich zwingend vorgeschriebe-ne Instanz zur Klärung von Konflikten zwischenMinderjährigen und ihren Eltern unterhalb derSchwelle der Gefährdung des Kindeswohls hält dieKommission für nicht erforderlich.So die Kommission.Bei aller Sorge um zunehmende Gewaltbereitschaftfinde ich diesen Standpunkt richtig. Körperverletzungensind auch jetzt schon strafbar. Die Aufgabe muß dage-gen heißen: Konfliktdeeskalierung im kleinen Familien-kreis genau wie in der großen Politik. Programme zurProphylaxe sind hier allemal besser als Therapie. DerAntrag der CDU/CSU-Fraktion zeigt Ihnen unsere Vor-schläge auf, wie kinder-, jugend- und familiengerechteWeichenstellungen auszusehen haben. Der vorgelegteKoalitionsentwurf eines Gesetzes zur Ächtung der Ge-walt in der Erziehung wird dieser umfassenden und dif-fizilen Problematik überhaupt nicht gerecht.
Wie will man denn Ächtung einklagbar machen? Wiewird die Beweislast gehandhabt? Auch in dieser Hin-sicht bleibt die Bundesregierung uns viel zuviel schul-dig.
Konzeptionslosigkeit ist auch hier ihre deutliche Hand-schrift.Meine Damen und Herren, ich bin der festen Über-zeugung, daß das soziale Netz in der Bundesrepublikeines der besten der Welt ist. Es ermöglicht ein Leben inWürde, wie das Grundgesetz in Art. 1 vorgibt.
In Würde zu leben hat aber auch etwas mit Eigenver-antwortung zu tun. Diese zu stärken muß zuallererst un-sere Aufgabe sein.
Die Förderung sozial schwacher Bürger muß die glei-che Aufmerksamkeit finden wie die Förderung der Lei-stungsträger, die erst die Grundlagen für den sozialenAusgleich schaffen. Wenn dieses Prinzip verlassen wird– die gegenwärtige Regierungspolitik bestätigt mich indieser Ansicht –, wird die Zukunft für Kinder und Ju-gendliche verbaut. Denn Zukunftssicht dürfen wir auchnicht durch Parolen der PDS vernebeln lassen wie „Rot.Radikal. Rüstig.“, wie ich sie auf diesem Blatt hier zei-gen kann. – Das stammt aus der Vergangenheit; wir tununseren Kindern und Jugendlichen das Schlechteste an,wenn wir so Wahlkampf machen.Ein letztes Wort. In dem Bericht sind die Wörter„Liebe“, „Zuwendung“, „Vertrauen“ und „Zutrauen“überhaupt nicht enthalten. Das müssen Väter und Mütterimmer noch selber verinnerlichen. Dazu sind wir alle indiesem Land aufgerufen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrteDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht, den wir heutehier debattieren, führt uns noch einmal vor Augen, daßdie Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen inden Mittelpunkt der Politik gehört.
Junge Menschen stehen in einer sich immer schnellerwandelnden Gesellschaft vor Herausforderungen. Mäd-chen und Jungen scheinen immer früher aus ihrer Kind-heit ins Erwachsenenleben hineinzuwachsen. Mittler-weile rangieren bei Kindern vielfach auch die Ängsteder Erwachsenen ganz oben auf der Sorgenskala. DieseÄngste sind zum Beispiel die vor der Erwerbslosigkeitder Eltern oder vor der eigenen Zukunft, in der sie mög-licherweise selbst einmal arbeitslos werden.Aufgabe unserer Gesellschaft und damit auch Aufga-be der Politik muß es sein, diese Ängste ernst zu nehmenund Perspektiven aufzuzeigen.
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht ist eine klareBewertung der Politik der alten Bundesregierung unddamit eine Bestandsaufnahme ihres Scheiterns. Das ha-ben wir von den Kolleginnen und Kollegen heute schondes öfteren gehört. Eine Politik, die Familien mit Kin-dern 16 Jahre lang mit einem angestaubten Familienbe-griff im Blick hatte, ist Ausdruck davon, daß die alteWolfgang Dehnel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5143
(C)
(D)
Bundesregierung seit Jahren eher neben dem Leben alsmitten im Leben stand.
Erinnern wir uns an die Debatte, die wir vor mehr alseinem Jahr geführt haben, in der Frau Nolte den Ar-mutsbegriff wegdefinieren wollte. Dies war angesichtsder Probleme, die in diesem Bericht angesprochen wer-den, ein hilfloses Unterfangen. Die Zahl von über1 Million Kindern, die hier bei uns mit Sozialhilfe großwerden, spricht eine deutliche Sprache. Nicht nur dieseTatsache alleine ist dramatisch. Vielmehr müssen diemöglichen Folgen der Kinderarmut erschrecken.
– Nein, Frau Rönsch, auch ich gestatte keine Zwischen-frage.
Frau Rönsch, das können Sie doch wohl akzeptieren,oder?
– Hören Sie mir doch einmal zu!Soziale Ausgrenzung, die schon in der Schule be-ginnt, und gesundheitliche Probleme wie Sprach- undEßstörungen sowie Konzentrationsschwächen zeigenuns das Ausmaß der Kinderarmut. Dies haben BerlinerÄrzte in den letzten Tagen in einem Aufruf deutlich ge-macht. Es kann nicht sein, daß wir unsere Augen davorverschließen. Die sozialen Probleme in unserer Gesell-schaft lassen sich nicht wegdefinieren.[Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Es kann nicht sein, daß diese Regierungnicht weiß, über was sie redet!)Die sozialen Probleme müssen wir lösen, so schwierigund kompliziert sie manchmal auch erscheinen mögen.Im ersten Jahr der rotgrünen Regierung haben wirFamilien mit Kindern entlastet. Das reicht natürlichnoch nicht aus. Besonders die Familien mit Kindern, dienicht über mindestens ein Erwerbseinkommen verfügen,müssen eine spürbare Verbesserung erfahren. Es kannnicht sein, daß sie zum Beispiel von der Kindergelder-höhung nicht profitieren. Meine Kollegin Ekin Deligözhat auf diesen Punkt schon vorhin hingewiesen. Auchich sehe hier konkreten Handlungsbedarf.Die Ergebnisse des Zehnten Kinder- und Jugendbe-richtes müssen für uns also eine Herausforderung sein,die Probleme der Kinder und Jugendlichen ernsthaft zulösen. Junge Menschen brauchen ein sozial sicheresUmfeld, um gestärkt in unsere Gesellschaft hineinzu-wachsen. Dafür müssen und werden die Koalitionsfrak-tionen weiterhin arbeiten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutierenheute nicht nur über den Zehnten Kinder- und Jugendbe-richt, sondern auch über das EU-Aktionsprogramm„Jugend“. Gerade für viele junge Menschen ist Europalängst nicht mehr nur eine fixe Idee. Vielmehr bietet ih-nen Europa immer öfter echte Perspektiven. Der euro-päische Gedanke, die konkrete Ausgestaltung des Zu-sammenlebens Europas, spielt für junge Menschen eineimmer größere Rolle, ob es sich um ein Auslandsstudi-um in Spanien, einen Job in den Niederlanden mitWohnort auf der deutschen Seite der Euregio oder umein Schuljahr in der jeweiligen französischen Partner-gemeinde handelt. Nicht zuletzt ist diese Entwicklungdem Jugendaustausch und dem Engagement von Schu-len und Trägern zu verdanken, das zum Teil weit überden Rahmen von EU-Programmen hinausgeht.Die im Aktionsprogramm „Jugend“ zusammenge-führten unterschiedlichen Programme bündeln die gutenErfahrungen der vergangenen Jahre und schaffen neueWege in der europäischen Politik und in der europäi-schen Jugendarbeit. Das von der Kommission und denEU-Jugendministern verabschiedete Mehrjahrespro-gramm stellt drei wichtige Ziele in den Mittelpunkt: er-stens die Förderung der Motivation Jugendlicher, sicham Aufbau der EU aktiv zu beteiligen, zweitens dieStärkung des solidarischen Gedankens und drittens dieFörderung von Unternehmergeist und Kreativität.Bei all diesen Punkten sind die Begegnung und dieAuseinandersetzung mit unterschiedlichen Kulturen undden verschiedenen europäischen Realitäten eine wichti-ge Grundlage für Toleranz auch im eigenen Land.
Mit dem Aktionsprogramm werden nicht nur Chancenfür junge Menschen eröffnet; vielmehr ist es auch einBaustein zur Bekämpfung von Nationalismus undFremdenfeindlichkeit. Rassismus, Antisemitismus undFremdenfeindlichkeit treten wir am wirkungsvollstenentgegen, wenn wir das Engagement Jugendlicher imfremden kulturellen und sprachlichen Kontext unterstüt-zen und die sozialen sowie persönlichen Fähigkeiten undKompetenzen möglichst vieler junger Menschen stär-ken. Gerade die europäischen Freiwilligendienste för-dern diese Fähigkeit und schaffen eine gute Möglichkeit,über den nationalen Tellerrand hinaus Perspektiven zuentwickeln.Im vorliegenden Entschließungsantrag haben sich dieKoalitionsfraktionen darüber hinaus noch einmal daraufverständigt, ein nationales Freiwilligengesetz auf denWeg zu bringen. Dabei geht es in erster Linie um dierechtliche Absicherung deutscher Freiwilliger im Aus-land und ausländischer Freiwilliger bei uns. Die Vor-stellung meiner Fraktion schließt dabei ausdrücklich dieEinbeziehung von außereuropäischen Freiwilligen ein.Wir wollen freiwilliges Engagement junger Bürgerinnenund Bürger stärken und die Freiwilligendienste konti-nuierlich und strukturell ausbauen. Dazu gehört auch,daß wir dieses Engagement nicht nur den olympiareifenJugendlichen ermöglichen, sondern gerade auch be-nachteiligten jungen Menschen europäische Perspekti-ven eröffnen.Christian Simmert
Metadaten/Kopzeile:
5144 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Freiwilliges Engagement setzt aber auch Partizipationjunger Menschen vor allem an der Erwerbsarbeit vor-aus. Nach wie vor ist die Erwerbsarbeit das entscheiden-de Identitätskriterium gerade für junge Menschen. Wennschon Kinder Angst vor Arbeitslosigkeit haben, dannmuß jede Anstrengung unternommen werden, damit sichdiese Angst in Perspektive wandelt. Dabei sind wir allegefordert.
Die Koalition hat im Gegensatz zur verflossenen Kohl-Regierung Worten auch Taten folgen lassen. Mit demSofortprogramm „JUMP“ haben wir einen ersten gutenSchritt getan. Auch das reicht noch nicht aus. Deshalbgeht das Programm nächstes Jahr in die zweite Runde,Frau Eichhorn. 180 000 Jugendliche haben wir bis jetztin diesem Programm, und ich hoffe, es werden nochmehr. Damit eröffnen wir Perspektiven.Politik für Kinder und Jugendliche bedeutet, ihnenmit qualifizierter Ausbildung und Arbeit Chancen zugeben, das heißt auch, Jugenderwerbslosigkeit zu the-matisieren und alle gesellschaftlichen Kräfte zu mobili-sieren, um den jungen Menschen zu zeigen: Wir entzie-hen uns nicht unserer Verantwortung, in die Zukunft derJungen zu investieren. Dies gilt insbesondere für Mäd-chen und junge Frauen, benachteiligte Jugendliche so-wie Migrantinnen und Migranten.Verantwortung bezieht sich aber nicht nur auf die so-zialen Probleme und auf die Gestaltung einer kinder-freundlichen Gesellschaft. Der Zehnte Kinder- und Ju-gendbericht – Kollege Stöckel hat vorhin darauf hinge-wiesen – fordert zu Recht die volle Anerkennung derUN-Kinderrechtskonvention.
Am 20. November dieses Jahres besteht die Kinder-rechtskonvention nunmehr seit zehn Jahren – höchsteZeit, die Vorbehalte der alten Bundesregierung aufzuhe-ben. Bündnis 90/Die Grünen haben immer wieder kriti-siert, daß die dort formulierten internationalen Rechteder Kinder nicht vorbehaltlos anerkannt wurden. HerrHaupt, ich freue mich, daß auch Sie diesen Kurs unter-stützen. Ich frage mich nur, warum Sie dann nicht auchunseren Entschließungsantrag unterstützen.
– Darauf komme ich gleich noch.Besonders geht es uns um die Rechte und Bedürfnissevon Kindern als Asylsuchende. Das Kindeswohl giltauch hier vorrangig, besonders in bezug auf Familienzu-sammenführung, Ausweisung von Kindern in sichereDrittstaaten oder bei der sogenannten Flughafenrege-lung. Alle Kinder, egal ob sie Flüchtlinge sind odernicht, egal wo auf dieser Welt sie leben, haben überalldie gleichen Rechte.
Deshalb folgen die Koalitionsfraktionen in ihremEntschließungsantrag der Forderung des Zehnten Kin-der- und Jugendberichts, die Vorbehalte der früherenBundesregierung gegenüber der UN-Kinderrechtskon-vention zurückzunehmen. Ich gehe davon aus, daß dieneue Bundesregierung alles in ihrer Macht Stehende tut,um das auch umzusetzen.
Ich komme zum Schluß. Nehmen wir den ZehntenKinder- und Jugendbericht zum Anlaß, um deutlichPartei für Kinder und Jugendliche zu ergreifen! Belassenwir es nicht bei einer Debatte im Deutschen Bundestag,sondern machen wir uns im nationalen, europäischenund internationalen Rahmen an die Arbeit, um dieRechte und Chancen von Kindern und Jugendlichen zustärken!Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
zu einer Kurzintervention der Kollegin Hannelore
Rönsch, CDU/CSU-Fraktion.
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nach-dem es mir bei drei Vertretern der Regierungsfraktionennicht gelungen ist, eine Antwort zu bekommen, habe ichmich für den Weg der Kurzintervention entschlossen.
– Nein, ich mache jetzt eine Intervention und will Siedarauf hinweisen, daß Sie noch im vergangenen Jahr dieWahlkampfkeule „Kinderarmut in Deutschland“ ge-schwungen haben. Sie haben jetzt einen Entschließungs-antrag vorgelegt, in dem das eigentlich gar nicht mehrvorkommt. Sie haben das Wort Armut auch heute immerwieder im Munde geführt, aber Sie haben es nicht rich-tig definiert.Wenn Sie Armut mit Sozialhilfebezug gleichsetzen,dann schauen Sie sich bitte bei den europäischen Nach-barn um. Eine Familie mit zwei Kindern in den altenBundesländern erhält 2 900 DM Sozialhilfe. Ich hätteIhnen gerne die Frage gestellt, ob Sie diesen Betragkennen und ob Sie das mit Armut gleichsetzen. Wir vonder CDU/CSU-Bundestagsfraktion tun dies nicht.Ein Weiteres. Wenn Sie immer wieder Zahlen dafüranführen, daß die Zahl der Kinder, die Sozialhilfe be-ziehen, ansteigt, so verschweigen Sie aber wohlweislich,wo die Ursache liegt. Die Bundesrepublik Deutschlandist das Land, das mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bos-nien und aus dem Kosovo aufgenommen hat als alle an-deren europäischen Länder zusammen und das mehrAsylsuchende aufgenommen hat als andere europäischeLänder. Wenn dadurch die Sozialhilfe für Kinder insge-samt steigt, dann denke ich, ist das ein Zeichen dafür,daß unser Land Familien in Not aufnimmt. Sie könnenChristian Simmert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5145
(C)
(D)
dies aber nicht mit einer zunehmenden Armut bei denKindern in Deutschland gleichsetzen.
Kollege Simmert,
wollen Sie erwidern? – Bitte.
Frau Rönsch, ich mache es kurz. Niemand hat hier Zah-
len gegengerechnet. Das haben Sie gerade gemacht.
Ich habe vorhin darauf hingewiesen
– hören Sie doch einmal zu! –, daß es eine Initiative von
Ärzten gibt – auch hier in Berlin zum Beispiel in Wed-
ding –, die sich sehr engagiert dafür einsetzen, deutlich
zu machen, daß die Folgen von Kinderarmut in der
Bundesrepublik auch gesundheitlicher Natur sind. Das
müssen wir zur Kenntnis nehmen, und darüber müssen
wir diskutieren.
Das ist eine gesellschaftliche Realität, der wir uns
stellen müssen. Ich glaube aber, bei dieser Diskussion
werden wir nie auf einen Nenner kommen. Ehrlich ge-
sagt möchte ich da mit Ihnen auch nicht auf einen Nen-
ner kommen, weil ich dazu eine völlig andere politische
Position habe als Sie.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Unterschiedliche Anträge liegen auf dem
Tisch. Im CDU/CSU-Antrag heißt es, der Zehnte Kin-
der- und Jugendbericht ist gut und wichtig und zeigt:
Wir waren als Regierungsparteien auf dem besten Wege,
die aufgezeigten Probleme zu lösen. Einfach peinlich,
Frau Eichhorn, Frau Rönsch und Herr Dehnel. Ich sage
Ihnen: Es nützt überhaupt keinem Bericht, gut und
wichtig zu sein, wenn er nicht zugleich ernst genommen
wird. Auch deshalb haben wir auf eine allgemeine Lau-
datio verzichtet und statt dessen einen konkreten Antrag
zugunsten von Kindern und Jugendlichen gestellt. Das
Konkrete sind in diesem Fall die Rechte und Chancen
von Kindern und Jugendlichen sowie Ungerechtigkeiten
gegenüber Sozialhilfeempfängern.
Ich erinnere daran, wir diskutieren über diesen Be-
richt zur Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen
nicht im luftleeren Raum, sondern in Berlin. Wer von
Ihnen schon über die Straße „Unter den Linden“ bzw.
über den Reichstag hinausgekommen ist, kann erleben,
was mit schönen Bildern eben nicht erfaßt wird. Weit
über eine viertel Million Menschen leben in dieser Stadt
von Sozialhilfe – Tendenz steigend, vor allem bei Al-
leinerziehenden. Für die betroffenen Kinder und Ju-
gendlichen bedeutet dies Armut und Rückstufung von
klein auf, zumeist mit lebenslangen Folgen.
Weil das reale Leben häufig anders ist als das bean-
tragte, kann ich Ihnen von der CDU/CSU nur empfeh-
len, folgenden Satz aus Ihrem Antrag einmal im Berliner
Wedding oder auch in Friedrichshain zu plakatieren. Ich
darf zitieren:
Die ansteigende Zahl der Sozialhilfeempfänger ist
kein Hinweis auf wachsende Armut in unserer Ge-
sellschaft. Sozialleistungen verhindern existenzbe-
drohende Armut und schaffen sie nicht.
Das klingt, als würde ich mich ins Gewitter stellen und
sagen, die vielen aufgespannten Regenschirme lassen
nicht auf Regen schließen, denn Schirme regnen ja
schließlich nicht.
Wirklich, ein bemerkenswerter Beitrag der CDU/CSU
zum Thema soziale Gerechtigkeit, zumal – um im Bild
zu bleiben – dies weder etwas am Gewitter ändert noch
an der Tatsache, daß der Regenschirm nicht wasserdicht,
sprich: daß Sozialhilfe eben nicht armutsfest ist.
Wir fordern die Bundesregierung mit unserem Antrag
auf, eine offensichtliche Ungerechtigkeit zu korrigieren.
Es war richtig, das Kindergeld anzuheben, aber es
bleibt ungerecht, das kleine Mehr ausgerechnet bei jenen
abzuziehen, die es am nötigsten brauchen, den Sozialhil-
feempfängern,
was übrigens erneut belegt: Kinder werden eben nicht
als Kinder definiert, sondern nach wie vor rechtlich und
finanziell als Anhängsel ihrer Eltern. Geht es den Eltern
schlecht, haben die Kinder Pech gehabt, geht es den El-
tern gut, sind uns auch die Kinder lieb und teuer.
Aufgrund der Redezeit kann ich leider hier und jetzt
nicht auf Ihre natürlich bedenkenswerten Argumente
gegen die rechtliche Lösung eingehen. Ich sage Ihnen
aber: Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet, und ich
freue mich auf die Debatte dazu in den Ausschüssen.
Lassen Sie uns im Interesse der Kinder hier eine Rege-
lung finden, und lassen Sie uns darüber hinaus, wenn die
Debatte konkret wird, dafür sorgen, daß alle Kinder –
mit deutschem Paß und ohne deutschen Paß – an dieser
Stelle nicht mehr in die Situation kommen, daß sie als
zweit- oder drittklassig angesehen werden.
Danke schön.
Ich erteile das Wortdem Kollegen Hans Peter Bartels, SPD-Fraktion.Hannelore Rönsch
Metadaten/Kopzeile:
5146 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich will hier zu einem The-
ma sprechen, das zwischen den Fraktionen des Bundes-
tages nicht strittig und dennoch nicht völlig unbeachtlich
ist. Es geht um das Europäische Aktionsprogramm „Ju-
gend“. Wie wichtig dieses Thema den Regierungsfrak-
tionen ist, mögen Sie schon daran sehen, daß in der Ko-
alitionsvereinbarung nicht ein-, sondern zweimal aus-
drücklich der Ausbau des europäischen Jugendaus-
tauschs gefordert wird. Dies findet nun mit der Einfüh-
rung des gemeinschaftlichen Aktionsprogramms „Ju-
gend“ statt. Wir begrüßen das ausdrücklich.
Die bereits laufenden Programme „Jugend für Euro-
pa“ und „Europäischer Freiwilligendienst“ werden ge-
bündelt und um weitere Aktionen angereichert. Davon
erhoffen wir uns noch mehr Breitenwirkung.
Unsere Zielgruppe ist riesengroß. 54 Millionen Ju-
gendliche in der EU sind derzeit im austauschfähigen
Alter, also zwischen 15 und 25 Jahren. 80 000 haben im
vergangenen Jahr am Austausch teilgenommen. Das ist
eine große Zahl, aber es sollen noch mehr werden. Des-
halb sind die Mittel für die nächsten fünf Jahre auf 350
Millionen Euro erhöht worden, also etwas weniger als
700 Millionen DM.
Mit der vorliegenden Beschlußempfehlung des Ju-
gendausschusses fordern wir die Bundesregierung, die ja
willig ist, auf, die Bedingungen für das Wirksamwerden
des europäischen Jugendprogrammes weiter zu verbes-
sern. So soll sie in der EU darauf hinwirken, daß die
Teilnehmer am Freiwilligendienst, die also sechs bis 12
Monate im Ausland arbeiten, einen eigenen aufenthalts-
und sozialversicherungsrechtlichen Status bekommen.
Der Freiwilligendienst ist ja im Gegensatz zum Aus-
tauschprogramm „Jugend für Europa“ noch neu. Bisher
haben erst 6 000 Jugendliche daran teilgenommen. Aber
spätestens durch das neue Fünfjahresprogramm wird er
zu einer Institution. Deshalb brauchen wir die Herstel-
lung von Rechtssicherheit für die Jugendlichen.
Auch der Anspruch auf Kindergeld soll beim Frei-
willigendienst im Ausland fortbestehen. Daran wird im
Finanzministerium – quasi im Vorgriff auf unseren Be-
schluß heute – bereits gearbeitet.
Wir fordern darüber hinaus zur rechtlichen Sicherheit
von grenzüberschreitenden Diensten deutscher Freiwil-
liger generell ein nationales Freiwilligengesetz. Die
vergangene Bundesregierung hatte sich auf diesem Ge-
biet für Abwarten entschieden nach dem Motto: Erst
einmal sehen, ob die europäischen Freiwilligendienste
von Dauer sind. Sie sind von Dauer. Deshalb fordern wir
jetzt klare Regelungen. Denn die Jugendlichen sollen
genau wissen, worauf sie sich einlassen.
Wir treten in der Beschlußempfehlung des Ausschus-
ses außerdem ein für eine zügige Umsetzung des Pro-
gramms, für gezielte Öffentlichkeitsarbeit, für eine bes-
sere Vorbereitung und Begleitung der Freiwilligen, für
die Einbeziehung aller Lebensbereiche junger Menschen
– dies betrifft Bildung, Sport, Kultur und Freizeitaktivi-
täten – in die kurzzeitigen Austauschprogramme, für die
Öffnung des Programms für Jugendliche, die bisher be-
nachteiligt waren, für Geschlechtergerechtigkeit – das
sollte klar sein –, für einen höheren Anteil von Freiwil-
ligendienstlern aus und in Nicht-EU-Staaten und
schließlich natürlich für mehr Geld. Denn wir sollten
uns nichts vormachen: Die Erhöhung des Etats für die
nächsten fünf Jahre kann durch die EU-Osterweiterung,
die wir ja wollen und die wir beschleunigen wollen,
schnell aufgezehrt werden.
Deshalb: Freuen wir uns über das Interesse, das En-
gagement und die Begeisterung vieler junger Menschen
für Europa! Seien wir froh, daß wir in den nächsten Jah-
ren ein gutes europäisches Jugendprogramm haben wer-
den. Aber lassen Sie uns uns schon jetzt dafür einsetzen,
die Bedingungen des Austauschs in der Zukunft noch zu
verbessern.
Vielen Dank.
Dies war die erste
Rede des Kollegen Hans Peter Bartels. Unsere herzliche
Gratulation!
Nun erteile ich das Wort Kollegin Katherina Reiche,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beratenheute die Vorlage der EU-Kommission für das gemein-schaftliche Aktionsprogramm „Jugend“. Das Pro-gramm soll in den Jahren 2000 bis 2004 an die Stelle derbisherigen Programme „Europäischer Freiwilligen-dienst“ und „Jugend für Europa“ treten. Das Programmverfolgt drei sehr wichtige Ziele: den Ausbau des euro-päischen Bildungsraumes, die Förderung der Beschäfti-gungschancen für europäische Jugendliche und nichtzuletzt die Förderung persönlicher und sozialer Kompe-tenzen im Hinblick auf Toleranz und mitmenschlicheSolidarität. Selbstverständlich finden diese Ziele dievolle Unterstützung meiner Fraktion und – da bin ich si-cher – die des ganzen Hauses.Die Neuerung, die bisherigen gemeinschaftlichenAktivitäten in bezug auf die Jugendbildung außerhalbder Schule und die Jugendförderung in einem eigenstän-digen Programm zusammenzufassen, wird ebenso be-grüßt wie die bessere Verzahnung mit den bereits beste-henden, überaus erfolgreichen Programmen SOKRA-TES und LEONARDO. Die Neuerungen dienen der Ef-fizienz und – das ist im europäischen Rahmen besonderswichtig – der Transparenz. So weit, so gut.Über die Ziele des Programms und die organisatori-schen Veränderungen gab es in den Ausschußberatun-gen keine nennenswerten Meinungsverschiedenheiten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5147
(C)
(D)
Ich will aber an dieser Stelle deutlich auf einige Kritik-punkte der CDU/CSU hinweisen. Diese beziehen sichsowohl auf die Ausgestaltung des Programms selbst alsauch auf die Beschlußempfehlung des federführendenAusschusses.Einer der Kritikpunkte betrifft die finanzielle Ausge-staltung des Programmes. Das vergangene EuropäischeParlament hatte 800 Millionen Euro für die nächstenfünf Jahre veranschlagt. Die Kommission hat diesenVorschlag auf 600 Millionen Euro reduziert. Der Rat hatdieses Jahr schließlich beschlossen, lediglich 350 Mil-lionen Euro zur Verfügung zu stellen. Sparen ist in Zei-ten knapper Kassen sicherlich eine sehr löbliche Ab-sicht. Beim Aktionsprogramm „Jugend“ müssen wir unsaber die Frage stellen, ob mit dieser Summe das Ziel desProgrammes überhaupt noch verwirklicht werden kann.Es ist völlig klar, daß selbst der von der Kommissionvorgeschlagene Betrag von 600 Millionen Euro nur einTropfen auf den heißen Stein europäischer Jugendarbeitist.
Der gesamte Ansatz liegt damit niedriger als bei-spielsweise der Jahresetat des Deutsch-FranzösischenJugendwerkes. Ich erwähne dies nur, um Ihnen dieDimensionen und die Relationen dieses Programmsdeutlich zu machen. Wenn die für dieses Programm vor-gesehenen Mittel unter der Empfehlung der Kommissionbleiben, laufen wir Gefahr, daß das Programm zur rei-nen Symbolik wird. Das wäre nicht im Interesse deseuropäischen Gedankens.
Es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob der EU dereuropäische Jugendliche weniger wert ist als die euro-päische Kuh. Wir fordern deshalb die Bundesregierungauf, darauf hinzuwirken, dem Programm einen ange-messenen Finanzrahmen zur Verfügung zu stellen.Die nächsten beiden Kritikpunkte richten sich auf dieVerteilung der ohnehin schon knappen Mittel innerhalbdes Programms. Wir sind der Meinung, daß innerhalbdes Programms ein Mißverhältnis zwischen dem Euro-päischen Freiwilligendienst und dem Jugendaustauschbesteht. Insgesamt wird der Jugendaustausch nur knappein Drittel der finanziellen Mittel bekommen. Dies kanntrotz der Bedeutung des Freiwilligendienstes nicht rich-tig sein, da der Jugendaustausch eine ungleich höhereBreitenwirkung erzielt. Die neue Kommission hat indieser Frage bereits Zustimmung signalisiert; unsereForderung wird also von dieser Seite unterstützt.Der Kritikpunkt richtet sich auf einen Aspekt, der mirals Abgeordnete aus Brandenburg ganz besonders amHerzen liegt, nämlich die Einbeziehung der mittel- undosteuropäischen Nachbarn. Die Osterweiterung derEuropäischen Union ist eine der größten Aufgaben dernächsten Jahre. Sie dient der wirtschaftlichen und politi-schen Stabilität unserer Nachbarn im Osten; nur so kannlangfristig der Frieden in Europa gesichert werden.
Sie liegt deshalb auch im besonderen Interesse und inder Verantwortung der ostdeutschen Länder.Ein wichtiger Eckpunkt dieses Prozesses muß dieeuropäische Jugendarbeit sein. Die Generation der jetzt15- bis 25jährigen in West- und Osteuropa wird die EUmaßgeblich prägen. Diese Generation muß Gelegenheithaben, sich in Gruppen zu begegnen, um individuelleErfahrungen vom jeweils anderen Teil zu sammeln, umErfahrungen auszutauschen.Deshalb ist es begrüßenswert, daß das gemeinschaft-liche Aktionsprogramm in den letzten Jahren mehr undmehr für die Staaten Mittel- und Osteuropas geöffnetwurde. Auch die vorliegende Beschlußempfehlung fürdas Programm für die Jahre 2000 bis 2004 sieht eineTeilnahme dieser Staaten ausdrücklich vor. Die Beteili-gung ist aber, gemessen an der Bedeutung der bevorste-henden Osterweiterung, äußerst gering.Für die Jugendlichen aus den Mitgliedsländern, dieeinen Freiwilligendienst in einem Drittland leisten wol-len, stehen in dem Programm 6 Prozent des gesamtenEFD-Titels zur Verfügung. Bisher entfiel dabei zirka dieHälfte, also 3 Prozent der Mittel auf die Länder Mittel-und Osteuropas. 3 Prozent dieses Etats für den Aufbauvon Freiwilligenstrukturen in den beitrittswilligen Län-dern – das ist einfach zuwenig. Es erscheint mir im Hin-blick auf diese Aufgabe nicht angemessen.
Das Jugendaustauschprogramm ist besonders geeig-net, Toleranz zu fördern und Fremdenfeindlichkeit zubegegnen. Besonders in den neuen Ländern richtet sichFremdenfeindlichkeit häufig gegen Bürger aus Mittel-und Osteuropa. 20 Prozent der Mittel sollen zwischen2000 und 2004 in den Austausch mit Drittländern gehen;davon entfällt nach bisherigen Erfahrungen die Hälfteauf Projekte in den östlichen beitrittswilligen Ländern.Wie beim EFD erscheinen die vorgesehenen Mittel, zir-ka 10 Prozent des Aktionsbudgets, im Hinblick auf dieAufgabe der vorbereitenden Integration der mittel- undosteuropäischen Staaten als unzureichend.Hinzu kommt, daß die Länder Mittel- und Osteuropasihre Teilnahme am Aktionsprogramm mit Devisen er-kaufen müssen. Dafür nehmen sie erhebliche Einschnittebei ihrer nationalen Jugendarbeit in Kauf. Dies fördertbei den betroffenen Jugendlichen nur wenig die Aufge-schlossenheit gegenüber einem geeinten Europa und dereuropäischen Idee. Die bisherige Form der finanziellenBeteiligung dieser Länder an dem Aktionsprogrammsollte deshalb überdacht werden, zumal mögliche wirt-schaftliche Krisen eine Teilnahme dieser Länder amAktionsprogramm bis zu ihrem EU-Beitritt gefährdenkönnten.Unsere Vorschläge für eine verstärkte Einbeziehungder mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten fan-den im Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Ländereine breite Zustimmung. Dennoch wurde der Verbesse-rungsvorschlag von der SPD abgelehnt.
Katherina Reiche
Metadaten/Kopzeile:
5148 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Als Begründung für diese Ablehnung wurde angegeben,daß der europäische Entscheidungsprozeß in dieser An-gelegenheit bereits abgeschlossen sei und man deshalbkeine Verbesserungsvorschläge mehr zu machen brau-che.Meine Damen und Herren von der SPD, ich finde esschade, daß Sie unsere Vorschläge entgegen Ihrer Über-zeugung mit formalen und unrichtigen Argumenten ab-gelehnt haben, nur um einem Antrag der Oppositionnicht zustimmen zu müssen.
Das ist dem Thema, mit dem wir uns hier beschäftigen,unangemessen.
Ich erneuere deshalb meine Forderung an die Bundesre-gierung, beim Aktionsprogramm „Jugend“ die zukünfti-gen Beitrittsstaaten in Mittel- und Osteuropa stärker zuberücksichtigen.Schließlich möchte ich noch anmerken, daß die Leit-linie des Programms, nämlich die Schaffung eines euro-päischen Bildungsraumes im Rahmen einer Politik derWissensförderung, ein wichtiges Ziel verfolgt, das je-doch – und das ist problematisch – über die in Art. 126der EG-Verordnung geregelten Befugnisse der EUhinausgeht. Das europäische Verständnis der Bürgerbeinhaltet, daß sich Europa nur dort engagiert, wo es dasGesetz vorsieht.Ein weiterer Grund, warum wir der Beschlußemp-fehlung nicht zustimmen werden, ist die rotgrüne Forde-rung nach einem nationalen Freiwilligengesetz, das diedeutschen Teilnehmer im Ausland rechtlich absichernsoll. Diese Forderung ist sicherlich gut gemeint. Wirsind aber davon überzeugt, daß es eines solchen Geset-zes nicht bedarf und lediglich die derzeitigen Regelun-gen zu ergänzen sind. Die Einheitlichkeit des Pro-gramms verlangt, wenn überhaupt, eine europäische Re-gelung, die national umgesetzt werden muß.Schließlich möchte ich noch ein Wort zu den imKommissionsvorschlag vorgesehenen „EuropäischenWissenszentren“ auf lokaler und regionaler Ebene ver-lieren. Diese halte ich für überflüssig, zumal die Gefahrbesteht, daß sie bestehenden Programmen Konkurrenzmachen. Dies wäre nicht im Sinne des Erfinders und wi-derspräche dem eigentlichen Sinn des Aktionspro-gramms „Jugend“, dem wir uns alle – das betone ichzum Abschluß – verpflichtet fühlen.Vielen Dank.
Auch dies war eineerste Rede, und zwar die der Kollegin Reiche. Unsereherzliche Gratulation!
Nun erteile ich der Bundesministerin Christine Berg-mann das Wort.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin sehrfroh darüber, daß wir heute noch einmal Gelegenheithaben, über diesen Zehnten Kinder- und Jugendberichtzu diskutieren. Die Debatte im vergangenen Jahr litt jaetwas unter Schlagseite. Wir haben sehr viele Aspektedieses umfangreichen und wichtigen Berichtes über-haupt noch nicht – jedenfalls nicht im Plenum – disku-tiert.Die Debatte wird, wie ich glaube, auch über diesenTag hinaus weitergehen; denn dieser Bericht bietet einewichtige Analyse der Lebenssituation von Kindern inunserem Land. Er gibt auch wichtige Empfehlungen da-für, wie man die Entwicklung von Kindern und Jugend-lichen vorantreiben kann. Nun muß einem ja nicht allesgefallen, was in dem Bericht steht, und man muß auchnicht jeden Punkt aufgreifen. Aber wenn man solche Be-richte in Auftrag gibt, dann sollte man sich nach meinerMeinung mit ihnen wenigstens ernsthaft auseinanderset-zen
und sehen, was man aus ihnen für die eigene Kinder-und Jugendpolitik schöpfen kann.Da sind wir auf einem guten Wege. Ich werde Ihnengleich darstellen, was wir alles schon getan haben. Aberwir haben hier auch noch eine ganze Menge gemeinsamzu tun. Wenn ich „wir“ sage, meine ich damit nicht nurdie Bundesregierung, sondern genausogut die Länderund Kommunen, die Verbände sowie viele Gruppen inder Gesellschaft. Schließlich müßte eine „Kultur desAufwachsens“ von Kindern in unserer Gesellschaft, wiees in dem Bericht formuliert wird, uns allen gemeinsamsehr am Herzen liegen.
Es geht darum, die Integration junger Menschen inStaat und Gesellschaft zu fördern. Integration bedeutetauch, Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichenGründen benachteiligt sind und am Rande der Gesell-schaft stehen, zu unterstützen, ihre Benachteiligung aus-zugleichen und ihnen auf diesem Wege gleiche Chancenzu geben. Ein zentraler Punkt unserer Politik ist daherdie Chancengerechtigkeit.
Dabei denke ich zuallererst an Kinder in Familien, dievon Sozialhilfe leben, an Kinder, deren Eltern arbeitslossind, und an Kinder und Jugendliche, die mit ihren El-tern in sozialen Brennpunkten leben.Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht hat uns sehrdeutlich vor Augen geführt, welche Dimension die Ar-mut von Familien in Deutschland inzwischen ange-nommen hat. Nun will ich hier die Armutsdebatte nichterneut führen; das haben wir im vergangenen Jahr aus-giebig getan. Es geht auch gar nicht darum, wie man dieKatherina Reiche
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5149
(C)
(D)
Armutsgrenze definiert. Vielmehr geht es um Chancen-gerechtigkeit.
Alle Kinder müssen wirklich gleiche Chancen in dieserGesellschaft haben. Als ich 1945 in die Schule gekom-men bin, bin ich natürlich barfuß gegangen, aber alleanderen in der Klasse auch. Das ist der Unterschied zuder Situation, die wir heute vorfinden.
Sie wehren sich deshalb so dagegen, weil Sie wissen,daß Sie das selbst zu verantworten haben. Sie habenschließlich in den letzten Jahren regiert. Guckt man sicheinmal die letzten Bundesverfassungsgerichtsbeschlüssean – auch Sie sollten sie einmal sehr gründlich lesen –,dann stellt man an einer Reihe von Punkten fest, was inden letzten Jahren alles nicht umgesetzt wurde.
Es muß jetzt wirklich darum gehen, wie wir schrittweisedie Lücken schließen und Familien deutlich entlasten.Dazu muß ich noch ein weiteres Wort sagen: Es warja geradezu abenteuerlich, Frau Eichhorn, daß Sie erklärthaben, wir hätten hier nur Versprechungen abgegeben,sie aber nicht gehalten.
Das jetzt vorgelegte Paket zur Familienentlastung zeigt,daß wir unsere Versprechungen halten. Mehr noch: Wirhaben 30 DM mehr Kindergeld versprochen und sindjetzt bei 50 DM.
Wir haben eine steuerliche Entlastung durch Senkungdes Eingangsteuersatzes vorgenommen.Das ist vor allen Dingen für junge Familien mit Kin-dern wichtig.
Wir haben den Grundfreibetrag erhöht. Das wissen Siealles. Es könnte alles mehr sein; da gebe ich Ihnen recht.Wir alle würden ja gern mehr verteilen,
weil wir wissen: Es gibt immer noch eine Schere zwi-schen denen, die Kinder erziehen, und denen, die keineKinder erziehen. Wir werden dranbleiben; das sage ichIhnen in allem Ernst.
Aber klar ist auch, daß wir damit aufhören müssen, neueSchulden aufzuhäufen. Denn das zu tun ist auch keinegute Kinder- und Jugendpolitik.
Das ist ja einer der Hauptgründe, warum wir das„Zukunftsprogramm 2000“ vorgelegt haben und sagen:Wir müssen an dieses Thema rangehen; wir müssen denHaushalt konsolidieren. Denn ich denke, ein solcherHaushalt, wie wir ihn vorgelegt haben, ist auch einStück nachhaltiger Kinder- und Jugendpolitik.
Wir verlagern die Schulden nicht auf die nächsten Gene-rationen.Wie ernst wir die Kinder- und Familienpolitik neh-men, zeigt sich daran, daß wir in diesen Bereichen keineEinsparungen vornehmen. Das hat Herr Stöckel schongesagt. Im Bereich des Kinder- und Jugendplanes wirdim nächsten Jahr die gleiche Summe zur Verfügung ste-hen; dasselbe gilt für den Bereich der Familienleistun-gen, und das, obwohl ich, wie Sie alle wissen, 880 Mil-lionen DM einsparen muß. Die Prügel werde ich dannan anderer Stelle bekommen. Ich kann mit dieser Prio-ritätensetzung sehr gut leben.
Kinder sind traditionell die schwächsten Glieder ineiner Gesellschaft. Wer sie in unsere Gesellschaft inte-grieren will, muß ihnen auch besonderen Schutz zu-kommen lassen, muß Kinderrechte stärken, und zwaralle und ohne Vorbehalt.
– Könnten Sie ruhig zuhören, auch Sie, Frau Rönsch?Das hilft ja manchmal.
Ich will auf zwei Punkte eingehen. Der eine betrifftdas Recht auf gewaltfreie Erziehung und der andere dasRecht auf Partizipation in unserer Gesellschaft.Mit dem Recht von Kindern auf gewaltfreie Erzie-hung, für das ein Gesetzentwurf vorliegt, wollen wirauch eine Bewußtseinsänderung bei Eltern erreichen;wir wollen keinesfalls die Familie kriminalisieren. Dashaben wir nun schon hundertmal gesagt. Ich verstehe ei-gentlich gar nicht, warum Sie sich so dagegen wehren.Wenn man – wie Sie das ja auch tun – beklagt, daß dieGewalt in der Gesellschaft zunimmt, dann muß mandoch, wenn man etwas dagegen tun will, ganz unten, beiden schwächsten Gliedern, anfangen,
dann muß man Familien, auch wenn es dort manchmalnicht ganz konfliktfrei zugeht, dazu bringen zu sagen:Wir wenden keine Gewalt an; Gewalt ist immer einBundesministerin Dr. Christine Bergmann
Metadaten/Kopzeile:
5150 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
schlechtes Beispiel. Gewalt setzt eine Spirale der Gewaltin Gang. Wenn wir das nicht nur rechtlich verankernund das betreffende Gesetz ändern, sondern auch mit ei-nem Aktionsprogramm, mit Hilfen für Eltern, mit In-formation, mit Aufklärung, mit Erziehungshilfen ver-binden, dann ist das eine sehr vernünftige Sache. Wirwissen natürlich, daß wir nicht innerhalb von 14 Tagenin dieser Beziehung die Welt verändern können. Auchandere Länder haben dazu ein paar Jahre gebraucht.Lassen Sie uns aber doch erst einmal gemeinsam denWeg beschreiten, der dazu führt, daß es weniger Gewaltin der Gesellschaft gibt.
Frau Eichhorn, wenn Ihnen das so viele Problememacht, gebe ich Ihnen jetzt in allem Ernst, ohne Häme,einen guten Rat – es gab jetzt viele Kinderversammlun-gen, auch im Vorfeld des Weltkindertags –: Setzen Siesich einmal mit Kindern zusammen, legen Sie ihnen dieKinderrechte vor, und fragen Sie die Kinder, was für siePriorität hat. Erstaunlicherweise wird dann überall dasRecht auf gewaltfreie Erziehung genannt. Kinder fühlensich in ihrer Würde verletzt, wenn dieses Recht nichtgewährleistet wird. Da können wir doch alle etwas tun.
Wir wollen im Rahmen eines begleitenden Aktions-programms die Erziehungskompetenz der Eltern stärken;wir wollen die Zusammenarbeit mit den Familienbe-ratungsstellen und mit den Familienverbänden vor Ort –dabei können Sie alle mithelfen – verbessern, damitEltern eben mehr Hilfe und Unterstützung bekommen.Dieses Aktionsprogramm und diese Änderung des Ge-setzes sollen deutlich machen, daß gewaltfreie Erzie-hung ein gesellschaftliches Anliegen ist, für dessenRealisierung alle in der Gesellschaft Verantwortung tra-gen.
Um einen verantwortlichen Umgang der Gesellschaftmit Kindern und Jugendlichen geht es auch im Hinblickauf diejenigen, die straffällig werden. Dazu ist in denAnträgen ja das eine oder andere zur Sprache gekom-men. Ich glaube, daß hier vor allen Dingen eine nüchter-ne Betrachtung notwendig ist. Nur ein ganz verschwin-dend geringer Teil der Kinder- und Jugendkriminali-tät ist gravierender Natur. Kinder kommen nicht alsKriminelle auf die Welt; sie werden zu Kriminellen aufGrund schlechter Vorbilder, negativer Erfahrungen oderbelastender Umstände. Wir müssen also immer deutlichmachen: Die meisten Kinder sind eben nicht kriminell,und gravierende Fälle gibt es ganz wenige.
Das, was wir in erster Linie tun können und müssen,ist die Gewaltprävention zu stärken, um den jungenMenschen mit Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfeden Weg zurück in die Gesellschaft zu weisen. HärtereStrafen sind eben kein geeignetes Mittel, um junge Men-schen von Straftaten abzuhalten. Es geht um Präventionund intensive Betreuung. Dabei will ich gar nicht allesaufzählen, was es an Projekten gibt. Gerade haben wirein neues auf den Weg gebracht: In mehreren Städtenwerden die schwierigen Kinder in einer ganz intensivenambulanten Betreuung gemeinsam mit den Eltern übereine gewisse Zeit begleitet. Die Erfahrungen damit ausanderen Ländern, insbesondere aus den Niederlanden,sind sehr positiv. Auch ich verspreche mir davon etwas.Vielleicht kommen wir so in der Debatte ein Stück wei-ter.Chancengerechtigkeit in der Kinder- und Jugendpoli-tik herstellen zu wollen bedeutet auch, den Eltern – hiermeine ich Mütter und Väter – die Chance zu geben, Be-ruf und Familie zu vereinbaren, um den Lebensunterhaltfür sich und ihre Kinder zu verdienen. Dafür brauchendie Familien – dies ist ein ganz schwieriger Punkt – eineordentliche Infrastruktur, brauchen sie Kinderbetreu-ungseinrichtungen.
Wir wissen, daß es noch ganz erhebliche Lücken gibt.Natürlich liegt die Zuständigkeit zunächst einmal beiden Kommunen und den Ländern. Aber wir sind bereit,bei der Förderung auch unkonventionelle Wege zu ge-hen, um zum Beispiel beim Thema Ganztagsschulenweiterzukommen.
Schule und Jugendarbeit müssen besser miteinanderverzahnt werden. Es darf nicht sein, daß auf der einenSeite die Schulen nachmittags leer stehen und auf deranderen Seite Eltern dadurch, daß sie berufstätig sind,ein Problem haben, weil sie nicht wissen, was ihre Kin-der inzwischen tun. Also: Lassen Sie uns versuchen, zu-sammen mit Ländern und Kommunen das Problem zulösen! Dabei ist es – das sage ich an die PDS – nicht ein-fach mit einem Gesetz getan. Wir brauchen dafür wirk-lich Unterstützung von allen Seiten. Das fängt in denKöpfen an. Das fängt damit an, ob man akzeptiert, daßMütter in gleicher Weise wie Väter erwerbstätig sind,und entsprechende Voraussetzungen dafür schafft.
Ich will auf einen Punkt von den Anregungen undEmpfehlungen des Zehnten Kinder- und Jugendberichteszu sprechen kommen, den wir schon umgesetzt haben:Mir geht es um die Integration der Kinder von Zuwande-rern.
Frau Ministerin, ge-statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Bitte schön.Bundesministerium Dr. Christine Bergmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5151
(C)
(D)
Frau Ministerin, Sie haben gera-de den Wunsch der Bundesregierung angesprochen,Kinderbetreuungsmöglichkeiten mehr zu fördern. ImSPD-Bundestagswahlprogramm steht, daß Sie denKommunen dafür mehr Geld geben. Im Aktionspro-gramm Frau und Beruf steht davon nichts mehr. Da stehtlediglich, daß Sie sich mit den Ländern und Kommunendarüber unterhalten. Ich möchte hier von Ihnen wissen,was Sie dazu heute sagen. Inwiefern wollen Sie dieKommunen bei Halbtagsgrundschulen, bei Ganztags-schulen und im Hinblick auf die Erweiterung der Kin-derbetreuungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebeneunterstützen?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Lenke, wirsind derzeit mit den Ländern im Gespräch, um herauszu-finden, welche Modelle sich bewährt haben. Die Ländersind ja diesbezüglich sehr unterschiedlich weit fortge-schritten. In einigen Ländern gibt es eine bedarfsge-rechte Versorgung, und einige Länder – ich denke anBrandenburg und Sachsen-Anhalt – haben sogar einenRechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Wir wollen unter-stützend tätig sein, können aber natürlich nicht jede Kitain diesem Land finanzieren. Deshalb sage ich: DieseForderungen richten sich nicht nur an die Bundesregie-rung. Hier geht es darum, daß Kommunen, Länder unddie Bundesregierung zusammenarbeiten. Ich kennenämlich durchaus reiche Kommunen, die alles möglichemachen – nur keine Kita bauen. Vor allem um Betreu-ungsmöglichkeiten für die unter Dreijährigen und umdie Horterziehung kümmert man sich zu wenig. Das istmeine Antwort auf Ihre Frage. Sie können mich allegerne unterstützen. Das wäre doch eine gute Sache; ma-chen wir es doch gemeinsam.
Aber es ist klar, daß wir auf vielen verschiedenen Ebe-nen handeln müssen.Ich war bei der Frage der Integration von Kindernvon Zuwanderern. Mit der Änderung des Staatsange-hörigkeitsrechtes haben wir einen ersten Schritt imRahmen einer umfassenden Migrationspolitik vollzogen.Auch das haben die Sachverständigen, die an der Er-stellung des Zehnten Kinder- und Jugendberichtes be-teiligt waren, gefordert: bessere rechtliche Vorausset-zungen für die Integration dieser Kinder. Aber auch diesozialen Rahmenbedingungen müssen natürlich verbes-sert werden.Ich komme noch einmal auf das Programm zurBekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu sprechen.In diesem Programm haben ausländische Kinder einensehr großen Anteil. Das ist bewußt eine Zielgruppe ge-wesen, weil wir wissen, daß sie auf dem Arbeitsmarktbenachteiligt werden. Das hat zum Teil etwas mit denSchulabschlüssen zu tun. Mit diesem Programm wirdeine Integrationsleistung vollzogen. Daß Sie so perma-nent gegen dieses Programm giften, bestärkt mich im-mer wieder in der Überzeugung, daß es offensichtlichsehr erfolgreich ist. Das vertragen Sie nämlich nicht sogut.
Wir werden dieses Programm noch mit weiteren Mittelnunseres Haushalts verstärken. Es geht uns gerade um Ju-gendliche in sozialen Brennpunkten. Wir wissen, dortleben sehr viele Zuwandererfamilien. Ihnen wird dasProgramm zugute kommen.Meine Damen und Herren, ich habe bereits die Kulturdes Aufwachsens, die die Jugendberichtskommissioneinfordert, angesprochen. Ich denke, wir brauchen einenkulturellen Wandel auch bei der Partizipation von Kin-dern und Jugendlichen, die für die Zukunft unserer Ge-sellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Es kommtdarauf an, junge Menschen frühzeitig in demokratischeEntscheidungsprozesse vor Ort einzubinden. Ihnen mußklargemacht werden, daß die Demokratie davon lebt,daß sich an ihr viele beteiligen. Sie müssen auch ermu-tigt werden, mitzumachen.Dazu gibt es unterschiedliche Modelle, die wir zurZeit evaluieren. Ich denke zum Beispiel daran, daß wirbei den Kinderversammlungen sehr viele Forderungenvon Kindern an Politiker aufgenommen haben. Die Po-litiker müssen nach einer bestimmten Zeit Rechenschaftablegen, was davon umgesetzt wurde. Es gibt Kinder-parlamente und Kinderbeiräte in den Städten. Es wird inder nächsten Zeit darauf ankommen, die besten Modelleauch in der Fläche stärker auszuweiten, damit Kinderdas erleben können, was die Sachverständigen aus mei-ner Sicht sehr treffend gesagt haben, daß nämlich dieGesellschaft auf sie und ihre Beteiligung wartet.
Ich will ganz kurz auf ein paar Fragen eingehen, dieangesprochen wurden. Dazu gehört der Schutz derKinder vor sexuellem Mißbrauch und Pornographie.Sie wissen, diese Fragen sind uns sehr ernst. In der ver-gangenen Legislaturperiode ist rechtlich eine ganzeMenge getan worden. Ich will dazu aber auch sagen, daßsich das manchmal in der Erinnerung ein wenig verklärt.Wenn ich zum Beispiel an den Schutz kindlicher Zeugendenke, so habe ich in Erinnerung, daß die Anregung da-zu aus der damaligen SPD-Opposition gekommen ist.Sie ist vom Bundesrat aufgegriffen worden.
Nicht alles, was wir jetzt haben, können Sie sich aufIhre Fahnen schreiben. Wir sollten auch ein wenig fairermiteinander umgehen. Sie, Frau Eichhorn, wissen auch,daß es Ende Oktober eine große Anhörung zum ThemaSexualstrafrecht gibt. Wir haben dazu gesagt, daß wirnicht jeden Punkt einzeln aufgreifen wollen. Wir wollenstatt dessen sehen, wie die Umsetzung aller Rechtsände-rungen, die in den vergangenen Jahren vorgenommenwurden, in der Praxis verlaufen ist und welche Aspektenoch aufgegriffen werden müssen. Wir müssen fragen,was die Länder machen und wie wir miteinander klar-kommen, damit alles zusammen vernünftig laufen kann.
Metadaten/Kopzeile:
5152 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es bleibt diepermanente Aufgabe, die Voraussetzungen und Bedin-gungen des Aufwachsens unserer Kinder besser zu ge-stalten. Ich habe mich gefreut, daß auch das Europäi-sche Jugendprogramm ausführlich angesprochen wur-de. Ich möchte noch einmal sagen: Es war ein harterKampf. Wir haben die Mittel für die nächste Periode umfast 100 Millionen DM erhöht.
Nun kann man sagen, das ist zu wenig. Aber wir müssenalle Länder und die Kommission in ein Boot bekommen.Das war ein harter Kampf. Mein Vorgänger aus Öster-reich ist daran gescheitert. Bei uns waren die Bedingun-gen etwas besser. Wir haben alle „eingesammelt“, undich denke, das ist ein wichtiges Programm. Wir werdennatürlich mit der neuen Kommissarin schnell Kontaktaufnehmen, um zu klären, wo noch Gestaltungsspiel-räume vorhanden sind. Wir werden auch unsere Wün-sche äußern. Trotzdem gilt: Wir müssen die Rechtsstel-lung der Jugendlichen in den freiwilligen Diensten klardefinieren. Zur sozialen Absicherung wird es in dernächsten Zeit ein Gesetz geben.Es bleibt dabei: Wir müssen die Voraussetzungen undBedingungen des Aufwachsens unserer Kinder bessergestalten. Streit hilft dabei nicht viel. Wir sollten versu-chen, viel gemeinsam zu tun. Der Zehnte Kinder- undJugendbericht liefert hierzu viele Anregungen, die wirbereits aufgegriffen haben bzw. noch aufgreifen werden.Kinder müssen das Signal – ich sage es noch einmal –von der Gesellschaft bekommen, daß sie willkommensind und ihr Engagement für die Zukunftsgestaltung ge-fordert ist.[Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)Ich hatte mir gewünscht, daß dies das Signal ist, dasheute von dieser Debatte ausgeht.Danke.
Ich erteile dem Kol-
legen Thomas Strobl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Für CDU und CSUstehen Kinder und Familien im Mittelpunkt ihrer Politik.Am Ende der heutigen Debatte über den Zehnten Kin-der- und Jugendbericht ergeben sich für uns folgendeSchlußfolgerungen:Erstens. Kindern und Jugendlichen in Deutschlandgeht es überwiegend und verhältnismäßig gut, insbeson-dere was die materielle Ausstattung und die sozialeLage anbetrifft. Was Einrichtungen zur Kinderbetreu-ung oder zur Beratung angeht, befinden wir uns inDeutschland auf einem Niveau, das in der Welt von nurganz wenigen Ländern erreicht wird.
Wir dürfen also bei allem Problembewußtsein nichtvergessen, daß wir soziale Probleme auf einem Wohl-standsniveau diskutieren, das die meisten Kinder aufdieser Erde nicht kennen. Das ist gut so, und das sollauch in Zukunft so bleiben.
Zweitens. Kinder sind keine Ware, die im Warenkorbdes Statistischen Bundesamtes neben Lebensmitteln,Kleidung und dem Fernseher liegen. Deshalb wäre esgrundfalsch, Kinder immer nur unter dem Aspekt derKosten, die sie verursachen, zu sehen. Natürlich kostetder Unterhalt von Kindern Geld, wie der Unterhalt vonErwachsenen im übrigen auch; Geld, das von den mei-sten Familien in diesem Land durch viel Arbeit erwirt-schaftet wird.Nicht zuletzt dank der erfolgreichen Familienpolitikvon CDU und CSU in den vergangenen 16 Jahren gibtder Staat heute mehr denn je aus, um Familien und Al-leinerziehende materiell zu unterstützen.
So ist der Etat für familienpolitische Maßnahmen von27,6 Milliarden DM im Jahre 1982 auf 40,5 MilliardenDM im Jahre 1990 und auf 76,6 Milliarden DM im Jahre1997 erhöht worden. Dies beinhaltet sowohl die Verbes-serung der bestehenden Maßnahmen wie die Weiterent-wicklung des Familienlasten- zu einem Familienlei-stungsausgleich oder den Ausbau der die Familien be-treffenden Komponenten in der Wohngeldförderung.Dazu gehört auch die Einführung neuer Regelungenwie zum Beispiel das Erziehungsgeld, die Berücksichti-gung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversiche-rung mit einem Volumen von 7,5 Milliarden DM, ge-deckt durch den Bundeszuschuß in die Rentenversiche-rung, also steuer- und nicht beitragsfinanziert. Darüberhinaus haben steuerliche Entlastungen insbesondereder Familien mit kleinen und mittleren Einkommen, bei-spielsweise im Jahre 1996 in Höhe von 19 MilliardenDM, gezeigt, daß die Politik von CDU und CSU immerdarauf ausgerichtet war und ist, Kinder und Familiendort, wo es notwendig ist, zu unterstützen, und zwarauch materiell.
Das, meine Damen und Herren von der Bundesregie-rung und von den Koalitionsfraktionen, müssen Sie erstnoch leisten. Sie dürfen nicht nur davon reden und nur –wie es die Eichelsche Verschiebepolitik ist – die Ver-antwortung für die Familienlasten vom Bund auf dieKommunen und die Länder verlagern. Das ist – wie esder Oberbürgermeister von Saarbrücken, Hajo Hoff-Bundesministerium Dr. Christine Bergmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5153
(C)
(D)
mann, SPD, sagt – eine familienpolitische Bankrotter-klärung.
Wenn heute eine alleinerziehende Mutter, die bedau-erlicherweise auf Sozialhilfe angewiesen ist, mit zweiKindern von zum Beispiel 7 und 13 Jahren auf durch-schnittlich 2500 DM Sozialhilfe kommt, kann hier nichtvon Armut gesprochen werden.
Es gibt eine ganze Menge arbeitender Familienväter und-mütter auf der Welt und bei uns, die froh wären, nacheinem Monat harter Arbeit netto einen Betrag in dieserHöhe auf ihrem Konto verbuchen zu können.
Dank der Steuerpolitik dieser Bundesregierung werdensie wohl auch noch weitere drei Jahre bis nach einemRegierungswechsel im Jahre 2002 warten müssen, umendlich die Chance zu bekommen, diesen Betrag tat-sächlich netto zu erhalten.
Sozialhilfe bedeutet nicht Armut, sondern gerade dieBekämpfung der Armut.
Sie leistet einen entscheidenden Beitrag dafür, daß heuteniemand in Deutschland in existentieller materieller Notleben muß. Es ist eine falsche Behauptung – dies kommtauch im Antrag der PDS zum Ausdruck –, daß der Be-zieher von Sozialhilfe per Definition deshalb arm sei,weil er Sozialhilfe bezieht. Das Gegenteil trifft zu: MitSozialhilfe wird Armut erfolgreich bekämpft.
Wenn der Bezug von Sozialhilfe tatsächlich mit Armutgleichzusetzen wäre, dann wäre das von unserem jetzi-gen Bundeskanzler Schröder seinerzeit als Ministerprä-sident regierte Land Niedersachsen eines der Armenhäu-ser Deutschlands; denn allein in Niedersachsen gibt esmehr Sozialhilfeempfänger als in den fünf neuen Län-dern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sach-sen-Anhalt, Sachsen und Thüringen zusammen.
Vergleiche mit Baden-Württemberg und Bayern möchteich Ihnen und der Bundesregierung freundlicherweiseersparen.
Auch die gestiegene Zahl der Jugendlichen, die Sozi-alhilfe empfangen, ist kein Indikator für gewachseneArmut unter Jugendlichen in Deutschland.
Um ein exaktes Bild – hören Sie zu! – der Situation vonKindern und Jugendlichen in der Sozialhilfe gewinnenzu können, ist eine Differenzierung nach Ursachen undauch nach Herkunftsländern hilfreich. Auf Grund dergestiegenen Zuwanderungszahlen in den letzten zehnJahren muß davon ausgegangen werden, daß die gestie-gene Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Sozialhil-febezug zum großen Teil auf diese Entwicklung zurück-zuführen ist. Zwischen 1985 und 1996 nahm die Zahlder Kinder und Jugendlichen mit Bezug von Hilfe zumLebensunterhalt im früheren Bundesgebiet um knapp417 200 Personen zu. Diese Entwicklung ist insbesonde-re auf die gestiegene Zahl junger ausländischer Sozial-hilfeempfänger um 180 000 Personen zurückzuführen.Der weitaus größte Teil des Anstiegs der Zahl der Kin-der und Jugendlichen in der Sozialhilfe in den altenLändern belegt also keinesfalls eine wachsende Verar-mung, sondern die große Bereitschaft der deutschen Be-völkerung, zugewanderten Menschen mit ihren Kindernin ihrer Not zu helfen und Alleinerziehende mit ihrenKindern in besonderer Weise zu unterstützen.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD,den Grünen und der PDS sollten diese Bereitschaft inunserer Bevölkerung – ich komme auf das zurück, wasder Kollege Stöckel und die Kollegin Pau zum Thema„Asylrecht und Zuwanderung“ gesagt haben – nichtüberstrapazieren.
Kollege Strobl, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Deligöz?
Herr Präsident, nach-
dem die Redner der Regierungsfraktionen in der ihnen
eigenen Arroganz
den ganzen Vormittag über die Zwischenfragen der
Kollegin Rönsch nicht zugelassen haben, möchte ich
dies jetzt auch nicht tun.
Kollege Strobl, ich
möchte Sie darauf hinweisen, daß sich unter den Red-
nern der Regierungsfraktionen heute morgen mehrere
Erstredner befanden. Deshalb hatte ich vorhin schon um
ein sanfteres Urteil gebeten.
Herr Präsident, es istrichtig, daß es sich um mehrere Erstredner gehandelthat. Aber es waren nicht ausschließlich Erstredner, diekeine Zwischenfragen zugelassen haben.Letztlich gilt auch hier, was immer gilt: Grundvor-aussetzung einer guten Sozialpolitik auch und gerade fürFamilien mit Kindern ist die Schaffung von Arbeits-plätzen. Hier hat die Bundesregierung nach einem JahrRegierungszeit nichts vorzuweisen, wie die Zahlen derBundesanstalt für Arbeit belegen. Im Gegenteil: Durchimmer neue Steuern und Steuererhöhungen, durch im-mer höhere Belastungen von Unternehmen und FamilienThomas Strobl
Metadaten/Kopzeile:
5154 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
und durch die „großartigen“ Gesetze gegen 630-Mark-Jobs und gegen die sogenannte Scheinselbständigkeit istdie neue Regierung zu einem wahren Arbeitsplatzver-nichter in diesem Land geworden.
Die Schröder-Uhr der „Wirtschaftswoche“ zeigt58 350 Arbeitslose mehr und 367 000 Erwerbstätigeweniger seit dessen Regierungsantritt an. Dies kannnicht im Sinne der Familien und der Jugendlichen sein,übrigens schon gar nicht im Sinne von Alleinerziehen-den. Fragen Sie doch einmal Alleinerziehende, wie vielevon ihnen 630-Mark-Jobs aufgeben mußten, weil ihnendie Regierung Abgaben aufzwingt, die sie unmöglichbezahlen können.
Die Familien sind Dreh- und Angelpunkt für einegute Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Mankann darin fast eine Gesetzmäßigkeit sehen: Wenn es inder Familie stimmt, dann sind meist auch die Kinder inOrdnung, und zwar unabhängig davon, ob die Familie ingroßem Wohlstand lebt oder nicht. Bestehen jedochProbleme in der Familie – ich spreche jetzt nicht vonmateriellen Problemen, sondern von Scheidungsfolgen,von Drogenbiographien und anderem –, dann müssenwir oft problematische Kinder konstatieren, mit denensich die staatlichen Institutionen genauso wie die Elternschwertun.Es ist festzustellen: Wenn wir die Karrieren von kri-minellen Kindern und Jugendlichen ansehen, dann er-kennen wir, daß Kriminalität sehr oft etwas mit denVerhältnissen – weniger mit den materiellen – in einerFamilie zu tun hat. Kinder brauchen die Nestwärme undBehütetheit einer intakten Familie, genauso wie sie El-tern brauchen, die ihnen Vorbild sind und von derenAutorität sie sich leiten lassen können.
Eine Mehrzahl der qualifizierten Studien zur Analyseder Jugendkriminalität bestätigt uns, daß es keinenzwingenden Zusammenhang zwischen sozialen Um-ständen und Kriminalität gibt. Vielmehr zeigt gerade dieEntwicklung in den 70er Jahren, daß eine Zunahme desWohlstandes eine Zunahme von Kriminalität insbeson-dere bei Jugendlichen nicht verhindert hat.
Herr Kollege Strobl,
ich muß Sie darauf hinweisen, daß Ihre Redezeit schon
deutlich überschritten ist.
Herr Präsident, ich
komme zum Schluß. – Abschließend bleibt festzuhalten:
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht enthält viele in-
teressante Basisinformationen und aus unserer Sicht
auch zahlreiche richtige Bewertungen der Situation der
Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Von daher ist
er von grundsätzlicher Bedeutung. Eines ist jedoch klar:
Nicht abgehobene staatliche Programme können die Si-
tuation von Jugendlichen entscheidend verbessern;
vielmehr muß die Priorität der Politik auch in Zukunft
auf der Stärkung der Familie als Keimzelle unserer Ge-
sellschaft liegen. Hierzu gibt es ein klares Bekenntnis
von CDU und von CSU. In diesem Sinne werden wir
weiterarbeiten.
Vielen Dank.
Ich erteile zu einer
Kurzintervention der Kollegin Deligöz, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
HerrKollege Strobl, ich finde es sehr bedauerlich, daß IhreFraktion inzwischen so tief gesunken ist, daß Sie IhrePolitik auf dem Rücken der Schwächsten dieser Gesell-schaft austragen.
Erklären Sie mir einmal, wie viele Familien mit Kin-dern tatsächlich den von Ihnen genannten Betrag von2 500 DM bekommen! Werfen Sie einmal einen Blickauf die Statistiken, um zu schauen, wie viele Familienmit Kindern diesen nur theoretisch hohen Geldbetrag er-halten!
– Auch ich habe Sie vorhin ausreden lassen, FrauRönsch. Lassen Sie mich einmal reden!Wenn Sie schon über die Ausländer in der Sozialhil-festatistik reden: Es sind genau 22 Prozent. Es sollte Ih-nen bekannt sein, daß diejenigen Ausländer, die in derSozialhilfestatistik auftauchen, eine Berechtigung zumBezug von Sozialhilfe haben.
Nicht jeder, der hier einmal kurz vorbeischneit, be-kommt Geld vom Sozialamt. Die meisten Ausländer, diedazu berechtigt wären, nehmen diesen Betrag erst garnicht in Anspruch, weil sie viel zuviel Angst davor ha-ben, aus Deutschland ausgewiesen zu werden.
Heute morgen wurde bereits über die 630-Mark-Jobsgesprochen. Unser Gesetz dazu hat uns inzwischenThomas Strobl
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5155
(C)
(D)
schon 160 000 sozialversicherte Stellen beschert. Ichmöchte einmal wissen, wie viele Stellen Ihre Regierunggeschaffen hat.
Herr Kollege Strobl,
wollen Sie erwidern? – Bitte.
Frau Kollegin, zu-
nächst möchte ich etwas zur Zuwanderung und ihren
Auswirkungen auf die Sozialhilfe sagen. Sie sprechen
davon, die Armut in Deutschland habe in den letzten
Jahren zugenommen. Wir sollten einmal darauf schauen,
wie diese Armut zustande gekommen ist. Es ist unbe-
streitbar, daß die Zunahme der Zahl von Sozialhilfeemp-
fängern, insbesondere von jugendlichen Sozialhilfeemp-
fängern, in einem ganz unmittelbaren Zusammenhang
mit der Zuwanderung steht.
Unverständlich ist mir, wie Sie Zahlen, die eindeutig
feststehen, bestreiten können. Kollegin Rönsch hat heute
in der Debatte bereits darauf hingewiesen, daß bei uns
eine Familie – Eltern und zwei Kinder – im Durchschnitt
2 900 DM Sozialhilfe erhält.
Diese Durchschnittszahl kann nicht bestritten werden.
Ebenso ist es wahr, daß eine Alleinerziehende mit zwei
Kindern im Alter von 13 und 17 Jahren Sozialhilfe in
Höhe von 2 500 DM erhält.
Dies müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Es ist
nämlich ein statistischer Wert.
Sie können gegen alles und gegen jeden Ihre rotgrüne
Politik machen; sie gegen Adam Riese machen zu wol-
len ist arg schwierig.
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung: Beschlußempfehlung
des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend zum Zehnten Kinder- und Jugendbericht, Drucksa-
chen 13/11368 und 14/1681. Der Ausschuß empfiehlt in
Kenntnis der Unterrichtung der Bundesregierung, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich der Stimme? – Die Beschlußempfehlung ist mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. an-
genommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/1683. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist
dieser Entschließungsantrag bei Zustimmung der
CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Enthaltung der
F.D.P.-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache
14/1682. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dieser Ent-
schließungsantrag ist bei Zustimmung der F.D.P.-
Fraktion gegen Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen, PDS und einem Teil der CDU/CSU-Fraktion
und Enthaltungen von einem anderen Teil der
CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zu dem Vorschlag der Eu-
ropäischen Kommission zur Einführung des Gemein-
schaftlichen Aktionsprogramms „Jugend“, Drucksache
14/1065. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Diese Be-
schlußempfehlung ist bei Zustimmung der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, bei Gegenstim-
men der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion
und bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen
worden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1308 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Verbesserung der Nachhaltigkeit in der Al-
terssicherung durch eine gerechte und sozial-
verträgliche Rentenpolitik
– Drucksache 14/1310 –
Überweisungsvorschlag:
Metadaten/Kopzeile:
5156 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
– ich freue mich über die Zustimmung –, nur so ist Ak-zeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung durch diejüngere Generation zu erreichen.Wir haben in unserer Regierungszeit versucht, einesolche Politik der Nachhaltigkeit einzuleiten und zubetreiben. Wir haben den nachfolgenden Generationendurch unsere Politik eine Perspektive im Hinblick aufihre Alterssicherung gegeben.
Wir haben eine Politik betrieben, die zu mehr Genera-tionengerechtigkeit führt
und die Lasten gerecht auf Jung und Alt verteilt.Ziel unserer Politik war es, daß der Sozialstaat auchfür unsere Kinder bezahlbar bleibt. Wir haben die Al-tersgrenzen in der Rentenversicherung stufenweise her-aufgesetzt, um die Frühverrentung zu bekämpfen unddadurch den Beitragssatz in Grenzen zu halten. Wir ha-ben die dringend notwendigen Reformen der Berufs-und Erwerbsunfähigkeitsrente beschlossen, um dieRentenversicherung von systemfremden, arbeitsmarkt-bedingten Renten zu entlasten und damit die Belastungder Beitragszahler abzusenken. Wir haben den demo-graphischen Faktor in die Rentenformel eingeführt. Mitdem Rentenreformgesetz 1999 haben wir ein zukunfts-gerichtetes Reformpaket vorgelegt, das einen fairenAusgleich zwischen Jung und Alt vorsieht.
Wir wollten mit dem demographischen Faktor –deswegen noch einmal dieser Antrag – erreichen, daßsich die Rentner an der höheren Lebenserwartung unddamit auch an den längeren Rentenlaufzeiten beteiligen.Die Renten wären deshalb nicht gesunken, wie Sie im-mer behauptet haben. Sie wären nur langsamer gestie-gen. Langsamer steigen müssen sie; sonst wird geradedie jüngere Generation mit zu hohen Beiträgen belastet.
Mit unserem langfristigen Konzept wäre es gelungen,den Beitragssatz bis zum Jahre 2015 unter 20 Prozent zuhalten. Sie werden mit Beitragssätzen auch noch IhreÜberraschungen erleben. Das, was Sie einkalkuliert ha-ben, Frau Schmidt, stimmt so nicht. Alle Experten sa-gen: Bei 19,1 Prozent werden Sie nicht bleiben. Viel-mehr werden Sie zwischen 19,3 und 19,4 Prozent lan-den.
Wie sieht Ihre Politik aus? Sie haben unsere Reformder sozialen Alterssicherung als sozialen Kahlschlag be-schimpft. Mit einer überheblichen Geste – ich denke, Siebereuen das heute schon – haben Sie die Rentenreform1999 zurückgenommen. Dabei haben wir mit dieser Re-form gerade die Schritte eingeleitet, die zu mehr Gene-rationengerechtigkeit geführt hätten. Ich muß Ihnen lei-der sagen: Sie betreiben bisher keine Politik der Nach-haltigkeit und der Generationengerechtigkeit. Ich willIhnen das gerne an Hand von einigen Beispielen darle-gen.Mit der von Ihnen beschlossenen „Rente nach Kas-senlage“ vermengen Sie das Grundproblem der Renten-versicherung mit der aktuellen Haushaltslage.
Die von Ihnen in der Rentenversicherung vorgenomme-nen Einsparungen dienen dazu, selbstgerissene Löcherim Bundeshaushalt zu stopfen. Es wird gespart, ohneeine echte Strukturreform in der Rentenversicherung an-zugehen. Das ist keine Politik der Nachhaltigkeit.
Ein weiteres Beispiel. Sie rühmen sich immer damit,daß Sie den Beitragssatz in der Rentenversicherung ge-senkt haben. Die Senkung des Beitragssatzes aber warnicht deshalb möglich, weil Sie etwa eine grundlegendeStrukturreform in der Rentenversicherung durchgeführthätten. Sie war nur möglich, weil Sie Einnahmen aus derÖkosteuer in die Rentenversicherung gepumpt haben.Dabei übersteigt der Bundeszuschuß schon jetzt in er-heblichem Umfang die versicherungsfremden Leistun-gen in der Rentenversicherung. Ihr Beitragsszenariowird – ich habe es eben schon gesagt – nicht aufgehen.Was Sie hier präsentieren, ist eine Mogelpackung, einVerschiebebahnhof. Sie verschieben die Belastungen derjüngeren Generation von einem öffentlichen Haushalt inden anderen. Das ist keine nachhaltige Politik!
Damit nicht genug: Auch die jüngst im „Bündnis fürArbeit“ wiederbelebte „Rente mit 60“ ist ein Anschlagauf die Generationengerechtigkeit. Junge Arbeitnehmermüssen in einen Fonds einzahlen, obwohl sie selber niedavon profitieren können. Das Geld wird für zweifel-hafte Frühverrentungsprogramme genutzt anstatt zurlangfristigen Sicherung von Altersansprüchen der jünge-ren Generation. Die Generation der über 60jährigen pro-fitiert dagegen doppelt: Die Senioren können sich deut-Birgit Schnieber-Jastram
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5157
(C)
(D)
lich früher als bisher geplant zur Ruhe setzen – und dasmit einem Rentenniveau, von dem die heute 30jährigennicht einmal träumen können.Deswegen fordern wir Sie auf: Betreiben Sie endlicheine Politik der Nachhaltigkeit und der Generationenge-rechtigkeit! Nehmen Sie die Tariffonds und die „Rentenach Kassenlage“ zurück! Führen Sie den demographi-schen Faktor wieder ein! Legen Sie im Interesse dernachfolgenden Generation endlich eine grundlegendeStrukturreform in der Rentenversicherung vor!
Damit Sie künftig selber überprüfen können, ob Sieauch die Interessen der nachfolgenden Generationenausreichend berücksichtigen, fordern wir Sie auf: LegenSie diesem Hause regelmäßig eine Generationenbilanzvor!
Mit Hilfe dieser Generationenbilanz können Sie die Be-lastung der heutigen Generation und der nachfolgendenGenerationen miteinander vergleichen. An dem Ergeb-nis der Generationenbilanz müssen Sie sich messen las-sen. Daran wird erkennbar, ob Sie einen Kurs steuern,der zu mehr Gerechtigkeit zwischen den Generationenführt. Auch wir, Herr Gilges, werden unsere Politik dar-an messen.Ein zukunftsfähiges Rentenreformkonzept muß auchdie veränderte gesellschaftliche Rolle von Frauen be-rücksichtigen. In diesem Zusammenhang sind vor allenDingen Lösungen gefragt, die die Erwerbsbeteiligungvon Frauen verbessern und die unsteten Erwerbsverläu-fe, wie sie bei Frauen immer wieder zu finden sind, bes-ser absichern.Das von Ihnen, Herr Bundesminister, vorgelegte Mo-dell für eine Reform der Alterssicherung der Frau kanndiesen Anforderungen allerdings nicht gerecht werden.Es enthält lediglich einen undurchschaubaren Katalogvon Optionen für die Hinterbliebenensicherung. Da-durch wird das Rentenrecht erheblich verkompliziert. Esentsteht ein ungeheurer Beratungsbedarf bei den Versi-cherten. Keiner blickt mehr durch, welches der vorge-schlagenen Modelle für ihn am sinnvollsten ist. Das vonIhnen vorgelegte Konzept hinsichtlich der Hinterbliebe-nenrente führt in der Regel zu einer Senkung des Ren-tenniveaus gegenüber dem Niveau nach geltendemRecht – gerade auch bei kinderreichen Familien.Eine stärkere Anerkennung von Familienarbeit, diedoch einhellig von allen politischen Parteien und vomBundesverfassungsgericht eingefordert wurde, findet beiIhnen leider nicht statt. Deswegen fordern wir Sie auchhier auf: Legen Sie endlich ein tragfähiges und ausge-wogenes Konzept für eine Reform der Hinterbliebenen-sicherung und eine verbesserte Berücksichtigung vonKindererziehungszeiten vor!
Sie haben bisher auch kein vernünftiges Konzept zumAusbau der kapitalgedeckten Altersvorsorge vorge-legt. Sie haben in diesem Bereich zwar eine ganze Reihevon Vorschlägen gemacht. Aber lediglich der jüngsteVorschlag, eine Sparzulage zur privaten Altersvorsorgeeinzuführen, hat die Chance, nicht gleich wieder im Pa-pierkorb zu landen. Nur müssen Sie sich angesichts diesesVorschlags fragen lassen, warum Sie gleichzeitig denSparerfreibetrag um die Hälfte kürzen und Lebensversi-cherungen zukünftig stärker besteuern. Das paßt nicht zu-sammen. Dieser Politik fehlt eine klare Richtung.
Wir fordern Sie auf: Legen Sie endlich ein tragfähi-ges und stimmiges Konzept zum Ausbau der kapitalge-deckten Alterssicherung vor! Ihre bisherigen Rentenplä-ne, Herr Minister, sind nicht geeignet, die Nachhaltig-keit in der Altersvorsorge zu sichern. Das System derRentenversicherung setzt auf Stetigkeit, Berechenbarkeitund Planungssicherheit. Die beschlossene Rentenanpas-sung nach der Inflationsrate verunsichert dagegen glei-chermaßen Rentner und Beitragszahler, weil eine Steige-rung der Renten zukünftig nicht mehr berechenbar ist.Die Rentensteigerungen werden sich zukünftig nach deraktuellen Haushaltslage entwickeln, und damit wird dasVertrauen in das System der gesetzlichen Rentenversi-cherung stark beschädigt.Wir fordern die Bundesregierung daher auf: NehmenSie Ihre unsozialen Rentenpläne sofort zurück, beginnenSie endlich mit der grundlegenden Strukturreform in derRentenversicherung! Lassen Sie ab vom Einstieg in denAusstieg aus der lohnbezogenen Rente! Das ist das Endedes Systems.
