Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll nach der Aussprache zum 150. Jahrestag der verfassunggebenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche eine vereinbarte Debatte zur Sicherheit von Castor-Transporten stattfinden. Die Befragung der Bundesregierung soll entfallen. Nach der zirka zweistündigen Fragestunde beginnt dann die Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Haltung der Bundesregierung zu den ausländerpolitischen Beschlüssen der CSU". Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Aussprache zum 150. Jahrestag der verfassunggebenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt die Kollegin Vera Lengsfeld.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschland ist nicht reich gesegnet mit demokratischen Traditionen. Um so kostbarer sollten sie uns sein. Das PaulskirchenParlament hat zwar nur ein gutes Jahr getagt, aber es hat viele Spuren hinterlassen. Seine Verfassungsgrundsätze gingen in die Verfassung der Weimarer Republik ein. Das Grundgesetz der Bundesrepublik steht in seiner Tradition. Deshalb ist die öffentliche Erinnerung und Würdigung des ersten demokratischen Parlaments der Deutschen trotz seines Scheiterns für die Entwicklung unserer demokratischen Kultur unerläßlich.
Vor 150 Jahren konstituierte sich die verfassunggebende Nationalversamlung in Frankfurt am Main. Vor 50 Jahren, am 1. September 1948, trat der Parlamentarische Rat in Bonn zusammen. Es ist an der
Zeit, die ideengeschichtlichen Kontinuitäten dieser beiden Ereignisse herauszuarbeiten, trotz - oder gerade wegen - der dazwischenliegenden Systembrüche. Das Paulskirchen-Parlament und seine Verfassung sind keineswegs ein isoliertes und gescheitertes Experiment, sondern, wie Wilhelm Bleel richtig feststellte, ein „Kristallisationspunkt innerhalb der Entwicklung Deutschlands während der letzten beiden Jahrhunderte".
Dem Paulskirchen-Parlament war im Vormärz die Herausbildung der bildungsbürgerlichen Gesellschaft vorausgegangen. Zwar herrschten in Metternichs Deutschem Bund polizeistaatliche Überwachung und rigide Zensur, dennoch entfaltete sich in diesen Jahren eine kritische Lese- und Diskussionsgesellschaft. Die Universitäten waren ihre geistigen Zentren, die „politischen Professoren" wie die „Göttinger Sieben" ihre Wortführer, deren Ideen die öffentlichen Diskussionen bestimmten und später in den Plenardebatten des Paulskirchen-Parlaments aufgegriffen wurden.
Aus den Denkströmungen der Debattierlokale wurden parlamentarische Fraktionen, aus den ideellen Wortführern wurden Politiker aus Berufung. Damit war der programmatische Ausgangspunkt der Parteienbildung in Deutschland geschaffen.
Aus der Bildungsbürgergesellschaft ging eine Kulturnation hervor, die ihrerseits von der Staatsbürgergesellschaft zu einer Staatsnation strebte. Mit den Beschlüssen zur Einberufung der Nationalversammlung gründete sich diese Nation innerhalb von nur zwei Monaten praktisch selbst. Konstituierendes Moment war die Grundidee des Bürgertums, Freiheit und Einheit als sich gegenseitig bedingende und stützende Ziele zu begreifen. Durch die Gewährung von freiheitlichen Grundrechten für alle sollten die Deutschen in eine Staatsbürgernation integriert werden.
So stand am Beginn der Verfassungsdebatte die Abschaffung des Polizeistaats und der ständischen Gesellschaft in Deutschland. Aber nicht die Aufhebung der unfreien Vergangenheit stand im Mittelpunkt der vom Paulskirchen-Parlament verabschie-
Vera Lengsfeld
deten Grundrechte, sondern die Schaffung des liberalen Rechtsstaates, die Gewährleistung der Würde der Person und des Rechts auf Eigentum als Voraussetzung freiheitlicher Entfaltung der Staatsbürger. Die Formulierung „Grundrechte" war eine Wortschöpfung des Verfassungsausschusses. Sie standen von Anfang an im Zentrum aller Bemühungen der Frankfurter Demokraten. In ihren ersten Verlautbarungen forderten sie die Abschaffung der Karlsbader Beschlüsse, Presse- und Versammlungsfreiheit, Gewissens- und Lehrfreiheit; kurzum - wie das Offenbacher Programm der südwestdeutschen Demokraten formulierte -
das unveräußerliche Recht des menschlichen Geistes, seine Gedanken unverstümmelt mitzuteilen.
Nach mehrmonatiger engagierter Debatte wurden am 20. Dezember 1848 die für die deutsche Verfassungsgeschichte wegweisenden Grundrechte des deutschen Volkes verabschiedet. Dort heißt es:
Die Freiheit der Person ist unverletzlich ... Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern ... Die Deutschen haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln ...
Die mit dem jahrzehntelangen Ringen um Demokratie und Einheit der Nation verbundenen Hoffnungen schienen sich zu erfüllen.
Aber die Verfassung konnte nicht umgesetzt werden. Damit war das Verfassungswerk hinfällig, und die vom Parlament geschaffenen Institutionen verfielen rasch. Dies liegt nicht allein an der Weigerung des preußischen Königs, die vom Parlament angebotene Kaiserkrone anzunehmen und damit Oberhaupt einer konstitutionellen Monarchie zu werden. Die Ursachen liegen auch in der unterentwickelten politischen Kultur, die den neuen demokratischen Nationalstaat noch nicht tragen konnte, und vor allem im Bruch des demokratischen Konsenses zwischen der liberalen Mitte und der demokratischen Linken in der Frage des Waffenstillstandes für Schleswig-Holstein begründet. Die extremen Vertreter der Linken sahen ihre Politik in der Schleswig-Holstein-Frage vor dem Hintergrund eines umfangreichen Programms zur Einführung einer radikalen Ordnung in Deutschland und Europa. Sie haben dabei nicht gezögert, selbst die Errungenschaften der Märzrevolution aufs Spiel zu setzen, wenn ihnen diese nicht genügend radikal erschienen.
Das Scheitern bei der Schaffung eines breiten Grundkonsenses für eine parlamentarische Demokratie in Deutschland wirkte bis ans Ende dieses Jahrhunderts nach. Nach 1850 gab es nur halbherzige Reformen, und die von den deutschen Teilstaaten verabschiedeten Verfassungen blieben weit hinter der 48er Reichsverfassung zurück. In Deutschland wurde eine lange politische Periode eingeleitet, in der der nationale Gedanke Vorrang vor der politischen Idee der Demokratie hatte. Die Einheit der Nation wurde zwar im Zusammenhang mit mehreren Kriegen unter der Führung Preußens schließlich errungen. Aber diese Einheit von oben und das Nachhinken bei der Entwicklung der Demokratie haben in Deutschland mehr das Untertanenbewußtsein gefördert als den Freiheitswillen gestärkt. Ebenso folgenreich war, daß sich die deutsche Politik - besonders nach Bismarck - fast vollständig auf den nationalen Rivalitätenkampf in Europa reduzierte.
Erinnert werden muß aber auch an das Erstarken der kommunistischen Bewegung in dieser Zeit. Karl Marx und Friedrich Engels hatten im Februar 1848 das Kommunistische Manifest herausgegeben. Ihr Bund der Kommunisten war damals noch fast bedeutungslos. Marx hatte seine Genossen aufgefordert, die bürgerliche Revolution zu unterstützen, aber gleichzeitig angekündigt, daß die bürgerliche Verfassung überwunden werden müsse, um die Diktatur des Proletariats zu errichten.
Mit dem Scheitern des demokratischen Nationalstaates nach 1848 hängt das Erstarken der Radikalen von rechts und links zusammen. Weil kein für die gesamte Nation geltendes politisches Verfahren zur gesellschaftlichen Konfliktregelung zur Verfügung stand und keine außenpolitische Willensbildung mit Beteiligung des Volkes stattfand, konnten die Nationalisten und die Sozialisten/Kommunisten ungelöste Probleme für ihre Zwecke nutzen. Und sie haben sie genutzt. Ein ganzes Jahrhundert nach dem Paulskirchen-Parlament haben Nationalisten und Kommunisten gegen die Ansätze der ersten Reichsverfassung gekämpft. Beide hatten Gelegenheit, ihren politischen Vorstellungen staatliche Gestalt zu geben. Das bedeutete für Deutschland die Rückkehr des Polizeistaates in Form der totalitären Überwachungsstaaten des 20. Jahrhunderts, die, wie Altbundespräsident Theodor Heuss bemerkte, alle früheren Repressionen als Ausdruck eines dilettantischen Halbvermögens erscheinen ließen.
Bei geschichtlichen Rückblicken darf eigentlich nicht gefragt werden: Was wäre gewesen, wenn? Aber in diesem Fall kann eindeutig gesagt werden: Hätte sich die Verfassung des Paulskirchen-Parlaments durchgesetzt, wären uns Nationalsozialismus und Kommunismus in Deutschland erspart geblieben.
Die friedliche Revolution, die 1989 das Regime der DDR zum Einsturz brachte, bewies die Geschichtsmächtigkeit der Ideen von Freiheit und Demokratie. Die Ziele und Ideale von 1848 standen in den Wochen der Montagsdemonstrationen an der Spitze des Forderungskataloges der Menschen. 150 Jahre nach der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche haben sich die Ideale von Demokratie und Menschenwürde endlich in ganz Deutschland - und in ganz Europa - durchgesetzt. Deutschland ist ein einheitlicher und demokratischer Verfassungsstaat. Einheit und Freiheit als die politischen Zentralforderungen von 1848 sind verwirklicht. Die Ideen von 1848 trugen, wenn auch mit Verspätung, einen Sieg davon.
Doch dieser Sieg ist schon wieder gefährdet. Kaum zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des vorläufig letzten totalitären Regimes auf deutschem Boden
Vera Lengsfeld
wird in Sachsen-Anhalt - trotz der Wahlerfolge der Rechtsradikalen - einer Partei die stille Teilhaberschaft an der Macht eingeräumt,
deren erklärtes Ziel für die kommende Bundestagswahl das folgende ist
- hören Sie bitte zu -
Ich reagiere jetzt wie damals der Präsident in der Paulskirche und sage: Jeder hat das Recht zur Rede, und dann haben die anderen das Recht zur Gegenrede.
- ich zitiere -: „der grundlegende, im Kern revolutionäre Wandel der Eigentums- und Machtverhältnisse" und die „Ablösung der gegenwärtigen politischen Praxis und der sie tragenden Verhältnisse". Das ist eine offene Kampfansage an die parlamentarische Demokratie und den Rechtsstaat.
Magdeburg ist kein machtpolitisches Techtelmechtel. Vielmehr werden hier grundlegende Erfahrungen und Erkenntnisse, die im Kampf gegen die Diktatur gewonnen wurden, zielgerichtet oder unbewußt beiseite gewischt.
Aufbegehren gegen Bevormundung, Einforderung von Freiheit und Demokratie, Mut und Verantwortungsbereitschaft: Dieses Kredo demokratischen Bewußtseins und demokratischen Handelns bildet die Traditionslinie, die von 1848 über 1919 und 1948/ 1949 bis 1989 reicht. Sie ist die Grundlage unseres heutigen demokratischen Gemeinwesens. Sie sollte Richtschnur unseres politischen Handelns bleiben und nicht durch das Händeln mit den Gegnern der Demokratie ersetzt werden.
Freiheitlich-demokratische Strukturen sind anstrengend. Aber wer die Freiheit der Entscheidung hat, sollte sich für die Verteidigung der Freiheit entscheiden. Unter den Bedingungen von Diktatur und obrigkeitsstaatlichen Repressionen waren es der Mut und das Verantwortungsbewußtsein einzelner, die Freiheitsideale einforderten. Ob die sieben Göttinger Professoren 1837, ob die rebellischen Schriftsteller und Dichter, ob katholische Publizisten oder liberale Beamte in den Regierungen der Einzelstaaten des Deutschen Bundes, ob Studenten oder Bürger: Ohne den Mut, Verantwortung zu übernehmen und sich unter schwierigen Bedingungen für Demokratie und Freiheit einzusetzen, hätte es den Weg von 1848 zu 1989 nicht gegeben. Die Ideale einer freiheitlichen
Bürgergesellschaft sind von unten durchgesetzt worden. Jetzt gilt es, sie zu verteidigen.
Deutschland hat mit seiner schwachen demokratischen Tradition starke demokratische Institutionen hervorgebracht. Wir müssen diese Institutionen schützen, um unsere Traditionen weiterentwickeln zu können, bis demokratisches Denken und Handeln allen Staatsbürgern in Fleisch und Blut übergegangen sind. Wir brauchen eine wehrhafte Demokratie und entschlossene Demokraten, die gegen die Sirenengesänge der Demokratiefeinde immun sind.
An die Revolution von 1848 zu erinnern heißt deshalb, sich immer das Tun der damals Handelnden vor Augen zu führen, ihren inneren Antrieb und Einsatz zu würdigen und sich an ihnen ein Beispiel für die politische Gestaltung der Zukunft zu nehmen. Daraus muß unser demokratisches Gemeinwesen seine Kraft schöpfen, wenn es nicht verkümmern will.
Das Wort hat der Kollege Freimut Duve.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Frühling der Völker" - so wird der Mai 1848 in französischen und polnischen Geschichtsbüchern bis heute genannt. Wir erinnern uns heute im Deutschen Bundestag. Es war ein deutsches, aber es war vor allem auch ein europäisches Ereignis mit europäischen Wirkungen.
Im Prager Frühling 1968 wurde dieser stolze Name bewußt in die Gegenwart übernommen. Er wurde - wie der Frühling 1848 in Wien - brutal beendigt.
Oktober 1989: Jeden Montag riefen die Demonstranten von Leipzig: „Wir sind das Volk! " Das war das Banner, mit dem sie jeden Montag durch die Straßen gingen. Wir hier im Deutschen Bundestag waren von diesem „Wir" - nicht „Ihr da oben seid das Volk", sondern „Wir sind das Volk" - sehr bewegt. Denn das war seit 1776 in den Vereinigten Staaten und seit 1789 in Frankreich die große demokratische Selbstverständlichkeit und seither die große Sehnsucht und das große Ziel aller Demokraten in ganz Europa: „Wir sind das Volk."
Schon bald tauchte im Leipzig des Jahres 1989 auf der Straße die zweite große, als freiheitlich empfundene patriotische Selbstverständlichkeit des 19. Jahrhunderts auf: „Wir sind ein Volk." Das war sprachlich nur eine ganz kleine Veränderung, politisch aber eine bedeutende. Nach alldem, was der Demokratie und dem Patriotismus im 20. Jahrhundert angetan worden war, gab es im Oktober 1989 historische, aber auch politische Unsicherheiten. Wie umgehen mit dem „Wir sind ein Volk", wenn zwar der Demo-
Freimut Duve
kratieanspruch - ich denke an den Oktober und November, wo auch wir debattiert haben - gesichert schien, aber Ende 1989 die Entscheidung über den Einheitsanspruch nach wie vor auch von anderen Staaten und Regierungen abhing?
Am 27. Mai 1848, also heute vor 150 Jahren, formulierte die Nationalversammlung,
dass alle Bestimmungen einzelner deutscher Verfassungen, welche mit dem von ihr zu gründenden Verfassungswerke nicht übereinstimmen, nur nach Massgabe des letztern als gültig zu betrachten sind.
Die umständliche Sprache kennen wir. Es ist ein etwas kompliziert formulierter Satz, der die Texte der nichtdemokratischen Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten wegschieben will. Das ist die Erklärung. Damit wurde zum erstenmal der unbedingte Vorrang der künftigen demokratischen Reichsverfassung vor den einzelnen Länderverfassungen erklärt. In diesem Beschluß wird deutlich, wie uns die beiden Ziele „Wir sind das Volk" und „Wir sind ein Volk" seit mehr als 150 Jahren begleiten - zwei Ziele und zugleich die zwei zentralen Probleme der Deutschen im 19. Jahrhundert: ihr Weg zur Demokratie und ihr Weg zur staatlichen Einheit. Der republikanisch-revolutionäre Anspruch auf die Souveränität der Bürger gegen die Diktatur der Herrschenden steckt in den ersten, der Anspruch auf das gemeinsame Vaterland in den zweiten.
Begleitet waren beide von der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit angesichts rapider Verarmung der Landbevölkerung und der wirtschaftlichen Krise in den Städten. Karl Marx hat dazu sein europäisches Manifest geschrieben, seine - so wird es heute von manchen amerikanischen Philosophen gesehen -vorausgedachte, auf Europa zielende Beschreibung der politischen Wirkung der ökonomischen Globalisierung. - Ich kann das nicht ganz teilen; aber dies ist ein hübscher Gedanke, der neuerdings Marx zugedacht wird.
Eine Revolution, der dieser Ehrentitel nicht streitig gemacht wurde, haben wir nicht gehabt. Revolutionen scheinen uns nicht zu liegen. Aber natürlich war 1989 eine Revolution, und natürlich war 1848 eine Revolution. Natürlich war der 1. Juli 1948 keine Revolution, als vor fast genau 50 Jahren die alliierten Befehlshaber den Ministerpräsidenten der Westzonen die Frankfurter Dokumente überreichten und damit den Prozeß der Gründung unserer Bundesrepublik einleiteten. Die Dokumente wurden zum off enen Tor zur Welt für unsere Demokratie. Darum ist sie fest verbunden mit der europäischen, ja mit der amerikanischen Demokratiegeschichte. Vielleicht - wir wissen es nicht - hätten wir ohne die westlichen, demokratischen Sieger von 1945 den Weg in die Demokratie so nicht zurückgefunden.
Wir Mitglieder des Deutschen Bundestages sind heute stolz auf unsere Bürger, die im November 1989 mit Erfolg demonstrierten. Die Revolution hatte ebenjene doppelte Zielsetzung, die schon 1848 ge-
kennzeichnet hatte. Die Metternichsche Stabilität bis 1848 war der Versuch, über ein Vierteljahrhundert in Europa den antifranzösischen Frieden gegen die Freiheit der Bürger fest in ein übernationales Vertragswerk einzuschmiegen, mit dem die Forderungen der Französischen Revolution ein für allemal gestoppt werden sollten. Genau dieser Vorrang einer internationalen Stabilität vor den demokratischen Bürgerrechten wurde in unserem Jahrhundert mit dem Prozeß, der schon lange vor den Ereignissen von 1989 in Prag und Warschau begonnen wurde, endgültig gebrochen.
Stabilität war keine Ausrede mehr, mit der sich Honecker an der Macht halten konnte. Stabilität war auch 1848- leider nur für einen kurzen Moment in unserer Geschichte - keine Ausrede mehr, mit der sich das Metternichsche System und sein Namensgeber in Wien an der Macht halten konnten. Auf Dauer reicht Stabilität nicht als Argument gegen den demokratischen Anspruch der Menschen.