Beginnen Sie mit uns – nicht in polemischer, sondern inkonstruktiver Weise – einen ehrlichen Dialog zur Lö-sung dieser Probleme.Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Kurt Bodewig
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrteKolleginnen und Kollegen! Die Einführung zu diesemAntrag war das Gegenteil eines Dialogs: Es war ein Mo-nolog, der vom Konsens wegführt, statt daß er ihn her-stellt,
und das, obwohl sich in dem Antrag der Union – mitdem bemerkenswerten Titel „Verbesserung der Nach-haltigkeit in der Alterssicherung durch eine gerechte undsozialverträgliche Rentenpolitik“ – auch recht moderateTöne finden; ein Hauch von Verantwortung schimmertda bei Ihnen durch.
Birgit Schnieber-Jastram
Metadaten/Kopzeile:
5158 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Ich finde das gar nicht schlecht. Aber leider ist im For-derungsteil genau das Gegenteil der Fall. Er ist einRückfall in Ihre alte Politik aus Verunsicherung undDemagogie.
Was hinzukommt: Sie arbeiten wissentlich mit fal-schen Zahlen. Ich finde das erstaunlich. Haben Sie dennaus den Erfahrungen im Juni nichts gelernt, als Sie im-mer mit Ihren Zahlen kamen und der VDR Sie regelmä-ßig korrigiert hat?
Das müßte doch ein Erlebnis gewesen sein, das Sie dazubringt, zu sagen: Das mache ich in Zukunft nicht mehr.Aber darauf verzichten Sie lieber.Ich möchte Sie trotzdem an Ihrem eigenen Anspruchmessen, einen Dialog über die Zukunft unserer Renten-versicherung zu führen, über ein Thema, das nach mei-ner Einschätzung eines der wichtigsten dieser Gesell-schaft ist. Ihre Verunsicherungspolitik hat dazu geführt,
daß Menschen in ihrer Zukunftserwartung eingeschränktsind, weil Sie ein wirklich hochsensibles System gefähr-den.
Aber ich möchte auch etwas Positives sagen: Es gibtin Ihrem Antrag ein paar lichte Momente, zum Beispieldort, wo Sie Vorschläge des Bundesministers für Arbeitaufgreifen. Das ist doch schon etwas. Damit kommenSie einen Schritt voran. Solche Ansätze der Verständi-gung halte ich für einen wichtigen Schritt.Ich würde gerne einen Schlüsselsatz aus Ihrem An-trag zitieren – den ich übrigens ausdrücklich teile. DieFrage ist: Entspricht Ihr Antrag diesem Schlüsselsatz? –Sie sagen dort:Sozial gerecht ist nur das, was auch zwischen denGenerationen gerecht ist.
Das ist richtig. Nur: Was machen Sie daraus? Sie schla-gen erneut den demographischen Faktor vor.
Die Forderung nach der Wiedereinführung des demo-graphischen Faktors ist aber ein Rückschritt. Sie bedeu-tet, daß Sie eine dauerhafte Abkoppelung der Rentenan-passung von der Lohnentwicklung wollen. Das ist keinePräzisierung, sondern das ist ein systematisch angelegterSystembruch, den Sie betreiben.
Darüber sollten Sie nachdenken. Wenn Sie dauerhaftabkoppeln, machen Sie das genaue Gegenteil von dem,was Sie immer in Ihren Sonntagsreden proklamieren.
Es sollte Ihnen auch klar sein, daß mit dem demogra-phischen Faktor das Ziel von 1992 – übrigens ein großesZiel –, nämlich die Umstellung auf die Nettoanpassung,um die Stabilisierung des Nettorentenniveaus herzustel-len, aufgegeben wird. Der demographische Faktor ist aufder Grundlage von Willkür konzipiert, und er birgt dieGefahr weiterer willkürlicher Veränderungen. In derForm, in der er von Ihnen damals verabschiedet wordenist – nicht nur von Ihnen, sondern auch von der F.D.P.
– das ist auch richtig, dafür wollen wir Sie nämlich mitverantwortlich machen –, haben Sie die zunehmendeLebenserwartung nur zur Hälfte berücksichtigt. Es stelltsich die Frage: Was wird Sie irgendwann dazu zwingen,sie in Gänze einzubeziehen? Wenn Sie sie in Gänze ein-beziehen, wird das Absinken des Nettorentenniveaus auf64 Prozent schon im Jahre 2013 erreicht.
Gleichzeitig haben Sie mit der Minderung der verfügba-ren Entgelte bei den Anpassungssätzen das Nettorenten-niveau auf 64 Prozent konzipiert und dort willkürlichunterbrochen.
Wer sagt Ihnen denn, daß es bei den 64 Prozent bleibt?Nach Ihrer eigenen Logik muß es immer weiter runter-gehen. So erreichen Sie schließlich das Sozialhilfeni-veau.
– Dazu komme ich noch, keine Angst. Wir haben einbißchen Zeit, und Sie können mir gerne zuhören.Für mich ist die Frage, ob bei der Berechnung desdemographischen Faktors der willkürliche Rückgriff aufdie Jahre 1990/1991 nicht das Ziel hatte, die größtmög-liche Einsparung zu erzielen. Sie hätten ja die damalsschon vorliegenden Daten aus 1995/96 als Vergleichs-größe heranziehen können. Das haben Sie nicht ge-macht. Das war also für Sie ein Instrument zum Absen-ken des Nettorentenniveaus.Tatsache ist des weiteren, daß wir es nicht nur mitdem Problem einer stärker alternden Gesellschaft zu tunhaben, sondern daß wir zukünftig gleichzeitig unsteteErwerbsbiographien und sinkende Beschäftigungsvolu-mina berücksichtigen müssen. Da hilft Ihr demographi-scher Faktor in keinem Fall. Er würde dies sogar nochweiter verschärfen.Blüm meinte, daß die Einführung einer von uns vor-geschlagenen bedarfsorientierten Mindestsicherung, dieKurt Bodewig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5159
(C)
(D)
nämlich die von Ihnen bewirkte Abwärtsentwicklungkompensieren soll, zur Folge hätte, daß die leistungs-bezogene Rente zerstört würde. Das genaue Gegen-teil ist der Fall. Mit Ihrem demographischen Faktorlegen Sie die Axt an die Wurzel der Zukunftsfähigkeitder Rentenversicherung, denn er signalisiert nur eines:Jahr für Jahr wird das Nettorentenniveau weiter absin-ken.Wir versuchen, mit unserem Konzept etwas völliganderes zu erreichen.
Mit dem Konzept, das Sie kennen – die Eckpunkte sindIhnen bekannt; wir haben hier viele Aktuelle Stunden zudem Thema gehabt –,
versuchen wir, der demographischen Entwicklung zuentsprechen.
Mit einem Inflationsausgleich für zwei Jahre schaffenwir den Sockel, um im kommenden Jahr die Renten-strukturreform mit einer dauerhaften Sicherung desNettorentenniveaus von 67 Prozent zu verbinden. Das istdas Gegenteil von dem, was Sie vorhatten.
Die Rentenerhöhung gemäß Rentenanpassung be-deutet aber gleichzeitig auch einen Beitrag der Rentner-generation zur Stabilisierung sowohl der gesetzlichenRentenversicherung als auch der Lohnnebenkosten.
Das ist nicht nur notwendig, sondern auch vertretbar.
Verglichen mit den vergangenen Jahren stehen sich dieRentner dadurch noch nicht einmal schlechter; denn seit1990 lag die Rentenanpassung fast regelmäßig unter derInflationsentwicklung. Dies war in Westdeutschland inden letzten zehn Jahren achtmal der Fall. Sie müssendoch irgendwann einmal zur Kenntnis nehmen, was Siehier mit dem Rentenniveau angerichtet haben. Eines istsicher: Beim demographischen Faktor, Ihrem Allheil-mittel, gibt es keine Kaufkraftklausel. Auch das habenwir erfahren.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, interessantist der neue gesellschaftliche Konsens von VdK undDGB – er soll bis in die Union hineinreichen –, derdarin besteht, daß die gezielte Entlastung der Familiennicht an die Rentner weitergeleitet werden soll. Das istetwas Neues.
Herr
Kollege Bodewig, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Storm?
Gern.
Herr Kollege Bode-
wig, da Sie den Inflationsausgleich in den vergangenen
Jahren angesprochen haben, frage ich Sie: Stimmen Sie
mir zu, daß die Rentner, wenn sie im nächsten Jahr eine
Rentenanpassung von 0,7 Prozent bekommen und die
Inflationsrate nach Angaben der Bundesregierung im
nächsten Jahr 1,6 Prozent betragen soll, einen realen
Kaufkraftverlust von annähernd 1 Prozent – 0,9 Prozent
genau – zu verkraften haben?
Herr Kollege Storm, Sie wis-sen selbst, daß in jedem Jahr auf die Inflationsrate desvorangegangenen Jahres Bezug genommen worden ist.Das heißt, wir bewegen uns in dem bisher üblichen Ver-fahren. Daß Sie dies nun auf einmal so herausstellen,wundert mich. Aber ich hätte die Bitte, weil ich gernemit meinem Konzept fortfahren würde, daß Sie michweiter vortragen lassen.
Ich fand es interessant, daß sich hier ein neuer Kon-sens abzeichnet. Das finde ich auch richtig. Wir werdenalle Vorschläge von VdK und DGB im Gesetzgebungs-verfahren des nächsten Jahres ernsthaft prüfen, obwohlsich schon jetzt abzeichnet, daß einiges unsystematischist. Ein Schwachpunkt etwa ist die Herausrechnung zu-rückliegender Entlastungskomponenten für Familien mitKindern. Solche Schwachpunkte muß man prüfen unddiskutieren. Aber daß sich Union und F.D.P. auf einmalauf den DGB beziehen, ist meiner Ansicht nach etwasGutes – ich habe Frau Schwaetzer vorletzte Woche beider Haushaltsdebatte zugehört –, ist ein gutes Zeichendafür, daß sie Ihre Gewerkschaftsphobie überwundenhaben. Herzlichen Glückwunsch und gute Besserung!Ich hoffe, es klappt auch dauerhaft.
Meine Damen und Herren, ein anderer Konsens, derwichtig ist, ist der Konsens in dieser Gesellschaft dar-über, daß das Funktionieren von Rentenversicherungs-systemen stabiler Beitragssätze bedarf. In der Vergan-genheit war das ein permanentes Auf und Ab. Es gabeinen Verschiebebahnhof zwischen Rentenversicherungund Arbeitslosenversicherung. Wir brauchen aber dau-erhaft kalkulierbare Beitragssätze. Das ist wichtig fürdie Ökonomie, aber es ist auch wichtig für die sozialenSicherungssysteme.
Deswegen sage ich: Ohne die Übergangsregelungen fürdie Jahre 2000 und 2001 käme es in den nächsten Jahrenzu einem unvertretbaren Anstieg der Rentenversiche-Kurt Bodewig
Metadaten/Kopzeile:
5160 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
rungsbeiträge und damit auch zu einer übermäßigenBelastung der nachfolgenden Generation. Auch dassollte uns klar sein.Im übrigen sind es nicht die Rentner allein, die einenBeitrag leisten. Das gilt genauso für die Steuerzahler –Stichwort: Ökosteuer – und für die junge Generation, dieeine zusätzliche private Vorsorge betreiben muß. Ichdenke, das macht deutlich, daß wir ein solidarischesKonzept wollen, in dem die unterschiedlichen Trägerihren Beitrag leisten. Wenn ich das mit Ihrem Konzeptvergleiche, kann ich nur den Finanzwissenschaftler undRentenexperten Professor Rürup zitieren.
Er hat es einmal zutreffend so ausgedrückt:Blüm war besser für die heutigen Rentner. Riesterist besser für die zukünftigen Rentner.
Das hat den Hintergrund, daß Sie in den vergangenenJahren die zukünftige Rentnergeneration zu Opfern IhrerEntscheidungen gemacht haben. Mit dem WFG 1996haben Sie die anzurechnenden Zeiten der schulischenAusbildung auf zukünftig nur noch drei Jahre mit höch-stens 75 Prozent des Durchschnittsentgelts reduziert.Das macht maximal 108 DM; das ist eine ganz ein-schneidende Kürzung. Bei den Zeiten der schulischenAusbildung haben Sie ganz einfach das Jahr zwischendem 16. und 17. Lebensjahr weggenommen – eine ganzmassive Kürzung.[Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Sie hätten esdoch rückgängig machen können! – Dirk Nie-bel [F.D.P.]: Warum haben Sie es nicht hin-eingenommen?)Sie haben die Zeiten der Arbeitslosigkeit und Krankheit,in denen Leistungen nicht bezogen worden sind, für dieBeiträge nicht gezahlt worden sind, nicht mehr renten-steigernd angerechnet. Alles das waren direkte Eingriffe.
Die Diskussion um das Nettorentenniveau ist daseine, Ihr Griff in die Tasche der Arbeitnehmer und derRentner das andere. Sie haben direkt zugegriffen. Das istder qualitative Unterschied.
Ich zitiere erneut aus Ihrem Antrag:Sozial gerecht ist nur das, was auch zwischen denGenerationen gerecht ist.Ist das gerecht, was Sie hier 16 Jahre praktiziert haben?– Das ist zutiefst ungerecht, was Sie gemacht haben.Damit komme ich zu Ihrem Umgang mit Sprache. Ichlas von Frau Schnieber-Jastram eine Pressemitteilung:„Riester fummelt wieder an der Rente rum“. Was ist dasfür eine Begrifflichkeit? Das macht Sie nicht gerade mi-nistrabel, Frau Schnieber-Jastram. Ich sage Ihnen: Keh-ren Sie zu einer seriösen Sprache zurück; dann werdenSie auch eine seriöse Politik betreiben können, sonstnicht.
Herr
Kollege Bodewig, erlauben Sie eine weitere Zwischen-
frage, zunächst einmal eine der Kollegin Lenke?
Ja, bitte.
Herr Kollege Bodewig, Sie kriti-
sieren gerade, was die alte Regierung in der Rentenver-
sicherung alles falsch gemacht hat. Ich frage Sie, ob Sie
informiert sind, daß die neue Bundesregierung vorhat,
bei den Zivildienstleistenden die Rentenansprüche zu
kürzen, und daß sie auch bei den Zahlungen des Bun-
desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend für die Zivildienstleistenden an die Rentenkasse
sparen will. Ist Ihnen das bekannt, wollen Sie das jetzt
auch kritisieren?
Ich will das nicht kritisieren.
Ich will Ihnen sagen, daß wir den jungen Menschen mit
dem Zivildienst Perspektiven geboten
und gleichzeitig über die Dauer des Zivildienstes ge-
sprochen haben. Erinnern Sie sich? Können Sie sich
noch an die Debatten von 1976 erinnern, als es um die
Einführung des Zivildienstes und die Abschaffung der
Gewissensprüfung ging? Da waren wir der F.D.P. näher
als Ihnen von der Union. Daran müssen Sie sich doch
erinnern.
So ein bißchen Gedächtnis tut Ihnen ganz gut. Sie soll-
ten das nicht ganz beiseite schieben.
Ich sage Ihnen gleichzeitig: Wir bewegen uns mit diesen
Maßnahmen in einer Systematik, die ich für richtig halte.
Herr
Bodewig, erlauben Sie eine Zusatzfrage der Kollegin
Lenke?
Aber das wäre dann die letzte
Zusatzfrage, die Frage von Herrn Meckelburg spare ich
mir dann.
Wenn ich Sie schon frage, dannsollten Sie meine Frage auch ernsthaft beantworten.
Kurt Bodewig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5161
(C)
(D)
Hier liegt eine Kürzung der Zahlungen für die Zivil-dienstleistenden an die Rentenversicherung vor, und ichfrage Sie, ob Sie das auch kritisieren wollen.
Dann sage ich Ihnen: Hier
geht es nur um eine Reihe von Monaten. Sie dagegen
haben die anzurechnende Zeit der Ausbildung von ur-
sprünglich 13 auf 7 und dann auf 3 Jahre gekürzt. Setzen
Sie das einmal in Relation zueinander. Dann können Sie
sich diese Fragen sparen.
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Meckel-
burg?
Nein, jetzt spare ich mir das.
Wir führen ja in den Ausschüssen häufiger unsere De-
batten. Ich denke, ich habe genug Fragen beantwortet.
Meine Dialogbereitschaft ist also vorhanden.
Ich komme zum Thema Diskussionskultur zurück. Ihr
Fraktionsvorsitzender, Herr Schäuble – übrigens dersel-
be, der mit wahrheitswidrigen Behauptungen in bezug
auf Rentenkürzungen Wahlen gewinnt; es ist schon er-
staunlich, daß Wahlergebnisse auf Unwahrheiten beru-
hen –, stellt jetzt auf einmal, wie ich gelesen habe, fest:
Wir müssen den Menschen sagen, daß sie zukünftig we-
niger Rente erhalten.
Wo bleibt denn da die Glaubwürdigkeit? Debatten so zu
instrumentalisieren halte ich für gefährlich. Denn das
Problem der Rentenversicherung bietet sich hierfür in
keiner Weise an. Wir alle hier im Hause müßten ein In-
teresse daran haben, daß das Vertrauen in die Renten-
versicherung groß ist.
Ich komme nun auf die fünfte Forderung in Ihrem
Antrag zu sprechen. Sie schlagen dort die jährliche
Vorlage einer Generationenbilanz bzw. die Einführung
einer Generationenklausel vor. Das ist kein neuer An-
satz. Er ist uns aus den USA bekannt. Über die Methode
des „Generational accounting“ wird dort diskutiert. Sie
ist aber, wie Ihnen sicherlich bekannt ist, zutiefst um-
stritten.
Sie von der CDU/CSU haben diese in den USA ge-
führte Debatte aufgegriffen, aber nicht die vielfältige
Kritik an diesem neuen Ansatz. Ich empfehle Ihnen, den
entsprechenden Bericht der Deutschen Bundesbank, die
uns nicht so nahesteht, daß wir sagen können, daß sie
unser permanenter Kronzeuge ist, nachzulesen. Dort
wird dargestellt, daß es sich bei diesem „Generational
accounting“ erstens um ein äußerst unsicheres Progno-
seinstrument handelt, daß zweitens die gesamtwirt-
schaftliche Rückwirkung nicht einbezogen wird und daß
drittens Manipulationen, etwa durch die Wahl des Ba-
sisjahres oder anderer Stellschrauben, fast logisch sind.
Selbst Professor Raffelhüschen, der ja wie Sie von der
Union die jährliche Vorlage einer Generationenbilanz
fordert, muß nun eingestehen, daß das „Generational ac-
counting“ vor allem über seine Annahmen im Rahmen
der Berechnung manipulierbar ist. Selbst Laurence Kot-
likoff – das war ja einer der Väter dieser Methode – hat
in der Auseinandersetzung über das Budget des Präsi-
denten der USA genau dies zugegeben und hat sich Ma-
nipulationsmöglichkeiten entgegengestellt. Über diese
Kritik sollten Sie sehr genau nachdenken.
Dieses „Generational accounting“ ist daher ungeeig-
net. Es ist der Gefahr von Schönfärberei ausgesetzt und
könnte mißbraucht werden. Das wollen wir nicht. Des-
wegen halten wir diese Methode für falsch, obwohl es
auch unser Ziel ist – wir setzen das mit einem dauerhaf-
ten Rentenniveau von 67 Prozent um –, die Nachhaltig-
keit des Rentensystems in die Zukunft zu verlängern.
Ich stelle daher fest: Ihr Satz „Sozial gerecht ist nur
das, was auch zwischen den Generationen gerecht ist“
ist richtig. Die Schlußfolgerungen Ihres Antrages sind
leider falsch. Ich würde mich freuen, Frau Schnieber-
Jastram, wenn wir vom Monolog zum Dialog übergehen
könnten und wenn wir gemeinsam über die Sicherheit
des Rentensystems sprechen würden, und zwar ohne
Vorbedingungen und ohne irgendwelche pauschalen
Anwürfe. Dies ist also eine Einladung zur Herausbil-
dung von Gemeinsamkeiten. Ich denke, sowohl die wis-
senschaftliche als auch die gesellschaftliche Diskussion
ist wesentlich positiver als das, was sich in diesem Ho-
hen Hause gelegentlich abspielt.
Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Guido
Westerwelle.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnenund Kollegen! Aus unserer Sicht muß eine Renten-strukturreform drei Kriterien entsprechen: erstens Ren-tensicherheit für diejenigen, die heute in Rente sind,zweitens Beitragsstabilität für diejenigen, die heute ar-beiten, und drittens Generationengerechtigkeit für dieje-nigen, die nach uns kommen, also für diejenigen, dieheute jung sind. Keines dieser drei Kriterien wird indem, was die Bundesregierung vorlegt, erfüllt.
Noch vor einem Jahr konnten Sie, SPD und Grüne,als wahlkämpfende Parteien der Versuchung nicht wi-derstehen, gegen die Anpassung der Rente an die verän-derte Lebenserwartung zu polemisieren. Viel zu ver-lockend erschien Ihnen die Aussicht auf verbesserteIna Lenke
Metadaten/Kopzeile:
5162 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Wahlchancen bei den verunsicherten Senioren. Unmit-telbar nach der letzten Bundestagswahl wurde die Ren-tenreform, die von der alten Koalition strategisch klugbeschlossen wurde, durch die neue rotgrüne Mehrheit imDeutschen Bundestag wieder aufgehoben.
Jetzt, schon ein halbes Jahr später, sieht sich die neueBundesregierung selber vor einer riesigen Reformnot-wendigkeit. Bevor ich mich zu dem aus den Reihen derCDU/CSU-Fraktion vorgelegten Antrag äußere, möchteich klarstellen, was Ihre Rentenpläne, Herr Riester, wasdie Rentenpläne der Bundesregierung bedeuten: IhrenWeg, die Rentenhöhe künftig von der Lohnentwicklungabzukoppeln,
werden wir als liberale Opposition keinesfalls mitgehen.
Für uns ist Rente nämlich kein Almosen, für uns istRente kein Gnadenbrot. Rente ist die Gegenleistung fürlebenslanges Arbeiten und das Einzahlen von Beiträgen.
Wer die Rentenentwicklung von der Wirtschaftssteige-rung abkoppelt, wer die Rente zu einem Willkürakt derdeutschen Politik macht, der betreibt die Südamerikani-sierung der Rente. Das ist es, was Sie in diesem Fall tun,Herr Riester.
Die Renten sind auch früher schon stärker und weni-ger stark gestiegen;
das war auch vollkommen richtig so. Wenn früher dieLöhne stark stiegen, dann stieg auch die Rente stark.
Wenn früher die Löhne weniger stark stiegen, dann stiegauch die Rente weniger stark. Wenn früher die Rentennicht gestiegen sind, weil die Löhne nicht gestiegensind, hat man jedem Senior, jeder Seniorin sagen kön-nen: Es tut uns leid, aber wenn die Löhne nicht steigen,können die Renten nicht steigen. Sie aber machen nichtsanderes, als die Rentenkasse zu Ihrer Wahlkampfkassezu machen. Nach den Wahlen wird gekürzt, vor denWahlen wird erhöht – das ist durchsichtig und unfair ge-genüber allen in diesem Lande.
Wie soll man jungen Menschen eigentlich noch erklä-ren, daß der Generationenvertrag auf Dauer Bestand ha-ben wird und daß die Rentenbeiträge in Form einerRente jemals wieder an sie zurückgezahlt werden? Hierwird der Eindruck erweckt, eine Rentenerhöhung umden Inflationsausgleich schade zwar den Älteren, helfeaber den Jüngeren. Das ist grober Unfug. Wenn heutejeder weiß, daß er, ganz egal, wieviel er arbeitet undwieviel er an Beiträgen an die Rentenkasse zahlt, nie-mals eine vernünftige Rente beziehen wird, dann ver-stärken Sie die Entwicklung, die wir in Deutschland be-kämpfen müssen, nämlich die Tendenz zur Schwarzar-beit, zur Förderung der grauen und schwarzen Bereicheunserer Wirtschaft. Sie befinden sich hier auf einem Irr-weg.
Deswegen sagen wir: Rentenpolitik ist eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe. Genauso wie der Generatio-nenvertrag eine Aufgabe quer durch alle Altersgruppenist, ist es jetzt eine Aufgabe quer durch alle Parteien,eine Rentenstrukturreform auf den Weg zu bringen.Der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversiche-rung liegt heute doch nur deshalb unter 20 Prozent, weilzur Stützung des Systems massiv Steuermittel einge-setzt worden sind. Der Beitrag des Bundeshaushaltes zurAlterssicherung wird im nächsten Jahr insgesamt rund125 Milliarden DM betragen. Wenn nicht bereits einegroße Koalition im Vermittlungsausschuß zur Renten-reform 1999 den Ertrag aus der Anhebung der Mehr-wertsteuer um einen Prozentpunkt in das Rentensystemgeleitet hätte und wenn nicht Rotgrün die Erträge ausder sogenannten Ökosteuer ebenfalls dafür bereitgestellthätte, dann läge der Beitragssatz heute um mindestens 2Prozentpunkte höher. Das sind aber nur scheinbare Sie-ge im Kampf um einen niedrigen Beitragssatz. Es sindPotemkinsche Dörfer, deren Errichtung den Steuerzahlerteuer zu stehen kommt, von der künftigen Belastung dernächsten Generation ganz zu schweigen.
Herr
Kollege Westerwelle, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dreßen?
Gern. Bitte.
Herr
Dreßen, bitte schön.
Herr Kollege Westerwelle, Siehaben gerade moniert, daß der Staat Steuermittel in dasRentensystem gepumpt hat. Würden Sie mir zugestehen,daß der Staat früher die Rentenversicherung mit Dingenbelastet hat, mit denen sie überhaupt nichts zu tun ge-habt hat, nämlich mit den sogenannten versicherungs-fremden Leistungen, und sind Sie nicht der Meinung,Dr. Guido Westerwelle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5163
(C)
(D)
daß es sogar eine gute Tat dieser Regierung war, dieversicherungsfremden Leistungen – die sind ja in Ord-nung – endlich durch Steuermittel zu finanzieren, da siedie gesamte Gesellschaft angehen? Warum sollen dennnur Angestellte und Arbeiter für die permanenten Stei-gerungen dieser Leistungen aufkommen, die Sie in16 Jahren beschlossen haben? Und warum hacken Sieheute darauf herum? Mich würde interessieren, ob Sienoch eins und eins zusammenzählen können.
Von dem letzterenkönnen Sie ausgehen. Ansonsten stimme ich dem erstenTeil Ihrer Einschätzung zu. Ich glaube, es ist eine Auf-gabe dieses Hauses insgesamt, die sogenannten versi-cherungsfremden Leistungen neu zu organisieren.Im zweiten Teil Ihrer Aussage betrachteten Sie denWeg über die Ökosteuer als richtig. Hier stimme ichIhnen nicht zu. Ich halte es für groben Unfug, das, wasman aus einer höheren Besteuerung des Energieverbrau-ches einnimmt, in die Rentenkasse hineinzupumpen.Würde nämlich das Ziel der Ökosteuer erreicht und derEnergieverbrauch zurückgehen, würden automatisch dieFinanzquellen der Rentenversicherung wieder kleinerwerden. Die Folge wäre eine nächste Steuererhöhung.Es ist ein Unsinn, zu glauben, wir bekämen Arbeitsplät-ze nach Deutschland, indem wir nichts anderes tun, alsdie Lasten in der Volkswirtschaft von einer Schulter aufdie andere umzuverteilen. Das ist das Prinzip „linke Ta-sche, rechte Tasche“. Insgesamt müssen Steuern undAbgaben in Deutschland reduziert werden; diesen Wegschlagen wir Ihnen vor.
Die Schwierigkeiten, vor denen die Rentenversiche-rung heute steht, sind geradezu Kleinkram im Vergleichmit den Problemen, in die die Rentenkasse in den näch-sten 30 Jahren hineinläuft. Deswegen ist der Hinweis,die demographische Formel, die von uns in der altenKoalition beschlossen worden war, sei notwendig gewe-sen, aus unserer Sicht völlig berechtigt;
denn die veränderte Altersstruktur in unserer Ge-sellschaft ist offensichtlich geworden. Heute kommt aufetwa zwei Arbeitnehmer ein Rentner. Im Jahre 2030wird dieses Verhältnis 1 : 1 sein. Glücklicherweise wer-den in unserer Gesellschaft die Menschen immer älter.Das wollen wir doch alle. Aber dann kann die Antwortnicht sein, immer früher in Rente zu gehen.Die Frühverrentung hat jungen Menschen in Wahr-heit nicht Arbeit gebracht, sondern lediglich dazu geführt,daß die Großindustrie auf Kosten der Beitragszahler ihrePersonalprobleme gelöst und Arbeitsplätze wegrationali-siert hat. Dies ging zu Lasten des Mittelstandes und derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir kennen ja die irrsinnige Entwicklung aus den 90erJahren. In dieser Frage müssen wir uns alle an die eigeneNase fassen; dies will ich nicht bei nur einer Partei abla-den. Aber das Programm der Frühverrentung war eineFehlentwicklung:
300 000 Arbeitnehmer wurden mit 60 ohne Abschlag indie Rente gebracht. An den Folgen dieser seinerzeitdurch überparteilichen Konsens herbeigeführten Ent-wicklung krankt die Rentenkasse heute noch.Wenn man weiß, daß damals mit der Frühverrentungein Fehler gemacht wurde, dann sollte man heute dieKraft haben – wir haben sie gehabt –, diesen Fehler zukorrigieren, darf aber nicht wie Sie dem Irrsinn der Ge-werkschaften hinterherlaufen und das Renteneintrittsal-ter in Deutschland senken. In ganz Europa gibt es einegegenläufige Entwicklung; nur in Deutschland läuft esso. Das ist absurd, meine Damen und Herren.
In Deutschland liegt das durchschnittliche Renten-eintrittsalter – es geht ja weniger um das gesetzliche,sondern um die Auswirkungen des gesetzlichen auf dasdurchschnittliche Renteneintrittsalter – derzeit bei59 Jahren. Zugleich liegt das Berufseintrittsalter beiStudenten bei 28,5 Jahren. Wir haben in Deutschland diejüngsten Rentner und die ältesten Studenten, wobei bei-de Gruppen noch nicht deckungsgleich sind. Das geht sonicht weiter: Wir dürfen nicht glauben, die Menschen,die immer älter werden, könnten immer früher in Rentegehen. So etwas den Seniorinnen und Senioren vorzu-machen ist erstens diesen Menschen gegenüber unver-antwortlich und zweitens unfair gegenüber den Kindernund Enkelkindern dieser Seniorinnen und Senioren.
Wir haben aus unserer Sicht eine Vielzahl von Wegenaufgezeigt. Sie sagen immer, daß die Opposition keineAlternativen vorlege. Das ist ein Treppenwitz. DieMehrheit von CDU/CSU und F.D.P. im letzten Deut-schen Bundestag – ich habe in dieser Frage vier Jahrelang in der Koalitionsrunde hart mit verhandeln dürfen –hatte sich auf eine Rentenstrukturreform verständigt,die diesen Namen auch verdient.
Wir haben mit unserer Mehrheit im Deutschen Bundes-tag eine wirklich solide Rentenstrukturreform durchge-kämpft. Sie haben sie aufgehoben.
Also können Sie nicht sagen, die Opposition sei ohneAlternative.
Peter Dreßen
Metadaten/Kopzeile:
5164 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Der Weg, den Sie vorschlagen, ist ein wirklicher Irr-weg. Herr Riester, wir hoffen, daß Sie Ihre gewerk-schaftliche Autorität, die Sie als früherer Gewerkschafts-funktionär haben, nutzen werden, um die Gewerkschaf-ten auf den rechten Weg zurückzubringen. Es ist abso-luter Unsinn, zu glauben, wir könnten in Deutschlanddie Frühverrentung weiter befördern. Das hat schon frü-her zu falschen Ergebnissen geführt, und es wird auchjetzt zu katastrophalen Ergebnissen führen: Die Jungenkommen nicht in Arbeit; die großen Industrien rationali-sieren kurz und klein. Das ist nicht der Weg, den wirFreie Demokraten mitgehen wollen, und ich hoffe, daßauch eine Mehrheit in diesem Hause diesen Weg nichtmitgehen will.
Wir wollen Beitragsstabilität. Wenn ein Handwerkerselber vier Stunden arbeiten muß, um sich eine Stundeeines anderen Handwerkers leisten zu können, dann istdas Problem der Lohnzusatzkosten, so meinen wir, aus-reichend beschrieben.
Wir haben in Deutschland keinen Mangel an Arbeit; wirhaben einen Mangel an bezahlbarer Arbeit.Weil von Ihnen der Zwischenruf nach unserer Ver-antwortung kam – ich habe ihn wohl gehört –, möchteich Ihnen nur eines dazu sagen: Ich habe mich gerade indiesen letzten Wochen fest dazu entschlossen, dieserPropaganda, die Sie angefangen haben, nicht weiter wi-derspruchslos zuzusehen.
Sie sagen: In den 16 Jahren ist alles schlecht gewesen.Wir hatten die Sonderaufgabe der deutschen Einheit,und wir sind stolz darauf, daß wir diese Probleme lösenkonnten.
Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten wir dieseProbleme gar nicht lösen können, die im Rahmen derdeutschen Einheit entstanden sind.
Ich erinnere mich noch an die Reden von Lafontaine undFischer von der Zwei-Staaten-Theorie und vieles mehr.Halten Sie uns die Fehler nicht vor, die es gegeben ha-ben mag! Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hättendiese Fehler überhaupt nicht gemacht werden können,weil es zur deutschen Einheit nicht gekommen wäre.
Ein letztes Wort will ich mir nicht verkneifen. Daswerden die Jüngeren in der Union gern hören; die Älte-ren etwas weniger gern. Auch im liberalen Himmel gibtes über nichts und niemanden so viel Freude wie überein bekehrtes schwarzes Schaf.
– Ja, das geht gerade an Sie.Wir haben uns sehr darüber gefreut, daß wir unsereliberale Idee der Generationenbilanz jetzt in IhremAntrag wiederfinden. Ich selber habe in der Koalitions-runde der alten Regierung mehrfach versucht, die Ideeeiner jährlichen Generationenbilanz durchzusetzen. Sievon der Union haben das immer abgelehnt. Deswegenerlauben Sie uns die Genugtuung, die wir darüber emp-finden, daß jetzt auch die größte Oppositionsfraktionsich dem Weg der vorübergehend kleineren Opposi-tionsfraktion angeschlossen hat.
Herr
Kollege Westerwelle, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum
Schluß und möchte Ihnen sagen: Wir sollten unser Ren-
tensystem auf drei Säulen stellen – das ist der Weg, den
wir Ihnen vorschlagen –: Erhalt der beitragsfinanzierten
Rente, weil sie Lebensleistung fördert, mehr betriebliche
Altersvorsorge – dazu zählt übrigens auch eine gescheite
Steuerreform – und vor allen Dingen auch mehr private
Eigenvorsorge. Aber wer von den Jungen heute verlangt,
daß sie mehr Eigenvorsorge für das Alter betreiben sol-
len, der muß dann durch eine Steuer- und Abgabensen-
kungspolitik dafür sorgen, daß die Jungen überhaupt den
Spielraum haben, mehr Eigenvorsorge betreiben zu kön-
nen.
All das tut Ihre Regierung nicht. Sie waren bislang nicht
in der Lage, überzeugende Konzepte für eine Renten-
strukturreform vorzulegen.
Herr Riester ist der Totalausfall dieser Regierung.
Alsnächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Katrin Gö-ring-Eckardt von Bündnis 90/Die Grünen.
Schnieber-Jastram, als ich Ihren Antrag gelesen habe,habe ich gedacht, daß Sie jetzt so einfach nicht mehr sa-Dr. Guido Westerwelle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5165
(C)
(D)
gen würden, die Rente sei sicher. Das hat ja auch HerrWesterwelle jetzt noch einmal festgestellt. Als ich indiesen Tagen die Zeitungsmeldungen, die auf HerrnStorm zurückgingen, gelesen habe, habe ich gedacht:Offensichtlich ist auch Ihnen klar geworden, daß denHerausforderungen, die an das Rentensystem gestelltwerden, nicht mehr ausgewichen werden kann. Viel-leicht hat das ja auch mit einem Generationenwechsel zutun, der irgendwann auch bei Ihnen Einzug hält.
Ja, es ist nämlich die demographische Entwicklung,gekoppelt mit hoher Arbeitslosigkeit, die uns vor neueAufgaben stellt. Auch das muß noch einmal gesagt wer-den: Dadurch, daß Sie jahrelang den Handlungsbedarfignoriert haben, haben Sie diesem Land und den Bürge-rinnen und Bürgern etwas vorgemacht. Immerhin: Wür-den wir keine Reform machen, sondern einfach denBlümschen Demographiefaktor wieder einführen, dannwürde das der Größenordnung einer Erhöhung um sechsMehrwertsteuerpunkte entsprechen.
Das wollen wir nicht.
Ihr Demographiefaktor – das wissen Sie – funktionierteben nicht. Er würde nicht dazu führen, daß die Kauf-kraft der Rentnerinnen und Rentner erhalten bleibt, ob-wohl er definitiv dazu gedacht war. Er sollte ja nicht umweitere Komponenten, beispielsweise eine private undbetriebliche Vorsorge, ergänzt werden. Sie wollten da-mit eine Rentenniveauabsenkung auf 64 Prozent. Dasbedeutet für Erwerbstätige mit geringem Einkommeneine Rente auf Sozialhilfeniveau. Auch das haben Siehier heute noch nicht gesagt.
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Niebel?
rungskampagnen der letzten Wochen Ihr Antrag ist,
dann sage ich nur: Nein, danke. Fangen Sie doch nicht
schon wieder an, so zu tun, als sei alles ganz einfach.
Niemand glaubt Ihnen das heute mehr: die Jungen nicht
und die Alten auch nicht.
Versprechen Sie jetzt nicht wieder kurzfristig etwas, von
dem Sie wissen, daß es langfristig nicht tragfähig ist.
Es kann niemandem egal sein, ob die heute Jungen
überhaupt noch eine Chance auf angemessene Sicherung
im Alter haben.
Uns ist es nicht egal. Das gehört nun tatsächlich zu den
Essentials unserer Politik.
Was ich sinnvoll finde, ist, zu beantworten, wie sich
die Altersentwicklung der Gesellschaft in der Renten-
formel abbilden läßt. Der Bundesarbeitsminister hat mit
der obligatorischen Zusatzvorsorge im Sinne einer
Eigenrente dazu einen – nicht mehrheitsfähigen – Vor-
schlag gemacht. Der DGB schlägt einen Familienfaktor
vor. Ich finde, wir brauchen einen Generationenfaktor,
der die Altersentwicklung langfristig, also mindestens
bis zum Jahr 2030, abbildet.
Wir wollen bei einer leistungsbezogenen Rente auch für
die unteren Einkommensgruppen bleiben. Deswegen:
Einfache Rückkehr zum Blüm-Faktor – nein. Eine neue
Rentenformel mit Generationenfaktor – ja. Das diskutie-
ren wir gerne, ich hoffe übrigens, gemeinsam, konstruk-
tiv, mit Phantasie und auf einem Niveau, das nicht dem
der letzten Wochen und teilweise der heutigen Debatte
entspricht. Aber die Wahlkämpfe sind ja demnächst
vorbei.
Nun entnehme ich den Aussagen Ihres Kollegen
Storm, daß er durchaus bereit ist, die Frage der Netto-
lohnanpassung von der Frage eines langfristigen Ren-
tenkonzeptes zu trennen. Da dachte ich für mich: end-
lich! Schließlich bieten Sie ja bisher keine Alternative,
die ähnlich wirksam im doppelten Sinne ist. Die Rentne-
rinnen und Rentner erhalten zum erstenmal die Garantie,
daß ihre Kaufkraft erhalten bleibt.
Das hätten Sie erst einmal vormachen sollen.
Schritt halten mit der Preisentwicklung – das ist es, was
wir anzubieten haben. Sie wissen genau, daß das nach
dem Hin und Her der letzten Jahre ein wirklich gutes
Angebot ist. Die angeregte Trennung ist deshalb das er-
ste Gesprächsangebot ohne Vorbedingungen. Ich hoffe,
daß Sie dies ernst meinen.
FrauKollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des KollegenStorm?
– Herr Storm ist angesprochen worden.Katrin Göring-Eckardt
Metadaten/Kopzeile:
5166 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Frau Kollegin, habenSie nicht zur Kenntnis genommen, daß sämtliche vonmir gemachten Vorschläge eines gemeinsam haben,nämlich die grundlegende Nettolohnorientierung – er-stens das Abgehen von der Inflationsratenanpassung fürdie nächsten beiden Jahre und die Rückkehr zur Netto-lohnorientierung und zweitens die Nettolohnorientierungin Verbindung mit einem demographischen Faktor inden Folgejahren –, und somit Ihre Behauptung, das seiein Vorschlag des Abgehens von der Nettolohnorientie-rung, offenbar jeder Grundlage entbehrt?
entnommen, daß Sie gesagt haben: Man muß ein langfri-stiges Konzept diskutieren, unabhängig von dem, wasdie Regierung jetzt kurzfristig vorschlägt. Das habe ichsehr begrüßt.Im übrigen kann ich Ihnen vielleicht eine kleine Erin-nerungshilfe geben: Die alte Koalition, der auch Sie an-gehört haben, hat erst 1992 die Nettolohnbezogenheiteingeführt. Ich hoffe, Sie wissen auch noch, warum,nämlich weil damals die Bruttolöhne gestiegen, dieNettolöhne aber wegen Ihrer Politik der steigendenLohnnebenkosten immer weiter gesunken sind.Jetzt möchte ich gerne fortfahren. Ich glaube, daß esin der Rentenfrage in der Tat zwingend ist, zu einemKonsens der Parteien und übrigens auch der gesell-schaftlichen Kräfte zu kommen. Jede Generation, diejunge wie die alte, hat ein Recht auf klare Perspektiven.Ich hoffe, daß die Gewerkschaften den von ihnen einge-schlagenen Weg der konstruktiven Diskussion fortsetzenund nicht durch einen unseligen Konfrontationskurs ab-lösen werden.
Lassen Sie mich deswegen an dieser Stelle noch einpaar Worte zu der Forderung nach einer Rente ab 60sagen. Eine Erhöhung der Beitragssätze, die diese zurFolge hätte, ist für uns nicht hinnehmbar. Was die Bela-stungen der Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer an-geht, sind wir längst an einer Schallmauer angelangt.Die arbeitsmarktpolitischen Effekte – darauf ist heuteschon hingewiesen worden – einer Rente ab 60 sind zubezweifeln. Arbeitsplätze, die in der Vergangenheitdurch Vorruhestandsregelungen freigemacht wurden,sind zum großen Teil nicht wieder besetzt worden. Vonsieben freigewordenen Arbeitsplätzen ist nur einer wie-der besetzt worden.Ich finde, daß Strukturmaßnahmen zugunsten vonUnternehmen nicht zu Lasten der Rentenkasse finanziertwerden dürfen. Was wir brauchen, ist ein lebensphasen-übergreifendes Gesamtkonzept der Arbeitszeitgestal-tung. So sind beispielsweise Jobrotationsmodelle eingeeigneter Ansatz, um tatsächlich Effekte auf dem Ar-beitsmarkt zu erzielen. Dazu gehören auch lebenslangesLernen, Sabbatjahre und ernsthafte Senior-Junior-Modelle auch im öffentlichen Dienst. Das sind allesVorschläge, die aus der laufenden Diskussion hervorge-gangen sind und die man nicht so reduzieren darf, wiedas in den letzten Tagen geschehen ist.Zurück zu Ihrem Antrag: Mir sind einige Aspekteaufgefallen – auch das ist schon gesagt worden –, die ichfür eine Partei, die erst ein gutes Jahr in der Oppositionsitzt, außerordentlich bemerkenswert finde. Bei Ihnenhat offenbar in diesem Jahr ein echter Wandel stattge-funden. Das findet insbesondere in Ihrer Anerkenntnisder Lebensrealität, wie sie sich heute darstellt, ihrenNiederschlag. Sie sprechen von zunehmender Frauener-werbstätigkeit, von diskontinuierlichen Erwerbsbiogra-phien, von der besseren Berücksichtigung von Kinderer-ziehungszeiten oder einer angemessenen Reform derHinterbliebenenrente. Fast möchte man es Ihnen erspa-ren, darauf zu verweisen, daß Sie all das in der Tat nochvor gut einem Jahr hätten haben können und dafür auchbreite Unterstützung in diesem Haus gefunden hätten.Was ist aber die wesentliche Herausforderung an dasSystem selbst? Es geht um eine doppelte Gerechtigkeits-frage. Wir brauchen die Gerechtigkeit zwischen den Ge-nerationen und innerhalb der jeweiligen Rentnergenera-tion.
Es kann nicht um eine einfache Rückkehr zur lohnbezo-genen Rente gehen, sondern wir brauchen ein Konzept,das die Herausforderung annimmt, sich nicht nur bis zurnächsten Wahl herüberzuretten.Zu Recht mahnen gerade die heute Jungen diese Per-spektiven an. Es ist heute eben nicht mehr abwegig,schon im Alter von 17 Jahren an die Rente zu denken.Daß wir heute in der Situation sind, in der die 17- wiedie 40jährigen davon ausgehen, daß ihre Rente nicht si-cher ist, daß sie im Vergleich zu den hohen Belastungenvon heute keine adäquaten Leistungen morgen erwartenkönnen, ist ein ernsthaftes Zeichen. Wer irgendwiekann, bringt längst sein Scherflein ins trockne. Pech al-lein hat, wer nichts besitzt.Auch das ist ein zentraler Ansatzpunkt für die rotgrü-ne Regierung. Es muß Schluß sein mit dem Prinzip „werhat, der hat“ oder „wer mehr hat, dem wird noch mehrgegeben“.
Genau deswegen ist die eingeschlagene Richtung, pri-vate und betriebliche Vorsorge auch für diejenigen lu-krativ zu gestalten, die kleine Einkommen beziehen,sinnvoll.
Richtig ist auch, in aller Ehrlichkeit zu sagen: Alleindie umlagefinanzierte Altersvorsorge wird auf langeDauer keine Lebensstandardsicherung gewährleisten.Mit einem Freibetrag für private Vorsorgemaßnahmen,wie wir Grüne ihn präferieren, gäbe es endlich Transpa-renz im System. Es kommt darauf an, die Beiträge zurgesetzlichen Rentenversicherung so zu gestalten, daßsich auch diejenigen mit geringen Einkünften Vorsorge
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5167
(C)
(D)
leisten können, ohne am täglichen Bedarf – das betrifftgerade die Familien – zu sparen. Denn daß es diejeni-gen, die heute für Kinder aufkommen, am wenigstensind, die an Altersvorsorge denken können, und zwaraus finanziellen Gründen, ist ein unhaltbarer Zustand.Sicher muß man nicht, wie es der katholische Famili-enbund formuliert, fordern, daß Kinderlose höhereRentenbeiträge bezahlen. Daß wir aber im Gegenzug einSystem haben, in dem sich Doppelverdiener ohne Kin-der das volle Programm vom mehrwöchigen Urlaub ander Westküste über das Zweitauto fürs Wochenende biszu einer lukrativen Altersvorsorge alles leisten können,während auf der anderen Seite Eltern mit dem Zelt los-ziehen und letztlich hoffen, daß es im Alter irgendwieklappt, kann auch nicht sein. Es geht nicht darum, deneinen gegen den anderen auszuspielen. Wir haben heutemorgen hier über ein kinderfreundliches Deutschlanddebattiert. Dazu gehört auch ein umfassender Ausgleichfür die Familien. Die rotgrüne Regierung macht endlichernst damit. Wir werben auch um Ihre Unterstützung da-für.
Viel gewonnen ist freilich, wenn Sie heute sagen: Ja,es muß eine eigenständige Alterssicherung für Frauengeben. Sie wissen, daß diese Koalition an diesem Punktbesonders intensiv arbeitet. Die unsteten Erwerbsbio-graphien, die Möglichkeiten, in Teilzeitarbeitsverhält-nisse zu gehen, auch ohne immense Einschnitte bei derRente hinnehmen zu müssen, sind Beispiele dafür.Bei der Problemlösung wird es aber auch darauf an-kommen, Vielfältigkeit abzubilden. Es gibt sie ebennicht mehr, die klassische Erwerbsbiographie oder dieklassische Familienbiographie. Deswegen halte ich dievorgesehene Optionslösung für einen guten Ansatz.Auch das ist ein echtes Angebot an die Jungen, weil esheißt, Lebensplanung ernst zu nehmen.Noch einmal: Worum geht es? Es geht erstens umGerechtigkeit zwischen den Generationen. Das heißt,erträgliche Beiträge, eine langfristige Option der Alters-vorsorge und eine Vielfalt von Möglichkeiten der pri-vaten und betrieblichen Vorsorge. Es geht zweitens umGerechtigkeit in der jeweiligen Rentnergeneration. Dazugehört die Anerkenntnis unterschiedlicher Lebensent-würfe ebenso wie die Chance auch für Geringverdiener,nicht allein auf die gesetzliche Altersvorsorge angewie-sen zu bleiben. Dazu gehört auch, das System armutsfestzu machen.Da wundere ich mich schon: Kein Wort in IhremAntrag zu der Frage, wie Altersarmut, insbesondere ver-schämte Altersarmut bekämpft werden kann. Gibt esdenn nach Ihrer Ansicht eine angemessene Absicherungim Alter nur für diejenigen, denen es auch im Erwerbs-leben schon gut ging? Sie wissen genau: Es geht nichtdarum, denjenigen zu subventionieren, der sagt: Irgend-wie wird sich der Staat am Ende schon um mich küm-mern. Es geht mir – das ist der Kern sozialer Politik –um diejenigen, die im Alter ohne eigenes Verschuldenarm sind, die ihr Armsein ohne Murren im stillen Käm-merchen, oft mit Verzweiflung, hinnehmen. Daß sienicht dazugehören sollen und gerade so das Überlebenschaffen, ist nicht akzeptabel. Dies sind Menschen, diesich nicht zum Sozialamt trauen, weil sie Angst haben,daß ihre Kinder für ihren Unterhalt aufkommen müssen,Menschen, die sich einfach schämen.Zum erstenmal soll es gelingen, hier zu sagen: Ja,diese Gesellschaft weiß um diese Menschen, und sie gibtihnen die Möglichkeit, in Würde zu leben. Dazu gehört,daß die alten Unterhaltsregelungen ersetzt werden. Dazugehört auch, daß wir Alte eben nicht zum Sozialamtschicken, wie Sie das jahrelang getan haben.
Ich halte das für einen Schritt, der dieser Gesellschaftein Stück Menschlichkeit zurückgibt. Sie wissen, daßwir Grünen solche Schritte viel umfassender wünschen.Hier soll ein solcher Weg, ein Weg zu mehr Mensch-lichkeit und Würde, gegangen werden. An dem gibt esfür uns nichts zu deuteln, gar nichts.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Balt von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Das Bonbon zum Jahr des Miteinanders derGenerationen scheint die Debatte über die Zukunft derAlterssicherungssysteme zu sein. Mit Eifer wird ver-sucht, den Eindruck zu erwecken, man könne durch blo-ßes Umschichten von Geldern die Alterssicherung billi-ger machen, ohne die Leistungen für den einzelnenschmerzhaft zu senken.Die Kontroversen zeigen die Kompliziertheit desProblems. Das Hin und Her verunsichert alle, Alte undJunge. Aber kaum jemand spricht noch über die Ursa-chen des Problems. Die Rentenversicherungen habennämlich Einnahmen- und Ausgabenprobleme.Die von Arbeitsminister Riester gemachten Vor-schläge lassen selbst bei gutem Willen nicht die Ansatz-punkte einer großen Rentenstrukturreform der Koalitionerkennen. Haben wir noch die Aussetzung des willkürli-chen „demographischen Faktors“ in der Rentenformelsowie das Rentenreformgesetz 1999 bezogen auf dieBerufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten als damalserste Schritte in die richtige Richtung unterstützt, so leh-nen wir die Aussetzung der nettolohnbezogenen Dyna-misierung in den Jahren 2000 und 2001 ab,
da sie nur zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes zuLasten der Rentnerinnen und Rentner und der Arbeitslo-sen beiträgt.In Zahlen: Bekannt ist, daß im Rahmen des Sparpro-gramms von 30 Milliarden DM allein durch das Ausset-Katrin Göring-Eckardt
Metadaten/Kopzeile:
5168 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
zen der Rentenanpassung in den Jahren 2000 und 2001von den Rentnern 8 Milliarden DM aufgebracht werdensollen. Aus der Drucksache 14/1401, Seite 18, geht her-vor, daß auch die Anpassung der Arbeitslosenhilfe inden Jahren 2000 und 2001 auf die Höhe der Preissteige-rung begrenzt und die Bemessungsgrundlage für dieRenten- und Pflegeversicherungsbeiträge nur noch dieHöhe der Arbeitslosenhilfe sein soll. Allein die letzteMaßnahme führt zu einer Einsparung im Bundeshaus-halt des Jahres 2000 in Höhe von 4,5 Milliarden DM.Diese 4,5 Milliarden DM werden letztlich der Renten-und Pflegeversicherung entzogen. Es wird schon heutedie Grundlage dafür gelegt, daß die Arbeitslosen in 30oder 40 Jahren eine deutlich geringere Rente erhaltenwerden. Mit einer solchen unsozialen Politik kann sichdie PDS nicht einverstanden erklären.
Ebenso wehren wir uns dagegen, daß durch das In-krafttreten einer weiteren Stufe der Ökosteuerreformim nächsten Jahr der Beitragssatz zur Rentenversiche-rung erneut gesenkt werden soll. Auch diese Maßnahmedient nicht der Rentenversicherung; vielmehr werdendurch sie weitere 800 Millionen DM beim Bundeszu-schuß an die Rentenversicherung eingespart.Wir sagen ja zur Reform, aber nein zu solchen Maß-nahmen, die allein die Ausgaben der gesetzlichen Ren-tenversicherung betreffen und Einsparungen zu Lastender Rentnerinnen und Rentner bedeuten. Wir wollengrundsätzlich am leistungs- und beitragsbezogenen ge-setzlichen Rentenversicherungssystem festhalten, umeigenständige Existenzsicherung, Anerkennung von Le-bensleistungen im Alter und sozial gerechte Lastenver-teilung als soziale Maßstäbe zu erhalten.
Die Privatisierung sozialer Risiken lehnen wir strikt ab.Wir lassen auch nicht zu, daß die gesetzliche Renten-versicherung totgeredet wird. Die größte Bedrohung fürden Bestand der gesetzlichen Rentenversicherung istheute nicht die demographische Entwicklung, sonderndie hohe Massenarbeitslosigkeit und die Unzahl versi-cherungsfreier Minijobs sowie Scheinselbständigkeitund illegale Beschäftigung.
Deshalb müssen vor allem neue Arbeitsplätze geschaf-fen werden. Erwerbsarbeit soll generell sozialversiche-rungspflichtig sein. Aber künftig sollten auch Selbstän-dige, Beamte, Freiberufler sowie wir Abgeordnete, Mi-nister und andere einen Beitrag zur Finanzierung der so-lidarischen Rentenversicherung leisten.
Die PDS fordert eine eigenständige Alterssicherungfür Frauen, in der die gesamte Lebensleistung ange-messen berücksichtigt wird. Hierzu zählt unter anderemeine längere und großzügigere Anrechnung von Kinder-erziehungszeiten, die Gleichstellung von Erwerbs- undPflegetätigkeit sowie eine höhere Bewertung von Teil-zeitbeschäftigung und geringfügiger Beschäftigung.
Um die gesetzliche Rentenversicherung stabil, zu-kunftssicher und armutsfest zu machen, schlagen wir dieEinführung einer steuerfinanzierten Grundsicherung vor.Sie soll die beitragsfinanzierten Leistungen auf einemexistenzsichernden Niveau gewährleisten und all jene,die aus eigener Kraft kein Einkommen in Höhe derGrundsicherung erzielen können, vor Armut schützen.Dies gilt natürlich nicht nur für Rentnerinnen und Rent-ner, sondern gleichermaßen auch für Arbeitslose, Men-schen mit Behinderungen und andere Gruppen, die heutenoch immer oder schon wieder sozial benachteiligt sind.Durch zunehmend unstete Erwerbsbiographien ist esin Zukunft immer weniger möglich, 45 Arbeitsjahre miteinem Durchschnittseinkommen zu erreichen. Deshalbist die gesetzliche Rentenversicherung so zu reformie-ren, daß für die Mehrheit der Versicherten eine Rentevon 70 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkom-mens auch unter den veränderten Bedingungen realisiertwerden kann. Wir wollen an der solidarischen Finanzie-rung der Rentenversicherung durch Arbeitgeberbeiträgeund Beiträge der abhängig Beschäftigten festhalten. Al-lerdings ist die Erhebung der Arbeitgeberbeiträge aufGrund der Bruttolohnsumme nicht mehr zeitgemäß, dafinanzkräftige Unternehmen mit wenig Personal kaumbelastet werden. Hier bietet sich eine Wertschöpfungs-abgabe als Alternative an.
Hierbei würde die tatsächliche wirtschaftliche Lei-stungsfähigkeit der Unternehmen zugrunde gelegt. Ar-beitsintensive Betriebe würden entlastet. Kapitalintensi-ve Betriebe mit wenig Personal müßten dann entspre-chend höher belastet werden.Um Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Ren-tenversicherung in das notwendige Gleichgewicht zubringen, ist auch der steuerfinanzierte Bundeszuschußzur Rentenversicherung angemessen zu erhöhen. Dafürist aber ein Bruch mit der gegenwärtigen neoliberalenSteuerlogik unbedingt erforderlich. Hohe Einkommenund Vermögen sind höher zu besteuern. Die Umvertei-lung von unten nach oben muß umgekehrt werden.Danke.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Erika Lotz von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen, liebe Kollegen! Herr Westerwelle, das, was Sie hiergeboten haben,
Monika Balt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5169
(C)
(D)
war Wahlkampf pur. Ihre Formulierung, wir machtendie Rentenkasse zur Wahlkampfkasse, ist eine unver-antwortliche Entgleisung. Ich fordere Sie auf, dies zu-rückzunehmen.
Auch Ihre Behauptung, die Koalition und die Regie-rung koppelten die Rentenerhöhungen von den zukünf-tigen Lohnsteigerungen ab, stimmt ganz einfach nicht.Sie wissen genau, welche Hinterlassenschaft an Schul-den Sie uns übergeben haben und weshalb wir in dieserSituation sind.
Allzugerne wird vergessen, welche Kürzungen vonIhnen in der Vergangenheit durchgesetzt worden sind.
– Herr Westerwelle, eines will ich sagen: Ich bin dafürdankbar, daß Sie mit dem Märchen aufgeräumt haben,die alte Koalition habe immer das Angebot gemacht,Rentenkürzungen im Konsens mit uns durchzusetzen.Es wurde immer behauptet, der Rentenkonsens sei vonunserer Seite gebrochen worden. Sie haben heute ganzklar gesagt, daß Sie Rentenkürzungen alleine durchge-setzt haben.
Hierfür sage ich danke schön.
Über Ihre Behauptung, wir machten die Rentenkasse zurWahlkampfkasse, bitte ich Sie, Herr Westerwelle, nocheinmal nachzudenken. Können Sie das in diesem Hauseso stehenlassen?
Frau Schnieber-Jastram, wir reden heute nicht übereinen Antrag der F.D.P., sondern der CDU/CSU. Sie ha-ben Dialogbereitschaft angekündigt. Das ist zu begrü-ßen. Wenn Sie aber gleichzeitig Bedingungen stellenund Statistiken zur Rentenberechnung anführen, mit de-nen Sie alles auf den Kopf stellen, dann muß ich sagen,daß es mit Ihrer Dialogbereitschaft offensichtlich nichtso weit her ist. Gegenwärtig erfahren wir über die Zei-tungen von den Vorschlägen des anderen; aber vielleichtkommen wir da noch einmal ein Stück weiter.Die Bundesregierung hat ein klar durchdachtes Ren-tenkonzept.
Es orientiert sich an der Tatsache, daß auf der einenSeite die Menschen älter werden – das begrüßt jeder,auch wenn es den Zeitraum des Bezugs von Rente ver-längert – und daß auf der anderen Seite die Zahl der Er-werbstätigen, die dieses System bezahlen, im Verhältnisimmer kleiner wird. Wir berücksichtigen in unseremKonzept beide: Rentner und Beitragszahler. Das istmehr, als Sie in den letzten 16 Jahren zustande gebrachthaben.
Ich will auf einige Punkte Ihres Antrags eingehen.Die Schwierigkeiten der gesetzlichen Rentenversiche-rung haben Sie erkannt. Aber es drängt sich schon dieFrage auf, warum Sie die 16 Jahre Ihrer Regierungszeitnicht genutzt haben, um die Alterssicherung strukturellanzugehen.
Genau das tun wir jetzt. Anstatt darüber froh zu sein,fordern Sie uns auf, so weiterzumachen wie Sie: an allenEcken Leistungen zu kürzen, das Rentenniveau aufDauer zu senken und trotzdem die Beiträge gleichzeitigsteigen zu lassen. Kollege Bodewig hat darauf hinge-wiesen. Ich sage Ihnen: Diese Politik werden wir sicher-lich nicht fortsetzen,
auch nicht die Politik eines Verschiebebahnhofes zwi-schen Renten- und Arbeitslosenversicherung, die dieBeiträge einmal hier und einmal dort herunterfährt.
Ihr Antrag zeigt aber auch, daß wir uns in einigenPunkten offensichtlich einig sind. Daß man miteinanderspricht oder daß Sie mit uns darüber sprechen wollen,das ist ja etwas, worüber man sich eigentlich freuenkann. Ihr Antrag enthält allerdings viele Forderungen,die wir mit unserem Rentenkonzept schon erfüllen. AlsBeispiel nenne ich, eine zweite und dritte Säule für dieAlterssicherung auszubauen. Dieses konnten Sie ja denBerichten über das letzte Treffen der entsprechendenArbeitsgruppe des Bündnisses für Arbeit am 21. Sep-tember entnehmen. Wir konzentrieren uns dabei – daswollen ja auch Sie – auf Personen mit unterdurch-schnittlichen Einkommen. Deshalb werden wir das Spa-ren zur Alterssicherung in Zukunft mit einer Prämie fürdie unteren und mittleren Einkommen belohnen. Wirführen diese Prämie ein, weil wir wissen, daß man gera-de auch in Zeiten leerer Kassen in die Zukunft investie-ren, das heißt: Vorsorge treffen muß. Uns geht es darum,die private Vorsorge derjenigen zu fördern, die nicht soviel verdienen, als daß sie dieses ohne Hilfe des Staatestun könnten.Daß es in Zukunft Familien gibt, die keine Steuernzahlen, aber trotzdem noch etwas zur Seite legen kön-nen, ist ein echter Fortschritt, den diese Bundesregierungerreicht hat. Daß ab dem nächsten Jahr Durchschnitts-familien mit zwei Kindern und mit einem Jahresein-kommen von bis zu 50 000 DM keine Steuern mehrzahlen, haben sie der Politik der rotgrünen Bundesregie-rung zu verdanken. Es ist nämlich eine Folge des Steuer-entlastungsgesetzes. Von einem steuerfreien Einkom-Erika Lotz
Metadaten/Kopzeile:
5170 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
men von bis zu 50 000 DM konnten die Familien biszum letzten Herbst nur träumen.
Mit dem Angebot an die Tarifvertragsparteien, einenTariffonds aufzubauen, damit die Abschläge bei den-jenigen, die früher in Rente gehen, gemildert werdenkönnen, beschreiten wir den richtigen Weg. Weil wirwissen, daß die Situation in den Branchen ganz un-terschiedlich ist und sich auch die Maßnahmen für dieAlterssicherung danach richten müssen, überlassen wirdie Ausgestaltung der Vereinbarung den Tarifpartnern.Auch in einem anderen Punkt sind wir uns offenbareinig. Sie fordern von uns ein Konzept zur Verbesserungder eigenständigen sozialen Sicherung von Frauen.Die SPD hat dafür schon seit Jahren ein Konzept; einVorschlag der CDU/CSU dazu fehlt bis heute. Dabeiwäre es Ihre Aufgabe gewesen, die Alterssicherung vonFrauen zu verbessern, denn schon 1991 hat der Bundes-tag in einer Entschließung gefordert, dazu bis 1997 einKonzept vorzulegen. Das haben Sie nicht fertiggebracht.Unsere Überlegungen dazu kennen Sie. Wir wollen, daßdie Rentenanwartschaften, die in einer Ehe erworbenwerden, partnerschaftlich geteilt werden, weil die Zahlder Familien, in der ein Ehepartner die Familienarbeitleistet und der andere ihn versorgt, immer geringer wird.Wir werden uns dabei an dem Versorgungsausgleich beiScheidungen orientieren, weil uns dies am gerechtestenerscheint.Wir haben aber auch noch anderes getan, was Sie inIhrem Antrag überhaupt nicht erwähnen: Wir haben dieÄnderungen, die Sie bei den Erwerbsunfähigkeitsrentenvorgenommen haben, wieder zurückgenommen. Daswar auch notwendig. Es wäre schon schön gewesen,Frau Schnieber-Jastram, wenn Sie auch dazu etwas ge-sagt oder im Antrag niedergeschrieben hätten.
Statt dessen sagen Sie nach wie vor, Ihre sogenannteRentenreform sei richtig gewesen. Ich halte sie vielmehrfür unsozial. Wir werden mit unserer Strukturreform andieser Stelle für mehr Gerechtigkeit sorgen. Dies istganz einfach notwendig. Wir behalten deshalb die ar-beitsmarktbedingten Erwerbsunfähigkeitsrenten bei. Dasbedeutet, für uns spielt es auch eine Rolle, ob jemandüberhaupt noch eine Arbeit finden kann, und nicht nur,ob er theoretisch noch für ein paar Stunden am Tag ar-beiten könnte.
Ich hoffe, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen auch vonder Opposition, daß nach den Wahlen in Berlin – HerrWesterwelle, ich verstehe, daß man, wenn die Aussich-ten unter 5 Prozent liegen, auch den Deutschen Bundes-tag für Wahlkampfzwecke zu nutzen versucht;
aber Sie sollten den Bundestag nicht dazu benutzen,Rentner und Rentnerinnen zu verunsichern – ganz ein-fach wieder Ruhe einkehrt und wir in Ruhe miteinanderberaten können. Unser Strukturkonzept liegt auf demTisch. Es ist vernünftig. Ich hoffe, wir werden uns nochweiter annähern; ich hoffe, Sie werden dann unserenBegründungen folgen und unserem Konzept zustimmen.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Johannes Singhammer
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DasVertrauen von 18 Millionen Rentnerinnen und Rentnernin die Zukunft der Rentenversicherung ist erschüttert.
Weitere zehn Millionen Arbeitnehmer, die voraussicht-lich in den nächsten zehn Jahren in Rente gehen werden,machen sich Sorgen.
Der Grund ist, daß sie sich von dieser rotgrünen Bundes-regierung getäuscht fühlen. Warum fühlen sie sich ge-täuscht?
Die frühere Bundesregierung hatte ein Rentenkonzept inGesetzesform gegossen. Es hat Härten enthalten. Wirhaben den Rentnern einiges abverlangt. Sie haben imBundestagswahlkampf mit der Botschaft argumentiertund auch gewonnen, es bedürfe keiner Einschränkun-gen, keiner Umstellungen im Rentensystem; es bedürfekeiner unangenehmen Entscheidungen; es könne soweitergehen wie bisher – obwohl jedem Experten, auchbei Ihnen, schon damals, im Jahre 1998, klar war, daßviel zu wenig Kinder geboren werden und damit einegroße Lücke an künftigen Beitragszahlern droht,
obwohl bekannt war, daß die Erwerbsbiographien derArbeitnehmer im Durchschnitt immer kürzer werdenund obwohl eine ständig steigende Lebenserwartung zuverzeichnen ist. Beispielsweise stieg die durchschnittli-che Rentenbezugsdauer von Frauen von 1960 bis 1996von 10,6 Jahren auf 18,5 Jahre. Das alles war bekannt.
Erika Lotz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5171
(C)
(D)
Als diese Bundesregierung schon sechs Monate imAmt war – das kann ich Ihnen nicht ersparen –, begingdieser Bundeskanzler den größten Wortbruch, den je einBundeskanzler seit Bestehen der BundesrepublikDeutschland begangen hat.
Er sagte am 17. Februar:Ich stehe dafür, daß die Renten in Zukunft so stei-gen wie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer.Hundert Tage später mußte er in einem Interview ein-räumen:Wir haben die Nettolohnformel für die nächstenzwei Jahre nur ausgesetzt.Das ist der Grund für die Verunsicherung, und dashaben Sie zu verantworten.
Die rotgrüne Bundesregierung hat die Rentenreformder früheren Regierung außer Kraft gesetzt, die Renten-steigerungen vom Nettolohn abgekoppelt und entgegenallen ihren Ankündigungen nicht einmal Ansätze einesneuen, geschlossenen Rentenkonzepts vorgelegt.
Wir, die Union, haben nicht nur ein Konzept; wir habenein Gesetz. Wir brauchen daher keinerlei Vorwürfe vonIhnen entgegenzunehmen.
Trotz dieser Vorgeschichte sind wir, die Union, zuernsthaften Gesprächen mit der rotgrünen Bundesregie-rung über die Zukunft der Renten bereit. Denn ein„Weiter so“-Gewurstel dieser rotgrünen Bundesregie-rung ist zwar gut für die Wahlergebnisse von CDU undCSU in den Bundesländern, aber schlecht für die Men-schen in Deutschland.
Für uns sind folgende Eckpunkte von entscheidenderBedeutung:Erstens. Das Vertrauen in die gesetzliche Rentenver-sicherung muß wiederhergestellt werden. Eine Rentenach Kassenlage kommt für uns nicht in Frage. Willkürdarf nicht Berechenbarkeit ersetzen. Als Mittäter füreinen Rentenschwindel stehen wir nicht zur Verfügung.
Zweitens. Wir wollen keine Grundrente, sondern dieBeibehaltung und Fortentwicklung der leistungs-, bei-trags- und umlagefinanzierten Rente. Eine Grundrenteals Grundversorgung benachteiligt diejenigen Beitrags-zahler, die überdurchschnittlich eingezahlt haben. Dazugehört vor allem auch der Facharbeiter.
– Schreien Sie nicht so laut, sondern hören Sie zu, HerrBodewig! – Eine Grundrente
lähmt jeglichen Leistungsgedanken und widersprichtdem Prinzip, das lautet: Wer mehr und länger einzahlt,soll später auch mehr Rente bekommen. Dazu stehenwir.
– Dann hören Sie zu!Drittens. Die Generationengerechtigkeit muß ge-währleistet sein.
Weil immer mehr Menschen älter werden, müssen diewachsenden Belastungen zwischen den Beitragszahlernund den Rentenbeziehern ausgewogen und gerecht ver-teilt werden. Der Demographiefaktor der früheren Re-gierung war die konsequente Umsetzung des Solidari-tätsprinzips zwischen den Generationen.
Zur Generationengerechtigkeit zählt auch, daß dieverringerten gesamtgesellschaftlichen Kosten durch dendramatischen Geburtenrückgang berücksichtigt wer-den. Immer weniger Kinder bedeuten natürlich auch:Weniger Kindergartenplätze und weniger Schulplätzewerden benötigt. Später kommt es aber zu einer Verrin-gerung der Zahl der Beitragszahler.
– Hören Sie doch einmal zu, damit Sie noch etwas ler-nen! Sie sprechen immer von Dialog und können nichteinmal zwei Sätzen folgen, ohne dazwischenzuschreien.Das hat folgende Konsequenzen: Wer Kinder erziehtund damit eine herausragende gesellschaftliche Aufgabewahrnimmt, soll künftig besser und gerechter behandeltwerden, vor allem während der Familienphase, die er-fahrungsgemäß besondere finanzielle Belastungen mitsich bringt.
Es ist naheliegend, daß eine Vorsorgerücklage gebildetwird, wobei ein kompletter Wechsel von der Umlage-Johannes Singhammer
Metadaten/Kopzeile:
5172 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
finanzierung zu einer Kapitaldeckung – das wissen allehier – weder realistisch noch sinnvoll ist.Die Ergänzung heißt Stärkung der betrieblichen undprivaten Altersvorsorge. Die wachsende Belastung derkünftigen Beitragszahler soll durch den Aufbau einerprivaten Altersabsicherung ausgeglichen werden. Auffreiwilliger Basis – das ist wichtig – sind private Anla-geformen durch steuerliche Maßnahmen so zu fördern,daß sie eine hohe Attraktivität gewinnen. Ein staatlichesZwangssparen ist mit uns nicht zu machen.
Viertens. Keine Absenkung des Renteneintrittsal-ters. Herr Riester, bleiben Sie hart! Wer angesichts derimmer weniger Jüngeren und immer mehr Älteren in un-serer Gesellschaft jetzt eine massenhafte Frühverrentungauf den Weg bringen will, geht in die falsche Richtung.Die Einnahmenlücken der Rentenversicherung werdensteigen, oder die Renten werden geringer ausfallen.Denn irgend jemand muß den früheren Rentenbeginnletztendlich bezahlen. Was in diesem Bereich zum Teilan Konzeptionen gehandelt wird, ist ein Vertrag zu La-sten Dritter, nämlich zu Lasten derjenigen Beitragszah-ler, die voraussichtlich nie in den Genuß einer früherenRente kommen werden.Wir lehnen solche Pläne auch deshalb ab, weil zumBeispiel ein 60jähriger nicht von vornherein zum altenEisen gehört. Seine Erfahrung und sein Können sindwichtige Grundlagen für den Erfolg unserer Volkswirt-schaft und ein Wissensschatz, den man nicht ohne weite-res beiseite legt. Allerdings gilt auch: Wer 45 Jahre langhart gearbeitet und Beiträge in die Rentenversicherunggezahlt hat, der muß die Sicherheit haben, eine volleRente zu erhalten.
Sie sehen, welche Eckpunkte für uns eine Rolle spie-len. Wir sind zu einem ernsthaften Gespräch bereit, al-lerdings nicht, Frau Kollegin Lotz, in gebückter Haltungund schon gar nicht dahin gehend, daß wir Ihre Bedin-gungen vorher akzeptieren. Wir haben unsere Eckpunk-te. Sie sind gerecht und zukunftssicher.Ich rate Ihnen – das darf ich Ihnen zum Schluß nochsagen –: Setzen Sie statt des demographischen Faktorslieber den demagogischen Faktor aus. Das tut dem ge-meinsamen Bemühen um eine Rentenversicherung, dieSicherheit und Zukunft bietet, gut.
Alsnächster Redner hat das Wort der Bundesminister Wal-ter Riester.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozi-alordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion wurdevon der Abgeordneten Schnieber-Jastram mit dem Hin-weis eingebracht, er stelle den Versuch dar, einen Dia-log zur Rentenfrage zu beginnen. Nun wissen Sie, daßich als Minister erst relativ kurze Zeit die Eigenartenparlamentarischer Debatten miterlebt habe. Ich will je-doch die letzten 90 Minuten einmal vergessen und andem Punkt anknüpfen, an dem ein Dialog beginnenkönnte.Zuerst möchte ich Ihnen sagen, daß ich der Teilanaly-se zum Rentenversicherungssystem in Ihrem Antragüber weite Strecken zustimme.
Ich hätte mich gefreut – das sage ich als jemand, derschon frühzeitig, auch damals im gewerkschaftlichenLager, auf die Problemstellung in der Rentenversiche-rung hingewiesen hat; natürlich nicht immer zur Freudeder Sozialpolitiker –, wenn die kritische Elle sehr frühangelegt worden wäre.Ich möchte zu Ihren Forderungen kommen. Zunächstkomme ich zu der in der Debatte relativ neuen Forde-rung – gerade höre ich von Herrn Westerwelle, die Libe-ralen hätten sie schon einmal eingebracht –, eine Gene-rationenbilanz vorzulegen. Diese Grundlinie halte ichfür spannend und wichtig. Allerdings – der AbgeordneteBodewig hat darauf hingewiesen – zeigt sich in demLand, in dem eine solche Bilanz seit 1990 entwickeltworden ist, gleichzeitig, wie schwierig das ist. Der An-satz, der dort gewählt worden ist, führt bisher nach demErgebnis aller Untersuchungen in die Irre. Gleichwohlwill ich diese Überlegung aufnehmen. Ich wäre sehrdaran interessiert, wenn wir an dieser Frage einer Gene-rationenbilanz arbeiten könnten.Ich habe Ihnen schon sehr früh gesagt: Die Bundesre-gierung wird im Jahr 1999 die Rentenstrukturreformentwickeln und sie im nächsten Jahr in eine parlamenta-rische Debatte einbringen. Nun haben Sie einige Forde-rungen gestellt. Lassen Sie mich zunächst auf die Forde-rung eingehen, ein Konzept zur Verbesserung der eigen-ständigen sozialen Sicherung der Frau vorzulegen. Siedürfen davon ausgehen: Das werden wir vorlegen. Ichfrage allerdings: Warum hat das die Vorgängerregierungnicht getan? Wir werden das vorlegen; das sage ichIhnen zu. Es wird Bestandteil der Rentenreform sein.Zweiter Punkt. Sie wollen ein Konzept zum Ausbauder betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Sie wis-sen: Exakt an dem Punkt arbeiten wir. Das ist Bestand-teil der Rentenreform. Sie werden es im nächsten Jahr inder parlamentarischen Debatte vorfinden. Sie könnensich dann trefflich mit uns darüber streiten oder uns zu-stimmen, je nachdem. Mir wäre es lieber gewesen, imVorfeld einer parteiübergreifenden Diskussion mancheDinge gemeinsam zu entwickeln. Aber das war offen-sichtlich nicht möglich.
Nächster Punkt. Sie sagen, Sie möchten den im Ren-tenreformgesetz 1999 enthaltenen demographischenFaktor bis spätestens 1. Januar 2000 wieder in Kraftsetzen. Ich kann Ihnen schon heute sagen: Das werdenJohannes Singhammer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5173
(C)
(D)
wir nicht machen. Ich kann Ihnen auch sagen, warum.Ich habe in diesem Hause schon mehrmals gesagt: Ichsehe das demographische Problem der Rentenversiche-rung als eines der Kernprobleme. Ich halte den von deralten Regierung gewählten Weg, dem zu begegnen, fürunzureichend, und zwar aus zwei Gründen:Erstens. Das Gesetz sieht beim Nettorentenniveaueine unterste Auffanglinie von 64 Prozent vor. Bis zudiesem Punkt, sagen Sie, wird die Nettoanhebung derRenten ausgesetzt und jedes Jahr mit einem demogra-phischen Abschlag versehen.Bis zum Jahre 2012/2013 etwa – die Leute, die dasentwickelt haben, sind meine Mitarbeiter im Ministeri-um – wären wir bei einem Satz von rund 65 Prozent ge-wesen. Das große demographische Problem, das auftrittund worauf keine Antwort gegeben wird, nämlich dasVerhältnis von Rentneranteil zu Beschäftigtenanteil, be-ginnt dort erst richtig.Ungeachtet dessen, welche Regierung vor der Pro-blemstellung steht, sie wird nur vier Lösungsmöglich-keiten haben: erstens, das Gesetz zu öffnen und dasRentenniveau noch weiter abzusenken – eine, hoffe ich,von niemandem gewünschte Lösung –; zweitens, dieBeiträge hochzuziehen – in Ihrem Antrag steht, Siewollen eine Stabilisierung der Beiträge; also auch das istnicht gewünscht –; drittens, in Milliardenhöhe zusätzli-che Steuermittel – Sie haben zu Recht darauf hingewie-sen, daß der Steueranteil immer höher wird; also auchdas ist nicht gewünscht –; viertens – das ist die einzigdenkbare Lösung –, den Rentenzugang nicht bei 65,sondern bei 67 oder 68 zu wählen. Das müssen wir abersehr früh machen, damit es überhaupt wirkt. Damitwollte ich Ihnen zeigen, warum die Berücksichtigungdes demographischen Faktors die Problemstellung nichtlöst.Ich will Ihnen zweitens aber auch sehr offen sagen –dies draußen anzusprechen, ist nicht bequem –: Die jet-zige Rentnergeneration, der ich das sehr gönne undwünsche, hat das beste Rentenniveau in bezug auf dieeingezahlten Beiträge; das wissen wir alle.Ich bin sehr dafür, daß diejenigen, die hohe Beiträgezahlen, auch relativ hohe Renten bekommen. Ich akzep-tiere auch, daß diejenigen, die niedrige Beiträge zahlen,auch niedrige Renten bekommen.Aber mit mir wird es keinen Weg geben, daß die50jährigen und Jüngeren, daß ganze Generationen stän-dig steigende Beiträge zahlen – wir waren bei 20,3 Pro-zent; wenn wir nicht korrigiert hätten, wären wir im Jah-re 2001 bei 21 Prozent und im Jahre 2002 bei 21,5 Pro-zent gewesen –, aber anschließend ein Rentenniveau von64 Prozent oder möglicherweise noch weniger haben.Da mache ich nicht mit.
Deswegen und nicht, weil ich die demographischeProblemstellung leugnen will – das wäre ja naiv –, sageich: Der Ansatz war, vorsichtig ausgedrückt, unterent-wickelt.