Ich will die Parallelen nicht allzu lang ziehen; denn das, was alles noch über Mitteleuropa gekommen ist, wissen wir nur zu gut. Beide, die Revolution von 1848 und die von 1989, waren europäische Ereignisse. 1848 hatte das natürlich seinen historisch-politischen Grund. Aber es gab auch einen technisch-logistischen Grund. Adam Krzeminski hat das jüngst in der polnischen Zeitschrift „Polityka" beschrieben: Während der Mairevolution
versammelten sich die Volksmassen nicht nur vor den Palästen und Gefängnissen, sondern auch vor Bahnhöfen - wie in Frankfurt an der Oder und in Breslau. ... Die Eisenbahnen und die immer schneller reagierende Presse erweckten den Eindruck, als bildete Europa bereits ein einziges System kommunizierender Röhren, ...
Er fügt etwas traurig hinzu:
Der Irrtum konnte nicht größer sein.
Auch wir mit unseren globalen Kommunikationstechniken unterliegen zuweilen diesem Irrtum.
Zwischen den beiden Daten, 1848 und 1989, lagen fast anderthalb Jahrhunderte des Mißerfolgs, der Mißverständnisse, aber auch des mörderischen Mißbrauchs der Formel „Wir sind ein Volk". Hitler hat sie für die Zerstörung des bürgerlichen Staates genutzt und die Geschichte der Deutschen in eine verlogene, blutige Geschichte der Ausgrenzung jener, „die nicht dazugehören", verwandelt. Abstammungswahn stand gegen die Freiheitsrechte der Bürger. In seiner Diktatur galten Gehorsam und Abstammung, wurden Freiheit und Abstimmung zerstört.
In dem Wort vom „Verfassungspatriotismus" hat Dolf Sternberger die beiden großen Ziele - wir gehören zusammen, als freie Bürger - vereint. Der Stolz auf die gemeinsame Verfassung, auf die Freiheitsrechte, die in unserer und in der europäischen Geschichte erkämpft worden sind, macht die Bürger zum Souverän. 150 Jahre nach 1848 sind wir stolz auf
Freimut Duve
unsere Verfassung, stolz auf unsere Demokratie. Wir sind nicht deswegen einig über die Freiheitsrechte, weil die große Mehrheit deutsche Großeltern hatte. Wir sind vielmehr einig, weil wir von den Rechten der Bürger, von der Demokratie, die auf einer Verfassung beruht, gemeinsam überzeugt sind. Wir sind ein Volk, weil wir das Volk sind, auf dem historischen Boden unserer schönen und oft grausamen Verfassungsgeschichte.
Meine Damen und Herren, der Bundespräsident hat in Frankfurt nachdrücklich auf die Freiheitsrechte hingewiesen, die trotz aller Niederlagen aus diesen Ereignissen hervorgegangen sind. Rudolf Scharping, dessen Initiative wir diese Debatte heute zu verdanken haben, hat dies so formuliert:
Die Ideen von 1848 blieben in den Köpfen der Menschen bis heute lebendig. Menschenrechte und Demokratie - sie gehören zur Identität der Deutschen, auch im geeinten Europa.
Wir sind die Erben, und wir im Deutschen Bundestag sind dies in besonderer Weise. Wir sind aber auch die Erben des immer wieder geträufelten Giftes gegen die Wirklichkeit des Parlaments. Wahrlich nicht nur Oswald Spengler hat die Frankfurter Nationalversammlung ihrer unmittelbaren politischen Erfolglosigkeit wegen als „Quasselbude" bezeichnet. Der faktisch-politische Mißerfolg dieses Parlamentes ist über fast 100 Jahre immer wieder und besonders in den 20er Jahren von den Nazis zum zentralen Argument gegen die Bürgerrechte der parlamentarischen Verfassung mißbraucht worden: Die reden doch nur, und dafür werden sie auch noch bezahlt. Erst die Überwindung der Hitlerdiktatur hat zum Respekt vor dem Parlament und zum Respekt vor dem Wort der Gesetze, vor dem Wort des Parlamentes also, geführt. Der antidemokratische Teil der Deutschen hat immer wieder mit populistischem Erfolg versucht, diesen Respekt im Keim zu ersticken.
Heute sind die Parlamente in den Städten und Ländern und der Deutsche Bundestag fest im öffentlichen Bewußtsein verankert. Aber ich möchte hinzufügen: Es gab nicht nur seit 1968 auch in der deutschen Linken, ähnlich wie in der extremen Rechten, eine Haltung nach dem Motto: Wenn wir dieses bürgerliche Parlament erst einmal überwunden haben, dann ... Auch dies darf man nicht vergessen, sondern muß immer wieder darauf hinweisen, daß in diesem Gedanken eine gefährliche Mißachtung der Parlamentsgeschichte lag.
Wir sollten respektieren, wenn manche, die uns kritisieren, dies tun, gerade weil sie ein so starkes historisches Bewußtsein davon haben, was die Nationalversammlung und was das Parlament für unser Land und für Europa bedeuten. Es gibt idealistische Kritiker, die, wenn wir uns etwa beim Thema Diäten mit anderen Berufen vergleichen, gerade wegen dieser historischen Bedeutung des Parlaments immer noch der, heute würde man sagen: großbürgerlichen Meinung sind, Parlamentarier sollten sich niemals professionalisieren. Ich teile diese Meinung nicht. Hierzu habe ich auch schon gesprochen. Aber ich achte diese Haltung, wenn sie sich auf das Bewußtsein von der historischen Bedeutung und der großen Tragödie der deutschen Parlamentsgeschichte gründet.
Ganz anders steht es aber mit den Kritikern, die immer wieder von der Bezahlung der Abgeordneten reden, um die zentrale Rolle des Parlamentes zu beschädigen.
Solche Kritik mündet in die für jedes Land absurdeste, aber auch gefährlichste aller Fragen: Warum brauchen wir überhaupt ein Parlament?
Die zentrale Verantwortung für uns als Mitglieder des Deutschen Bundestages liegt in der Art und Weise, wie wir mit unserem Mandat umgehen. Zugleich liegt die Verantwortung unserer Kritiker in der Art und Weise, wie sie mit ihrer Kritik an uns umgehen. Denn eines können wir aus Erfahrung allen jungen Menschen sagen, die die Frage „Wozu überhaupt?" stellen: Innerer und äußerer Frieden, innere wie äußere Balance statt erpreßter innerer wie äußerer Stabilität lassen sich nur mit parlamentarischen Verfassungen und ihren zentralen Freiheitsrechten erhalten.
Das beweist auf grausame Weise unsere eigene Geschichte. Ohne die Menschen- und Bürgerrechte von 1848, ohne die stets aufs neue korrigierende Rolle des frei gewählten Parlaments und seines Zwillings, des freien kritischen Journalismus, führt jeder Weg - auch der mit glänzendem Marmor gepflasterte - in die menschliche, in die nationale, in die wirtschaftliche Katastrophe. Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts haben ihren Ländern und ihren Völkern diese Katastrophe beschert und den Frieden gefährdet. Die Universalität dieser Feststellung erleben wir derzeit in besonderer Weise angesichts des Untergangs der herrschenden Klasse in Indonesien. Es gibt keinen Ausweg aus der Forderung der dortigen Menschen.
Antonia Grunenberg hat vor kurzem in einem Beitrag in der „FAZ" davor gewarnt, die Zukunft der freiheitlichen Demokratie ausschließlich an den wirtschaftlichen Wohlstand zu knüpfen und zu sagen: Nur wenn der vorhanden ist, hat die Demokratie eine Chance. Ihr Argument scheint mir sehr wichtig. Denn die Freiheitsrechte müssen ja gerade dann Geltung haben, wenn wirtschaftliche und soziale Probleme auftreten - und nicht umgekehrt.
Daß den Worten Taten folgen müssen - wer wüßte dies besser als wir Abgeordnete, die sich den Wäh-
Freimut Duve
lern gegenüber ausweisen müssen für das, was sie erreicht, und für das, was sie versäumt haben.
Aber wir können mit Erfahrung und Entschlossenheit feststellen: Wer mit extremistischen Thesen die Entmachtung des Rechtsstaats und die Knebelung der Freiheitsrechte propagiert, macht sich schuldig gegen sein eigenes Land, gegen seine Mitbürger. Auch das müssen wir diesem Herrn Verleger aus München, der mit Phantomparteien junge Menschen in den antidemokratischen Extremismus lockt, immer wieder entgegenhalten.
Denn 1998 in Deutschland rechtsradikal zu sein heißt, sich aus den Aufträgen unserer zwei Revolutionen - der von 1848 und der von 1989 - hinwegzustehlen. Rechtsradikal, das heißt, sich den Zerstörern der Freiheit anzuschließen und nicht den Kämpfern für die Freiheit. Wir dürfen nicht müde werden in dem Versuch, diese Menschen in die schwierige Freiheit und Verantwortung zurückzurufen.
Der Weg nach 1945 in die Freiheit und in den Rechtsstaat war nach zwölf Jahren Diktatur für Millionen von Bürgern nicht leicht. Der Weg nach 1989 war für viele nicht leicht, die plötzlich mit der Frage konfrontiert waren, ob sie 40 Jahre falsch gelebten Lebens hinter sich haben. 40 Jahre sind für ein Menschenleben viel mehr als 12 Jahre.
Denen, die daraus eine nostalgische Sehnsucht nach einer verklärten Diktatur der sogenannten Einheitspartei machen, muß entschieden widersprochen werden.
Aber auch ihren Anhängern muß die Tür in die demokratische Familie immer wieder geöffnet werden.
Für die Geschichte des Rechtsstaats und der Demokratie gilt ein radikaler Grundsatz - an ihn muß immer wieder erinnert werden -: Wir hier im Parlament sind nicht immer Freunde; oft sind wir auch entschiedene Gegner. Aber wir sind einander niemals Feinde. Der Feindesbegriff gehört nicht in das Parlament.
Das Wort „Feind" gehört nicht in die Demokratie. Feinde sind jene, die die Demokratie zerstören wollen. Wenn von ganz rechts oder ganz links in Diskussionsbeiträgen oder öffentlichen Auseinandersetzungen etwas gesagt wird, sind der Feindesbegriff und der Verratsbegriff ganz schnell da.
Die vielen sehr unterschiedlichen Interessen, Haltungen und Meinungen müssen mit dem Wort, dem Argument und dem Wahlzettel ausgefochten werden; das darf niemals mit Gewalt geschehen. Wer mit politischer Gewalt droht oder in seiner politischen
Biographie damit gedroht hat, gehört nicht in das Parlament.
1848 war ein europäisches Jahr. Dieses Jahr ist auch ein europäisches Jahr. Wir stehen vor einer europäischen Herausforderung, die durchaus zu der in 1848 analog ist. Wir haben die Einheit. Aber als Land, in das eingewandert wurde und wird, müssen wir den Staatsbürgerbegriff auf seinen Freiheitskern konzentrieren und zugleich die Bürger anderer Herkunft sehr viel intensiver in den demokratischen Prozeß und in die Verantwortung für die Demokratie einbeziehen.
Kollege Duve, bitte kommen Sie zum Schluß.
Ja, Frau Präsidentin; ich werde mich bemühen.
Wie verstärken wir gemeinsam auch mit den Eingewanderten unseren Verfassungsauftrag? Wie festigen wir das, was wir den Montagsdemonstrationen zu verdanken haben? Kanada und die Vereinigten Staaten haben gezeigt, wie Einwandererländer ein gemeinsames Bewußtsein, eine gemeinsame Liebe zu ihrer Demokratie, zu ihrem Rechtsstaat entwickelt haben. Sie bauen ihren Stolz auf Verfassungspatriotismus.
Diesen gemeinsamen Stolz auf die Verfassung zu verankern ist in der elektronischen Moderne keineswegs leicht. Wir wissen, was im Zusammenhang mit den Fragen der Integration alles angesprochen werden muß.
Bürgerrechte und Menschenrechte können nur überleben, wenn sie von einer großen Mehrheit getragen sind. Wie wir, wie unsere Schulen und Hochschulen, wie unsere Betriebe, wie unsere Medien diese Aufgabe angehen, möglichst viele Bürger an der Verantwortung für die zivile Gemeinsamkeit teilhaben zu lassen, hängt nicht nur von uns ab. Dazu müssen alle, die hier ihre Heimat gefunden haben, beitragen. Auch sie müssen sich einer kritischen Diskussion stellen, wenn sie sich nicht auf den Grundkonsens freiheitlicher Bürgerrechte einlassen wollen, was sich etwa in der Mißachtung der Gleichheit der Frauen äußern kann. Das hängt aber auch von uns ab. Wir müssen ihnen die Chance dazu eröffnen, diesen Beitrag zu leisten.
Deutscher Bürger zu sein ist keine Frage der Abstammung,
sondern eine Frage der aktiven Mitverantwortung.
Ein Eröffnen der Rechte ist zugleich ein Eröffnen der
Freimut Duve
Pflichten. Das gilt für alle. Zu glauben, jemand sei demokratisch verantwortlicher, weil er deutsch ist, und demokratisch unbelehrbarer, weil seine Eltern Türken waren, ist auf Dauer keine akzeptable Unterscheidung.
Ich freue mich über unsere Braunschweiger Kollegin und unseren schwäbischen Kollegen mit den türkischen Namen Leyla Onur und Cem Özdemir. Sie beide sind für diese große Aufgabe der europäischen Demokratie im nächsten Jahrhundert wahrlich bessere Zeugen als der Herr Verleger aus München oder als südfranzösische Bürgermeister, die im Namen einer nationalen Front Bücher aus den Stadtbibliotheken entfernen, die ihnen nicht passen.
Das gilt auch umgekehrt: Einwanderer sind in die Demokratie und in den Rechtsstaat eingewandert. Wir müssen ihnen helfen, zu Bürgern bei uns zu werden, auch im Rahmen einer doppelten Staatsbürgerschaft. Aber auch sie müssen für sich und ihre Kinder die Pflichten und Rechte der freiheitlichen Verfassung annehmen.
Herr Duve, darf ich Sie noch einmal an die Redezeit erinnern?
Ich komme zum Schluß. - Ich hatte meine Rede für die mir zur Verfügung stehende Redezeit vorbereitet. Aber man spricht ja doch relativ langsam.
Seit einigen Monaten bin ich von den 54 Staaten der OSZE beauftragt, über die Freiheit des Wortes, über die Freiheit der Medien als eine Art Ombudsmann zu wachen. Diesen Auftrag hätte es ohne die Freiheitsgeschichte Europas nicht gegeben. Ohne sie wäre der dritte Korb des Helsinki-Vertrags nicht geflochten worden. Ich will mich bemühen, mein Amt in diesem Geist des Frühlings der Völker Europas zu führen.
Gestatten Sie mir, Frau Präsidentin, zum Schluß ein persönliches Wort - wobei ich mich für das Oberziehen der Zeit in aller Form entschuldigen möchte -: Dies ist meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Ich bin meiner Fraktion dankbar dafür. Dies ist angesichts einer 18jährigen Zugehörigkeit zum Parlament kein leichter Abschied. Man wird so ein bißchen - wie meine Mutter gesagt hätte - melanklöterig.
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen für die schöne Zusammenarbeit. Ich danke den Mitarbeitern des Bundestages, auch den Damen und Herren, die uns hier im Saal in ihren schönen Uniformen so viele Jahre begleitet haben. Ich freue mich immer, wenn ich sie draußen einmal ohne Uniform treffe. Dann kann man ein bißchen rumklönen. - Ich möchte auch meinen eigenen Mitarbeiterinnen, die heute im Saal sind, für die Arbeit und das Engagement sehr herzlich danken.
Parlament heißt Parlament - das ist der Ort, wo gesprochen wird. Parlament heißt nicht Videothek, wo Bilder inszeniert werden. Ich wünsche uns allen, daß
das Wort nicht im Mediennebel verdunstet. Ohne das Gewicht des Wortes gibt es kein Recht, keine Richter, kein Parlament und keine Demokratie.
Danke schön.
Wie Sie uns gerade gesagt haben, war dies Ihre letzte Rede im Deutschen Bundestag. Ich möchte Ihnen, Kollege Duve, von dieser Stelle aus in unser aller Namen ganz herzlich danken für Ihr Engagement in diesem Parlament, für Ihren Umgang mit dem Wort und an allererster Stelle - wie auch heute im Rahmen des 150jährigen Gedenkens an die Paulskirche - für Ihr unerbittliches Eintreten für die Menschenrechte, oft unter Einsatz Ihres Lebens. Herzlichen Dank!
Wir wünschen Ihnen in Ihrem neuen Amt in der OSZE, das Sie bereits ausüben, gutes Vorankommen. Da sind dicke Bretter zu bohren. Alles Gute!
Ich rufe jetzt den Kollegen Werner Schulz auf, sage aber gleich dazu, daß diese Ausnahmerechte, die sich der Kollege Duve genommen hat, für keinen weiteren gelten.
Ich hoffe auch nicht, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, daß dies meine letzte Rede hier im Parlament sein wird.
Ich hoffe, daß ich Ihnen meine demokratischen Provokationen noch ein Weilchen bieten kann.
Mit der heutigen Debatte zur bürgerlich-demokratischen Revolution vor 150 Jahren würdigen wir zum erstenmal in der fast 50jährigen Geschichte des Deutschen Bundestages den Beginn der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Die Vielzahl der Veranstaltungen, Ausstellungen, Vorträge, Konzerte, Theaterrevuen, Artikel und dickleibigen Geschichtsbücher, die in den letzten Monaten zu diesem Thema erschienen sind, deuten darauf hin, daß es sich nicht nur um eine halbe oder unvollendete, sondern auch um eine wiederentdeckte Revolution handelte. Trotz alledem und alledem - um die berühmten Worte Freiligraths aufzugreifen - besteht noch immer eine Kluft zwischen der historischen Darstellung und der lebendigen Aneignung unserer Geschichte.
Bei allem Verständnis für den CDU-Parteitag in Bremen, der angespannten Wahlkampfsituation und dafür, daß der Herr Bundeskanzler dort als Parteivorsitzender gefragt war: Daß die Bundesregierung letzten Montag bei der offiziellen Feierveranstaltung in der Frankfurter Paulskirche allein durch den Drogenbeauftragten vertreten war, spricht bei dem ansonsten bestehenden Hang für symbolische Politik allerdings auch Bände.
Werner Schulz
Wie wären wohl die Feiern in Ost und West ausgefallen, wenn es die friedliche Revolution von 1989 nicht gegeben hätte?, fragt sich einer wie ich. Hat sich nicht erst hier und reichlich spät der unbändige Wunsch nach Freiheit, Demokratie und Einheit erfüllt, der in Hambach, Mannheim, Offenburg, Karlsruhe, Berlin und Frankfurt erhoben, in Dresden und Rastatt blutig niedergeschlagen, der von Bismarck deformiert und von den Nationalsozialisten pervertiert wurde?