Nächster Punkt. Sie fordern, den vom Bundeskabinettgefaßten Beschluß, die Rentenanpassung für das Jahr2000 und 2001 lediglich in Höhe der Inflationsrate vor-zunehmen, nicht umzusetzen. Ich hatte gestern eine in-teressante Diskussion in der ASMK, in der alle Ministerder Länder versammelt waren. Es war eine für michausgesprochen offene und hochinteressante Diskussion,die mir folgendes gezeigt hat: Hinsichtlich der Notwen-digkeit einer Rentenreform waren wir uns in allen Zieleneinig. Es gab einige Punkte, wo wir unterschiedlicheWege gewählt haben.Ich gehe jetzt auf einen Punkt ein, der völlig zu Un-recht als der Hauptteil der Rentenreform – es ist derBeitrag, den die Rentner zu leisten haben – bezeichnetworden ist. Ich habe die Länderminister gefragt, ob ir-gend jemand von ihnen der Meinung ist, daß wir imnächsten und im darauffolgenden Jahr die Beiträge an-heben sollten. Das haben sie weit von sich gewiesen. Siehaben gesagt: Um Gottes willen, nein!Ich habe ihnen dann die Berechnungen aller bisheri-gen Überlegungen dargestellt, die vom Deutschen Ge-werkschaftsbund, die Einführung des Demographiefak-tors und die etwa von Herrn Schmähl eingebrachteRückkehr zur Bruttolohnbezogenheit. Alle führen dazu,daß die Beiträge wieder steigen.Ich aber sage: Wir haben es hinbekommen, daß dieversicherungsfremden Leistungen – das ist nicht derrichtige Begriff; aber die Öffentlichkeit weiß, was da-mit gemeint ist – aus der Rentenversicherung heraus-genommen worden sind, unter Einspeisung zusätz-licher Steuermittel. Der Unterschied zwischen der inder Vergangenheit vorgenommenen Erhöhung derMineralölsteuer und der Entscheidung, die wir jetztumsetzen, besteht in der Höhe. Die Mineralölsteuer istvon 1989 bis 1994 um 55 Pfennig für verbleites Ben-zin angehoben worden. Damit sind Haushaltslöcher ge-stopft worden. Ich will das nicht kritisieren. Wir he-ben die Mineralölsteuer in fünf Jahren um 30 Pfennigan und geben jede Mark in die Beitragsentwick-lung. Damit haben wir die versicherungsfremden Lei-stungen jetzt steuerfinanziert und den Beitragssatz abge-senkt.
Sie werden doch nicht annehmen, daß wir nach diesernotwendigen Operation für die Rentenversicherung, mitder wir sie entlasten, dem Steuerzahler jetzt sagen, daßwir den Beitrag nun wieder erhöhen, weil die Oppositionauf einmal erkennt, sie möchte einen höheren Renten-versicherungsbeitrag. Das können und werden wir nichtmachen.
Bundesminister Walter Riester
Metadaten/Kopzeile:
5174 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Da bin ich dann für eine offene, ehrliche Darstellungdraußen im Lande.
– Das ist ja das Schlimme, Herr Singhammer, daß Sie esnicht sagen. In der Wirkung Ihrer Forderung kommtnichts anderes als die Erhöhung des Rentenversiche-rungsbeitrages heraus.
Jetzt lassen Sie mich das auch einmal etwas emotio-nal sagen: Ich habe mir die forsche Rede eines Liberalenvor 30, 40 Minuten hier angehört. Er hat hier erklärt, erhätte gern einen Zusammenhang zwischen den Löhnenund den Renten. Er wurde nicht müde, zehn Jahre langzu sagen, daß die Löhne zu hoch sind, und er nimmtnicht zur Kenntnis, daß die Rentenentwicklung im We-sten in sechs Jahren viermal unter der Preissteigerungs-rate lag.
Ich hätte mir gewünscht, daß dieser Liberale sichselbst einmal an die Brust geklopft hätte wegen einerPolitik, die er mit vertreten hat: daß in fünf Jahren dieBeiträge von 17,5 auf 20,3 Prozent gestiegen sind undauf 21,3 Prozent gestiegen wären, wenn die Oppositionnicht unterstützt hätte, daß die Mehrwertsteuer das ab-fängt. Das sind 41 Milliarden DM Belastung für dieBeitragszahler. Er hat mitgetragen, daß der Bundeszu-schuß um 40 Milliarden DM angehoben worden ist. Sa-gen Sie einmal Ihren Leuten, daß das fünf ProzentpunkteMehrwertsteuer sind.Damit sind wir bei der Ehrlichkeit; an die bitte ichimmer zu denken; denn jede Politik hat ihre Wirkungen.Ich zeige sie auf – das ist nicht ganz bequem –, Sie ver-schweigen sie.
Herr
Bundesminister, wären Sie bereit, eine Zwischenfrage
des Kollegen Louven zuzulassen?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozi-
alordnung: Ja.
Herr
Louven, bitte schön.
Herr Bundesminister,jetzt sind Sie bei der Ehrlichkeit, wie Sie sagen. ZurEhrlichkeit gehört auch, hier darauf hinzuweisen, daßder Kollege Dreßler, den man ja interessanterweise beiRentendebatten hier nicht mehr sieht, drei Wochen vorder Bundestagswahl öffentlich erklärt hat, die SPD habeein Rentenkonzept, welches von der BfA gerechnet sei,wonach weder eine Erhöhung des Beitrags noch eineKürzung der Rente notwendig sei. Ich habe damalsnachweisen können, daß die BfA nie ein Modell derSPD gerechnet hat. Nun frage ich Sie, ob es zur Ehrlich-keit gehört, daß sich die SPD im Wahlkampf so verhältund Sie heute so tun, als gäbe es dies überhaupt nicht.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Ich sage Ihnen ganz klar: Ein Konzept, dasweder Beitragserhöhungen noch Leistungsabsenkungenvorsieht, kann ich Ihnen nicht bieten.
Ich sage Ihnen offen, was möglich ist, und ich sageauch, welche Lösungen wir dafür haben. Dazu stehe ich.Diese Frage müssen Sie nicht an mich stellen. Ich ver-trete diese Position, die ich früher vertreten habe, offen.Ich vertrete sie auf jeder Versammlung. Ich habe letzteWoche vor 1 200 Rentnern gesprochen. Ich stelle michder Diskussion und habe sehr viel Zustimmung dafürbekommen, daß man endlich offen und ehrlich sagt, wasgemacht werden muß und was nicht gemacht werdenkann.
Meine Damen und Herren, abschließend: Ich habegern die Einleitung von Frau Schnieber-Jastram zurKenntnis genommen, daß das der Beginn eines Dialogssei. Ich möchte ihn aufnehmen. Ich sage Ihnen aberauch: Streckenweise hätte ich die 12 Parlamentarier, dieInteresse an diesem Dialog hatten, auch in die Schenkeeinladen können. Ich möchte ihn wirklich führen, ichmöchte ihn ernst führen,
und ich sage Ihnen zu, daß die Punkte, die ich aufgeführthabe, von uns als Vorlage in das Parlament eingebrachtwerden.Gestern habe ich die Länderregierungen gebeten, andem Konzept mitzuarbeiten. Ich war sehr froh, daß einMinister eines CDU-geführten Bundeslandes, der seineWahl hinter sich hat, offen erklärt hat: Warten wir ab,bis die Wahl in Berlin vorbei ist. Dann würden wir gernemitarbeiten. Es gehört zur Ehrlichkeit, aufzuzeigen, daßWahlkampfstimmung mit Sachfragen vermischt wird.
Der betreffende Minister ist leider – das möchte ichIhnen sagen – von der sogenannten Südschiene der Op-Bundesminister Walter Riester
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5175
(C)
(D)
position brutal abgestraft worden. Es wird wohl keinenDialog mehr geben. Soweit ist es in dieser Frage leidergekommen.Ich werde nicht müde, dafür zu kämpfen, daß wir dieRentenreform gemeinsam hinbekommen.
Ich werde aber dagegen vorgehen,
daß Menschen auf eine unverhältnismäßige Weise ver-unsichert werden und daß eine Hetzkampagne betriebenwird.
Diese wird auf Sie zurückschlagen.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Guido We-
sterwelle das Wort.
Herr Minister, Sie
haben mich ja persönlich angesprochen.
– Doch, in den letzten 40 Minuten hat hier nur ein Libe-
raler gesprochen. Sie haben nur meinen Namen nicht
genannt.
– Ja, glauben Sie es mir. – Darum möchte ich auf das,
was Sie gesagt haben, antworten.
Was die Beitragserhöhung angeht, erwecken Sie den
Eindruck, daß das Konzept der Opposition zwangsläufig
zu Beitragserhöhungen führen würde.
Dies ist ausdrücklich nicht richtig. Wir haben nämlich in
der letzten Legislaturperiode eine Rentenstrukturreform
vorgelegt, die erstens dem Ziel der Beitragsstabilität,
zweitens dem Ziel der Rentensicherheit und drittens dem
Ziel der Generationengerechtigkeit gerecht geworden ist.
Angesichts der Tatsache, daß die alte Regierung ein
Konzept vorgelegt hat, können Sie nicht sagen, dessen
Umsetzung sei nicht möglich. Es ist vom Gesetzgeber,
dem Deutschen Bundestag, mit Mehrheit verabschiedet
worden.
Etwas anderes ist der Fall gewesen. Ihr früherer Par-
teivorsitzender Oskar Lafontaine hat in Sachen Steuern
und Rente aus kleinkariertem parteipolitischem Manöver
eine Blockade- und Obstruktionspolitik betrieben.
Das wollen Sie heute nicht mehr wissen. Aber Sie wer-
den von uns immer wieder daran erinnert werden.
Schließlich sagten Sie, es gehe um Preissteigerungen.
Sie haben bestimmte Preissteigerungsraten angeführt.
Zwischen unseren Auffassungen besteht ein wesentli-
cher Unterschied. Ich habe Ihnen, als ich hier gespro-
chen habe, ausdrücklich gesagt: Es hat in der Vergan-
genheit mehrfach Situationen gegeben, in denen die
Renten stark gestiegen sind, weil die Löhne stark gestie-
gen sind. Es hat auch Situationen gegeben, in denen die
Renten minimal gestiegen sind, weil auch die Löhne mi-
nimal gestiegen sind. Jetzt aber angesichts der Tatsache,
daß die Löhne steigen, die Renten zu kürzen, ist ein
Verbrechen in bezug auf den Generationenvertrag. Das
ist nicht fair. Das hat es in der Nachkriegsgeschichte von
Deutschland noch nicht gegeben.
Ich will im übrigen auf folgendes aufmerksam ma-
chen: Sie, Herr Riester, sind lediglich der Arbeitsmi-
nister. Sie haben die Beiträge, die fleißige Menschen
eingezahlt haben, treuhänderisch zu verwalten. Sie sind
nicht der Eigentümer dieser Steuern und Beitragsgelder.
Sie sollten sich entsprechend verhalten. Wenn Menschen
gearbeitet und Beiträge eingezahlt haben, dann haben sie
ein Recht darauf, eine höhere Rente zurückzubekom-
men, wenn die Löhne steigen.
Schließlich ist es erforderlich, noch etwas zu Ihren
Krokodilstränen darüber, daß es hier nicht zu einer Eini-
gung kommt, festzustellen: Sie sagten, eine Reform
würde der jungen Generation nutzen. Das, was Sie jetzt
tun, nutzt der jungen Generation nichts.
Herr
Westerwelle, kommen Sie bitte zum Schluß.
Sofort, ich bin beimeinem letzten Gedanken. – Denn daraus würde folgen:Wenn meine, die junge und die jüngere Generation fest-Bundesminister Walter Riester
Metadaten/Kopzeile:
5176 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
stellt, daß sie einzahlen kann, soviel sie will, und daß sienichts dafür bekommt,
dann werden wir erleben, daß ein Abwandern in andereSysteme erfolgt. Damit legen Sie die Axt an die Wurzeldes beitragsfinanzierten Rentensystems. Das ist ein Irr-weg, den wir nicht mitgehen können.
Herr
Bundesminister, Sie haben die Gelegenheit zu antwor-
ten.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozi-
alordnung: Ich mache es ganz kurz. Ich messe Sie nicht
an dem, was Sie tun wollten, sondern an dem, was Sie
getan haben.
Sie haben zugelassen, daß die Beiträge in fünf Jahren
um 41 Milliarden DM und der Bundeszuschuß um
45 Milliarden DM gestiegen sind,
stellen sich aber heute hier hin und tun so, als seien Sie
nicht dabeigewesen.
Ich messe Sie nicht an dem, was Sie tun wollten, son-
dern an dem, was Sie getan haben. Und das werfe ich
Ihnen vor.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Maria Böhmer
das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als erstes, Herr Mi-nister Riester: Da Sie gesagt haben, wir seien an dem zumessen, was getan worden ist, muß auch einmal danachgefragt werden, was diese Regierungskoalition getanhat. Sie hatten nach der Wahl, da Sie sich selbst in dieseZwangslage gebracht haben, nichts Eiligeres zu tun, alsden demographischen Faktor zurückzunehmen.
Damit haben Sie die Tür für die Steigerung der Renten-beiträge geöffnet. Und da Sie dies nicht auffangenkonnten, greifen Sie jetzt zu dieser Hilfskonstruktion.
Sie wollen nicht eingestehen, daß der demographischeFaktor die Lasten in der Rentenversicherung, die durchweniger Geburten und die Tatsache entstehen, daß dieMenschen immer älter werden, daß also immer mehrMenschen länger Rente beziehen können, auf die Jungenund die Alten gerecht verteilen würde. Das war unserAnsatz, unsere Philosophie des demographischen Fak-tors. Dies hätte zu einem gedämpften Anstieg der Rentegeführt
und dazu, daß die Beitragssätze hätten im Zaum gehal-ten werden können.
Sie aber haben dies am Ansatz vernichtet.Danach haben Sie viele Vorschläge ausgebreitet –wie auf einem Markt der Möglichkeiten –, die in Ihreneigenen Reihen keine Zustimmung fanden. Ich darf zumBeispiel einmal an die Zwangszusatzversicherung er-innern. Sie haben vorgegaukelt, Sie würden die Renten-beiträge senken. Auf der anderen Seite aber wollten Sieder jungen Generation 2,5 Prozent mehr aufbürden –zwar außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung,aber in der Summe kommt es doch auf das gleiche hin-aus. Ich frage Sie: Was wollten Sie damit letztendlicherreichen?
Dieser Vorschlag ist aber schnell wieder in der Schubla-de verschwunden.Wir hören auch immer wieder von Ihren Tariffonds.Was hat denn das für eine Bedeutung, wenn Sie schließ-lich zu Vereinbarungen kommen, die eine ganz andereGrundlage für die Entwicklung der Rentenerhöhung dar-stellen?Ich frage Sie hier: Ist es systemgetreu, wenn dieRente für zwei Jahre von der Nettolohnentwicklung ab-gekoppelt und nur in Höhe der Inflationsrate angepaßtwird? Mitnichten; denn Sie kehren von dem Prinzip derlohnbezogenen Rente ab. Am 15. September haben Siehier gesagt, daß die Nettolohnorientierung in zwei Jah-ren wieder eingeführt wird. Hören Sie einmal, was dieBevölkerung davon hält. Sie sagt: Die Botschaft höre ichwohl, aber der Glaube an diese Worte fehlt mir.
Das Schlimmste an dieser Entwicklung, Herr Mi-nister, aber ist: Durch diese Zickzack-Rentenpolitik ha-Dr. Guido Westerwelle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5177
(C)
(D)
ben Sie das Vertrauen in die Rentenversicherung wirk-lich erschüttert.
Sollen denn ältere Menschen, sollen Witwen und Wai-sen jedes Jahr am 1. Juli zittern, wie die Rentenanpas-sung ausfällt? Was bedeutet es für die jungen Menschen,wenn sie sich auf kein gesichertes Konzept einstellenkönnen? Und ein gesichertes Konzept von Ihnen liegtbis heute nicht vor.
– Es liegt nicht vor, Sie haben es bisher nur angekün-digt.Vor einem Jahr haben Sie gesagt, Sie wollten eineStrukturreform der Rentenversicherung.
Das ist eine wichtige Ankündigung. Aber was ist bisherherausgekommen? Das sind ja nicht einmal Einzelele-mente einer Strukturreform.
Ich möchte noch einen anderen Punkt in den Blicknehmen, weil er in der Debatte ebenfalls eine Rolle ge-spielt hat: die bedürftigkeitsorientierte Grundsiche-rung. Hier wurde – fast mit Tränen in den Augen – vor-getragen, daß sie vielen älteren Menschen helfen würde,die sich in der schwierigen Situation der verschämtenAltersarmut befinden.
Wir alle wissen, daß nur noch 2 Prozent der Senioren inWestdeutschland und 1 Prozent der Senioren in Ost-deutschland eine so niedrige Rente bekommen, daß siezusätzlich Sozialhilfe beziehen müssen. Es ist also einkleiner Prozentsatz.
Die bedürftigkeitsorientierte Grundsicherung, die Siefordern, bedeutet, daß mehr als 10 Millionen Rentnerdurch die Mangel der Prüfung gezogen werden.
Sie bedeutet ferner eine zusätzliche Belastung für alle,weil sie ihr Vermögen offenlegen müssen.
Außerdem werden diejenigen, die sich Tag für Tagkrummgelegt haben, um Vorsorge für ihr Alter zu tref-fen, im Vergleich zu denen schlechter behandelt, die ihrGeld ausgegeben haben.
Das kann nicht Sinn der Sache sein.
Frau
Kollegin Böhmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gilges?
Da ich mit HerrnGilges oft und gerne debattiere und die Qualität seinerFragen kenne, sage ich ihm: Herr Gilges, heute diskutie-ren wir einmal ohne Ihre Zwischenfragen.
Den Gang zum Sozialamt wollen Sie diesen älterenMenschen ersparen. Dafür habe ich durchaus Verständ-nis, weil auch ich weiß, wie schwierig die Situation fürdiese Menschen – es sind überwiegend Frauen – ist.Aber wie wollen Sie es dann rechtfertigen, daß die al-leinerziehende Mutter nach wie vor zum Sozialamt ge-hen muß? Bei den einen ist der Gang zum Sozialamt einunzumutbarer Punkt, bei den anderen nicht. Ein solcherAnsatz trägt nicht, muß ich Ihnen sagen. An der Stellesollten wir gemeinsam nach anderen Lösungen suchen.Herr Minister, ich habe mit großer Spannung gehört,daß Sie uns signalisierten, Sie seien zu Gesprächen undzum Dialog bereit. Einer der drei Punkte, die Sie in die-sem Zusammenhang genannt haben, war die eigenstän-dige soziale Sicherung der Frau. Nach all den Ankündi-gungen, die wir im Wahlkampf und schon vorher gehörthatten – immer wieder ist von der SPD die eigenständigesoziale Sicherung der Frau gefordert worden –, warte ichbis heute darauf, daß Sie ein Konzept vorlegen. Alles,was Sie bisher angekündigt haben, läuft auf das Gegen-teil hinaus und bedeutet neues Unheil am Horizont.Am 9. Mai wurde in der „Bild“-Zeitung gesagt: „DieBonner Horrorliste: Witwenrente wird gekürzt“. Dar-aufhin habe ich die Bundesregierung gefragt, ob sie pla-ne, die Hinterbliebenenrente zu kürzen, und ob es zu-treffe, daß die Anrechnung der eigenen Rente des Wit-wers bzw. der Witwe bei der Hinterbliebenenversorgungverschärft werden solle. Am 11. Juni erhielt ich von derParlamentarischen Staatssekretärin Mascher eine knap-pe, aber eindeutige Antwort. Sie lautete: – Nein! Ichdachte, diesmal halte die Bundesregierung immerhinWort und ich sei einer Ente in der „Bild“-Zeitung aufge-sessen. Doch schon am 19. Juni, gerade einmal acht Ta-ge später, meldete die „FAZ“, daß der Arbeitsministersich zur Reform der Hinterbliebenenversorgung geäu-ßert und ein Optionenmodell vorgelegt habe. Ich habedas mit großer Spannung gelesen, allerdings auch denletzten Satz, der folgendermaßen lautet:Auf die Hinterbliebenenrente soll Einkommen über630 DM voll angerechnet werden.Herr Minister, das bedeutet bei dieser einen Option einedoppelte Kürzung. Das bedeutet auch, daß Sie den Frei-Dr. Maria Böhmer
Metadaten/Kopzeile:
5178 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
betrag von derzeit annähernd 1 300 DM im Westen aufdie Hälfte, nämlich auf 630 DM, reduzieren. Dazukommt, daß Sie künftig darüber hinausliegendes Ein-kommen nicht mehr nur prozentual anrechnen; nein, Siewollen es voll anrechnen. Ich habe mir einmal erlaubt,das für einen typischen Fall durchzurechnen. Mein Er-gebnis ist, daß dieser Ansatz von Ihnen bedeutet, daßzukünftige Witwen bei ihrem Alterseinkommen mitEinbußen rechnen müssen, die in der Größenordnungvon 1 000 DM im Monat liegen.
Ein solches Minus ist ein Skandal!
Sie sollten einmal rechnen.
Rechnen Sie einmal diese Beträge durch!
Es zeigt sich ja, daß viele Vorschläge aus dem Ministe-rium offensichtlich nicht durchgerechnet sind. So kannman keine verantwortliche Politik im Bereich der Ren-ten machen. Das ist ein Schlag ins Gesicht aller, die aufdie Rente angewiesen sind.
Zum Abschluß möchte ich Ihnen noch sagen:
Wir werden Sie in der Frage der Verbesserung dereigenständigen Sicherung der Frau und der Reform derHinterbliebenenversicherung an Prüfsteinen messen. Dererste Prüfstein wird sein: Wie wird die eigenständige so-ziale Sicherung der Frau ausgebaut? Da Frau Schmidtnickt – wir haben oft darum gerungen –, muß ich sagen:
Im Splitting liegt keine eigenständige soziale Sicherungder Frau.
Denn jede Alleinerziehende, jede nicht verheiratete Frauist davon ausgenommen, weil sie nicht auf eine abgelei-tete Sicherung – vom Ehemann – rechnen kann. AlsoFehlanzeige.
Zweiter Punkt. Sie haben bisher keine Vorschläge zueinem Ausgleich für erziehungsbedingte Nachteile bzw.für die Familienarbeit vorgelegt.
Ich sehe nicht, daß es bei Ihnen eine Weiterentwicklunggibt. Wir haben die Erziehungszeiten eingeführt; wir ha-ben in der vergangenen Legislaturperiode die Gleich-wertigkeit zwischen Erwerbsarbeit und Familienarbeithergestellt. Weitere Schritte sind notwendig, da wir wis-sen, wie sich die Alterseinkünfte bei Frauen entwickeln.Aber auch hier Fehlanzeige.
Frau
Kollegin Böhmer, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme jetzt
zum Schluß.
Es ergibt sich drittens auch keine Verbesserung für
die Problemgruppen der Alleinerziehenden oder Ge-
schiedenen.
Sie geben viertens keine Antwort – wie wir das in unse-
rem Antrag gefordert haben – auf die veränderten Le-
bens- und Erwerbsverläufe angesichts der Flexibilisie-
rungen in der Arbeitswelt.
Wir werden sehr gespannt auf das Konzept sein, das Sie
immer wieder ankündigen, und wir werden mit Ihnen
darüber diskutieren, ob es tatsächlich Verbesserungen
für Rentner und für Rentnerinnen bringt. Ich muß Ihnen
sagen: Nach Ihren heutigen Ausführungen habe ich
mehr Zweifel als je zuvor, was Ihr Rentenkonzept an-
belangt.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Ulrike
Mascher.
Frau Dr. Böhmer, erstensmöchte ich Ihnen raten, unser Konzept für eine Grundsi-cherung sorgfältig zu prüfen und hier keine Unwahrhei-ten zu behaupten.
Nur bei denjenigen, die eine geringe Rente beziehen, diedie Grundsicherung in Anspruch nehmen wollen und dieeinen Antrag stellen, wird das zusätzliche Altersein-kommen geprüft. Es wird nicht die Vermögenssituationaller Rentnerinnen und Rentner überprüft. Nur das Ein-kommen der Rentner, die eine kleine Rente beziehenund deswegen diese Grundsicherung in Anspruch neh-men, wird überprüft.
Zweitens. Wir wollen für diejenigen Väter und Müt-ter, die wegen Kindererziehung nur teilzeiterwerbstätigDr. Maria Böhmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5179
(C)
(D)
sein können, eine Aufwertung ihrer Rentenansprücheauf mindestens 75 Prozent erreichen – nach den Regelnder Rente nach Mindesteinkommen bis zum 10. Le-bensjahr des Kindes. Ich denke, das ist eine ganz wichti-ge Verbesserung der Situation von erwerbstätigen Müt-tern und Vätern, etwas, was Sie leider nicht vorange-bracht haben.
Drittens. Mit der eigenständigen Alterssicherung derFrau wollen wir eine Gleichstellung zwischen den ge-schiedenen und den verwitweten Frauen erreichen. Denneine verwitwete Frau, die wieder heiratet, verliert ihrenWitwenrentenanspruch, während die geschiedene Frauihren Anspruch aus dem Versorgungsausgleich mitneh-men kann. Ich denke, diese Gleichstellung ist längstüberfällig.
Darüber hinaus möchte ich ganz klar sagen – damit esauch der Öffentlichkeit klar ist –: Die heutigen Witwenund Witwer – insbesondere die Witwen – brauchenüberhaupt keine Sorge zu haben, daß ihre Rente gekürztwird.
Das habe ich in der Fragestunde ganz deutlich zumAusdruck gebracht.Wir wollen allerdings für die Zukunft eine Reformder Hinterbliebenenversorgung, weil wir der Entwick-lung, daß die Frauen durch Erwerbstätigkeit zunehmendeigene Ansprüche erwerben, Rechnung tragen wollen.Frau Dr. Böhmer, wenn Sie ehrlich sind, dann geben Siezu, daß man über diese Frage auch vor dem Regie-rungswechsel im Arbeitsministerium nachgedacht hat.Danke.
Zur Er-
widerung die Kollegin Maria Böhmer.
Frau Mascher, an-
gesichts dessen, was derzeit auf dem Tisch liegt – ich
denke, es liegt noch auf dem Tisch; denn Minister Rie-
ster hat seine Äußerungen aus der Sommerzeit ja nicht
zurückgenommen –, deutet alles darauf hin, daß wir uns
mit dem Optionenmodell auseinandersetzen müssen.
Das Optionenmodell enthält zwei Splittingvarianten,
und das damit verbundene Unterhaltsersatzmodell führt,
wie ich beschrieben habe, zu dieser massiven Kürzung
im Bereich der Hinterbliebenenversorgung. Davor kön-
nen Sie nicht die Augen verschließen: daß das zukünftig
zu erheblichen Einbußen für Frauen führen wird.
Ich bitte Sie wirklich, eingehend zu prüfen, ob Sie bei
dem Optionenmodell bleiben wollen. Die Eheleute müs-
sen sich zu Beginn ihrer Ehe – so haben Sie es angekün-
digt – für eine der drei Varianten entscheiden, und das
birgt Unwägbarkeiten.
– Sie können ja nicht alle acht Tage eine Revision dieser
Entscheidung vorsehen. – Das bedeutet aber, daß derje-
nige, der sich falsch entscheidet, der Dumme ist. Das
dürfen nicht wieder die Frauen sein.
Dieser Ansatz geht auch völlig an all denjenigen vor-
bei, die nicht verheiratet sind. Was ist das für ein Kon-
zept, das zeitgemäß sein will, aber zum Beispiel die Al-
leinerziehenden nicht berücksichtigt?
Deren finanzielle Situation ist, gerade im Alter, oft be-
sonders schwierig. Da tut Hilfe not. Bisher haben Sie
dazu nichts vorgelegt.
LiebeKolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/1310 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14, 17a bis 17f und18b – Überweisungen im vereinfachten Verfahren –auf: 14. Beratung des Antrags der Abgeordneten JellaTeuchner, Dr. Margrit Wetzel, Hans-WernerBertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,Winfried Hermann, Steffi Lemke, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENVerbot quecksilberhaltiger Fieberthermometer– Drucksache 14/1352 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demVertrag vom 19. Juni 1997 zwischen der Bun-desrepublik Deutschland und der Tschechi-schen Republik über den Eisenbahnverkehrüber die gemeinsame Staatsgrenze und überUlrike Mascher
Metadaten/Kopzeile:
5180 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
den erleichterten Eisenbahndurchgangsver-kehr– Drucksache 14/1413 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Richtlinie 97/74/EG des Rates vom15. Dezember 1997 zur Ausdehnung derRichtlinie 94/45/EG über die Einsetzung einesEuropäischen Betriebsrats oder die Schaffungeines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhö-rung der Arbeitnehmer in gemeinschaftweitoperierenden Unternehmen und Unterneh-mensgruppen auf das Vereinigte Königreich
– Drucksache 14/1429 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort-führung der ökologischen Steuerreform– Drucksache 14/1668 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-regelung der Förderung der ganzjährigen Be-schäftigung in der Bauwirtschaft– Drucksache 14/1669 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Famili-enförderung– Drucksache 14/1670 –Überweisungsvorschlag:
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kör-perschaftsteuer- und Gewerbesteuergesetzes– Drucksache 14/1520 –Überweisungsvorschlag:
gierung Bericht der Bundesregierung über ihreBemühungen zur Stärkung der gesetzgeberi-schen Befugnisse des Europäischen Parla-ments 1998– Drucksache 14/439 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union(federführend)Auswärtiger AusschußRechtsausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für GesundheitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18a sowie 18c bis18g – Abschließende Beratungen ohne Aussprache –auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes– Drucksache 14/864 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 14/1651 –Berichterstattung:Abgeordnete Detlev von LarcherHeinz Seiffert c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelbericht 74 zu Petitionen– Drucksache 14/1596 – d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 75 zu Petitionen– Drucksache 14/1597 – e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 76 zu Petitionen– Drucksache 14/1598 –Vizepräsident Dr. Hermann Otto-Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5181
(C)
(D)
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 77 zu Petitionen– Drucksache 14/1599 – g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 78 zu Petitionen– Drucksache 14/1600 –Es handelt sich hierbei um die Beschlußfassung zuVorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 18a: Abstimmung über den vonder Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zurÄnderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes, Drucksa-chen 14/864 und 14/1651. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Bei Enthaltung der PDS-Fraktion ist der Ge-setzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenom-men.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist bei Enthaltung der PDS-Fraktion und Zustimmungaller anderen Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 18c bis 18g.Wir kommen zu den Beschlußempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Abstimmung über Sammelübersicht 74 auf Drucksa-che 14/1596: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen?– Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmigangenommen.Abstimmung über Sammelübersicht 75 auf Drucksa-che 14/1597: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 75 istbei Enthaltungen von CDU/CSU und F.D.P. angenom-men.Abstimmung über Sammelübersicht 76 auf Drucksa-che 14/1598: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen?– Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 76 ist beiAblehnung der PDS-Fraktion mit Zustimmung aller an-deren Fraktionen angenommen.Abstimmung über Sammelübersicht 77 auf Drucksa-che 14/1599: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen?– Wer enthält sich? – Diese Sammelübersicht ist beiAblehnung der F.D.P.-Fraktion mit den Stimmen allerübrigen Fraktionen angenommen.Abstimmung über Sammelübersicht 78 auf Drucksa-che 14/1600: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen?– Wer enthält sich? – Diese Sammelübersicht ist mit Zu-stimmung aller Fraktionen angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 2 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der PDSHaltung der Bundesregierung zur Sicherungdes Fortbestandes von Stadtwerken und Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen im liberalisiertenStrommarktIch eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat dasWort der Kollege Rolf Kutzmutz von der PDS, die An-tragsteller war.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Wenn 30 000 Beschäftigte vonStadtwerken auf die Straße gehen, weil viele Arbeits-plätze und eine wirklich zukunftsfähige Technologie, dieKraft-Wärme-Kopplung, in Gefahr sind, dann erscheintes hoffentlich nicht nur der PDS mehr als angebracht,dieses Problem im Plenum zu behandeln. Tatenlos zu-schauen darf die Politik nicht. Sie darf es schon deshalbnicht, weil die jetzt regierende Koalition bereits bei derVerabschiedung des Energiewirtschaftsgesetzes im No-vember 1997 haargenau auf die nun tatsächlich einge-tretenen Probleme der Gesetzeslage hingewiesen hat.Ich erinnere mich noch gut, wie Kollege Jung imWirtschaftsausschuß auf den Todesstoß für die Kraft-Wärme-Kopplung und regenerative Energien wegensinkender Erlöse bei gleichbleibenden Kosten hinwies.Er sprach über die Mühlsteine, zwischen die ostdeutscheStadtwerke wegen der von ihm tatsächlich so genanntenLex VEAG gerieten, wenn das Gesetz in der dann be-schlossenen Form in Kraft treten würde.Ich denke auch an Kollegin Hustedt, die mit vielHerzblut die Änderungsanträge ihrer Fraktion vertei-digte, zum Beispiel jenen zur Verpflichtung der Netz-betreiber zur vorrangigen und kostendeckenden Abnah-me von Strom aus erneuerbaren Energieträgern undKraft-Wärme-Kopplung.Was erleben wir jetzt zwei Jahre nach den scharfsin-nigen Argumentationen der damaligen Oppositionellen,die seit mittlerweile einem Jahr die Regierungsverant-wortung tragen und damit Gestaltungsmöglichkeit ha-ben? Wir erleben einen aufgeregten Hühnerhaufen, überden scheinbar urplötzlich der böse Wolf des gnadenlo-sen, umwelt- und regionalpolitische Ziele überrollendenVerdrängungskampfes kam.Da wird erst über allgemeine Wechselgebühren einer-seits oder einzelne Finanzspritzen an ein paar Ruhrpott-Stadtwerke andererseits, dann über Grüner-Strom-Börsen fabuliert, um zum Schluß bei der Bildung einesArbeitskreises zu laden. Dabei hatte doch die SPD vorzwei Jahren einen eigenen diskussionswürdigen Gesetz-entwurf ins Parlament eingebracht. Vielleicht erinnertsich noch der eine oder andere sozialdemokratischeEnergieexperte daran, daß es dazu von der PDS nur zweiÄnderungswünsche gab. Vielleicht war es aber geradedas, was Sie verwirrt hat.Noch gespannter bin ich auf die Reaktion von Kolle-gin Hustedt. Sie singt jetzt das Hohelied des Wettbe-Vizepräsident Dr. Hermann Otto-Solms
Metadaten/Kopzeile:
5182 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
werbs und der Börsen, während der deutsche Marktdemnächst nicht mehr von drei, sondern nur noch vonzwei Monopolisten dominiert wird, zu denen sich höch-stens noch ein doch wohl auch aus grüner Sicht berüch-tigter Atomstromer, die französische EdF, gesellenkönnte. Ich zumindest werde sie demnächst mit Vergnü-gen daran erinnern, daß sie einst verlangte, drei Jahrenach Inkrafttreten des Energiewirtschaftsgesetzes dievertikale und horizontale eigentumsrechtliche Entflech-tung der Energieversorgungsunternehmen zu prüfen undgegebenenfalls zu vollziehen. Denn bisher sind der Ent-wurf der neuen Verbändevereinbarung wie auch die son-stigen Ankündigungen zur Sicherung von Kraft-Wärme-Kopplung und damit dezentral erzeugenden Stadtwerkensowie von regenerativen Energien unverbindliche Ab-sichtserklärungen; von den einen unterzeichnet mit Vor-behalten, und von den anderen wurde schon bei der Un-terzeichnung angekündigt, daß Nachbesserungsbedarfbestehe.Nur vier Beispiele: Absolut unklar ist bisher bei-spielsweise der Preis der Eintrittskarte für Erzeuger insHoch- und Höchstspannungsnetz. Wenn dieser Basis-preis hoch ist – daran werden die großen Netzbetreiberinteressiert sein –, dann bleiben kleine dezentraleStromanbieter trotz Bonus außen vor. Wenn die Einspei-severgütungen für regenerative Energien zwar vomMarktpreis abgekoppelt werden, sich aber trotzdemnicht an den Erzeugungskosten orientieren, schrumpftderen Anteil trotzdem.Wenn die Mehrkosten für regenerative Energien oderostdeutschen Braunkohlestrom nicht bundesweit umge-legt werden, dann stecken deren Vermarkter weiter ineiner betriebswirtschaftlich tödlichen Falle. Wenn derWirtschaftsminister nur einzelne bestehende Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen subventionieren will, sowürde diese effiziente Erzeugungsart quasi zu einemBetriebsunfall der Energiegeschichte deklariert, eine Er-zeugungsart, die nun abgefedert auslaufen soll.Kurzum: Wir hörten wohl die Worte der letzten bei-den Tage. Allein zählen werden aber die Taten der näch-sten beiden Monate. Sonst sind die Stadtwerke und an-dere Kleinerzeuger nächstes Jahr so tot, wie es die De-monstranten am Montag befürchtet haben.
Erste Nagelprobe auf Ihre Handlungsfähigkeit, liebeKolleginnen und Kollegen von der Koalition, werden IhrUmgang mit der Berliner Bundesratsinitiative zur Min-destquote für Kraft-Wärme-Kopplung sowie Ihre Akti-vitäten zu einer Abkopplung der Einspeisevergütung re-generativer Energien vom allgemeinen Strompreisni-veau sein. Aber selbst wenn Sie auf diesen Teilfeldernschnell handeln, so werden Sie nicht umhinkommen, daszentrale Problem jeder Vergütung oder Quote anzupak-ken, nämlich den Zugriff auf das Verteilungsnetz. Denndas Netz, liebe Wettbewerbfans auf allen Seiten desHauses, ist und bleibt ein natürliches Monopol auf demStrommarkt. Über das wird früher oder später der kom-munale Duisburger Heizkraftwerkbetreiber ebenso wieder Uckermärker Windmüller stolpern, solange es in derHand von Großerzeugern bleibt. Die EU-konformen Lö-sungsmöglichkeiten wurden schon vor zwei Jahren aus-diskutiert. Jetzt ist es an der Zeit, sie endlich umzuset-zen.
Als
nächster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär
Siegmar Mosdorf das Wort.
S
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesre-gierung unterschätzt nicht, daß mit dem Übergang zuwettbewerblichen Strukturen eine Reihe von kommuna-len Unternehmen vor Probleme gestellt werden. Deshalbwird derzeit gemeinsam mit den kommunalen Unter-nehmen und ihren Verbänden nach Wegen gesucht, dieWettbewerbsfähigkeit der Stadtwerke zu stärken undnoch vorhandene Handicaps und Defizite, die es objek-tiv gibt, auszuräumen, um eine Chancengleichheit derMarktteilnehmer zu haben.Zur Beseitigung von noch bestehenden Hindernissenetwa im Gemeindewirtschaftsrecht – das liegt in der Zu-ständigkeit der Bundesländer; Nordrhein-Westfalen hathier schon eine ganze Reihe von Schritten unternom-men – oder im Kartellrecht ist das Bundesministeriumfür Wirtschaft und Technologie mit der Länderwirt-schaftsministerkonferenz und dem Bundeskartellamt imGespräch.Außerdem ist durch die Novellierung der Konzessi-onsabgabenverordnung auch dafür gesorgt worden, daßWettbewerbsungleichheiten, die in der Regel zu Lastender kommunalen Unternehmen und des Finanzaufkom-mens der Kommunen gingen, beseitigt wurden.Energiepolitisch halte ich eine leistungsstarke Ver-sorgungsstufe gerade in einem Wettbewerbsmarkt fürunverzichtbar, wo es um die gesicherte Energieversor-gung geht, um auch zukünftig Leistungswettbewerb imStrommarkt zu sichern. Es kann dabei aber nicht umStrukturkonservierung oder um Existenzgarantien füreinzelne Stadtwerke gehen. Herr Kutzmutz, das ist derUnterschied zu Ihnen. Wir leben in einer Zeit der fun-damentalen Veränderungen, und Sie versuchen zu kon-servieren, wir versuchen zu modernisieren. Dies ist derUnterschied zwischen unseren Positionen.
Wenn Sie konservieren, dann kommen wir nicht voran.Wir müssen modernisieren. Davon sind wir überzeugt.Wenn wir nicht modernisieren, werden wir irgendwannerwachen und feststellen, daß es nur noch alte Struktu-ren gibt, mit denen wir uns im Wettbewerb nicht mehrbehaupten können.
Rolf Kutzmutz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5183
(C)
(D)
– Nein, Herr Kutzmutz! Sie haben vorhin abschätzig von„Wettbewerbfans“ geredet. Wissen Sie: Wettbewerb istdas Element der Demokratie und des Marktes. WerWettbewerb abschätzig beiseite schiebt, der hat von bei-dem, von Demokratie und Marktwirtschaft, nichts ver-standen.
Im übrigen halte ich auch die bisweilen geäußerteEinschätzung für falsch, daß Stadtwerke im liberalisier-ten Energiemarkt generell bedroht seien, weil sie mitden Stromerzeugungskosten der großen Stromunter-nehmen nicht mithalten könnten. Auch dies halte ichnicht für richtig. Ich bitte zu berücksichtigen: Der weitüberwiegende Teil der Stadtwerke, rund 90 Prozent, sindreine Verteilerunternehmen, wenn man von der Nutzungkleiner Blockheizkraftwerke absieht. Die Verteilerunter-nehmen profitieren von den sinkenden Strompreisen,weil ihre Beschaffungskosten entsprechend fallen.Wenn Sie sich eine Reihe von Städten anschauen,dann werden Sie feststellen, daß die kommunalenStadtwerke darüber hinaus über einen einzigartigenVorteil verfügen, den auch schon viele nutzen, nämlichüber das, was in der Telekommunikation die letzte Meilegenannt wird. Die Kundennähe ist ein unglaublicherVorteil, den moderne Stadtwerke nutzen können, umsich am Markt zu behaupten. Diesen Marktvorteil hatinzwischen auch der Verband kommunaler Unterneh-men glasklar erkannt. Dieser Verband ergreift im Mo-ment die entsprechenden Initiativen, damit dieserMarktvorteil genutzt werden kann. Viele Stadtwerke ge-hen inzwischen erfolgreich diesen Weg; denn wesentlichfür die dauerhafte Absicherung der Stadtwerke amMarkt wird auch deren eigenes Engagement sein, Kun-dennähe mit wettbewerbsfähigen Preisen und mit einemQualitätswettbewerb im Dienstleistungsbereich zu ver-knüpfen.Der Service wird in diesem Wettbewerb an Bedeu-tung zunehmen. Dies darf man in dem großen Wettbe-werb, vor dem wir nun stehen, nicht unterschätzen. Hiergibt es mittlerweile eine Reihe vorbildlicher Ansätze derStadtwerke. Eine solche offensive Modernisierungsstra-tegie der kommunalen Unternehmen unterstützen wiruneingeschränkt. Die Stadtwerke müssen ihre spezifi-sche Stärke im Wettbewerb und ihre besonderen Markt-vorteile betonen. Besonders gut müssen sie ihre Kundenkennen und ihre Servicestrukturen auf sie ausrichten.Viele kommunale Unternehmen haben sich in diesemSinne bereits auf die neuen Wettbewerbsbedingungeneingestellt und nutzen die Chancen.In diesem Zusammenhang wird das Bundesministeri-um für Wirtschaft und Technologie eine Initiative füreine Expertenkonferenz starten, auf der die Leistungsfä-higkeit und die Leistungsbereitschaft der kommunalenUnternehmen dokumentiert und auch „best practice“-Beispiele herausgestellt werden sollen. Wir glauben, daßeine solche Konferenz auch den Stadtwerken, die nochnicht den Weg der Kundenorientierung eingeschlagenhaben, helfen kann. Ich halte es für notwendig, daß dieBeschäftigten der Versorgungsunternehmen und die fürdie Versorgungsunternehmen zuständigen Gewerk-schaftsvertreter an dem Dialog beteiligt werden, auchindem sie an einer solchen Konferenz teilnehmen.Wir diskutieren derzeit intensiv darüber, wie man dieökologisch wertvolle Kraft-Wärme-Kopplung-Technikim Markt halten und weiter ausbauen kann. Hier gibt eskeinen Dissens über das Ziel, sondern über das beste In-strument. Es gibt die Sorge, daß die Kraft-Wärme-Kopplung-Technik in einem liberalisierten Energiemarktbedroht würde und von diesem verschwinden könnte.Deswegen sei ein besonderer Schutz in Form einerQuotenregelung erforderlich. Als Beleg für diese Be-hauptung wird aufgeführt, daß kommunale KWK-Anlagen beim Preiswettbewerb auf dem Strommarktnicht mithalten könnten. Aber nach den Daten, die demBundeswirtschaftsministerium zur Verfügung stehen, istes unzutreffend, daß KWK-Anlagen unter Marktbedin-gungen generell bedroht sind. Richtig ist vielmehr, daßeine überschaubare Zahl von KWK-Anlagen, die aufSteinkohlebasis betrieben werden, in wirtschaftlicheSchwierigkeiten geraten können, wenn die Strompreisesinken. Das Wirtschaftsministerium ist bereit, für dieseProblemfälle zielgenaue Lösungen zu erarbeiten. Aberhierfür müssen uns zunächst die erforderlichen be-triebswirtschaftlichen Daten vorliegen. Um diese Datenzu erhalten, haben wir bei der ArbeitsgemeinschaftFernwärme ein Gutachten in Auftrag gegeben. Wirwollen auf Grund dieses Gutachtens Lösungswege auf-zeigen und in speziellen Fällen auch helfen. Wir habendie Absicht, dieses Gutachten noch im Dezember diesesJahres vorzulegen. Es wird also sehr schnell realisiertwerden.Demgegenüber haben wir erhebliche Zweifel, ob eineZwangsvermarktung von KWK-Strom in Form vonQuotenregelungen automatisch zum Schutz solcherStadtwerke führt, die vermutlich auch künftig keinewettbewerbsfähige Erzeugerbasis haben. Nur um dieseStadtwerke geht es. Es geht nicht um die Stadtwerke, dieeine moderne Erzeugerbasis besitzen. Hier sehen wirkeine Probleme. Auch eine quotierte Menge KWK-Strom wird zunächst von der wirtschaftlichen KWK-Erzeugung ausgeschöpft werden. Hier müssen die kom-munalen Anlagen mit den großen industriellen KWK-Anlagen konkurrieren, deren Wärmeabsatz im Rahmenvon Prozeßwärme gesichert ist. Konkurrenten wärenauch die Großkraftwerke mit Wärmeauskopplung undvor allem mit Importstrom auf KWK-Basis. Aus denNiederlanden und aus Dänemark gibt es schon entspre-chende Beispiele.Verläßlich könnte den kommunalen Problemfällenüber eine Quote nur dann der Stromabsatz gesichertwerden, wenn man diese so hoch ansetzt, daß keineAuslese nach Wirtschaftlichkeit im geschützten Quo-tenmarkt stattfindet. Eine Quote würde dann als reinerKostenverteilmechanismus ohne Anreizwirkung zurmöglichst wirtschaftlichen Zielerreichung mißbraucht.Dies geschähe mit der Folge, daß sich die Preise aufdem gesamten Quotenmarkt in Richtung auf die Kostenbestimmter unwirtschaftlicher Anlagen hinbewegenwürden. Das ist aber nicht in unserem Sinne und auchnicht in unserem Interesse.Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
Metadaten/Kopzeile:
5184 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Für die vielen anderen Anlagen würden sich entspre-chende Mitnahmeeffekte ergeben. So wäre beispielswei-se zu erwarten, daß die Industrie den vergleichsweisepreiswerten Strom aus KWK-Anlagen dann nicht mehrzur Werksversorgung nutzt, sondern ihn über Zwangs-vermarktung teuer verkauft. Das wäre eine denkbareKonsequenz, die man bei den Überlegungen jedenfallsberücksichtigen muß. KWK-Strom trägt in Deutschlandinsgesamt mit 70 TWh zur Stromversorgung bei; davonentfallen auf kommunale KWK nur 18 TWh.Ebenso sollte man die weiteren Risiken und Problemebei einer Zwangsvermarktung nicht unterschätzen. Fürdie Installierung und Umsetzung eines solchen Systemswürde eine komplexe Regulierung erforderlich sein.Hinzu kommen erhebliche Unsicherheitsfaktoren, weilzum Beispiel die Wärmenachfrage stark witterungsab-hängig ist. Ebenso ist unsicher, ob es gelingen kann, denImport von KWK-Strom wirksam zu begrenzen oder garzu vermeiden.Im Ergebnis spricht viel dafür, Stadtwerken mit be-drohten KWK-Anlagen über zielgenaue Lösungen sehrdirekt zu helfen. Die Bundesregierung steht zu ihrer Zu-sage, sich der Probleme dieser Stadtwerke anzunehmen.Unstreitig ist, daß hier dringender Handlungsbedarf be-steht. Deshalb ist das Bundesministerium für Wirtschaftund Technologie beauftragt, zu prüfen, mit welchen In-strumenten die Hilfe im Ergebnis am wirkungsvollstenerreicht werden kann. Es geht um moderne Anlagen,Wettbewerbsfähigkeit und die Sicherung von dauerhaf-ten Arbeitsplätzen.Unser Ziel ist es, noch in diesem Herbst ein entspre-chendes Konzept vorzulegen, um so eine moderne,wettbewerbsfähige und nachhaltige Energieversorgungzu sichern. Dem dient unsere Arbeit und dem dienenauch die Gespräche, die dazu geführt haben, daß wir beider Verbändevereinbarung, die jetzt unter Dach undFach gebracht worden ist, Tempo gemacht haben. Wirglauben, daß die Verbändevereinbarung eine wichtigeVoraussetzung für den Erfolg auf diesem Sektor ist.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als
nächste Rednerin gebe ich der Kollegin Dagmar Wöhrl
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Wir freuen uns, daß die Liberalisie-rung der Strommärkte früher als von uns allen erwartetauch den privaten Haushalten Preisnachlässe bis zu30 Prozent bringt. Mittlerweile stellen nicht nur neue Di-rektanbieter, sondern auch manche Ex-Monopolistenverschiedene Tarife mit günstigen Preisen zur Auswahl.So erfahren vor allem Familien mit Kindern, die sehrviel Strom verbrauchen, eine spürbare Entlastung.
Wettbewerb heißt aber auch, sich neuen Herausforde-rungen zu stellen. Dies gilt nicht nur für die Verbund-unternehmen, sondern auch für die Stadtwerke. Stromwird heute nicht mehr, wie früher, nur verteilt, sondernverkauft. Das heißt, es kommt darauf an, Kunden nichtnur durch günstige Preise, sondern auch durch Leistungund Service zu gewinnen. Das wird in der Zukunft im-mer wichtiger werden.Da die meisten Stadtwerke meist nur handeln undStrom selbst einkaufen, profitieren auch sie vom Wett-bewerb, da sie billiger einkaufen können. Es würde unssehr freuen, wenn zukünftig alle Stadtwerke diese Vor-teile an ihre Kleinkunden weitergeben würden. Es gibtimmer noch Stadtwerke, die dies nicht tun.Hier drohende Arbeitsplatzverluste gegen den Wett-bewerb ins Feld zu führen ist sehr kurzsichtig.Wir wissen alle, daß Wettbewerb neben Preissenkun-gen auch Rationalisierungsmaßnahmen mit sich bringt.Er bringt aber auch neue Aufgabenfelder und damit auchneue Arbeitsplätze im Bereich des Marketings, des Ver-triebs und des Kundenservices mit sich. Mittlerweilegibt es eine regelrechte Existenzgründungswelle beiStromhändlern.
Sinkende Strompreise verbessern die Wettbewerbsfä-higkeit unserer deutschen Industrie im internationalenVergleich, was auch längst überfällig gewesen ist. Vorallem sichern wir dadurch langfristig den Energiestand-ort Deutschland. Noch etwas anderes kommt dazu – dasist einer der wichtigsten Punkte, den wir ja auch immerangestrebt haben –: Wir stärken die Kaufkraft unsererBürger. Die Effizienzgewinne, die im Energiesektor er-wirtschaftet werden, kommen also unserer Volkswirt-schaft zugute.Wettbewerbsbeschränkungen, wie sie teilweise auchvon Ihnen zugunsten von Stadtwerken mit KWK-Anlagen gefordert werden, halten wir nicht für richtig.Damit wir uns richtig verstehen, möchte ich festhalten,daß auch wir KWK für eine rationelle und damit res-sourcenschonende Art der Energieerzeugung halten,wenn sie sinnvoll eingesetzt wird. Ich erinnere Sie dar-an: Gerade die CSU hat sich damals bei den Beratungenzum Energiewirtschaftsgesetz vehement dafür einge-setzt, daß der Betreiber einer KWK-Anlage die Durch-leitung von fremdem Strom verweigern kann, wenn sei-ne Investitionen dadurch gefährdet werden. Außerdemhaben wir das Alleinabnehmersystem bis zum Jahre2005 ermöglicht.In diesem Zusammenhang muß aber auch erwähntwerden, daß die meisten KWK-Anlagen sehr wirtschaft-lich arbeiten. Von über 500 Stadtwerken arbeiten zirka50 mit solchen Anlagen; nur eine Handvoll davon hatechte Probleme mit unwirtschaftlichen Anlagen aufSteinkohlebasis. Deshalb ist eine Quote, die alle Anla-gen, also auch die rentablen und wirtschaftlichen begün-stigen würde, vollkommener Unsinn. Unabhängig davonist auch die Frage der Zulässigkeit nach EU-Recht über-haupt noch nicht geklärt.Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5185
(C)
(D)
In Zukunft werden aber auch an die Stadtwerke selbstAnforderungen gestellt. Sie müssen sich wie jeder ande-re dem Wettbewerb stellen. Das betrifft viele Dinge wiezum Beispiel die Quersubventionierung, um sie kurz zuerwähnen. Warum haben Sie nicht schon längst von denSPD-regierten Ländern gefordert, ihre Gemeindeord-nungen zu ändern, so daß die Stadtwerke auch über dieGemeindegrenzen hinaus Strom verkaufen können? Da-durch ergäbe sich auch wieder eine neue Einnahme-quelle.
– Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Re-gierungskoalition, ich an Ihrer Stelle würde sehr ruhigsein, denn Ihre Aussagen, mit denen Sie in den letztenWochen Ihre wirtschaftliche Kompetenz zum ThemaStromwettbewerb zeigen wollten, haben wirklich zuwünschen übriggelassen. Ich erinnere nur daran, daß Siedaran dachten, von jedem Bürger eine Wechselgebührvon 150 DM zu verlangen, wenn er seinen Stromliefe-ranten wechseln will. Das war nicht so toll; das habenSie ja auch an der Reaktion von vielen gemerkt.
Frau
Kollegin Wöhrl, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ja.
Dabei hätten Sie es doch so leicht. Ernten Sie die
Früchte, die wir gesät haben! Hören Sie endlich auf, den
Wettbewerb wieder einzuschränken, den Verbraucher zu
bevormunden und ihm wieder seine günstigen Strom-
preise zu nehmen! Geben Sie den Menschen die Mög-
lichkeit, sich auch beim Stromkauf als König Kunde zu
fühlen!
Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS istdie einzige Partei im Bundestag, die nach wie vor denWettbewerb im Strombereich ablehnt.
Sie hätten ja aus den Erfahrungen während der DDR-Zeit lernen können. Die dortige Monopolwirtschaft warnicht sehr effizient und erst recht nicht umweltverträg-lich. Im Westen war es nicht ganz so schlimm, aber wirsollten unsere Energieversorgung nicht mehr auf Basiseiner Monopolwirtschaft organisieren. Das haben alleParteien, auch die ÖTV und die Stadtwerke verstanden,nur die PDS anscheinend nicht.
Jetzt demonstrieren Sie Ihr Mißbehagen über die ganzeLinie in diesem Bereich, indem Sie die Rolle der Stadt-werke funktionalisieren. In dieser Frage sind alle ande-ren Parteien ein wesentliches Stück weiter als Sie.
Es wurde schon gesagt, daß die Stadtwerke zu 90Prozent gar keinen Strom produzieren; sie sind vielmehrStromhändler. Wenn sie sich zu modernen Stromhänd-lern wandeln, indem sie ein großes Angebot von grünembis braunem Strom anbieten, Gas, Wasser und Abfall imPaket verkaufen und zum Beispiel dem Kunden, der beiden Stadtwerken bleibt, billigere Karten für Freibäderoder für den ÖPNV bieten, dann können die Stadtwerkeals Stromhändler auf dem neuen Markt auch durchausbestehen.Deswegen finde ich es auch falsch, wenn man dieProbleme der Stadtwerke überhöht. Es gibt zwar Pro-bleme bei der Kraft-Wärme-Kopplung – dazu sage ichgleich etwas –, aber im Grunde bietet das Stadtwerk inZukunft dem Kunden auf dem Energiemarkt ein sehrgutes Angebot. Es wird sich auf dem Markt behaupten.Wenn wir die Probleme nach dem Motto „Alle Stadt-werke gehen den Bach herunter“ zu sehr übertreiben,dann wecken wir das Mißtrauen der Bürger zu denStadtwerken. Damit würden wir den Stadtwerken einenBärendienst erweisen. Deswegen möchte ich hier auchim Sinne der Stadtwerke um Sachlichkeit bitten.
Das Problem liegt in der Tat bei der Kraft-Wärme-Kopplung – das wurde schon angesprochen –, und nichtnur bei der Fernwärme, Herr Mosdorf. Die Fernwärmehat ein Problem mit der Kohleverstromung. Ich glaubeaber, daß auch die modernen dezentralen Blockheiz-kraftwerke ein Problem bekommen, wenn eventuellauch nur in einer Übergangszeit. Das aus folgendemGrund: Wir haben auf dem Markt sehr große Überkapa-zitäten. Die Stromkonzerne werden jetzt im Kampf umdie strategische „pole position“ teilweise mit Dumping-preisen, also mit Preisen unter den Erzeugungskosten,auf den Markt gehen. Das können Kommunen natürlichnicht aushalten, weil ihre Gewinne aus der Monopol-wirtschaft nicht zum Aufbau dicker Finanzpolster ver-wendet wurden, sondern in sinnvolle Dinge wie in denÖPNV, in Theater und dergleichen mehr geflossen sind.Deswegen glaube ich, daß auch eine Gefahr für die de-zentrale Kraft-Wärme-Kopplung besteht und nicht nurfür die Fernwärme.Ob die industrielle Kraft-Wärme-Kopplung auf demMarkt ein Problem bekommen wird, muß noch recher-chiert werden. Es könnte sein, daß sie – außer dem, waswir im Rahmen der Ökosteuer gemacht haben – keineHilfestellung braucht. Man muß aber belegen, ob es, wieSie glauben, nur bei der Fernwärme Probleme gebenwird.Dagmar Wöhrl
Metadaten/Kopzeile:
5186 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Wir hatten Dienstag mit Vertretern der SPD-Fraktion,des Bundeskanzleramts, des Bundeswirtschaftsministe-riums und der Gewerkschaften ÖTV und IG BCE zudieser Frage ein, wie ich fand, sachlich sehr gutes Ge-spräch. Wir sind in diesem Punkt weit gekommen. Einigist man sich in der Frage, daß etwas getan werden muß,daß man nicht so wie die CDU/CSU sagen kann:Marktwirtschaft, der Rest ist uns egal. Man muß dieseProbleme vielmehr in Angriff nehmen.Ich finde gut, daß in der Verbändevereinbarung dasenthalten ist, was wir immer gefordert haben, daß näm-lich die dezentralen Stromerzeuger geringere Gebührenzahlen bzw. eine Gutschrift von den Netzbetreibern be-kommen, weil sie die Hochspannungsnetze im Gegen-satz zu den Großkraftwerken nicht benötigen. Daskönnte für die dezentrale Stromerzeugung noch einmalzwei Pfennig bringen, wenn das Ganze richtig ausge-staltet wird. Ich persönlich glaube – da bin ich mir mitden Kollegen der SPD einig –, daß dies für die Kraft-Wärme-Kopplung nicht ausreichen wird.Wir diskutieren jetzt über verschiedene Modelle: obModernisierungshilfen notwendig sind, ob es eine Bo-nusregelung geben soll oder eine Quote. Das alles mußman mit Pro und Kontra abwägen. Ich glaube, daßwir innerhalb kürzester Zeit – wir haben die nächstenvier Wochen ins Auge gefaßt – eine Lösung auf denTisch legen werden, die uns helfen wird, die Kraft-Wärme-Kopplung auf dem Markt zu retten, so daß wirUmweltverträglichkeit und Wettbewerb verbinden kön-nen.Was die regenerativen Energien betrifft, sind wir vielweiter, als Sie ahnen, Herr Kutzmutz. Wir haben be-schlossen, daß wir das Stromeinspeisungsgesetz no-vellieren; wir wollen die Preise stabilisieren, damit dieEinspeisevergütung nicht zu stark sinkt; wir wollendas Stromeinspeisungsgesetz wettbewerbsfähig machen;wir wollen Geothermie mit aufnehmen; wir wollen beiBiomasse die Einspeisevergütung erhöhen. Ich denke,zu diesen Punkten müssen Sie uns überhaupt nichtserzählen. Bevor Sie aufwachen, haben wir schon ge-handelt.
Es ist jetzt wichtig, den Mittelweg zu finden. Mandarf nicht einfach, wie Herr Rexrodt es gemacht hat, sa-gen: Marktwirtschaft, der Rest ist mir egal. Vielmehrbrauchen wir sowohl eine gute Regelung für den Netz-zugang – da sind wir auf einem guten Weg – als auchmarktkonforme Instrumente, um die Kraft-Wärme-Kopplung und die regenerativen Energien zu stützen.Damit helfen wir auch den Stadtwerken, die in diesemBereich produzieren. Damit hätten wir eine moderneEnergieversorgung, die nicht auf einem Auge blind ist,sondern die beides miteinander verbindet.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Günter Rexrodt von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Es hat 35 Jahre gedauert, bis wireine Liberalisierung des Strommarktes herbeiführenkonnten.
– Herr Schwanhold, die größten Widerstände kamen vonden Traditionalisten der SPD.
Es ist auch noch keine zwei Jahre her, daß Frau Hustedtanders als heute geredet hat.Wir haben die Liberalisierung durchgesetzt. Was pas-siert nun? Das Gesetz greift; es greift sogar schneller, alsich erwartet habe. Die Preise purzeln; Nachlässe von 20bis 30 Prozent und sogar bis 50 Prozent sind möglich.All das, wovor die Traditionalisten gewarnt haben, istnicht eingetreten. Sie haben nämlich verkündet, es wür-den nur die Großverbraucher, also die Industrie und al-lenfalls die großen mittelständischen Betriebe, profitie-ren; für die Verbraucher werde aber nichts heraussprin-gen, im Gegenteil – das haben Sie gesagt, Herr Jung –,die Verbraucher, besonders die in der Fläche, würdendie Zeche dafür bezahlen, daß die Großen profitieren.Nichts dergleichen ist eingetreten. Der Wettbewerb fin-det statt; alle können davon profitieren: die großen undmittleren Betriebe, die Gewerbetreibenden und die Ver-braucher.Um dies sicherzustellen, ist auf eine Verbändeverein-barung gesetzt worden. Herr Mosdorf hat sich heute da-zu geäußert. Ich sage ausdrücklich: Herr Mosdorf, Sieund Ihr Ministerium haben hinsichtlich der Verbände-vereinbarung richtig gehandelt. Es sind ein paar Punkteenthalten – zum Beispiel die Regelung mit derNord/Süd-Grenze –, die mir nicht gefallen. Aber damitkann man leben. Es ist keine Regulierungsbehörde ent-standen, die die Grünen und die Traditionalisten derSPD eingeladen hätte, zu träumen. Dieser Traum istausgeträumt.Es ist ferner gesagt worden, es werde eine Katastro-phe bei den Stadtwerken zum Beispiel hinsichtlich desöffentlichen Personennahverkehrs stattfinden, weil dieQuersubventionierung wegfalle. Der öffentliche Perso-nennahverkehr kann genauso wie bisher subventioniertwerden – mit einem Unterschied: Er kann nur aus ver-steuerten Gewinnen der Stromerzeuger subventioniertwerden. Das ist allemal rechtens; denn auf dieses Geldhat der Staat und damit der Fiskus ein Anrecht.Ich habe nie verstanden – darauf haben Sie sich im-mer bezogen –, warum ein hart arbeitender Handwerkerdie Fahrpreise für die Straßenbahn und ein kleiner Ein-zelhändler die Eintrittspreise der städtischen Schwimm-bäder subventionieren soll. Das ist nämlich die Konse-quenz der Quersubventionierung. Diese Praxis – das istMichaele Hustedt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5187
(C)
(D)
gar keine Frage; das haben wir immer gewollt – mußund wird abgeschafft werden.Nun bringen Herr Kutzmutz und Teile der SPD-Fraktion das Argument mit den Stadtwerken in die Dis-kussion. Ich will dieses Argument nicht wiederholen. Esgibt rund 800 Stadtwerke. Vielleicht kommen zehn vonihnen, weil sie Strom aus Steinkohle erzeugen, inSchwierigkeiten. Dann haben wir eben ein paar Stadt-werke weniger, die Strom erzeugen.
Ich kann mir aber gut vorstellen, daß diese StadtwerkeDienstleister werden und dem Kunden moderne Bera-tungsleistungen anbieten können. Für diese sind dannkeine Subventionen mehr notwendig.
Herr Kutzmutz, es haben keine 30 000 Beschäftigteder Stadtwerke demonstriert. Die Zahl lag höchstens bei5 000. Viele wurden von weither gekarrt. Ich kenne diegrößten Stadtwerke sehr gut. Deren Mitarbeiter sindüber alle Maßen tüchtig; sie haben die Herausforderungangenommen und wollen sich dem Wettbewerb stellen.Aber Sie, die Traditionalisten und die PDS, machen sichzum Sprecher einiger weniger, die nicht verstanden ha-ben, was Wettbewerb überhaupt ist.
Der Wettbewerb wird so oder so stattfinden.Lassen Sie mich mit Blick auf meine begrenzte Rede-zeit nur noch folgendes bemerken. Man kann in diesenTagen oft auf Plakaten lesen: Warum ist der Strom gelb?Ich kann Ihnen die Antwort darauf geben:
Der Strom ist deshalb gelb, weil es sich um Strom aufeinem liberalisierten Markt handelt, weil es in diesemBereich einen Wettbewerb gibt und weil sich die F.D.P.für die Interessen der Verbraucher eingesetzt hat.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Volker Jung.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! In die Diskussion über denSchutz der Kraft-Wärme-Kopplung und die Sicherungder Arbeitsplätze – das ist unser Thema – ist Bewegunggekommen. Ich habe den Eindruck, daß wir seit demletzten Gespräch bei Kanzleramtschef Steinmeier einStück weiter sind, als dies der Parlamentarische Staats-sekretär im Wirtschaftsministerium dargestellt hat.
Ich denke, das war auch höchste Zeit; denn der Wett-bewerb auf dem Strommarkt, der bislang auf die Indu-striekunden beschränkt war und schon zu gewaltigenStrukturveränderungen geführt hat, erfaßt jetzt auch dieHaushaltskunden. Während der Wettbewerb um die In-dustriekunden zu einer drastischen Senkung der Strom-preise geführt hat, wird der Wettbewerb um die Haus-haltskunden jetzt mit Preisangeboten geführt, die in derNähe der Grenzkosten, wenn nicht sogar darunter liegen.Mit anderen Worten: Hier findet ein Verdrängungswett-bewerb mit Dumpingpreisen statt. Das ist die reelle Si-tuation.
Alles, wie wir es vorausgesagt haben. Darum habenwir schon frühzeitig konkrete Vorschläge zur Änderungdes Energierechts in die Diskussion gebracht, um dieFehlentwicklungen, die sich jetzt abzeichnen und die diealte Bundesregierung zu verantworten hat – vor allemSie, Herr Rexrodt –, in den Griff zu bekommen und zukorrigieren.Im Kern geht es um die Frage, bei welchen Stromer-zeugern die Überkapazitäten abgebaut werden, die imgeschützten Strommarkt entstanden sind, und ob dieStromerzeuger, anders als in unseren europäischenNachbarländern, ohne Übergangsfrist von einem Tag aufden anderen in den absoluten Wettbewerb entlassenwerden sollten. Weitgehend abgeschriebene Kernkraft-werke werden es nicht sein, wenn ihnen lange Restlauf-zeiten zugestanden werden. Kurzfristig werden es vorallem Anlagen der Kraft-Wärme-Kopplung mit ange-schlossener Fernwärmeversorgung sein, die sehr um-weltfreundlich, aber eben auch sehr kapitalintensiv sindund somit bei den derzeitigen Preisen tendenziell un-rentabel werden. Das ist die Lage.Die Kraft-Wärme-Kopplung ist das Rückgrat derkommunalen Unternehmen, die Stromeigenerzeugungbetreiben. Das ist nicht nur, wie immer wieder sugge-riert wird, ein geringer Prozentsatz. Vielmehr würde ei-ne Stillegung gerade die größten Stadtwerke treffen undviele Arbeitsplätze kosten – ohne Chance, die Anlagenin kurzer Zeit umzurüsten. Diese Entwicklung würde,wenn das Preisniveau weiter sinkt, nicht nur die kohle-befeuerten, sondern darüber hinaus auch die gasbefeu-erten Anlagen und kleine Blockheizkraftwerke betref-fen.Es wäre aus ökonomischen wie ökologischen Grün-den völlig unsinnig, diese Anlagen, deren Ausbau poli-tisch gewollt war, die mit dreistelligen Millionenbeträ-gen staatlich gefördert worden und zum Teil noch garnicht abgeschrieben sind, kurzfristig vom Netz zu neh-men.
Ich bin daher froh, daß wir uns in der Regierungskoaliti-on jetzt einig geworden sind, neben den erneuerbarenEnergiequellen auch die Kraft-Wärme-Kopplung alsStützpfeiler einer dezentralen Energieversorgung zuDr. Günter Rexrodt
Metadaten/Kopzeile:
5188 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
schützen und uns damit die Chance zu erhalten, sie inder Zukunft ausbauen zu können.
Erneuerbare Energiequellen und Kraft-Wärme-Kopplung sind zur Ressourcenschonung und zum Um-welt- und Klimaschutz unentbehrlich und müssen nachunserer Auffassung einen wachsenden Anteil an unsererEnergieversorgung erhalten.Der Bundeswirtschaftsminister hat zugesagt – FrauHustedt hat das schon erwähnt –, verschiedene Modellezu prüfen und durchzurechnen – darunter auch eineQuotenregelung mit Zertifikathandel, die wir vorge-schlagen haben –, damit wir in einem Zeitraum von vierWochen darüber eine endgültige Entscheidung treffenkönnen.Wir haben auch besprochen, den Strommarkt in denneuen Ländern zu öffnen, um eine Angleichung desStrompreisniveaus als wichtigen Standortfaktor zu er-möglichen und gleichzeitig die Verstromung der ost-deutschen Braunkohle zu schützen.
Es geht um eine marktkonforme Übergangsregelung;denn in einigen Jahren, wenn der hohe Abschreibungs-berg aus den milliardenschweren Sanierungsinvestitio-nen abgetragen sein wird, wird die ostdeutsche Braun-kohleverstromung zweifellos wettbewerbsfähig sein.Auch dazu gibt es mehrere Denkansätze. Einer davon istdie von uns vorgeschlagene – wohlgemerkt: zeitlich be-fristete – Quotenregelung.Meine Damen und Herren, nicht zufällig sind gleich-zeitig die Eckpunkte einer neuen Verbändevereinbarungparaphiert worden, die nicht nur eine Vereinfachung derDurchleitungsbedingungen bringt, sondern auch die de-zentrale Energieversorgung begünstigt. Das ist zu be-grüßen.
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Wenn es nun noch
gelingt, eine Einigung über die standardisierten Abrech-
nungsverfahren, über die sogenannten Lastprofile zu er-
zielen, die den Einbau von prohibitiv wirkenden Zählern
bei den Wechselkunden überflüssig machen, dann stün-
de dem Wettbewerb auch im Haushaltskundenbereich
nichts mehr entgegen.
Das sind wichtige Fortschritte, die in diesen Gesprä-
chen erzielt worden sind. Ich denke, sie müssen weiter
konkretisiert werden. Dann wird das eine runde Sache.
Schönen Dank.
Jetzt hat
das Wort der Kollege Dr. Peter Paziorek, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Ausführun-gen meines Vorredners ist deutlich geworden, daß in-nerhalb des Regierungslagers tiefgreifende Gegensätzezu dieser Frage existieren.
Wenn man die Ausführungen von Frau Hustedt undHerrn Jung vergleicht, dann kann man nur sagen: Wirhaben in dieser Frage nicht nur Gegensätze innerhalbder SPD-Fraktion, sondern auch innerhalb der Regie-rungskoalition ist man zerstritten. Es ist gut, daß dasheute deutlich geworden ist.
Dadurch setzt sich eigentlich nur das Spielchen fort,das Sie in den letzten Tagen und Wochen in dieser Fragebetrieben haben. Sie haben im Wahlkampf Zusagen ge-macht, die Sie jetzt nicht mehr einhalten können. Sie ha-ben angekündigt, Gesetze zu ändern. Bis jetzt liegt vonIhnen noch keine Gesetzesinitiative im Bereich Ener-giewirtschaftsrecht vor. Sie haben im Wahlkampf er-klärt,
Sie wollten gegen die Novelle zum Energiewirtschafts-gesetz weiter klagen. Jetzt sind Sie ganz still geworden,weil Sie genau wissen, daß sich die Prozeßsituation ge-waltig verändert hat.Dann sind Sie in den letzten Tagen auf die glorreicheIdee gekommen, all die Stromkunden, die wechselnwollen, mit einer Wechselstrafgebühr zu belasten. Daswar das Ergebnis der gesamten Überlegungen. Daransieht man: Sie sind Gefangene Ihrer eigenen Worte.
Damit wird deutlich: Sie treiben ein Spielchen mit denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die betroffensind. Ich glaube, wir sollten uns sachlich mit dem befas-sen, was jetzt zu lösen ist.
Durch die Liberalisierung der Strommärkte ist be-wirkt worden, daß Industrie, Gewerbe und Verbraucherwirtschaftlich und finanziell entlastet worden sind. Dasbedeutet auch eine Absicherung von Arbeitsplätzen. Esist somit eindeutig ein positives Ergebnis des neuenEnergiewirtschaftsgesetzes festzustellen.Volker Jung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5189
(C)
(D)
Es gibt aber zwei Problembereiche, die wir im Detailbetrachten müssen. Einmal geht es um die Umstellungs-probleme. Ich muß zugeben, daß viele Kommunalpoliti-ker aus der Union darum gebeten haben, diese Umstel-lungsprobleme zu berücksichtigen und klare Übergangs-regelungen zu schaffen.
Ich sage aber auch ganz deutlich: Es hat – bei allemVerständnis für die Kommunalpolitik – überhaupt kei-nen Zweck, die Entwicklungen zurückzunehmen. Es hatauch keinen Zweck, neue Schutzräume und Schutzzäuneaufzubauen. Vielmehr wird es darauf ankommen zuüberlegen, wie sich die Stadtwerke zusammenschließenkönnen, um ihre Stärken zu bündeln und somit aus demneuen Energiewirtschaftsrecht positive Effekte für sichzu erzielen. Das ist das erste.
Zweitens. Im Bereich der umweltfreundlichen Ver-sorgung gibt es ein Problem – das ist hier schon mehr-fach angesprochen worden –: Das ist der Einsatz vonKraft-Wärme-Kopplung. Probleme gibt es insbesondereim kommunalen Bereich bei der Fernwärmeversorgung.In der Tat sind Versorgungsunternehmen mit Strom- undWärmeproduktion bei der Kraft-Wärme-Kopplung in er-ster Linie die kommunalen Versorgungsunternehmen,die verbrauchernah Strom und Wärme produzieren. Esliegt auf der Hand, daß die Stromproduktion in mehrerenkleineren Einheiten teurer ist als eine gleich hohe in nureiner Anlage unter Nutzung aller Einsparungsmöglich-keiten.Deshalb kann ich sagen, daß wir als CDU/CSU-Bun-destagsfraktion uns eindeutig dafür aussprechen, daßdie umweltschonende Technologie der Kraft-Wärme-Kopplung auch erhalten bleibt, weil sie von großer um-weltpolitischer Bedeutung ist.
– Nein, es ist völlig richtig von meinen Kolleginnen undKollegen darauf hingewiesen worden, daß die Kraft-Wärme-Kopplung kein generelles Problem hat. Sie hatzum Beispiel generell im Bereich der industriellen Ver-sorgung kein Problem. Die Kraft-Wärme-Kopplung hatkein Problem zum Beispiel bei großen öffentlichen Ein-richtungen. Immer da, wo wir das ganze Jahr über einenkontinuierlichen Wärmebedarf haben, wird sich Kraft-Wärme-Kopplung auch weiter rechnen.Ein großes Problem besteht bei der Kraft-Wärme-Kopplung da, wo diese Wärmemenge nicht über dasganze Jahr kontinuierlich abgerufen wird. Das betrifftzum Beispiel die Wärme im Gebäudebereich. Dort gibtes die Probleme bei den Stadtwerken. Die Argumente,die manchmal gebracht werden – das seien vor allemProbleme bei den Anlagen, bei denen Steinkohle einge-setzt werde –, sind erst einmal zweitrangig.Problematisch sind die Anlagen, die im Bereich derNah- und Mittelversorgung für die Fernwärme einge-setzt werden. Da gibt es, wie auch zu Recht gesagt wor-den ist, einige Stadtwerke, die sich in den letzten Jahrenbesonders auf diese Maßnahmen konzentriert haben.Denen müssen wir durch gezielte Ausgleichsmodellehelfen, aber nicht durch pauschale Quoten,
denn pauschale Quoten bedeuten ja, daß auch diejenigenWettbewerbsvorteile haben, die zum Beispiel gar nichtin einer schlechten Wettbewerbsposition sind. Es gibt jaeinige Unternehmen, die gar keine nachteiligen Auswir-kungen infolge des Energiewirtschaftsgesetzes zu be-fürchten haben.Wir müssen also überlegen: Was können wir im De-tail, im Einzelfall erreichen, um den Stadtwerken zu hel-fen, die in dieser Frage Probleme haben?
– Sie als Regierung sind erst einmal dran, die Vorschlä-ge auf den Tisch zu legen.
Wir haben Ihnen die Eckposten genannt. Es ist dochklar, daß Sie im Augenblick Schwierigkeiten haben, ei-nen Vorschlag zu entwickeln, weil zwischen dem vonHerrn Mosdorf und Herrn Müller einerseits und HerrnJung und Frau Hustedt andererseits Vorgetragenen gro-ße Unterschiede deutlich geworden sind. Deshalb brau-chen Sie doch die Untersuchung bis Ende Oktober, umgenau für diese Einzelfälle jetzt Vorschläge zu machenund um von Ihren großen Zusagen herunterzukommen,die Sie noch vor kurzem in einigen Veranstaltungen ge-macht haben.
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Da saß ich bei
Podiumsgesprächen neben SPD-Kollegen, die groß ver-
sprochen haben: Wir werden das in eurem Sinne regeln.
Ich bin gespannt, wie das in diesem Sinne geregelt wird.
Wir sind aus umweltpolitischen Gründen offen für
eine Unterstützung von KWK-Anlagen, aber im Detail
muß das sinnvoll sein, und es darf keine Quote sein, die
den Wettbewerbsvorteil wieder aufhebt. – Vielen Dank.
Alsnächste Rednerin hat die Kollegin Eichstädt-Bohlig vomBündnis 90/Die Grünen das Wort.
Kollegen! Herr Kollege Rexrodt, ich hatte vorhin schonden Eindruck, daß Sie doch ganz gerne von der PolitikDr. Peter Paziorek
Metadaten/Kopzeile:
5190 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
zum Stromhandel überwechseln wollen. Wir wünschenIhnen viel Erfolg.
Herr Paziorek, ich finde, Sie sollten in AktuellenStunden auch ein bißchen aktuell zuhören. Dann würdenSie bestimmte Entwicklungen auch besser mitbekom-men und nicht von gestern reden, wenn wir beim Heutesind.
Ich möchte eines konkret sagen. Wir alle wissen, daßdie Stadtwerke und auch die Kraft-Wärme-Kopplungenorm unter Anpassungsdruck gerät. Darüber sind sich,glaube ich, hier alle einig. Aber man muß schon sagen,Herr Rexrodt: Es ist das Problem Ihrer Energiewirt-schaftnovelle damals gewesen, daß Sie dieses Themanicht ernst genommen haben. Es wäre damals sehr wohlwichtig gewesen, bestimmte Übergangsabfederungenvorzusehen. Darum sollten Sie jetzt nicht herumreden.
– Nein, da ist nicht zu viel gemacht worden, sondern daswäre sehr wohl wichtig und gut gewesen. Man mußnicht immer gleich das Kind mit dem Bade ausschütten.
Insofern müssen wir uns jetzt um die Lösung der Pro-bleme kümmern, die Sie uns eingebrockt haben.Ich denke, die PDS hat ihre Aktuelle Stunde auch imHinblick auf die ostdeutsche Situation beantragt. Wirhaben uns als Grüne – auch die SPD hat das getan – sehrstark für den Aufbau von Stadtwerken im Osten, in denneuen Bundesländern eingesetzt. Aber Sie haben mit derLex VEAG diesen Aufbau damals erheblich erschwert.Sie haben praktisch eine Monopolprivilegierung und ei-ne Marktabschottung zugunsten der VEAG organisiert,an der Ostdeutschland heute noch ganz massiv leidet.