Gewiß, wir sind im Gegensatz zu Frankreich, wie die Ausstellung in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle zeigt, nicht gerade reich an Revolutionsdarstellungen. Doch wer die Bilder des Leipziger Malers Walter Eisler zur Bürgerbewegung im Herbst 1989 kennt, der sieht den Zusammenhang zwischen 1848 und 1989. Da taucht es wieder auf, das Schwarz-RotGold, so wie es Freiligrath beschrieben und Robert Schumann vertont hat, in seiner ursprünglichen, freiheitlichen, patriotischen Art. Wir könnten uns den kleinkarierten Streit um die Ausstattung des künftigen Bundestages sparen, wenn wir uns diese Bilder im besten Sinne zu eigen machten.
„In einer Weise, wie es die Weltgeschichte noch nicht gesehen hat, hat das Volk in Deutschland seine Revolution gemacht. Es hat mit wenigen Ausnahmen Gewaltanwendungen gescheut." Das hat nicht etwa ein Teilnehmer der Leipziger Montagsdemos gesagt, sondern der Abgeordnete der Frankfurter Paulskirchen-Versammlung, Robert Blum - jener linke Radikaldemokrat, der am 9. November für die Freiheit starb. Er wurde in Wien hingerichtet, nicht ahnend, daß sein Traum von Freiheit und Einheit erst und genau am 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und mit dem politischen Druck seiner Leipziger Nachkommen in Erfüllung gehen sollte.
Der 9. November ist der eigentliche Nationalfeiertag, weil sich mit ihm die Geschichte der letzten 150 Jahre umreißen läßt. Er ist ein Gedenk- und Feiertag zugleich. Er erinnert daran, daß wir drei Revolutionen brauchten, um Freiheit, Demokratie und Einheit zu erreichen. Er läßt die dunklen Kapitel unserer Geschichte mit Niederwerfung, Nazi-Putsch und „Reichspogromnacht" nicht aus. Er ist kein Tag für ausgelassene Volksfeste, sondern er stimmt uns eher nachdenklich und hoffnungsfroh, unserer deutschen Mentalität entsprechend.
Statt dessen wurde willkürlich und ohne jeglichen historischen Bezug der 3. Oktober, der allenfalls an den Todestag von Franz Josef Strauß erinnert, als Nationalfeiertag in den Kalender gesetzt.
Daß den Bürgerrechtlern das Vermächtnis von 1848/49 bewußt war, zeigt, daß wir der Modrow-Regierung den 18. März - den Tag der Berliner MärzRevolution - als Tag der Volkskammerwahl abrangen. Doch während wir am runden Tisch - praktisch dem Vorparlament - saßen, wurde die „Allianz für Deutschland" geschmiedet. Dieser ungewöhnliche Begriff - „Allianz" - ist kein Zufall. Helmut Kohl hat sich den demokratischen Aufbruch einverleibt, zum Machterhalt genutzt und ihn nicht fortgesetzt, verstand sich doch die Heilige Allianz als eine Verbindung gegen den demokratischen Fortschritt.
Während die Paulskirchen-Versammlung eine moderne Verfassung vorgelegt hat, aber die deutsche Einheit verfehlte, erging es der Volkskammer genau umgekehrt. Der Ruf „Wir sind ein Volk", wurde eingelöst, doch der vorherige Ruf „Wir sind das Volk", also der Anspruch auf mehr Einfluß und Mitbestimmung, wurde von einer großen Koalition nicht berücksichtigt.
Der Verfassungsentwurf des runden Tisches kam nicht im mindesten zum Tragen. Auch über das Grundgesetz hat das deutsche Volk nicht in freier Selbstbestimmung abgestimmt, wie dies verpflichtend in Art. 146 Grundgesetz stand und immer noch steht.
Wenn dies geschehen wäre, hätte dies mehr über unsere demokratische Reife ausgesagt als jede präsidiale Hauruck-Rede zum Paulskirchen-Jubiläum. Der oft als Sonderweg zur Lösung der nationalen Frage bezeichnete Prozeß war ein verlust- und schmerzreicher Weg - von der Frankfurter Paulskirche über die Leipziger Nikolaikirche bis hin zum gesamtdeutschen Parlament in Berlin.
Herr Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?
Ja.
Herr Meckel.
Verehrter Kollege Schulz, sind Sie bereit, anzuerkennen, daß die sogenannte Verfassung des runden Tisches eine wichtige Vorarbeit des runden Tisches für die Konstituierung von Demokratie war, daß man aber nicht im strikten Sinne von einer Verfassung des runden Tisches sprechen kann, da sie von der Verfassungskommission des runden Tisches verabschiedet worden ist, nicht vom runden Tisch selber, an dem sie nur diskutiert worden ist? - Das zum ersten.
Zweitens. Sind Sie bereit, anzuerkennen, daß der Beitrittsbeschluß der Volkskammer - hinter dem die große Mehrheit der Bevölkerung der DDR stand - einen Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes bedeutete und daß auch dies die große Zustimmung der Bevölkerung der DDR fand? Ich denke zwar, daß Ihre Bewertung richtig ist, daß wir in der Verfassungskommission des ersten gesamtdeutschen Bundestages durchaus eine weitergehende Verfassungsdiskussion hätten führen können, -
Bitte stellen Sie eine Frage.
- daß aber der Vorwurf, man hätte die Verfassung nicht anerkennen können, nicht stimmt.
Frau Präsidentin, ich weiß nicht, wo die Frage war. Ich glaube auch, daß der Fragesteller die Antwort weiß, wie seine ausschweifigen Ausführungen deutlich machen.
Dies wäre eine weitführende Debatte. Ich will deshalb in meiner Rede fortfahren.
Das Jahr 1848 war auch das Jahr zweier Gesellschaftsentwürfe: das des „Kommunistischen Manifests", das Marx und Engels im Februar 1848 vorgelegt hatten, und das der „Demokratischen Bürgergesellschaft" . Diktatur des Proletariats auf der einen Seite oder repräsentative parlamentarische Demokratie, so hieß die Kampf- und Klassenfrage, die sich bis in unser Jahrhundert und bis zur Zweistaatlichkeit zuspitzte. Die Ideologien des Kommunismus und des Nationalsozialismus, der politischen Extreme von 1848/49, haben jeweils in totalitäre Systeme geführt.
Zum Glück, das Gespenst des Kommunismus hat Europa verlassen, auch wenn sich das in Bayern offenbar noch nicht herumgesprochen hat. Daran ändert auch nichts, daß die PDS dem unverbesserlichen Rest eine Traditions- und Tummelecke einräumt, was ihren Anspruch auf demokratischen Sozialismus nicht unbedingt glaubwürdig macht. Einen akzeptablen Sozialismus in den Farben der DDR hat es nicht gegeben. Wer das verklärt, richtet selbst im nachhinein noch Schaden an.
Besagtes Gespenst ist verschwunden - der braune Geist allerdings noch nicht. Die Erinnerung an die Paulskirche sollte uns auch eine Warnung sein, was geschieht, wenn die Politik nicht um die Demokratie kämpft und die Demokratie nicht wehrhaft ist.
Solange die Bürgerinnen und Bürger auf Zuschauerdemokratie, Petitionen und Protestnoten angewiesen sind, laufen wir Gefahr, daß sich die Politikverdrossenheit ausbreitet und unser Staat den Berufsdemokraten überlassen bleibt. Meinungs- und Pressefreiheit verlangen allerdings auch journalistisches Format, die Schwierigkeiten der politischen Willensbildung reell zu schildern.
Die Nazis haben auf der Basis von Demokratieverdruß nicht nur das Parlament aufgelöst, sondern auch die demokratischen Mitglieder des Reichstages verfolgt und umgebracht. Die Verunglimpfung des Parlaments hat allerdings lange Tradition. Schon Karl Marx und Georg Herwegh haben mit intellektuellem Hochmut die Paulskirchen-Versammlung als „Schwatzbude" bezeichnet.
Dabei kann sich die Arbeit dieser ersten Nationalversammlung - das wissen wir heute - durchaus sehen lassen: Sie hat eine auf den Bürger- und Menschenrechten fußende Verfassung vorgelegt, die unserem Grundgesetz Orientierung gab; sie hat einen föderalen Bundesstaat konzipiert, ein Verfassungsgericht entworfen, die Bildung politischer Parteien und Vereine initiiert; und selbst unser heutiger Parlamentsbetrieb mit Aktueller Stunde und Ausschußarbeit greift auf die Paulskirche zurück.
Das Wort „Grundrechte" und die wesentlichsten Grundrechte gehen auf die Paulskirche zurück. Deswegen ist es verwunderlich, daß eine de facto große Koalition hier im Haus das Grundrecht auf Asyl und die Unverletzlichkeit der Wohnung ohne Probleme eingeschränkt hat und sich dennoch auf die Ideale der Paulskirche beruft.
Und, Vera Lengsfeld, nicht nur Magdeburg ist problematisch. Problematisch ist auch, wenn man - so wie du - den Überwachungs- und Spitzelstaat erlebt hat, aber die verfassungsrechtlichen Konsequenzen außer acht läßt.
Soziale Rechte fanden allerdings keinen Eingang in die Paulskirchen-Verfassung. Hier liegt ein folgenschwerer Geburtsfehler unserer Demokratie.
Denn ohne soziale Gerechtigkeit hat auch die Demokratie keinen Bestand.
Das Recht auf Arbeit war für das Volk untrennbar mit dem Begriff der Freiheit verbunden. Daß es nicht als Staatsziel in die Verfassung kam, liegt am Versagen der Liberalen und ist bis heute noch in einer eher passiven Regierungspolitik zur Arbeitslosigkeit zu spüren.
Auch die Rechte der Frauen fanden kein Gehör, obwohl die Frauen mit auf den Barrikaden kämpften und den Männern in nichts nachstanden. Doch mit 1848/49 sollten wir auch den Beginn der Frauenbewegung feiern - wie Louise Otto-Peters, die Gründerin und erste Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins schrieb:
Mitten in den großen Umwälzungen, in denen wir uns alle befinden, werden sich die Frauen vergessen sehen, wenn sie selbst an sich zu denken vergessen.
Dem Männerparlament der Nationalversammlung in der Paulskirche gehörte - versteckt - nur eine Frau an, Malwida von Meysenbug. Wenn ich mich heute umschaue, stelle ich fest, daß mehr Frauen im Parla-
Werner Schulz ment sind. Aber in dieser Hinsicht könnten wir noch weiter vorankommen.
Mit den Anfängen der Demokratie in Deutschland beginnt auch die Geschichte des politischen Asyls. Viele der 48er Demokraten haben nach der Niederschlagung der Revolution Deutschland verlassen und als „Forty-eighters" im amerikanischen Bürgerkrieg ihren zweiten Freiheitskampf gegen die Sklaverei geführt.
Friedrich Hecker, Gustav Struve, Peter-Joseph Osterhaus, Carl Schurz, der spätere Innenminister der USA, sind nur einige der Million Deutschen, die in den USA Aufnahme fanden. Was wäre wohl passiert, wenn die USA ein solches völkisches Staatsbürgerschaftsrecht gehabt hätten wie wir? Heute ist auch Deutschland längst ein Einwanderungsland. Wer das ignoriert oder die Eltern von Flüchtlingskindern in Sippenhaft nimmt, der ist und bleibt ein Reaktionär, auch wenn er sich den Hecker-Hut aufsetzt.
Übrigens sind Friedrich Hecker in den USA fast ein Dutzend Denkmäler gewidmet - in Deutschland nicht eines.
Der Berliner Senat hat sogar die auf Grund einer Bürgerinitiative und eines Beschlusses der Bezirksversammlung Mitte erfolgte Umbenennung von „Platz vor dem Brandenburger Tor" in „Platz des 18. März 1848" wieder rückgängig gemacht. Dafür sind dem preußischen General von Wrangel, der die Revolution niederschlug, in Berlin gleich zwei Straßen gewidmet.
Noch immer ist nicht eingelöst, was Otto Suhr am 18. März 1948 gesagt hat:
... wenn das deutsche Volk endlich die Demokratie begreifen will, dann muß es seine Helden des Friedens und der Freiheit achten lernen.
Ich denke, wir sollten die im Osten Deutschlands erfolgte Umbenennung von Straßen und Institutionen in einigen krassen Fällen auch im Westen fortsetzen.
Der Völkerfrühling 1848 war ein europaweiter Aufbruch der Völker zur Freiheit. Doch erst der Herbst 1989 und der Umbruch in Osteuropa geben uns heute die Chance für ein friedliches Zusammenleben, den kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenhalt in Europa. Wir sollten allerdings schleunigst die Demokratiedefizite hinsichtlich Europaparlament und Verfassung beseitigen.
Meine Damen und Herren, wir ziehen im nächsten Jahr nicht von der Bonner in die Berliner Republik. Die neue Regierung, der neue Bundeskanzler sollten
allerdings den Rat von Willy Brandt beherzigen und mehr Demokratie wagen sowie die notwendige Erneuerung an Haupt und Gliedern dieser Republik in Richtung einer deutschen demokratischen Bundesrepublik betreiben. Das könnte uns der inneren Einheit, von der soviel die Rede ist, näherbringen.
Noch haben wir keinen gesellschaftspolitischen Grundkonsens gefunden, noch ist der demokratische Zusammenhalt bedroht. Deutlich wird das an unserer Nationalhymne. Während die Konservativen die dritte Strophe mit „Einigkeit und Recht und Freiheit" singen und die linken Autonomen keine Lieder haben, intoniert die neue Rechte bereits wieder die erste Strophe mit „Deutschland, Deutschland über alles".
Es wäre an der Zeit, das aufzugreifen, was uns Bertolt Brecht, den die CSU ja jetzt fast als Heimatdichter entdeckt hat,
hymnisch ins nationale Stammbuch geschrieben hat, was uns heute stärker zusammenbringen und ins vereinte Europa führen könnte und was wir künftig zum bescheidenen Streichquartett von Haydn singen sollten:
Anmut sparet nicht noch Mühe Leidenschaft nicht noch Verstand Daß ein gutes Deutschland blühe Wie ein andres gutes Land.
Daß die Völker nicht erbleichen Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.
Und nicht über und nicht unter Andern Völkern woll'n wir sein Von der See bis zu den Alpen Von der Oder bis zum Rhein.
Und weil wir dies Land verbessern Lieben und beschirmen wir's.
Und das liebste mag's uns scheinen So wie andern Völkern ihrs.
In der Debatte spricht jetzt Otto Graf Lambsdorff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! „Die Freiheit der Person ist unverletzlich." „Die Wohnung ist unverletzlich." „Das Briefgeheimnis ist gewährleistet. " „Die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei." „Das Eigentum ist unverletzlich." - Diese Sätze kommen uns allen vertraut vor. Das Grundgesetz und die Weimarer Verfassung wiederholen sie. Sie stammen aus dem Kernstück des großen Werkes der Paulskirche, dem Grundrechtskatalog der Verfassung.
Daß viele Menschen sie auch heute noch als ausgesprochen aktuell einstufen, zeigt, daß bei der Frage der Rechte der Menschen das wahre große Vermächtnis der 1848er Revolution zu suchen ist.
Dr. Otto Graf Lambsdorff
Die Mitglieder der Paulskirchen-Versammlung, die sich zugleich die große Aufgabe der Vereinigung Deutschlands gestellt hatten, speisten ihre Inspiration aber nicht nur aus der Idee der Menschenrechte.
Über dem Stuhl des Präsidenten der Versammlung prangten die Worte:
Des Vaterlandes Größe, des Vaterlandes Glück, Oh schafft sie, oh bringt sie dem Volke zurück.
Das blumige nationale Pathos hinter diesem Reim wirkt - so sehr es für das Verständnis des Gesamtphänomens „ 1848 " wichtig ist - für uns heute wohl eher leicht belustigend. Aber dennoch haben Sie, Herr Duve, recht, wenn Sie eine Parallele zwischen 1848 und 1989 ziehen. Im übrigen erlaube ich mir die Bemerkung, daß es immer ein besonderes Vergnügen war, mit Ihnen hier im Plenarsaal diskutieren zu dürfen. Vielen Dank dafür!
Der dürre Gesetzestext der Menschenrechte hat seine bezwingende Wirkung ungebrochen beibehalten. Die Paulskirchen-Versammlung konnte - das wissen wir - ihren Verfassungsentwurf nicht durchsetzen. In diesem Sinne scheiterte sie. In einem anderen Sinne scheiterte sie nicht: Sie war in ihrer tatsächlichen politischen Tragweite trotz ihrer Niederlage zu gewaltig, als daß man danach einfach zur Tagesordnung übergehen konnte. Die Idee der Freiheit war ein für allemal in die deutsche politische Tradition eingeflossen.
Wenngleich diese Idee in vielen Etappen der deutschen Geschichte - etwa der des Nationalsozialismus oder der des sowjetgestützten und kommunistischen Regimes in Ostdeutschland - niedergeschmettert wurde, war sie doch immer wieder der Regeneration fähig. Dies war sie nicht zuletzt, weil sie mit der 48er Revolution irgendwie in das kollektive Bewußtsein eingedrungen war. Es ist sicher richtig, daß etwa der demokratische Neubeginn der Bundesrepublik in mancher Hinsicht ein Werk der Westalliierten war, die den Geburtsvorgang geburtshelferisch unterstützten. Aber Erfolg konnte dies nur haben, weil ein vielfältiges demokratisches und freiheitliches Bewußtsein vorhanden war. Es konnte sein Selbstverständnis auch daraus beziehen, daß es im denkwürdigen Jahr 1848 ein Fanal der Freiheit gegeben hatte, das ganz und gar ein eigenes, aus dem deutschen Volke gekommenes Werk war. Es gäbe sonst auch keinen Grund, warum wir heute diesen Jahrestag feiern sollten.
Ich kann mir keine echte Regeneration irgendeines deutschen Gemeinwesens vorstellen, die nicht an das Vermächtnis der Revolution von 1848 anknüpft. Kein Geringerer als Hoffmann von Fallersleben hat das Fortleben der Ideen der Revolution schon 1848
erkannt, als er den Mächten der Reaktion mit viel Spott die Zeilen entgegendichtete:
Nein, Michel ist munter, wird hinfort wachen. Und läßt sich kein X für ein U hinfort machen. Ihr möget zensieren und Euch abkastein -
Doch den Michel, den schläfert ihr nie wieder ein!
Warum hat diese Revolution immer noch so eine vitale Symbolfunktion für das freiheitliche und demokratische Deutschland? Die Antwort ist genau dort zu finden, wo die Sprache der Revolution auch heute noch aktuell wirkt, nämlich bei jenem Menschenrechtskatalog, den ich eben erwähnte.