Ich weiß gar nicht, was daran liberale Politik ist, wennSie einseitige Konzernpolitik machen.Für uns ist das Problem gerade in Ostdeutschlanddeshalb aktuell, weil westdeutsche Wettbewerber schonjetzt Verträge mit Sondervertragskunden für den Fall ab-schließen, daß die Durchleitung geklärt ist, so daß zu be-fürchten ist, daß tatsächlich die ostdeutschen Versorger2003 oder beim Ablauf der Lex VEAG dann schlagartigihre Großkunden verlieren. Darum sollte man nicht her-umreden. Die Strategie der VEAG verschärft diese La-ge. Auf Stromdurchleitungsbegehren der Stadtwerkereagiert sie gar nicht oder zeitlich sehr spät mit häufignicht sachgerechten und nicht relevanten Rückfragen.Insofern versucht sie, die Durchleitung faktisch zu ver-hindern.Wir – das haben sowohl die Vorredner der SPD alsauch die von uns Grünen deutlich gesagt – sind über-zeugt, daß es Instrumente gibt, die auf der einen Seiteden Strommarkt nicht behindern – das unterscheidet un-sere Position von jener der PDS –, mit deren Hilfe aberauf der anderen Seite sehr sorgfältig darauf geachtetwird – das unterscheidet uns von der liberalkonservati-ven Opposition –, daß der Aktionsraum der Stadtwerke,der KWK-Anlagen und der Anlagen, die regenerativeEnergien verwenden, nicht eingeschränkt, sondern gesi-chert und gestärkt wird. Auf der Grundlage Ihrer Vorar-beit liegt das heute in unserer Verantwortung. Diesenehmen wir gemeinsam sehr ernst. Da können Sie unsnicht auseinanderdividieren.
Meine Vorredner haben es schon gesagt: Bei derKonzessionsabgabenverordnung und den Netzzugangs-regelungen sind wir ein Stück weitergekommen. Wennes wirklich gelingt, zu erreichen, daß die dezentralenEnergieerzeuger einen um 2 Pfennig preiswerterenNetzzugang erhalten, dann verfügen wir über ein ganzwesentliches Instrument zur Stärkung dezentraler Ein-richtungen, der Stadtwerke und KWK-Anlagen. Dasreicht nicht aus; auch darauf ist schon hingewiesen wor-den. Aber das ist ein ganz zentraler Baustein.Wir arbeiten an weiteren Bausteinen; auch das istschon festgestellt worden. Wir wollen, daß die Kraft-Wärme-Kopplung auf dem liberalisierten Strommarkteinen gesicherten Anteil bekommt. Ob das über dasStromeinspeisungsgesetz, über eine Quote oder über an-dere Instrumente organisiert wird,
darüber werden wir noch diskutieren und diese Fragesehr bald einer Entscheidung zuführen. Auf jeden Fallwird es so geregelt, daß eine solide Mischung desStromangebots zwischen zentralen und dezentralen An-bietern und ein Strommix in bezug auf effiziente Strom-und Wärmeanbieter sowie Verwender regenerativerEnergien gesichert werden. Dabei wird wahrscheinlichdie Novellierung des Stromeinspeisungsgesetzes einezentrale Rolle spielen.
Mit all diesen Bedingungen werden die Stadtwerkeauf der einen Seite der Marktkonkurrenz ausgesetzt, aufder anderen Seite aber werden sie bessere Marktzu-gangsbedingungen bekommen. Richtig ist: Die Gemein-deordnungen dürfen die Stadtwerke nicht länger festna-geln. Es geht nicht, daß die Privaten wie Rosinenpickerdie Energieversorgung in den Städten übernehmen –dies geschieht schon jetzt – und daß auf der anderenSeite die Stadtwerke in ihrem wirtschaftlichen Handelnfestgenagelt werden. Sie müssen sich, beispielsweisedurch die Bildung von Einkaufsgemeinschaften, marktfitmachen. Ich denke, daß das schrittweise erfolgen wird.Lassen Sie mich noch ein Letztes – meine Uhr läuftab –
Franziska Eichstädt-Bohlig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5191
(C)
(D)
zum Thema Quersubventionierung sagen, das Sie jaschon angesprochen hatten. Es bestehen zwei Verant-wortlichkeiten: Die eine ist die energiewirtschaftliche;über die haben wir alle hier gesprochen. Die andere ist,daß wir hier in diesem Hause – auf der einen Seite dieRegierung bzw. die Koalition, auf der anderen Seite aberauch die Opposition – die Städte und Regionen bei derKlärung des Themas der Absicherung des öffentlichenNahverkehrs unterstützen müssen. Wir können diesesProblem nicht einfach den Kommunen und den Ländernüberlassen. Hier sind wir alle in der Pflicht.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Niemand hat bisher gesagt,daß bei den Energiegiganten derzeit ein wahres Fusions-fieber grassiert. Ich wundere mich darüber, daß diesnoch nicht ausgesprochen worden ist. Jüngst wurde zwi-schen VEBA und VIAG die größte Industriefusion inDeutschland vollzogen. Zeitgleich führen die Energie-konzerne mit einem Wahnsinnsaufwand eine bundes-weite Werbeaktion für Billigstrom durch. Am aggressiv-sten tut dies die Yello Strom GmbH.Warum diese Dumpingangebote? Der Strommarkt istbekanntlich kein Wachstumsmarkt, wie wir ihn etwa imBereich der Handys kennen. Das bedeutet: Neue Markt-anteile können hier nur auf Kosten anderer Unternehmenerrungen werden. Das geschieht vor allem durch diegnadenlose Verdrängung der örtlichen Energieversorger,also in der Regel der 570 stromversorgenden Stadtwerkemit ihrem Marktanteil von 36 Prozent an der Stromver-sorgung.Ich sage ganz deutlich: Kollege Rexrodt, wir sind fürWettbewerb, wir sind jedoch gegen unfairen, unlauterenWettbewerb.
Ein Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten, dersoziale und ökologische Momente ausschließt, ist keinDing der PDS.
Die Wettbewerbssituation für die Stadtwerke istdurch viele negative Rahmenbedingungen charakteri-siert. So sind sie rechtlich, mit Ausnahme von Bayernund Nordrhein-Westfalen, an die Versorgung ihres je-weiligen Stadtgebietes geknebelt. Für die Energiekon-zerne gibt es diese Einschränkung aber nicht. Die Stadt-werke sind darüber hinaus benachteiligt, wenn sie selberStrom in Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen erzeugen.Diese aber sind – das wurde gesagt – ökologisch ver-nünftig und wirtschaftlich vorteilhaft. Die Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen wurden durch großzügige Investi-tionen gefördert, nicht zuletzt auf Betreiben der Bundes-politik. Bleiben aber die Stadtwerke auf der Strecke,werden diese umfänglichen Investitionen in den Sandund – das ist besonders schlimm – Zehntausende Be-schäftigte auf die Straße gesetzt. Das ist für die PDSwahrhaft nicht hinnehmbar.
Ohne die Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungenfür die kommunalen Energieversorger droht der Verlustvon bis zu 40 000 Arbeitsplätzen. Das könnte auch dasAus für die 920 Beschäftigten der kommunalen Ener-gieversorgung in der Großstadt Halle/Saale sein. Wirtreten daher für die Sicherung dieser Arbeitsplätze ein.Die Strukturmaßnahmen, die notwendig sind, müssendies mit ins Kalkül ziehen.Dumpingstrompreise können sich die meisten Städteauch wegen ihres Beitrages zur Finanzierung des ohne-hin defizitären öffentlichen Personennahverkehrs nichtleisten. Ich schätze den Vorteil des Querverbundes sehr,Herr Rexrodt. Wenn durch die Gewinne aus dem Be-triebszweig Energie dazu beigetragen wird, daß der öf-fentliche Personennahverkehr floriert, und zwar zu be-zahlbaren Bedingungen, dann ist das ein unschätzbarerWert, an dem festgehalten werden sollte.
Ich glaube, das hat wenig mit Konservativismus zu tun.Die Bundesregierung muß schnell die Notbremse zie-hen, sollen sich die Wettbewerbsbedingungen für dieStadtwerke nicht noch zusehends verschlechtern.Die Stadtwerke haben mit ihren Strompreisen imRahmen des Energiewirtschaftsgesetzes, das sehr starkIhren Namen trägt, Kollege Rexrodt, wohl kaum eineChance gegen die Angebote der Energiekonzerne. Es istdamit zu rechnen, daß nach der Fusion von VIAG undVEBA auch noch RWE beitritt und dadurch ein Multientsteht.
Wir wollen keine Monopole. Das hat mit Wettbewerbnichts mehr zu tun.In drei Wochen, so hört man aus dem Kanzleramt,soll eine Grundsatzentscheidung für eine dezentrale,umweltschonende und kostengünstige Energieversor-gung fallen. Dabei sollte die Bundesregierung, vorlie-gende Argumente beachtend, sicherstellen, daß dieStädte tatsächlich in die Lage versetzt werden, die de-zentrale Energieversorgung auch durch eigene Unter-nehmen abzusichern.Für die PDS stehen vor allem folgende Fragen imMittelpunkt:
Erstens. Notwendig ist, Herr Staatssekretär Mosdorf,eine quotierte Abnahmegarantie für Strom aus Kraft-Wärme-Kopplung, damit es in den nächsten acht Jahrenzumindest zu einer Verdoppelung der Quote von Stromdieser energiegünstigen Art kommt.Franziska Eichstädt-Bohlig
Metadaten/Kopzeile:
5192 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Zweitens. Im Grundsatz soll eine kostendeckendeVergütung für regenerative Energien und für Biomasseim Rahmen der Novellierung des Stromeinspeisegeset-zes sichergestellt werden.Drittens. Strom aus Kraft-Wärme-Kopplung und ausregenerativen Energien ist durch eine Befreiung von derÖkosteuer besonders zu begünstigen.Viertens. Die Mehrkosten der Braunkohleverstro-mung in Ostdeutschland sind bundesweit auf alle Ver-sorger umzulegen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun
der Kollege Harald Friese, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen inzwi-schen, daß Strom gelb sein kann. Vom Kollegen Rex-rodt haben wir gehört, daß Strom auch von der F.D.P.sein kann.
Ich habe allerdings ein paar Probleme mit der Frage, obdie F.D.P. angesichts ihrer Größe die Versorgungssi-cherheit garantieren kann. Aber das ist ein Thema fürsich.
Wir haben auch gelernt, daß Strom blau und daßStrom billiger sein kann, und von der Kollegin Wöhrlhaben wir sogar gelernt, daß man Strom nicht nur ver-teilen, sondern sogar verkaufen kann. Diese Erkenntnishat mich verblüfft. Stadtwerke haben eigentlich nie et-was anderes gemacht. Sie haben den Strom erzeugt undverteilt, aber immer auch verkauft.
– Verkauft haben sie ihn auch. – Auch haben wir ge-lernt, daß Strom billiger sein kann, alles richtig.Meine Damen und Herren, so einfach können wir unsdie Diskussion aber leider nicht machen, weil wir dieFrage nicht ausblenden können, wie Strom erzeugt wirdund wer ihn erzeugt.
– Nein, ich war kein Stadtwerker. Es wird Sie enttäu-schen und paßt vielleicht nicht in Ihr Weltbild, HerrSchauerte, aber ich war kein Stadtwerker.
Meine Damen und Herren, die Stromwirtschaft wirdnur auf den ersten Blick von den großen Energieversor-gungsunternehmen geprägt. In der Diskussion wird im-mer sehr leicht übersehen, welche wichtige Rolle Städteund Gemeinden sowie die kommunalen Stadtwerke inder Stromlandschaft spielen. Es geht dabei auch um dieVersorgungssicherheit, um den Einsatz regenerativerEnergien und um ökologische Methoden der Stromer-zeugung und Wärmelieferung. All dies leisten die kom-munalen Stromversorger. Deshalb bedauere ich eigent-lich, daß die Diskussion um die Stadtwerke immer aufdie Frage nach der Kraft-Wärme-Kopplung verkürztwird.In der Vergangenheit waren Städte, Gemeinden undkommunale Stadtwerke die Vorreiter einer modernenund ökologisch orientierten Stromerzeugung und Ener-giewirtschaft. Hier ging und geht es nicht nur um Kraft-Wärme-Kopplung, sondern auch um Energieberatungund Energieeinsparung – vielleicht haben Sie schoneinmal etwas von kommunalen Energieeinsparungsmo-dellen gelesen –, um Effizienzsteigerungsprogrammeund Contracting-Programme, um den Einsatz vonBlockheizkraftwerken mit KWK und von regenerativenEnergien sowie um Programme zur Emissionsminde-rung, zur CO2-Reduzierung und zum Klimaschutz. Da-mit sind wir mitten in einem zentralen kommunalenThema, nämlich der Agenda 21. Das alles wird im Au-genblick aus der Diskussion ausgeblendet.Ich möchte den großen Energieversorgungsunter-nehmen wirklich nicht zu nahe treten. Aber ich glaube,daß man mit Recht sagen kann, daß Städte, Gemeindenund kommunale Stadtwerke die Wegbereiter einer mo-dernen Energiepolitik sind. Deswegen brauchen wirStädte, Gemeinden und kommunale Stadtwerke in Zu-kunft auf dem Energiemarkt.
Meine Damen und Herren, vor welchen Problemendie kommunale Seite steht, ist bekannt. Sie steht imPreiswettbewerb. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich,daß im vorliegenden Entwurf der Verbändevereinbarungdie Stromerzeugung auf der Basis der Kraft-Wärme-Kopplung besonders berücksichtigt wird. Wir begrüßenes ferner, daß der Bundeswirtschaftsminister Vorschlägeunterbreiten will, um zu verhindern, daß Preisdumpingund reiner Preiswettbewerb in Zukunft die energiepoli-tisch richtigen ökologischen Strukturen auf der kommu-nalen Ebene zerschlagen. Dabei geht es der SPD-Fraktion nicht darum – ich sage das, damit hier keinMißverständnis entsteht –, kommenden Wettbewerb zuverhindern, um die Stadtwerke einen Zaun zu errichtenund Reservate für die Stadtwerke zu schaffen. Vielmehrgeht es uns darum, einer ökologischen und modernenEnergiepolitik eine Chance zu geben, im Wettbewerb zubestehen. Diese Chance werden die Stadtwerke nutzen,und sie werden den Wettbewerb auch bestehen, weil sienämlich näher am Kunden sind. Aber wir müssen ihnenauch in Form von fairen Wettbewerbsbedingungen dieVoraussetzungen dafür schaffen, den Wettbewerb beste-hen zu können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einenzweiten Aspekt hinzufügen. Wir werden alle VorschlägeDr. Uwe-Jens Rössel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5193
(C)
(D)
daraufhin überprüfen, ob sie mit der Selbstverwaltungs-garantie des Grundgesetzes in Artikel 28, Abs. 2 verein-bar sind, wonach den Gemeinden – Herr Rexrodt, Ihnengegenüber muß ich das offensichtlich zitieren – dasRecht zusteht, „alle Angelegenheiten der örtlichen Ge-meinschaft … in eigener Verantwortung zu regeln“.Dieser Verfassungsgrundsatz ist für uns wichtig. Dazugehört als oberste und wichtigste Aufgabe der Gemein-den,
die Daseinsvorsorge für ihre Bürger sicherzustellen.
– Herr Kollege Rexrodt, Ihnen scheint entgangen zusein, daß es im Moment nicht um Molkereien, son-dern um die Stromwirtschaft geht. Die Stromwirtschaftist ein Teil der kommunalen Daseinsvorsorge, zu derauch die Komplexe Abwasser, Wasser, Abfall, ÖPNVsowie die gesamten sozialen und kulturellen Aufgabengehören.
Das alles sind Einrichtungen, die für die Lebensqualitätder Bürger in einer Gemeinde von entscheidender Be-deutung sind. Dies wollen wir nicht gefährden und aufsSpiel setzen.Ich sage Ihnen eines: Die SPD-Fraktion hat sich im-mer als Hüterin der kommunalen Interessen verstan-den. Dazu gehört, daß die Aufgabe der Daseinsvor-sorge als ganzheitliche Aufgabe gesehen wird. Ich willjetzt einmal in Ihrer Terminologie bleiben. Sie könnensich das dann ganz einfach vorstellen. Es gibt ja denBegriff der Daseinsvorsorge. Jetzt setze ich dafür denBegriff „Holding“, damit ich Ihre Terminologie ver-wende, so daß Sie es leichter verstehen. Diese Holdingwird nun von verschiedenen kommunalen Aufgaben ge-speist.
Es gibt Aufgaben, bei deren Wahrnehmung Gewinnegemacht werden, und es gibt Aufgaben, bei derenWahrnehmung Verluste gemacht werden. Das wird inder „Holding“ der kommunalen Daseinsvorsorge ausge-glichen.
Hier geht es nicht um eine steuerliche Subventionierung– das ist nämlich das große Mißverständnis –; hier gehtes darum, daß diese Aufgabe der Daseinsvorsorge durcheinen steuerlichen Querverbund als einheitliche Aufgabegesehen und wahrgenommen wird.
Kollege Friese, Ihre
Redezeit ist schon deutlich überschritten. Ich bitte Sie,
zum letzten Satz zu kommen.
Ja. – Es kann nicht angehen,
daß Unternehmen in den Kommunen Rosinen picken.
Wenn das der Fall ist, dann müssen wir den Kommunen
und auch den kommunalen Stromversorgern die Mög-
lichkeit eröffnen, auch außerhalb ihres Versorgungsge-
bietes tätig zu werden.
Ich füge als letzten Satz hinzu:
Wenn es uns nicht gelingt, die kommunale Selbstver-
waltung mit Inhalten und Aufgaben zu füllen, dann
brauchen wir sie nicht mehr, weil sie keine Funktion
mehr hat. Diesen Weg werden wir nicht gehen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Ulrich Klinkert, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Am Montag dieserWoche demonstrierte die Gewerkschaft ÖTV mit eini-gen tausend Teilnehmern gegen die angebliche Gefahrdes Verlustes von 40 000 Arbeitsplätzen in den Stadt-werken. Ich kann jeden Arbeitnehmer verstehen, der fürseinen Arbeitsplatz und für den Arbeitsplatz seinesKollegen auf die Straße geht. Aber diejenigen Men-schen, die am Montag von der ÖTV mobilisiert wurden,waren von den Gewerkschaftsbossen – ich behaupte:bewußt – grundlos in Panik versetzt worden.
Daß auf diese Panik die PDS dann noch eins draufsetzt,das ist sicherlich kein Zufall.Worum geht es? Lassen Sie mich das bitte an einigenZahlen, die aus dem Bundeswirtschaftsministeriumstammen, erklären. Von den mehr als 10 000 Kommu-nen in der Bundesrepublik Deutschland betreiben rund550 Stadtwerke; von denen wiederum erzeugen nur 50selbst Strom und ganze 15 in einer Größenordnung vonmehr als 50 Prozent des Eigenbedarfs. Dabei betreibensieben von ihnen neue, moderne Kraftwerke in den neu-en Bundesländern. Acht Stadtwerke entfallen auf diealten Bundesländer. Diese acht wären einem Konkur-renzdruck eventuell nicht gewachsen.
Wenn die ÖTV dann suggeriert, daß an vielleicht achtStadtwerken 40 000 Arbeitsplätze hängen, dann betreibtsie hier ein falsches Spiel mit den Sorgen der Arbeit-nehmer.
Harald Friese
Metadaten/Kopzeile:
5194 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Ich glaube, das ÖTV-Problem sind nicht unbedingtdie 40 000 Arbeitnehmer in den Stadtwerken, sondern essind die 580 000 Arbeitnehmer, die der ÖTV in denletzten sieben Jahren den Rücken gekehrt haben. Nunmeint die ÖTV, endlich einmal einen Anlaß gefunden zuhaben, um Kraft, Stärke und Entschlossenheit demon-strieren zu können, ohne darauf zu achten, daß ihre ver-unsichernden Behauptungen einen seriösen Hintergrundhaben.
Die Verbändevereinbarung hat für die Stadtwerke,die ich eben erwähnt habe, eine Lösung gefunden. Aberder Kraft-Wärme-Kopplung, die im übrigen ja nicht nurvon den Stadtwerken betrieben wird, oder auch der ost-deutschen wie der westdeutschen Braunkohle droht eineviel ernstere Gefahr. Die Bundesregierung plant nämlicheine Steuerbefreiung für Öl und Gas in Kondensations-kraftwerken, die einen Wirkungsgrad von mehr als 55Prozent haben – mit dem zu erwartenden Ergebnis, daßinsbesondere Gas zu Lasten einheimischer Energieträ-ger, zu Lasten vorhandener Anlagen und zu Lasten ge-planter Investitionen auf den Energiemarkt Deutschlandvordringen wird.Ich halte dies für strategisch falsch, weil dadurch einezunehmende Abhängigkeit von Rohstoffimporten er-zeugt wird.
Markt, mehr nicht!)Nicht nur am Rande sei vermerkt, daß sich der Preisfür Erdöl in den letzten Monaten mehr als verdoppelthat. Wir wissen, daß der Preis für Erdgas dem immer aufdem Fuße folgt. Das heißt, langfristige Preisstabilität istdamit alles andere als gewährleistet.Ich halte dies auch im Blick auf Arbeitsplätze fürfalsch. Denn die Wertschöpfung bei der Energieerzeu-gung aus Gas erfolgt zu 75 Prozent im Ausland.Zwangsläufig sind dadurch Tausende von Arbeitsplät-zen, eben auch Arbeitsplätzen in den neuen Bundeslän-dern, in Gefahr.
Frau Eichstädt-Bohlig, Ihr Hinweis auf die Lex VE-AG zeigt die ganze Widersprüchlichkeit der Politik IhrerKoalition. Ich erinnere mich an die Debatte, die wir zudiesem Gesetz vor zwei Jahren im Bundestag geführthaben. Vielen Ihrer Kollegen – Sie waren damals in derOpposition – ging der Schutz der ostdeutschen Braun-kohle nicht weit genug.
Heute diffamieren Sie dieses Gesetz als Lex VEAG. Da-zu sage ich: Mir sind Tausende von Arbeitsplätzen inder Lausitz lieber als das Lob aus dem Munde der Grü-nen.
Meine Damen und Herren, wir sind in Deutschlanddabei, auf der Basis des Energiewirtschaftsgesetzeswettbewerbsfähige Energiestrukturen aufzubauen. Wirbekommen günstigere Strompreise für alle Verbraucher.Es sind die acht Stadtwerke gerettet, aber noch langenicht der Energiestandort Deutschland insgesamt.Danke schön.
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Ernst Schwanhold, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich fange mit HerrnRexrodt und seinem Zwischenruf von der Badehose an.Ich will ihn mal nicht ernst nehmen, aber das ist schonein signifikantes Beispiel dafür, wie Sie mit dem Pro-blem umgehen, die Stadtwerke zu sichern und ihnen dieChance zu geben, eine Brücke in den Wettbewerb zufinden.Ich beziehe mich auf Ihre Aussagen, die Sie bei derDiskussion um die Novelle zur Liberalisierung desEnergiemarktes gemacht haben. Sie haben den Wettbe-werb vorangetrieben, okay. Aber eines haben Sie nichtgeschafft – und das verschweigen Sie –: daß sich Ihreeuropäischen Partner Brücken bauen, die bis ins Jahr2006 reichen, und daß zum Beispiel die Franzosen denMarkt überhaupt nicht freigeben. Dieser Wettbewerb,wo Kernkraft durch den französischen Staat subventio-niert wird, führt zu einer Verdrängung der Energiepro-duktion in der Bundesrepublik Deutschland. Das wardas Ergebnis Ihrer Politik und ist nun Ursache für dieVernichtung von Arbeitsplätzen.
Da hätten Sie etwas tun sollen. Diese Bundesregierungbemüht sich nun, nachzuarbeiten, was Sie versäumt ha-ben. Deswegen wäre ich an Ihrer Stelle etwas vorsichti-ger.Herr Rexrodt, es geht um die dreigeteilte Aufgabe,die wir zu bewältigen haben: erstens Wettbewerb imStrommarkt zu ermöglichen, zweitens den Energiepro-duktionsstandort Bundesrepublik Deutschland zu si-chern und drittens ökologische Aspekte in die Produkti-on und die Verteilung der Energie einzubeziehen. DieTriade Wettbewerb, Produktionsstandort – einschließ-lich Versorgungssicherheit und Arbeitsplätze – undÖkologie gilt es zu lösen. Da sind die einfachen Ant-worten nicht jene, die wirklich zum Ziele führen. Es sindschon kompliziertere Antworten nötig als die, die Sieuns hier geben.Warum sonst haben Sie denn bei der Liberalisierungder Telekommunikation die Firmen zur Universal-dienstleistung verpflichtet, obwohl das Angebot auchvöllig ungebunden, frei von jeglicher Leitung, hätte or-ganisiert werden können? Es gibt also doch ein paarRahmen, sozusagen Leitplanken, die man benötigt, da-mit diejenigen, die auf bestehender Gesetzesgrundlageinvestiert haben – übrigens, hier gemeinsam beschlos-Ulrich Klinkert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5195
(C)
(D)
sen, mit Hilfe öffentlicher Förderung –, eine Brücke indie Zukunft bauen können. Dies muß den StadtwerkenDuisburg genauso wie anderen Stadtwerken in Ost-deutschland ermöglicht werden. Und auch die ostdeut-sche Braunkohle muß dies schaffen können.Herr Klinkert, insofern muß Ihre verlogene, bigotteArgumentation – zu sagen, hier brauchen wir es nicht,aber für die ostdeutsche Braunkohle brauchen wir das –aufgedeckt werden.
Ich bin für die ostdeutsche Braunkohle und für eineBrücke in die Zukunft. Sie können aber nicht so tun, alswären Ihnen alle anderen egal, und sagen: Die siebenKraftwerke in Ostdeutschland sind bald wettbewerbsfä-hig. Natürlich sind es Ihre Politik und Ihre Mitnahmeef-fekte bei der Finanzierung gewesen, die die exorbitantenGewinnrealisierungen in kurzer Zeit möglich gemachthaben, die heute dafür sorgen, daß die Kraftwerke nichtwettbewerbsfähig sind. Erst wenn diese Schuld, für dieSie die Verantwortung tragen, abgetragen ist, schaffenSie die Brücke in den Markt.
Sie treten als Oberlobbyist einer Region auf und füh-ren eine zweite verlogene Diskussion. Ich will Ihnenausdrücklich sagen: Machen Sie das nicht auf dem Rük-ken anderer Menschen! Ich finde es völlig in Ordnung,daß wir uns darum kümmern, aber machen Sie das nichtauf dem Rücken anderer Menschen.
Der letzte Punkt: Die Brücke in die Zukunft einer de-zentralen Energieversorgung der Verbraucherinnen undVerbraucher und der Wettbewerbsfähigkeit der Unter-nehmen wird durch jene Vereinbarung geschaffen, diezwischen der Regierung, den Grünen und der SPD nochnicht ausformuliert, aber in den Eckpunkten völlig klarerkennbar ist. Es wird keine Schutzzäune, sondern Hil-fen, um im Wettbewerb bestehen zu können, geben.Dies gilt für alle KWK-Anlagen, die derzeit in Betriebsind, auch für die besonders schwierige Situation inDuisburg, um die wir uns auch zu kümmern haben.Wer das nicht realisieren will, der muß erklären, war-um an der einen Stelle etwas geschieht und an andererStelle nichts geschehen muß und darf. Die Erklärungwürde ich mir gern von jenen anhören, die sagen, derMarkt wird es schon richten. Der Markt wird vielesrichten, aber das wird er zu Lasten einiger Menschenrichten, die Sie, Herr Rexrodt, offensichtlich aus denAugen verloren haben. Genau dafür haben die Kollegin-nen und Kollegen demonstriert. Sie haben nicht gegenuns, sondern gegen die Folgen Ihrer Gesetzgebungsver-fahren demonstriert.
Das Wort hat nun
Kollege Hartmut Schauerte, CDU/CSU.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Zunächst einmal ist dieseAktuelle Stunde Anlaß, von einer wirklichen Erfolgsge-schichte zu erzählen.
In der letzten Legislaturperiode hat es zwei ganz erfolg-reiche Veränderungen gegeben, die aus dem Blickwin-kel geraten sind, aber dennoch unglaublich gut fürDeutschland waren. Das war die Abschaffung des Koh-lepfennigs, der uns mit über 7 Milliarden DM belastethat, und die Energieliberalisierung mit einer Verbesse-rung der Standortqualität durch eine Entlastung von 20bis 25 Milliarden DM.
Dadurch ist mehr Positives für Deutschland und die Ar-beitsplätze passiert als mit allen Diskussionen und Blok-kaden in der Steuerpolitik und in sonstigen Bereichen.Hier ist wirklich etwas bewegt worden.
Das sollten wir ganz deutlich herausstellen.
Das hat Ihnen natürlich nicht richtig gepaßt; denndieses Thema bringt Sie in ein ganz großes Dilemma. Indiesem Dilemma befinden sich auch die Grünen, obwohlsie lernfähig sind
und an dieser Stelle durch die Regierungsübernahmedeutlich weiter als die Sozialdemokraten gekommensind. Sie haben nämlich ein grundsätzliches theoreti-sches Problem: Sie sollen sich heute mit uns über eineKostensenkung in der Energiewirtschaft freuen, obwohlSie alle sagen, eigentlich müßte die Energie verteuertwerden, damit weniger verbraucht wird. Das ist dasGrunddilemma, in dem Sie sich befinden. Deswegenkönnen Sie nicht einfach sagen: Gut, hier ist ein gewal-tiger Schritt nach vorn getan worden. Die meisten Ihrerdamaligen Befürchtungen sind nicht wahr geworden. Siehaben dieses Gesetz grundsätzlich abgelehnt. Ich könntedie Zitate von Ihnen, Herr Jung, darüber, welchen Un-sinn wir angeblich auflegen, anführen. Sie strengen so-gar mit einigen Ländern die Verfassungsklage an, weilSie das Gesetz weiterhin bekämpfen wollen. Es ist daswirkungsvollste Standortverbesserungsgesetz der letztenvier, fünf Jahre!
Wir haben einige wenige Probleme, über die man re-den kann.
– Ja, natürlich sind es, gemessen am Volumen dessen,was verbessert worden ist, einige wenige. Begreifen SieErnst Schwanhold
Metadaten/Kopzeile:
5196 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
doch einmal die Größenordnungen: Es gibt einerseitsacht Stadtwerke mit einem Problem, das man lösenkann, andererseits aber eine Standortverbesserung mitEntlastungen in Höhe von 20 bis 25 Milliarden DMpro Jahr. Das sind schon verdammt große Unter-schiede in der Wichtigkeit zugunsten von Arbeit inDeutschland.
Ich komme nun zu der Rolle der Kommunen. 36 Pro-zent des Stroms werden – mit unterschiedlichen Ansät-zen – öffentlich-rechtlich erzeugt und verteilt. Hier darfman die Frage nachdenklich stellen: Ist es eigentlich gut,daß 36 Prozent eines wichtigen Wirtschaftsguts öffent-lich-rechtlich begleitet und verwaltet werden?
– Das ist nicht nur gut, das muß hinterfragt werden kön-nen. Denn wir wissen doch, daß öffentlich-rechtlicheStrukturen im Prinzip im Durchschnitt weniger lei-stungsfähig sind.
– Das ist doch so. Zu dem Ergebnis kommen wir doch.Wenn es heute keine städtischen Stromerzeugungs- undStromverteilunternehmen in Deutschland gäbe – stellenwir uns das einmal einen Moment vor –, käme niemandauf die Idee, sie jetzt sofort zu „erfinden“. Dieses Pro-blem würde ordnungspolitisch anders gelöst werden.Das ist die Erkenntnis, die wir miteinander gewonnenhaben. Sie wollen natürlich daran festhalten. Das istauch in Ordnung. Auch wir wollen schützen und Brüchevermeiden, aber wir wollen auch eine Veränderung.Strom ist seiner Natur nach keine Sache, die öffentlich-rechtlich gestaltet und verwaltet werden muß.
– Nein, das fällt nicht unter Daseinsvorsorge. Wenn dasso ist, dann holen Sie doch die Molkereien wieder in dieZuständigkeit der Städte. Milch ist manchmal genausowichtig wie Strom. Das kann es doch wohl nicht sein.Das haben wir doch hinter uns gelassen.
Wir sind auf dem Weg zu einer größeren Entstaatli-chung, sagen aber, daß die Kommunen ihre Kernkom-petenzen schützen sollen. Lassen Sie uns den Weg intel-ligent, moderat und vernünftig in die richtige Richtunggehen, aber rudern wir bitte nicht zurück!Ich möchte ein anderes Beispiel nennen: Wir disku-tieren über diese Fragen auch mit Blick auf die Sparkas-sen und Banken. Ich nenne dieses Beispiel nur, um dasProblem besser vor Augen zu führen. Die Sparkassenhaben – so wird es immer wieder behauptet, und so stehtes in den Gesetzen – einen öffentlichen Auftrag, denGenossenschaftsbanken und Privatbanken eingeschränktoder so ähnlich auch haben. Aber die Sparkassen habenhier einen besonderen Schwerpunktauftrag. So wird esbehauptet. Wenn nun die Sparkassen wegen Globalisie-rungsentwicklungen, die wir nicht wirklich steuern kön-nen, in Gefahr gerieten, käme dann einer von uns auf dieIdee – damit sind wir dann bei Ihren Lösungsansätzen –zu sagen: Wir müssen in Deutschland den Zins um einenhalben Punkt erhöhen, damit das finanziert werden kann,was die Sparkassen betreiben sollen?
– Das ist Daseinsvorsorge: Die Kreditversorgung für dieBevölkerung vor Ort ist ein so wichtiges Gut wie Strom.
Aber ohne eine vernünftige Finanzwirtschaft kann auchdas nicht funktionieren. Ich nehme dieses Beispiel, umzu zeigen, daß wir in diesen Bereichen noch häufig ge-nug falsch denken. Ich darf Sie einfach ermuntern, denrichtigen Denkansatz etwas ernster zu nehmen.Meine nächste Bemerkung bezieht sich auf Europa:Die Reziprozität haben wir gewollt. Aber wenn wir siein der gegenwärtigen Situation bekommen würden, hät-ten wir den Wettbewerb, der im Ausland stattfindet undzu verbilligtem Strom führt, jetzt hier. Im Moment fin-det er nur auf Plakaten statt, sonst ist gar nichts passiert.Deswegen kann ich diese Regierung nur ermuntern– dies ist ihre Aufgabe –, die Franzosen dazu zu bringen– Joschka Fischer und Gerhard Schröder sollen sich die-ses Themas einmal annehmen, obwohl ich ihnen nichtempfehlen würde, es zur Chefsache zu machen; das hatin der Vergangenheit bekanntermaßen immer schlechteErgebnisse gebracht –
Herr Kollege Schau-
erte, Sie müssen Schluß machen. Sie haben Ihre Rede-
zeit schon überzogen.
– sich mit diesem
Thema zu befassen, endlich eine Vergleichbarkeit in Eu-
ropa zu erreichen und die Reziprozität durchzusetzen,
wie wir es im Gesetzgebungsverfahren gewollt haben.
Herzlichen Dank.
Als letzter Redner in
der Aktuellen Stunde spricht Michael Müller.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Um es auch von unsererSeite klar zu sagen: Wir wollen natürlich auch, daß derVerbraucher endlich faire und günstige Preise zahlt.Darüber gibt es überhaupt keine Debatte.
Aber, Herr Schauerte, um dies aufzugreifen: Wenn der-artige Preissenkungen möglich sind, kann man die Fragestellen: Wer hat denn in den letzten Jahren all die Extra-Hartmut Schauerte
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5197
(C)
(D)
profite zugelassen, die die großen Energiekonzerne ge-macht haben?
Wer stellte denn in den letzten Jahren die Regierung undhat ein Energiegesetz gemacht, das diese milliarden-schweren Extraprofite zur Füllung der Kriegskassen derGroßunternehmen ermöglichte? Das ist doch die Frage,die sich hier stellt.
In besonderer Weise muß man das natürlich Herrn Rex-rodt fragen, der, wie die F.D.P. insgesamt, bei der Ener-giepolitik immer vorne dabei war, wenn es darum ging,die Großen zu sichern, die Kleinen aber nicht zu schüt-zen.
Leider sind die Extraprofite nur ein Teil der Wahr-heit.Ein anderer Teil der Wahrheit ist, daß wir uns in einemtiefgreifenden Umbruchprozeß des Energiesektors be-finden, in dem es gleichzeitig eine gewaltige Entkom-munalisierungs- und Konzentrationsbewegung gibt, undzwar zum Teil hervorgerufen durch Kampf- und Dum-pingpreise. Auch das gehört zur Wahrheit.
Im Vergleich zu den früheren Stromgestehungskosten,die Sie in der Öffentlichkeit verkündet haben, liegen diePreisangebote, die heute gemacht werden, weit unterdiesen Gestehungskosten. Dies hat nichts mit normalenMarktbedingungen, sondern nur etwas mit dem strategi-schen Ziel zu tun, die Neuordnung des Energiesektorsjetzt in einer Weise zu betreiben, die dazu führt, daß wirdie dicke Rechnung erst in ein paar Jahren bekommenwerden. Das wollen wir nicht.
Wir sind sehr für preis- und kostengünstige Angebotean den Verbraucher, an den Nachfrager. Aber wir stellennoch einen weiteren Aspekt in der Energiepolitik in denVordergrund. Er betrifft die Frage nach der Funktions-fähigkeit des Wettbewerbs. Zum Wettbewerb gehören –Sie sollten dies bei Ludwig Erhard nachlesen; leidermuß ich Ihnen dies sagen, obwohl ich gar nicht dessenökonomische Richtung vertrete – auch gewisse Grund-bedingungen, nämlich beispielsweise ein Gleichgewichtzwischen den Angeboten und auch eine Pluralität derMarktmöglichkeiten.
Sie reduzieren die Entwicklung auf dem Strommarkt le-diglich auf die Preisfrage.
– Entschuldigung, in der Europäischen Union gibt eskein schlechteres Energiegesetz als das deutsche. Diesist leider eine Tatsache.
– Ja, natürlich, das werden wir auch ändern. KeineSorge!Es geht im wesentlichen aber auch um zwei weiterePunkte. Einer davon betrifft die Umweltverträglichkeit.Es war schon interessant, daß keiner der Vertreter vonder Opposition über den Aspekt der Umweltverträglich-keit geredet hat. Auch die Umweltverträglichkeit ist hiervon entscheidender Bedeutung.
– Herr Schauerte, ich höre Ihnen schon zu. Keine Sorge!Es ist zwar schwierig, Ihnen zuzuhören, weil Sie so lautsind. Aber wir hören Ihnen trotzdem zu. Sie haben nichtüber Umweltverträglichkeit gesprochen.Der zweite wichtige Punkt betrifft die Überlegung, obes nur um die Energieerzeugung oder auch um Energie-einsparung und Energiedienstleistung geht. Läßt derWettbewerb überhaupt noch die Chance, Energieeinspa-rung zu erzielen, wenn die Preise zu diesem Zweck an-gehoben werden müssen? Dies ist eine relevante Frage.Volkswirtschaftlich ist Energieeinsparung oft sehr vielsinnvoller als der Zubau von Kapazitäten.
– Nein, Sie haben es nicht verstanden. Darum geht jaunser alter Streit. Wir sollten ihn hier nicht fortführen,weil mir jetzt nur wenig Redezeit zur Verfügung steht.Nehmen Sie einfach zur Kenntnis, was ich Ihnen sage.Ein weiterer relevanter Punkt, der auch angesprochenwerden muß, betrifft die Frage, ob in der Bundesrepu-blik die Erzeugung von Strom überhaupt aufrechterhal-ten werden kann. Die Entwicklung, daß beispielsweiseosteuropäische Länder auf Grund der Devisenschwan-kungen sehr günstige, unter den Stromgestehungskostenliegende Angebote machen können, ist sehr ernst zunehmen. Aber es gibt auch Kampfgebote aus anderenLändern, beispielsweise aus Frankreich, weil es dortÜberkapazitäten an Strom gibt. Dies ist ja bekannt. Un-ter diesen Gesichtspunkten muß man die Frage stellen:Wird die Entwicklung nicht darauf hinauslaufen, daß dieBundesrepublik nur noch ein Stromhandelsland seinwird? Dies wäre keine sinnvolle und akzeptable Ent-wicklung. Es ist interessant, zu beobachten, daß geradedie kommunalen Stadtwerke in Schwierigkeiten geratensind, die selber Strom erzeugen. Dies kommt doch nichtvon ungefähr.Wir haben jetzt einen Vorschlag unterbreitet. Diesenwerden wir in den nächsten Wochen durchrechnen. Wirglauben, daß folgende Frage exemplarisch ist: Ist esmöglich, Standortsicherheit, Kostengünstigkeit, Um-weltverträglichkeit und einen funktionierenden Wettbe-Michael Müller
Metadaten/Kopzeile:
5198 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
werb miteinander in Einklang zu bringen? Dieser Auf-gabe wollen wir uns stellen. Wir sollten hier bitte keineShowdebatte veranstalten. Wir wissen letztlich, daß wirdie Folgen einer verfehlten Energiepolitik zu tragen ha-ben, die die Vorgängerregierung zu verantworten hat.
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
möchte ich Ihnen eine erfreuliche Mitteilung weiterge-
ben. Es ist gerade gemeldet worden, daß Günter Grass
den diesjährigen Nobelpreis für Literatur bekommen
hat.
Ich denke, ich spreche im Namen des ganzen Hauses,
wenn ich Günter Grass zu dieser außerordentlichen Aus-
zeichnung ganz herzlich gratuliere.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer
Menschenrechtsschutz
– Drucksache 14/1568 –
Überweisungsvorschlag:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5199
(C)
(D)
Ich hoffe, die neue Regierungskoalition wird das nach-holen. Ich bedanke mich bei der Kollegin Roth für denBeifall.Lassen Sie mich die Wirkung der Sozialcharta kurzan einem Beispiel demonstrieren: Irland und Frankreichänderten auf Grund ihres Beitritts zur Europäischen So-zialcharta nationale Gesetze, die eine Einschränkung desWahlrechts derjenigen Bürger vorsahen, die staatlicheUnterstützung bezogen. Auch das deutsche Jugendar-beitsschutzgesetz aus dem Jahre 1976 trägt eindeutigden Stempel der Europäischen Sozialcharta.Wir haben – ich glaube, das kann man mit Recht be-haupten – im Europarat und insbesondere in der Parla-mentarischen Versammlung vor allem in den letzten10 Jahren gezeigt, daß wir nicht an verkrusteten Struktu-ren festhalten. Wir haben mit beispielhafter Flexibilitätauf die enormen politischen Veränderungen reagiert, diesich auf der Landkarte Europas vollzogen haben. Die hi-storische Rede Michail Gorbatschows vor der Parla-mentarischen Versammlung des Europarates am 6. Juli1989 machte deutlich, welch tiefgreifender Wandel inEuropa stattfand. Gorbatschow erklärte damals, daß je-des Volk sein eigenes politisches System wählen kann.Wörtlich sagte er, daß „eine beliebige Einmischung indie inneren Angelegenheiten, beliebige Versuche, dieSouveränität der Staaten – sowohl befreundeter und ver-bündeter als auch irgendwelcher anderen – zu begren-zen, unzulässig sind“. Damit öffnete Gorbatschow denmittel- und osteuropäischen Staaten die Tür in das „ge-meinsame europäische Haus“, wie er seine Vision da-mals selber bezeichnete.
Diese beachtliche Vision muß man heute besonders her-vorheben.Die Völker Europas kamen: Zwischen 1989 und 1999wuchs der Europarat von 23 auf 41 Mitgliedstaaten an,die alle die Europäische Menschenrechtskonvention rati-fizierten. Als bislang letzter Staat trat die kaukasischeRepublik Georgien im April dieses Jahres dem Europa-rat bei. Die Freude Georgiens nach dem Beitritt zum Eu-roparat – vom georgischen Präsidenten Eduard Sche-wardnadse mit den Worten „Ich bin ein Europäer“ zumAusdruck gebracht – sowie die Bemühungen weitererKaukasus-Länder und auch Bosnien-Herzegowinas umeine Mitgliedschaft unterstreichen die besondere politi-sche, aber auch wirtschaftliche und soziale Bedeutungdes Europarates für diese Länder.Zugegebenermaßen verfügen viele der neuen Mit-glieder nicht über eine demokratische Tradition undzeichnen sich nicht durch eine besonders aktive Men-schenrechtspolitik aus. Es waren schwierige Grundsatz-debatten, die die Parlamentarische Versammlung führte,bevor sie zu dem Entschluß gelangte, sich für den Dia-log und gegen die Ausgrenzung zu entscheiden. Wir ha-ben aber gleichzeitig betont, daß wir von unseren Wer-ten und Maßstäben nicht abrücken werden, sondern mitder Mitgliedschaft den rechtsstaatlichen und demokrati-schen Entwicklungsprozeß in diesen Ländern aktiv för-dern wollen.Im Rahmen des Europarates betreiben wir vor allemKonflikt- und Friedensprävention, denn wir haben einbemerkenswert sensibles Frühwarnsystem, wenn Men-schen- und Minderheitsrechte verletzt werden. 312 Mil-lionen DM – das ist der bescheidene Umfang des Euro-parats-Haushalts – kostet diese präventive und frieden-stabilisierende Politik des Europarates die Mitgliedstaa-ten. Mit diesem 312-Millionen-DM-Budget beanspruchtder Europarat – das muß man sich einmal auf der Zungezergehen lassen – 1 Prozent der Kosten des Kosovo-Konflikts.Gerade das Kosovo hat gezeigt, wie wichtig Konflikt-und Krisenprävention sind. Die Lehre aus dem Kosovo-Konflikt sollte sein, daß die Völkergemeinschaft – undhier insbesondere der Europarat – vor dem Ausbruch ei-nes Konfliktes jede Möglichkeit nutzt, vermittelnd tätigzu werden.
In Bosnien-Herzegowina und im Kosovo ist das nichtgelungen. Hoffen wir, daß wir mit dem Stabilitätspaktfür Südosteuropa die Voraussetzungen dafür schaffen,daß eine endgültige Befriedung dieser Region eintritt.Jeder weiß, wie wichtig es ist, die demokratischeund rechtsstaatliche Entwicklung in Europa zu för-dern. Diese Politik aber ist nicht zum Nulltarif zu haben.Ich möchte deshalb die Bundesregierung auffordern,nicht die Augen vor den wachsenden Aufgaben des Eu-roparates zu verschließen. Wir haben uns in der Koaliti-onsvereinbarung verpflichtet, die deutsche Außenpolitikwerde sichmit aller Kraft um die Entwicklung und Anwen-dung von wirksamen Strategien und Instrumentender Krisenprävention und der friedlichen Konflikt-regelung … bemühen.Genau dafür ist der Europarat prädestiniert. Weiter ha-ben wir gesagt, daß wir unsdabei von der Verrechtlichung der internationalenBeziehungen leiten lassen wollen.Dieses charakterisiert exakt die Arbeit des Europarates,der mit seinen inzwischen 170 Konventionen etwa100 000 bilaterale Verträge ersetzt.Meine Damen und Herren, so sehr auch Anlässe wieder heutige dazu angetan sind, die Erfolge der Vergan-genheit zu beschwören, will ich nicht nur zurückblicken.Wenn wir wollen, daß man uns in 50 Jahren so rühmt,wie wir es heute mit den Gründungsvätern und -mütterndes Europarates tun, müssen wir nach vorn schauenWolfgang Behrendt
Metadaten/Kopzeile:
5200 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
und – um es einmal salopp zu sagen – die Ärmel auf-krempeln und zupacken.Gerade in der klassischen Domäne des Europarates,beim Menschenrechtsschutz, stellen sich neue Heraus-forderungen. Die Diskussion um die Bioethik-Konven-tion hat deutlich gemacht, wie stark der Schutz der Men-schenrechte und der Menschenwürde durch die moder-nen Entwicklungen der Medizin und der Biotechnologieberührt wird. Gerade die atemberaubende Entwicklungder Biotechnologie stellt eine einzigartige Herausforde-rung für den Europarat dar.
Hier sind wir gefordert; hier müssen wir alle gemeinsam– ich hoffe, mit Unterstützung des Bundestages – Min-deststandards setzen, um Gefährdungen zu vermeiden.Auch im Bereich der Informationstechnologie werdenwir neue Standards für den Schutz der Menschenwürdeund der Individualfreiheiten setzen müssen.Auch in anderen Bereichen hat der Europarat mitUnterstützung des Bundesrates und der Kollegen ausdem Bundestag eine Vorreiterrolle übernommen. ImJahre 1997 hatten 29 Staaten das Übereinkommen zurBekämpfung des Terrorismus ratifiziert. Hand in Handgeht dieses Instrument mit dem Europäischen Ausliefe-rungsübereinkommen. Am 1. April 1999 trat auch dievon Deutschland ratifizierte Geldwäschekonvention inKraft. Last not least hat auch Deutschland die Europa-ratskonvention zum Schutz der Umwelt durch das Straf-recht und die Konvention über die strafrechtliche Ver-folgung von Korruption unterzeichnet.1949 haben Jugendliche aus vielen Ländern enthusia-stisch für Europa demonstriert. Heute, da wir immerwieder lesen und erleben müssen, daß sich junge Men-schen von demokratischen Werten ab- und extremisti-schen Ideologien zuwenden, sind nicht nur die Einzel-staaten, sondern auch die europäischen Gremien gefor-dert. Der Europarat hat reagiert, indem er im April die-sen Jahres den „Europarat der Jugendlichen“ veran-staltet hat. Aus allen Ländern Europas kamen Jugendli-che nach Straßburg, in eine Stadt, die ein besonderesSymbol der Aussöhnung zwischen ehemals verfeindetenVölkern ist. Dabei zeigte sich sehr deutlich: Demokratieund Toleranz lernt man nicht aus Büchern, man muß sieerleben. Die jungen Menschen haben in Straßburg dieseChance intensiv genutzt.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-ßend feststellen: Der Europarat hat in den letzten 50 Jah-ren Bedeutsames geleistet. Davon hat auch Deutschlandprofitiert. Nicht zuletzt ist ein großer Teil des Vertrau-ens, das der Bundesrepublik und dem deutschen Volk inden vergangenen Jahrzehnten zugewachsen ist, im Palaisde l’Europe in Straßburg gesät und geerntet worden.Genießen wir die Ernte, führen wir uns aber auch immerwieder vor Augen, in welcher Sicherheit wir leben, undtun wir auch in Zukunft alles in unserer Macht Stehende,um allen Völkern in Europa die gleiche Chance zu ge-ben, in Frieden und in sozialer Sicherheit zu leben.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Bühler, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Idee, diedem Europarat zugrunde liegt, ist nicht nur grenzüber-schreitend, sondern auch parteiüberschreitend. Damit ist– ich kann hier nahtlos dort fortfahren, wo der KollegeBehrendt eben geendet hat – auch schon ein Wert desEuroparates an sich zum Ausdruck gebracht worden, indem man sich gemeinsam für den Schutz, für den Erhaltund für die Sicherung der Menschenrechte einsetzt.Damals, vor 50 Jahren, war für die Gründung des Eu-roparats ausschlaggebend: Man wollte eine europäischeInstitution ins Leben rufen, in deren Mitgliedsländerndie Grundrechte, die Menschenrechte eine Selbstver-ständlichkeit für die Bürger sind. Man war davon über-zeugt, daß auf Grund dieser Tatsache von den Ländern,die dem Europarat beitreten, niemals wieder Kriege aus-gehen würden. Es gehört zur großen Erfolgsgeschichtedes Europarats, daß wir heute, im Jahre 1999, bilanzie-ren können, daß wir in West- und Mitteleuropa, alsoauch in Deutschland, die längste Friedenszeit erlebendurften und dürfen, die die Völker dieses Teils des Kon-tinents je erlebt haben – auch das ein Wert an sich.
Es war der Europarat, diese älteste und größte politi-sche Institution, der die Grundlagen gelegt hat, auf de-nen dann andere europäische Institutionen weitergear-beitet haben. Dieser Europarat ist aber nicht nur die älte-ste und die größte Organisation, er ist leider auch die amwenigsten bekannte. Wenn ich recht informiert bin, wirdzum ersten Mal in der Geschichte des Deutschen Bun-destages eine Debatte über den Europarat geführt. Wirals deutsche Delegation sagen: Es ist höchste Zeit, daßdas geschieht. Wir bedanken uns dafür und hoffen, daßdas keine Eintagsfliege bleibt. Auch das möchte ichheute zum Ausdruck bringen.
Die Gesetzgebungsbefugnis beim Europarat ist be-sonders gelagert: Er hat schlicht und einfach keine Ge-setzgebungsbefugnis. Der Kollege Behrendt hat daraufhingewiesen, daß 170 Konventionen des Europarats, diein den Einzelstaaten ratifiziert worden sind, etwa100 000 bilaterale Verträge ersetzen und damit eine ge-meinsame europäische Rechtsprechung in vielen vielenBereichen ermöglicht haben – auch das eine Erfolgsge-schichte.Der Beitritt der Bundesrepublik war seinerzeit nichtganz unumstritten. Er hat aber dazu beigetragen, daß diejunge deutsche Demokratie – 1950 wurde der Antraggestellt, 1951 kam die Mitgliedschaft – politikfähigerwurde, als sie vorher war, denn er bedeutete die Auf-nahme in die Familie der freien Völker Europas. Damals– das ist nicht weit hergeholt – war es eine der Visionenderjenigen, die diesen Beitritt Deutschlands unterstützthaben, daß es vielleicht der erste Schritt zu einer Wie-Wolfgang Behrendt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5201
(C)
(D)
dervereinigung ist; denn der Europarat hat auch in derZeit des kalten Krieges immer wieder darauf hinge-wiesen, daß das geteilte Europa eines Tages wiedergeeint werden solle. Dieser Beitritt Deutschlands unddie Mitarbeit im Europarat waren eine der Voraus-setzungen für die erfolgreich durchgeführte Wiederver-einigung.Während des kalten Krieges war der Europarat langeZeit Feindbild Nummer eins. Deswegen war es einegroße Überraschung – es wurde bereits darauf hingewie-sen –, als Gorbatschow 1989 ankündigte, er wolle alssowjetischer Staatschef in Straßburg sprechen. Alle ha-ben damals geglaubt, er wolle das Europäische Parla-ment besuchen. Er wollte aber zum Europarat sprechenund hat dort folgendes Wort geprägt, das heute schon inden Schulbüchern enthalten ist: Auch die Sowjetunionwill ihren Platz im europäischen Haus einnehmen. –Dies war eine gewisse Initialzündung für die Reform inden ehemaligen Staaten des Ostblocks.Es gibt zwei Epochen des Europarates: Die ersteEpoche erstreckte sich über den Zeitraum von 1949 bis1989. Die zweite Epoche begann mit dem Jahr 1989.Die Aufgabe in dieser neuen Epoche lautet: Wie haltenwir es mit den neuen Mitgliedstaaten, also mit den jun-gen bzw. werdenden Demokratien Mittel- und Osteuro-pas? Wir haben damals eine harte Kontroverse über denBeitritt Rußlands geführt. Die Mehrheit war der Mei-nung: Rußland ist zwar keine funktionierende Demo-kratie – historisch gesehen konnte Rußland es damalsauch gar nicht sein –, aber trotzdem wollen wir Rußlandauf dem Weg zur Demokratie helfend begleiten. VieleStaaten aus dem ehemaligen Ostblock haben mit unsererUnterstützung ihren Weg gefunden. Für manche – ichnenne in diesem Zusammenhang Ungarn und Polen –war der Weg der Demokratisierung relativ einfach. Fürandere Staaten wurde es schwieriger. Noch heute helfenwir ihnen auf ihrem Weg zur Demokratie.Ich will noch einen weiteren Aspekt nennen, den dieBundesregierung mehr beachten sollte. Der Europarat istdie einzige parlamentarische europäische Institution, inder es einen ständigen parlamentarischen Dialog mitrussischen, rumänischen und tschechischen Abgeordne-ten gibt. Ich kenne keine andere Institution, in der einsolcher Dialog in dieser Form möglich ist. Faszinierendist auch – wir haben es zum Teil bereits erlebt und wer-den es zum Teil noch erleben –, das Zusammenwachsendes jahrzehntelang getrennten Europas zu beobachten.Dieses Zusammenwachsen spielt sich in der Tat im Eu-roparat ab und nicht – mit Verlaub gesagt – im Europäi-schen Parlament, in dem nur 15 Mitgliedstaaten ausWest- oder Mitteleuropa vertreten sind.Nachdem der Europarat die Zahl seiner Mitgliederwesentlich vergrößert hat, haben wir uns eine neue Auf-gabe gesetzt, nämlich die Überprüfung der einzelnenMitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Verpflichtungen imBereich der Menschen- und Grundrechte. Es ist im-mer wieder interessant zu beobachten, daß schon dermoralisch-politische Druck des Europarates – er hat jakeine Exekutive und kann keine Zwangsmaßnahmenvollstrecken – manchmal ausreicht, um bei Ländern, diesich nicht an die Normen gehalten haben, einen Sinnes-wandel herbeizuführen. Das betrifft nicht nur die neuenMitgliedstaaten. Wir haben auch Monitoring-Verfahrengegen ältere Mitgliedstaaten eingeleitet. Ich möchte indiesem Zusammenhang nur die Türkei erwähnen.Der Europarat hat noch einen weiteren Wert. DieBeitrittsverhandlungen mit den neuen Mitgliedstaatender Europäischen Union wie Slowenien und Estland undmit den neuen Mitgliedstaaten der NATO wie Polen,Tschechien und Ungarn basieren bzw. basierten auf denErfahrungen des Europarates, die er bei seinen Aufnah-meverhandlungen mit diesen Ländern gemacht hat.Es muß noch ein weiterer Wert des Europarates ge-nannt werden: In diesem Gremium der Parlamentarieraus 41 Staaten haben wir im Augenblick in Gesamteu-ropa die einzige Möglichkeit, daß sich Politiker als Mit-glieder ihrer Parlamente bei der Wiederfindung einergemeinsamen europäischen Identität einbringen können.Ich glaube, dieser Wert wird viel zuwenig beachtet.Auch wenn sich die Arbeit des Europarates im Stillenabspielt, ist sie doch eine Arbeit, die die europäischeIntegration wesentlich vorantreibt.Ich möchte der Bundesregierung sagen: Man sollteden Europarat mehr als politisches Instrument nutzen.
Wer dem Europarat lange angehört hat, der hat erle-ben können, daß viele ehemalige Abgeordnete inzwi-schen Premierminister oder auch Außenminister in ihrenHeimatländern geworden sind. Man hat hier Querver-bindungen politischer und auch menschlicher Art schaf-fen können, die, wenn sie richtig genutzt würden, füreine weitere europäische Integrationspolitik von un-schätzbarer Bedeutung wären. Auch daran muß erinnertwerden.Ich möchte einige wenige Forderungen an den Schlußmeiner Ausführungen stellen. Wir, die wir hier als deut-sche Delegation tätig sind, müssen, zusammen mit denKolleginnen und Kollegen aus den anderen 40 Mit-gliedsländern, weiter am Bau des Hauses Europa ar-beiten. Diese Arbeit hat bisher weitgehend im Stillenund unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden.Aber vielleicht ist die heutige Debatte gerade in derBundesrepublik Deutschland ein gewisser Durchbruch,daß wir es zum Regelfall machen, einmal im Jahr in die-sem Hause eine Debatte über Fragen des Europaratesdurchzuführen.Jenes Wort von Konrad Adenauer, das er vor 50 Jah-ren über den Europarat geprägt hat – „Der Europarat istdas demokratische Gewissen und die politische Platt-form der Begegnung“ –, ist heute meines Erachtens ge-nauso aktuell wie damals. Wir sollten es in unsere politi-schen Überlegungen und Arbeiten einbeziehen.
Die Forderungen an die Bundesregierung, die ich an-gekündigt habe, sind relativ kurz. Helfen Sie dem Euro-parat, in der Öffentlichkeit den Stellenwert zu erhalten,der ihm zusteht. Ich weiß, das ist ein sehr schwierigesUnterfangen. Aber es wäre äußerst hilfreich, wenn sichKlaus Bühler
Metadaten/Kopzeile:
5202 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
die Bundesregierung mehr mit der Materie Europarat be-fassen und sich mehr dazu bekennen würde.
Zweitens. Man sollte – ich habe es gesagt – den Eu-roparat viel mehr als politisches Instrumentarium nut-zen. Andere Länder tun das in einer ungleich stärkerenArt und Weise, als es die deutsche Seite tut. Ich macheda gar keinen Unterschied zwischen den Regierungenverschiedener politischer Couleur, sondern hier ist eingrundsätzlicher Nachholbedarf vorhanden. Deswegendiese zweite Bitte und Anregung.Drittens. Die Bundesregierung sollte uns auch dahingehend unterstützen, daß es zu einer stärkeren Kompe-tenzabgrenzung zwischen den einzelnen europäischenOrganisationen kommt: zwischen dem Europarat, demEuropäischen Parlament, der OSZE und anderen. Dennwenn wir eine bessere Kompetenzabgrenzung erreichenwürden, wäre auch eine bessere Zusammenarbeit dieserOrganisationen gegeben. Das ist meines Erachtens drin-gend notwendig, um Überlappungen und Überkreuzun-gen zu vermeiden.Viertens. Der Europarat benötigt auch eine Struktur-reform. Als ich damals Mitglied der Versammlung ge-worden bin, waren es 23 Staaten, heute sind es 41. Ichzähle manchmal, wenn ich nach Straßburg komme, dieFahnen, um zu sehen, wie die augenblickliche Situationist. Da die Entwicklung so schnell vorangeschritten ist,brauchen wir Strukturreformen, um auch die Finanzkraftdes Europarates zu stärken. Der Kollege hat vorhin dar-auf hingewiesen, wie umfangreich die Mittel sind. Vondaher, glaube ich, ist das eine Bitte, die durchaus als be-scheiden bezeichnet werden kann.Letzte Bitte und Anregung. Ich bitte die Bundesregie-rung und fordere sie auf, darauf hinzuwirken, daß dieEuropäische Union der Europäischen Menschenrechts-konvention beitritt, statt im Alleingang das gleiche zutun, denn wir haben das im Europarat in hervorragenderWeise geregelt. Die Europäische Menschenrechtskon-vention ist das Kernstück des Europarates. Wir laden dieEU zur Mitgliedschaft ein.Ich danke Ihnen.
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Ludger Volmer. Bitte.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Wir haben in diesem Jahr schon viele Jubiläen ge-feiert. Dennoch ist es wichtig, sich immer wieder vorAugen zu halten, was sich in diesem halben Jahrhundertgeändert hat.1949, als nicht nur das Haus, in dem wir jetzt tagen,sondern auch der halbe Kontinent noch die frischen Spu-ren der Verwüstung durch den Krieg aufwies, wurde derEuroparat gegründet. Nach der Erfahrung von Diktaturund Totalitarismus sowie der Katastrophe des zweitenWeltkriegs war dies der erste Schritt zu etwas, was unsheute in Europa als völlig selbstverständlich erscheint:Multilateralismus. Von daher sind 50 Jahre Europaratetwas ganz Besonderes.Der Europarat stellte bewußt das gemeinsame Inter-esse der Staaten in den Vordergrund. Dabei gehört er zuden ersten internationalen Organisationen, die demSchutz des einzelnen Menschen und seiner Rechte einenverläßlichen Rahmen geboten haben. 50 Jahre Europaratheißt eben auch: 50 Jahre europäischer Menschen-rechtsschutz.Dazu gehört als wichtiger Punkt der Beitrag desEuroparates bei der Abschaffung der Todesstrafe, umnur ein Beispiel zu nennen. Darüber hinaus hat er bei derVerrechtlichung der internationalen Beziehungen Pio-nierarbeit geleistet.Nächstes Jahr werden wir den 50. Jahrestag derEuropäischen Menschenrechtskonvention feierlich be-gehen können. Daß der Europäische Menschenrechts-gerichtshof seit November letzten Jahres mit hauptamt-lichen Richtern besetzt ist und ständig tagt, ist ebenfallsein wichtiger Schritt, um der steigenden Inanspruch-nahme des Gerichtshofs gerecht zu werden, der inzwi-schen 800 Millionen Menschen als letzte Instanz zurDurchsetzung ihrer Rechte offensteht.
Der Weg zu einer Verrechtlichung der Beziehun-gen zwischen den Staaten Westeuropas war alles ande-re als einfach. Aber mit dem Europarat hatten wir in derZeit des Umbruchs in Europa nach 1990 eine gesamt-europäische Organisation, in der sich alte und neue De-mokratien auf der Grundlage gemeinsamer Werte vonMenschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeitverbunden fühlten. In zwei Gipfeltreffen – 1993 in Wienund 1997 in Straßburg – hat der Europarat auf die Er-eignisse von 1989/90 reagiert und im Aktionsplan von1997 seine Prioritäten neu definiert. Die Bundesregie-rung hat die Öffnung des Europarates für neue Mitglie-der von Anfang an ebenso unterstützt wie den Ausbauseiner Beratungsfunktion für die neuen Demokratien.Momentan gehören der Wiederaufbau im Kosovound die Förderung der Stabilität in Südosteuropa zuden wichtigsten aktuellen Aufgabenfeldern, die eineMitwirkung des Europarates erfordern. Im Kosovo trägtder Europarat gemeinsam mit der OSZE zum Aufbauvon Verwaltung und Justiz bei.Ebenso bedeutsam ist der Beitrag des Europarateszum Stabilitätspakt für Südosteuropa. Am 7. Mai 1999verabschiedete das Ministerkomitee des Europarates einStabilitätsprogramm für die Region, das eine Vielzahlvon Aktionslinien zur Aufdeckung von Menschen-rechtsverletzungen, zum Aufbau demokratischer undrechtsstaatlicher Strukturen auf allen Ebenen sowie inden Bereichen Kultur und Erziehung enthält.Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich muß sichauch der Europarat in seiner Funktionsweise an die ge-änderten Bedingungen anpassen. Aus den 23 Mitglie-Klaus Bühler
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5203
(C)
(D)
dern Ende der achtziger Jahre sind inzwischen 41 ge-worden. Dementsprechend bedarf die Arbeitsweise desSekretariats einer Reform.Der im Vorjahr erarbeitete Bericht der Weisen isthierfür eine geeignete Grundlage. Begrenzte finanzielleMittel machen bei der Vielzahl der Aufgabenbereicheeine Prioritätensetzung notwendig. Wir sollten realisti-scherweise nicht davon ausgehen, daß das Budget desEuroparates in nächster Zeit deutlich angehoben wird.Den neuen Generalsekretär Walter Schwimmer ermuti-gen wir, die ins Auge gefaßte Verschlankung und Neu-organisation des Sekretariats zügig durchzuführen.Dabei möchte ich den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnendes Sekretariats hinsichtlich Einsatz, Kenntnis und In-itiative den gebührenden Respekt zollen.
Auch die Umstellungsprobleme des EuropäischenMenschenrechtsgerichtshofes und die Forderung nachmehr finanziellen Mitteln und Personal für ihn sind unsbekannt. Die Bundesregierung wird sich berechtigtenMehranforderungen nicht versagen, sich zugleich aberauch für die Verbesserung der Arbeitsweise und fürnotwendige Strukturreformen einsetzen.Neben den Strukturen des Europarates selbst sollteauch die Zusammenarbeit mit anderen Organisatio-nen verbessert werden. Die Erfahrungen mit Bosnienund dem Kosovo haben uns gezeigt, daß internationaleKrisen nur in enger Zusammenarbeit internationaler Or-ganisationen beigelegt werden können.
Eine Intensivierung der Kooperation zwischen demEuroparat und der Europäischen Union und der OSZEwird daher in dem vorliegenden Antrag völlig zu Rechtgefordert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, 50 Jahre Europarat– wie geht es weiter? Natürlich steht der Europarat alsgesamteuropäische Organisation allen Staaten Europasoffen. Diese Öffnung kann allerdings kein Selbstzwecksein. Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlich-keit sind das Fundament für ein friedliches Zusammen-leben. Allen Staaten Europas, ob Beitritts- oder Mit-gliedstaaten, muß klar sein, daß diese von ihnen einge-gangenen Verpflichtungen auch eingehalten werdenmüssen. Insofern ist das Monitoring, das vom Minister-komitee, von der Parlamentarischen Versammlung unddem Kongreß der Gemeinden und Regionen Europasdurchgeführt wird, hilfreich und nützlich.Mit dem Amt des Menschenrechtskommissars wur-de zudem ein neues Instrument geschaffen, die Umset-zung der Verpflichtungen in diesem Bereich zu verfol-gen. Wir werden aufmerksam beobachten, inwieweit dieBeitrittskandidaten auf die von Ministerkomitee undParlamentarischer Versammlung vorgelegten Vorgabeneingehen.Der Europarat hat auch im 21. Jahrhundert eine klarePerspektive: Zum einen nimmt die Durchsetzung undÜberwachung der insgesamt 173 Konventionen bei stei-gender Mitgliederzahl zunehmend Kräfte der Organisa-tion in Anspruch. Das sollte ihn aber nicht davon abhal-ten, sich neuer Bereiche wie der Biogenetik und derneuen Informationstechnologien anzunehmen. Geradedort ist es nötig, auf europäischer Ebene zu einer Nor-mensetzung und einem klaren Rechtsrahmen zu kom-men.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, seine Grund-aufgaben sind nach wie vor auch heute aktuell: DerSchutz der Menschenrechte, die Konsolidierung undFörderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, dieBekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,der Kampf gegen organisierte Kriminalität und Korrup-tion, die Pflege der europäischen Kultur als Teil unsererIdentität und die Erziehung zum verantwortlichen Bür-ger – in all dem sind wir zwar weit vorangekommen,dürfen aber nicht stehenbleiben.Für diese Aufgabe wünsche ich dem Europarat auchfür die nächsten 50 Jahre viel Erfolg. Die Bundesregie-rung wird sich aktiv dafür einsetzen, die Rolle des Euro-parates zu stärken.Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Ulrich Irmer, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine ver-ehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich amAnfang eine kritische Bemerkung machen. Ich halte dieArt, wie wir hier das Jubiläum 50 Jahre Europarat bege-hen, nicht für ganz angemessen.
Es hätte andere Möglichkeiten gegeben.Ich begrüße es sehr, daß hochrangige Vertreter ausStraßburg hier bei uns auf der Tribüne sitzen. Es wäreaber möglich gewesen, daß der Präsident der Parlamen-tarischen Versammlung Lord Russell Johnston heutenach Berlin gekommen wäre und hier zu uns gesprochenhätte. Das hätte nur einer Änderung bedurft, daß wireine Feierstunde von 30 Minuten Dauer eingerichtethätten. Dann hätte unser Präsident sprechen können,Lord Russell hätte sprechen können, und wir hätten die-ser Gedenkstunde ein internationales und europäischesFlair geben können. Das war aus einer gewissen Beam-ten- oder Geschäftsordnungsmentalität hier leider nichtdurchzusetzen.
Staatsminister Dr. Ludger Volmer
Metadaten/Kopzeile:
5204 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Ebenso will ich bei dieser Gelegenheit erneut monie-ren, daß bei Durchsicht des Kalenders für das Jahr 2000wiederum auffällt, daß der Deutsche Bundestag seinePlenarsitzungen just so gelegt hat, daß jedesmal Über-schneidungen mit den Plenarsitzungen der Parlamenta-rischen Versammlung in Straßburg bestehen. Das be-deutet, daß unsere Delegation, die von Ihnen allen hiernach Straßburg geschickt worden ist, ihre Arbeit dortnur unzulänglich erledigen kann, weil wir ja hier in Ber-lin während der Plenarwochen auch Aufgaben und Ver-pflichtungen haben, wie jeder weiß.Ich habe den Eindruck, daß diese Terminierung be-wußt so gehandhabt worden ist. Ich sage das hier, weildas ein Monitum ist. Wir beanstanden das seit vielenJahren, und es hat nie etwas genützt.
Nach diesen bösen Bemerkungen will ich das auchnoch unterfüttern. Es besteht nämlich die Gefahr, meinelieben Kollegen, daß die Kollegen aus den anderen Län-dern langsam so ein wenig den Eindruck entwickeln, dieDeutschen haben ihr Schäfchen ins trockene gebracht,sie haben ihre deutsche Einheit, und jetzt können siesich abwenden, jetzt sind sie gar nicht mehr so gefordert,jetzt brauchen sie den internationalen Dingen nicht mehrdie gleiche Aufmerksamkeit zuzuwenden.Meine Damen und Herren, diese Gefahr ist gegeben.
Die Kollegen, die mit mir im Europarat sind, werdendas bestätigen. Wir sitzen jetzt hier in einem großartigenhauptstädtischen Ambiente, aber wir laufen Gefahr, daßwir inhaltlich zur Dackelprovinz verkommen, wie dasmein Freund Rainer Stinner zu nennen pflegt.Meine Damen und Herren, passen wir auf: Wir müs-sen der internationalen Verantwortung, in der wir ste-hen, gerecht werden. Die Kollegen Berendt und Bühler,die hier gesprochen haben, haben vollkommen recht. Siehaben alles richtig gesagt; ich kann das nur unterstrei-chen. Deshalb will ich jetzt nur noch einen zusätzlichenAspekt hinzufügen. Der Europarat ist, wenn Sie so wol-len, ein Zwischenhafen für all die Länder, die sich heutefür die Mitgliedschaft in der Europäischen Union – dawollen sie alle hin – noch nicht qualifizieren. Insofernist der Europarat von eminenter Bedeutung für das Zu-sammengehörigkeitsgefühl. Die Menschen wollennicht nur wegen der wirtschaftlichen Vorteile in dieEuropäische Union. Es gibt ja auch wirtschaftlicheSchwierigkeiten. Vielmehr wollen sie hauptsächlich indie Europäische Union bzw. nach Europa, weil sie nach50 Jahren brutaler gewaltsamer Trennung wieder dasGefühl haben wollen: Wir gehören dazu, wir sind einTeil dieses Europas.
Wir, die wir das Glück hatten, auf der „richtigen“Seite, auf der Sonnenseite des Kontinents unsere eigenepolitische Sozialisation zu erleben, haben die Aufgabe,den anderen dabei zu helfen. Dabei sollten wir nie ver-gessen: Wir reden viel über Sicherheitspolitik, überVerteidigung – über Wirtschaftspolitik sowieso. AberEuropa besteht nicht nur aus Divisionen und Dividen-den, sondern der Begriff Europa reicht weit über dashinaus.
Das ist es, was ich als die kulturelle Identität bezeich-nen möchte, die wir erst langsam wiedergewinnen müs-sen.Was war Europa denn früher, im Mittelalter oder im19. Jahrhundert? Es gab keine Grenzen. Man hat sichgegenseitig befruchtet. Man hat die Ideen, die in anderenLändern und Facetten der europäischen Kultur entwik-kelt wurden, aufgenommen und weiterverarbeitet. Manhatte vor anderen keine Angst. Man hatte keine Angstvor Überfremdung.Ich habe heute übrigens Angst vor Überfremdungdurch künstlich herbeigeführte, in der Werbung propa-gierte Anglizismen. Dem Verein zur Wahrung der deut-schen Sprache in Dortmund zolle ich Respekt. Er leistetGroßartiges. Ich finde es gut, daß man für den Miß-brauch der deutschen Sprache eine „Zitrone“ verleiht.Abgesehen davon habe ich keine Angst vor Über-fremdung. Ich bin froh, wenn ich im Europarat mit denKollegen zusammentreffe, die einen anderen gesell-schaftlichen und kulturellen Hintergrund haben und vondenen ich etwas lernen kann.Das klassische Beispiel für das, was einmal war, wasvon den Nazis brutal zerstört wurde und was wir eigent-lich wieder aufbauen sollten, war die Stadt Prag – ichnenne sie hier nur symbolisch – mit ihren drei Kulturen,nämlich der tschechischen, der deutschen und der jüdi-schen Kultur. Dies haben die Nazis brutal zerschlagen.Das alte geistige Prag, das zum Beispiel Schriftstellerwie Kafka und Musiker wie Dvorak und Smetana – ichmöchte nur einige Namen nennen – hervorgebracht hat,das ein Zentrum der deutschen, der tschechischen undder jüdischen Kultur gewesen ist und das eine Einheitbildete, innerhalb derer man sich gegenseitig befruchtethat, ist für mich nach wie vor das Sinnbild dessen, wasich mir unter dem neuen Europa vorstelle.
Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade derEuroparat ist das Gremium, in dem wir für die Verwirk-lichung dieser Ziele arbeiten können. Es geht um sehrhandfeste Fragen und große Probleme. Es geht zum Bei-spiel darum, daß manche der neu hinzugenommenenMitgliedstaaten die Verpflichtungen, die sie übernom-men haben, nicht sorgfältig genug erfüllen. Dafür habenwir ein Überwachungsverfahren eingeführt, dessenDurchführung wir sehr ernsthaft betreiben müssen.Aber wir treten den anderen nicht lediglich mit demerhobenen Zeigefinger als Lehrmeister entgegen, son-dern wir erinnern ebenfalls daran: Auch wir mußten erstlernen. Als wir nach dem zweiten Weltkrieg aus einemverbrecherischen Staat herauskamen, haben uns die Sie-Ulrich Irmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5205
(C)
(D)
ger, vor allem die Amerikaner, die Demokratie ja Gottsei Dank aufoktroyiert. Die haben wir nicht erfunden.Vielmehr ist sie uns sozusagen als Geschenk überreichtworden.In den neuen Demokratien ist all dies nicht der Fall.Wir können uns bemühen zu helfen. Aber wir könnenkeinerlei Zwang ausüben. Das wollen wir auch garnicht. Aber wir sollten Beispiele setzen. Deshalb ist dergesittete, stilvolle demokratische Umgang unterschiedli-cher politischer Richtungen bzw. Parteien miteinanderein ganz hohes Gut. Wir müssen vorführen, daß wir denPluralismus ernst nehmen und dadurch – vielleichtdurch unser Beispiel – zeigen können, was in Zukunft inEuropa werden sollte und werden kann. Ich glaube, dannübergeben wir unseren Nachfolgern für die nächsten50 Jahre ein Erbe, dessen Pflege sich lohnt.Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege
Manfred Müller, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Europarat vor50 Jahren ins Leben gerufen wurde, waren die Erinne-rungen an den mörderischen Krieg und die Schreckens-herrschaft der deutschen Besatzung noch frisch. DerEuroparat sollte nicht nur die Wunden des Krieges hei-len helfen und die Annährung zwischen den europäi-schen Nationen fördern. Er sollte auch in den europäi-schen Ländern selbst die Bedingungen für ein friedlichesMiteinander auf dem alten Kontinent schaffen. Pluralis-mus, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltunggrundlegender Menschenrechte waren und sind derKern, aus dem sich so etwas wie eine gemeinsame euro-päische Identität entwickeln kann.Es waren und sind diese Werte, von denen sich derEuroparat bei der Verabschiedung seiner mittlerweileüber 170 Konventionen leiten ließ und leiten läßt. DerEuroparat hat damit europäische Rechtsgeschichte ge-schrieben. Er hat aber auch grundlegende Weichenstel-lungen im Bereich der sozialen Menschenrechte ermög-licht.Der Europarat war 40 Jahre lang ein Westeuroparat –nicht weil er das sein wollte, sondern weil seine wesent-lichen politischen Werte im Osten Europas oftmals aufdem Index standen. Doch auch im Westen Europas gabes bei der Umsetzung von sozialen Menschenrechtenkeinen Automatismus. Soziale Gerechtigkeit und dieGleichberechtigung der Geschlechter – um nur zweiBeispiele zu nennen – mußten in oft harten politischenAuseinandersetzungen erkämpft werden. Dieser Kampf– das wissen wir – ist noch längst nicht ausgestanden.Nach wie vor stehen soziale Gerechtigkeit und Gleich-berechtigung auch bei uns allzuoft nur auf dem Papier.Der Europarat hingegen hat in seinen Konventionenkeinen Zweifel gelassen, daß soziale Menschenrechteund Freiheitsrechte zwei Seiten ein und derselben Me-daille sind, ohne die eine menschliche Gesellschaft nichtaufzubauen ist.Es gehört zu den Verdiensten des Europarats, sich so-fort nach der historischen Wende von 1989 nach Ostengeöffnet zu haben. Der Europarat hat damit zusammenmit dem KSZE-Prozeß einen unschätzbaren Beitrag fürdie Einheit unseres Kontinents geleistet. Diese Öffnungnämlich war vor allem ein Signal an die jungen Demo-kratien in Mittel- und Osteuropa, ein Integrationssignal,das zu einem Zeitpunkt erging, da den mittelosteuropäi-schen Staaten viele andere europäische Türen noch ver-schlossen waren.
Der Europarat hat diese Öffnung in einigen Fällenvollzogen, obwohl die Voraussetzungen für eine Mit-gliedschaft noch nicht gänzlich gegeben waren. So rich-tig das damals war, so energisch muß der Rat heute aufdie vollständige und verläßliche Anwendung der vonihm gesetzten Prinzipien in allen seinen Mitgliedslän-dern drängen. Gleichzeitig muß der Europarat weitausintensiver als bisher mit anderen europäischen Institu-tionen zusammenarbeiten. Dies gilt vor allem für dieOSZE, hier insbesondere im Bereich der Krisenpräven-tion, beim Schutz nationaler Minderheiten und beimAufbau demokratischer Institutionen.Wenn heute russische Kampfflieger zivile Ziele inTschetschenien bombardieren, dann ist es richtig, wennder Europarat seine Stimme laut erhebt
und die russische Führung deutlich daran erinnert, daßman Terror nicht mit staatlich sanktionierten Terroran-griffen auf Unschuldige beantworten kann.Von allen Rednerinnen und Rednern ist hier schongesagt worden, daß die Macht des Europarats klar be-grenzt ist. Er ist nicht dazu geschaffen, das Kind ausdem Brunnen zu holen. Seine Aufgabe ist es, verhindernzu helfen, daß es hineinfällt. Konkret heißt dies: Nurüber ein verbessertes Monitoring-Verfahren wird derEuroparat seinen Beitrag zur Krisenprävention in Euro-pa leisten können. Nur wenn der Europarat als Früh-warnsystem in Sachen Demokratiedefizit, Rechtsbruchund Menschenrechtsverletzung fungiert, kann er dazubeitragen, Ursachen von Krisen zu erkennen, bevor siezu gewaltsamen Konflikten eskalieren.In Jugoslawien ist das nicht geschehen – nicht etwaweil der Europarat versagt hat, sondern weil internatio-nales Recht gebrochen worden ist. Das gleiche gilt fürden russischen Feldzug in Tschetschenien und Dagestan,ebenso für das Vorgehen der türkischen Regierung ge-gen die kurdische Bevölkerung,
von der skandalösen Behandlung politischer Gefangenerin türkischen Gefängnissen ganz zu schweigen.So entschieden der Europarat bei Menschenrechts-verletzungen reagieren muß, so dialogbereit muß er inUlrich Irmer
Metadaten/Kopzeile:
5206 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
jedem Stadium bleiben. Diese Balance zu halten ist imEinzelfall oft schwierig. Doch genau darin liegt dieStärke des Europarats. Er beharrt auf seinen Grundsät-zen und sucht bei allen Unterschieden gleichzeitig dasGemeinsame.Leider ist mindestens eine Fraktion in diesem Bun-destag von dieser politischen Kultur ziemlich weit ent-fernt. Sonst wäre der vorliegende Antrag zum 50. Jah-restag des Europarates ein gemeinsamer Antrag allerFraktionen. Ich habe bei der Abfassung dieses Antragsan die Bundesregierung mitgewirkt; ich habe ihn unter-zeichnet. Gleichwohl findet sich unsere Fraktion nichtunter den Antragstellern. Das ist für uns aber keinGrund, den Antrag abzulehnen. Wir unterstützen ihn undhoffen, daß dieses kleinkarierte Miteinander-Umgehenendlich ein Ende haben wird.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Rudolf Bindig, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Es ist bereits mehrmals be-tont worden: Im Zentrum des Europarates stehen dieMenschenrechte, genaugenommen – so heißt es im ent-sprechenden Text – die Achtung und der Schutz derMenschenrechte und Grundfreiheiten. Um diese Prinzi-pien und Standards herum ist ein System von Konven-tionen und Institutionen entstanden. Bei den Konven-tionen sind es neben der Europäischen Menschenrechts-konvention vor allem das Europäische Übereinkommenzur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder er-niedrigender Behandlung oder Strafe, die EuropäischeSozialcharta und die Europaratsregelungen zum Schutznationaler Minderheiten. Da es beim Schutz nationalerMinderheiten über Jahre hinweg nicht gelungen war,Prinzipien und Standards festzulegen, halte ich die Er-folge, die in den letzten Jahren auf diesem Gebiet im Eu-roparat erzielt worden sind, für eine wichtige Errungen-schaft.
Für die Implementierung der im jeweiligen Abkom-men niedergelegten Rechte und Prinzipien sind eineReihe von Institutionen und Gremien geschaffen wor-den. Eigentlich gibt es für jedes dieser Abkommen einVertragsgremium. Es hat unterschiedliche Rechte,manchmal nur beratende Rechte. Manchmal ist es einAusschuß, der Staatenberichte entgegenzunehmen hat.Im Zentrum aller Institutionen jedoch stehen der Euro-päische Gerichtshof für Menschenrechte sowie dasAmt des Beauftragten des Europarates für Men-schenrechte, das zum 1. Januar 2000 mit der Arbeit be-ginnen wird.Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ist so,wie er jetzt konzipiert worden ist, ein ganz großer Fort-schritt. Mit dem 11. Zusatzprotokoll ist ein Durchbruchim Völkerrecht erzielt worden. Die Strukturreform, vonder vorhin gesprochen worden ist, hat meiner Meinungnach schon stattgefunden; denn jetzt gibt es einen ein-heitlichen Menschenrechtsgerichtshof mit hauptamtli-chen Richtern. Noch nicht alle haben richtig erkannt,welche Dimension das hat: Von Island bis nach Malta,von Portugal – genaugenommen: von Madeira – bisnach Wladiwostok reicht die Zuständigkeit dieses Ge-richtshofes. Jetzt kommt es darauf an, daß er auch ge-nutzt wird und daß nach Ausschöpfung des innerstaatli-chen Rechtsweges Fälle dort anhängig werden.
Richtig wirken wird er erst, wenn die ersten Fälle ausDagestan, aus Inguschetien, aus Wladiwostok und ausKamtschatka vor diesem Gerichtshof verhandelt werden,damit die vorhandenen normativen Prinzipien und Stan-dards wirklich zum Tragen kommen. 800 MillionenMenschen haben die Möglichkeit, sich an diesen Ge-richtshof zu wenden.Was die Durchsetzung der Rechte angeht, möchte ichdas schon mehrmals erwähnte Monitorverfahren nen-nen. Bei der Aufnahme der neuen Mitgliedsländer in denEuroparat hat man zunächst einmal das Rechts- und dasRegierungssystem durch herausragende Juristen sehrsorgfältig analysiert. Man hat Defizite festgestellt undBerichterstatter ernannt. Im Dialog mit den Ländern istdann ein Teil der Lücken geschlossen worden. Danachwurden die Länder aufgenommen und haben eine Reihevon Verpflichtungen übernommen. Die Einhaltung die-ser Verpflichtungen jetzt auch wirklich zu überwachensind mühselige, zähe Arbeitsschritte. Aber ich muß sa-gen: Ich hatte die Ehre, die Aufnahme und das Monitor-Verfahren für zwei Länder mit zu begleiten, für Estlandund jetzt für die Russische Föderation. Ich bin immerwieder erstaunt und auch erfreut, wie es mit der Au-torität des Europarats im Rücken gelingt, daß mansich einzelne Gesetze vornimmt und darüber berät unddaß in Fachgesprächen versucht wird, eine Lösung zufinden. In dieser konstruktiven Weise wird versucht, dasjeweilige Gesetz an die Prinzipien und Standards derDemokratien anzupassen. Das ist ein sehr wichtigerVorgang.
Eine Frage, die oft diskutiert wird, ist: Wie steht esum den Europarat, und wie steht es um das, was früherdie Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa war und jetzt Organisation für Sicherheit undZusammenarbeit in Europa genannt wird? An demWechsel der Begrifflichkeit kann man ersehen, daß sichdort bereits Organisationsstrukturen herausgebildet ha-ben. Ich glaube, daß beide Institutionen wichtige Doku-mente vorgelegt haben. Gerade die KSZE hat mit denKopenhagener Dokumenten wichtige Bezugspunkte ge-setzt. Nur, es liegt eben ein Unterschied darin, ob manein Programm mit politischen Prinzipien und Vertrags-erwartungen formuliert oder ob es sich um Regelungenwie die des Europarates handelt, in denen versucht wird,die Prinzipien und Standards in justitiabler Form zu fas-Manfred Müller
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5207
(C)
(D)
sen und umzusetzen. Ich sehe mit Bedauern, daß dieserProzeß, die Prinzipien verbindlicher, rechtsförmiger undüberprüfbar zu machen, nicht überall genug geschätztwird. Man erkennt nicht überall, daß der Europarat hiereine Schlüsselrolle hat und sie auch behalten muß, wenndie Prinzipien umgesetzt werden sollen.
Ich habe einmal einen klugen Vortrag einer schweizerKennerin des europäischen Menschenrechtssystems ge-hört. Sie hat gesagt: Bei der OSZE steht die Politik letzt-lich über den Prinzipien, während beim Europarat diePrinzipien über der Politik stehen, weil sich die Politikformal an die Rechte, die in den Konventionen enthaltensind, bindet. Das ist natürlich sehr wichtig. Denn manwill ja nicht ein Programm, sondern einen verbindlichenStandard erreichen, an den sich die Länder zu halten ha-ben und von dem sie nicht abweichen dürfen.Ich will ein weiteres Problemfeld nennen, das in derDiskussion ist. Auf der einen Seite gibt es die Europäi-sche Menschenrechtskonvention, auf der anderen Seitegibt es die Debatte über die Charta der Grundrechteder Europäischen Union. Wir müssen auf jeden Fallvermeiden, daß es hier zu einem Auseinanderdriften derkodifizierten Menschenrechte und der Grundfreiheitenkommt. Vielmehr muß das Ganze integriert geschehen.Die Europäische Menschenrechtskonvention ist durchdie Rechtsprechung der Konventionsorgane zu einergemeinsamen europäischen „bill of rights“ geworden.Die in der MRK einschließlich ihrer Protokolle gewähr-leisteten Rechte sollten deshalb meiner Meinung nachvollständig und unverändert in das Gemeinschaftsrechtder Union übernommen werden, um dieses Auseinan-derdriften zu verhindern.
Durch Beitritt der EU zur EMRK wäre das möglich. DieGrundrechtscharta könnte die Europäische Menschen-rechtskonvention durch zusätzliche Bestimmungenvielleicht spezifizieren und ergänzen. Dies gilt insbe-sondere für den Bereich der sozialen Grundrechte undfür die Aufnahme von Rechten, die den Umweltschutzund die Auswirkungen der sich rapide entwickelndenBiotechnologie auf die Integrität und Selbstbestimmungdes einzelnen betreffen. Das wäre eine Möglichkeit, dasmiteinander zu verzahnen. Aber der Kern muß der hoheStandard sein, und es darf nicht zu einer Aufweichungkommen. Es ist ganz wichtig, den hohen Schutzstandardzu erhalten.
Wenn wir in den verschiedenen Ländern die Gremiendes Europarates, die entstanden sind, insbesondere denEuropäischen Gerichtshof für Menschenrechte, loben– in vielen nationalen Parlamenten wird das getan –,dann müssen wir berücksichtigen, daß dieses Systemdoch mit zwei Punkten steht oder fällt. Der eine Punktist, daß alle Länder die Urteile, die gefällt werden, ak-zeptieren und umsetzen. Das geschieht bisher, auchwenn es bei einzelnen Ländern immer mal Probleme ge-geben hat. Aber letztlich akzeptieren sie die Rechtspre-chung und setzen sie um.Der zweite Punkt ist: Wir müssen diese Gremien auchausreichend mit Mitteln ausstatten. Ich sage das so deut-lich, auch wenn ich weiß, daß das ein Problem ist.
Es hat keinen Sinn, solch wichtige Einrichtungen zuschaffen und sie dann an ganz kurzer finanzieller Leinezu halten, so daß sie kaum arbeiten können. Wenn maneinmal begriffen hat, daß das auch Prävention sein kann,und man die Ausgaben für Prävention in ein Verhältniszu den Ausgaben setzt, die man hat, wenn sich ein ent-standener Konflikt in großem Umfange entwickelt –dann sind die Kosten um eine Zehnerpotenz höher.
Dann weiß man: Wir müssen trotz aller Schwierigkeitenüber eine ausreichende Mittelausstattung nachdenken.Das ist eine Aufgabe, die der Bundestag hat, die alle na-tionalen Parlamente haben, wenn sie diesen wichtigenMechanismus erhalten, stärken und ausbauen wollen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Benno Zierer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Mai dieses Jahreskonnte der Europarat seinen 50. Geburtstag begehen. Eswar ein Jubiläum ohne Pauken, ohne Paraden – fast einbißchen zu still. Der Kollege Irmer hat dankenswerter-weise bereits darauf hingewiesen. Wer die Leute auf derStraße oder den einen oder anderen Politiker fragt, wassie über den Europarat wissen, bekommt in der Regelnoch immer enttäuschende Antworten. Und so war ebenauch das Jubiläum kein Medienereignis.Als der Europarat nach der Katastrophe des letztengroßen Krieges gegründet wurde, stand die Sehnsuchtnach Freiheit und garantierten Menschenrechten Pate.Von daher hat sich die starke Wertebezogenheit des Eu-roparates bis heute erhalten. Die Aufnahme einer Reiheehemaliger Ostblockstaaten hat dies deutlich gemacht.Dem Europarat ist hauptsächlich daran gelegen, in die-sen Ländern die Entwicklung zu stabilen rechtsstaatli-chen Demokratien zu fördern.Ein „Leuchtturm der Freiheit und der Menschen-rechte“ sollte der Europarat werden, so lautete von An-fang an pathetisch die Grundintention des Zusammen-schlusses der damals zehn Länder – ein gewaltiger An-spruch, wenn man bedenkt, daß sich dieses Europa zweiRudolf Bindig
Metadaten/Kopzeile:
5208 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Jahrtausende lang im Kampf um Kronen und Reiche, umGrenzen und Glauben bis an den Rand der Selbstzerflei-schung befehdet hatte. Die europäischen Mitgliedstaatenerkannten damals, daß sie auf lange Sicht nur diese eineWahl hatten, nämlich entweder die nationalen Gegensät-ze zu überwinden oder im nächsten Waffengang, derdann unausweichlich kommen würde, unterzugehen.Und noch ein Leitbild wurde für den Europarat vonAnfang an verbindlich: Es ist die starke Einbeziehungder Kommunen in das europäische Einigungswerk.Damit nimmt der Rat ein Anliegen vorweg, das sichheute, 50 Jahre später, als von zentraler Bedeutung fürden weiteren Gang der Entwicklung erweist: die Veran-kerung der europäischen Idee im Bewußtsein seinerBürgerinnen und Bürger. Denn wenn wir es nicht schaf-fen, eine europäische Bürgerschaft zu begründen, wirddie Einheit Europas auf Jahrzehnte hinaus Stückwerkbleiben.
Ein zentrales Anliegen des Europarates ist es daher,die Beteiligung der Kommunen am Prozeß des Kennen-lernens und des Zusammenfindens der Menschen in Eu-ropa zu fördern. Man kann nur den akzeptieren oder garmögen, den man kennt. Dementsprechend müssen sichdie Menschen Europas erst einmal kennenlernen, bevorsie sich sympathisch finden und ein Zusammengehörig-keitsgefühl entwickeln können. Wo könnte das Sich-gegenseitig-Kennenlernen besser stattfinden als in denKommunen?So hat sich auf der Ebene der Städte, der Gemeindenund der Landkreise im Laufe der Zeit ein reger Aus-tausch von Besuchergruppen entwickelt. Die zahlreichenPartnerschaften zwischen den Kommunen Europassind zu einem überaus aktiven und vitalen Forum derBegegnung geworden. Es gibt kaum eine größere Stadtin Deutschland, die nicht eine oder mehrere Partner-städte im europäischen Ausland hat, kaum eine Gemein-de, die nicht selbst oder über den Landkreis, dem sie an-gehört, ihre Fühler ins Ausland ausstreckt und Kontakteherstellt, die allmählich zu einem integralen Bestandteildes öffentlichen Lebens werden.Der Europarat erachtet es als eine seiner wichtigstenAufgaben, diesen Austausch zu fördern. Gerade für Ju-gendliche ist es besonders bedeutsam und fruchtbar, daßsie, etwa im Rahmen des Schüleraustauschs oder durchSchulfahrten, ihre europäischen Nachbarn kennenlernen.
Die Kommunen leisten bei dieser Aufgabe einen un-schätzbaren und unersetzlichen Beitrag. Der Europarathat daher einen eigenen Ausschuß ins Leben gerufen,der diese Aktivitäten mit der Vergabe eines Europaprei-ses honorieren und einen Anreiz zur Fortsetzung desEngagements bieten will. Der Ausschuß, dem ich dieEhre habe vorzusitzen, vergibt einen Europapreis in ab-gestufter Form: als Ehrenplakette, als Europadiplom, alsEhrenfahne und als eigentlich großen Europapreis, alsPrix de l'Europe. Ich muß sagen: Es ist überaus erfreu-lich, zu beobachten, mit welcher Begeisterung vieleStädte und Gemeinden die Kontaktpflege zu ihren Part-nerstädten betreiben. Hier keimt etwas auf, was uns trotzvieler noch bestehender Defizite hoffnungsvoll stimmendarf. Ich bin gewiß, daß diese Kultur des Austauschs,die auf immer mehr Schultern ruht, der Integration vonunten einen erheblichen Impuls verleiht.Nicht ohne einen gewissen Stolz darf ich in diesemZusammenhang erwähnen, daß gerade mein HeimatlandBayern mit über 700 Partnerschaften die höchste Zahlim ganzen Bundesgebiet aufweist.
Ich sehe darin auch einen Beweis für die Aufgeschlos-senheit und Weltoffenheit der Bayern,
denen gelegentlich die Stämme nördlich der Main-Liniedas Gegenteil unterstellen.Dabei stehen Partnerschaften mit französischenKommunen an erster Stelle. Das ist ein schöner Belegdafür, daß die deutsch-französische Aussöhnung alsgelungen betrachtet werden kann und daß das franzö-sisch-deutsche Verhältnis trotz aller gelegentlichen Irri-tationen längst in die Dimension des Alltags hineinge-wachsen und damit unempfindlich gegen die jeweiligepolitische Wetterlage geworden ist. Wer sich an die böseVokabel vom „Erbfeind“ erinnert, mag ermessen, wel-che historische Wegstrecke wir bei allen Enttäuschun-gen und Verzögerungen schon zurückgelegt haben.
Besonders erfreulich ist bei diesen Kontakten, daß siekeineswegs nur eine Sache der Honoratioren ist, sondernvon den örtlichen Vereinen, Verbänden und Schulen mitechter Freude mitgetragen wird. Es ist mir daher eineangenehme Pflicht, mich von dieser Stelle aus bei allenMitbürgerinnen und Mitbürgern zu bedanken, die sichan diesen Begegnungen beteiligen. Ihr Anteil am großengeschichtlichen Prozeß der europäischen Integrationkann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Denn all jene, die im Geist der Freundschaft auf ihreNachbarn zugehen, bauen mit am Europa von morgen,das unseren Kindern und Kindeskindern dereinst erspa-ren soll, wofür unsere Vorfahren geblutet und gelittenhaben.50 Jahre Europarat heißt auch, einen Augenblick in-nezuhalten und auf die bereits gegangene Wegstreckezurückzublicken. Vieles wurde geschaffen, vieles liegtnoch vor uns. Europa – das ist die moderne ReichsideeBenno Zierer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5209
(C)
(D)
entkleidet aller aggressiven, imperialistischen und ideo-logischen Attribute. Was seit den letzten Tagen des Im-perium Romanum im europäischen Denken und Han-deln immer wieder auftauchte, was die Kaiser des Heili-gen Römischen Reiches Deutscher Nation beseelte, wardie Sehnsucht nach einem einheitlichen Europa – mitseiner jahrtausendealten Kultur und seinem geistigen In-halten, aber auch mit seinen Irrungen und seinem ganzenSchrecken.Heute eröffnet sich uns die Chance, einen uraltenMenschheitstraum in geläuterter Form zu verwirklichen.Dieser Traum begann erst dann konkrete Gestalt anzu-nehmen, als Europa bereits am Ende schien. Was an denSchützengräben und Bombenruinen des hoffentlichletzten großen Krieges in Europa begann, hat sich zueiner der faszinierendsten Visionen des 20. Jahrhundertsentwickelt. Doch wir wollen keinen neuen Leviathanschaffen, kein zentralistisches Gebilde, das von Büro-kraten regiert wird.Wir wollen auch keinen nihilistischen, werteindiffe-renten politischen Großverbund, der seine Legitimationnur aus Sachzwängen speist. Wir wollen ein buntes, wirwollen ein mannigfaltiges Europa im Geiste des Huma-nismus und des Christentums, voller lebendiger Tradi-tionen und eingedenk seiner eigenen reichen, aber auchleidvollen Geschichte.
Wenn der Europarat ein wenig dazu beitragen konnte, sohat er sich – in aller Bescheidenheit – vollauf bewährt.Ich bedanke mich.
Das Wort hat nundie Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Heute feiern wir – wieder einmal in diesemJahr – einen 50. Geburtstag. Wir tun dem Geburtstags-kind Europarat sicher keinen Gefallen, wenn ein solchesFeiern zu einem einmaligen diplomatischen Akt erstarrt.Dann wäre es eher eine Art Einbalsamierungsritual. Einwürdiges Begehen dieses Jubiläums ist die aktive undkontinuierliche Vergegenwärtigung der Bedeutung desEuroparats für den Schutz der Menschenrechte, für denWert und die Achtung der Grund- und Menschenrechtesowie für die Demokratisierung, und zwar nicht nur inMittel- und Osteuropa.Vergegenwärtigung heißt aber gerade heute, nicht dieAugen, die Ohren und den Mund vor dem zu verschlie-ßen, was ebenfalls Realität ist. Realität ist, daß seit Ta-gen die russische Luftwaffe die tschetschenischeHauptstadt Grosny bombardiert, Wohnviertel, Kran-kenhäuser und zivile Versorgungseinrichtungen zerstört.Hunderttausende von Menschen sind auf der Flucht, lei-den Kälte und Hunger an den gesperrten Grenzen zu In-guschetien und Dagestan. Nichts, aber auch gar nichtsrechtfertigt eine solche Aggression.
Sie ist eine eklatante Menschenrechtsverletzung, began-gen vom Europaratsmitglied Rußland. Die Reaktionendarauf sind merkwürdig verhalten, zu verhalten. Glaub-würdigkeit basiert darauf, Kritik zu üben, wo Kritiknotwendig ist, Druck auszuüben, wo Druck notwen-dig ist, Defizite einzugestehen, wo Defizite sind. Alsomuß es in Zukunft vor allem darum gehen, eine sehrviel strengere Kontrolle über die Implementierung derKonventionen des Europarats in seinen Mitglieds-ländern zu erreichen. Es muß auch darum gehen, dieSanktionierung bei Verletzung der Grundsätze zu ga-rantieren.
Der Europarat ist nicht 50 Jahre alt, sondern 50 Jahrejung. Er hat also noch sehr viel vor sich. Für viele mager als eine Art Klassentreffen oder als ein Kaffeekränz-chen der europäischen Staaten erscheinen. Der Europa-rat ist also eine Art Kaffee- und Kuchenritual, bei demsich Politiker und Politikerinnen aus den Staaten Euro-pas treffen und betuliche Reden halten, aus denen nichtsfolgt? Der Europarat wäre dann ein Gremium, das nichtviel nutzt, aber auch nicht viel schadet. Das Gegenteil –diejenigen, die hier sitzen, wissen das – ist richtig. DerEuroparat ist viel mehr. Er hat Schutzinstrumente ent-wickelt, allen voran die Europäische Menschenrechts-konvention und die Europäische Sozialcharta.Der Europarat hat ein Organ, das zu den ganz wichti-gen in Europa gehört, das Urteile spricht, die ganz undgar nicht unverbindlich sind, ein Organ, das für dierechtsstaatliche und menschenrechtliche Entwicklung inEuropa unverzichtbar ist – viele Kollegen haben esschon angesprochen –: Es ist der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte. Dieser Gerichtshof kann vonweit über 800 Millionen Einwohnern Europas angerufenwerden. Dieser Gerichtshof ist Anlaufstelle für die Men-schen in Europa. Dieser Gerichtshof ist ein Anker fürdie Hoffnungen der Europäerinnen und Europäer, undzwar der effektivste und kräftigste, den es momentangibt. Dieser Gerichtshof ist ein Zufluchtsort für dieSchwachen und die Minderheiten in Europa. Es zeigtsich, daß auch für die westeuropäischen Staaten, die sichauf ihre hohen Standards so viel zugute halten, eine sol-che Supervisionsinstanz wichtig ist. Dies wird fast jedeWoche bewiesen.Nehmen wir nur das letzte Urteil des EuropäischenGerichtshofs, durch das Homosexuellen der Zutritt zurbritischen Armee gewährt wurde. Ein solches Urteil wi-der staatliche Diskriminierung hat Bedeutung weit überGroßbritannien hinaus. Es ist ein Meilenstein auf demWeg, Schwulen und Lesben endlich gleiche Rechte zugarantieren. Dieses Urteil wird also auch Auswirkungenauf die Europaratsmitglieder Türkei, Griechenland,Portugal und Luxemburg haben, in denen Homosexuel-Benno Zierer
Metadaten/Kopzeile:
5210 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
len immer noch der Zugang zur Armee verboten ist. Einsolches Urteil muß auch Auswirkungen auf unsere deut-sche Auseinandersetzung um die Frage haben, ob diesexuelle Identität ein Qualifikationsmerkmal für Bun-deswehrangehörige sein kann. Ich meine: nein.
Der Europäische Gerichtshof hat sich mit einer Viel-zahl von Beschwerden über Menschenrechtsverletzun-gen in der Türkei beschäftigt und Urteile im Sinne derBetroffenen gefällt, zuletzt am 28. September diesesJahres. Dies waren keine antitürkischen Urteile; viel-mehr hat der Europäische Gerichtshof mit diesen Urtei-len aktiv dazu beigetragen, daß Demokratie und Rechts-staatlichkeit sowie der Schutz der Menschenrechte in derTürkei weiterentwickelt werden.Neben dem Europäischen Gerichtshof leistet das An-tifolterkomitee großartige Arbeit, weil es sensibilisiert,weil es den Finger auf die Wunde legt und weil esdeutlich macht, daß Menschenrechtsverletzungen nichtnur ganz weit weg, sondern auch bei uns in Deutsch-land passieren. Die Arbeit dieses Komitees hat dazubeigetragen, daß sich die türkische Regierung demProblem der Folter in Polizeihaft stellen muß. Es hatdazu beigetragen, daß sich auch Spanien dem Problemder Folter an politischen Gefangenen stellen muß. DieKritik an diesen Verhältnissen schadet nicht und ist auchnicht gefährlich, ganz im Gegenteil: Sie ist der ersteSchritt zur Überwindung von Menschenrechtsverletzun-gen.Wenn sich das Antifolterkomitee über das FrankfurterFlughafenverfahren oder über die Situation in den Ab-schiebehaftanstalten Bützow und Berlin-Grünau unter-richtet und es anschließend notwendige Kritik übt, dannmuß man feststellen, daß dies die allerbeste Unterstüt-zung für die Demokratie in unserem Land ist.
Die Diskussion über die angesprochenen Urteilemacht übrigens deutlich, daß das Argument, es gebekeine europäische Öffentlichkeit, nicht stimmt. Die Ur-teile des Europäischen Gerichtshofs werden in den Zei-tungen ganz Europas diskutiert. Dies ist ein wunderbaresBeispiel dafür, daß europäische Öffentlichkeit funktio-niert und daß ein Diskurs über Fragen des Menschen-rechtsschutzes stattfindet. Dies ist bemerkenswert undwichtig. Der Prozeß der europäischen Einigung lebtganz wesentlich von den Rechten, die den Menschengewährt werden, und nicht nur von der Wirtschaft, nichtnur von Handel und Wandel.Aus der verstärkten Inanspruchnahme des Europäi-schen Gerichtshofs für Menschenrechte ist nicht nur einWarnsignal für den Zustand der Menschenrechte he-rauszulesen, ganz im Gegenteil: Diese Entwicklungmacht auch deutlich, daß ein europäisches Rechtsbe-wußtsein geschaffen wird, das identitätsstiftend ist. Dieshaben einige Kollegen schon angesprochen. Ein solcherWert ist beispielsweise die Ächtung der Todesstrafe. Ichpersönlich wurde mir über die Bedeutung dieses Wertesklar und bewußt, als ich die Todeszellen von Arizonabesuchte.Aufgaben gibt es mehr als genug. Wir unterstützenaus vollem Herzen die Arbeit des neuen einheitlichenGerichtshofes und das Amt des Menschenrechtskom-missars.
Frau Kollegin, den-
ken Sie an Ihre Redezeit.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Zum Abschluß möchte ich nur noch eine
Bitte äußern.
Auch in Zeiten des Sparens – Rudolf Bindig hat es
schon angesprochen – reicht eine ideelle Unterstützung
alleine nicht aus. Falls noch über ein geeignetes Ge-
schenk zum 50. Geburtstag des Europarats nachgedacht
wird, sehr verehrter Herr Staatsminister, dann glaube
ich, wäre eine kräftige materielle Unterstützung sinnvoll
und das Allerbeste.
Danke schön.
Ich schließe dieAussprache zum Thema „50 Jahre Europarat: 50 Jahreeuropäischer Menschenrechtsschutz“. Wir drei hier obensind sehr beeindruckt von der Einmütigkeit bei diesemwichtigen Thema und dem gesamteuropäischen Enga-gement. Dafür möchte ich mich bei Ihnen sehr herzlichbedanken. Ich darf auch den Kolleginnen und Kollegen,die für uns im Europarat arbeiten, unsere herzliche An-erkennung aussprechen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlageauf Drucksache 14/1568 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sindSie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7a bis 7c auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNationale Armuts- und Reichtumsberichter-stattung– Drucksache 14/999 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5211
(C)
(D)
Regelmäßige Vorlage eines Berichts über dieEntwicklung von Armut und Reichtum in derBundesrepublik Deutschland– Drucksache 14/1069 –
Schnieber-Jastram, Wolfgang Meckelburg, Hans-Peter Repnik, Peter Weiß undder Fraktion der CDU/CSUBekämpfung der „verdeckten Armut“ inDeutschland– Drucksache 14/1213 –
Unsere zeitliche und inhaltliche Anforderung wird indiesem Antrag konkretisiert. Bevor ich auf Details ein-gehe, möchte ich kurz zurückblicken. Der Forderungnach einem Armuts- und Reichtumsbericht geht einelange Debatte voraus. Ein solcher Bericht ist 16 Jahrelang unter der Regierung Kohl verweigert worden. Diesist immer mit sehr fadenscheinigen Argumenten gesche-hen. Frau Rönsch hat stets davon gesprochen, in derBundesrepublik gebe es wegen des Sozialhilfegesetzeseigentlich keine armen Leute. Ich habe das nie verstan-den. Ich glaube, es ist an der Zeit für einen solchen Be-richt, damit die Voraussetzung für eine aktive Politikgegen Armut geschaffen wird.Ich habe noch heute morgen mit großem Erstaunenfestgestellt, daß Frau Kollegin Böhmer hinsichtlich derbedarfsorientierten Grundsicherung gesagt hat, es gebeangeblich nur 2 Prozent ältere Menschen, die ergänzen-de Sozialhilfe beantragen.
– Jetzt warten Sie doch einmal! Gerade dazu will ichein Wort sagen. – Ich habe die Äußerung von FrauBöhmer deswegen nicht verstanden, weil uns heute einAntrag Ihrer Fraktion zur Bekämpfung der verdecktenArmut vorliegt. Der Begriff „verdeckte Armut“ bein-haltet, daß es eine Vielzahl von Rentenempfängern gibt,die keine ergänzende Sozialhilfe beantragen. Dies zuermitteln, fordern Sie. Ihr Antrag macht nur Sinn, wennSie das Vorhandensein von verdeckter Armut unterstel-len. Das würde bedeuten, daß es weitaus mehr als 2 Pro-zent Rentenempfänger gibt, die ergänzende Sozialhilfebeantragen würden, wenn sie die Schamschwelle zurBeantragung überschreiten würden. Sie müssen sich alsoerst einmal darüber klarwerden, ob es 2 Prozent odermehr sind.Ich möchte noch etwas anderes zu Ihrem Antrag sa-gen. Sie wissen, daß das Bundesministerium für Familie,Senioren, Frauen und Jugend – nach meinem Kenntnis-stand – schon in Ihrer Regierungszeit mindestens zweiUntersuchungen zu diesem Thema durchgeführt hat. Ei-ne wurde Ende der 80er Jahre und eine Mitte der 90erJahre von einem wissenschaftlichen Institut durchge-führt. In diesen Untersuchungen wurde die Frage nachverdeckter Armut erörtert. Nach einer dieser Studienkämen rund 25 Prozent der über 60jährigen als Empfän-ger von ergänzender Sozialhilfe hinzu. Wenn all dieje-nigen, die einen Anspruch besitzen, ihren Anspruchauch geltend machen würden, dann würde das für dieGemeinden Kosten in Höhe einer Gesamtsumme vonrund 5 Milliarden DM bedeuten.Ich will damit nur sagen, daß das Thema, das Sie inIhrem Antrag ansprechen, hinlänglich bekannt und aus-reichend erforscht ist. Deshalb sollten Sie nicht mit ei-nem solchen Antrag, wie Sie ihn gestellt haben, vom ei-gentlichen Thema ablenken. Vielmehr müssen wir unsbemühen, uns endlich einmal Klarheit über Reichtumund Armut in dieser Republik zu verschaffen.
Bei einem Rückblick muß auch erwähnt werden, daßwir schon in einer Großen Anfrage, die am 28. Novem-ber 1995 beantwortet wurde, die Forderung aufgestellthatten, einen Armutsbericht vorzulegen. Wir haben inder vergangenen Legislaturperiode, zuletzt noch am4. Juni 1997, den Antrag gestellt, daß die Bundesregie-rung einen Armutsbericht vorlegen sollte. Das wird nun,wie schon gesagt, endlich geschehen. Ich hoffe, daß wirspätestens im Jahre 2001 diesen Bericht im Bundestagberaten können.Die Forderung nach einem Reichtums- und Armuts-bericht wird insbesondere von der katholischen undevangelischen Kirche vorgetragen. In ihrem gemeinsa-men Wort haben sie ausführlich dargelegt, daß es in die-ser Republik endlich an der Zeit wäre, solch einen Be-Vizepräsidentin Anke Fuchs
Metadaten/Kopzeile:
5212 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
richt zu erstellen. Weiterhin wird diese Forderung vonden Wohlfahrtsverbänden, von der Armutskonferenz,von Gewerkschaften und von Ländern und Kommunen,die ja teilweise schon solche Sozial- bzw. Armutsbe-richte vorgelegt haben, unterstützt.In unserem Antrag richten wir eine wichtige For-derung an die Bundesregierung: Wir wollen einegleichwertige Armuts- und Reichtumsberichterstattung,also beide sozialen Pole der Gesellschaft in einemsolchen Bericht nebeneinander erörtert und dargestelltsehen. Wir wollen nicht nur die Armut in unseremLand dargestellt haben, sondern auch, welch immensenReichtum es in der Bundesrepublik gibt. Wir wissenja alle, daß der Reichtum – so haben wir es auch in un-serem Antrag geschrieben – ein scheues Reh bzw. Wildist, was selbst mit dem Fernrohr schwer zu erfassenist. Die Reichen sagen nämlich nie, wie groß ihr Reich-tum ist.Es gibt auch kaum Statistiken darüber. Selbst dasStatistische Bundesamt in Wiesbaden hat keine ausrei-chenden Daten über den Reichtum in der Republik. Wirwissen allerdings, daß 5,1 bis 5,5 Billionen DM anGeldkapital in der Bundesrepublik vorhanden sind, alsodirekt verfügbares Geld, das entweder in Aktien oderSpargeldern angelegt ist. Außerdem wissen wir, daß 5Prozent der bundesrepublikanischen Bevölkerung einDrittel dieses Geldvermögens von 5,1 Billionen DM be-sitzen. Rund gerechnet sind also 2 Billionen DM in derHand von nur 5 Prozent der Bevölkerung. Die Pyramidesteht hier auf dem Kopf: Die breite Masse der Bevölke-rung hat von diesem Reichtum ganz wenig bzw. fastnichts, und sehr wenige verfügen über ein großes Kapi-talvermögen.Ich gebe aber zu, daß das alles nur Spekulationensind. Deshalb ist es an der Zeit, daß solch ein Bericht aufsolider wissenschaftlicher Grundlage erstellt wird.Der erste Teil des Berichts umfaßt ja nur eine bloßeDarstellung der Daten. Darüber hinaus wollen wir aberauch, daß Bewertungen vorgenommen werden. Vielwichtiger ist dann aber, daß aus diesem Bericht Konse-quenzen gezogen werden und sich die Politik daran aus-richtet, damit eine weitere Ausbreitung der Armut in derBundesrepublik verhindert wird.
Das wäre schon lange nötig gewesen.
– Sie können gerne mit uns streiten. Ich kenne ja IhreArgumentation. Sie werden wieder die alte Leier vortra-gen, die Sie uns seit einem Jahr, seitdem wir an der Re-gierung sind, vortragen. Interessanterweise reden Sie niedavon, daß sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger inden 16 Jahren, in denen Sie die Regierung stellten, fastverdreifacht hat. Sie reden nie davon, daß mittlerweileüber 1 Million Kinder von Sozialhilfe leben müssen. Siereden nie davon, daß viele Alleinerziehende in dieserRepublik an der Grenze zur Armut leben. All das hatIhre Sozialpolitik verursacht.
Dieses zu korrigieren, indem wir die Zahl der Sozial-hilfeempfänger reduzieren, alleinerziehenden Frauen mitKindern eine Chance zur emanzipierten Selbstentwick-lung in dieser Gesellschaft geben usw., dazu brauchtman schon länger als nur ein Jahr Regierungszeit. Wirkönnen den Schutt – ich meine das soziale Elend –, denSie in 16 Jahren angehäuft haben, nicht in einem Jahrwegräumen.
Politik ist wie ein Handwerk; für einen Teil jeden-falls: Kein Fliesenleger, kein Bauarbeiter kann einensolchen Gewaltakt bewältigen. Ein Handwerker weiß,wie schwierig es ist, etwas – zum Beispiel ein Haus –wieder aufzubauen, wenn es zerstört worden ist: Manbraucht dafür viel Zeit; man muß viele Schwierigkeitenüberwinden; man muß die Finanzlage beachten, wasnach dem, was Sie uns an Schulden hinterlassen haben,nicht so leicht ist.Wichtig ist nun, daß man Armut verhindert. Dazudient zum Teil die bedarfsorientierte Grundsiche-rung. Ich begrüße dies außerordentlich. Es ist ein Schrittin die richtige Richtung, es ist ein Anfang. Zu dieserbedarfsorientierten Grundsicherung müssen aber nochmehr Gruppen hinzukommen. Ich bin der Meinung,daß es nicht zulässig ist, daß die Sozialhilfe, die ja alspersönliche Hilfe für den Einzelfall gedacht war, eineMassenhilfe, zu der sie bei Ihnen verkommen ist, bleibt.Das muß man ändern. Hier muß man neue Wege be-schreiten.Das gilt auch für die Gesundheitspolitik. Wir allewissen, daß für viele Menschen aus gesundheitlichenGründen ein Armutsrisiko besteht. Das möchte ich nurals Stichwort nennen.Weiterhin will ich noch die Verschuldung anspre-chen, die ein großes Problem ist. Weil viele MenschenFehler in diesem Bereich gemacht haben und sich zuviel Schulden zugemutet haben, stürzen sie in die Armutoder werden in die Armut hineingedrängt.Mein letzter Punkt. Ein solcher Bericht muß meinerMeinung nach Konsequenzen haben. Wir werden dafürsorgen, daß für die Förderung der Selbsthilfe, daß sichMenschen also eigenständig aus ihrer sozialen Situationbefreien können und eine gesicherte Existenz gründenkönnen, gesetzgeberische Maßnahmen erfolgen. Wennuns das in den nächsten vier Jahren gelingt, dann habenwir etwas zum sozialen Frieden in dieser Republik bei-getragen. Sie hatten dazu 16 Jahre Zeit; diese 16 Jahrehaben Sie vergehen lassen. Wir werden versuchen, inden vier Jahren diesen Beitrag zu leisten. Sie können unsdann für diesen Beitrag applaudieren.
Konrad Gilges
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5213
(C)
(D)
Das Wort hat nun
der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Prä-
sidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen von Rotgrün! Nachdem Sie in der vergan-
genen Legislaturperiode einen Antrag gestellt haben,
einen Armuts- und Reichtumsbericht zu verfassen, ist es
sicherlich konsequent, daß Sie jetzt, wo Sie die Regie-
rungsmehrheit haben, einen solchen Antrag einbringen.
Deswegen beglückwünsche ich Sie zunächst einmal zu
der Konsequenz Ihres Handelns in dieser Sache.
Ich frage mich allerdings, ob Sie damit besonders
glücklich werden.
Herr Gilges, Ihnen möchte ich zunächst einmal sagen:
Die Mär, die Union und die frühere Bundesregierung
habe Armut geleugnet, stimmt natürlich nicht. Ich neh-
me an, daß Sie sich bei Ihren großartigen Großen Anfra-
gen zu dem Thema, die Sie formuliert haben, nicht nur
an Ihren Fragen ergötzt haben, sondern auch die Ant-
worten der Bundesregierung gelesen haben. Ich lese
Ihnen nun die Antwort der Bundesregierung von Helmut
Kohl zu Ihrer Großen Anfrage aus der letzten Legisla-
turperiode vor. Dort heißt es:
Die Sozialhilfe bekämpft Armut. Sie schafft sie
nicht. Wer die ihm zustehenden Leistungen der So-
zialhilfe in Anspruch nimmt, ist nicht mehr arm.
Das ist übrigens Auftrag des Bundessozialhilfegesetzes.
Es heißt dort:
Als arm können im Gegenteil Personen angesehen
werden, die Anspruch auf Sozialhilfe haben, diesen
Anspruch aber nicht geltend machen.
Damit sind wir bei dem Thema, zu dem meine Frak-
tion den Antrag eingebracht hat: einen Bericht über ver-
deckte Armut in Deutschland vorzulegen. Heute wer-
den bereits eine Fülle von Daten in Deutschland erhoben
und gesammelt: die Sozialhilfestatistik des Bundesamts
für Statistik; die Einkommens- und Verbrauchsstichpro-
ben; die durchaus aussagekräftigen und guten Sozialhil-
fedokumentationen von Landkreisen und Kommunen.
Deswegen stellt sich die Frage: Brauchen wir wirk-
lich noch mehr Papierberge und Datenfriedhöfe? Selbst
das Land Schleswig-Holstein mit einer SPD-geführten
Landesregierung, die im Auftrage des Landtages einen
Armutsbericht zu erstellen hatte, hat letztendlich nichts
anderes gemacht, als die Einkommens- und Verbrauchs-
stichprobe von 1993 auszuwerten und Klienten in Bera-
tungsstellen von Wohlfahrtsverbänden zu befragen. Die
Ergebnisse finden Sie zum Beispiel auch im Armutsbe-
richt des Deutschen Caritasverbandes in Hülle und Fülle
dokumentiert. Sprich: Nichts Neues durch den Armuts-
bericht in Schleswig-Holstein. Ich frage mich daher, was
der Armutsbericht der rotgrünen Bundesregierung Neues
bringen soll.
Auch den von Ihnen mit Wonne geführten Streit um
den Armutsbegriff werden Sie nicht lösen. Professor Ri-
chard Hauser, der als der führende Armutsforscher in
Deutschland gilt, schreibt zu Recht:
Armut meßbar zu machen ist eine schwierige Auf-
gabe, die im streng wissenschaftlichen Sinn nicht
zu lösen ist; denn letztlich stehen hinter jeder Inter-
pretation des Armutsbegriffs und hinter jedem dar-
auf beruhenden Meßverfahren Wertüberzeugungen,
über deren Richtigkeit im ethischen Sinn sich wis-
senschaftlich nicht abschließend urteilen läßt.
Aber es gibt eben eine Gruppe von Menschen, die
– Sie haben es bereits erwähnt – bislang in den vielen
bereits existierenden Berichten ausgeblendet oder als
nicht quantifizierbar behandelt wird. Es sind jene Mit-
bürgerinnen und Mitbürger, die trotz eines bestehenden
Rechtsanspruches auf Sozialhilfe ihre berechtigten An-
sprüche nicht einfordern. Bei jenen Menschen, die als
verdeckt Arme aus den verschiedensten Gründen – Un-
wissenheit, Angst vor Regreßforderungen an die Ange-
hörigen, Scham – ihre Ansprüche nicht einfordern und
wahrnehmen, besteht tatsächlich die Gefahr einer exi-
stentiellen Armut.
Die Nationale Armutskonferenz geht davon aus,
daß etwa 2 Millionen Menschen die ihnen zustehende
Unterstützung nicht beantragen. Besonders gravierend
ist, daß die sogenannte verdeckte Armut mit der Haus-
haltsgröße ansteigt und somit besonders Kinder darunter
zu leiden haben.
Einer der Sozialforscher, der schon Armutsberichte
geschrieben hat, Ulrich Neumann von dem Institut für
Sozialberichterstattung und Lebenslagenforschung in
Frankfurt, hat jüngst zu diesem Problem geschrieben:
Der Terminus verdeckte Armut ist darauf zurückzu-
führen, daß dieser Personenkreis in keiner offiziel-
len Statistik geführt wird und damit in der öffentli-
chen Wahrnehmung verdeckt bleibt. Zudem bleibt
dieser Sachverhalt auch neben der amtlichen Stati-
stik empirisch verborgen, da wissenschaftliche
Untersuchungen zu diesem Thema – etwa im Ver-
gleich zur relativen Einkommensarmut – kaum
durchgeführt werden.
Deswegen lohnt sich die Mühe, endlich über diesen Per-
sonenkreis, über den bislang keine offiziellen Statistiken
geführt werden, Genaueres zu erfahren, um zielgerichtet
politisch handeln und helfen zu können.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte
schön.
Bitte sehr.
Metadaten/Kopzeile:
5214 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Herr Kollege, Sie reden
immer von verdeckter Armut. Wollen Sie damit zum
Ausdruck bringen, daß es keine offizielle Armut gibt?
Wie würden Sie in diesem Zusammenhang die finan-
zielle Situation der Obdachlosen in Deutschland bewer-
ten? Wie kennzeichnen Sie Ihre Haltung angesichts der
Tatsache, daß sich beispielsweise die Regierung in Hol-
land jahrelang geweigert hat, einen Armutsbericht zu er-
stellen, der aber auf Druck der Sozialverbände im vori-
gen Jahr unter dem Titel „Das andere Gesicht Hollands“
erschien. Ist Ihnen das „andere Gesicht Deutschlands“
schon begegnet?
Ich will
zunächst die Frage beantworten, die mich persönlich
betrifft. Da ich über zehn Jahre lang für den Deutschen
Caritasverband gearbeitet habe, sind mir die Not und die
Armut in vielfältiger Form begegnet. Was die Statistik
anbelangt, möchte ich Ihnen sagen: Aufgabe unseres
Bundessozialhilfegesetzes – darauf sollten wir stolz
sein; man sollte es nicht immer schlechtreden –
ist es, Menschen, die keine Einkommensmöglichkeit ha-
ben und keine andere Möglichkeit haben, ihren Lebens-
unterhalt zu bestreiten, finanziell so abzusichern, daß sie
nicht in existentielle Not geraten. Das ist die Leistung
unseres Sozialhilfegesetzes.
Diejenigen Menschen leben in existentieller Armut,
die diese Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Sie
mögen damit recht haben, daß sich unter den Obdachlo-
sen in unserem Land relativ viele befinden, die diese
Leistungen nur ungenügend oder gar nicht in Anspruch
nehmen. Diese Tatsache möchte ich nicht bezweifeln.
Die Situation muß aber in einer Untersuchung, die wir
anregen, näher erforscht werden.
Gestatten Sie eine
Zusatzfrage? – Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege, ist Ihnen be-
kannt, daß die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhil-
feinitiativen und die Sozialhilfeempfänger selber die
Auffassung vertreten, daß Sozialhilfe nicht Armut ver-
hindert, sondern Armut ist?
HerrKollege, das ist eine Frage der Definition. Ich habe Ih-nen vorhin schon mit Professor Hauser geantwortet, dernun wirklich als der „Armutspapst“ in Deutschland gilt,daß sich eine wissenschaftlich exakte, von allen geteilteArmutsdefinition so einfach nicht finden läßt, sondern esimmer eine relative Armut ist, über die wir sprechen undüber deren Definition wir natürlich trefflich streitenkönnen.Übrigens, meine Damen und Herren von der rotgrü-nen Koalition: Da Sie uns in der Haushaltsberatung sonachdrücklich berichtet haben, daß wir kein Geld zumAusgeben und erst recht nicht zum Verschenken haben,wäre es eigentlich ein Gebot der Stunde, die reduziertenMittel auf eine Untersuchung zu der Thematik zu kon-zentrieren, zu der wirklich etwas Neues und bis dahinnicht Bekanntes erforscht werden kann.
Nun hat ja das Bundesministerium für Arbeit und So-zialordnung bereits beim Institut für Sozialforschungund Gesellschaftspolitik eine Vorstudie in Auftrag ge-geben, die uns leider erst nächste Woche offiziell vorge-stellt wird. Ich bedaure das, weil man Parlamentsdebat-ten eigentlich in dem Wissen um das, was in einer Vor-studie steht, führen sollte, statt im Nebel herumzusto-chern.
– Ich rede von der Vorstudie, Herr Ostertag.Aber ich möchte auf einen Punkt, der in dieser Vor-studie untersucht worden ist, hinweisen, nämlich auf dieFrage: Wie kommt dieser Bericht zustande? – HerrKollege Gilges, ich habe gelernt, daß man sich, wennman im Parlament eine Rede hält, gut vorbereiten soll.Das habe ich selbstverständlich versucht. Dazu gehört,daß ich mir die Informationen, die nicht offiziell zu-gänglich sind, trotzdem besorgt habe. Das machen Siedoch sicher auch so!
– Okay.Nach dieser Vorstudie sagen 60 Prozent der befragtenPersonen, diese Armutsstudie möge von unabhängigenWissenschaftlern und einer unabhängigen Steuerungs-gruppe in Zusammenarbeit mit dem Ministerium erar-beitet werden. Auch der Vorsitzende der NationalenArmutskonferenz, Professor Dr. Walther Specht vomDiakonischen Werk, hat den Fraktionsvorsitzenden vonSPD und Grünen in einem Brief geschrieben:Allerdings beobachten wir jetzt mit einer gewissenSorge, daß das Thema Armut und die Diskussionüber die Berichterstattung aus dem Feld der Politikin das Feld Verwaltung abrutscht. Dies kann nichthingenommen werden. Die politisch interessantenBerichte sind die von unabhängigen Sachverständi-gen erstellten Expertisen, zu denen die Bundesre-gierung eine Stellungnahme abgibt.Deswegen sollte es hier nicht nur einen Regierungs-bericht, sondern auch einen Expertenbericht geben,wenn man ein solches Unterfangen überhaupt in Auftraggeben will.
Nun sind ja Berichte, die man sich bestellt, die eineSache. Konkretes Handeln ist eine andere Sache. HerrGilges hat mit Wonne von den letzten 16 JahrenCDU/CSU-geführter Bundesregierung gesprochen. Er
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5215
(C)
(D)
hat aber überhaupt nicht von dem einen Jahr gesprochen,in dem Rotgrün regiert hat!
Was ist in dem einen Jahr, seit Rotgrün regiert, in Sa-chen Armutsbekämpfung und Sozialhilfe geschehen?Das ist die Frage.
Erstens. Die Einführung einer sogenannten Ökosteu-er, bei der demnächst auch noch Stufe zwei und dreifolgen sollen, geht einseitig zu Lasten der Sozialhilfe-empfänger.
Zweitens. Es ist gut, daß das Kindergeld erhöht wird.Aber keine einzige Familie, die von Sozialhilfe lebt, hatetwas von der Kindergelderhöhung, weil das Kinder-geld auf die Sozialhilfe angerechnet wird.
Eine Regelsatzerhöhung haben Sie ebenfalls nicht mit-gemacht, sondern Sie haben die Übergangsregelungenum zwei Jahre verlängert.
Drittens. Rotgrün schafft die sogenannte originäreArbeitslosenhilfe ab. 65 000 Personen, die bislangArbeitslosengeld beziehen, werden ab 1. Januar zumSozialamt geschickt. Sie schaffen mehr Sozialhilfefälle;das ist Ihre Politik.
Viertens. Rotgrün kürzt die Beiträge für Arbeitslo-senhilfebezieher zur Sozialversicherung.
Es ist absehbar, daß auf Grund dieser Politik in einigenJahren Menschen auf Sozialhilfe angewiesen sein wer-den, die bislang darauf hoffen konnten, sich eine eigen-ständige Alterssicherung aufzubauen.Selbst wenn die von Herrn Gilges so gelobte be-darfsorientierte Grundsicherung kommt, werden die-se Personen sie nicht mehr haben. Das ist für sie Jackewie Hose. Das ist nur ein anderes Wort für Sozialhilfe.
– Entschuldigen Sie, genau das hat uns Frau Mascherim Rahmen der Beantwortung einer Anfrage vorgetra-gen. Selbst wenn ein Bezieher der sogenannten Grundsi-cherung zum Beispiel einmalige Leistungen nach demBSHG wünscht, muß er zum Sozialamt gehen und siebeantragen. Braucht er beispielsweise Hilfe zur Pflege,muß er ebenfalls zum Sozialamt gehen und sie bean-tragen. Von daher ist es für die Betroffenen Jacke wieHose.
Auch ohne wissenschaftliche Untersuchungen undExpertenanhörungen kann man schon heute die Über-schrift und das Schlußwort für den Armutsbericht derrotgrünen Koalition formulieren. Für die Überschriftschlage ich vor: Armut in Deutschland hat einen neuenNamen: Rotgrün.
Auch den Schlußsatz dieses Armutsberichts kann manbereits formulieren: Ändern Sie Ihre Politik! Sie sind aufdem falschen Weg.
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Ekin Deligöz.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Ich verstehe dasnicht, Herr Kollege: Zu Beginn sagen Sie, wer zum So-zialamt geht, ist gar nicht arm; denn wer Sozialhilfekriegt, ist nicht arm. Am Schluß zählen Sie auf, wieviele Leute zum Sozialamt gehen. Ich finde das ein biß-chen widersprüchlich.
Entweder sind die Menschen arm, wenn sie Sozialhilfekriegen, oder sie sind es nicht. Sie müssen sich da schonentscheiden.Es gibt einen Wert in der Bevölkerung, der in denletzten Jahren unglaublich an Bedeutung gewonnen hat.Es ist der Wert der sozialen Gerechtigkeit. Klassischbedeutet soziale Gerechtigkeit Verteilungsgerechtigkeit.Wenn wenige fast alles besitzen, wenn die Aufstiegs-chancen für Benachteiligte minimal sind, dann spürenviele Menschen, daß etwas nicht stimmt, auch wenn sievon Gleichmacherei nichts halten.Die Wahrnehmung einer sozialen Schieflage hat nichtunbedingt etwas mit absoluter Armut zu tun. Ein Sozial-hilfeempfänger in den neuen Bundesländern hat ver-mutlich einen höheren Lebensstandard als viele Klein-unternehmer in der sogenannten dritten Welt. Er fühltsich aber möglicherweise – anders als sein Kollege inder dritten Welt – von der Gesellschaft ausgestoßen undwertlos. Sein Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcenist schlecht, seine Aussichten auf eine Verbesserung sei-Peter Weiß
Metadaten/Kopzeile:
5216 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
ner Situation sind es ebenfalls. Seinen Kindern ist diesoziale Randständigkeit häufig in die Wiege gelegt.Bei Kindern aus Familien mit großem Einkommen istes umgekehrt: Ihr Millionenvermögen ist keineswegszwangsläufig ein Ergebnis überdurchschnittlicher Lei-stung. Sie hatten einfach die Gnade einer Geburt in gün-stige Familienverhältnisse.Eine weitere Vorstellung von sozialer Gerechtigkeitist die Generationengerechtigkeit. Es ist ungerecht,wenn wir auf Kosten unserer Nachkommen leben. Dasgilt in der Ökologie genauso wie in der Finanzpolitik.Das Gebot des Sparens darf aber nicht dazu führen,daß wir auf politische Gestaltungsmöglichkeiten ver-zichten. Wenn wir heute auf eine Politik zur Bekämp-fung von Armut verzichten, wenn wir die Bildungs- undAusbildungschancen für Kinder aus einkommensschwa-chen Familien nicht drastisch verbessern, bedeutet diesin der Konsequenz eine gigantische Verschwendung vonTalenten und Fähigkeiten.
Ein Versäumnis haben wir bei unserer Vorgängerre-gierung erlebt: Noch nie seit 1982 waren die sozialenAufstiegschancen für Kinder aus armen Familienschlechter, noch nie war ihr Anteil an der Zahl der Stu-dierenden so gering wie heute. Es ist kaum anzunehmen,daß die Begabungsreserve aus ärmeren Schichten heuteum so vieles kleiner ist als in den vergangenen Jahr-zehnten.Radikal im Kontrast zu klassischen Gerechtigkeits-vorstellungen steht die neoliberale Ideologie: Wenn wirnur die Angebotsbedingungen verbessern, die Gewinn-aussichten für Investoren verbessern, die Erträge vonVermögen vergrößern, entstehen von alleine neue Ar-beitsplätze, und alles wird gut.
Ohne ideologische Scheuklappen können wir heutesehen, daß die neoliberalen Patentrezepte genauso ein-seitig und unzureichend sind wie die alten Patentre-zepte, die im Massenkonsum das alleinige Heil such-ten. An beidem ist aber etwas dran, doch die Verabso-lutierung führt uns alle in die Irre. Die Suche nachgangbaren dritten Wegen ist die eigentliche Herausfor-derung.Weil die Patentrezepte versagt haben, weil wir zu-gleich tatsächlich eine beträchtliche soziale Schieflagein unserem Land haben, ist die Politik dringend aufgrundlegende Informationen über Armut und Reichtumangewiesen. Nur wenn wir detaillierte Angaben über dieVerteilung des materiellen Wohlstandes und über derenVeränderung, präzisere Angaben über die Lebensla-gen in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichtenhaben, nur wenn wir wissen, wie die verschiedenen ge-sellschaftlichen Gruppen ihre Ressourcen einsetzen,nur dann haben wir die Informationsgrundlage für einePolitik, die über platte Umverteilungsparolen oder dasQuasi-Nichtwissenwollen der alten Regierung hinaus-reicht.
Die vorliegenden Oppositionsanträge sind in diesemZusammenhang höchst bezeichnend. Sie von der Unioninteressieren sich ausschließlich für die versteckte Ar-mut. Andere Armut, wie zum Beispiel von Kindern inder Sozialhilfe, wird schlichtweg geleugnet.Reden Sie einmal an dieser Stelle – das empfehle ichIhnen wirklich – mit Fachleuten von der Diakonie, vonder Caritas, vom Paritätischen Wohlfahrtsverband undvon zahlreichen anderen Organisationen, und dann er-fahren Sie endlich einmal, wie es wirklich in unseremLand aussieht.
Aber verdeckte Armut ist tatsächlich ein Problem,das genauer untersucht werden muß. Was wir aller-dings darüber wissen, das reicht uns bereits heute aus,um aktiv zu werden. Deshalb wird die Koalitioneine Mindestrente einführen, um Altersarmut zu be-kämpfen.Darüber hinaus haben wir im Sozialhilferecht einensogenannten Experimentierparagraphen eingeführt, da-mit sogenannte einmalige Leistungen nicht einzeln undbürokratisch aufwendig beantragt werden müssen, denndas führt dazu, daß Menschen aus Scheu vor bürokrati-schen Hürden auf Ansprüche verzichten.Die verdeckte Armut wäre beseitigt, wenn wir ent-sprechend dem grünen Konzept eine bedarfsorientierteGrundsicherung einführen würden. Wir haben auch imKoalitionsvertrag vereinbart, eine solche Grundsiche-rung anzugehen.Zu dem PDS-Antrag kann ich nur sagen: Sie habenwieder einmal ein gentechnisches Wunder vollbracht –eine eierlegende Wollmilchsau, kann man da nur sagen.Sie wollen nicht nur eine Datenerhebung als Grundlagefür eine verantwortliche Politik – das wollen wir auch –,sondern Sie wollen auch gleich ein Patentrezept, wie mitdiesen Daten umzugehen ist. Den Prozeß der politischenAuseinandersetzung, die Schlußfolgerungen gleich vor-wegzunehmen, das paßt vielleicht zu Ihrer Art des poli-tischen Denkens, aber unsere kann es nicht sein.
Darüber hinaus haben Sie an den Bericht Anforde-rungen gestellt, die schlichtweg unsinnig sind. Die Frageder Gerechtigkeit in bezug auf die dritte Welt gleichmitbehandeln zu lassen, das sprengt meiner Meinungnach den möglichen Rahmen einer solchen Untersu-chung.
Da drängt sich ein wenig der Verdacht auf, daß Sie dieHürde absichtlich so hoch legen, damit Sie danach ga-Ekin Deligöz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5217
(C)
(D)
rantiert etwas zu meckern haben, und das finde ich nichtbesonders seriös.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage? – Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Frau Kollegin, Sie haben
hier wiederholt auf jenes Windei verwiesen, von dem
noch niemand weiß, was darin ist: auf die Grundsiche-
rung.
Finden Sie es nicht etwas merkwürdig, wenn die Re-
gierungskoalition im April dieses Jahres von der Erhö-
hung der Eckregelsätze in der Sozialhilfe nach dem Wa-
renkorbprinzip Abstand nimmt, also eine etwas bedarfs-
deckendere Ermittlung und die Angleichung an die
Rentenerhöhung unterstützt, um dann anschließend die
Rentenerhöhung wieder zu deckeln, indem man in der
Tat nach den Preissteigerungen gehen will und damit er-
neut die Sozialhilfe deckelt? Diejenigen, die schon we-
nig haben, werden noch laufend gedeckelt. Nun kom-
men Sie mit einer Grundsicherung, von der Sie gerade
gesetzlich Abstand genommen haben, indem Sie die ge-
setzeswidrige Regelung der Kohl-Regierung, die zeitlich
begrenzt war, verlängert haben.
Herr
Kollege, ich habe bereits vorhin erwähnt, daß wir eine
Mindestrente einführen wollen, um tatsächlich punktuell
etwas gegen Altersarmut zu tun, genau für die alten
Leute, die das auch brauchen.
Wenn Sie uns jetzt vorwerfen, keine Flickschusterei
zu betreiben, weil wir ein sinniges, in sich geschlossenes
Konzept möchten, dann finde ich das einen etwas selt-
samen Vorwurf. Das können Sie gern sagen, aber dazu
stehe ich. Ich glaube, wir brauchen nicht Teillösungen,
sondern eine Gesamtlösung. Die dazu notwendige Zeit
werden wir uns nehmen.
Frau Kollegin, es
gibt noch zwei Zwischenfragen. Wollen Sie die zulas-
sen?
Wenn
Herr Weiß unbedingt etwas sagen will, dann ja. – Herr
Weiß, Sie haben doch heute schon gesprochen.
Frau
Kollegin, da Sie soeben auf das Thema Grundsicherung
eingegangen sind, möchte ich Sie fragen: Was ändert
sich finanziell beim Leistungsbezug für einen älteren
Menschen, der bislang auf Sozialhilfe angewiesen ist,
wenn er künftig auf Ihre bedarfsorientierte Grundsiche-
rung angewiesen ist? Was ändert sich konkret? Wird er
künftig zum Beispiel nicht mehr zunächst seine Vermö-
gensverhältnisse offenlegen müssen, wie er das im
Rahmen des Bezugs von Sozialhilfe tun muß?
Herr
Kollege, über ungelegte Eier spreche ich nicht. Das
sollten auch Sie nicht tun.
– Wir gackern nicht. Wir kündigen vielmehr an, daß wir
im Gegensatz zu Ihnen endlich einmal zu Taten schrei-
ten und nicht nur darüber sprechen.
Wollen Sie eine
weitere Zwischenfrage zulassen?
Nein,
ich möchte jetzt meine Rede fortführen.
Die Kollegin möchte
also keine Zwischenfrage mehr zulassen. – Dann fahren
Sie bitte in Ihrer Rede fort.
Wirhaben eine umfassende Analyse in Auftrag gegeben, dieauf Grund der verwendeten wissenschaftlichen Literaturund zahlreicher qualifizierter Rückmeldungen von In-stitutionen und Verbänden in ein schlüssiges Konzeptmündet. Die Ergebnisse dieser Analyse werden am7. Oktober dieses Jahres vorgestellt.Der Reichtums- und Armutsbericht wird die Grund-lage für eine rationale gesellschafts- und sozialpolitischeDebatte bilden, und zwar ohne falsche Tabus. Es kannnicht angehen, daß immer wieder Mißbrauchskampag-nen gegen Arme gestartet werden, während Reichtummit dem Mantel des Schweigens verhüllt wird. In denbisherigen Einkommens- und Verbraucherstichprobenbesteht ein blinder Fleck: Nichtdeutsche Haushalte undHaushalte mit einem Monatseinkommen über35 000 DM fehlen in der bisherigen Statistik ganz. Wir wollen, daß darüber gesprochen wird. Dabei darfes nicht um Sündenböcke gehen, sondern es muß um ef-fiziente politische Rahmenbedingungen auch in Zeitenknapper Kassen und nicht zuletzt um die Fragen gehen:Wie erhalten wir den sozialen Frieden? Wie verteidigenund erweitern wir die bürgerlichen Freiheiten sowie dasFundament einer zivilen Gesellschaft?Ekin Deligöz
Metadaten/Kopzeile:
5218 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Die Antworten, die wir auf diese Fragen geben, wer-den darüber entscheiden, wie wir alle künftig leben wer-den.Vielen Dank.
Das Wort hat der
Kollege Dr. Kolb, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Oppositionspar-
teien der letzten Legislaturperiode legen uns heute An-
träge vor, für deren Durchsetzung sie damals keine
Mehrheit fanden.
Allerdings, Herr Gilges, schon damals machten diese
Anträge keinen Sinn. Dies ist leider bis heute so.
Herr Gilges, was wollen Sie denn mit den vorgesehe-
nen Berichten bezwecken? Datenmaterial über den Be-
zug von Sozialhilfe, also – das sage ich jetzt sehr deut-
lich – Datenmaterial über von der Gesellschaft solida-
risch verhinderte Armut? Datenmaterial dieser Art gibt
es genug.
Die daneben vorhandene verdeckte Armut – ich
stimme dem Kollegen Grehn zu, daß es diese gibt – er-
fassen Sie mit dem in Ihrem Antrag geforderten Bericht
meines Erachtens nicht.
Von daher ist der Antrag der CDU/CSU, die verdeckte
Armut zu erforschen, sehr viel sinnvoller.
Nur, Herr Kollege Weiß, darüber sollte man sich auch
im klaren sein: In diesem Zusammenhang verläßliches,
vergleichbares und vor allen Dingen auch objektiv
nachprüfbares Datenmaterial zu ermitteln, halte ich für
eine sehr schwierige, wenn nicht sogar unmögliche Auf-
gabe; so wichtig es auch wäre, sie zu lösen.
Wenn wir schon über Lücken im Datenmaterial spre-
chen, dann ist festzustellen: Ich fände es auch interes-
sant, einen nationalen Bericht über den ungerechtfertig-
ten Bezug von Sozialleistungen zu erarbeiten. Man
könnte so die Bedürftigen von den Findigen, also von
denjenigen, die sich in unserem Sozialsystem besser
auskennen als auf den Wegen, die zu einem neuen Ar-
beitsplatz führen, trennen.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gilges?
Ja, sicher.
Bitte sehr, Herr
Kollege Gilges.
Herr Kollege Kolb, könnten
Sie sich vorstellen, daß in einem umfassenden Reich-
tums- und Armutsbericht unter anderem auch stehen
könnte, was verdeckte Armut ist, wie sie aussieht und
welche Qualität sie hat? Ich verstehe überhaupt nicht,
daß Sie dem widersprechen. Bei Ihnen fällt mir dies
noch mehr auf als bei Herrn Weiß bzw. bei dem Antrag
der CDU/CSU. Ich habe immer gedacht, daß die
CDU/CSU mit ihrem Antrag von einer Generaldarstel-
lung von Reichtum und Armut in der Bundesrepublik
ablenken will und daß Sie das unterstützen. Denn es
könnte ja sein, daß in diesem Bericht Ihrer Klientel, den
Reichen
– ich meine die Besserverdienenden, Herr Niebel –, ein
besonderes Kapitel gewidmet würde. Strategisch verste-
he ich ja, daß Sie dies verhindern wollen und sagen: Wir
wollen nur die verdeckte Armut darstellen; den Rest las-
sen wir im dunkeln.
Nun müssen Sie eine
Frage stellen.
Ich frage ihn – ich habe ihn
aber schon gefragt –, ob er sich einen Bericht vorstellen
kann, der nicht nur die verdeckte Armut, sondern die ge-
samte Armut und auch den gesamten Reichtum, ein-
schließlich des verdeckten Reichtums, darstellt.
Herr Gilges, ich habeeine sehr große Vorstellungskraft. Deswegen kann ichmir dies vorstellen.Nur – das will ich hier noch einmal sehr deutlich sa-gen –, Sie haben bisher in den Debatten den Eindruckerweckt, als sei Armut schon deshalb in unserer Gesell-schaft so weit verbreitet, weil es so viele Sozialhilfe-empfänger gibt.
Das ist immer wieder mehr oder weniger deutlich zumAusdruck gekommen.Ich glaube, wir sind uns darin einig, daß der sehrbreite Bereich der Menschen, die in unserer GesellschaftSozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, im engerenSinne nicht dem Bereich der Armut zuzurechnen ist;denn gerade durch die Sozialhilfe wird die Armut beiden Empfängern beseitigt. Es gibt aber Unterschiede –das ist in dieser Debatte gesagt worden –, davon gehenwir aus.Jetzt geht es um die Frage: Wie werden die schwieri-gen Fälle, die Obdachlosen, die nicht seßhaften Men-schen – es sind relativ kleine Teile unserer Gesellschaft–, erfaßt? – Insofern war die Zwischenfrage des Kolle-gen Grehn wirklich hilfreich. – Auf diese Probleme hin-zuweisen habe ich mir erlaubt. – Darf ich noch antwor-Ekin Deligöz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5219
(C)
(D)
ten? Ja, der Kollege Gilges steht noch. – Ich bin sowiesogespannt, wie Sie mit dem Bericht umgehen werden.
Sie, Herr Gilges, haben hier gefordert, der Bericht solleim Jahr 2001 vorliegen. Ich habe die Befürchtung, daßdann während Ihrer Regierungszeit nichts mehr passie-ren wird. Wenn Sie nämlich im Jahr 2001 nach demPrinzip „Versuch und Irrtum“, wie Sie es bisher in die-sem Jahr vorgeführt haben, an diese Aufgabe herange-hen, werden Sie bis 2002, wenn Sie die Regierungsbän-ke wieder verlassen müssen, nichts bewirkt haben.
Der Kollege Gilges
setzt sich hin, und damit ist die Zwischenfrage beant-
wortet.
Ja. – Meine Damen
und Herren, die Neugierde von Rotgrün und PDS, den
Reichtum unseres Landes betreffend, kann ich durchaus
verstehen. Unser Land ist reich. Es ist reich an Bildung,
Wissen, schöner Natur, Landschaft, reich an Kultur. Es
gibt auch materielles Vermögen in diesem Land.
Seien Sie ehrlich, Herr Gilges! Um dieses geht es Ihnen
doch. Dann aber sollten Sie es auch klar und deutlich
sagen und nicht mit dem Begriff „Reichtum“ ablenken;
denn der Begriff „Reichtum“ erweckt Neid.
Mit diesem Neid wollen Sie einen weiteren Griff in die
Taschen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes
vorbereiten.
– Das genau ist mein Verdacht. Mit dem Bericht wollen
Sie ausspähen, was für Ihre Umverteilungspolitik zur
Verfügung steht. Sie wollen eine Datengrundlage für die
Umverteilung schaffen. Das aber ist der falsche Weg.
Ich bestreite nicht, daß es in der Bundesrepublik
Deutschland beträchtliches Vermögen in privater Hand
gibt. Gleichzeitig gibt es Menschen, die gemessen an
ihrem Einkommen und Vermögen zu den Schwachen
unserer Gesellschaft gehören. Diesen ist mit Papier nicht
geholfen. Diese brauchen echte Chancen und Angebote,
die ihre Situation verbessern. Halten Sie sich also nicht
mit der Erstellung von Berichten auf, die hinterher noch
diskutiert und in Arbeitsgruppen beraten werden müs-
sen, sondern handeln Sie!
Die vorliegenden Anträge, Herr Kollege Gilges, be-
weisen doch, daß Sie immer noch die Alten sind, näm-
lich papier- und diskussionsverliebte Ideologen. Diesen
Vorwurf muß ich speziell an die Adresse der Koalition
richten.
Von der PDS hatte ich ohnehin nichts anderes erwartet.
Ich will noch einmal deutlich die Unterschiede zwi-
schen Ihrer und unserer Position herausarbeiten: Sie
glauben, man müsse den Bürgern und Unternehmern
erst per Steuer oder – neuester Trick – per Abgabe das
Geld abnehmen, um es dann mit den entsprechenden
Verwaltungsverlusten den Bedürftigen zukommen zu
lassen. Einmal abgesehen davon, daß dieses Geld oft-
mals wieder die gleichen Leute erreicht, hilft es den so-
genannten verdeckten Armen nicht.
Wir setzen dagegen auf die wohlstandssteigendernde
Wirkung von Investitionen und Arbeitsplätzen.
Wir wollen, Frau Kollegin Deligöz, durch steuerliche
Entlastungen den Spielraum für Investitionen und Ar-
beitsplätze schaffen. Auch glauben wir, daß die Bürger
besser als der Staat mit dem Geld umgehen können.
Wenn Sie sagen, das sei Neoliberalismus, dann halte ich
Ihnen entgegen, daß ich heute mit Interesse das „Han-
delsblatt“ gelesen habe, in dem es hieß: „Grüne für libe-
rale Trendwende“. Was Ihre Wirtschaftssprecherin Mar-
gareta Wolf vorschlägt, ist à la bonheur. Allerdings
wurde es tapfer bei der alten Koalition, insbesondere bei
den Liberalen, abgeschrieben.
Angesichts dessen sollten Sie also sehr vorsichtig sein,
wenn Sie uns hier Neoliberalismus vorwerfen.
Da es ja viel einfacher ist, Berichte zu verfassen und
Geld umzuverteilen, als gute Politik für Investitionen
und Arbeitsplätze zu machen, möchte ich Ihnen noch
einmal in aller Kürze und zum Mitschreiben sagen, wor-
auf es ankommt.
Herr Kollege, der
Kollege Grehn möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Wenn dann noch
Bedarf nach weiteren Zwischenfragen sein sollte, wäre
es gut, wenn sich nicht immer dieselben Fragesteller zu
Wort meldeten. – Herr Kollege Grehn, bitte sehr.
Ich habe zur Kenntnis ge-
nommen, daß Sie mich mehrfach zitiert haben. Lassen
Sie mich daher rückfragen: Ist Ihnen, der Sie auf Inve-
stitionen setzen, nicht bekannt, daß in Deutschland Ar-
beit immer weniger vor Armut schützt, weil der Nied-
riglohnsektor und die untertarifliche Bezahlung eben
nicht mehr einen erträglichen Lebensstandard garantie-
ren?
Das ist mir durchausbekannt. Bei einem der vier Punkte, die ich jetzt vor-stellen werde, werde ich auf dieses Problem eingehen.Aus Gründen der Zeitökonomie bitte ich Sie, die Ant-wort auf Ihre Frage dann entgegenzunehmen.Dr. Heinrich L. Kolb
Metadaten/Kopzeile:
5220 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
In aller Kürze und zum Mitschreiben also vier Punk-te, auf die es aus meiner Sicht besonders ankommt:Erstens. Wir brauchen eine Steuerreform, die manzu Recht als solche bezeichnen kann, also eine Steuerre-form mit Nettoentlastung und klaren, auch im Auslandverständlichen Tarifen von zum Beispiel 15, 25 und 35Prozent, Herr Ostertag.
Aber diejenigen von Ihnen, die das kapieren, werden javom Kanzler persönlich zusammengefaltet.Zweitens. Die Betroffenen brauchen Gelegenheiten,ihre Situation aus eigener Kraft verbessern zu können.Viele haben das in der Vergangenheit getan, indem siebeispielsweise als Verkaufsfahrer mit Bezuschussungdurch die Bundesanstalt für Arbeit als Subunternehmerselbständig geworden sind. Andere haben sich als Zei-tungsausträger etwas dazuverdient. Diesen Menschenhaben Sie von Rotgrün mit dem Scheinselbständigen-und dem 630-Mark-Gesetz unnötig Knüppel zwischendie Beine geworfen.
Das haben wir gestern bei der Anhörung wieder deutlichbestätigt bekommen. Deswegen müssen diese Gesetzeim Interesse der sozial Benachteiligten auch wieder zu-rückgenommen werden.Drittens. Das ist jetzt die Antwort auf Sie, HerrGrehn. Die Tarifvertragsparteien müssen Wege finden,wie zum einen im Niedriglohnbereich wieder Jobs ent-stehen können.
Die Tarifabschlüsse der Vergangenheit haben dafür ge-sorgt, daß Menschen mit geringen Qualifikationen keineArbeit mehr oder nur solche Arbeit finden, bei der derLohn zum Leben nicht ausreicht. Aber es ist auch klar,daß sich der Lohn für eine Tätigkeit an der Produktivitätund nicht am Existenzminimum orientieren muß. Weiljedoch das Einkommen aus einfacher Tätigkeit nichtmehr ausreicht, muß hier die staatliche Unterstützungansetzen. Wir haben dafür das Bürgergeldsystem vorge-schlagen. Wir setzen damit auf Leistungsanreize, anstattVollkaskomentalität zu verbreiten.
Viertens. Wir brauchen weniger Regulierung. AusZeitgründen kann ich das nicht mehr alles vortragen. Ichschlage Ihnen vor, daß Sie das bei Frau Wolf nachlesen.Was sie dazu gesagt hat, ist ja weitgehend liberales Ge-dankengut.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.Sie von Rotgrün und PDS stellen auf die Verteilung vonEinkommen ab. Sie tendieren in Richtung einer Gleich-verteilung. Wir wollen, daß alle die gleichen Chancenhaben, auf Grund ihrer eigenen Leistung Einkommen zuerzielen. Das ist ein Unterschied. Das Einkommen istdann gerecht verteilt, wenn die Chancen am Start gleichsind. Was die Menschen aber nicht wollen, ist, beimHundertmeterlauf Hand in Hand über die Ziellinie ge-führt zu werden. Deswegen fordere ich Sie auf: MachenSie Schluß mit der Umverteilung! Das höchste sozialeGut ist und bleibt ein Arbeitsplatz. Ein Arbeitsplatz istund bleibt auch das beste Mittel gegen Armut.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
die Kollegin Professor Luft, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Ich gebe zunächst einmalmeiner Genugtuung darüber Ausdruck, daß eine von derPDS mit einem Antrag vom 11. Dezember 1996 imDeutschen Bundestag angestoßene Debatte nun bei denheutigen Regierungsfraktionen endlich Folgerungenausgelöst hat. Wir haben damals beantragt, nicht nurArmut zu untersuchen, sondern auch Reichtum unter dieLupe zu nehmen und Armut und Reichtum im Zusam-menhang politisch zu bewerten. Das ist auch Gegen-stand unseres jetzt eingebrachten Antrages.Frau Deligöz, man kann ja zu unserem Antrag ge-genteiliger Auffassung sein; das ist normal. Aber zu be-haupten, uns gehe es nicht um die Betroffenen, sondernnur darum, hier irgend etwas vorzulegen, damit der Be-weis erbracht sei, daß das nicht erfüllt werden könne,das grenzt, mit Verlaub, an Diffamierung.
Wir haben von 1996 bis jetzt bei diesem gravierendenThema einen Zeitverlust von drei Jahren zu beklagen.Die Lösung des Problems ist für den sozialen Zusam-menhalt unserer Gesellschaft außerordentlich wichtig.Ich nenne nur zwei Zahlen, um zu belegen, wie diesersoziale Zusammenhalt der Gesellschaft durch die Pola-risierung zwischen Arm und Reich, die ständig zu-nimmt, gefährdet ist. Das obere Drittel der privatenHaushalte besitzt 70 Prozent der Vermögenswerte; dasuntere Drittel hat mehr Schulden als Vermögen – unddas doch nicht, weil die alle Häuser bauen und deshalbKredite aufgenommen haben. Vielmehr handelt es sichdabei um jene privaten Haushalte, zu denen Alleinerzie-hende, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger,Langzeitarbeitslose und Beschäftigte im Niedriglohnbe-reich gehören.Die alte Bundesregierung hatte sich zwar per Unter-schrift unter das Abschlußdokument des Weltsozialgip-fels von Kopenhagen 1995 verpflichtet, einen nationalenArmutsbericht zu erstellen; sie ist dieser Verpflichtungbis zum Ende ihrer Amtszeit aber nicht nachgekommen– und das nicht, weil sie das zeitlich nicht mehr ge-schafft hätte, sondern weil sie es politisch nicht gewollthat. Das ist beschämend.