Der Grund für diese Aktualität wäre den damaligen Autoren dieses Katalogs kaum eine Überraschung gewesen. Viele von ihnen hatten die Rechtstheorien Immanuel Kants studiert und wußten, daß diese Rechte, die sie dort zu Papier brachten, universal waren. Sie waren und sind gültig, unabhängig von Zeit und Raum. Sie erschütterten 1848 überall in Europa die absolutistischen Throne, die sich seit der Restauration im Gefolge des Wiener Kongresses von 1815 nur allzu sicher gewähnt hatten.
Die Internationalität - oder wie man damals wohl gesagt hätte: Weltbürgerlichkeit - ist ein Aspekt, der nicht vergessen werden sollte. Trotz des spezifisch nationalen Hintergrundes der deutschen Ereignisse fühlte man sich stets von den Ereignissen im Ausland, insbesondere in Frankreich, inspiriert. Die Paulskirchen-Versammlung hatte eine Friedensordnung vor Augen, die in der freiheitlichen Verfassung aller europäischen Länder wurzelte. Ich denke, es ist auch dies eine immer noch aktuelle Idee.
Demokratie und Menschenrechte sind immer noch die besten Garanten für den Frieden. Dort, wo Herrschaftsregime nicht den inneren Frieden mit den eigenen Bürgern gefunden haben, steht erfahrungsgemäß der äußere Frieden mit anderen Ländern auf schwachen Füßen. Deshalb und weil Menschenrechte natürlich immer auch ein Selbstzweck in sich sind, ist es uns nicht gleichgültig, was außerhalb unseres eigenen Landes in Sachen Menschenrechten geschieht. Als 1989 das von Ronald Reagan zu Recht so apostrophierte „Reich des Bösen" zusammenbrach, meinten ja einige schlaue Geister tatsächlich, es sei nun das Ende der Geschichte gekommen; bald gebe es nur noch liberale Demokratien, nur noch Meine technische Probleme würden ab und zu zu lösen sein. Schön wäre es gewesen! Sieht man sich in der Welt um, dann stellt man fest, daß das Ende der Geschichte selbst schon ein schnelles Ende gefunden hat.
Es sind nicht nur Kuba und Nordkorea, die einem einfallen, weil sie die letzten Reste des kommunistischen Ungeistes beherbergen. In Tibet wird eine alte Kultur durch Fremdherrschaft unterdrückt. In Burma wird der explizite Wille des Volkes zur Demokratie mit Füßen getreten. In Ruanda wurden wir vor kur-
Dr. Otto Graf Lambsdorff
zem Zeuge eines Völkermordes, der seinesgleichen sucht. Immer noch besteht das Todesurteil gegen Salman Rushdie. In Weißrußland beobachten wir die schleichende Wiederkehr kommunistischer Herrschaftspraktiken. Die Liste ist schier unendlich.
Ich will bei dieser Liste auch nicht die allen internationalen Vereinbarungen zuwiderlaufende schauderhafte Praxis der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten vergessen.
Sie ist um so beschämender, als die Vereinigten Staaten doch in vieler Hinsicht stets das große Vorbild aller demokratischen Staaten waren. Sie waren es auch für die Mitglieder der Paulskirchen-Versammlung, die einen regen Briefwechsel mit den weitaus erfahreneren Parlamentskollegen in Washington pflegten und die nach dem Scheitern der Revolution in Scharen das Exil in der neuen Welt suchten.
Die gegenwärtige Menschenrechtssituation ist nicht mehr so sehr an weltbedrohendes Großmachtstreben gebunden. Deswegen wird sie hierzulande nicht mehr als so bedrohlich empfunden wie zur Zeit des kalten Krieges. Das darf uns aber nicht davon abhalten, die Einhaltung der Menschenrechte zu einem wesentlichen Maßstab unserer Politik zu machen.
Das verlangt nicht nur Umsicht und Ausdauer, sondern auch ein Umdenken. Man sollte vielleicht in Zukunft Diplomatie weniger als die Kunst der Etablierung von Beziehungen zwischen regierenden Machthabern definieren, sondern stärker als die Kunst der Etablierung von Beziehungen zwischen Völkern.
Eine stabile freiheitliche Regierung muß die Nichtrelativierbarkeit von Menschenrechten immer und überall betonen. Diese nölige Stabilität ist die wesentliche Aufgabe jeder Politik, die sich auf das Erbe der 1848er Revolution berufen kann.
Meine Damen und Herren, es bedarf funktionierender Institutionen, damit die Menschenrechte nicht bloße Proklamation auf dem Papier bleiben.
Dies ist heute auch für mich die letzte Rede, die ich vor diesem Hause, dem Parlament im freiheitlichsten Staat der deutschen Geschichte, halte. Ich habe es immer als eine Ehre und Auszeichnung betrachtet, Volksvertreter sein zu dürfen. Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung. Ich weiß, ich habe gelegentlich bei Mitgliedern aller Fraktionen dieses Hauses heftigen Verdruß erregt. Dies war meine Absicht.
Aber, meine Damen und Herren, ich habe mich auch dafür zu bedanken - Frau Präsidentin, bei Ihnen sowie Ihren Vorgängerinnen und Vorgängern -, daß ich mir trotz mancher scharfen Rede hier niemals einen Ordnungsruf eingehandelt habe. Das fand ich schön.
Also, heute ist kein Anlaß, das nachzuholen, um das gleich zu sagen.
Nun, meine Damen und Herren, es ist mir sehr wichtig, festzustellen, daß damals, 1848, wie heute der Parlamentarismus Kern jeder erfolgreichen freiheitlichen Ordnung ist. Hier im Deutschen Bundestag liegt der Kern unserer Demokratie. Deswegen war es für mich 26 Jahre lang auch eine Erfüllung, an dieser Stelle - allerdings insgesamt gesehen in vier Plenarsälen - reden zu dürfen.
Nicht umsonst legte die Paulskirchen-Verfassung in § 186 fest:
Jeder deutsche Staat soll eine Verfassung mit Volksvertretung haben.
Und - das war das Wichtige in dieser Zeit -:
Die Minister sind der Volksvertretung verantwortlich.
Im Parlamentarismus ist der Abgeordnete vom Volk wählbar und kontrollierbar und dennoch letztlich seinem eigenen Gewissen verpflichtet und nicht Sklave des vermeintlichen gesunden Volksempfindens. Heinrich von Gagern, der Anführer der gemäßigten Liberalen, meinte im März 1848: „ ... ich will keine Pöbelherrschaft, kein Liebäugeln mit dem Pöbel. " Hinter dieser etwas grobschlächtig wirkenden Formulierung steckt indes nichts anderes als das, was Thomas Dehler 1952 vor diesem Hause sagte, als man ihn bei der großen Debatte um die Todesstrafe darauf aufmerksam machte, daß diese doch Teil der Volksüberzeugung sei:
Ich glaube, man verkennt das Wesen der Demokratie, wenn man glaubt, das Parlament sei der Exekutor der Volksüberzeugung. Ich meine, das Wesen der repräsentativen Demokratie ist ein anderes, es ist das der parlamentarischen Aristokratie. Die Parlamentarier haben die Pflicht und die Möglichkeit, aus einer größeren Einsicht, aus einem besseren Wissen zu handeln, als es der einzelne kann.
Haben wir nicht zum Beispiel bei der Abstimmung über den Euro genau so gehandelt?
Meine Damen und Herren, die konstitutionell gebundene parlamentarische Demokratie ist die Regierungsform, die am besten dazu geeignet ist, die Ausübung politischer Macht an die Einhaltung eines höheren, von jeder demokratischen oder sonstwie getroffenen Entscheidung unabhängigen Standards zu binden. Dieser Standard sind die Rechte eines jeden einzelnen. Es ist wichtig, daß der verfassungsgebundene Parlamentarismus um die Verantwortung weiß, die er damit hat. Er muß von allen Seiten in seiner Integrität geschützt werden.
Dr. Otto Graf Lambsdorff
Die Mehrheit der Paulskirchen-Abgeordneten mußte sich damals mit ausgesprochen fundamentalen Bedrohungen auseinandersetzen. Die Macht der Reaktionäre, die zurück zu Absolutismus und Ständestaat wollten, war stark, letztlich zu stark. Auch auf dem linken Flügel der Revolution gab es bereits gefährliche Tendenzen. Für die Genauigkeit rechtsstaatlicher Prozeduren und die Ablehnung von Gewalt, wie sie die liberale Mehrheit beherzigte, hatten viele nur Spott übrig. Das Phänomen, das man schon bei der Französischen Revolution beobachtet hatte, die hemmungslose „totalitäre Demokratie", wie der amerikanische Historiker Talmon diesen Vorläufer der sogenannten modernen Volksdemokratien einmal nannte, war auch 1848 deutlich sichtbar. 1848 war schließlich - es ist schon gesagt worden - nicht nur das Jahr der Paulskirchen-Verfassung, der Botschaft der Freiheit. Es war auch das Jahr des Erscheinens des „Kommunistischen Manifests", der Botschaft der Unfreiheit.
Unsere Demokratie ist zur Zeit nicht im Entferntesten so gefährdet wie das Werk der Paulskirche. Dennoch gibt es wieder - die letzten Landtagswahlergebnisse zeigen es - deutliche Gegenströmungen zur freiheitlichen parlamentarischen Demokratie. Behalten wir stets eine klare Perspektive darüber, was wir da eigentlich verteidigen und mit wem wir dies tun.
Das Kriterium kann nicht „rechts" oder „links", „progressiv" oder „reaktionär" lauten, sondern kann nur in der Frage liegen, ob es freiheitlich-demokratisch ist oder nicht. Wir dürfen weder auf dem linken noch auf dem rechten Auge blind sein, sondern müssen, wie es vernünftige Menschen eigentlich immer tun, wenn sie die Dinge klar sehen wollen, mit beiden Augen hinsehen.