Dr. Heinrich L. Kolb
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5221
(C)
(D)
Ich darf Sie daran erinnern, daß Frau Nolte – sie ist lei-der nicht da – als die damals zuständige Familienmi-nisterin noch bis kurz vor der Bundestagswahl die Exi-stenz von Kinderarmut lauthals bestritten hat.
Wenn die CDU/CSU-Fraktion jetzt ähnlich, wie imübrigen wir das in unserem Antrag tun – das halten wirfür vernünftig –, vehement die Bekämpfung der ver-deckten Armut fordert, dann gibt sie erstens endlich zu,daß solche verdeckte Armut existiert, und sie gibt zwei-tens zu, daß keine brauchbaren statistischen Unterlagenvorhanden sind. Schließlich muß ich sagen, daß Sie inIhrer 16jährigen Regierungszeit selbst etwas dagegenhätten tun können; denn verdeckte Armut ist nun nichterst in den letzten zwölf Monaten, seit dem Regierungs-wechsel, entstanden.
Man kann wirklich Zweifel hegen, ob Sie, meine Damenund Herren von der Union, es ernst mit dem meinen,was Sie vorgelegt haben. Aber vielleicht können wir unsin dem Punkt der Bekämpfung der verdeckten Armut jadurchaus treffen.Der Antrag der Fraktionen der rotgrünen Regierungfindet in vielen Punkten unsere Zustimmung und decktsich ja auch mit den meisten unserer Forderungen. Ins-besondere unterstützen wir, daß ein Regierungsberichtdie Ursachen von Armut und von Reichtum darlegensoll.
Allerdings offenbart dieser Antrag der SPD und derBündnisgrünen angesichts der sozialen Schieflage desSparpakets, über das wir in diesen Tagen ja auch reden,ebenfalls eine Glaubwürdigkeitslücke. Es ist dochschwer verständlich, wenn die Koalitionsfraktionen dieBekämpfung von Armut zu einem Schwerpunkt ihrerPolitik erklären und zugleich einen großen Teil der sozi-al Schwachen einseitig zur Konsolidierung des Haus-halts heranziehen – es darf doch nicht verschwiegenwerden, daß es hier eine Schieflage gibt –,
während Besserverdienende und Reiche verschont wer-den.Über das, was von dem Haushalt 2000 zur Bekämp-fung der Massenarbeitslosigkeit ausgeht, haben wirschon oft gesprochen. Von ihm werden diesbezüglichkeine Impulse ausgehen, im Gegenteil: Es wird ein wei-terer Abbau von Arbeitsplätzen zu verzeichnen sein.Wir brauchen im übrigen, denke ich, einen solchenBericht auch rascher als irgendwann im Jahr 2001. DasJahr 2001 hat ja zwölf Monate, und wenn Sie die Vorla-ge des Berichts auf den Dezember verschieben, dannmuß ich sagen: Diese Zeitspanne ist uns zu lang.Hoffentlich will die SPD mit ihrer Entscheidung überdie überfällige Einführung einer Vermögensabgabe –analog dem Lastenausgleich aus dem Jahre 1952 – nichtwarten, bis dieser Bericht vorliegt. Man könnte ausmancher Formulierung in dem Antrag diesen Eindruckgewinnen. Wie Herr Schlauch von den Bündnisgrüneneine Abgabe für Millionäre als Symbolpolitik bezeich-nen kann, das bleibt mir verschlossen, und das muß erauch der Öffentlichkeit erst noch erklären.Die Öffentlichkeit muß zum Beispiel endlich erfah-ren, welchen Zusammenhang es zwischen eskalierenderöffentlicher Verschuldung und sich potenzierendem pri-vaten Reichtum gibt. Diejenigen, die jahrzehntelang vonöffentlicher Schuldenaufnahme profitierten, müssenendlich ihren Obolus für die Gesellschaft leisten, auchzur Bekämpfung von Armut.
Auch dieses leistungslose Einkommen – um das handeltes sich doch – muß dem Gebot des Grundgesetzes un-terliegen und nicht nur das Vermögen, das auf eigenerArbeit beruht.Es geht, Herr Kolb, nicht um Sozialneid. Es geht umsoziale Gerechtigkeit, es geht um soziale Fairneß. Of-fenbar weil die F.D.P. diese Zusammenhänge außeracht läßt, hat sie mit den Wahlergebnissen zu tun, mitdenen sie sich in den letzten Wochen auseinandersetzenmußte.
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an die Redezeit!
Ja, ich komme zum Ende. –
Ich will nur noch sagen: Der Zusammenhang gilt doch
einfach nicht, daß allein durch Bekämpfung von Mas-
senarbeitslosigkeit die Polarisierung von Armut auf der
einen Seite und von Reichtum auf der anderen Seite aus
der Welt zu schaffen ist. Das Nettoeinkommen der ab-
hängig Beschäftigten, die zu einem ganz großen Teil in
der Wirtschaft tätig sind, ist in den letzten Jahren, von
1992 bis 1998, um 4,4 Prozent gestiegen, während das
Nettoeinkommen aus Gewinn und Vermögen in der
gleichen Zeit um 52 Prozent gestiegen ist. Diesen Wi-
derspruch müssen wir auflösen. Dann können wir auch
Armut energisch bekämpfen.
Danke schön.
Ich erteile nun der
Parlamentarischen Staatssekretärin Ulrike Mascher das
Wort.
U
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daßwir heute – gerade auch angesichts der Beiträge vonDr. Christa Luft
Metadaten/Kopzeile:
5222 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Herrn Weiß und Herrn Kolb – ein neues Kapitel in derunendlichen Geschichte der Armuts- und Reichtumsbe-richterstattung beginnen.
Denn wenn ich mir die Diskussionen zur Armutsbericht-erstattung im Bundestag in den letzten 16 Jahren nocheinmal vergegenwärtige, muß ich feststellen, daß es im-mer das gleiche Muster war: Die Vertreter der CDU, derCSU, der F.D.P., der alten Bundesregierung, haben Ar-mut geleugnet. Sie haben versucht, sie wegzudefinieren.Sie haben versucht, die Ergebnisse der großen Armuts-untersuchungen von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden undGewerkschaften kleinzureden. Sie haben die Daten-grundlage in Zweifel gezogen. Ja, sie haben sogar ver-sucht, die Ergebnisse eigener Berichte – wie die desZehnten Kinder- und Jugendberichtes – unter Verschlußzu halten, weil sie ihnen einfach nicht ins Konzept ge-paßt haben.
Herr Weiß, wenn Ihre früheren Kollegen von der CaritasIhren Beitrag heute gehört hätten, ich fürchte, sie müß-ten verzweifeln an dem, was in der Politik – jedenfallsvon seiten der CDU/CSU – artikuliert wird.
Obwohl sich die alte Bundesregierung 1995 im Ab-schlußdokument des Weltsozialgipfels verpflichtet hat,einen nationalen Armutsbericht zu erstellen, ist sie die-ser Verpflichtung nicht nachgekommen. Eine Debatteüber die Wohlstands-, über die Reichtumsentwicklung indiesem Land ist – wie auch heute von Herrn Kolb – im-mer als Neiddebatte diffamiert worden.Ich finde es bemerkenswert, daß die ehemalige Re-gierungsfraktion CDU/CSU nun immerhin einen Berichtüber die „verdeckte Armut“ fordert, um auf dieserGrundlage Strategien zur Bekämpfung der verdecktenArmut zu entwickeln. Ich kann ja verstehen, daß esschwerfällt, unangenehme Fakten anzuerkennen. Aberoffenbar hat Ihnen die neue Sichtweise von der Opposi-tionsbank den Blick zumindest so weit geöffnet, daß esnach 16 Jahren Ihrer Regierung Handlungsbedarf gibtund daß es für zielgerichtetes, effektives Handeln sinn-voll und notwendig ist, sich erst einmal ein gesichertesDatengerüst zu verschaffen.
Denn es besteht – ich zitiere aus Ihrem Antrag –bei jener „verdeckten Armut“, die aus verschieden-sten Gründen – Unwissenheit, Angst vor Regreß-forderungen an Angehörige, Scham – ihre Ansprü-che nicht einfordert, tatsächlich die Gefahr der exi-stentiellen Gefährdung.Liebe Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU,diese „existentielle Gefährdung“ hat auch zu Ihrer Re-gierungszeit bestanden. Ich frage mich, warum Sie dasnicht wahrgenommen haben.
Für die neue Bundesregierung ist die Verbesserungder Lebenslage der von Armut bedrohten oder betroffe-nen Menschen eine wichtige Aufgabe. Dazu brauchenwir eine Bestandsaufnahme der sozialen Lage in unse-rem Land. Wir brauchen Informationen über die Ein-kommens- und Vermögensverteilung und zu den Le-benslagen, die zu Verarmung führen können. Grundlagedieser Bestandsaufnahme ist für uns ein Armuts- undReichtumsbericht. So hoch entwickelt unsere Statistikauch ist, hat sie immer noch Defizite, zum Beispiel wasdie Zusammenhänge von Bildung und Armut sowie vonGesundheit und Armut betrifft. Hier brauchen wir neueInformationen.In Absprache mit dem Bundesfamilienministeriumund in Kenntnis der Koalitionsvereinbarung der Fraktio-nen SPD und Bündnis 90/Die Grünen hat das Bundesar-beitsministerium das Projekt „Armuts- und Reichtums-berichterstattung“ auf den Weg gebracht. Frau Luft, dieSPD hat das schon vor 1996 über viele Jahre hinweg ge-fordert, und auch Bündnis 90/Die Grünen hat bereits vor1996 diese Forderung aufgestellt.Zur sorgfältigen Vorbereitung einer Armuts- undReichtumsberichterstattung wurden für eine Konzept-und Umsetzungsstudie zirka 200 Experten aus Politik,Wissenschaft, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerk-schaften und Betroffenenorganisationen befragt. Damitwurden bereits beim ersten Schritt der Sachverstand unddie praktischen Erfahrungen der Länder, der Kirchen,der Gewerkschaften und vieler Nichtregierungsorgani-sationen einbezogen.In einer Woche, am 7. Oktober 1999, werden wir die-se Ergebnisse im Rahmen des Forums „Armut undReichtum in Deutschland“ hier in Berlin öffentlich zurDiskussion stellen. Die Tagung unterstreicht den Willender Bundesregierung, das Projekt der Armuts- undReichtumsberichterstattung voranzubringen und den be-reits begonnenen Dialog mit allen Interessierten fortzu-führen. Dieses Gesprächsangebot entspricht auch derAbsicht des Antrags von SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen. Wir wollen, daß dieser Bericht von einem Bera-tungsprozeß begleitet wird, an dem interessierte Organi-sationen, die Fachverbände sowie Wissenschaftler undWissenschaftlerinnen beteiligt sind.
Wir wollen die Fragen der inhaltlichen Gestaltungeines Armuts- und Reichtumsberichts öffentlich disku-tieren. Diese Fragen werden zwar von der interessiertenFachöffentlichkeit seit längerem intensiv diskutiert, dieBundesregierung will aber darüber einen breiten öffent-lichen gesellschaftlichen Dialog führen. Der Armuts-und Reichtumsbericht soll nicht in einem internen ver-waltungsmäßigen Arbeitsprozeß, sondern in einem le-bendigen Austausch mit allen Interessierten und Betrof-fenen entwickelt werden.Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5223
(C)
(D)
Die Bundesregierung wird nach dieser Fachkonferenzdie Armuts- und Reichtumsberichterstattung vorantrei-ben. Das Bundesarbeitsministerium wird dabei seineganze Fachkompetenz einbringen, um den Bericht zurealisieren.Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist aber keinSelbstzweck. Sie ist ein wichtiges und notwendiges In-strument, um die Lebenssituation von Menschen in Ar-mut, die am Rande unserer Gesellschaft leben, über-haupt erst einmal wahrzunehmen und in ihrer Komple-xität festzustellen, um sie dann gezielt zu verbessern.Eine gerechtere Verteilung von Wohlstand und Er-werbsarbeit ist ein wichtiges Element gesellschaftlicherund politischer Stabilität.Ich will die Entwicklung einer Armuts- und Reich-tumsberichterstattung nicht mit zu hohen Erwartun-gen befrachten, aber das Ausblenden der Armut undder Reichtumsentwicklung aus unserer politischen De-batte hat ein wichtiges Stück Realität aus der politi-schen Arbeit verdrängt. Wir wollen uns hier in Berlindieser Realität stellen. Sie haben das 16 Jahre lang ver-säumt.Danke.
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSU.
Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatsse-kretärin, dem Kernsatz am Anfang Ihrer Rede, daß dieCDU/CSU die Armut konstant geleugnet hat, muß ichwidersprechen: Das ist nicht der Fall.
Wir haben die Sozialpolitik unter schwierigsten Bedin-gungen gestaltet: So wurde sie für die Menschen derjungen Bundesländer fortgeschrieben. Zum gleichenZeitpunkt sind – überproportional – 30 Prozent, 600 000ausländische Mitbürger Sozialhilfeempfänger geworden.So war das. Ich kann mir erlauben, so zu reden, weil ichaus meinen Erfahrungen im Stadtrat heraus spreche undmir diese Menschen genausoviel wert sind. Wir habenzur gleichen Zeit einen erheblichen Anteil alleinerzie-hender Mütter mit ihren Kindern in die Sozialhilfe auf-genommen. Sie können sich im übrigen an dem heutemorgen behandelten Kinder- und Jugendbericht orientie-ren. Ich habe das noch einmal getan.Nun zum Antrag selbst. Die Armut wird hier wiedersehr vordergründig behandelt und an der materiellenTeilhabe sowie an den Betroffenen orientiert, die amRande der Gesellschaft stehen. Diesem Problem solltenwir uns auch stellen. Dies ist sicher nur ein Teil der Ar-mut, die wir mit unserer Arbeit gemeinsam bekämpfensollten.Ich bin stolz darauf, daß ich seit den 50er Jahren ineinem Sozialstaat – Herr Gilges, auch in den 60er und70er Jahren – mitwirken durfte. Auch in den 70er Jahrenhätte man einen Armuts- und Reichtumsbericht vorlegenkönnen. Ich bin stolz darauf, daß ich mit Sozialdemo-kraten und Freien Demokraten in vielen Bereichen ge-meinsam wirken durfte. Ich bin stolz auf diesen Sozial-staat.
Wir können dies nicht nur durch Gesetze und Ver-ordnungen bekämpfen. Daß die Verteilung zwischenReichtum und Armut am Ende zu Nur-Armut führt,haben Sie Frau Luft, mit Ihrer Regierung in der DDR– Sie waren in der letzten Regierung der DDR – ja be-wiesen.
Warum sage ich das? Die Wahrnehmung von Be-dürftigkeit und die Situation der Betroffenen, der Be-dürftigen, ist immer von der ganz konkreten Lebenssi-tuation abhängig. Sie offenbart sich dort immer und istauch dort sichtbar und spürbar. Deshalb brauchen wireine Kultur des Helfens – ich will hier einmal auf eineandere Linie, die uns hoffentlich verbindet, eingehen –und des Mitempfindens. Das ist ganz wichtig. Dazubrauchen wir die kleinen Einheiten im sozialen, kultu-rellen und nachbarschaftlichen Bereich.Heute morgen ist von diesem Pult aus von RednernIhrer Partei, der SPD, die soziale Stadt propagiert wor-den.
– Ja, jetzt wollen wir uns einmal um die Armen in derGesellschaft kümmern. – Ich bin der Meinung, daß wirauch die Starken brauchen. Wir brauchen sehr vieleStarke, die die Schwachen tragen. Das ist entscheidend.Anders kann unsere Gesellschaft in unserem Systemüberhaupt nicht funktionieren.
Dies ist aktuell und wird auch zukünftig für uns alleaktuell bleiben. Ich will Sie auch schützen – das sage ichganz offen –, damit Sie keine Hoffnungen wecken, dieSie nicht erfüllen können, und dann in zwei Jahren mitdem Rücken an der Wand dastehen. Ich möchte aus-drücklich sagen, daß es darum geht, daß der Sozialstaatnach wie vor eine Verpflichtung gegenüber den Schwa-chen in der Gesellschaft hat, die an der Gesellschaft aufGrund ihrer Eignung und Neigung sowie ihrer Lei-stungsfähigkeit nicht so teilnehmen können, wie es dieStarken können. Ich bin der Meinung, daß wir uns aufdiese konzentrieren sollten.
Wenn ich von kleinen Einheiten und Einrichtungenspreche, meine ich einmal die Familien. Der heute mor-gen behandelte Kinder- und Jugendbericht, den ich vor-hin schon erwähnt habe, sagt sehr deutlich: Bildung undParl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
Metadaten/Kopzeile:
5224 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Qualifizierung sind entscheidend für die Teilhabe aneiner fortschreitenden Wirtschafts- und Dienstleistungs-gesellschaft.
Da mache ich mir Sorgen um die Schulabgänger.
Die Sprecherin der Grünen hat sich vorhin Sorgen ge-macht, daß das Bildungsdefizit zunimmt. Ich habe fest-gestellt, daß in den letzten Jahren – ich komme aus derberuflichen Bildung – die Qualität der Schulabschlüssenachgelassen hat und daß Jugendliche unmittelbar nachder Schule zu Sozialhilfeempfängern werden. Das ist fürmich eine Katastrophe.
Dies ist eine Bugwelle, die zwangsläufig zur Lang-zeitarbeitslosigkeit führt. Das ist verheerend.
– Ich sage Ihnen, Frau Schmidt, auch warum. – Die Ju-gendlichen sind im Moment mit dem, was die Sozialhil-fe leistet, sogar zufrieden. Sie sehen nicht, in welcheschicksalhafte und unendlich schwierige Lage sie amEnde geraten. Das sind unsere Kinder, und um die müs-sen wir uns kümmern.
Dem kann nicht allein mit Geld abgeholfen werden.Es geht um andere Werte. Es fehlt den Jugendlichen anLiebe und Zuneigung.
Es liegt oft daran, daß die Mutter, der Vater, die Ge-schwister, Großeltern und auch die Nachbarn dasSchicksal des anderen einfach nicht wahrnehmen, weilwir in einer Gesellschaft leben, die dies mit den Ellen-bogen verdrängt. So steht der Jugendliche dann alleinda.
– Wissen Sie, damit müssen Sie mir nicht kommen.Mich können Sie nicht auf die Linie des Schröder/Blair-Papiers einschwören. Dies können Sie mit Herrn Schrö-der machen. Dies sage ich Ihnen ganz offen. Mir ist die-ses Papier egal.
Ich gehe Ihnen doch nicht auf den Leim. Ordnen Sie ersteinmal Ihr Parteiprogramm. Wenn Sie dies tun, dannwerden Sie auch wieder von den Wählern verstanden.Die Ereignisse der letzten Woche sind doch ein Belegdafür, daß Sie nicht mehr verstanden werden.Ich sage Ihnen: Die soziale Bindung zwischen Fami-lienangehörigen ist teilweise nicht mehr vorhanden. Dasgilt auch für die älteren Menschen. Ich stelle dies festund beklage es. Aber ich nehme es als Fakt hin; denn ichweiß, daß wir hier ansetzen und helfen müssen. Wirkönnen die Menschen nicht alleine lassen. Wer möchtedas schon?Die Einsamkeit der Menschen nimmt besonders starkdort zu, wo die Wertbindung verlorengeht. Eine solcheEinsamkeit bedeutet in einer Gesellschaft ohne persönli-che Verantwortung für den Nächsten – dies habe icheben schon deutlich gemacht – eine neue Dimension. Andiesem menschlichen Problem sollten wir uns orientie-ren. Wenn wir uns nur an Statistiken orientieren, werdenwir nichts verändern können.Heiner Geißler hat in den 70er Jahren ein Ergebnisder arbeitsteiligen Gesellschaft, die von Bindungslosig-keit und fortschreitender Materialisierung geprägt ist –diese Entwicklung möchte ich Ihrer damaligen Regie-rung gar nicht anlasten –, als „Neue Armut“ beschrie-ben. Dazu gehört auch die verschämte Armut, die hierangesprochen wurde und die unstrittig ist. Diese Armutkann nicht mit einer Statistik erfaßt werden. Wir könnenauch nicht die Höhe der Einkommen als Meßlatte fürdieses Phänomen nehmen. Dieses Problem läßt sich da-mit nicht sichtbar machen. Wenn wir die Statistik alsMeßlatte nehmen, dann werden wir viel Zeit vertun,einen großen Aufwand betreiben und anschließend inschlauen Büchern nachlesen, wie wir es anders machenkönnen. Sie sind doch mit mir der Meinung, daß das,was ich sage, richtig ist. Wenn dem so ist, dann benöti-gen wir auch keinen Armutsbericht, sondern können so-fort an die Lösung dieses Problems herangehen.Ihr Antrag geht ins Leere; denn Sie – dies haben Sie,Herr Gilges, eben ausgeführt – erfassen mit dem gefor-derten Bericht im Kern nur einen qualifizierten Satz vonDaten über die Verteilung von Armut und Reichtum.Dies ist die Kernaussage Ihres Antrags. Zu der Gruppe,die in den Berichten ausgeblendet ist – das hat der Kol-lege Peter Weiß eben deutlich gemacht –, gehören zumBeispiel jene Menschen, die trotz Rechtsanspruchs aufSozialhilfe nicht ihre berechtigten Ansprüche einfor-dern.
Sie werden von der Armutsforschung bisher nicht erfaßt.Dies ist die verdeckte Armut. Um diese sollten wir unskümmern. Hier sollte das Bundesministerium für Arbeitund Sozialordnung konkret ansetzen. Es sollte nicht nurMittel für Forschungsaufträge zur Analyse und Bekämp-fung der verdeckten Armut bereitstellen.
Es geht hier um Prävention. Ich bleibe dabei: Wir kön-nen unsere Kinder nur dort abholen und fördern, wo siestehen. Es geht um die Prävention vor Ort, ganz konkretin den Kommunen.
Heinz Schemken
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5225
(C)
(D)
– Ich weiß, Frau Rennebach, Sie betrachten die Proble-me mehr aus dem Blickwinkel einer Funktionärin, ichaus der eines Kommunalpolitikers.
Herr
Kollege Schemken, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bodewig?
Aber gerne. Bitte.
Ich möchte keine Frage an
den Funktionär des Kolping-Werks stellen, sondern an
den Bundestagskollegen. Herr Schemken, warum schaf-
fen Sie zwischen Ihrem Appell, mehr Menschlichkeit
durch persönliches Engagement in der Gesellschaft her-
zustellen – diesen Appell unterstützen wir alle –, und der
Erhebung von Daten über die Frage, wie Reichtum und
Armut in dieser Gesellschaft wirklich verteilt sind, einen
künstlichen Gegensatz?
Ich bin der Mei-
nung, daß eine Statistik, an der man die Verteilung von
Reichtum und Armut ablesen kann, lediglich ein Maß-
stab für Verteilung der Einkommensverhältnisse ist. Ich
möchte ein praktisches Beispiel anführen: Der Durch-
schnittsverdienst in Düsseldorf ist sicherlich höher als
der in Duisburg. Was möchte ich damit sagen? Mit einer
solchen Statistik werden Sie dem Anliegen, das ich
postuliere, nicht gerecht. Sie können die Probleme der
Menschen nur ganz konkret vor Ort lösen. Ich möchte
Ihnen auch erklären, warum dies so ist.
Die Bekämpfung und Prävention kann nur über
Nachbarschaftshilfe, über die Träger der Jugend- und
Familienhilfe und über die Einrichtungen der Kirchen
geschehen. Dazu gibt es in der Gesellschaft eines So-
zialstaates, wie wir ihn uns vorstellen, keinen alterna-
tiven Weg – es sei denn, der Staat richtet es. Ich kann
Ihnen sagen: Wenn er es richten soll, dann richtet er es
nicht. Er geht an dem Einzelschicksal vorbei, obwohl
das Problem gerade dort und nicht bei der großen Zahl
beginnt.
Wir sollten hier lieber Beispiele darüber zusammen-
tragen, was in den Kommunen zwar sehr unterschied-
lich, aber mit viel Erfolg geschieht. Dort gibt es ehren-
amtlich Tätige, auch wenn es an der finanziellen Aus-
stattung fehlt. Es gibt in der Stadtteilarbeit den Ganz-
heitsansatz. Man beginnt bei der Familie, bei Vater und
Sohn, und möglicherweise sind auch die Nachbarn da-
bei. Anders ist eine Lösung der Probleme nicht möglich,
weil wir in einer anonymen Gesellschaft leben. Es geht
einmal darum, die Frage der Armut aufzugreifen. Es
geht darüber hinaus darum, die Notsituation zu bewälti-
gen, die sich aus der langen Zeit der Armut ergibt. Das
ist das Besondere dieses Ansatzes.
Herr
Kollege Schemken, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum
Schluß.
Es geht um dringende Hilfen. Helfen Sie uns dabei,
das Sparpaket nicht Wahrheit werden zu lassen! Einer
mittelständischen Stadt wie der, aus der ich komme,
wird 1 Million DM durch die Einsparungen beim Unter-
haltsvorschuß genommen. Für Wohngeld in der Sozial-
hilfe fehlen der Stadt 4 Millionen DM. Ich weiß nicht,
wie unsere Stadt auf dem guten Weg, unmittelbar an die
Menschen heranzukommen, präventiv tätig zu sein und
die Menschen vor Armut zu schützen, angesichts dieser
Einsparungen von 5 Millionen DM weiterkommen soll.
Den eingeschlagenen Weg fortzuführen sollte unser An-
satz sein – ganz praktisch, direkt, mit wenig Aufwand.
Schönen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 14/999 und 14/1069 sowie14/1213 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jür-gen Rüttgers, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zum verbesserten Schutz derBundeswehr vor Verunglimpfung– Drucksache 14/985 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/1632 –Berichterstattung:Abgeordnete Alfred HartenbachNorbert GeisDr. Wolfgang GötzerJörg van EssenNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Werner Siemann von der CDU/CSU-Fraktiondas Wort.Heinz Schemken
Metadaten/Kopzeile:
5226 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen! Liebe Kollegen! Nachdem es Verteidigungsmi-nister Scharping leider nicht gelungen ist, entgegen derihm gegebenen Zusage die radikalen Ad-hoc-Kürzungenim Verteidigungshaushalt zu verhindern, und da derBundeswehr in materieller Hinsicht die Aushöhlungdroht, dürfen wir nicht auch noch zulassen, daß ihr aufideeller Ebene das gleiche Schicksal widerfährt.
Das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ wird re-gelmäßig bei feierlichen Gelöbnissen in der Öffentlich-keit gerade von denen benutzt, die die Soldaten und ihreAngehörigen mit Diffamierungen treffen wollen und diewissen, daß sie dabei straffrei ausgehen. Damit unter-graben sie das Grundgesetz. Sie erschleichen sich denSchutz der Meinungsfreiheit, um straffrei Hetze gegendie Soldaten betreiben zu können. Die hinter der Mei-nungsfreiheit stehenden Intentionen können jedoch nichtsein, denjenigen Tür und Tor zu öffnen, die die Funkti-onsfähigkeit einer Verfassungsinstitution zu schwächenversuchen.
Es wäre naiv und weltfremd, der Mehrheit dieserDemonstranten hehre Ziele zu unterstellen. Ihnen gehtes in der Masse nicht darum, die moralische Abscheuvor dem Krieg zum Ausdruck zu bringen; vielmehr sol-len durch bösartige Verleumdungen die Soldaten belei-digt und die Bundeswehr in ihrem Ansehen geschädigtwerden.Der Soldaten-sind-Mörder-Beschluß des Bundesver-fassungsgerichts vom August 1994 hat zu großer Verun-sicherung und auch zu Bestürzung innerhalb der Bevöl-kerung geführt; denn durch diese Entscheidung entstandder Eindruck, Bundeswehrsoldaten könnten straflos alsMörder bezeichnet werden. Daß dem nicht so ist, wirdleider viel zuwenig publiziert.
Vor diesem Hintergrund ist die derzeitige Regelungunzureichend und änderungsbedürftig. Mit Nachdrucktreten wir für eine Klarstellung dieser Fehlinterpretationein und fordern die staatliche Sanktionierung von ver-leumderischen Äußerungen über Bundeswehrsoldaten.Unser Gesetzentwurf dient nicht nur der Verbesserungdes Schutzes der Bundeswehr vor Verunglimpfung, son-dern ist zugleich auch ein wichtiges Zeichen für die Sol-daten und ihre Familien.Allein im Kosovo setzen zur Zeit 4 758 deutsche Sol-datinnen und Soldaten tagtäglich ihr Leben ein, umMenschen zu helfen, die von Terror, Aggression undVertreibung bedroht sind.
Sie leisten einen Dienst an der Menschlichkeit. Wie in-fam klingt da der Vorwurf, sie seien Mörder. Wie mußes auf die Soldatinnen und Soldaten sowie ihre Famili-enangehörigen wirken, wenn sie bei Gelöbnissen undanderen vergleichbaren Anlässen bösartigen Verleum-dungen und Ehrkränkungen ausgesetzt sind?
Während unsere Soldaten im Einsatzland als Befreiergefeiert und verehrt werden, sollen sie bei uns zu Hausebeschimpft und verachtet werden dürfen? Das kann dochwohl nicht richtig sein.
Anschließend verlangen wir dann von denselben Sol-daten, die als Mörder tituliert wurden und die wir bis-lang nicht effektiv vor diesen Diffamierungen schützenkonnten, hochmotiviert und voller Idealismus ihrenDienst zu verrichten.
Daß sie dabei im Rahmen von friedenserhaltenden undfriedensschaffenden Maßnahmen ihr Leben aufs Spielsetzen müssen, um die Menschen im Einsatzland vorwirklichen Mördern zu schützen, soll dann als selbstver-ständlich vorausgesetzt werden.Unser Grundgesetz verpflichtet zum Wehrdienst. In-sofern haben die Wehrpflichtigen eine Sonderstellung.Daher besteht für den Gesetzgeber eine besondereSchutzverpflichtung gegenüber denen, die dieser Ver-pflichtung nachgekommen sind und in Zukunft nach-kommen werden. Wir, dieses Parlament, und kein ande-rer tragen dafür Verantwortung, daß das Ansehen unse-rer Soldaten nicht verletzt wird und die Einsatzfähigkeitder Bundeswehr gewahrt bleibt.Die Bundeswehr leistet einen aktiven, wertvollen undunverzichtbaren Friedensdienst. Aus aller Welt errei-chen uns Bitten, Wünsche und Forderungen, die Bun-deswehr möge helfen. Unsere Soldaten dienen demFrieden und schützen die oft völlig wehr- und schutzloseZivilbevölkerung vor Mördern.
Soldaten verhindern die Ermordung von Menschen, al-len voran die Soldaten der Bundeswehr, die sich in derVergangenheit gerade auch bei humanitären Einsätzenbestens bewährt haben.
Zur Zeit wird die Entsendung von 50 Bundeswehrsa-nitätern nach Osttimor erwogen, um im Rahmen derUNO-Mission Interfet den Menschen zu helfen. Auchdies ist ein weiterer Beleg für den Friedensdienst unsererArmee.
Das Bild des Soldaten hat sich gewandelt. Es wirdZeit, die Gesetzeslage den geänderten Verhältnissen an-zupassen. Daher müssen die Soldaten der Bundeswehr
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5227
(C)
(D)
stärker als in der Vergangenheit vor Beleidigung undVerunglimpfung geschützt werden.
Die materielle und finanzielle Ausstattung der Bun-deswehr ist mehr als bescheiden. Eine Aussicht aufBesserung ist nicht in Sicht. Das Ansehen der Bundes-wehr kann indes ohne großen Aufwand besser als bishergeschützt werden. Daher appelliere ich an Sie, meineDamen und Herren, unserem Gesetzentwurf zuzustim-men.
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Joachim Stün-
ker von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Ge-
setzentwurf beschäftigt das Hohe Haus nicht zum er-
stenmal. Ein Gesetzentwurf gleichen Inhaltes wurde
schon 1996 von der alten Koalition hier eingebracht.
Er ist dann Ende 1996 stillschweigend beerdigt worden,
weil Sie damals für Ihren eigenen Gesetzentwurf keine
Mehrheit hatten.
Dieses geschah aus gutem Grund, weil der Entwurf
rechtspolitisch schlichtweg überflüssig ist. Sie, Herr
Siemann, haben es, wie ich denke, genauso gelernt wie
ich, daß hier der alte Rechtsgrundsatz gilt: Was über-
flüssig ist, ist falsch.
Wäre die Verunglimpflichung und die Verletzung der
Ehre von Bundeswehrsoldaten und der Funktionstaug-
lichkeit der Bundeswehr als solcher in unserem Land
tatsächlich nicht strafrechtlich geschützt, es bestände
unzweifelhaft gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Die-
ses würde allein der von der Verfassung konzipierte
Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der
Menschenwürde gebieten, ein Schutz, der Selbstver-
ständlich auch für die Staatsbürger in Uniform gilt.
Weiter würde es die Gewährleistung der Landesvertei-
digung gebieten.
Also fragen wir uns: Wie ist eigentlich die geltende
Rechts- und Gesetzeslage?
– Die scheinen Sie nicht zu kennen, Herr Kollege Geis. –
In den Paragraphen 185ff StGB werden Beleidigung, üble
Nachrede und Verleumdung unter Strafe gestellt.
An dieser eindeutigen Rechtslage hat sich durch den Be-
schluß des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober
1995, der in der Öffentlichkeit so heftig diskutiert und
politisch über das Maß des Erträglichen hinaus polemi-
siert wurde, nichts, aber auch gar nichts geändert, Herr
Kollege Siemann.
Wer dies behauptet, hat die Entscheidung entweder nicht
gelesen, nicht verstanden oder bewußt mißverstanden.
Wir alle wissen: Es ging und es geht dabei um Äuße-
rungen wie „Soldaten sind Mörder“ und „Soldaten sind
potentielle Mörder“. Das Bundesverfassungsgericht
hat die Gleichstellung von Bundeswehrsoldaten mit
Mördern ausdrücklich für nicht zulässig erklärt.
Der Entscheidung liegen vielmehr drei tragende Erwä-
gungen zu Grunde, die ich gerne erläutern möchte –
Herr Siemann hat dazu gerade aufgefordert –: Erstens.
Das Bundesverfassungsgericht hat in Übereinstimmung
mit den Strafgerichten in der wertenden Gleichstellung
eines Soldaten mit einem Mörder eine tiefe Kränkung
gesehen. Die umstrittenen Äußerungen müssen im Ein-
zelfall diesen Sinn aber auch wirklich gehabt haben.
Zweitens. Art. 5 Abs. 2 GG erlaubt Beschränkungen
der Meinungsfreiheit zum Schutz der persönlichen Ehre.
Ich wiederhole – so steht es in der Verfassung –: der
persönlichen Ehre. Deshalb müssen die herabsetzenden
Äußerungen einzelne Personen betreffen. Aber auch in
Äußerungen über ein Kollektiv kann unter Umständen
ein Angriff auf die persönliche Ehre seiner Mitglieder
liegen. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich
bestätigt und klargestellt, daß die aktiven Soldaten der
Bundeswehr ein derartiges Kollektiv bilden.
Drittens. Kommt es zu einem Konflikt zwischen
Meinungsfreiheit und Ehrenschutz, so muß eine Abwä-
gung zwischen der Schwere der Beeinträchtigung vor-
genommen werden, die jedem der beiden Rechtsgüter
droht.
Herr
Kollege Stünker, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Breuer?
Nein, ich möchte meineRede im Zusammenhang vortragen.
Werner Siemann
Metadaten/Kopzeile:
5228 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Hierbei sind die Umstände des Einzelfalles abzuwä-gen. Der Abwägung bedarf es dann nicht mehr, wenn essich bei der Äußerung um eine Schmähkritik handelt. Indiesen Fällen geht der Ehrenschutz immer der Mei-nungsfreiheit vor.
Diese Abwägungsschritte muß der Strafrichter bei je-der Beurteilung, in jedem Einzelfall vornehmen. Dasmag kompliziert klingen, und das ist es für den Laien si-cherlich auch. Aber seien Sie gewiß: Das können dieGerichte, das ist erlernte Subsumtionstechnik, das istPraxis seit 50 Jahren, seit Geltung des Grundgesetzes indiesem Land.
Lassen Sie mich daher den vorigen Bundespräsiden-ten, einen ja nicht gerade unbedeutenden Verfassungs-rechtler in unserem Land, zitieren, bei dem ich 1967 ander Freien Universität in Berlin Staats- und Verfassungs-recht gelernt habe.
Er hat unter Bezugnahme auf den obengenannten Be-schluß vor Kommandeuren der Bundeswehr kurz nachVeröffentlichung dieses Beschlusses gesagt:Es kann bestraft werden, wer konkrete Soldateneinfach deshalb, weil sie Soldaten sind, als Mörderbezeichnet, und es kann sogar bestraft werden, werdie Bundeswehr als Ganzes – also immerhin einenKreis von– damals noch –340 000 Personen – als Mörder bezeichnet.So Roman Herzog.Es bleibt deshalb die Frage, meine Damen und Her-ren von der CDU/CSU und der F.D.P. – denn Sie wollendem Entwurf ja auch zustimmen –: Was wollen Sie mitdem Gesetzentwurf rechtspolitisch erreichen?
– Ich habe ihn sehr wohl gelesen, Herr Geis. Ich habe inmeinem Beruf gelernt, erst zu lesen und dann zu reden.Das scheint bei Ihnen nicht der Fall zu sein.
In der Begründung heißt es, „die Verunglimpfungenvon Bundeswehrangehörigen“ sollen „pönalisiert“ wer-den, „sofern jene geeignet sind, das Ansehen der Bun-deswehr oder ihrer Soldaten in der öffentlichen Meinungherabzuwürdigen“.
Auf den Ehrschutz habe ich eben hingewiesen. Esgibt aber noch § 109 d StGB unter der Überschrift„Straftaten gegen die Landesverteidigung“. Diese Vor-schrift stellt bereits heute die Störpropaganda gegen dieBundeswehr – den Fall, daß jemand unwahre oder ver-zerrte Behauptungen über die Bundeswehr aufstellt unddamit ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigt – unterStrafe, immerhin mit einer Strafandrohung von maximalfünf Jahren Freiheitsstrafe.Was bezweckt also die von Ihnen beabsichtige Ein-führung von § 109 b StGB? Es tut mir leid,
– Herr Geis, es tut mir leid, weil ich nicht gedacht hätte,daß Sie so weit gehen würden –, daß ich nach einerrechtlichen Prüfung nur antworten kann: Was Sie vorha-ben, ist der Versuch, das einzuschränken, was das Bun-desverfassungsgericht als ein klares konstitutives Ele-ment der Demokratie bezeichnet, nämlich das hohe Gutder Meinungsfreiheit.
Genau das werden wir nicht zulassen. Es muß auch indiesem Staat möglich sein, extrem pazifistische Äuße-rungen polemisch von sich zu geben. Wir sind davonüberzeugt: Das hält unsere Demokratie aus,
genauso wie Weimar 1932 das Ossietzky-Urteil aus-gehalten hat.
Herr
Kollege Stünker, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ja, ich komme zumSchluß.Eine abschließende Überlegung. Mit der von Ihnenbeabsichtigen Einführung von § 109 b StGB werdenSie Art. 5 des Grundgesetzes und den Schutz der freienMeinungsäußerung im Rahmen der hierzu entwickel-ten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtesnicht außer Kraft setzen können. Das einfache Rechtbricht nicht Verfassungsrecht. Was heißt das? WennIhre Regelung in Kraft treten würde, würden Sie dieProbleme nur nach untern, auf die Gerichte verlagern,die dann mit einem Gesetz zu tun hätten, das meinesErachtens nicht handhabbar wäre. Das wollen wir ver-hindern.Schönen Dank.
Joachim Stünker
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5229
(C)
(D)
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich bin, so glaube ich, zum viertenMal Redner meiner Fraktion zu diesem Thema. Deshalbliegt es nahe, daß ich ein Resümee ziehe. In diesem Zu-sammenhang muß man feststellen, daß es in dieser De-batte immer wieder Stereotypen gibt. Es lohnt sich, ein-mal nachzuschauen, inwieweit sie eigentlich zutreffenoder nicht zutreffen.Es wird zum Beispiel immer wieder die Behauptungaufgestellt, schon nach dem geltenden Recht könne je-derzeit eine Beleidigung von Bundeswehrsoldaten straf-rechtlich verfolgt werden. Diese Aussage ist zunächsteinmal für sich genommen richtig, weil wir ja Beleidi-gungsvorschriften haben, die jedermann und damit auchdie Soldaten der Bundeswehr schützen. Wer aber einwenig mit der Praxis zu tun hatte – ich war sehr langeZeit für diesen Bereich zuständig –, der weiß, daß daseine Behauptung ist, die von der Wirklichkeit nicht ein-mal andeutungsweise gedeckt wird.
Der Grund dafür ist einleuchtend: Personen beleidi-gen bewußt und vorsätzlich die Bundeswehr, weil es ih-rer politischen Überzeugung entspricht. Obwohl ich ihreMeinung nicht teile, habe ich Respekt davor. Wenn aberein Ermittlungsverfahren gegen diese Personen einge-leitet wird, dann ziehen sie sozusagen die Karte, indemsie sagen: Ich habe mit der Aussage „Soldaten sindMörder“ nicht die Bundeswehrsoldaten gemeint. DieseAussage entspricht meiner allgemeinen pazifistischenAuffassung, die ich damit zum Ausdruck gebracht habe.Auf Grund der Fälle, mit denen ich befaßt war, kann ichsagen: Wenn diese Karte gezogen wird, dann wird dasErmittlungsverfahren eingestellt.
Mit diesem Sachverhalt müssen wir uns beschäftigen. Erentspricht doch der Realität.
Obwohl es kein Straftatbestand ist, müßte man mög-licherweise wegen Dummheit bestraft werden, wennman nicht zu dieser Karte im Falle eines drohenden Er-mittlungsverfahrens greifen würde. Machen wir unsdoch nichts vor: Das tun doch alle in diesem Fall. Es ge-hört zur Ehrlichkeit in dieser Diskussion, darauf hinzu-weisen.
Die zweite Frage, die wir beantworten müssen, lautet:Singen wir eigentlich das Hohelied der Meinungsfrei-heit immer gleich? Wenn Personen vom rechten Randdes politischen Spektrums ihre politischen Gegner dif-famieren – zum Beispiel nationale oder sexuelle Min-derheiten –, dann bildet sich sofort eine große Koalition– ich bin froh, daß es so ist –, die sagt: Das kann nichthingenommen werden; dagegen muß eingeschrittenwerden. Ich bin froh darüber, daß es so ist. Aber wennwir auf der anderen Seite des politischen Spektrums Per-sonen haben,
die das gleiche, möglicherweise sogar mit gleichenFormulierungen, machen gegen diejenigen, die sie poli-tisch nicht akzeptieren – dazu gehören nun einmal dieSoldaten der Bundeswehr –, hören wir unglaublich viele,die das Hohelied der Meinungsfreiheit singen.
– Nein, Herr Beck, ich gestatte Ihre Zwischenfragenicht.
Wer, wie ich, lange Zeit im Bereich der Strafverfol-gung mit politischem Hintergrund tätig war, weiß, daßes da zum Teil groteske Vorgänge und sehr unterschied-liche Beurteilungen gleicher Vorgänge gibt.Die letzte Bemerkung, die ich machen möchte – weilmir leider nur noch 30 Sekunden Zeit bleiben –: Wirmüssen hier, wie ich finde, eine der Verfassung gemäßeAbwägung zwischen zwei Dingen vornehmen: demRecht auf Meinungsfreiheit auf der einen Seite – einhohes Gut in einer Demokratie; gerade Liberale schätzendieses Gut besonders hoch ein – und dem, ebenfalls vonder Verfassung geschützten, Recht auf Ehre und Men-schenwürde auf der anderen Seite.Nach meiner Auffassung haben wir bei dieser Abwä-gung hier einen vernünftigen Weg gefunden. Nicht jedeeinfache Beleidigung wird unter Strafe gestellt. Deshalbbleibt es zum Beispiel hier beim Strafantragserfordernis.Es bleibt auch bei der Abwägung, die das Bundesverfas-sungsgericht vorgenommen hat. Verunglimpfung dage-gen bedeutet einen besonders hohen Grad der Beleidi-gung.
Sie ist auch systematisch durchaus richtig angesie-delt. Der Kollege Stünker hat heute ein Argument nichtwiederholt, das wir in den vergangenen Debatten gehörthaben. Er hat zu Recht auf § 109 d Strafgesetzbuch hin-gewiesen, in dem wir Fälle der Störpropaganda gegendie Bundeswehr geregelt haben, was auch von der Ein-ordnung her paßt. Ich glaube, daß wir hier eine vernünf-tige Abwägung vorgenommen haben.Ich glaube auch, daß wir genau das machen, was dasBundesverfassungsgericht immer von uns fordert. Wennwir mit dem einen oder anderen Urteil nicht zufriedensind, sagen uns die Richter: „Macht doch ein anderesGesetz! Dann nehmen wir eine Abwägung vor.“ Genau
Metadaten/Kopzeile:
5230 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
dieser Auffassung bin ich. Wir machen hier einen Ge-setzgebungsvorschlag, der das Bundesverfassungsge-richt dazu bringt, eine neue Abwägung vorzunehmen.Ich halte das für richtig. Deshalb wird die F.D.P.-Bundestagsfraktion dem besseren Schutz der Soldaten,den diese verdient haben, zustimmen.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Volker Beck
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lauter alte
Bekannte treffen wir hier im Plenum.
Die Wiedervorlagemappe der Union scheint wirklich
unerschöpflich zu sein. Aber so richtig ernst können Sie
Ihre Vorlage ja nicht nehmen: Sie haben sie uns bereits
im Jahre 1996 präsentiert. Damals haben Sie das nicht
weiterverfolgt, weil Ihr Koalitionspartner nicht mitge-
macht hat.
Heute sehe ich in der Gruppe der F.D.P., die anwesend
ist, keine Liberalen.
Aber Sie können ja mit Sicherheit davon ausgehen, daß
das nicht ins Gesetzblatt kommt.
Es besteht keinerlei Bedürfnis nach einem zusätz-
lichen strafrechtlichen Schutz der Bundeswehrsolda-
ten. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt – das
wurde schon betont –: Strafgerichte sind bereits heute
nicht daran gehindert, herabsetzende Meinungsäußerun-
gen, zum Beispiel schwere Kränkung, zu bestrafen,
wenn diese auf Soldaten der Bundeswehr als überschau-
bare Gruppe bezogen sind. Eine Beleidigung von Sol-
daten der Bundeswehr ist nach § 185 StGB straf-
bar. Aber Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der Unions-Fraktion, wollen offenbar jegliche gegen
Soldaten gerichtete dümmliche Äußerung unter Strafe
stellen.
Wir sind uns hier im Haus einig: Bundeswehrsoldaten
sind keine Mörder.
Was könnten wir Besseres für ihre Ehre tun, als uns als
demokratische Politiker vor ihre Armee zu stellen und
diese, wie es sich gehört, in der demokratischen Ausein-
andersetzung zu verteidigen? Wir brauchen nicht zu al-
lem das Strafrecht in der politischen Auseinanderset-
zung.
Herr Geis, wenn jeder Blödsinn bestraft würde, wür-
de ich mir Sorgen um Ihre Fraktion machen, denn dann
würde sie demnächst als kriminelle Vereinigung verbo-
ten!
Herr van Essen, es ist einfach nicht korrekt, was Sie
vorhin gesagt haben. Niemand in diesem Haus hat einen
besonderen strafrechtlichen Schutz zum Beispiel für be-
stimmte Minderheiten gefordert. Sie finden einen sol-
chen besonderen Schutz auch nicht im Strafrecht.
Volksverhetzung ist verboten. Ansonsten muß jeder An-
gehörige einer Minderheit als Einzelperson beleidigt
worden sein,
um einen strafrechtlichen Schutz für sich einfordern zu
können.
Meine Damen und Herren, wie oft kommt es immer
noch vor, daß aufopferungsvoll arbeitende junge Männer
etwa im Bereich der Alten- oder Krankenpflege, die Zi-
vildienstleistenden, als Drückeberger beschimpft wer-
den?
Käme jemand auf die Idee, das zu einem Fall für die
Strafjustiz zu machen? Das ist Unsinn. Das weisen wir
zurück, und damit ist es auch gut.
Weder Zivildienstleistende noch Bundeswehrsoldaten
sind aus Zuckerwatte. Wenn wir gemeinsam solche Äu-
ßerungen zurückweisen, reicht dies aus.
Da, wo individuell jemand beleidigt wurde oder wo ge-
hetzt wurde, muß der Strafrichter einschreiten, aber
nicht bei jeder Äußerung, die weit darunterliegt.
HerrKollege Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage desKollegen Nolting?Jörg van Essen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5231
(C)
(D)
Im Gegensatz zu Ihrem Kollegen van Essen bin ich so
kulant.
Herr Kollege
Beck, würden Sie uns einmal den Unterschied zwischen
dem Begriff „Mörder“ und dem Begriff „Drückeberger“
erklären?
Natürlich besteht da ein Unterschied, den ich Ihnen aber,
glaube ich, nicht erklären muß, weil er so offensichtlich
ist.
Beides jedoch ist in gleicher Weise beleidigend und
herabsetzend gemeint. Sie schreiben in Ihr Gesetz ja
nicht hinein, der Satz: „Soldaten sind Mörder“ ist straf-
bar, sondern Sie wollen jede herabwürdigende Äußerung
bestrafen. Damit sind wir auch bei Begriffen wie „Drük-
keberger“, Begriffen also, die unter dem liegen, was Sie
hier zur Diskussion stellen.
Natürlich ist auch dieser Begriff herabsetzend, wenn
Sie sehen, was für einen aufopferungsvollen Dienst die
Leute leisten. Ich finde es auch absurd, daß Sie mit sol-
chen Gegenüberstellungen kommen, wodurch Sie insi-
nuieren, wir wollten das auf eine Ebene heben. Wir wei-
sen beides gleichermaßen zurück. Natürlich ist das eine
ein schärferer Vorwurf. Aber Sie differenzieren in Ihrem
Gesetz nicht nach schärferen und weniger scharfen
Vorwürfen. Sie wollen jede Schmähkritik verbieten.
Ich meine, eine solche muß man zurückweisen, sollte sie
aber nicht verbieten.
Wen wollen Sie eigentlich beglücken, Herr Geis? Der
Deutsche Bundeswehrverband hat selbst kein Interesse
an diesem strafrechtlichen Schutz. Das ist ein reines
Wahlkampfmanöver.
Ich finde es auch schofel, wie Sie hier vorgegangen
sind. Unsere Soldaten leisten gegenwärtig im Kosovo
eine sehr schwierige Aufgabe. Wir alle hoffen, daß ih-
nen nichts zustößt – ihr Leib und Leben setzen sie jeden
Tag für Frieden und für Menschenrechte ein –;
das ist unser aller Sorge als Parlamentarier; denn wir
tragen die Verantwortung, weil wir sie dort hingeschickt
haben.
In dieser Situation eine billige parteipolitische Suppe
wie mit diesem Gesetzentwurf zu kochen, das ist der ge-
genwärtigen Situation nicht angemessen. Wir lassen un-
sere Soldaten nicht im Regen stehen. Wir wollen, daß da
unten niemandem etwas passiert. Aber hier mit straf-
rechtlichen Forderungen zu kommen ist einfach Blöd-
sinn. Deshalb sage ich Ihnen: Lassen Sie diese Debatte
ruhen. Lassen Sie uns gemeinsam denjenigen entgegen-
treten, die mit unqualifizierter Kritik in die Debatte ge-
hen.
Sie erwecken mit der heutigen Debatte den Eindruck,
als ob es zwischen den demokratischen Parteien da ei-
nen Dissens gäbe.
Das ist für die politische Atmosphäre in unserem Land
in der Tat ein Schaden, den wir eigentlich vermeiden
sollten.
Vielen Dank.
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Jünger von der PDS-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Es wird Sie vermutlich nicht überra-schen, daß wir den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion ablehnen.
Er ist unnötig, sinnlos und – wie Ralph Giordano schon1996 zu diesem Thema schrieb – „von allen legislativenKröpfen der bundesdeutschen Justizgeschichte der über-flüssigste“.
Die CDU/CSU-Fraktion hat ihren verstaubten Ent-wurf aus der letzten Wahlperiode hier mitten im Koso-vo-Krieg eingebracht. Damit wollte sie wohl diese Zeitnutzen, um sich in der Öffentlichkeit und vor allem bei
Metadaten/Kopzeile:
5232 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
den Soldaten als Oberpatrioten und Verteidiger der Sol-datenehre aufzuspielen.Ich denke, daß wir für Soldaten keinen besonderenEhrenschutz brauchen. Die bestehenden Regelungen imStrafgesetzbuch reichen völlig aus.
– Da war ich aber nicht drin. Das können Sie mir glau-ben. Ich bin erst 26. Rechnen Sie einmal nach!Ich bin aber der Meinung, daß es ein Recht auf Mei-nungsfreiheit gibt und daß Soldaten in einer demokrati-schen Gesellschaft damit leben können müssen, wennjemand eine andere Auffassung über ihren Berufsstandund über das potentiell tödliche Kriegshandwerk ver-tritt.Krieg – das heißt nun einmal Morden, Verstümmelnund noch viel mehr Greueltaten, auch wenn Fernsehbil-der heutzutage tödliche Luftangriffe wie harmlose Vi-deospiele aussehen lassen und die Bomberpiloten ihreOpfer nicht mehr sehen, weil sie schon viele Kilometerentfernt sind, wenn die Bomben einschlagen. Das mußjedem und jeder klar sein. Gerade Soldaten als Staats-bürger in Uniform müssen diesen Tatsachen ins Augesehen und sich auch den Positionen der Gegnerinnenund Gegner ihres Metiers stellen.Herr Nachtwei hat in der ersten Lesung gesagt, dieSoldaten von heute seien ja unterwegs, um Mord undTotschlag zu verhindern. Aber das ist im Kosovo mitBomben versucht worden, oder etwa nicht? Aber gleich-zeitig mit dem neuen Auftrag und der neuen Rolle derBundeswehr wurde der deutschen Öffentlichkeit ja aucheine neue Sichtweise und ein neuer Sprachgebrauch na-hegelegt. Daß auch NATO-Luftangriffe tödlich sind –kein Thema! Und wenn dann ein vollbesetzter Linienbusoder ein Flüchtlingstreck von Bomben getroffen werden,dann heißt das in diesem Frühjahr auch in Deutschland„Kollateralschaden“. Nach dieser Logik, dieser Kriegs-logik, sind Soldaten heutzutage sowieso keine Mördermehr.
– Frau von Renesse, ich darf Sie an die Erklärung desGenossen Gysi zu 1968 erinnern. Wenn Sie mich fragen,kann ich Ihnen auch meine Position zum Einmarsch von1968 darlegen.
Das geht dann auf meine Redezeit; das werde ich jetztnicht mehr tun.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wennSie die Ehre von Soldaten wirkungsvoll schützen wol-len, dann sorgen Sie in Zukunft mit dafür, daß dieseMänner nicht im staatlichen Auftrag morden müssen.Das wäre weitaus sinnvoller, als unliebsame Zitate undParolen aus der Öffentlichkeit verbannen zu wollen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerd Höfer von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Wir sind uns in diesem Hau-se relativ schnell einig, wenn wir über die Bundeswehr-soldaten sprechen, indem wir das, was sie zur Zeit tun,loben und ihnen öffentlich Dank und Anerkennung aus-sprechen.
Auch das will ich ihnen heute nicht versagen.Wir sind uns in diesem Hause einig, daß die Bundes-wehrsoldaten Bürger in Uniform sind. Wir sind unsebenso einig, daß die Soldaten diese Rolle angenommenhaben und diese Rolle in diesem Staate hervorragendausfüllen.
Wir sind uns nicht einig, daß die Folgerungen juristi-scher Art, die mein Kollege hervorragend dargestellt hat,für die Soldaten als Bürger in Uniform noch zusätzlichergänzt werden müssen.
Die Soldaten sehen das ganz anders, weil ihre selbstbe-wußte Rolle es mit sich bringt, daß sie sich nicht durchAussprüche wie „Soldaten sind Mörder“ oder ähnlichesbeleidigen zu lassen brauchen und sie dadurch auchnicht beleidigt werden können.
– Das haben viele Soldaten auch Ihnen, Herr Breuer, beiden vielen Truppenbesuchen und bei den Besuchen derInstitutionen der Bundeswehr bestätigt, und auch Ihnenist bestätigt worden, zum Beispiel durch den Bundes-wehrverband,
daß diese Dinge nicht unbedingt notwendig sind.Nun hat mich mein alter Vater, weil er Kriminalbe-amter war, gelehrt, daß man, wenn irgend etwas passiert,nach dem Motiv fragen sollte. Also frage ich nach demMotiv für diese Debatte und stelle fest: Diese Art derDebatte – vor allem, wie sie Herr Siemann geführt hat –haben die Soldaten nicht verdient.
– Herr van Essen, es sind keine Stereotypen, die hierdargeboten werden, sondern es sind Rituale.
Sabine Jünger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5233
(C)
(D)
Was soll hier ritualisiert werden? – Hier soll ritualisiertwerden, wie Sie es versucht haben in dem Vergleich mitdem Hohelied der Meinungsfreiheit, daß man, je nach-dem, in welchem politischen Lager man stehe,
bestimmte Beleidigungen eher lieber höre als an-dere.
Diese Unterstellung weise ich zurück,
auch im Interesse Ihrer Partei, weil Ihre Parteilichkeit indiesem Bundestag dargestellt werden soll, denn die De-mokratie lebt auch von Parteilichkeit und unterschiedli-chen parteipolitischen Ansätzen. Da zu unterstellen, daßeinseitig das Hohelied der Meinungsfreiheit ausgenutztwird – in dem Sinne haben Sie es heute dargestellt –, isteinfach nicht akzeptabel.
Wenn ich bei der Suche nach einem Motiv bin undRituale feststelle, dann ist es ganz einfach: Das Motiv istdas Ritual. Gegenüber unseren Soldaten, die demokra-tisch kontrolliert sind, die ihre Aufträge von diesemParlament mit großer Mehrheit bekommen und die 80Prozent der Bevölkerung hinter sich wissen, soll hierherausgearbeitet werden: Da gibt es eine kleine Gruppe,die besser hinter ihnen steht als die anderen. Das ist derritualisierte Zweck der Übung, die heute zum zweiten-mal hier vorgeführt wird.
Ich habe Verständnis dafür, daß in der letzten Legis-laturperiode wegen besserer Einsicht ein Gesetzesvor-haben verschwunden ist. Ich habe jedoch kein Ver-ständnis dafür, dieses, nachdem die Rolle gewechseltwurde, wiederaufleben zu lassen, um mit billigerPolemik möglicherweise neues Wählerpotential auszu-schöpfen.
Diese Ritualisierung haben unsere Soldaten nicht ver-dient.
Sie haben es verdient, daß wir uns fürsorglich um siekümmern. Sie haben es verdient, daß derjenige, der sol-che beleidigenden Äußerungen wie „Mörder“ hört, denMut hat, diese unter Nennung der Person – falls er dazuin der Lage ist – strafrechtlich anzuzeigen. Dann ist einesolche Äußerung verfolgbar.Ich habe auf der entsprechenden Kommandeursta-gung neben dem Bundespräsidenten Herzog geses-sen, als dieses Zitat fiel. Er hat den aufgeregten Offizie-ren gesagt: Wenn einer diese Beschimpfung angezeigthätte, wäre sie verfolgt und strafrechtlich relevant ge-worden.
Das gilt heute nach wie vor. Die Tatsachen ändern sichdurch die Art und Weise Ihres Verhaltens hier nicht.Lassen Sie uns wieder auf den Boden zurückkehren,unseren Job in Gelassenheit tun, unseren Soldaten für-sorglich gegenüberstehen und dafür sorgen, daß dieBundeswehr ihren Auftrag erfüllen kann. Bei den Sol-daten wird es durch diese Debatte mit Sicherheit zu kei-ner Aushöhlung der Verteidigungsfähigkeit kommen.Darauf werden insbesondere die Soldaten selber achten.Ich glaube nicht, daß diese Debatte geeignet ist, die Mo-tivation der Soldaten zu stärken – eher andersherum.
Als
nächster und vermutlich letzter Redner zu diesem Ta-
gesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Dr. Wolf-
gang Götzer von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! UnsereSoldaten riskieren ihr Leben beim Einsatz für Friedenund Menschenrechte im Kosovo. Ihr Dienst ist ethischnicht nur gerechtfertigt, sondern auch aus Gründen derHumanität notwendig. Unsere Soldaten retten undschützen Leben. Trotzdem kommt es immer wieder zuVerunglimpfungen der Bundeswehr. Das kann unsnicht gleichgültig lassen. Schon gar nicht dürfen wir eshinnehmen, daß unsere Soldaten als Mörder bezeichnetwerden können.
Leider haben zwei Entscheidungen des Bundesver-fassungsgerichts gezeigt, daß der Schutz der Bundes-wehr und ihrer Soldaten vor Verunglimpfung in be-stimmten Fällen durch das geltende Recht nicht ausrei-chend gewährleistet ist.
– Verehrte Kollegen von der Regierungskoalition, ichwerde darauf eingehen. – Das sind die Fälle, in denenunter vorgeblicher Berufung auf radikalpazifistische Po-sitionen in Wirklichkeit bewußte Ehrverletzungen be-gangen werden.Diese beiden Entscheidungen sind in der deutschenÖffentlichkeit heftig kritisiert worden. Aber auch inner-halb des Ersten Senats gab es gravierende Meinungsver-schiedenheiten, wie das Abstimmungsergebnis 5 : 3 unddas Sondervotum der Richterin Haas zeigen.Sogar Bundespräsident Roman Herzog befaßte sich inseiner schon erwähnten Rede vor den Kommandeurender Bundeswehr im November 1995 in München damitund nannte die Debatte „unglückselig“. Er sah sich, wieGerd Höfer
Metadaten/Kopzeile:
5234 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
die „Welt“ treffend schrieb, in die merkwürdige Rollegezwungen, als das Verfassungsorgan Bundespräsidentdas Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht zu in-terpretieren. Entscheidend sei, so Bundespräsident Her-zog damals – das alles haben Sie heute, soweit Sie denBundespräsidenten Herzog zitiert haben, nicht erwähnt –,was die Strafgerichte aus den Richtlinien des Verfas-sungsgerichtes machten.Was hat das Landgericht Mainz, an das das Verfahrenzurückverwiesen wurde, gemacht? Der VorsitzendeRichter erklärte, durch den Karlsruher Spruch sei derHandlungsspielraum seines Landgerichts fast auf Nulleingeschränkt worden. Er konnte den Angeklagtenpraktisch nur freisprechen und entschuldigte sich dafürbei den Bundeswehrangehörigen.
– Sie stellen Ihren Richterkollegen ein trauriges Urteilaus, Kollege Stünker.Um diesem nur sehr schwer erträglichen Zustand ab-zuhelfen, hat die Union in dieser Wahlperiode erneutden vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht.
Daß dies notwendig und richtig ist, werte Frau Kollegin,hat die Mehrzahl der Sachverständigen in der Anhörungdes Rechtsausschusses 1996 bestätigt.
Herr
Kollege Götzer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Nein, ich
möchte, daß Sie jetzt zuhören. Dann verstehen Sie viel-
leicht, um was es uns geht. Dann wird vielleicht auch Ih-
re Frage überflüssig.
Ist Ihnen denn bekannt oder haben Sie vergessen, daß
der Verteidigungsausschuß nach der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts mit den Stimmen der SPD
das Parlament aufgefordert hat, tätig zu werden?
Der Schmähruf „Soldaten sind Mörder“ ist nicht nur
eine Kränkung, wie das Bundesverfassungsgericht
meint, sondern er verletzt die Ehre unserer Soldaten und
ihrer Familien zutiefst. Er verunglimpft das Ansehen der
Bundeswehr insgesamt. Das darf nicht straflos bleiben.
Ich habe nicht den Eindruck, werte Kolleginnen und
Kollegen, daß wir in einer Zeit leben, in der die Mei-
nungsfreiheit zu kurz kommt. Gerade auch die Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts zieht die
Grenzen hierfür immer weiter. Ich glaube, es ist viel-
mehr an der Zeit, dem Ehrenschutz wieder mehr Ge-
wicht zu verleihen.
Herr Kollege Stünker von der SPD, wenn Sie vorhin
das Jahr 1932 als Beispiel für praktizierte sinnvolle To-
leranz angeführt haben, dann muß ich Ihnen sagen: Das
war ein Eigentor, das Sie geschossen haben.
Auf das Jahr 1932 folgt das Jahr 1933. Die Machtüber-
nahme der Nazis war mit entscheidend auf die falsche
Toleranz gegenüber den Extremisten von rechts und
links in der Weimarer Republik zurückzuführen.
Unsere Soldaten haben einen Anspruch auf den
Schutz durch unsere Rechtsordnung. Wir wollen mit un-
serem Gesetzentwurf ein Zeichen setzen, werte Kolle-
ginnen und Kollegen. Bei aller Heftigkeit in der politi-
schen Auseinandersetzung um die Bundeswehr gibt es
Grenzen, die nicht ungestraft überschritten werden dür-
fen. Das sind wir unseren Soldaten schuldig.
Ich kann beim besten Willen die Argumentation der
SPD nicht verstehen, die allen Ernstes unseren Entwurf
unter anderem mit der Begründung ablehnt, damit wür-
den die Soldaten isoliert. Das Gegenteil ist richtig.
Wenn wir uns nicht uneingeschränkt und demonstrativ
hinter unsere Soldaten stellen, werden sie sich allein
gelassen fühlen.
Die von Rotgrün geplanten finanziellen Kürzungen
führen zur militärischen Demontage unserer Bundes-
wehr. Ich frage Sie: Soll jetzt durch die Hinnahme der
Verunglimpfung unserer Soldaten auch noch die morali-
sche Demontage kommen? Mit uns nicht!
Frieden und Freiheit verdanken wir nicht denen, die
mit Schmähplakaten unsere Soldaten verunglimpfen,
sondern zu einem wesentlichen Teil denen, die mit ih-
rem Dienst an der Waffe die Sicherheit unseres Landes
und seiner Verfassung vor äußerer Bedrohung garantie-
ren.
HerrKollege Götzer, kommen Sie bitte zum Schluß.Dr. Wolfgang Götzer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5235
(C)
(D)
Ich komme zum
Schluß, Herr Präsident.
Lassen Sie mich aus dem Sondervotum der Verfas-
sungsrichterin Haas aus der fraglichen Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zitieren:
Eine Rechtsordnung, die junge Männer zum Waf-
fendienst verpflichtet, muß denjenigen, die diesen
Pflichten genügen, Schutz gewähren, wenn sie we-
gen dieses Soldatendienstes geschmäht und öffent-
lich als Mörder bezeichnet werden.
Genau dies wollen wir mit unserem Gesetzentwurf.
Deswegen bitte ich Sie sehr eindringlich um Ihre Zu-
stimmung.
Ich er-
teile dem Kollegen Zumkley das Wort für eine Kurzin-
tervention.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Der Kollege Götzer hat soeben in sei-
ner Rede ausgeführt, daß der Verteidigungsausschuß mit
den Stimmen der Sozialdemokratischen Partei beschlos-
sen habe, aktiv zu werden.
Ich darf dazu eindeutig feststellen und erklären, daß
die SPD-Mitglieder im Verteidigungsausschuß niemals
einer solchen Aktivität wie hier, sprich: ein Gesetz zum
Schutze der Soldaten hinsichtlich Beleidigung, zuge-
stimmt haben, wie das hier unterschwellig behauptet
worden ist.
Es gibt
eine weitere Kurzintervention des Kollegen Ströbele.
Vielleicht kann Herr Götzer dann auf beide eingehen.
Bitte schön.
Gelegenheit zu einer Frage gegeben. Deshalb muß ich
Ihnen den Gedanken auf diese Art und Weise näherbrin-
gen.
Sehen Sie es nicht auch so, wie ich es gesehen habe,
daß es nicht eine Frage des § 185 des Strafgesetzbuches,
also der Beleidigung, oder des neuen Paragraphen, den
Sie jetzt vorschlagen, sondern eine Frage des Artikels 5
des Grundgesetzes ist? Wenn die Richter des Bundes-
verfassungsgerichtes – Sie haben es vorhin geschildert –
durch Artikel 5 des Grundgesetzes wegen des hohen
Guts der Meinungsfreiheit und des hohen Wertes dieses
Grundrechts in unserer Verfassung gehindert waren, zu
einer Verurteilung zu kommen, obwohl sie den Tatbe-
stand des § 185 des Strafgesetzbuches bejaht haben,
dann wäre damit, selbst wenn Ihre Vorschrift ins Straf-
gesetzbuch Einlaß fände, Artikel 5 des Grundgesetzes
doch nicht außer Kraft gesetzt. Auch da müßten Sie die-
se Abwägung durchführen und kämen wegen des hohen
Gewichtes des Artikels 5 des Grundgesetzes wiederum
zu demselben Ergebnis.
Deshalb ist die von Ihnen vorgeschlagene Vorschrift
völlig überflüssig. Sie bringt nichts Neues und setzt den
Artikel 5 Gott sei Dank nicht außer Kraft.
Herr
Kollege Götzer, Sie haben Gelegenheit, auf beide
Kurzinterventionen zu erwidern.
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zum
Kollegen Ströbele: Wenn unser Gesetzentwurf Gesetz
würde, müßte eine neue Abwägung im Lichte und unter
Berücksichtigung dieses neuen Straftatbestandes statt-
finden.
Auf den Kollegen Zumkley antworte ich wie folgt:
Nach meinen Informationen hat der Verteidigungsaus-
schuß – etwas anderes habe ich auch nicht behauptet –
nicht beschlossen, diesen Gesetzentwurf oder überhaupt
einen Gesetzentwurf zu verabschieden. Hätten Sie mir
zugehört, hätten Sie gemerkt, daß ich das in meiner Re-
de auch nicht gesagt habe. Vielmehr habe ich gesagt, der
Verteidigungsausschuß habe beschlossen, tätig zu wer-
den, also nicht tatenlos zu bleiben. Das können Sie gern
nachprüfen.
Wir sindam Ende der Aussprache. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion der CDU/CSU zum verbessertenSchutz der Bundeswehr vor Verunglimpfung, Drucksa-che 14/985. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksa-che 14/1632, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasseüber den Gesetzentwurf der CDU/CSU auf Drucksache14/985 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ichbitte um die Gegenstimmen. – Ich bitte um Enthaltun-gen. – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge-lehnt. Zugestimmt haben ihm die Fraktionen vonCDU/CSU und F.D.P., abgelehnt haben ihn die anderenFraktionen.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung dieweitere Beratung.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
Metadaten/Kopzeile:
5236 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
und Reaktorsicherheit zu derUnterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung zum Jahresgut-achten 1997 „Welt im Wandel: Wege zu einemnachhaltigen Umgang mit Süßwasser“ desWissenschaftlichen Beirates der Bundesregie-rung „Globale Umweltveränderungen“– Drucksachen 13/11435, 14/69 Nr. 1.16, 14/837 –Berichterstattung:Abgeordnete Petra BierwirthDr. Klaus W. Lippold
Winfried HermannBirgit HomburgerEva-Maria Bulling-Schröter b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derUnterrichtung durch die BundesregierungBericht der KommissionDurchführung der Richtlinie 91/271/EWG desRates vom 21. Mai 1991 über die Behandlungvon kommunalem Abwasser, geändert durchdie Richtlinie 98/15/EG der Kommission vom27. Februar 1998Zusammenfassung der von den Mitgliedstaa-ten getroffenen Maßnahmen und Bewertungder in Anwendung von Artikel 13 und 17 derRichtlinie enthaltenen Informationen– Drucksachen 14/488 Nr. 2.49, 14/1343 –Berichterstattung:Abgeordnete Petra BierwirthGeorg GirischWinfried HermannUlrike FlachEva-Maria Bulling-SchröterNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Ich bitte diejenigen, diean dieser Aussprache nicht teilnehmen wollen, den Ple-narsaal zu verlassen und die Gespräche außerhalb fort-zusetzen. Noch besser wäre es allerdings, wenn sie ander Debatte weiterhin teilnehmen würden.Als erste Rednerin hat die Kollegin Petra Bierwirthvon der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Wasser ist das Lebenselixier derErde. Wasser ist ein unverzichtbarer Teil aller Ökosy-steme, eine natürliche Ressource, ein besonders lebens-notwendiges soziales und wirtschaftliches Gut. Das vonuns genutzte Wasser sollte möglichst unbelastet in dennatürlichen Wasserkreislauf zurückfließen. Während dieWeltmeere unbegrenzte Mengen an Wasser und eine nurscheinbar unbegrenzte Belastbarkeit an Schadstoffein-trag anbieten, ist sauberes Süßwasser eine äußerst emp-findliche und in vielen Regionen vor allem eine be-grenzte natürliche Ressource.
Festzustellen ist, daß der Süßwasserbedarf mit zu-nehmendem Bevölkerungswachstum weiterhin steigenwird. Hinzu kommt, daß die Nutzung von Süßwasser inder Landwirtschaft, der Industrie, der Energiewirtschaftund den privaten Haushalten die natürlichen und dievom Menschen geschaffenen hydrologischen Systemebis an die Grenzen belastet. Zum Teil werden sie durchSchadstoffeinleitungen und Übernutzung gefährdet undsogar zunehmend zerstört. Zentrale Aufgabe der ge-samten Politik müssen so der flächendeckende und vor-sorgende Schutz der Gewässer als Bestandteil des Na-turhaushaltes und die sparsame Verwendung und Si-cherstellung der öffentlichen Wasserversorgung undnatürlich auch der Abwasserentsorgung sein.Auf der UNO-Konferenz für Umwelt und Ent-wicklung, auf der im Juni 1992 in Rio de Janeiro mehrals 170 Länder ein Aktionsprogramm für das 21. Jahr-hundert verabschiedet haben, kam die herausragendeBedeutung des Süßwasserschutzes zum Ausdruck. Einganzes Kapitel in der Agenda 21 wurde dem Schutz derGüte und Menge der Süßwasserressourcen, der Anwen-dung integrierter Ansätze zur Entwicklung und Bewirt-schaftung der Wasserressourcen sowie der Behandlungvon Abwasser gewidmet.Wie aber sieht die Situation heute, sieben Jahre nachRio, aus? Welche Schlüsse haben wir aus dieser Ent-wicklung gezogen? Welche notwendigen Maßnahmenhaben wir begonnen? Zu dem vom Umweltausschußdiskutierten Jahresgutachten des Sachverständigenrates„Welt im Wandel: Wege zu einem nachhaltigen Um-gang mit Süßwasser“ wird meine Kollegin Marga Elsernoch sprechen.Darüber hinaus hat sich der Umweltausschuß vorkurzem zum einen mit dem Bericht der Kommission zurUmsetzung der Richtlinie über die Behandlung vonkommunalem Abwasser und den von den EU-Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen und zum ande-ren mit dem Vergleich der Abwassergebühren im eu-ropäischen Rahmen befaßt. Die von der SPD-Fraktioninitiierte Beschlußempfehlung ist im Umweltausschußvon allen Fraktionen unterstützt und einvernehmlich an-genommen worden. Festzustellen ist, daß mit Ausnahme Italiens alleMitgliedstaaten der Europäischen Union die Richtliniein nationales Recht umgesetzt haben. Die Umsetzungs-niveaus freilich sind sehr unterschiedlich. So sindDeutschland und Österreich führend bei der praktischenUmsetzung, sie sind es allerdings auch bei den Gebüh-ren. In den meisten anderen Unionsstaaten sind der An-schlußgrad und das Reinigungsniveau erheblich niedri-ger und, daraus resultierend, auch die Gebühren. Zudemwird die Abwasserreinigung vielfach subventioniert.Diese unterschiedlichen Faktoren schließen eine direkteVergleichbarkeit der Abwassergebühren in der EU aus.Dennoch gibt es EU-weit einen Trend zu steigendenGebühren für die Wasserversorgung und Abwasserent-Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5237
(C)
(D)
sorgung. Ausschlaggebend für die Kostensteigerungensind aber nicht, wie oft behauptet, die Umweltanforde-rungen, die technischen Standards für die Abwasserrei-nigungsanlagen. Lediglich 6 bis 7 Prozent der Gesamt-kosten sind hierauf zurückzuführen. Besonders deutlichwird dies, wenn man die überdurchschnittlich hohenGebühren und Beiträge im Osten Deutschlands unter-sucht. Denn hier sind eine ganze Reihe anderer Fakto-ren, beispielsweise Altlasten, Fehlplanungen und Miß-management, ursächlich für dieses Mißverhältnis.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht zumVergleich der Abwassergebühren enthält eine ganzeReihe zu diskutierender technischer Vorschläge zurSenkung der Abwassergebühren. Als Weg zur Kosten-senkung werden in jüngster Zeit hierzulande wieder ver-stärkt Privatisierung und Liberalisierung der Wasserver-sorgung und Abwasserentsorgung diskutiert. Ich selbstbetrachte diese Diskussion mit sehr gemischten Gefüh-len. Die Wasserversorgung und Abwasserbehandlungsind gemäß Art. 28 des Grundgesetzes Aufgaben, dievon den Gemeinden wahrzunehmen sind. Nach meinerErfahrung ist die Privatisierung im Wasserbereichauch kein Allheilmittel zur Kostensenkung. Wir, die wirhier im Reichstag sitzen, müssen gar nicht so weit guk-ken, um dafür ein Beispiel zu finden. Daß die Bürgerin-nen und Bürger geringeren finanziellen Belastungendurch die teilweise oder vollständige Privatisierung aus-gesetzt sind,
erweist sich meiner Meinung nach als Illusion. Es istdoch so, daß die Kommunen gegenwärtig nach Wegensuchen, wie sie ihrer Finanzknappheit entgehen können,und nur deshalb veräußern sie ihre Wasserbetriebe teil-weise oder vollständig. Ich halte es aber für problema-tisch, die Kontrolle über diese Anlagen und die Mög-lichkeiten für strategische Entscheidungen aus der Handzu geben.
Desgleichen stehen Wettbewerb und vorsorgenderGewässerschutz in einem unauflösbaren Spannungsver-hältnis. Ein Blick nach Großbritannien und Frankreichzeigt deutlich, wie die weithin privaten Monopolunter-nehmen die notwendigen Investitionen in Anlagen die-ses Bereiches unterlassen. In Deutschland gibt es seitkurzem ganz offen Forderungen des Verbands privaterAbwasserentsorger nach Absenkung der Abwasser-grenzwerte. Ich denke, den Privatisierungsverfechternsollte dies Anlaß zum Nachdenken sein.
Auch die Liberalisierung der Wassermärkte, wiesie gegenwärtig im Trinkwasserbereich diskutiert wird,scheidet nach meiner Meinung als Weg zur Kostensen-kung im Wasserbereich aus. Dies gilt auch, wenn ge-genwärtig der Telekommunikations- und der Energie-markt den gegenteiligen Eindruck vermitteln mögen. Esist offenbar aber völlig aus dem Blickwinkel geraten,daß Wasser keine Ware ist wie zum Beispiel Strom.Wasser ist ein nicht herstellbares Naturprodukt. Wasserist für uns das Lebensmittel Nummer eins. Wasser istdie Basis allen Lebens auf der Erde, also auch desmenschlichen. Wasser muß ebenso wie die Luft und derBoden durch Maßnahmen des Umweltschutzes gesichertwerden. Wasser kann und darf nicht den betriebswirt-schaftlich orientierten kurz- oder langfristigen Gewinn-interessen von Großunternehmen und einem Umwelt-schutz nur als hemmend begreifenden Wettbewerb ge-opfert werden. Eine kostengünstige, sichere und hygie-nisch einwandfreie Trinkwasserversorgung und Abwas-serbehandlung und -beseitigung sind von einem regionalwirksamen, vorsorgenden Umweltschutz abhängig und –vor allem – von besonderer Bedeutung. Sie sind unterständiger Kontrolle und in der Verantwortung der örtli-chen politischen Vertreter zu gewährleisten.Die zunehmende Verknappung unbelasteter natürli-cher Wasservorkommen, die allmähliche Zerstörung undsich ausweitende Verschmutzung der Wasserressourcenmachen eine integrierte Planung und ökologisch verant-wortliche nachhaltige Bewirtschaftung dieses Gutes er-forderlich. Solch eine integrierte Betrachtungsweiseerfordert einerseits die Einbeziehung aller Arten vonGewässern und andererseits die Berücksichtigung derQuantität und Qualität. Berücksichtigt werden müssenaber ebenso auch der Zusammenhang mit der sozioöko-nomischen Entwicklung und die unterschiedlichen Nut-zungsarten.Die zentrale Bedeutung der ganzheitlichen Bewirt-schaftung des Wassers als begrenzter und empfindlicherRessource sowie die Integration sektoraler Wasserwirt-schaftspläne und -programme im Rahmen der staatli-chen Wirtschafts- und Sozialpolitik wurden bereits inder Agenda 21 betont. In diese Richtung zielt auch dieEG-IVU-Richtlinie zur integrierten Vermeidung undVerminderung der Umweltverschmutzung. Nicht zuletztdeshalb muß sie hierzulande schnellstmöglich umgesetztwerden.Wir brauchen darüber hinaus auch dringend europa-einheitliche, verbindliche Anforderungen an die Ab-wasserentsorgung nach dem Stand der Technik. Nur sovermeiden wir ein Umweltdumping in Europa mit ent-sprechenden Wettbewerbsverzerrungen. Das Thema istauf europäischer Ebene in der Diskussion und wird indiesem Herbst wieder auf die Tagesordnung gesetzt. DasEuropäische Parlament fordert eine Verschärfung derEG-Wasserrahmenrichtlinie, wie wir das auch im Deut-schen Bundestag in einer gesonderten Entschließung ge-fordert haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin gespanntauf die vom Umweltministerium und vom Wirtschafts-ministerium organisierte Tagung in Berlin zur Auswer-tung des Gutachtens über die Abwassergebühren in derEU. Ich werde dort mit Interesse die erörterten Schluß-folgerungen und Maßnahmen verfolgen. Erforderlichen-falls werden wir uns mit den Ergebnissen der Fachta-gung sicherlich auch hier im Hause zu beschäftigen ha-ben.Petra Bierwirth
Metadaten/Kopzeile:
5238 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Viele Anregungen für eine effektive, kostensparendeund dezentrale Abwasserbehandlung sind von meinerFraktion bereits in den Deutschen Bundestag einge-bracht worden. Im Interesse der Bürgerinnen und Bürgermüssen diese gegen Bestrebungen einer Zentralisierungund einer Absenkung der Umweltstandards durchgesetztwerden.Danke.
Frau Kollegin Bier-
wirth, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen dazu im Namen des ganzen Hauses.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Christian
Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Auch meine Fraktion arbeitetarbeitsteilig. Lassen Sie mich einige Ausführungen zuden globalen Aspekten des Süßwasserproblems machen.Wenn man noch vor wenigen Wochen vor denTrümmern des Hochwassers im eigenen Wahlkreis ge-standen hat, dann möchte man es kaum glauben – aberes ist trotzdem wahr –, was in dem einschlägigen Be-richt zum Ausdruck kommt: Das Wasser als Lebenseli-xier unserer Erde wird bedrohlich knapp. Um ChristiGeburt teilten sich 300 Millionen Menschen dieselbeWassermenge wie heute 6 Milliarden Menschen. DieseSegnungen sind auch noch ungleich verteilt: Währendwir in Mitteleuropa manchmal zu viel Wasser abbe-kommen, spitzt sich die Situation in anderen Regionender Welt dramatisch zu. Bereits jetzt leben die Men-schen in 15 Ländern der Erde, vor allem in Teilen Asi-ens und Afrikas, knapp am absoluten Minimum von 500Kubikmetern Wasser pro Kopf und Jahr. Weitere 12Länder stehen kurz vor dieser Schallmauer, und mancheLänder, wie Saudi-Arabien und Libyen, entnehmen be-reits heute mehr Wasser, als neu zufließt oder entsteht.Diese Situation in den Entwicklungs- und Schwel-lenländern wird durch drei katastrophale Entwicklun-gen noch verschärft. Die eine ist die flächendeckendeWald- und Naturzerstörung, die ungebremst weitergeht.Die zweite ist das Ausufern der Mega-Städte; die sanitä-ren Verhältnisse beispielsweise in Lagos, Mexiko, Kairooder Bombay sind völlig außer Kontrolle geraten. Diedritte Entwicklung besteht darin, daß gerade oftmals dieLänder mit den größten Wasserproblemen auch diejeni-gen mit der größten Bevölkerungszunahme und dengrößten Armutsproblemen sind. Diese Konvergenz vonunglücklichen Umständen und Entwicklungen führtnicht nur zu wachsenden menschlichen Tragödien imAlltag, sondern beschwört natürlich auch zunehmend dieGefahr zwischenstaatlicher oder innerstaatlicher Kon-flikte herauf. Anwar el Sadat, der ehemalige ägyptischePräsident, hat schon vor 20 Jahren gesagt: Wer mit demNilwasser spielt, erklärt uns den Krieg. – Der Kampfums Wasser – nicht nur am Nil, sondern auch an ande-ren Brennpunkten – droht Realität zu werden.Natürlich müssen wir uns fragen: Was können wir,was kann die deutsche Politik tun? Zunächst erscheint esmir sehr wichtig, Gelegenheiten wie diese zu nutzen, umuns selbst und unsere Bevölkerung dafür zu sensibilisie-ren, daß die Staatengemeinschaft weltweit mit den na-türlichen Ressourcen, insbesondere mit Wasser, Waldund Klima, anders umgehen muß; daß auch unsere Inselder Seligen bedroht ist, wenn die Armuts- und Umwelt-probleme in den Entwicklungs- und Schwellenländerneskalieren; daß auch wir im Glashaus sitzen, auch wennwir selbst Wasser im Überfluß haben; und daß wir des-wegen in unserem ureigenen Interesse den Rio-Prozeßweiterführen müssen.Meine Damen und Herren, die technischen Lösun-gen sind eigentlich vorhanden. Wir wissen, daß70 Prozent des Wasserverbrauchs auf Kosten der Land-wirtschaft erfolgt, aber nur 40 Prozent des Wassers diePflanzen erreicht. Das liegt vor allem an der Ineffizienzder eingesetzten Bewässerungssysteme. Dagegen habenwir bereits technische Rezepte, die in Israel erprobt sind;sie müssen auch anderswo zur Anwendung kommen.Die Wissenschaft – in Deutschland beispielsweise inWeihenstephan – arbeitet mit Hochdruck an der Züch-tung neuer Nutzpflanzen, die auch auf ruinierten oderversalzten Böden eine Chance haben oder Trockenheitbesser vertragen als bisher. Die Wissenschaft arbeitethier vor allem mit Hilfe der Gentechnik und der Bio-technologie. Das ist ein weiterer Punkt, zu dem ich sa-gen muß: Lassen Sie uns die Chancen, die die Biotech-nologie für Entwicklungsländer bietet, nutzen.
Weiterhin hat die deutsche Entwicklungshilfe Tech-niken und Systeme entwickelt, mit denen Einkommenfür Staat und Bevölkerung gerade dadurch erzielt wer-den können, daß man die Natur, etwa in Wassereinzugs-gebieten oder Nationalparks, schützt. Es gibt inzwischensogar erfolgreiche Ansätze, die Wasserversorgung undAbwasserentsorgung in Großstadtslums in den Griff zubekommen. Das sind simple, aber durchaus wirkungs-volle Ansätze.Entscheidend ist jedoch, daß auch die Politik, dieGesetzgebung und die Verwaltung in den betroffenenLändern mitziehen; denn die technischen Lösungen, diees bereits gibt, verpuffen, wenn zum Beispiel die illega-len Monopole der Wasserhändler im Untergrund nichtangetastet werden, wenn Umwelt- und WasserdelikteKavaliersdelikte sind und die Instanzen zur Überwa-chung und Strafverfolgung keine politische Rückendek-kung erhalten, wenn man sich nicht traut, der weitver-breiteten Wasserverschwendung durch den Abbau vonSubventionen zu begegnen, oder wenn es keinen Willenzu einer zusammenhängenden, schlüssigen Landnut-zungsplanung und deren Durchsetzung gibt.Wir waren erst vor kurzem mit einer Delegation aufBorneo. Wenn man wie wir vier Stunden durch ver-brannte Wälder gefahren ist und die Taktik der ver-Petra Bierwirth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5239
(C)
(D)
brannten Erde gesehen hat, die dafür gesorgt hat, daßallein 1997 30 Prozent der CO2-Emissionen auf dasKonto von Borneo gingen, dann weiß man, wo der ent-scheidende Schlüssel für die Politik liegt.Von entscheidender Bedeutung ist aber auch, daßman Anrainer, selbst verfeindete Anrainer wie Indienund Pakistan, wie Äthiopien und Ägypten, oder Staaten,die gar nicht Anrainer, aber trotzdem voneinander ab-hängig sind, an einen Tisch bringt. Denn die Entwal-dung in Nepal zum Beispiel verursacht Überschwem-mungen in Bangladesch.Wir müssen auch die Frage stellen, ob es angesichtsder dramatischen Wasserprobleme sinnvoll ist, wennmanche wasserarme Staaten nach Autarkie bei Nah-rungsmitteln streben, aber beispielsweise für ein Kilo-gramm Reis 1000 Liter Wasser aufbringen müssen, stattdieselbe Menge viel billiger und ökologisch sinnvollerzu importieren.Meine Damen und Herren, Politik in anderen Ländernzu beeinflussen ist immer etwas besonders Schwieriges.Aber ich glaube, auch in diesem Fall müssen wir unseinmischen. Dabei haben wir drei Möglichkeiten, dieauch in dem Bericht erwähnt sind: Erstens. Wir müssenden Politikdialog mit den betreffenden Ländern verstär-ken. Die Wasserkonferenz im letzten Sommer auf demPetersberg hat gezeigt, daß wir als Nichtkolonialmachtganz gut den ehrlichen Makler spielen können. Ich glau-be, das war eine sehr erfolgreiche Konferenz, geradeauch was das Problembewußtsein in Afrika und Asienanbelangt.Zweitens. Wir müssen den Weg weitergehen, alsgrößter Beitragszahler in internationalen Organisationenunseren Einfluß stärker durchzusetzen, wie es bei derWeltbank in den letzten Jahren geschehen ist.Drittens. Wir müssen auch selbst finanziell und tech-nisch besser helfen. Wir sind in den letzten Legislaturpe-rioden Schritt für Schritt zum wichtigsten Entwick-lungspartner im Umwelt- und Wasserbereich geworden.Doch entgegen den vollmundigen Ankündigungen vonKanzler Schröder droht uns gerade auch in der Ent-wicklungspolitik eine Trendwende nach unten. Statt mitmehr Mitteln und mit mehr Personal wird das Entwik-kungsressort mit einer weit überproportionalen und nochnie dagewesenen Kürzung gesegnet. Die mittelfristigeFinanzplanung von Rotgrün macht die Entwicklungs-politik endgültig zum Steinbruch.
Denken Sie an Ihre
Redezeit!
Angesichts der
dramatischen Zuspitzungen halten wir das für völlig un-
akzeptabel ebenso wie die rotgrüne Umweltpolitik ins-
gesamt, die auch international einem Steinzeitmodell
gleicht. Mit der Politik, die Sie, meine Damen und Her-
ren von den Koalitionsfraktionen, zum Beispiel China
anbieten – weder Wasser noch Kohle noch Atomener-
gie –, werden Sie in China nur ein mildes Lächeln her-
vorrufen. Eine solche Politik macht Deutschland lächer-
lich, macht uns politisch einflußlos. Wir werden dafür
kämpfen, daß dieser freie Fall in die umweltpolitische
Inkompetenz möglichst schnell beendet wird.
Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege
Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Akuter Wassermangel bedroht große Teile dieserWelt. Das ist eine der zentralen Botschaften dieses Gut-achtens. Das ist offensichtlich auch bei den Rednerinnenund Rednern vor mir angekommen. Sie alle haben dar-auf hingewiesen. Es ist aber nicht nur dieses Gutachten,das auf dieses Problem hinweist; zahlreiche andere Stu-dien belegen dasselbe. So sagt etwa die Weltorganisati-on für Meteorologie, daß heute bereits in 29 LändernAfrikas und Asiens akuter Wassermangel herrscht unddaß auch zukünftig in den USA, in China und Indiensowie in anderen Staaten Wassermangel herrschen wird.Bis zu einem Drittel der Menschheit soll davon betrof-fen sein. Knapp ein Sechstel der Menschheit ist bereitsheute ohne einen direkten, ausreichenden, gesichertenZugang zum Lebensmittel Nummer eins, dem Wasser.Wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden, kannes sein – davon sprechen viele Prognosen –, daß Mittedes nächsten Jahrhunderts bis zu 2,5 Milliarden Men-schen von dieser Wasserknappheit betroffen sein wer-den.Nun mögen manche sagen: Das Vortragen dieserZahlen ist typischer Katastrophensound, da hauen dieWissenschaftler wieder einmal auf die Ökopauke undmalen ein Untergangsszenario an die Wand. Aber ichsage Ihnen: Wenn nur ein Teil dieser Prognosen stimmt,haben wir in den nächsten Jahrzehnten ein gravierendesProblem, dann tickt tatsächlich eine Zeitbombe, die auchfür unser Land Folgen haben wird.Flucht, Vertreibung und Migration sind heute oftnoch Folgen von Kriegen. Sie können und werden zu-künftig wohl eher auch Folgen von Umweltproblemensein, zum Beispiel von Wasserknappheit. Einige Kriegeder Vergangenheit sind schon aus diesem Motiv geführtworden. In Zukunft werden diese Probleme zunehmendein Motiv für kriegerische Auseinandersetzungen sein.Angesichts dieser Entwicklung und der Prognosen darfdie Bundesrepublik Deutschland, die auch die Agenda21 in Rio unterzeichnet hat, nicht tatenlos zusehen.
Wenn wir von Globalisierung sprechen, müssen wirauch von globaler Verantwortung sprechen. GlobaleVerantwortung heißt in diesem Zusammenhang –Kollege Ruck, Sie haben es angesprochen –, daß wirauch etwas tun müssen. Es geht in der Tat darum, daßsich die reichen Länder aktiv und finanziell unterstüt-zend an der Bekämpfung der Armut in den armen Län-Dr. Christian Ruck
Metadaten/Kopzeile:
5240 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
dern beteiligen, indem sie ihnen Mittel zur Lösung ihrerProbleme geben.
Sie haben zu Recht beklagt, daß der Entwicklungs-haushalt zusammengestrichen worden ist. Dies hat unsalle geschmerzt. Aber Sie haben vergessen, daß wir ineinem anderen Bereich mutig vorangeschritten sind unddort etwas zustande gebracht haben, was Sie nicht ge-schafft haben: Wir haben nämlich auf der Weltwirt-schaftskonferenz dafür gesorgt, daß den 36 ärmstenLändern der Welt 130 Milliarden DM Schulden erlassenworden sind. An diesem Schuldenerlaß ist die Bundes-republik mit 150 Millionen DM beteiligt. Herr KollegeRuck, ich möchte um Aufmerksamkeit bitten: Dies istdie wesentliche Voraussetzung dafür, daß die armenLänder etwas tun können. Auf Ihre vorhin gestelltenFragen, welchen Hebel wir ansetzen können und wel-chen Einfluß wir ausüben können, antworte ich: DieSchulden werden nur dann erlassen, wenn Kosteneinspa-rungen in den betroffenen Ländern zu Investitionen inihre ökologische Zukunft führen.
Dies ist in der Beschlußempfehlung des Umweltaus-schusses so formuliert:Von Wasserkrisen betroffene oder bedrohte Staatenmüssen besser unterstützt und friedensstiftendeUmwelt- und Entwicklungsvorhaben in Wasserkri-sengebieten gefördert werden, wozu auch wasser-bezogene Bildungsprogramme gehören.Sie merken: Wir nehmen dieses Thema sehr ernst. Siedürfen nicht immer nur die Einsparungen im Entwick-lungsetat anführen. Ich finde, man muß die Entwick-lungspolitik im Gesamtzusammenhang betrachten.Ich möchte nun darauf eingehen, welche Bedeutungdie Wasserknappheit auf nationaler Ebene hat. Trotz in-ternationaler Wasserknappheit wird man nicht von einerWasserknappheit in Deutschland reden können. Diestut niemand. Aber auch in Deutschland gibt es das Pro-blem – dies wird sich in Zukunft noch verschärfen –,sauberes und qualitativ hochwertiges Trinkwasser zu ga-rantieren. Zwar haben wir im Bereich der Oberflächen-gewässer durch Abwasserreinigung zweifellos Erfolgeerzielt. Aber wir leiden unter den Folgen der vergange-nen Politik, unter dem unachtsamen Umgang mit Was-ser und unter den Spätfolgen, die jetzt im Grundwassersichtbar werden. Im Grundwasser finden sich heuteSchadstoffe wie etwa Pestizide, die vor 30 oder 40 Jah-ren im Boden versickert sind. Dies ist unser Problem.Wenn wir von Wasserpreisen sprechen, müssen wir zu-allererst bedenken, daß sich im Preis die Kosten für dieReinigung des Wassers niederschlagen. Ob es auf die-sem Markt Konkurrenz gibt oder nicht, spiegelt sichnicht so sehr in den Preisen wider.
Damit bin ich bei einem heißen Eisen angelangt, dasauch mit dem angesprochenen Gutachten und mit derDebatte um die Wasserversorgung zusammenhängt.
– Es lag nicht an mir, daß Sie diese Themen in der Ver-gangenheit nicht behandelt haben. Ich bin erst seit einemJahr Bundestagsabgeordneter. Ich bringe diese Themenjetzt ein. Sie hatten, soviel ich weiß, mehr Zeit als ichzur Verfügung, diese Themen anzusprechen.Ich habe die Frage der Liberalisierung und der Pri-vatisierung angesprochen. Ich beobachte die Privatisie-rung und den kompletten Verkauf der Berliner Wasser-betriebe mit Sorge. Diese Entwicklung läßt sich auch inanderen Städten verfolgen.
Mit der Privatisierung schaffen wir uns zwar die Ko-sten vom Hals, sehen aber nicht, daß wir unter demDeckmantel einer Liberalisierung und einer Deregulie-rung unter Umständen einer neuen Monopolwirtschaftdas Wort reden, und zwar nicht mehr unter öffentlich-rechtlichem, sondern unter privatwirtschaftlichem Vor-zeichen.
– Es tut mir leid, ich habe Sie nicht verstanden. Wennjemand einfach so dazwischenredet, dann ist es nichtimmer zu verstehen.
Frau Kollegin, mit
„hallo“ sollte man nicht dazwischenrufen.
Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltverände-
rungen spricht zwar von wettbewerbsorientierten Öff-
nungen der Wassermärkte, von einer Änderung der
Eigentumsrechte usw., und er macht einige nähere Vor-
schläge dazu. Ich glaube aber nicht, daß er an neue
Monopolstrukturen denkt. Er schreibt zum Beispiel:
Bei der Regulierung von Wasserangebot und
-nachfrage sollte das Subsidiaritätsprinzip gelten.
Dezentral gegliederte Versorgungsstrukturen und
-regelungen sind in der Regel effizienter, für die
Betroffenen eher nutzbar bzw. nachvollziehbar und
dem jeweiligen Charakter der Region eher angepaßt
als starre zentrale Lösungen.
Es geht hier also nicht um „privat“ oder „nicht privat“,
sondern um „dezentral“ oder „zentral“. Das ist die ent-
scheidende Frage.
Denken Sie an IhreRedezeit, bitte.Winfried Hermann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5241
(C)
(D)
Für meine Fraktion sage ich: Wir beobachten die Libe-
ralisierung in diesem Bereich mit großer Skepsis.
Es ist ganz klar: Wasser ist nicht mit Strom zu verglei-
chen. Wasser kann man schmecken, Wasser ist ein Le-
bensmittel, Wasser kann man nicht beliebig durch die
Leitungen schicken und mit allem möglichen vermi-
schen und vermengen. Es macht aus ökologischer Sicht
Sinn, eine dezentrale, ökologisch bewußte Wasserver-
sorgung beizubehalten. Es macht aus ökologischer Sicht
keinen Sinn, einer neuen und, wie ich meine, ideolo-
gisch begründeten Liberalisierung im Wasserbereich das
Wort zu reden.
Sie müssen jetzt
bitte zum Schluß kommen.
Ich komme zum Schluß.
Mein Fazit lautet: Es geht darum, in den kommenden
Jahrzehnten weltweit zu einer sozial gerechten Wasser-
versorgung beizutragen. Alle sollen Zugang zur Wasser-
versorgung haben. In Deutschland müssen wir die Res-
source Wasser sorgfältig pflegen und darauf achten, daß
sie nicht weiter verschmutzt wird. Wir müssen die Um-
welt integriert schützen. Schließlich plädiere ich für die
Beibehaltung einer dezentralen Wasserversorgung. Ich
bin gegen eine zentralistische, monopolartige, privati-
sierte Wasserversorgung.
Vielen Dank.
Ich unterbreche ei-
nen Redner ungern. Meine herzliche Bitte ist, daß wir
uns ein bißchen an die Redezeiten halten.
Ich weiß, wie lästig mein Intervenieren ist; aber ich muß
es tun, sonst sitzen wir hier noch um Mitternacht. Das
wollen wir nicht. Was ich gesagt habe, war nur ein
freundlicher Appell.
Ich gebe jetzt der Kollegin Birgit Homburger das
Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Wir diskutieren heute das Jahres-gutachten 1997 des Wissenschaftlichen Beirats GlobaleUmweltveränderungen zum Thema „Wege zu einemnachhaltigen Umgang mit Süßwasser“. Zu Beginnmöchte ich feststellen, daß in diesem Bericht die Arbeitder alten Bundesregierung gelobt wird.
In der Tat wurde von der alten Bundesregierung auf die-sem Gebiet sehr viel erreicht.
Das Thema Wasserpolitik ist ein zentrales Thema derZukunft. Das wurde auch in den bisherigen Beiträgendeutlich. Wasser ist als Lebensgrundlage unverzichtbar.Die Verschmutzung von Wasser führt bereits heute invielen Regionen zu Krankheiten und zu Flüchtlings-strömen. Die Aussage, daß zukünftig Krieg um Wassergeführt werden wird, beinhaltet keine neue Erkenntnis.Sie sollte aber eine Mahnung sein, das Thema Wasser-politik weltweit voranzutreiben.Der Bericht macht deutlich, daß die alte Bundesregie-rung für den nachhaltigen Umgang mit Süßwasser na-tional wie international viel getan hat, wofür ihr interna-tionale Anerkennung zuteil geworden ist. Der Schutzdes Grundwassers und die Verbesserung der Qualität derOberflächengewässer sind von der alten Bundesregie-rung in den verschiedensten Ressorts mit großer Initiati-ve vorangetrieben worden.Herr Hermann, Sie sagten vorhin, daß Sie das Themaernst nähmen. Wie ernst Sie das Thema nehmen, hatsich gestern im Umweltausschuß des Deutschen Bun-destages gezeigt. Da hat der Umweltminister einen Vor-trag über die Perspektiven der Umweltpolitik in dieserLegislaturperiode gehalten. Er wollte wohl dem Vorwurfein Ende setzen, zwei Steckenpferde zu haben: den Aus-stieg aus der Kernenergie und die Ökosteuer. Deswegenhat er im Umweltausschuß eine lange Liste von Themenaufgezählt, bei denen er etwas tun will. Wenn man sich,anstatt Schwerpunkte zu setzen, auf eine solche Auf-zählung von Details einläßt, dann sollte man das aller-dings gründlich machen. Jedenfalls kam das ThemaWasserpolitik im gesamten Vortrag nicht mit einem ein-zigen Wort vor. Jetzt erklären Sie uns heute hier, daß Siedas Thema ernst nehmen. Ich bin der Auffassung, daßUmweltminister Trittin und auch Außenminister Fischerendlich die Bedeutung dieses Themas begreifen müßten.
Ich fordere die Bundesregierung auf, das Thema derweltweiten Wasserversorgung mit gleicher Beharrlich-keit auf die internationale Agenda zu setzen, wie es sei-nerzeit Außenminister Dr. Kinkel getan hat.
Unser Einsatz im Bereich der Wasserpolitik sollte –das war immer unsere Position – als Vorstoß zur Schaf-fung einer internationalen Umweltrechtsordnung ver-standen werden. Ich fordere daher die Bundesregierungauf, in der UNO eine Initiative mit dem Ziel zu ergrei-fen, eine völkerrechtlich verbindliche Erklärung mitSanktionsmechanismen herbeizuführen, in der alle
Metadaten/Kopzeile:
5242 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
UNO-Mitgliedstaaten erklären, wesentliche Beeinträch-tigungen der Lebensgrundlagen anderer Staaten zu un-terlassen und zu verhindern.
Wir müssen gemeinsam durchzusetzen versuchen, daßsich alle Vertragsstaaten bei Streitigkeiten, welche dieVerpflichtung zum Schutz der internationalen Lebens-grundlagen betreffen, der Rechtsprechung des interna-tionalen Gerichtshofes in Den Haag unterstellen.
Nur so können wir auf internationaler Ebene zu verläßli-chen Vereinbarungen kommen.Es muß auch gelingen, die fortschrittlichen Techni-ken der Trinkwasseraufbereitung und der Abwasserbe-handlung weltweit zur Anwendung zu bringen, um Ge-sundheitsschäden durch verschmutztes Wasser nachhal-tig zu bekämpfen. Die Entwicklung ortsangepaßterTechniken der Wassergewinnung und -aufarbeitungsowie die Ausbildung des örtlichen technischen Perso-nals sollte von den Industrieländern gefördert werden.Außerdem sollte, wie in unserem Entschließungsantragzu diesem Bericht gefordert, die Arbeit verschiedenerweltweit tätiger internationaler Organisationen auf demGebiet der Wasserwirtschaft von den Geberländern in-ternationaler Entwicklungshilfe gleichzeitig gestärkt,aber auch international gestrafft werden.Im Gegensatz zu anderen Staaten stellt sich inDeutschland nach heutigen wissenschaftlichen Erkennt-nissen auf absehbare Zeit nicht das Problem eines aku-ten Wassermangels, sondern eher das Problem der an-thropogenen Verunreinigung von Grund- und Ober-flächenwasser. Der Eintrag persistenter organischerStoffe mit zum Teil noch ungeklärter physiologischerWirkung ist besorgniserregend. Demgegenüber sindVersauerung und Eutrophierung seltener geworden. Wiewir bereits in dem von uns eingebrachten Antrag darge-stellt haben, ist dies kein Anlaß zur Entwarnung; denn esist stets zu bedenken, daß ein Stoffeintrag im Oberflä-chenwasser und auf Böden erst nach Jahren im Grund-wasser ankommt und mit entsprechender Verzögerungbei einer Grundwasserentnahme bemerkt werden kann.Auf dem Gebiet des Gewässerschutzes hat die alteBundesregierung sehr viel erreicht. Ich will hier keineweiteren Beispiele nennen,
sondern nur auf den Gewässergüteatlas hinweisen, derdiese Woche vorgestellt wurde und die Entwicklung derWasserbeschaffenheit von 1987 bis 1996 beschreibt.Aus ihm geht hervor, daß sich die Gewässergüte inDeutschland deutlich verbessert hat. Diese Verbesserun-gen sind in erster Linie auf den konsequenten Ausbauvon Anlagen zur Abwasserbehandlung zurückzuführen.Ich bedaure, daß diese Entwicklung nicht in allen EU-Mitgliedstaaten festzustellen ist.Das Ziel der Richtlinie über die Behandlung kom-munalen Abwassers, die wir ja heute auch diskutieren,die Mitgliedstaaten zur Sammlung und Reinigung derkommunalen Abwässer zu verpflichten, ist noch nichterreicht. Der Bericht der Kommission über die Durch-führung dieser Richtlinie zeigt große Umsetzungsdefi-zite und Unterschiede hinsichtlich der rechtlichen undvor allem der tatsächlichen Umsetzung auf. Ich frage dieBundesregierung, was sie dagegen zu tun gedenkt.
Im Bereich der Abwassergebühren zeigt der von denMinisterien für Wirtschaft und Technologie sowie Um-welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Auftrag ge-gebene Bericht über den Vergleich der europäischenAbwassergebühren vom Oktober 1998, daß Abwasser-gebühren in Europa kaum vergleichbar sind. In vielenanderen Staaten Europas ist sowohl das Reinigungsni-veau als auch der Anschlußgrad deutlich niedriger. Zu-dem wird die Abwasserreinigung in einigen Staatenhoch subventioniert. Dieser Zustand ist weder ökolo-gisch noch ökonomisch akzeptabel. Auch hier frage ich:Wo bleiben die Initiativen der Bundesregierung?
Sie könnten ja handeln, denn es gibt hierzu einen ein-stimmigen Beschluß des Umweltausschusses des Deut-schen Bundestages. Wir sind uns in diesem Punkt alleeinig. Man sollte wirklich zusehen, daß man in diesemBereich Initiativen auf europäischer Ebene ergreift.
Zum Schluß noch eine Bemerkung zu Ihnen, HerrKollege Hermann. Sie haben vorhin hier lang und breitdargelegt, daß Sie Bedenken gegen eine Privatisierungim Bereich von Wasser und Abwasser haben. Sie er-klärten außerdem, daß das alles überhaupt keine Effektehabe.Wir haben bereits in vielen Debatten – im Umwelt-ausschuß, aber auch hier im Deutschen Bundestag – dieSituation im Bereich Wasser und Abwasser diskutiertund haben festgestellt, daß organisatorische Maßnah-men, flexiblere Handhabung, Ausschreibungsmecha-nismen usw. Einfluß auch auf die Gebührenhöhe haben.Das alles will ich nicht im einzelnen aufführen,kann – –
Können Sie auch
nicht, Frau Kollegin, weil Ihre Redezeit vorbei ist.
Das weiß ich, FrauPräsidentin; deswegen mache ich es auch nicht.Eine letzte Bemerkung: Wir sind weiterhin derMeinung, daß nichts gegen die Privatisierung spricht.Dem steht auch nicht das Öffentlich-Rechtliche ent-gegen, wie Sie das gesagt haben. Sie haben bisher nochnie begründet, warum das auf öffentlich-rechtlichemBirgit Homburger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5243
(C)
(D)
Wege gemacht werden soll und dann besser sei. Wirdagegen haben begründet, warum es privatwirtschaftlichbesser gehen kann.Die rotgrüne Bundesregierung hat im Gewässerschutzkeine erkennbaren Initiativen ergriffen, weder interna-tional noch in Europa, noch hat sie für kostengünstigereprivatwirtschaftliche Modelle in Deutschland gesorgt.Ich stelle also fest: Es ist ein verlorenes Jahr für denGewässerschutz.
Nun hat die Kollegin
Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur ein Zwanzig-stel der Abwässer sind weltweit gereinigt. Zwei Milliar-den Menschen haben kein sauberes Wasser. In Guate-mala stirbt aus diesem Grund jedes dritte Kind unterfünf Jahren an den Folgen von Durchfallerkrankungen.Aber aus dieser Sicht scheinen die deutschen Proble-me von Gewässerbeschaffenheit, Reinigungskosten undGebührenexplosion scheinbar zweitrangig. Natürlich:Sie sind es auch angesichts der unzähligen Menschenle-ben, die schmutziges oder einfach fehlendes Süßwasserfordert.Aber vielleicht gibt es auch Verbindungen oder Par-allelen zwischen unserer nationalen Wirtschafts- bzw.Exportpolitik und den globalen Gefährdungen. Bei-spielsweise weist der Wissenschaftliche Beirat in seinemGutachten darauf hin, daß Staudämme weltweit kriti-scher betrachtet werden sollten. Insbesondere fordertendie Wissenschaftler, die im Herbst 1996 gewährtendeutschen Hermesbürgschaften für den chinesischenDrei-Schluchten-Staudamm zurückzuziehen.
– Sie waren doch einmal Staatssekretär. Warum stellenSie so dumme Fragen?
Unseres Wissens ist hier weder die alte noch die neueBundesregierung aktiv geworden – und das, obwohlvöllig klar ist, daß dieses Monument des bürokratischenGigantismus auf Grund der Zwangsumsiedlungen dieMenschenrechte mit den Füßen tritt und die Umweltzerstört.Seit vielen Jahren stoßen die Großstaudammprojekteweltweit auf Widerstand. Zahlreiche Studien belegenökonomische Ineffizienz, ökologisches Desaster undzahlreiche Verstöße gegen die Menschenrechte. DanielBeard, ehemaliger Leiter des Bureau of Reclamation,einer US-Behörde, die mehr Staudämme auf der Weltgebaut hat als jede andere Organisation auf der Welt,weist seit einigen Jahren auf die fatale Logik hin, daßdie wachsenden Baukosten für Staudämme es lohnens-wert machen, den Wasserverbrauch anzukurbeln. Ervergleicht große Staudammprojekte mit Atomkraftwer-ken:Vordergründig liefern sie billig saubere Energieund Wasser in Überfluß. In der Praxis verursachensie Schäden, die künftigen Generationen riesigeKosten aufbürden.Die Bundesrepublik hat das nicht daran gehindert,den Bau von Staudämmen kräftig zu unterstützen. Seitdem 1. Januar 1994 hat die Regierung Finanzmittel inHöhe von insgesamt 227,7 Millionen DM für sechsGroßstaudammprojekte bereitgestellt. Und: In denletzten 10 Jahren wurden Zulieferungen zu insgesamtsechs Staudammprojekten mit Hermes-Exportkreditver-sicherungen des Bundes in Höhe von insgesamt 2 Milli-arden DM abgesichert, so die Antwort der Bundesregie-rung auf unsere Kleine Anfrage. Abgesichert wurdenhier vor allem die exportierenden Unternehmen wieSiemens und Co. Das möchte ich noch hinzufügen.Die jetzigen Regierungsparteien, die noch in derletzten Wahlperiode dieses Gebaren heftigst kritisierthaben, sind sich bis heute nicht zu schade, festzustellen,daß für diese Vorhaben eine wirtschaftlich wie sozial-und umweltpolitisch ausgewogene Gesamtlösung ge-funden worden sei. Wörtlich heißt es in der Anfrage:Nicht beherrschbare oder nicht akzeptable Umwelt-und Sozialwirkungen sind nicht bekannt.Innerhalb kürzester Zeit hat sich also Ihre Meinung ge-ändert.Auf der anderen Seite steht die versprochene Reformder Hermes-Kredit-Vergabe in Richtung sozialer undökologischer Standards in den Sternen. Dafür wirdschon wieder darüber nachgedacht, den Bau des Illisu-Staudamms in der Türkei mit Hermes-Bürgschaften fürein deutsches Exportkonsortium zu unterstützen. Abergerade die Türkei hat sich ja geweigert, die UN-Konvention über die nichtschiffbare Nutzung grenzüber-schreitender Wasserwege zu unterzeichnen. Konfliktemit den Anrainerstaaten des Tigris, Syrien und Irak, sindvorprogrammiert. Es besteht so die Gefahr, daß die oh-nehin schon angespannte Trinkwassersituation in dieserRegion noch weiter verschärft wird. Das weiß jeder, dersich dort einigermaßen auskennt.Die Bundesrepublik wartet vor der Freigabe noch ab,wie sich andere Staaten in dieser Frage verhalten. Ab-warten! Ich muß schon fragen: Soll dies unser Beitragzur Lösung globaler Probleme sein?Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch bei der Ver-schmutzung der Flüsse in der dritten Welt hatDeutschland die Hand im Spiel. Der Umweltrat sprichthier von der Gefährdung des Süßwassers durch die„grüne Revolution“. Beispielsweise – das kann man ei-nem Bericht von jemandem entnehmen, der kürzlich indieser Region war – sind die Hohlwege im Muster-Gemüseanbaugebiet im guatemaltekischen Almalongavon Pestizidflaschen und Düngemitteltüten der FirmaBayer nur so übersät. Kinder verspritzen tonnenweisedie Gifte, um nachher Turbokarotten zu ernten, die dop-pelt so groß, aber nur halb so schwer sind wie normal.Dabei geht nicht nur die Gesundheit der Kinder, sondernBirgit Homburger
Metadaten/Kopzeile:
5244 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
auch das Grund- und Oberflächenwasser vor die Hunde.Dies berichtet jemand, der erst kürzlich in dieser Regionwar.Ich meine: Wasser ist, vermittelt über die Weltwirt-schaftsordnung, ein globales Problem. Da haben wir einStück mehr Verantwortung. Wir müssen daher weiterdiskutieren und unsere Verantwortung ernst nehmen.Zum Abschluß noch ein Wort an Herrn Hirche. Siereden immer sehr fragwürdig über AKWs. Wir solltenaber im Rahmen dieser Umweltdebatte nicht vergessen,was heute in Japan passiert ist. Es ärgert mich, daß ineiner so zynischen Art und Weise über Atomkraft ge-sprochen wird, obwohl doch gerade Hunderte und Tau-sende von Menschen in Japan verstrahlt wurden.
– Sie haben die neueste dpa-Meldung noch nicht gele-sen. Es handelt sich um ein paar hundert Menschen. Siewerden zur Zeit aus der Gefahrenzone gebracht. Mansollte daher nicht so menschenverachtend darüber reden.
Jetzt erteile ich der
Parlamentarischen Staatssekretärin Gila Altmann das
Wort.
Gi
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istschon gesagt worden, daß sich Minister Trittin gesternüber dieses Thema nicht geäußert habe. Das hat aber ab-solut nichts mit seiner Einschätzung dieses Themas zutun.
Er hat gewußt, daß wir heute darüber debattieren. Inso-fern handelt es sich um eine sehr freie Interpretation Ih-rerseits.Die Erdoberfläche besteht zu 71 Prozent aus Wasser.2,5 Prozent dieses weltweiten Wasserbestandes ist Süß-wasser. Davon wiederum ist nur ein Sechstel für denMenschen nutzbar.In 50 Jahren wird Süßwasser für die meisten Natio-nen – das ist nicht lustig; da vergeht einem das Lachen –wichtiger als Öl sein. Das besagt eine UN-Studie von1996. Wir haben schon gehört: In ungefähr 30 Ländernherrscht bereits heute Wasserknappheit. Rund 2 Milli-arden Menschen leben jetzt schon ohne sauberes Trink-wasser. Nur 5 Prozent der weltweiten Abwässer werdengereinigt. 80 Prozent aller Krankheiten werden durchverschmutztes Wasser verbreitet. Zwischen 10 und25 Millionen Menschen sterben jährlich an den über-wiegend auf diese Weise übertragenen Infektionskrank-heiten Diarrhö, Hepatitis, Cholera und Typhus.Der globale Wasserverbrauch hat sich in den letzten45 Jahren nahezu versechsfacht, wobei die Landwirt-schaft weltweit mit etwa 70 Prozent der größte Wasser-verbraucher ist. In diesem Zusammenhang sind die Mo-nokulturen schon angesprochen worden. Der Einsatzvon Hochertragssorten und intensive Exportlandwirt-schaft sind weitere Gründe.Die weltweit drohende Wasserkrise wird sich in Zu-kunft noch verschärfen, und es besteht dringenderHandlungsbedarf, wenn wir verhindern wollen, daß dienächsten Kriege um Wasser geführt werden. Vieleschwelende Konflikte gibt es bereits.Das Gutachten, das wir heute hier diskutieren – Wegezu einem nachhaltigen Umgang mit Süßwasser –, bietetwertvolle Lösungsansätze, um den Schutz der Wasserre-serven für kommende Generationen sicherzustellen.Denn eines muß uns klar sein: Wasser kennt keineGrenzen. Lösungen müssen deshalb regional wie inter-national im Einvernehmen gefunden werden. Eigent-lich läuft uns die Zeit davon. Aber wir brauchen sie,weil wir es im Dialog schaffen müssen und nicht einfachals Heilsbringer über den Globus rennen können.Die Bundesregierung hat ihren Teil bereits beigetra-gen, indem sie die Empfehlungen des Wissenschaftli-chen Beirates in die verschiedenen internationalen Gre-mien eingebracht hat.
So setzt sich die Bundesregierung, wie von Frau Hom-burger gefordert, bei den Vereinten Nationen für dieVerbesserung der frühzeitigen Erkennung zum Beispielvon Sicherheitsrisiken ein, die durch die ungeregelteNutzung grenzüberschreitender Gewässersysteme ent-stehen können. Auch das Übereinkommen der VereintenNationen über das Recht der nichtschiffahrtlichen Nut-zung internationaler Wasserläufe wird voraussichtlichin der ersten Hälfte des Jahres 2000 ratifiziert werden.Im Rahmen des Umweltforschungsprogramms derBundesregierung werden unter dem Leitbild der nach-haltigen Entwicklung Studien zum weltweiten Wandeldes Wasserkreislaufs durchgeführt sowie neue Wasser-technologien und Modelle für regionales Süßwasserma-nagement entwickelt. 2002 veranstaltet die Bundesrepu-blik Deutschland eine Weltwasserkonferenz zum The-ma Süßwasser in Vorbereitung der CSD-Konferenz zurnachhaltigen Entwicklung.Generell notwendig sind aus unserer Sicht eine Bün-delung und eine bessere Koordinierung der verschiede-nen internationalen Organisationen im Umwelt- undWasserbereich. Es ist ebenso klar, daß internationaleWasserpolitik immer auch Entwicklungspolitik ist. Wiedas geht, hat mein Kollege Winfried Hermann bereitserläutert.Sieht man sich die Situation in den Industrieländernan, so kann man sagen, daß die Bundesrepublik sehrwohl ein Musterknabe ist. Sie steht, was den niedrigenWasserverbrauch in Europa angeht, mit 127 Litern proTag an dritter Stelle. Aber das ist kein Grund nachzulas-sen. Es ist auch noch weniger möglich, ohne daß man anKomfort einbüßen muß.Eva-Maria Bulling-Schröter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5245
(C)
(D)
Von der Regierungsseite wurden – das stimmt – inden vergangenen Jahren weitere Anstrengungen unter-nommen, um die Trinkwasserqualität und die Vorsorgezu verbessern. Die Kostenbegrenzung ist dabei aller-dings nur bedingt gelungen. Der Anstieg der Trinkwas-serpreise hat sich im vergangenen Jahr in Deutschlandzwar weiter verlangsamt und betrug nur 1,5 Prozent. Sobezahlt man derzeit für einen Kubikmeter Wasser unge-fähr 3,26 DM. Aber die Kosten für die Abwässer über-steigen mittlerweile die Kosten für das Trinkwasser. Dassind – auf die Fehler der Vergangenheit ist schon hin-gewiesen worden – Ihre Fehler, die Sie zum Beispiel imOsten gemacht haben, indem Sie überdimensionierteKläranlagen gefördert haben, weil die „blühenden Land-schaften“ kommen sollten, die aber nicht gekommensind.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Homburger?
Gi
Nein, im Moment nicht.
Ich möchte als letztes die Liberalisierung des Was-
sermarktes ansprechen, den Sie ebenfalls hochhalten.
Da muß ich aus Sicht des Umweltministeriums ganz klar
sagen, daß eine Privatisierung ohne Wenn und Aber, wie
sie Ihnen vorschwebt, mit fatalen Folgen verbunden sein
kann, wenn man Wasser ausschließlich unter Wettbe-
werbsaspekten betrachtet. Es ist hier schon ein paarmal
angesprochen worden: Wasser ist mehr als ein Wirt-
schaftsgut. Es ist ein Lebensmittel, von dem wir alle,
Opposition und Koalition, abhängig sind.
Wenn unter Kostenaspekten nur das Notwendigste für
die Einhaltung der Grenzwerte der Trinkwasserverord-
nung getan würde, wäre die Konsequenz, daß wir ent-
weder hygienische Probleme bekämen oder zum Bei-
spiel die Chlorbeigaben erhöht würden. Auf jeden Fall
würde die Qualität leiden. Die Gesundheit der Verbrau-
cher muß Vorrang vor der Freiheit des Wettbewerbs ha-
ben.
Der Schutz geschlossener Versorgungsgebiete muß
erhalten bleiben, weil ansonsten die Gefahr besteht, daß
nach dem Prinzip der Rosinenpickerei die Großabneh-
mer bevorzugt werden und die Kleinabnehmer zurück-
bleiben, die dann auch noch Preissteigerungen hinzu-
nehmen hätten. Eine breite Versorgung der Bevölkerung
muß gewährleistet bleiben, und zwar zu sozial verträgli-
chen Trinkwasserpreisen.
Deshalb haben sich Umweltministerium und Gesund-
heitsministerium bei der Beibehaltung des § 103 durch-
gesetzt, der den Gebietsschutz bei der Wasserversorgung
garantiert. Die hohe Qualität der Wasserversorgung darf
nicht angetastet werden.
Insofern wird das Umweltministerium – das kann ich
Ihnen, Frau Homburger, zu Ihrer Beruhigung sagen –
eine Informationskampagne zur Organisation der
Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung starten und
intensive Gespräche mit den Verbänden der Wasserver-
sorgung und des Umweltschutzes führen; denn wir ha-
ben erkannt, daß Wasserpolitik eines der wichtigsten
Politikfelder der Zukunft sein wird. Die neue Bundesre-
gierung wird ihren Teil dazu beitragen. Sie wird nicht
nur reden, sondern sie wird handeln.
Wir nehmen Ihre Mitarbeit dabei gerne an.
Zu einer Kurzinter-
vention hat die Kollegin Homburger das Wort.
Frau StaatssekretärinAltmann, ich möchte, weil Sie keine Zwischenfrage zu-gelassen haben, kurz etwas zu Ihrer Bemerkung sagen,wir hätten in der Vergangenheit Fehler gemacht und wir– also die alte Bundesregierung, die alte Koalition –hätten in den neuen Bundesländern überdimensionierteKläranlagen gebaut.Es scheint Ihnen nicht bekannt zu sein, Frau KolleginAltmann, daß für die Projektierung von Kläranlagennicht der Bund zuständig ist, sondern daß die Kommu-nen dafür zuständig sind. Das ist das erste, was ich fest-halten will. Der Bund ist für die Setzung von Rahmen-bedingungen zuständig. Da kann er in der Tat lenken.Aber das gilt nicht für die Frage der Dimensionierungder Kläranlage; das wird vor Ort entschieden.
Es gibt sowohl öffentlich-rechtlich als auch privat-rechtlich betriebene Anlagen in den neuen Bundeslän-dern, die zu groß dimensioniert sind. Im übrigen gibt essolche auch in den alten Bundesländern; das ist keineSeltenheit.Parl. Staatsekretärin Gila Altmann
Metadaten/Kopzeile:
5246 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Dazu will ich Sie nur auf eines hinweisen: Bei denen,die privatwirtschaftlich betrieben werden, gab es immerDiskussionen darüber, ob die Kläranlage so groß seinmuß; denn wenn eine Kläranlage überdimensioniert ist,wirkt sich das sofort auf die Gebühren aus.Rostock wird immer als Paradebeispiel dafür ange-führt, daß privatwirtschaftlich betriebene Anlagen nichtfunktionieren. Da ist aber nicht der Betreiber schuld dar-an, daß die Kläranlage zu groß dimensioniert ist; viel-mehr hat seinerzeit der Stadtrat entschieden, daß nicht sogebaut wird, wie der Betreiber es will und wie er die an-fallende Wassermenge einschätzt, sondern daß das ur-sprünglich angenommene Mengenwachstum und deralte Plan zugrunde gelegt werden, so daß man die Was-sermenge nach dem alten Plan berechnet hat. Das heißt,es war eine politische Entscheidung und keine fachlichbegründete Entscheidung. Es ist immer schlecht, wennPolitik meint, sie könnte fachliche Entscheidungen poli-tisch treffen.
Frau Staatssekretä-
rin, möchten Sie antworten? – Bitte sehr.
Gi
Frau Kollegin Homburger, ich finde es etwas ärm-
lich, das jetzt auf die Kommunen abzuwälzen. Natürlich
kennen wir die Kompetenzabgrenzung.
– Ich versuche es ja gerade zu erklären. Warten Sie doch
ab.
Im Augenblick hat
die Frau Staatssekretärin das Wort. Wir sollten ihr ein
bißchen zuhören. – Bitte sehr.
Gi
Die Kommunen haben ihre Bedarfsplanung aber
doch danach ausgerichtet, was letztendlich vom Bund an
Daten vorgegeben worden ist.
Das heißt, Sie haben blühende Landschaften verspro-
chen.
Sie haben in den Best-case-Prognosen Zuwächse ver-
treten. Das hat letztendlich dazu geführt, daß die Anla-
gen so geplant worden sind, wie es geschehen ist. Die
Zeche zahlen jetzt die Endverbraucher.
Das ist letztendlich der Punkt, an dem Sie Ihre politi-
schen Fehler gemacht haben, auch wenn Sie es heute
nicht mehr wahrhaben wollen.
Nun hat das Wort
der Kollege Werner Wittlich, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die allgemeine Be-sorgnis über die Qualität der kommunalen Abwässerhat ihren Grund in der umweltschädlichen Wirkung die-ser Abwässer, die häufig nicht ausreichend gereinigtwerden.Die Einleitung unbehandelter kommunaler Abwässerkann schon rein optisch zu Beeinträchtigungen führenund den Erholungswert von Flüssen, Seen, Flußmün-dungen und Meeren mindern. Im Süßwasser kann dieVerringerung des gelösten Sauerstoffs und die Einlei-tung von Ammoniak und größeren Mengen vonSchwebstoffen das ökologische Gleichgewicht erheblichstören. Das wirkt sich wiederum stark negativ auf Floraund Fauna, insbesondere die Fischbestände, aus. AuchWasser, das für den menschlichen Gebrauch bestimmtist, kann von dieser Verschlechterung der Wasserqualitätstark betroffen sein. Die Einleitung kommunaler Abwäs-ser ins Meer kann außerdem dazu führen, daß dieseszum Baden und für die Zucht von Schalentieren usw.nicht mehr geeignet ist.1988 wurden Initiativen für eine neue, wirksamereWasserpolitik der Gemeinschaft ergriffen. Der Europäi-sche Rat von Hannover forderte die Kommission undden Rat auf, ihre Anstrengungen zur Bekämpfung undVerhütung der Luft- und Wasserverschmutzung zu ver-stärken. Am 9. November 1989 hat die Kommission denVorschlag einer Richtlinie des Rates über die Behand-lung kommunaler Abwässer vorgelegt. Diese Richtlinietrat am 21. Mai 1991 in Kraft.Der hier nunmehr zur Beratung stehende Bericht derKommission ist eine Bilanz über die Umsetzung dieserRichtlinie in einzelstaatliche Rechts- und Verwaltungs-vorschriften. Die einstimmige Beschlußlage im Aus-schuß darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß – wiezum Beispiel bei Art. 3 Abs. 1 des Vertrages – auch hierimmer noch ein großes Potential an Verbesserungsmög-lichkeiten besteht.Es kann nicht sein, für grundsätzlich alle Gemeindenentsprechend den Bestimmungen des Art. 3 Abs. 1 Ka-nalisationssysteme zu bauen. Ich halte es für dringendgeboten, die Forderung für den Bau von Kanalisations-systemen auf Gemeinden ab einer bestimmten Mindest-größe zu beschränken.
Weiter möchte ich für die CDU/CSU-Fraktion daranKritik üben, daß der vorliegende Kommissionsberichtmit vier Jahren Verspätung vorgelegt wurde. Die Be-Birgit Homburger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5247
(C)
(D)
gründung der Kommission für die verspätete Vorlagekann somit nicht akzeptiert werden.
– Erzählen Sie doch keine Märchen!
Die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht –Art. 19 der Richtlinie – erfolgte in Deutschland wegenfehlender Umsetzungsverordnungen in den Bundeslän-dern endgültig im Februar 1998.Ich darf daran erinnern, daß der Deutsche Bundestagam 18. Juni 1998 zur Gebührenthematik in der kom-munalen Abwasserentsorgung einen Entschließungsan-trag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. unter derÜberschrift „Gewässer schützen – Kosten senken“ an-genommen hat.Ich fordere Umweltminister Trittin auf – er ist nichtda, die Staatssekretärin auch nicht –,
zum Stand der Umsetzung zu berichten, zum Beispielzur Überprüfung der Regelwerke und zu der Umsetzungder 6. Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz in den Län-dern.
Was ist zum Beispiel mit der Kommunalabgabe odermit der Vergabe- und der Honorarregelung? Sind dieseArbeiten in Vorbereitung, oder sind sie möglicherweiseschon abgeschlossen?Meine Damen und Herren, die Europäische Kommis-sion hat der Bundesrepublik Deutschland im November1998 wegen mangelnder Umsetzung der EG-Richtlinieüber kommunale Abwässer ein Mahnschreiben über-sandt. Damit hat sie ein Vertragsverletzungsverfahrennach Art. 169 EG-Vertrag eingeleitet.Nach der Richtlinie mußten kommunale Kläranlagenin Einzugsgebieten von „empfindlichen Gebieten“, so-fern sie Gemeinden von über 10 000 Einwohnern ent-sorgen, grundsätzlich bis Ende 1998 mit der sogenann-ten dritten Reinigungsstufe zur gezielten Nährstoffent-fernung ausgestattet sein. Dies gilt dann nicht, wenn dievorhandenen kommunalen Abwasserbehandlungsanla-gen insgesamt Stickstoff und Phosphor um 75 Prozentreduzieren. Diese 75-Prozent-Regelung nach Art. 5 Abs.4 der Richtlinie ist der entscheidende Ansatzpunkt, umzu belegen, daß Deutschland den Anforderungen genügt,welche die Kommission aus der Richtlinie ableitet.Deswegen ist es unverständlich, daß sich die Bundesre-gierung in ihrem Antwortschreiben nur andeutungsweiseauf diese Klausel beruft. Dies gilt um so mehr, als sieselbst davon ausgeht, daß die deutschen Abwasserent-sorger diese Anforderungen erfüllen.So hat unter anderem die Parlamentarische Staatsse-kretärin im Bundesumweltministerium, Simone Probst,anläßlich der „Essener Tagung“ im März 1999 in Aa-chen erklärt:Die Bundesrepublik Deutschland wird gegenüberder Kommission den Nachweis dieser Frachtredu-zierung erbringen können, wenngleich beim Stick-stoff die 75 Prozent nur knapp erreicht werden.In der Tat wurden bereits 1995 in den betroffenenWassereinzugsgebieten Ems, Weser, Elbe und Oder zurBehandlung in den Kläranlagen anfallende Abwässer zu81 Prozent einer biologischen Abwasserreinigung mitgezielter Nährstoffentfernung unterzogen. Dieses hoheNiveau trägt dazu bei, daß die deutschen Unternehmenim europäischen Vergleich einen unangefochtenen Spit-zenplatz einnehmen.Inzwischen ist der Leistungsstandard in Deutschlandnoch höher, weil seit 1995 allein in die Abwasserwirt-schaft in den neuen Bundesländern zirka 20 MilliardenDM investiert wurden. Nach meinen Informationen ha-ben sich Nachbarstaaten Deutschlands bereits frühzeitigauf die 75-Prozent-Regelung berufen.Ich fordere daher unseren Umweltminister, JürgenTrittin, auf, diesem Beispiel zu folgen und der Kommis-sion einen zufriedenstellenden Bericht zur 75-Prozent-Regelung vorzulegen.
Es muß damit gerechnet werden, daß die Kommission inwenigen Wochen eine „mit Gründen versehene Stel-lungnahme“ gegen Deutschland richtet. Dadurch wäredie nächste Verfahrensstufe beschritten. In der Stellung-nahme würde die Kommission Deutschland auffordern,innerhalb einer festgelegten Frist bestimmten Anord-nungen nachzukommen. Dann hätte Deutschland nurnoch sehr eingeschränkte Möglichkeiten, entlastendesMaterial nachzureichen.Wenn die Bundesregierung der Kommission keinebesseren Gegenargumente als bisher präsentiert, mußDeutschland damit rechnen, vom Europäischen Ge-richtshof verurteilt zu werden. Das wäre ein weiteresZeugnis dafür, wie dilettantisch die BundesrepublikDeutschland von dieser Bundesregierung internationalvertreten wird.Vielen Dank.
Herr Kollege Witt-
lich, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Marga Elser,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste zu später Stunde!Wenn ich Ihnen sage, daß der menschliche Organismuszu etwa zwei Dritteln aus Wasser besteht, so ist mögli-Werner Wittlich
Metadaten/Kopzeile:
5248 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
cherweise der oder die einzelne von Ihnen mit mir derMeinung, daß dies nicht für Abgeordnete gelten kann.Die Versorgung mit Trinkwasser – nicht die mit geisti-gen Getränken – ist bei unserer Arbeit – man sieht es –nicht immer gewährleistet. – Aber Spaß beiseite. EinMensch kann zwar viele Wochen leben, ohne zu essen.Ohne Wasser aber wird er höchstens sechs Tage überle-ben.Der Bericht der Bundesregierung zum Jahresgutach-ten 1997 über Wege zu einem nachhaltigen Umgang mitSüßwasser zeigt uns eine ernste Krise an: Heute lebenrund 2 Milliarden Menschen ohne Zugang zu sauberemTrink- und Sanitärwasser. Der Wasserverbrauch hat sichweltweit von 1950 bis 1994 nahezu vervierfacht. Dabeiist abzusehen, daß die nutzbaren Wasservorräte der Erdebis zum Jahr 2000 – das ist nun wirklich nicht mehr lan-ge – im Vergleich zu 1950 in Asien um drei Viertel, inAfrika um zwei Drittel und in Europa um ein Drittel zu-rückgehen werden.Das Menschenrecht auf Nahrung schließt auch dasRecht des Menschen auf eine angemessene Menge vonnutzbarem Wasser ein. Internationale Konflikte umSüßwasserressourcen haben ihren Ursprung oft nicht nurin der zunehmenden Wasserknappheit, sondern auch indadurch begründeten politischen Entscheidungen. AllesWasser, das wir auf der Erde haben, befindet sich ineinem ständigen Kreislauf: Nichts verschwindet undnichts kommt dazu. Immer mehr Menschen – nun sindes 6 Milliarden – müssen sich diese endlichen Wasser-vorräte teilen.Die Folgerungen aus dem Bericht haben wir in einerBeschlußempfehlung zusammengefaßt, in der wir dieBundesregierung auffordern, eine Reihe von Maßnah-men sowohl im nationalen als auch im internationalenBereich zu ergreifen. Bedauerlich ist übrigens, daß Sie,meine Damen und Herren der CDU/CSU und derF.D.P., dieser Beschlußempfehlung im Umweltausschußnicht zugestimmt haben.
Vielleicht hat Sie die wasserarme Sommerpause einesBesseren belehrt, und Sie können sich heute doch nochzu einer Zustimmung durchringen.
Wir jedenfalls sind davon überzeugt, daß es bei derDramatik der Süßwasserkrise keine isolierte nationaleAlleinbetrachtung und das Herumdoktern an Einzelsym-ptomen geben kann. Gefordert ist hier nicht nur dieUmweltpolitik, sie kommt zwar zuerst, aber wir Um-weltpolitiker sehen die Umweltpolitik als Quer-schnittsaufgabe. Gefordert sind alle Politikbereiche, vonder Wirtschaft über den Verkehr, die Land- und Forst-wirtschaft bis hin zur Entwicklungszusammenarbeit.
Wir sind davon überzeugt, daß mit der Beseitigungdes Trinkwassermangels und der Entlastung der Gewäs-ser durch Abwasserreinigung international ein großerBeitrag zum inneren und äußeren Frieden in denLändern geleistet werden kann. Die Umsetzung der Rio-Beschlüsse von 1992 auf nationaler und internationalerEbene und der Petersberger Erklärung von 1998 zur Lö-sung dringender Fragen auf dem Wassersektor muß alsein Schwerpunkt der gesamten Regierungsarbeit voran-getrieben werden.
Auf internationaler Ebene hat die 6. Sitzung derUNO-Kommission für nachhaltige Entwicklung imApril 1998 in New York „Strategische Ansätze fürSüßwasser-Management“ verabschiedet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zueinigen wasserrelevanten Schwerpunkten im nationalenBereich kommen. Der Bericht sagt aus, daß wir inDeutschland dank unserer klimatisch günstigen Lage imallgemeinen keine Probleme mit der mengenmäßigenWasserversorgung haben. Wir haben auch einen seitJahren kontinuierlich zurückgehenden Wasserverbrauch.Das ist nicht nur, aber auch ein Erfolg gewachsenenUmweltbewußtseins und verbesserter technischer Vor-aussetzungen.
Wir müssen aber noch viel mehr als bisher nicht nurnachsorgenden, sondern vorsorgenden Gewässer-schutz betreiben.
Auch bei einem vergleichsweise hohen technischenStandard zeigt die biologische Gewässergütekarte derBundesrepublik dennoch nur verschwindend wenige un-belastete Gewässer, während das Gros der Flüsse zu denmäßig bis kritisch belasteten gehört und an Elbe undRuhr noch stark verschmutze Abschnitte zu beklagensind. Die Vereinbarung über die internationale Kommis-sion zum Schutz der Elbe hat sich dort bereits positivausgewirkt.
– Abwarten, das kommt schon.
Gewässerschutz hat nicht nur mit der Verhinderungvon Schadstoffeinträgen in unsere Oberflächengewässerund ins Grundwasser zu tun, sondern auch mit der Wie-derherstellung und dem Erhalt natürlicher Bachläufe,Flußauen, Feuchtgebiete, Moore und Auwälder. Daherist es unerläßlich, daß der Bedeutung der Gewässer alsunentbehrlicher Teil des Ökosystems umfassend Rech-nung getragen wird. Dies ist auch und gerade im Zu-sammenhang mit der europäischen Wasserrahmenricht-linie zu sehen, mit deren allgemeinen Forderungen aberMarga Elser
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5249
(C)
(D)
klare Handlungsanweisungen und Kriterien einhergehenmüssen. Vor allem die Ableitungen und Emissionen gif-tiger, schwerabbaubarer organischer Stoffe und der Ein-trag von Stickstoff und Phosphor müssen soweit wiemöglich reduziert werden.Unsere Gewässer bieten vielfältigen Tier- und Pflan-zenarten den benötigten Lebensraum. Trocknet ein Was-serlauf aus, wird ein Bach begradigt und zementiert odergar überdeckelt, sterben Arten, geht Vielfalt verloren,verändert sich das Kleinklima. Der Kommunalpolitik,den Landschaftsplanern, der Flußgebietsplanung undden unteren Naturschutzbehörden kommt dabei einesehr große Verantwortung zu. Es ist notwendig, nichtmehr in Gemarkungsgrenzen, sondern in Wasserein-zugsgebieten zu denken.
Der integrierte Hochwasserschutz ist davon genauso ab-hängig wie die Darstellung des ökologischen und chemi-schen Gewässerzustandes und der vorhandenen Schutz-gebiete.Die Bewahrung der biologischen Vielfalt, wie sieauf der Konferenz von Rio in eindringlicher Weise for-muliert wurde, kann nur durch einen umfassendenSchutz der Lebensräume mit ihren Lebensgemeinschaf-ten erreicht werden. Nach Aussage von Wissenschaft-lern sind rund 300 Biotoptypen bei uns gefährdet. Be-sonders betroffen sind alle Feuchtlebensräume: Moore,naturnahe Flüsse und Bäche, Seen und Kleingewässer.Der Verlust ist auch durch aufwendigste Naturschutz-maßnahmen kaum – wenn ja, dann nur in sehr langenZeiträumen – oder aber gar nicht ausgleichbar.Die Erhaltung und Wiederherstellung von Flußauensichert zum einen die artenreichsten Lebensräumein Deutschland und leistet zum anderen einen ko-stengünstigen Beitrag zum Hochwasserschutz. Siesichert die Vitalität der Auenwälder und darüberhinaus eine nachhaltige Grundwasserneubildung.Dieses Zitat stammt aus den Vorschlägen des Bundes-amtes für Naturschutz für eine Naturschutzpolitik desBundes. Dabei soll nicht verkannt werden, daß sich derNatur- und Gewässerschutz sehr häufig in einem schierunlösbaren Zielkonflikt mit anderen gleichfalls umwelt-politischen Zielsetzungen befindet. Ich nenne dafür nurzwei Beispiele:Der Ausbau der Wasserkraftwerke ist zweifellos ei-ne Förderung regenerativer Energien. Gleichwohl kanndas Stauen und Ausleiten von Wasser einen Fluß unddamit einen ganzen Lebensraum zerstören. Die Verände-rung von Fließgeschwindigkeit, Strömungsmustern undSauerstoff- sowie Temperaturhaushalt bedingt denRückgang von Flora und Fauna. Davon abhängig ver-mindert sich auch die natürliche Regenerationsfähigkeitdes Wassers. Bei Neubauten kleiner und größerer Was-serkraftanlagen bedarf es daher der Erarbeitung einerumfassenden und langfristigen Ökobilanz.
Erst dann ist es für die Planer vor Ort möglich, abzuwä-gen und nachhaltige Entscheidungen zu treffen.Zweites Beispiel: Die vermehrte Nutzung von Was-serstraßen für den Schwerguttransport ist ein erklärtesZiel unserer Verkehrspolitik. Das ist zweifellos richtig;denn damit werden Verkehrsschadstoffe und die Bela-stung der Straßen mit Schwerverkehr vermindert.Schwierig wird es, wenn durch den Ausbau bisher nochhalbwegs intakter Flußlandschaften aus Flüssen Wasser-straßen werden, wenn permanent ausgebaggert werdenmuß, wenn Strombaumaßnahmen ökologische Kriterienals nachrangig betrachten. Die Gefahr ist groß, daß dieErneuerungsfähigkeit des Gewässers erlischt und einenatürliche Strömungsdiversität unterbunden wird. Wennbeispielsweise Totholz sowie Kies- und Sandbänke fastvöllig fehlen und die ökologische Durchgängigkeitdurch Staustufen fast vollständig unterbunden wird,führt dies dazu, daß das Grundwasser sinkt, die Hoch-wassergefahr steigt und die Trennung von Fluß und Auezunimmt. Als Folge davon sterben Arten. Deshalb ap-pelliere ich an dieser Stelle an die Verkehrspolitiker,dem ökologischen Aspekt bei der Verkehrswegeplanungeinen hohen Rang einzuräumen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Land ist einesder fortschrittlichsten und umwelttechnisch am höchstenentwickelten. Wir sind davon überzeugt, daß innovativeUmwelttechnologien Arbeitsplätze schaffen und Export-chancen eröffnen. Darauf dürfen wir stolz sein. Aller-dings sind wir als Industrienation auch einer der größtenMitverursacher globaler Umweltprobleme. Darauserwächst uns eine riesengroße Verantwortung für denglobalen Umgang mit der kostbaren Ressource Süßwas-ser. Wir haben zumindest teilweise gelernt, daß der be-ste Schutz unserer Umwelt die Vermeidung ist. Die End-of-pipe-Strategie ist erkanntermaßen uneffektiv und teu-er. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, daß einnachhaltiger Umgang mit dem Lebensmittel Wasser füralle Menschen dieser Welt möglich wird! Stimmen Sieder Beschlußempfehlung des Umweltausschusses zu!Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Elser,
das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich
gratuliere Ihnen im Namen des Hauses.
Zum Abschluß dieses Tagesordnungspunktes hat jetzt
die Kollegin Vera Lengsfeld das Wort.
Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn wirheute einer im Ausschuß für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit parteiübergreifend erarbeiteten Be-schlußempfehlung in Sachen kommunales Abwasser zu-stimmen, so darf doch nicht in Vergessenheit geraten,daß der ungeheure Nachholbedarf in den neuen Bun-desländern in Sachen ökologische Vernunft die FolgeMarga Elser
Metadaten/Kopzeile:
5250 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
der umweltpolitischen Mißwirtschaft der DDR ist, dasheißt des SED-Regimes,
das schon allein Datenerfassung und die öffentliche Dis-kussion ökologischer Realitäten behindert hat oder dieDaten geheimhielt. Deshalb sind Forderungen der PDSnach einem Fonds zur Unterstützung der Bürger imOsten bei Zahlung hoher Abwassergebühren heuchle-risch zu nennen.
Nun heißt es ja nach einem französischen Sprichwort:Die Heuchelei ist die Verbeugung des Lasters vor derTugend. Wir möchten doch allzugern annehmen, daß diePostkommunisten heute, zehn Jahre nach ihrer Wende,auf dem Pfade ökologischer Tugend wandeln. Aber wiewir im Laufe des Abends sehen werden, sind gerade inSachen Abwasserpolitik die Aussichten in den Ländernganz besonders trübe, in denen die PDS stark ist, dieRegierung toleriert oder gar mitregiert.
Das Wirtschafts- und das Umweltministerium habenbekanntlich einen Forschungsauftrag vergeben, um Be-hauptungen auf den Grund zu gehen, wonach Deutsch-land das Land der höchsten Trinkwasserpreise und derhöchsten Abwassergebühren sei. Dies, so wird behaup-tet, sei auf überhöhte Technikanforderungen und man-gelnde Kosteneffizienz zurückzuführen. Die Ergebnissedieser Studie, die auch nach Bundesländern differen-ziert, sind allerdings bemerkenswert.Sicher ist der hohe Standard der Abwasserreinigungin Deutschland nicht billig. Die Abwasserreinigung er-folgt zu zirka 89 Prozent biologisch. Deutschland liegtalso beim Gewässerschutz, aber auch bei den Kosten ander Spitze Europas. Im allgemeinen gilt die Faustregel:Ein hoher Grad des Anschlusses an öffentliche Kanäleund Abwasserreinigungsanlagen korreliert mit hohenKosten. Dies zeigt die Studie auch für die einzelnenBundesländer. Der Zeitraum, der hier untersucht wird,liegt zwischen 1995 und 1998. Da zeigt sich: Thüringenund Sachsen sind für ihre Bürger mit 163 DM bzw. 124DM pro Einwohner und Jahr vergleichsweise billig; siehaben aber mit nur 48 Prozent bzw. zirka 60 Prozentauch den geringsten Anschlußgrad der Bevölkerung. ImVergleich dazu sind die Bewohner Berlins oder desSaarlandes mit 264 DM bzw. 280 DM pro Einwohnerund Jahr hoch belastet, aber auch zu knapp 97 Prozent –in Berlin – oder 69 Prozent – im Saarland – angeschlos-sen.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-
Schröter?
Nein, im Augenblicknicht; nachher vielleicht.
Es fällt allerdings auf, daß das Saarland die höchstenKosten, aber nur den geringsten Anschlußgrad hat.
– Ja, man sollte sich diese Sachen wirklich einmal an-schauen, statt immer nur Phrasen zu dreschen. – Sachsenwar wirklich gut; es gab einen Anschlußgrad von knapp60 Prozent bei niedrigen Kosten.Sehr interessant ist die Abbildung 3 dieser Studie, dieuns übrigens in Drucksache 14/1343 auf Seite 41 vor-liegt. Hier werden die Abwassergebühren in D-Mark proEinwohner und Jahr über den Anschlußgrad an kommu-nale Kläranlagen geplottet. Die neuen Länder liegen beiniedrigen, die alten bei hohen Anschlußgraden. Der all-gemeine Trend „Je höher der Anschlußgrad, desto teu-rer“ kann dadurch verdeutlicht werden, daß man eineansteigende Gerade durch die Punkte zieht und sich da-bei die Bundesländer auf einer Ausgleichsgeraden denkt.
– Ich kann das auch zeigen. – Auf dieser Geraden liegendie Bundesländer, die mittlere Kosten und mittlere An-schlußgrade haben. Und jetzt wird es wirklich interes-sant. Diese „mittleren“ Länder sind zum Beispiel Ham-burg und Schleswig-Holstein. Dann gibt es die Ab-weichler nach links und nach rechts.
Thüringen und Sachsen zum Beispiel erreichen einenangemessenen Anschlußgrad an Kläranlagen bei niedri-gen Kosten für die Bürger; sie weichen also nach rechtsunten ab.
Aber links oben auf der Trendgeraden finden wir – jetztdürfen Sie dreimal raten; dann können Sie weiter-lachen – Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhaltund Brandenburg.
Das heißt, diese drei Länder sind teurer für die Bürgerund erreichen den geringsten Anschlußgrad an die Klär-anlagen.Übrigens sind auch Bayern und Baden-WürttembergAusreißer vom mittleren Trend. Sie reinigen ihre Ab-wässer zu 88 bzw. 97 Prozent mit Kläranlagen, habenaber mit 189 bzw. 181 DM pro Einwohner und Jahr nurunterdurchschnittliche Kosten. Auch dies ist eine Ab-weichung nach rechts unten.
– Man sollte sich ab und zu einfach einmal die Materia-lien anschauen, die wir im Ausschuß so geliefert be-kommen.Wenn man sich die Mühe macht, sich diese Grafikgenau anzuschauen, dann kann man eine statistischeKorrelation ableiten, die in Worte gefaßt lautet: Je röterVera Lengsfeld
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5251
(C)
(D)
das Land, desto höher die Abwasserkosten; je schwär-zer, desto kosteneffizienter.
Angesichts dieser Grafik wundert man sich natürlichnicht mehr, daß es in Brandenburg Hungerstreiks gegenAbwasserpreiserhöhungen gibt, während aus Sachsenvergleichbare Dinge nicht zu berichten sind.
Es besteht erneut die
Bitte nach einer Zwischenfrage. – Offensichtlich lassen
Sie im Moment keine Zwischenfragen zu?
Nein, im Augenblick
nicht. – Das liegt auch daran, daß man in Sachsen in Sa-
chen ökologische Vernunft Augenmaß bewahrt hat. Die
von der Europäischen Union vorgegebene Einstufung
von Gewässern und Einzugsgebieten als „empfindliches
Gebiet“ hätte in der ursprünglichen pauschalen Form das
Land mit 30 Milliarden DM belastet bzw. die Bürger
über Jahre mit 750 DM pro Kopf und Jahr. Aber man
erkannte, daß stehende Gewässer wegen ihrer limnologi-
schen Puffer- und Klärwirkung zum Beispiel der Schilf-
gürtel stabiler auf Abwasserbelastung reagieren, so daß
diese aus der Kategorie „empfindlich“ herausgenommen
werden konnten, ohne an ökologischer Qualität einzu-
büßen.
Im übrigen, weil wir heute immer über die Güte der
Oberflächengewässer gesprochen haben: Es liegt eine
Studie aus München vor, die besagt, daß unsere Flüsse
am Ende dieses Jahrtausends so sauber sind, wie sie zu
Beginn dieses Jahrtausends waren, aber niemals in den
Jahrhunderten dazwischen. Das ist einerseits ein Grund,
ganz zufrieden zu sein. Andererseits hat dies einen dra-
matischen Artenrückgang zur Folge, weil die Arten aus-
sterben, die auf eine gewisse Trübung des Wassers an-
gewiesen sind. Ich sage das nur, um einmal auf die
Wechselwirkungen hinzuweisen.
Frau Kollegin,
kommen Sie bitte zum Schluß!
Ja, ich komme zum
Schluß. – Der Bund kann die regionalen und lokalen
Gebietskörperschaften im Sinne des Subsidiaritätsprin-
zips unterstützen, wenn er hilft, angemessene und ver-
nünftige Interpretationen der Länder gegenüber der EU
geltend zu machen. Er sollte sich, besonders bezogen
auf die neuen Länder, nicht aus seinem finanziellen En-
gagement in der Abwasserfrage zurückziehen. Im Rah-
men der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Kü-
stenschutz“ wurde auch der Ausbau der Abwasserent-
sorgung, der zum Beispiel in ländlichen Gebieten in
Thüringen besonders schwierig ist, vom Bund mitgetra-
gen; die Teilfinanzierung ist dann aber ausgesetzt wor-
den. Diese Aussetzung sollte wieder aufgehoben wer-
den. Wenn das Management stimmt, dann ist das gut
angelegtes Geld. Eine Bundesregierung, die den Aufbau
Ost zur „Chefsache“ gemacht hat, sollte dies verstehen.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention hat nun das Wort die Kollegin Bulling-Schröter.
Ich mache es
auch ganz kurz. – Frau Kollegin Lengsfeld, Sie haben
wieder mit Vehemenz gegen meine Partei geschossen.
Ich möchte einiges von dem, was Sie ausgeführt haben,
klarstellen.
Zunächst einmal: Die Umweltminister Mecklenburg-
Vorpommerns und Sachsen-Anhalts waren bis 1994
Mitglied Ihrer jetzigen Partei, also der CDU.
In dieser Zeit wurden die gesamten Kläranlagen in den
neuen Bundesländern konzipiert und projektiert, und
damals wurden auch die Zuschüsse gewährt. Es gab
auch die Honorarverordnung, die begünstigte, daß die-
se großen Kläranlagen gebaut wurden. Dafür gab es
sehr wenig Verständnis. Sie wissen wahrscheinlich
besser als ich, daß die Wasserwerke in der früheren
DDR zerschlagen wurden und in diesem Bereich dezen-
tralisiert wurde. Es gab wesentlich weniger Wasser-
werke.
Zweitens wollte ich Sie an etwas erinnern: Wir waren
einmal gemeinsam in Thüringen auf einer Montagsdemo
zum Thema Wasser und Abwasser. Wenn ich mich nicht
täusche, war es in Zeulenroda. Damals waren Sie noch
Mitglied der Grünen, und damals haben Sie den Bürge-
rinnen und Bürgern, die dabei waren, ganz andere Dinge
über die Frage der Preise in Thüringen erzählt. Mich
würde interessieren: Hat sich Ihre Meinung mit dem
Parteiwechsel geändert, oder ist es die Studie der Bun-
desregierung?
Frau Kollegin,
möchten Sie antworten? – Bitte sehr.
Frau Kollegin, wennSie mir richtig zugehört hätten, hätten Sie gewußt, daßich nur die Zahlen aus der Studie, die uns allen vorliegt,referiert habe und nichts weiter. Das hat mit meinemParteiwechsel überhaupt nichts zu tun; denn die StudieVera Lengsfeld
Metadaten/Kopzeile:
5252 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
ist nicht in meinem Auftrag erstellt worden, sondern imAuftrag der Bundesregierung.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Der Ausschuß
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit emp-
fiehlt in seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache
14/837 zum Jahresgutachten 1997 die Annahme einer
Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh-
lung? – Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Die Be-
schlußempfehlung ist bei Enthaltung oder Nichtbeteili-
gung der F.D.P. angenommen.*)
Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/1343 unter
Nr. 1, den Kommissionsbericht zum kommunalen Ab-
wasser zur Kenntnis zu nehmen, und unter Nr. 2 die An-
nahme einer Entschließung. Kann ich darüber gemein-
sam abstimmen lassen? – Das ist der Fall. Wer stimmt
für diese Beschlußempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-
haltungen? – Die Beschlußempfehlung ist bei Gegen-
stimmen der CDU/CSU angenommen.**)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus
Riegert, Friedrich Bohl, Georg Brunnhuber,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Verbesserung der Vereinsförderung
und der Vereinfachung der Besteuerung der
ehrenamtlich Tätigen
– Drucksache 14/1145 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Ihr wollt diesen Punkt nicht zu
Protokoll geben. Damit ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Riegert, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die Lobreden auf dieArbeit unserer Vereine sind unüberhörbar. Gern wird beiFestveranstaltungen und Jubiläen deren Bedeutung fürunser Gemeinwesen hervorgehoben, und dies zu Recht.Vereine leisten eine hervorragende Jugendarbeit. Ver-eine holen Jugendliche von der Straße und sorgen für ei-ne sinnvolle Freizeitbeschäftigung. Je weniger Jugend-amt, um so besser.In Vereinen ist gemeinsames Handeln angesagt. Diesprägt die Persönlichkeit eines jungen Menschen. Wervon klein auf in einem Verein aufwächst, lernt gemein-schaftliches Handeln. Unsere Vereine integrieren durch*) Anlage 2**) Anlagen 3 und 4ihr breites Angebot ausländische Mitbürger unbürokra-tisch und wie selbstverständlich. Behinderte wie auchältere Mitbürgerinnen und Mitbürger finden in VereinenGemeinschaft, Eingliederung und Lebenssinn. Vereineleisten Vorbildliches im Rahmen der gesundheitlichenFürsorge. Vereine fördern die Leistungsbereitschaft undarbeiten erfolgsorientiert. Sie üben demokratische Ver-haltensweisen ein. Fair play ist oberstes Gebot. DerStaat fördert unsere Vereine nach dem Prinzip der Sub-sidiarität: erst Eigenhilfe, dann staatliche Hilfe. Diesstärkt die Autonomie unserer Vereine und macht sie inihren Entscheidungen frei.Besonders danken möchte ich den ehrenamtlichenHelferinnen und Helfern.
Ohne deren unentgeltliches und freiwilliges Engage-ment wären die Leistungen in unseren Vereinen nichtdenkbar. Dafür an dieser Stelle ein herzliches Danke-schön.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Vereine ge-ben Millionen von Menschen Lebenssinn. Die ehren-amtliche Struktur unserer Vereine stabilisiert unsereDemokratie, weil sie Werte und Tugenden vermittelt.Deshalb müssen wir dafür sorgen, daß die Mitgliedsbei-träge niedrig bleiben. Bezahlbare Mitgliedsbeiträge sindeine wesentliche Voraussetzung für einen Verein für al-le. Nur dann ist eine Teilnahme aller sozialen Schichtenam Vereinsleben gesichert. Deshalb müssen wir dieRahmenbedingungen für Vereine so gestalten, daß sieihre Aufgaben autonom, in eigener Verantwortungwahrnehmen können. Sie dürfen nicht zu billigenDienstleistern werden und ihre Strukturen rein kommer-ziellem Denken unterordnen.Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat 1989das Vereinsförderungsgesetz initiiert, und der Deut-sche Bundestag hat es verabschiedet. Dieses Gesetz trägtdem Anliegen der Vereine Rechnung. Es gewährt Steu-ervergünstigungen bzw. Steuerfreiheit bei der Körper-schaft-, Gewerbe-, Vermögen-, Umsatz-, Grund- undErbschaftsteuer. Allerdings hat es seit zehn Jahren keineVeränderung gegeben.
Die Besteuerungs- und Zweckbetriebsgrenzen liegenweiterhin bei 60 000 DM im Jahr. Die Aufwandsent-schädigung ist nicht gestiegen.
Gestiegen sind aber die Belastungen für die Vereine.Die staatlichen und städtischen Zuschüsse sind geringergeworden. Viele Kommunen erheben die Nutzungsent-gelte für die Benutzung von Sportanlagen. Für die mei-sten Sportvereine fließen die Sponsorengelder nicht so,wie von der Öffentlichkeit oft vermutet.Vera Lengsfeld
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5253
(C)
(D)
In den vergangenen zehn Jahren aber sind die Aufga-ben der Vereine sowie die Anforderungen und Ansprü-che der Mitglieder an die Vereine gewachsen:
mehr Freizeit, Streben nach mehr Individualisierung, ge-steigerte Interessen, verstärkte Angebote in der Freizeit-gestaltung. Dies geht an den Vereinen nicht spurlos vor-über.Wir haben es begrüßt, daß die Koalition die Rahmen-bedingungen für die Vereine verbessern wollte. So stehtes in der Koalitionsvereinbarung. Sie hätten uns auf IhrerSeite gefunden. Doch was hat diese Bundesregierung ge-macht? Sie hat erstens die Sportfördermittel gekürzt undzweitens bei den Energiesteuern abkassiert. Dies ist eineaußerordentlich hohe Belastung für unsere Vereine unddie dort tätigen Übungsleiter und ehrenamtlich Tätigen.Fahrten von Jugendlichen und Kindern zum Training, zuden Übungsplätzen und zu Wettkämpfen verteuern sichdrastisch. Sie erhalten keinen Ausgleich. Unterhaltungs-kosten für Vereinsheime und Sportstätten sowie Nut-zungsentgelte für kommunale Einrichtungen verteuernsich drastisch, ohne Ausgleich für unsere Vereine.Drittens belasten die Neuregelungen der 630-Mark-Jobs und der Scheinselbständigkeit die Vereine erheb-lich und lassen den dort Tätigen weniger in der Tasche.
Die Anhörungen zu den Steuererhöhungen und Neure-gelungen haben dies deutlich gemacht. Die Auswirkun-gen für unsere Vereine sind fatal. Durch ihre Gesetzge-bung haben SPD und Grüne die Strukturen unserer Ver-eine geschädigt.
Nebenberuflich Tätige kündigen die Mitarbeit. Dies hatFolgewirkungen für das ehrenamtliche Engagement.Wie sich die Neuregelungen an der Basis auswirken,zeigt eine Umfrage bei Sportvereinen. Ein Drittel derÜbungsleiter in den Sportvereinen hat seine Arbeit hin-geworfen. Sie sind es leid, auf Festveranstaltungen vonIhnen für ihr Engagement gelobt zu werden, währendSie ihnen gleichzeitig in die Tasche greifen. Dies mögensie nicht.Für ein weiteres Drittel der Übungsleiter übernimmtder Verein die Sozialversicherungsbeiträge. Dieser fi-nanzielle Kraftakt ist nur über Beitragserhöhungenmöglich. Aber diese Erhöhungen gehen zu Lasten sozialSchwacher.Die CDU/CSU hat gefordert, die gemeinnützigenVereine im Rahmen der Neuregelungen von der Sozial-versicherungspflicht auszunehmen.
Rotgrün hat dies abgelehnt. Die CDU/CSU hat gefor-dert, die gemeinnützigen Vereine und Organisationenvon der Erhöhung der Energiesteuern auszunehmen. Siehaben auch dies abgelehnt. Ihnen scheint es gleichgültigzu sein, was die ständigen Steuererhöhungen und dieNeuregelung der 630-Mark-Jobs in den Vereinen an-richten. Ihnen scheint es egal zu sein, ob Jugendarbeitnoch möglich ist, ob Arbeit mit älteren Menschen zu-rückgestellt werden muß und ob Behinderten eine ver-nünftige Betreuung zuteil wird. Dies ist kein Vermitt-lungsproblem, von dem Sie glauben, daß Sie es überallhaben. Dies ist ein Teil Ihrer sozialen Kälte.
Nun versuchen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, denPfusch, den sie mit der Neuregelung der 630-DM-Jobsangerichtet haben, zu übertünchen. Sie wollen auf demWege der Bereinigung von steuerlichen Vorschriften dasEinkommensteuergesetz ändern. Die Übungsleiterpau-schale soll von 200 auf 300 DM pro Monat erhöht wer-den.
Dies können Sie machen. Aber damit es auch dem letz-ten von Ihnen klar wird, weise ich auf folgendes hin: DieÜbungsleiterpauschale hat mit der Neuregelung der 630-DM-Jobs nichts zu tun. Sie können mit der Anhebungdieser Pauschale die Vereine und die dort Tätigen nichtan den Stellen entlasten, an denen Sie willkürlich Bela-stungen beschlossen haben. Wir werden Ihnen dieseMogelpackung nicht durchgehen lassen.
Die Richtigkeit unserer Auffassung bestätigen uns dieFinanzexperten Ihrer eigenen Fraktion. Ich zitiere jetztaus einem Papier der AG Finanzen der SPD-Fraktionvom Juni 1999. Dort heißt es:Mit der Aufstockung der Übungsleiterpauschalesollen die durch die Neuordnung der geringfügigenBeschäftigungsverhältnisse auftretenden Belastun-gen der Vereine und gemeinnützigen Organisatio-nen abgemildert werden. Das beabsichtigte Zielkann mit der Aufstockung der Übungsleiterpau-schale nicht erreicht werden. Die Vereine sind bela-stet, weil ihre Arbeitnehmer, die über zwei Be-schäftigungsverhältnisse verfügen und bei deneninfolge der Neuregelung die Voraussetzung für einegeringfügige Beschäftigung nicht mehr vorliegen,eine Lohnerhöhung fordern, um die Abzüge zukompensieren. Eine Anhebung der steuerfreienAufwandspauschale würde die gemeinnützigenVereine nicht von den beklagten Belastungen be-freien, da die Aufwandspauschale nicht den Verei-nen zusteht, sondern den dort tätigen Personen, unddas 630-DM-Gesetz und § 3 Nr. 26 EStG unter-schiedliche Personengruppen betreffen.Nicht zu dem nach § 3 Nr. 26 EStG begünstigtenPersonenkreis zählen Gerätewarte, Hausmeister,Kassierer, Platzwarte, Reinigungskräfte, Schriftfüh-Klaus Riegert
Metadaten/Kopzeile:
5254 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
rer, Vereinsvorsitzende. Die Neuregelung der ge-ringfügigen Beschäftigungsverhältnisse führt je-doch gerade bei diesen Personengruppen zu denvon den Vereinen beklagten Problemen. Damitwürde eine Aufstockung der Übungsleiterpauschaleinsbesondere eine Privilegierung selbständigerÜbungsleiter im Nebenjob gegenüber z. B. Reini-gungskräften bewirken, die wegen ihrer sozialenSchieflage nicht hingenommen werden kann. EineAusweitung des Anwendungsbereiches auf diesePersonen wäre verfassungsrechtlich zumindest be-denklich.So weit das Zitat aus dem Papier der AG Finanzen derSPD-Fraktion.
Zutreffender, lieber Herr Kollege Hermann, kann manden Unfug, den Sie angerichtet haben, gar nicht be-schreiben.
Ihre Finanzkollegen bescheinigen Ihnen, daß dieNeuregelung der 630-DM-Jobs und der Scheinselbstän-digkeit zu enormen Belastungen der Vereine geführt hat.Deshalb fordere ich: Ziehen Sie die Neuregelung der630-DM-Jobs und der Scheinselbständigkeit zurück!Lassen Sie die Flickschusterei mit der Erhöhung derÜbungsleiterpauschale!
Wir trennen sauber Einnahmen und Aufwand. WennSie die Neuregelung der 630-DM-Jobs zurückziehen,dann können wir über die Übungsleiterpauschale reden.Da Sie sich verständlicherweise noch zieren, müssen wirhandeln, um den Vereinen wieder eine verläßlicheGrundlage zu geben. Wir halten es für richtig, die vonder CDU/CSU eingeführte Vereinsförderung fortzu-schreiben und sie den geänderten Bedingungen anzupas-sen. Sie hat sich bewährt. Es ist konsequent, dem gestie-genen Aufwand ehrenamtlich Tätiger Rechnung zu tra-gen und die Übungsleiterpauschale anzuheben. Dies istder richtige Weg. Diesem Anliegen dient der vorliegen-de Gesetzentwurf.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hermann?
Ja, bitte.
Bitte sehr.
Ich habe zwei ganz einfache Fragen. Kollege Riegert,
warum haben Sie nicht in der Vergangenheit irgendeine
Vorlage eingebracht, um die Vereine zu fördern? War-
um haben Sie die Übungsleiterpauschale nicht von 2 400
DM auf 4 800 DM erhöht?
Herr Kollege Hermann,
selbstverständlich werde ich Ihnen die Fragen ganz ge-
nau beantworten. Wie Sie sich erinnern, haben wir über
ein Gesamtsteuerkonzept – Stichwort „Petersberger
Beschlüsse“ – beraten.
Wenn ich auf der einen Seite die direkten Steuern ab-
senken will und auf der anderen Seite die direkten Steu-
ern erhöhen will und gleichzeitig Sondertatbestände ver-
ändere, dann ist es politisch unklug, über Erhöhungen
von entsprechenden Tatbeständen zu diskutieren. Des-
halb haben wir die Petersberger Beschlüsse abgewartet.
Es gab Überlegungen von verschiedenen Seiten, zum
Beispiel von Professor Bareis, die Übungsleiterpau-
schale völlig zu streichen. Es gibt auf dem Gebiet des
Steuerrechts Sachverständige, die die Übungsleiterpau-
schale den Streichungen völlig anheimstellen möchten.
Wir sind dagegen.
Wir haben die Besteuerungs- und Zweckbetriebs-
grenzen bei 60 000 DM und den steuerfreien Übungs-
leiterpauschbetrag bei 2 400 DM belassen. In unserer
Regierungsverantwortung hätten wir einen entsprechen-
den Gesetzentwurf logischerweise vorgelegt.
Wir sind uns einig, daß die Erhöhung der Übungslei-
terpauschale von 200 DM auf 400 DM als Ersatz für
Aufwand der richtige Weg ist. Auch hierfür glaubten wir
Zustimmung zu finden. Ihr Fraktionsvorsitzender Peter
Struck, seine Vertreterin Ulla Schmidt und der sich
gleich hier rechtfertigende Wilhelm Schmidt
haben im Mai in der Öffentlichkeit vollmundig verkün-
det, die Übungsleiterpauschale werde auf 400 DM ver-
doppelt. Im gleichen Atemzug haben sie versprochen,
diese Übungsleiterpauschale auf alle ehrenamtlichen
Tätigkeiten auszuweiten.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Schluß.Wir hätten diese Ausweitung sofort mitgemacht.Doch wie es bei Ihnen so ist: Kaum versprochen, schongebrochen. Das ist das einzige, worauf man sich in IhrerPartei und in Ihrer Fraktion verlassen kann.
Klaus Riegert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5255
(C)
(D)
Ich erteile nun dem
Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich be-
grüße zu dieser Stunde, in der wir über einen Gesetz-
entwurf der CDU/CSU-Fraktion sprechen, ganze fünf
Kolleginnen und Kollegen aus dieser Fraktion, der es
angeblich so wichtig ist, über dieses Thema zu sprechen.
Herzlich willkommen!
Ich werde im übrigen auf das, was Herr Riegert ge-
sagt hat, nur insofern eingehen, als ich Sie von diesem
Pult aus frage, warum Sie die vergangenen Jahre seit In-
krafttreten des Vereinsförderungsgesetzes 1989 – nicht
nur Sie allein, sondern wir gemeinsam haben es auf den
Weg gebracht – nicht genutzt haben, um das, was Sie
nun für verbesserungsbedürftig halten, im Deutschen
Bundestag als Gesetz zu verabschieden. Diese Frage
steht im Raum, und Sie haben sie nicht beantwortet.
Herr Kollege Riegert, von daher will ich gar keine Zwi-
schenfragen zulassen.
Herr Kollege
Schmidt, ich hätte Sie gern danach gefragt, ob Sie eine
Zwischenfrage zulassen. Aber nun haben wir die Ant-
wort schon bekommen.
Lassen Sie unsdoch einmal versuchen, die Angelegenheit etwas struk-turiert zu diskutieren. Wie kommt bei Ihnen die Er-kenntnis zustande, daß die nun wirklich sehr moderateÖkosteuer für die Vereine und für die anderen Organi-sationen eine Zumutung ist, während Sie ihnen über dievergangenen Jahre hinweg das Fünf-, Sechs- oder Sie-benfache der Benzinpreiserhöhungen ohne ähnliche Re-aktion ihrerseits zugemutet haben?
Zu dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf kannich nur sagen: Das Ganze ist so etwas von heuchlerischund gegenüber dem Publikum so etwas von irreführend,daß Ihre Seriosität offensichtlich alle Maße verlassen hat.
– Und dieVereine haben das erkannt.
Um in meinem Redebeitrag wenigstens ansatzweiseauf Ihren Gesetzentwurf einzugehen – Herr Eich wirddiese Ausführungen in seinem Beitrag komplettieren –,möchte ich folgendes sagen: Sie schreiben im Gesetz-entwurf unter Punkt:B. Lösung– Schaffung einer zusätzlichen Rücklagemöglich-keit …– Erhöhung der Besteuerungs- und Zweckbetriebs-grenzen von 60 000 DM auf 120 000 DM.– Erhöhung des steuerfreien Übungsleiterpausch-betrags von 2 400 DM auf 4 800 DM.– Erhöhung der Grenze für die Pauschalierung derVorsteuer von bisher 60 000 DM auf 120 000 DM.Das sind grandiose Versprechungen.Dann schreiben Sie unter PunktD. Kosten der öffentlichen HaushalteGering
Wer kann das eigentlich noch glauben. Ich will hierzwar keine Rechnung aufmachen – vielleicht macht esmein Kollege Eich noch –, aber muß doch sagen, daßdas mehr als unseriös ist. Von daher lassen wir das auchnicht durchgehen.Umgekehrt wird daraus ein Schuh. Sie fügen genauan dieser Stelle den Vereinen, Verbänden und Organisa-tionen in Deutschland, die nicht unwesentlich mit ehren-amtlicher Arbeit zum Gemeinnutzen beitragen und un-glaublich viel Gutes in diesem Lande tun, Schaden zu.Mit diesem Gesetzesantrag helfen Sie diesen Organisa-tionen überhaupt nicht, sondern Sie schaden ihnen da-durch, daß Sie so etwas in die Welt setzen. Sie hätten inden vergangenen Jahren nicht im entferntesten daran ge-dacht, so etwas auf den Tisch zu bringen. Bei nähererBetrachtung kann es auch nicht ernsthaft als seriös be-zeichnet werden, so etwas auf den Tisch gebracht zu ha-ben.
Sie haben außerdem noch den verzweifelten Versuchunternommen, den Rahmen des Gesetzentwurfes einklein wenig zu sprengen, indem Sie in der Art einerSonntagsrede beleuchteten, wie wertvoll ehrenamtlicheund gemeinnützige Arbeit für dieses Land ist. In IhremGesetzentwurf beziehen Sie sich dabei aber eigentlichnur auf den Sport. Da ich Bezirkssportbundvorsitzenderbin, kann mir das eigentlich nur recht sein. Aber das istein bißchen zu kurz gegriffen.
Der Hintergrund dafür scheint zu sein, daß Sie sich zu-wenig Gedanken über diese Frage gemacht haben. Sielegen nämlich einen schlampigen und irreführenden Ge-setzentwurf vor, der dazu noch nicht einmal alle Perso-
Metadaten/Kopzeile:
5256 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
nengruppen und Organisationen erfaßt, die in diesemSektor zu berücksichtigen sind, wenn man wirklichernsthaft an die Sache herangehen will.Ich möchte jetzt einmal deutlich machen, in welchemUmfang ehrenamtliche und gemeinnützige Tätigkeit indiesem Lande geleistet wird. Natürlich macht der Sportdabei den überwiegenden Teil aus, die gleiche Arbeits-moral und das gleiche Engagement findet man aber auchim kirchlichen Bereich, in den Schulen, in den Kinder-gärten, bei den Jugendvereinen, im Kulturbereich, beider Kunst, auch in der Politik – denken wir einmal anunsere Kolleginnen und Kollegen in der Kommunalpo-litik –, bei den Sozialeinrichtungen, den Feuerwehren,den Rettungsdiensten, dem Katastrophenschutz und beianderen öffentlichen Ehrenämtern im Tierschutz, imUmweltbereich, bei der gesundheitlichen Selbsthilfe, beiDritte-Welt-Projekten sowie bei vielen anderen. Das sa-ge ich deswegen mit so großem Nachdruck, weil damitdie Dimension klar wird, um die es uns bei diesem Ver-such eigentlich gemeinsam gehen müßte. Das populisti-sche Ziel, das Sie mit Ihrem Schnellschuß hier zu errei-chen versuchen, läßt Sie hier jedoch völlig ins Leere lau-fen.
Meine Damen und Herren, genau das ist der Grund da-für, daß wir nicht allein den Sport betrachten dürfen.Wir müssen ihn natürlich als Motor der ganzen Bewe-gung durchaus berücksichtigen und einbeziehen, aberalle anderen verdienen es auch.So komme ich nun auf unseren Versuch – Sie hattendas ja schon angesprochen –, diesem ganzen Bereich se-riöser zu begegnen: Wir gehen nicht gleich ins Steuer-recht hinein und tun dann so, als wenn alles gelöst sei.Wir müssen die Rahmenbedingungen in der Gesellschaftfür diese Arbeit insgesamt verbessern. Es kann dochnicht angehen, daß draußen in einer veränderten Ar-beitswelt die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfervon Vereinen und Organisationen jede Woche Nachteileim beruflichen Leben erleiden müssen, weil ihnen ihreArbeitgeber diesen ehrenamtlichen Einsatz nicht nach-sehen. Genau auf diesem Felde wollen wir durch dieDebatten, die in den nächsten Wochen und Monaten zudiesem Thema folgen werden, Veränderungen erreichen.An dieser Stelle bitten wir die Wirtschaft und die Ar-beitgeber in diesem Lande sehr nachdrücklich darum,sich dieser Bewegung anzunehmen und sie zu unterstüt-zen. Sie loben sie ja oftmals selber, benachteiligen sieaber leider dann, wenn es konkret wird. Das gilt genausofür die Feuerwehrleute wie für die Vertreter von Sport-vereinen. Das gilt für diejenigen in den sozialen Dien-sten genauso wie für diejenigen, die bei uns Jugendar-beit im ehrenamtlichen Bereich leisten. Jeder, der diesesnebenbei oder zusätzlich macht, muß es natürlich in er-ster Linie mit sich und seiner Freizeitgestaltung abma-chen, aber ab und zu wirkt das natürlich auch in seineArbeitswelt hinein.Entscheidend ist, daß wir an dieser Stelle nicht nurum die Veränderung und Verbesserung gesetzlicherRahmenbedingungen ringen, sondern Einfluß auf die ge-sellschaftlichen Prozesse nehmen. Diesen Ansatz ver-folgen wir von der SPD-Fraktion dadurch, daß wir unsmit den Verbänden und Organisationen treffen, sie inunsere Arbeit einbeziehen und mit ihnen gewissermaßenlaufend in engstem Kontakt stehen, da wir nicht erstjetzt, sondern auch schon in den vergangenen Jahren mitihnen zusammengearbeitet haben.Dabei ist uns – um das deutlich zu machen – die Er-kenntnis gekommen, daß all diese Verbände und Orga-nisationen sehr gerne bereit sind zusammenzuarbeiten.Es gab von Ihrer Seite diese unsäglich Stiftung „Bürgerfür Bürger“. Ich will sie hier ansprechen, damit klarwird, welche Dimensionen das Ganze hat: Sie war dasparteipolitische, das regierungsamtliche und das wahl-kampftaktische Mittel von Frau Nolte – sie ist nun Gottsei Dank nicht mehr Ministerin –, um angeblich etwasfür das Ehrenamt zu tun. Nichts ist daraus geworden. Esgab ein paar Veranstaltungen, auf denen Frau Noltedurch die Presse gezerrt worden ist. Sonst ist nicht vieldabei herausgekommen.Das Entscheidende ist, daß wir ein breit angelegtesBündnis für das Ehrenamt, für die gemeinnützige Ge-sellschaft brauchen. Das muß mehr sein als das, was Siehier vorlegen.
Wenn sich an Stelle dieser Stiftung, die sich – ich sagehier von dieser Stelle: Gott sei Dank – in Auflösung be-findet, ein breites Bündnis der gesellschaftlichen Grup-pen und Verbände verwirklichen ließe, dann würden wirdas sehr begrüßen. Die Initiative, die wir stark unter-stützt haben, hat schon erste Früchte getragen: DerDeutsche Sportbund und der Deutsche Kulturrat, dieauch in unserer Arbeitsgruppe sitzen, haben sich, wievor kurzem zu lesen war, zu einem Bündnis zusammen-geschlossen. Dazu herzlichen Glückwunsch!
Ich kann alle anderen Verbände und Organisationen nurauffordern und dringendst bitten, sich diesem Bündnisfür das Ehrenamt anzuschließen.
Ich möchte folgendes sagen, damit die Dimensionklar wird: Es ist wesentlich mehr – darum müssen wirschon jetzt überlegen, was wir in den nächsten Monatenund Jahren machen werden – als das, was durch einensolchen steuerpolitischen Ansatz von Ihnen erreichtwürde. Wir wollen uns zum Beispiel rechtzeitig auf dasInternationale Jahr des Ehrenamtes im Jahr 2001vorbereiten. Auch das bedarf einer sehr intensiven Aus-einandersetzung in der Sache. Denn wir müssen unsklarwerden: Wo sind die Defizite in dieser modernenLeistungsgesellschaft? Wo sind die Defizite in dieser ar-beitsweltorientierten Gesellschaft? Wo sind die Defizitein der medienorientierten Gesellschaft? In welchem Be-reich kommen die Ehrenamtlichen überhaupt noch inangemessener Zahl vor? Woher kommt die Unterstüt-zung, um sie in ihren Vereinen, Verbänden und Organi-sationen entsprechend zu fördern? – Darum ist es an die-Wilhelm Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5257
(C)
(D)
ser Stelle noch einmal hervorzuheben: Es muß wesent-lich mehr sein.Ich möchte auf ihren Hinweis eingehen und etwaszum steuerpolitischen Gesamtzusammenhang sagen;Einzelheiten kann Herr Eich hinzufügen. Das Entschei-dende ist, daß wir der Auffassung sind, daß wir einenfinanzierbaren, seriösen Vorschlag auf den Tisch brin-gen müssen. Das werden wir in den nächsten Wochenauch tun, und zwar im Zusammenhang mit dem Steuer-bereinigungsgesetz, in das wir entsprechend eine solcheÄnderung einpflanzen. Das macht die Sache so interes-sant, weil wir damit schnell eine Umsetzung zustandebringen. Ihre Anträge dagegen sind, wenn man sie ausdiesem Blickwinkel betrachtet, ein Verschiebebahnhofund helfen uns in der Sache nicht so sehr viel.Ich kann Sie, meine Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, nur auffordern: Nehmen wir allegemeinsam Rücksicht auf diese veränderten Entwick-lungen in der Gesellschaft. Bemühen wir uns an dieserStelle gemeinsam – ich rufe ausdrücklich dazu auf – ummehr als nur darum, vordergründige, kurzfristige Anträ-ge auf den Weg zu bringen, die Sie, wenn Sie noch inder Regierungsverantwortung wären, niemals auf denWeg gebracht hätten.Wir danken ausdrücklich den vielen Millionen ehren-amtlich Tätigen in diesem Lande dafür, daß sie tagtäg-lich ihren Einsatz unter Beweis stellen und damit vielenMillionen Menschen aller Generationen, aller sozialenSchichten immer wieder so hervorragend helfen. Rechtherzlichen Dank dafür!
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinwei-sen, was noch eine Rolle spielen muß. Wir haben in un-serer Arbeitsgruppe „Förderung des Ehrenamts“ Ent-sprechendes vorbereitet, so daß wir mit weiteren Anträ-gen kommen. Sie können das also berücksichtigen. Wirwerden auch im Rahmen des Arbeitsförderungsgeset-zes Veränderungen herbeiführen, um die Verfügbar-keitsregeln zu entschärfen, die nach unserer Einschät-zung immer noch nicht in dem Maße hingenommenwerden kann, wie das im Moment der Fall ist.Wir werden im übrigen auch auf Bundesebene dar-über zu sprechen haben, wie wir denn versuchen kön-nen, zum Beispiel jungen Menschen, die sich als Schüle-rinnen und Schüler oder als Studentinnen und Studentenfür ihre Gemeinschaft einsetzen, besser in das Berufsle-ben zu verhelfen, als das bis jetzt der Fall ist. Dieskönnte durch eine Anerkennung über Zeugnisse, viel-leicht sogar – ich will diesen Punkt hier ansprechen,auch wenn er utopisch erscheint – über Bonussystemeim Bereich des Numerus clausus geschehen. Darübermuß man ernsthaft reden. Dieses Thema wird weit überden Tag hinaus Bedeutung haben. Wir werden uns des-halb an dieser Stelle weiter darüber unterhalten müssen.Die Botschaft, die wir als Reaktion auf Ihren Antragan Sie richten, lautet: Das Thema hat weit über den Tagund vor allen Dingen weit über den kurzfristig orien-tierten Antrag der CDU/CSU Bedeutung. Hinzu kommt,daß die Unseriosität Ihres Vorgehens gen Himmelschreit und daß Sie dadurch entlarvt werden. Sie werdenvon den Verbänden und Organisationen schon die Quit-tung dafür bekommen.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Riegert das Wort. Bitte
sehr.
Lieber Kollege
Schmidt, Ihre Rede war entlarvend: nicht zuhören, Fra-
gen stellen, aber Gegenfragen nicht zulassen; zum
Bündnis aufrufen, aber spaltend reden. Ich will drei
konkrete Punkte ansprechen:
Erstens. Es gab im Januar dieses Jahres eine Bundes-
ratsinitiative des heutigen Bundesfinanzministers Eichel,
eine Erhöhung der Freigrenze im Vereinsförderrecht zu
erreichen.
Zweitens. Am 5. Dezember 1997 hatten wir am Tag
des Ehrenamts eine große Debatte. Wir hatten damals
noch als Regierungsfraktion einen Entschließungsantrag
eingebracht und hatten damit genau die Adressaten, die
auch Sie in Ihrer Sonntagsrede erwähnt haben, nämlich
Arbeitswelt, Medien, Organisationen im Bereich Erzie-
hung und Bildung, Vereine und Organisationen ange-
sprochen. Diesen Entschließungsantrag haben Sie aber
abgelehnt.
Drittens. Sie rufen zu einem breiten Bündnis für das
Ehrenamt auf, bringen aber einen parteipolitischen
Touch in die Diskussion, der auch entlarvend ist. Dies
wird am Beispiel der Stiftung „Bürger für Bürger“ deut-
lich. Es ist richtig: Ich war Stifter und habe eigenes Geld
in die Stiftung eingebracht. Der Vorstandsvorsitzende
der Stiftung, Herr Corsa, ist aber SPD-Mitglied. Dem
Vorstand der Stiftung gehörte ebenfalls die heutige Ge-
sundheitsministerin Fischer an. Weil Sie diese Stiftung
sozusagen als Kind der Frau Nolte ansehen, rufen Sie
jetzt in entlarvender Weise zu einem breiten Bündnis
auf, um aber gleichzeitig zu spalten.
Herr Kollege
Schmidt, Sie dürfen erwidern.
In aller Kürze:Zunächst einmal muß ich sagen, daß man mit Entschlie-ßungsanträgen die Sache überhaupt nicht voranbringt.Sie hätten ja im vorigen Jahr nach 16jähriger Vorberei-tung einen Gesetzentwurf vorlegen können. Warum ha-ben Sie das nicht gemacht?
Zu den anderen Punkten kann ich Ihnen nur sagen,daß es sich dabei um eine objektive Bewertung von Tat-Wilhelm Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
5258 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
beständen handelt, die wir in den vergangenen Jahrenbei der Auseinandersetzung mit diesem Thema Förde-rung der Ehrenämter immer wieder festgestellt haben.Ich lasse Ihnen an dieser Stelle nicht durchgehen, daßdie Stiftungen, die Sie organisiert haben, im Zusammen-hang mit der Bundespolitik eine solch deformierte Wir-kung erzielt haben. Sie haben die entsprechenden Re-gelungen mit Ihrer Mehrheit in den Gremien durchge-setzt. Lassen Sie also die Kirche im Dorf! Der Sachver-halt liegt so, wie ich ihn beschrieben habe.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Herr KollegeSchmidt, Sie kennen sicherlich den Spruch: Wenn ichnicht mehr weiterweiß, dann gründe ich einen Arbeits-kreis. So ähnlich kommt mir Ihr Handeln vor: Sie bildenein Bündnis und bereiten sich so auf das InternationaleJahr des Ehrenamtes vor.Ich kann natürlich in der Politik alles und jedes ab-würgen, indem ich zu einem Antrag sage: Es gibt nochhundert andere Dinge zu tun.
– Herr Kollege Schmidt, wenn wir dies zusätzlich tun,dann kommen wir uns schon viel näher.
Wir müssen uns alle zusammensetzen und überlegen,was wir für die Vereine tun können. Wir müssen auch inder breiten Öffentlichkeit viel deutlicher machen, welchwichtige Funktion die Vereine bei uns haben. Nach mei-ner Einschätzung wird dies zunehmend wichtig.
Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen, der mei-ner Ansicht nach viel zu kurz kommt. Für mich undauch für die Demokratie haben die Vereine eine ganzwichtige Funktion. Wo lernen eigentlich junge Leutebesser als im Verein, ihre Fähigkeiten und Fertigkeitenoptimal auszubilden,
Kompromisse zu schließen, sich selbst einzubringen undgemeinsame Ziele zu verwirklichen? Auch das ist füruns als Deutscher Bundestag ein Grund, uns diesesThemas wieder viel mehr anzunehmen.
Nun war ich selbst überrascht, liebe Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU, daß Sie in der BegründungIhres Entwurfs nur von Sportvereinen sprechen. Ichselbst bin Vorsitzender eines großen Laienmusikverban-des. Ich nenne Ihnen bloß einmal einige Zahlen. Wir ha-ben allein bei den instrumentellen Laienmusikverbänden12 000 Vereine mit zirka 700 000 aktiven Mitgliedern.Wir haben bei den Chören 50 000 Vereine mit 1,5 Mil-lionen Sängerinnen und Sängern. Für viele Vereine indiesem Bereich trifft das, was Sie zu Recht fordern, ge-nauso zu wie für die Sportvereine. Deshalb müssen wirdas ein wenig ausweiten.
Wir brauchen das Ehrenamt. Daran hat niemand beiuns Zweifel. Ich denke, wir stimmen auch überein, daßwir es fördern wollen. Nur über die Wege sind wir imAugenblick wohl unterschiedlicher Auffassung.Herr Kollege Schmidt, da möchte ich gerne einegrundsätzlichere Diskussion führen, und zwar darüber,daß das, was wir jetzt in diesem und anderen Bereichenvorlegen, einiges mit der Steuerpolitik allgemein zu tunhat. Wenn die Steuerreform, die die alte Koalition indiesem Hause beschlossen hat und die Sie aus Gründen,die wir alle kennen, blockiert haben, durchgekommenwäre, dann müßten wir heute vielleicht nur über andere,kleinere Dinge sprechen.
– Nein!
– Entschuldigung, wenn Sie das begreifen würden: Wirals F.D.P. wollten eine drastische Steuerreform, mehrnoch, als es später in den Petersberger Beschlüssen fest-gelegt wurde. Selbstverständlich hätten damit andereMaßnahmen einhergehen müssen; das ist völlig klar.Nachdem Sie das abgelehnt haben, besteht jetzt Kor-rekturbedarf.Herr Kollege Schmidt, wenn Sie selbst sagen, Sie sei-en im Verein aktiv, dann verstehe ich nicht, mit wem Siereden. Wir kennen doch alle die Probleme, die die Neu-regelung der Scheinselbständigkeit und des 630-DM-Gesetzes im Sportverein oder im Musikverein verur-sacht.
Ich kann Ihnen die Vereinsvorsitzenden zeigen, die sichverzweifelt bemühen, alle rechtlichen Voraussetzungenzu prüfen.
Sie sind damit völlig überfordert. Das müssen Sie sehen.
Wilhelm Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5259
(C)
(D)
Das Problem, daß wir keine Ehrenamtlichen bekommen,hängt doch auch damit zusammen, daß sich die Leutedas nicht mehr trauen. Fragen Sie doch einmal nach, wasIhre Gesetze zur Scheinselbständigkeit und zur 630-DM-Regelung bewirken!Und wenn Sie über das Thema Ökosteuer so leichthinweggehen,
muß ich Ihnen sagen: Die Ökosteuer ist für manche Ver-eine eine ganz schön große Belastung.
Wir haben Reparaturbedarf. Ich sage für die F.D.P.:Der CDU/CSU-Entwurf geht sicher in vielen Teilen indie richtige Richtung. Wir werden ihn auch in Teilenmittragen, aber nicht in allen.Ich möchte hier noch einen Punkt ansprechen, derbisher nicht angesprochen wurde. Steuerliche Ausnah-metatbestände sind für uns als F.D.P. von vornhereinbedenklich. Steuerliche Ausnahmetatbestände werdenum so bedenklicher, wenn sie Benachteiligungen für an-dere im Wettbewerb bedeuten. Das ist hier natürlich derFall. Wir können nicht so tun, als sei das nicht so. Wiralle und auch diejenigen, die in diesem Geschäft tätigsind, wissen, daß die Vereinsgastronomie zum Teil inerheblichen Wettbewerb zur herkömmlichen Gastrono-mie tritt. Das ist ein Problem, an dem wir – ich denke,alle miteinander – arbeiten. Dieses Problem entsteht üb-rigens nicht nur durch die Vereinsgaststätten, sondernnoch viel mehr durch die Straßenfeste, die für vieleWirte eine sehr große Belastung darstellen. Deshalbwerden wir der Verdoppelung der Besteuerungsfreigren-ze so nicht zustimmen. Ich bitte Sie, daß wir das einmaletwas unvoreingenommener diskutieren.Ich schlage Ihnen vor, den Antrag der baden-württembergischen Landesregierung im Bundesrat zurHand zu nehmen. Dort wird ein anderes Modell vorge-schlagen, nämlich, das Ganze stärker an die Jugendkom-ponente zu binden. Jugendarbeit muß für uns vorrangigsein. Es wird vorgeschlagen, die Grenze für jedes jugend-liche Mitglied um 500 DM bis zu einem Höchstbetragvon 90 000 DM zu erhöhen. Damit wären, denke ich, dieInteressen beider, der Vereine wie auch der Gastronomie,durchaus unter einen Hut zu bringen. Wir werden auchandere Punkte dieser Vorlage der baden-württember-gischen Landesregierung in die Diskussion einbringen.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie sehr herzlichum eines: Ich glaube, wir müssen in diesem Feld, das füruns alle eminent wichtig ist, unvoreingenommen und of-fen in die Beratung gehen. Wir müssen ein Ergebnis be-kommen, das für beide tragbar ist und damit für die Ge-sellschaft insgesamt von Nutzen ist.Ich sage zum Schluß nochmals: Es gäbe noch eineeinfachere Möglichkeit. Eine vernünftige Steuergesetz-gebung mit einer starken Steuersenkung ist die besteHilfe.
Wenn Sie Ihre Gesetze zurücknehmen – das ist keineÖkosteuer, sondern eine zusätzliche Steuererhöhung –,die die Vereine vor unlösbare Verwaltungsschwierig-keiten stellen, dann ist dieser aufgeplusterte und sinnloseVerwaltungsaufwand weg, und dann können die Ehren-amtlichen das tun, was sie am liebsten tun, nämlich ihrHobby ausüben und anderen helfen, dies auch zu tun.
Wir haben Gelegenheit dazu. Ich bitte alle, diese Gele-genheit zu nutzen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wortdem Kollegen Klaus Müller, Bündnis 90/Die Grünen.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine verehrten Damenund Herren! Man soll ja immer mit dem Positiven an-fangen: Ich habe mich gefreut, daß die CDU/CSU-Fraktion einen Gesetzentwurf zur Förderung von Verei-nen und Ehrenamtlichen vorgelegt hat. Es ist gut, daßman das diskutiert. Meiner Ansicht nach ist das ein net-ter Beitrag.Ich glaube, es ist ein guter Zeitpunkt – das haben bis-her alle Fraktionsrednerinnen und -redner gesagt; ich binsicher, daß die nächsten das auch noch tun werden –, andieser Stelle ein kräftiges Dankeschön auszusprechenund zu sagen: Das braucht die Gesellschaft. Das ist gutfür die Gesellschaft. Ohne das Engagement von Ehren-amtlichen, von Vereinen wäre diese Republik sicherlichum einiges farbloser. Insofern besteht da sicherlich einKonsens im Hause, daß es ein bißchen den Schweiß derRednerinnen oder Redner wert ist.Schade finde ich allerdings, daß weder in Ihrer Redenoch in der Rede des Kollegen von der F.D.P. irgendeinernsthafter Beitrag zur Debatte kam. Ich finde es extremschade, daß Sie einen Antrag vorgelegt haben, der mitder Haushaltskasse, dem Sparpaket, über die wir disku-tieren, und mit der Sanierung bzw. Konsolidierung desHaushaltes, die wir zu bewältigen haben, überhauptnicht in Übereinstimmung zu bringen ist, und Forderun-gen aufstellen, die nicht zu verwirklichen sind.Sie haben vorgeschlagen, die Übungsleiterpauschalezu verdoppeln. Den Wunsch kann ich nachvollziehen;im Prinzip ist das sicherlich sehr wünschenswert. Ichdenke, gerade nach Verabschiedung des 630-Mark-Gesetzes ist das die richtige Richtung, das richtigeSignal für die Vereine in dieser Republik.
– Richtig; da kommt noch ein entsprechender Zwischen-ruf.Nur, die ständige Polemik Richtung 630-Mark-Gesetzkann ich seit heute morgen nicht mehr nachvollziehen.Ich bin sicher, auch Sie haben zum Beispiel das „Han-Ernst Burgbacher
Metadaten/Kopzeile:
5260 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
delsblatt“ gelesen, das über die Veröffentlichung der er-sten Zwischenstudie des Kölner Instituts für Sozialfor-schung und Gesellschaftspolitik zum Thema 630-Mark-Gesetz berichtet hat. Im Gegensatz zu Ihren Unkenrufensind die Auswirkungen wesentlich geringer ausgefallen.
Man kann da nachlesen, daß es sich vor allem umeinen Rückgang der Nebentätigkeiten gehandelt hat. Dassind die Leute, die zwei oder mehr Stellen gehabt haben.Man kann nachlesen, daß sich bei denen, die nur ein ge-ringfügiges Beschäftigungsverhältnis gehabt haben, alsodie vielleicht auf das Geld angewiesen sind, kaum etwasgeändert hat und – damit will ich es bei dem kleinenAusflug belassen – daß 13 Prozent der Minijobs in re-guläre Voll- oder Teilzeitstellen umgewandelt wordensind.
Das heißt, genau das, was wir gewollt haben, ist ein-getreten.
Das, was Sie in „Schwarzreden“ an die Wand gemalthaben, ist schlicht nicht eingetreten.Auch SPD und Bündnisgrüne wollen die Menschenunterstützen – - Ich warte mit dem Passus.
Sie hätten Ihren Satz
gern beenden können. – Herr Kollege, gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Burgbacher?
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja.
Bitte sehr, Herr
Kollege Burgbacher.
Herr Kollege, darf ichIhre Aussage, daß genau das eingetreten ist, was Siewollten, an die betroffenen Vereinsvorsitzenden und al-le, die sonst im Verein betroffen sind, weitergeben?Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrter Herr Kollege Burgbacher,eine schlaue Frage.
Natürlich dürfen Sie dieses Zitat gern weitergeben.Ich bin auch sicher, daß Sie dann an die Vereinsvorsit-zenden genauso weitergeben, daß dieses Gesetz dazuführt, daß wir die Lohnnebenkosten mit stabilisieren
– natürlich; auch Sie, Herr Seiffert, können die Statisti-ken lesen –, daß die Rentenkassen und die Krankenkas-sen dadurch zur Zeit mehr Einnahmen haben, sogar we-sentlich mehr, als Herr Riester ursprünglich prognosti-ziert hat, daß es also insgesamt ein sinnvolles Gesetzgewesen ist. Ich bin sicher, daß Sie das weitergebenkönnen.
Zu dem Satz zurück, den ich eben unterbrochen habe.Kollege Schmidt hat schon darauf hingewiesen, daß na-türlich auch wir, die rotgrüne Koalition, die Erhöhungder Übungsleiterpauschale vornehmen werden. Im Ge-gensatz zu Ihnen konnten wir uns nicht zu einer Ver-dopplung durchringen, sondern wir werden noch einmaldie Hälfte der derzeitigen Pauschale aufstocken, so daßwir in Zukunft eine Aufwandsentschädigung haben, dienicht bei 2 400 DM, sondern bei 3 600 DM steuerfreierEinnahmen im Jahr liegen wird.Schon das kostet uns Überwindung – das will ichganz ehrlich sagen –, nicht inhaltlich, denn da könnteman Ihrem Antrag zustimmen, sondern schlicht aufGrund der Finanzierungsprobleme. Schon unser Antragwird wahrscheinlich Steuermindereinnahmen von unge-fähr 270 Millionen DM bewirken. Das fällt uns imRahmen der Steuergesetzgebung, des Sparpaketes andieser Stelle nicht leicht, weil es ein Stück weit inkonse-quent ist.
Allein Sie fordern in Ihrem Antrag das Doppelte andiesem einen Punkt. Wenn man das hochrechnet, be-deutet das ungefähr eine halbe Milliarde DM an Steuer-ausfällen. Das mag Ihnen wie Peanuts erscheinen, abervor dem Hintergrund des Sparpakets, zu dem mit Aus-nahme der Familien- und der Bildungspolitik alle rund-herum beizutragen haben, ist das eine ganze Menge. Dawirkt natürlich im Umkehrschluß unser Antrag für ge-meinnützig Engagierte. Auch der Sport ist relativ gut beidem Sparpaket weggekommen, so daß wir insgesamthier einen guten und sinnvollen Akzent setzen.
Gleichzeitig werden wir eine qualitative Veränderungdieser Aufwandspauschale vornehmen. Diese Pauschalewird in eine steuerfreie Einnahme umgewandelt, um derRechtsprechung des Verfassungsgerichts nachzukom-men. Dieses hatte in einer Entscheidung bemängelt, daßsteuerfreie Zuzahlungen in Form von Aufwandsentschä-digungen zu hoch bemessen wurden. Darüber hinauswerden wir diese steuerfreien Einnahmen von bis zu3 600 DM im Jahr nicht mehr nur auf nebenberuflicheÜbungsleiter, Ausbilder, Erzieher, Künstler und Pflegerbeschränken, sondern – darauf ist auch schon hingewie-sen worden – sie gleichzeitig auf nebenberufliche Be-treuer ausweiten. Im Mittelpunkt der rotgrünen Politiksteht nämlich der gemeinnützige Dienst an der Gesell-schaft. Das hat die alte Regierung leider nicht geschafft,und das ist bedauerlich.
Klaus Wolfgang Müller
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5261
(C)
(D)
Ich will auch noch einmal nachbohren, weil wir dar-auf bisher keine Antwort erhalten haben – Sie haben janoch einen Redner, den Sie ins Rennen schicken –: Ichmöchte wissen, warum Sie diese Tätigkeit in Sportver-einen so in den Vordergrund stellen, warum Sie nicht anall das andere Engagement – das ist lange aufgezähltworden – denken.Die Sportvereine sind zentral und wichtig und sindauch quantitativ ein sehr, sehr großer Bereich. Das istunbestritten. Aber es gibt in der Umweltarbeit, in derkirchlichen Bewegung, in vielen anderen Gruppen enga-gierte Leute, und es ist mir ein Rätsel, warum Sie das inIhren Antrag nicht hineinnehmen, warum Sie andere Be-reiche dort aussparen. Das ist – so finde ich – leidernicht nachvollziehbar.
Ich möchte an dieser Stelle unbedingt noch auf zweiandere Perspektiven hinweisen. Zum ersten wird unserFamilienförderungsgesetz aus zwei Teilen bestehen. Imzweiten Schritt, den wir im kommenden Jahr beratenwerden, haben uns die Verfassungsrichter und Verfas-sungsrichterinnen die Berücksichtigung des Erziehungs-bedarfes aufgetragen. Darunter fallen auch die Mit-gliedsbeiträge in Vereinen. Das ist ein wichtiges Zei-chen und rückt die Bedeutung, die die Vereine auch inder Erziehung von Kindern und Jugendlichen haben– dazu hat Karlsruhe ein sehr progressives Verständnisgeäußert –, in das richtige Licht. Ich glaube, in diesemKontext werden wir sicherlich noch einmal über dasReale, was man dort tun kann und tun sollte, reden.Zum zweiten sind in weiten Teilen von Kunst undKultur, Wissenschaft und Forschung, Jugend- und Al-tenhilfe die Grenzen steuerfinanzierter Förderung er-reicht. Staat und Gesellschaft sind darauf angewiesen,mehr privates Vermögen gemeinnützigen Zwecken zurVerfügung zu stellen. Deshalb fordern Bündnis 90/DieGrünen schon lange eine Reform des Stiftungsrechts.Wir haben dazu in der letzten Legislaturperiode einenGesetzentwurf vorgelegt, den wir in den kommendenWochen gemeinsam mit unserem Koalitionspartnerweiter anschieben wollen und demnächst dann auch be-schließen werden.Trotz unseres Wohlstandes gibt es in Deutschlandkeine besondere Stiftungskultur. Gab es um die Jahr-hundertwende noch ungefähr 100 000 Stiftungen inDeutschland, sind es derzeit ganze 8 000. Dabei sindverschiedene Rahmenbedingungen zu schaffen, woransich Rotgrün jetzt machen wird. Zum einen ist hier mehrTransparenz nötig. Zum anderen würde eine höhereRechtssicherheit über die Gründungserfordernisse zumehr Gründungen führen. An Stelle von staatlichen Ge-nehmigungsverfahren im obrigkeitsstaatlichen Stil könn-te man ein Stiftungsregister einführen. Das Einhaltenformaler Kriterien würde ausreichen, um eine Stiftungzu gründen. Auch das wäre eine Vereinfachung. Auchüber steuerliche Anreize beispielsweise im Spendenrechtist nachzudenken. Zielrichtung müßte dabei sein, dendauerhaften Erhalt des Kapitalstocks gemeinnützigerStiftungen zu sichern. Wir befinden uns in der Vorbe-reitung dieses Vorhabens und sind auf einem gutenWeg.Abschließend ist festzustellen: In der Förderung ge-meinnütziger Engagements von Bürgerinnen und Bür-gern sehen wir, Rotgrün, eine wichtige Aufgabe. In derspürbaren Erhöhung der Übungsleiterpauschale doku-mentiert sich unser Wille, nicht nur Sonntagsreden zuhalten, nachdem man abgewählt worden ist, sondern inder Zeit, in der wir in der Regierungsverantwortung sindund die Mehrheit in diesem Hause stellen, hier etwas zutun. Das, was Sie fordern, fordern Sie mindestens einJahr zu spät. Darum wirkt es leider unglaubwürdig, soedel der Zweck an dieser Stelle ist. Das, was Sie fordern,ist in dieser Form nicht finanzierbar. Insofern räume ichIhrem Gesetzentwurf keine große Chance ein.Vielen Dank.
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Gustav-Adolf Schur, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Wer-te Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Vormittags-debatte zum Zehnten Kinder- und Jugendbericht bein-haltete zwar auch gesundheitliche Probleme unsererKinder und Jugendlichen, jedoch, wie ich empfundenhabe, unterbelichtet. Was auf dieser Welt nicht käuflichist, ist nun einmal die Gesundheit. Sie ist daher unserkostbarstes Gut.Es ist für mich ein Erfolgserlebnis, immer wiederfeststellen zu können, daß es im Sportausschuß desDeutschen Bundestages zu diesem Fakt keine andereAuffassung gibt. Erst gestern wurde ich darin anläßlichder Diskussionen über die Bedeutung von Schul-, Ver-eins- und Leistungssport im neuen Jahrtausend bestätigt.Auch im vorliegenden Gesetzentwurf zur Verbesserungdes Vereinsförderungsgesetzes findet das verbal in denallgemeinen Begründungen seinen Niederschlag, bleibtaber unvollständig.Deshalb sind einige Erweiterungen notwendig. Dennes geht mir nicht vornehmlich um sportliche Höchstlei-stungen, sondern um gesunde Kinder und Jugendliche,um unser aller Anliegen, nämlich um die Gesundheit derBevölkerung. Jüngste Studien belegen, daß in Deutsch-land etwa 1 Million psychisch kranke und verhaltensauf-fällige Kinder und Jugendliche leben. Die Tendenz iststeigend. Fast 50 Prozent aller Schüler leiden an Hal-tungsschäden. Sechs von zehn können nicht normalrückwärts laufen. Gegenüber 1975 wiegen heute Vier-bis Fünfjährige im Schnitt 2 Kilogramm mehr. Bewe-gungsmangel führt zu Skeletterkrankungen und erhöhtdas Risiko für spätere Herz- und Kreislaufkrankheiten.Die körperliche Leistungsfähigkeit ist von 1986 bis 1995dramatisch gesunken. Schuldirektoren verstecken dieEhrentafeln ihrer Schulrekorde im Keller, weil diesportlichen Bestleistungen aus den 60er bis 80er Jahrenfür unsere derzeitige Schuljugend demotivierend wirken.Klaus Wolfgang Müller
Metadaten/Kopzeile:
5262 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Die Sportorganisationen bzw. der DSB mit seinen über80 000 Vereinen dürfen im neuen Jahrtausend nicht zurReparaturwerkstatt für gesellschaftliche Fehlentwick-lungen werden.
Eine Verbesserung des Vereinsförderungsgesetzesvon 1989 war und ist seit langem überfällig. Dieser Pro-blematik hat sich der Sportausschuß seit Jahren gestellt.Darüber wurde interfraktionell mit Vehemenz und gro-ßer Sachkompetenz diskutiert.Werter Kollege Riegert, Ihrem Dankeschön an unsereEhrenamtlichen schließe ich mich selbstverständlichan. Ich bin Mitglied des Ausschusses für Ehrungen undAuszeichnungen des Landes Sachsen-Anhalt, und ichkann Ihnen versichern: Wir machen uns seit Jahren Ge-danken, wie wir das Engagement unserer Ehrenamtli-chen auf moralische Art und Weise ehren können. DaSie für Ihre Fraktion den vorliegenden Gesetzesantragfederführend zeichnen, muß ich Ihnen heute in diesemPlenum mitteilen, was Kollegen schon vor mir ange-sprochen haben: Wenn Sie diesen Antrag zur Verbesse-rung des Ehrenamtes und der Vereinsförderung vor zweiJahren eingebracht hätten, dann wären Sie für den deut-schen Sport in die Unsterblichkeit eingegangen.
Darüber hinaus hätten alle Festredner zum 50. Bun-destagsjubiläum ein Vorzeigebeispiel dafür gehabt, daßman nicht erst Bundespräsident sein muß, um mit politi-scher Streitkultur und Sachkompetenz über verkrusteteParteizwänge hinaus seinem Wählerauftrag gerecht wer-den zu können.
Ich würde die Richtung als verfehlt betrachten, aberdie Zielstellung des Antrages ist auch heute noch gut.Zwar fehlt mir darin einiges, beispielsweise eine deutli-che Absenkung des enormen Verwaltungsaufwandes imbürokratischen Gestrüpp von Formularen und Fragebö-gen für ehrenamtlich Tätige. Aber ich könnte Ihnenmeine Zustimmung im Sinne eines bezahlbaren Sportesfür jedermann, der Gesundheit der Bevölkerung und ei-ner den gesellschaftlichen Verhältnissen und Belastun-gen entsprechend notwendigen körperlichen Leistungs-fähigkeit geben.Abschließend ein Tip an die Regierungskoalition:Gesundheit ist, wie ich schon sagte und wie wir alle wis-sen, nicht käuflich. Aber bestimmte Rahmenbedingun-gen müssen gegeben sein, um gesünder leben zu kön-nen. Das muß bezahlt werden. Darüber sollten wir imAusschuß weiter streiten.Ich bedanke mich.
Nun erteile ich dem
Kollegen Norbert Barthle, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Wer anden Dingen seines Staates keinen Anteil nimmt, ist keinstiller Bürger, sondern ein schlechter Bürger.“ So sagtenicht Günter Grass, der heute den Literaturnobelpreiserhalten hat, sondern Perikles vor genau 2 500 Jahren.Wir debattieren heute über den Entwurf eines Geset-zes zur Verbesserung der Vereinsförderung und zurVereinfachung der Besteuerung der ehrenamtlich Täti-gen. Die Ziele, die sich die CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion von diesem Gesetz verspricht, sind klar: Die Verei-ne in Deutschland und die in ihnen ehrenamtlich Tätigen– das sind im Sinne von Perikles gute Bürger – sollengestärkt werden.
Welche Aufgaben das sind, hat uns der Kollege KlausRiegert in klaren und deutlichen Worten bereits geschil-dert. Ich will das nicht alles wiederholen. Ich denke oh-nehin, daß wir uns mit Blick auf das Ziel einig sind.Aber, Herr Müller, eines muß ich Ihnen schon sagen:Lesen Sie doch den Gesetzentwurf, den Text genau biszu der Stelle durch, bei der auch meine Unterschriftsteht. Dann werden Sie feststellen, daß dort von einerBeschränkung auf Sportvereine nichts zu finden ist. ImGegenteil: Dort ist von künstlerischen, pflegerischen,mildtätigen, kirchlichen und ähnlichen Zwecken die Re-de. Lediglich in der Begründung werden die Sportverei-ne hervorgehoben.
– Das ist der eigentliche Gesetzestext im Entwurf. LesenSie es auf Seite 2 nach.Zur Verdeutlichung: Das Statistische Bundesamt hat1991 festgestellt, daß in Deutschland 48 Milliarden Er-werbsarbeitsstunden und – man höre – 76 MilliardenEhrenamtsstunden geleistet werden. Konkreter: In unse-ren rund 11 000 Turn- und Sportvereinen beträgt derdurchschnittliche Jahresbeitrag 120 DM. Müßte die eh-renamtlich geleistete Arbeit bezahlt werden, stiege derdurchschnittliche Jahresbeitrag auf 1 400 DM an. DieseZahl macht den Wert ehrenamtlicher Arbeit deutlich.Im Ziel, denke ich, sind wir uns einig, aber die Wegesind sehr verschieden. Die CDU/CSU-geführte Bundes-regierung hat mit dem Vereinsförderungsgesetz vom18. Dezember 1989 die steuerlichen Rahmenbedingun-gen für Vereine wesentlich vereinfacht und auch verbes-sert. Ich nenne nur noch einmal die Steuerfreiheit bei derKörperschaft- und Gewerbesteuer, die Besteuerung derUmsätze mit dem ermäßigten Steuersatz von 7,5 Pro-zent, die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden, die Be-freiung von Grund- und Erbschaftsteuer sowie die steu-erfreie Übungsleiterpauschale von jährlich 2 400 DM.Damit sind 90 Prozent aller Vereine seitdem von derSteuerpflicht befreit.Doch seit 1989 hat sich die Welt selbstverständlichauch für unsere Vereine verändert: auf der einen SeiteKommerzialisierung und Sponsoring im Sport ebensowie in der Kultur, auf der anderen Seite knapper wer-Gustav-Adolf Schur
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5263
(C)
(D)
dende Mittel der öffentlichen Hand, gestiegene Ansprü-che der Mitglieder an ihre Vereine und auch die Konkur-renz vieler anderer Anbieter. Hier muß sich vor allem inder mittelbaren Förderung der Vereine etwas tun, undhier wollen wir etwas tun.Unser Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von den Regierungsfraktionen, ist tatsächlich Hilfezur Selbsthilfe. Wenn man in die Steuergesetze und indie geltende Rechtsprechung eingreift, sollte man das sotun, daß auch von einer echten Hilfe gesprochen werdenkann. Was ihre Vorschläge anbelangt, bin ich mir nichtganz sicher. Ihre Überlegungen sind halbherzig und ge-hen zum Teil auch in die falsche Richtung; ich werdedas gleich noch erläutern.Unser Gesetzentwurf ist wesentlich konsequenter.Was wollen wir? Zunächst geht es um die Ergänzungdes § 58 Nr. 7 Buchstabe b der Abgabenordnung. Damitwollen wir die Möglichkeit schaffen, daß die Vereinesteuerfreie Rücklagen bis höchstens 50 000 DM bildenkönnen, begrenzt auf höchstens 100 DM pro Jahr undMitglied.Wir wollen zweitens durch Änderung des § 64 Abs. 3der Abgabenordnung die Besteuerungsgrenze von60 000 auf 120 000 DM erhöhen. Das erleichtert dieSteuerpraxis und reduziert Verwaltungsaufwand. Dasbrauchen unsere Vereine; dies ist übrigens ein Projekt,dem Sie sich in ihrer einjährigen Regierungszeit trotzvollmundiger Wahlversprechen bislang bemerkenswerterfolglos gewidmet haben. Zunehmend mehr Vereine,auch kleine und mittelgroße, überschreiten diese Grenzeund werden dann mit der ganzen Unübersichtlichkeitunseres Steuersystems konfrontiert.Auch die großen Vereine, die oft nur auf Grund derAnzahl ihrer Abteilungen groß sind, werden durch diebisherige Grenze in ihrer Tätigkeit eingeschränkt. Nunsehen auch wir kaum eine Möglichkeit, jeder einzelnenAbteilung von Großvereinen, auch wenn diese teilweisegrößer als Einzelvereine sind, einen eigenen Freibetrageinzuräumen. Aber wenn man dann schon eine Besteue-rungsgrenze zieht, dann muß sie so ausgerichtet sein,daß sie der Größe, die unsere Vereine inzwischen er-reicht haben, auch gerecht wird.
– Das ist kein Populismus, darauf komme ich noch zu-rück.Wir wollen drittens die Zweckbetriebsgrenze des§ 67a der Abgabenordnung entsprechend anpassen.Auch hier ist eine Verdoppelung von 60 000 auf120 000 DM sachgerecht und notwendig.Als viertes nenne ich die Änderung in § 23a Abs. 2des Umsatzsteuergesetzes. Die Erhöhung der Grenze fürdie Pauschalierung der Vorsteuer von 60 000 auf120 000 DM folgt der Logik der bisherigen Argumente.Schließlich wollen wir fünftens – darum geht es unsinsbesondere – die steuerfreie Übungsleiterpauschalein § 3 Nr. 26 des Einkommensteuergesetzes von bislang2 400 DM auf 4 800 DM verdoppeln.Nun wissen wir wohl, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, daß dies Steuerausfälle von einigen hundert Millio-nen DM zur Folge hätte, seien es 400 oder 500 Millio-nen DM. Wir sind aber dennoch der Auffassung, daß vordem Hintergrund der Tatsache, daß wir wieder mit stei-genden Steuereinnahmen zu rechnen haben – ich bin aufdie Steuerschätzung im November gespannt; dann wer-den meine Worte bestätigt sein –, diese Weichenstellungrichtig und angemessen ist.Herr Schmidt, wir haben diesen Gesetzentwurf in un-serer Fraktion sehr seriös diskutiert. Das ist nicht Popu-lismus. Vor dem seriösen Hintergrund, daß wir jederzeitdamit rechnen, auch wieder die Regierungsverantwor-tung zu übernehmen, haben wir diesen Entwurf vorge-legt.
Die begünstigten Personen üben ihr Ehrenamt in derRegel neben einem Hauptberuf aus. Soweit es sich umein Entgelt handelt, sollen damit die zum Teil hohenfinanziellen Aufwendungen aufgefangen werden. Eshandelt sich also um echte Aufwandsentschädigungen,die grundsätzlich zu versteuern sind. Der bisher geltendeFreibetrag in Höhe von 2 400 DM entbindet dieÜbungsleiter von der sonst üblichen Pflicht zum Nach-weis jeder einzelnen Aufwendung und ermöglicht, daßdiese Personen – das ist ganz wichtig – sozusagen nichtsmit dem Finanzamt zu tun haben.Diese Aufgaben kann der Freibetrag aber nur dann er-füllen, wenn und solange er ausreicht, um die erfah-rungsgemäß anfallenden Aufwendungen eines Übungs-leiters unbürokratisch und ohne Einzelnachweis erstattenzu können. Was von seiten der Regierungsfraktionenbislang zu diesem Thema gekommen ist, wird diesemAnspruch jedenfalls nicht gerecht und reiht sich in dieChaoscombo der bisherigen Steuergesetze ein.Nebenbei bemerkt, Herr Müller: Mit Ihrer sogenann-ten Ökosteuer belasten Sie – das sollten Sie endlicheinmal zur Kenntnis nehmen – viele, insbesondere grö-ßere, Sportvereine ganz erheblich. Ich kann Ihnen dasBeispiel eines großen deutschen Sportvereins nennen,der allein durch die Ökosteuer Mehrkosten von 15 000DM pro Jahr hat. Da müssen Sie mir sagen, wie dieserVerein das auffangen soll.
Ihr aktueller Vorschlag – Erhöhung auf 3 600 DMund sonst nichts – wird den veränderten Anforderungen,die man mit denen 1989 nicht mehr vergleichen kann,jedenfalls nicht gerecht. Meine Hauptkritik setzt aber anzwei weiteren Punkten an, die keine Fortentwicklungdes Vereinsteuergesetzes mehr darstellen, sondern einegrundlegende Veränderung – wenn Sie so wollen, eineVerschlimmbesserung.Norbert Barthle
Metadaten/Kopzeile:
5264 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Zum ersten wollen Sie den Kreis der Empfänger derÜbungsleiterpauschale nach meinem jetzigen Kennt-nisstand relativ unüberlegt ausweiten. Neben Übungs-leitern, Ausbildern und Erziehern sollen fortan auch Be-treuer und alle vergleichbar nebenberuflich Tätigen inihren Genuß kommen. Ich bin mir nicht ganz sicher, obIhnen die Tragweite dieser Änderung überhaupt bewußtist. Denn schon jetzt sind – das weiß auch ich – zu vielePersonengruppen begünstigt
– das ist mir bewußt – und können diese Übungsleiter-pauschale in Anspruch nehmen. Andererseits gibt es eh-renamtliche Funktionsträger, zum Beispiel bei den Feu-erwehren, zum Beispiel in Ortschaftsräten, in den Ge-meinderäten, die ehrenamtliches Engagement par ex-cellence ausüben und die gleich behandelt werden soll-ten.
Daher mein Rat an Sie: Bevor Sie den Empfängerkreisnahezu unkontrollierbar und womöglich ungerecht ver-ändern, fördern Sie lieber die Richtigen, und zwar so,daß sie etwas davon haben, also in dem notwendigenUmfang! Lieber den Richtigen mehr als vielen weniggeben!Der zweite wichtige Punkt. An dem von Ihnen ver-wendeten Begriff „Einnahmen“ bin ich hängengeblie-ben. Einnahmen – klingt nach Einkommen, nach Lohnfür geleistete Dienste. Das sind die Leistungen, die mitdem Übungsleiterfreibetrag freigestellt werden sollen,eben nicht. Es sind Entschädigungen für Aufwendungen,die im Rahmen eines ehrenamtlichen, also grundsätzlichunentgeltlichen Engagements für die Gesellschaft er-bracht werden. Die Aufwandsentschädigung für den ty-pischen Ehrenamtler – denken Sie doch einmal an denÜbungsleiter im Sportverein – ist doch nicht mit den ne-benberuflichen Einkünften einer Erwerbsperson gleich-zusetzen.
Herr Kollege, den-
ken Sie an Ihre Redezeit?
Ich denke daran.
Sie tun den Ehrenamtlichen keinen Gefallen, wenn
Sie deren Tätigkeit mit dem auf Einkommenserwerb
ausgerichteten Nebenjob eines Würstchenverkäufers
gleichsetzen. Ganz im Gegenteil!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie wollen
von uns immer Alternativen, eigene Vorschläge hören.
Ihnen liegt ein Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion vor. Das ist ein gutes Gesetz. Ich fordere
Sie auf: Erinnern Sie sich Ihrer eigenen Entwürfe, Ihrer
eigenen Versprechungen gegenüber den Vereinsvertre-
tern! Machen Sie Schluß mit Ihrer Politik der gespalte-
nen Zunge und des gebrochenen Versprechens! Nehmen
Sie sich ein Herz und unterstützen Sie unseren Gesetz-
entwurf!
Danke.
Nun hat der Kollege
Ludwig Eich, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Kollege Barthle, ich willgerne mit dem Gemeinsamen beginnen. Im Ziel dieserInitiative sind wir einer Meinung: Es ist in der Tat aus-gesprochen wichtig, daß wir die Möglichkeiten, die Ver-eine unseren Kindern bieten, erhalten.
Für Kinder ist das Vereinswesen von großer Bedeutung.Ebenso wichtig sind die Ziele der Vereine. Diese Struk-turen sind die Klammer, die unsere Gesellschaft zu-sammenhält. Schon deswegen haben sie eine enorme ge-sellschaftspolitische Bedeutung.
Allerdings bezweifle ich, daß Ihr Gesetzentwurf die-ser Bedeutung gerecht wird. Ich muß mich schon wun-dern, Kollege Barthle, daß man ein so unseriösesMachwerk seriös diskutieren soll.
Ich weiß nicht, wie das geht.Ich möchte zunächst einmal darüber sprechen, wasdie SPD will, was die Regierungskoalition vorhat. Zu-nächst einmal: Ab dem 1. Januar 2000 wollen wir das,was früher die Übungsleiterpauschale war, um1 200 DM erhöhen. Das ist immerhin eine Erhöhungvon 200 auf 300 DM im Monat. Selbstverständlichwollen wir diese Einnahmen, die steuerfrei sind, auchvon Sozialabgaben freihalten.
Gleichzeitig erweitern wir, wie hier schon gesagt wurde,den begünstigten Personenkreis um die Betreuer. Dashätte schon längst geschehen müssen, ist also eine längstüberfällige Maßnahme.
Nicht zuletzt wollen wir durch die Überarbeitung desSpendenrechts etwas wirklich Vereinfachendes – daswurde von Ihnen hier gefordert – durchsetzen. Wir wollendie Kompetenz, Spendenquittungen auszustellen, vonden Verwaltungen auf die Vereine übertragen. Wie ichgehört habe, liegt diese Maßnahme schon einige Jahrebeim BMF auf Halde. Ich muß mich schon sehr wundern,daß von Ihrer Seite ständig angemahnt wird, man müssegerade wegen der Vereine vereinfachen. Hatten Sie kei-ne Courage, das durchzusetzen? Wir werden das tun.
Dies ist eine enorme Vereinfachung für die Vereine.Norbert Barthle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5265
(C)
(D)
Diese Maßnahme dient nicht nur der Vereinfachung,sondern ist auch eine Entlastung der öffentlichen Ver-waltung. Wer aus der Praxis kommt, weiß doch, was denVerwaltungen am Jahresende, kurz vor Toresschluß,noch alles zugemutet wird, um an Spendenquittungen zukommen. Insofern ist diese Maßnahme, so denke ich,wirklich sehr gut. Sie sollten das würdigen.
Die Entscheidung, quasi die Übungsleiterpauschalezu erhöhen, ist natürlich nicht kostenlos zu haben. Das,was wir wollen, kostet nicht wenig Geld. Unsere Maß-nahmen bewirken, das derzeitige Steuerrecht zugrundegelegt, Steuermindereinnahmen von 540 MillionenDM. Sehen Sie in der Ausschußdrucksache 14/146 nach;dort ist das niedergelegt. Allein die Erhöhung derÜbungsleiterpauschale, die wir vorschlagen – KollegeMüller hat das genannt –, bedeuten 270 Millionen DMweniger Steuereinnahmen: für den Bund 115 MillionenDM, für die Länder 115 Millionen DM und für die Ge-meinden immerhin auch noch 40 Millionen DM.Diese Steigerung um 50 Prozent ist keine Kleinigkeit.Ich denke, das ist bemerkenswert und verdient, fest-gehalten zu werden. Wir können diese Kosten für dieGemeinschaft der Steuerzahler aber in der Tat nur recht-fertigen, wenn wir das Ziel der Anerkennung für das Eh-renamt zugrunde legen, wenn wir im Blick haben, inwelch schwieriger Situation sich die Sportvereine befin-den, nämlich in Konkurrenz – man muß doch einmal se-hen, was sich geändert hat – zu den Fitneßcentern. Vordiesem Hintergrund ist das gut angelegtes Geld unddient dazu – wer will das bestreiten? –, Kriminalität undGewalt einzudämmen.Unsere Maßnahmen darf man allerdings nicht isoliertsehen. Der Kollege Schmidt hat erwähnt, daß wir nochmehr tun wollen: Verbesserung der Gemeinnützigkeits-,Sponsoring- und Stiftungsvorschriften. Was wir brau-chen, ist ein neuer Rahmen, sind neue Bedingungen undneue Impulse im gesamten Bereich.Nun möchte ich doch gerne auf Ihren Gesetzentwurfzu sprechen kommen, weil er in der Tat ein interessantesWerk ist.
Erstens. Durch eine zusätzliche Rücklagemöglichkeit –in der Begründung schreiben Sie: „freie Rücklage“ –wollen Sie die Liquidität der Vereine erhöhen. Sie sagennicht, wieviel das kostet, in welcher Höhe damit Steu-ermindereinnahmen verbunden sind. Ich frage mich:Gibt es hier keine Zweckbindung? Ist es egal, für wasdiese Rücklagen verwendet werden? Dürfen Amateur-vereine – Sie beziehen sich ja immer wieder auf den Be-reich des Sports – dafür Spieler kaufen? Ist das gewollt,ist das sinnvoll? Ich denke, daß vieles von dem unaus-gegoren ist. Mit Seriösität hat das wirklich nichts zu tun.Zweitens: Verdoppelung der Besteuerungs- undZweckbetriebsgrenzen von 60 000 auf 120 000 DM.Wahrscheinlich ist die Begeisterung der Vereine überdiesen Punkt schon sehr groß. Ich muß allerdings fragen:Was geschieht hier? Wie wirkt diese zweite Maßnahme,kumulierend mit der ersten, mit den Rücklagen? KönnenSie darauf eine Antwort geben? Ich denke, Ihr Gesetz-entwurf wirft mehr Fragen auf, als er Antworten gibt.Interessant ist auch die Begründung, die Sie dafür ge-ben. – Sie wollen den vielen Vereinen die Möglichkeitnehmen, so wie bisher gestalterisch tätig sein zu können.Ich kann noch nachvollziehen, wie man als Verein Steu-ern sparen kann, wenn man die Vereinsgaststätte ver-pachtet. Aber wie geht das bei der Aufteilung desHauptvereins in Abteilungen? Das müssen Sie mir ein-mal klarmachen. Ich muß ehrlich sagen, ich verstehe Ih-re Begründung nicht.
Sie können nicht durch Aufteilung in Abteilungen Steu-ern sparen. Ich muß sagen: Seriös ist das nicht.
Die Frage nach den Steuermindereinnahmen und ihrerkumulierenden Wirkung müssen Sie beantworten.Sie verdoppeln die Grenze für die Pauschalierung derVorsteuer und die Übungsleiterpauschale. Im Grundegenommen ist das ein Verdoppelungsgesetz. Das istdoch klar. Ich weiß nur nicht, wohin das führen soll.Die finanziellen Auswirkungen verdoppeln sich.Betrachten wir einmal die Übungsleiterpauschale, wieSie sie jetzt wollen. 500 Millionen DM Mehrausgabenoder umgekehrt Steuermindereinnahmen sind erheblich.Wenn man sich jetzt überlegt, daß das bisher schon gel-tende Steuerrecht dazu führt, daß über eine halbe Milli-arde DM Steuermindereinnahmen entstehen, dann ist,ohne daß man weiß, wie das mit der steuerfreien Rück-lage, mit der Verdoppelung der Besteuerungs- undZweckbetriebsgrenzen oder der Verdoppelung der Pau-schalisierung zu Buche schlägt, einfach festzustellen,daß Sie jetzt schon für diese Maßnahmen einen Betragvon über 1 Milliarde DM ausgeben wollen.Sie schreiben unter Buchstabe D – hier muß man sichrichtig aufregen –, die Kosten der öffentlichen Haushalteseien gering. Ich muß ehrlich fragen: Wer hat Ihnen ei-gentlich ständig eingeredet, Sie könnten mit Geld umge-hen? Ich kann das wirklich nicht verstehen.
Ihr Entwurf ist nicht solide. Er ist mißbrauchsanfällig,und im übrigen ist er – die strategische Funktion ist klar– eine Reaktion auf das, was die Regierungskoalitionmit ihrem Vorschlag im Steuerbereinigungsgesetz un-terbreitet hat. Das ist deutlich zu spüren.
– Herr Kollege Fromme, ich habe einen interessantenSchriftwechsel vor mir, der das belegt. Der Entwurf ist mitheißer Nadel gestrickt, und so sieht auch Ihr Antrag aus.
Ludwig Eich
Metadaten/Kopzeile:
5266 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999
(C)
Ich möchte zusammenfassen. Die Bedeutung von Eh-renamt und Vereinen verdient und erfordert angemesse-ne politische Berücksichtigung. Das ist völlig klar. Esgeht um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft undnicht zuletzt um den Kampf gegen Kriminalität undGewalt. Angemessen ist hier vor allem das Ziel; dennSparsamkeit ist auch an dieser Stelle wichtig. Auch hierkönnen wir jede Mark nur einmal ausgeben.Die Maßnahmen der SPD und von Bündnis 90/DieGrünen fördern angemessen; davon sind wir überzeugt.Wir erhöhen nicht nur die Übungsleiterpauschale, son-dern wir erweitern auch den Personenkreis. Das ist einelängst überfällige Maßnahme. Wir vereinfachen undentbürokratisieren die Spendenpraxis. All dies, meineDamen und Herren von der Opposition, hätten Sie inden vergangenen Jahren schon machen können. Siebleiben aber die Antwort darauf schuldig, warum Sie esnicht gemacht haben.
Statt dessen legen Sie einen Entwurf vor, der mehrFragen aufwirft, als er beantwortet. Sie betreffen dieHöhe der Steuermindereinnahmen, die kumulativeWirkung einzelner Elemente in diesem Gesetz und dieMöglichkeiten einer nicht sachgerechten Verwen-dung von steuerbegünstigten Rücklagen. Man muß sicheinmal vorstellen, was das bedeutet. Die Kosten derVerdoppelung betragen im Grunde über 1 MilliardeDM.Die Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünenweiß um die Bedeutung der Vereine. Wir wollen das Eh-renamt mit unseren Maßnahmen anerkennen. Ich finde,daß die Entscheidungen, die wir für das Jahr 2000 tref-fen, beweisen, daß wir das Ehrenamt anerkennen undfaire Partner der Vereine sind.Vielen Dank.
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/1145 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
weitere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heide-
marie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Bekämpfung der Steuerkriminalität durch
kontinuierliche und bundeseinheitliche Be-
triebsprüfung
– Drucksache 14/1192 –
Überweisungsvorschlag:
daß Sie damit einverstanden sind – nunmehr erteile ich
der Kollegin Heidemarie Ehlert, PDS, das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Das Anliegen unseres Antrags istnicht ganz neu. Bereits 1996 hat die SPD einen ähnli-chen Antrag im Zusammenhang mit dem Aktionspro-gramm gegen Wirtschaftskriminalität und Steuerhinter-ziehung eingebracht. 1997 hat sich der ehemalige Fi-nanzminister Waigel ebenfalls mit diesem Thema be-schäftigt, allerdings ohne wesentlichen Erfolg, wie dieZahlen 1998 zeigen. Sonst hätte sich der Bundesrech-nungshof in seinem Bericht zur Jahreshaushaltsrechnungnicht erneut mit diesem Thema befassen müssen.Aber offensichtlich werden auch Berichte des Bun-desrechnungshofes mit der Begründung mißachtet, daßder Einsatz von Betriebsprüfern Ländersache sei. DieseAuffassung hat Herr Eichel erst im Juni dieses Jahreserneut im Rechnungsprüfungsausschuß vertreten. Aller-dings verschweigt er, daß der Bundesfinanzminister fürdie Gleichmäßigkeit der Besteuerung auch bei der Erhe-bung von Steuern zuständig ist.Mit einer wirkungsvollen Betriebsprüfung und Steu-erfahndung verbunden ist im übrigen auch die Sicher-stellung des Grundsatzes der Belastungsgleichheit imSinne des Art. 3, Abs. 1 des Grundgesetzes: „Alle Men-schen sind vor dem Gesetz gleich.“ Aber nach wie vorist es hier wie fast überall: Manche sind gleicher, zu-mindest in der Besteuerung. Hinzu kommt, daß sich dieVerwaltung seit April dieses Jahres an einer Überarbei-tung der Betriebsprüfungsordnung versucht.Herr Eichel, nutzen Sie endlich diese Chance undmachen Sie Nägel mit Köpfen, indem Sie den Prü-fungsturnus für alle Betriebsgrößen bundeseinheitlichfestschreiben!
– Es geht so. Schauen Sie bitte in dem Gesetz nach, wo-für der Bund zuständig ist.Insbesondere die neuen Bundesländer, aber auchBayern sind ein Eldorado für Steuerflüchtlinge.
*) Anlage 5Ludwig Eich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. September 1999 5267
(C)
(D)
Man muß sich eigentlich wundern, warum so viele im-mer noch die Steueroasen im Ausland aufsuchen. FürBayern konnten die Prüfungsergebnisse des Jahres 1998gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ nachgelesenwerden.Wer ernsthaft Steuergerechtigkeit will, wie es unteranderem auch in der Koalitionsvereinbarung gefordertwird, sollte dann ebenso ernsthaft die notwendigen Ge-setze dazu schaffen. Das Bundesfinanzministerium mußendlich seine Aufgaben der Rechts- und Fachaufsichthinsichtlich der Betriebsprüfung in vollem Umfangwahrnehmen. Es kann nicht länger hingenommen wer-den, daß nur Arbeitnehmer zu 100 Prozent geprüft wer-den und manche Unternehmen während der gesamtenDauer ihres Bestehens überhaupt nicht.
Die Besteuerungspraxis ist von der Umsetzung desVerfassungsgrundsatzes immer noch meilenweit ent-fernt, und das in doppelter Hinsicht. Eine Gleichbe-handlung existiert real weder zwischen Lohnsteuer undveranlagter Einkommen- und Körperschaftsteuer nochzwischen Bundesländern und Betriebsgrößen. Ange-sichts des von der Regierung verordneten Sparkursesund der in diesem Zusammenhang immer wieder beton-ten Entlastung insbesondere der unteren Einkommens-gruppen durch Kindergeld, höheren Eingangssteuersatzund ähnliches ist es unseres Erachtens aus zweifacherSicht notwendig, hier etwas zu tun:Erstens. Auf Grund verfassungsmäßiger Gründe istdie Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen geboten.Zweitens. Angesichts der angespannten Lage der Haus-haltskassen sind Einnahmen von Mehrsteuern, die nichtdurch die Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer zustande kommen, ein Gerechtigkeitsgebot.So haben die Betriebsprüfungen im Jahr 1998 zurechtmäßigen Mehrsteuern von 22,2 Milliarden DM ge-führt. Damit könnten die im Jahr 2000 von Herrn Eichelgeplanten Einsparungen fast gedeckt werden.
– Ja, so einfach ist das. Man muß es nur wollen.
Innerhalb der Unternehmen entstehen durch zu langeund höchst unterschiedliche Prüfungsabstände immernoch prüfungsfreie Zonen, abhängig von Betriebsgrößeund Bundesland. Bei Großbetrieben lag der Prüfungs-turnus 1998 bei durchschnittlich 4,4 Jahren. Diese Be-triebe müßten laut Gesetz eigentlich schon heute lük-kenlos geprüft werden; denn gerade hier ergibt sich dergrößte Teil der Mehrsteuern. 1997 waren es 78 Prozent.Der Bundesrechnungshof und die Steuergewerkschafthaben deshalb immer wieder die personelle Aufstockungder Betriebsprüfungsstellen gefordert. Es widersprichteben nicht dem Gedanken des Föderalismus, wenn dieBundesregierung eine bundeseinheitliche Regelung fürden Rhythmus der Betriebsprüfung trifft, um die zeitnä-here steuerliche Prüfung der Betriebe zu ermöglichen.Sicher, angesichts des von der Regierung gefordertenSparens und des Rufs vor allem von den Kolleginnenund Kollegen der CDU/CSU nach einem schlankenStaat mag es wieder populistisch klingen, wenn wir dieEinstellung von 10 000 Betriebsprüfern und 1 000 Steu-erfahndern in den Finanzämtern fordern. Wir fordernauch, daß der Bund dies fördern soll.
Diese zusätzlich Eingestellten würden im Unterschiedzu vielen anderen ihr Einkommen selbst erwirtschaftenund darüber hinaus dem Staat Mehrsteuern erbringen.
Kommen Sie bitte
zum Schluß, Frau Kollegin.
Ausgebildet wurden in
den letzten Jahren genügend Jugendliche. Sie sollten
wissen, daß ab morgen Hunderte von ausgebildeten Di-
plomfinanzwirten auf Grund von Haushaltssanierungen
der Länder auf der Straße stehen, weil sie nach bestan-
dener Prüfung nicht übernommen werden. Sie sehen al-
so, das notwendige Personal für die Umsetzung unseres
Antrages liegt förmlich auf der Straße. Greifen Sie zu!
Weitere Wortmel-
dungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1192 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 1. Oktober 1999,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.