Wenn man beide Augen schon einmal offen hat, sollte man aber nicht nur die offenen Feinde der Demokratie im Blick behalten. Freiheit geht meist scheibchenweise und auf Grund von Sorglosigkeit im Kleinen verloren. Auch dieses Problem kannte man 1848 schon. Der Zünfte- und Ständestaat bestand aus einer Unmenge von kleinen Privilegien, die ihrem Empfänger eine Gefälligkeit bereiteten, aber in ihrem Anwachsen den Bürgern insgesamt ein immer größeres Netz von Bevormundungen erbrachten. Gefälligkeiten gegenüber Lobbies jeder Art - das gilt damals wie heute - sind schleichendes Gift der Demokratie.
- Wer in dieser Frage mit einem Finger auf andere zeigt, zeigt immer mit vier Fingern auf sich selbst zurück.
Meine Damen und Herren, fast wie die Klagen eines heutigen Wirtschaftsministers klingen die Worte von Arnold Duckwitz, der 1848 für kurze Zeit Reichshandelsminister war:
Es war schwerlich ein Industriezweig, ein Berg-
und Hüttenbau-, Schiffer- und Handwerkerverein in Deutschland vorhanden, der nicht seine Vertreter nach Frankfurt gesandt hätte, um sich bei dem Handelsminister „hören" zu lassen ... Die Herren hielten die Erfüllung ihrer Wünsche für das Wichtigste, was aus der Neugestaltung Deutschlands hervorgehen könne; alles andere schien ihnen ganz gleichgültig zu sein.
Die Lehre dieser schönen Sätze ist doch klar: Man darf keine Freiheit verachten - nicht die großen, die klassischen Menschenrechte und auch nicht die kleinen, die alltäglichen Marktfreiheiten.
Gerade letzteres verlangt dem Politiker enorm viel Widerstandskraft ab, soviel kann ich aus langer parlamentarischer Erfahrung versichern. Es ist ja so leicht, das Privileg über Freiheit und Wettbewerb zu stellen. Deshalb erscheint es mir angemessen, meine Ausführungen heute mit den Worten jenes Ministers Duckwitz aus dem Jahre 1848 zu beenden, die er angesichts der wachsenden Schar der ihn bedrängenden Lobbyisten fand:
Ich mußte daher, unbekümmert um die Schreier, selbständig meinen Weg gehen.
Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
Graf Lambsdorff, lassen Sie mich von dieser Stelle aus ebenfalls folgendes zum Ausdruck bringen: Wir alle haben Sie stets als einen Parlamentarier aus Fleisch und Blut, als einen Vollblutpolitiker erlebt, der uns sicherlich nicht nach dem Mund geredet hat. Keiner von uns wird immer mit dem einverstanden gewesen sein, was Sie gesagt haben. Ich denke aber, daß Sie aber immer wieder gespürt haben, wieviel Aufmerksamkeit Ihnen dieses Parlament entgegengebracht hat.
Ich wünsche mir, daß nachfolgende Parlamentariergenerationen dem Beispiel von Freimut Duve und Graf Lambsdorff folgen. Um unser Parlament wäre es dann gut bestellt.
Herzlichen Dank.
Ich rufe jetzt den Kollegen Professor Uwe-Jens Heuer auf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Hauptwerk der ersten deutschen Nationalversammlung war eine Verfassung des Deutschen Reiches. Das Ergebnis, vor allem der Grundrechtskatalog, konnte sich sehen lassen. Dieter Grimm spricht in seinem Werk „Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1886" auf Seite 196 mit Recht von einem revolutionären Veränderungspotential.
In Kraft getreten ist sie aber niemals. Der preußische König, dem das Erbkaisertum angetragen
Dr. Uwe-Jens Heuer
wurde, wies am 3. April 1849 die Krone „mit dem Ludergeruch der Revolution" brüsk zurück. Die Erhebung von Verteidigern der Reichsverfassung in Südwestdeutschland wurde von preußischen Truppen blutig niedergeschlagen.
Zwei Fragen sind zu stellen: Wie wurde diese Verfassung möglich, und warum scheiterte sie? Die Beantwortung dieser Fragen könnte helfen, auch über nachfolgende Verfassungen, ihre Verteidiger und Gefährdungen bis hin zum heutigen Grundgesetz nachzudenken.
Die Frankfurter Verfassung war nicht einfach ein Produkt parlamentarischen Nachdenkens kluger Köpfe. Sie war zunächst und vor allem Ergebnis einer Revolution, einer radikalen Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses im Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Akteure. Die Bourgeoisie war für den deutschen Bundesstaat, der Adel, auch die Grafen, Herr Lambsdorff, und die Fürsten waren dagegen.
Erst eine schwere Wirtschaftskrise brachte die Massen auf die Straße. Den letzten Anstoß gab „das Schmettern des gallischen Hahnes", wie Karl Marx es formulierte, die Pariser Februarrevolution, der Sieg der Republik in Frankreich. Nach den Märzkämpfen in weiten Teilen Deutschlands schien das ganze Land auf dem Weg zum bürgerlichen Verfassungsstaat zu sein. Ohne die Bereitschaft von Arbeitern, Handwerkern und Studenten, ihr Leben einzusetzen, wäre das Werk der Paulskirche nicht möglich gewesen. Wolfgang Mommsen schreibt in der „Berliner Zeitung" vom 16./17. Mai 1998: „Die Kämpfer auf den Barrikaden, die Unterschichten ... waren die Motoren des Geschehens."
Wir sollten auch ihrer heute gedenken, so wie das die Berliner Stadtverordnetenversammlung vor 50 Jahren -1948 geschah dies übrigens einmütig - tat.
Warum aber scheiterte die Verfassung? Beherrscht wurde die Nationalversammlung vom „Rechten Zentrum", das sich für einen Deutschen Bundesstaat als konstitutionelle Monarchie einsetzte, für eine Vereinbarung mit den junkerlich-konservativen Kräften.
Nach der Junischlacht in Paris, der ersten rein proletarischen Erhebung, die das Recht auf Arbeit verteidigte, wuchs der Wille zum Kompromiß. Es muß heute rückblickend die Frage gestellt werden, wieweit dieser Kompromiß der Beginn dessen war, was gewöhnlich als der deutsche Sonderweg bezeichnet wird - in Gestalt eines antidemokratischen Zusammengehens von ökonomischer Macht der Bourgeoisie und politischer Macht des preußischen Junkertums mit gefährlichen Folgen für Deutschland und die Welt. Ich frage dies, ohne daß ich damit eine gleichsam automatische Zwangsläufigkeit behaupten möchte.
Die wichtigsten Etappen dieses Weges waren zunächst die Oktroyierung einer - relativ liberalen - Verfassung am 5. Dezember 1848 in Preußen, die Einführung des bis 1918 geltenden Dreiklassenwahlrechts und der offene Verfassungsbruch 1862 durch Bismarck. Er erklärte damals:
Allmählich wird die staatsrechtliche Praxis diese Rechtsfrage, das heißt diesen Konflikt zwischen geschriebenem Recht und in Erz gegrabenen Machtverhältnissen, in einem ganz anderen Sinn erledigen.
Entsprechend entstand im Gefolge dreier Kriege das Deutsche Reich als ewiger Bund der Fürsten, allerdings mit allgemeinem Wahlrecht für den Reichstag. Erst die Niederlage im ersten Weltkrieg machte den Weg frei zur parlamentarischen Republik, allerdings überschattet durch die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die konservativen Kräfte blieben ungeschoren. Sie trugen im Zusammengehen mit Hitler - bei aller notwendigen Kritik an gravierenden Fehlern der Kommunisten und Sozialdemokraten - die Hauptverantwortung für das Ende der Weimarer Republik und ihrer Verfassung.
Die einzige Verfassungspartei war schließlich die deutsche Sozialdemokratie.
Die ungeheuren Verbrechen des Faschismus und der unter schweren Opfern erfochtene Sieg der Alliierten waren Grundlage eines radikaleren Neubeginns. Er erfolgte bald in zwei Staaten, die einander im kalten Krieg feindlich gegenüberstanden. In der Bundesrepublik Deutschland wurde das entscheidende Gewicht auf rechtsstaatliche Sicherungen, auf die Gestaltung eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates gelegt. In der DDR standen die Beseitigung ökonomischer Grundlagen des Faschismus sowie die Herstellung weitgehender sozialer Gleichheit und Sicherheit im Mittelpunkt. Bis zum Schluß war das Recht Instrument, nicht auch Maß der Politik.
150 Jahre deutscher Verfassungsgeschichte belegen, daß der Verfassung stets gesellschaftliche, vor allem ökonomische Widersprüche zugrunde liegen, daß die Verfassung ein relativ selbständiges Kampffeld ist, soziale und politische Auseinandersetzungen nicht ausschließt, sie vielmehr voraussetzt und ihnen den juristischen Rahmen gibt. Grundlegende Verfassungsänderungen und gar -umstürze erfolgen dann und nur dann, wenn sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse geändert haben. Das erklärt auch, warum es trotz des Art. 146 des Grundgesetzes nach 1989/90 keine neue Verfassung gegeben hat, der Verfassungsentwurf des runden Tisches in der letzten Volkskammer nicht einmal in die Ausschüsse gelangte und die Gemeinsame Verfassungskommission unter der Losung „Das Grundgesetz hat sich bewährt" kein wesentliches Resultat zustande brachte.
Das Grundgesetz hat sich über Jahrzehnte gerade dadurch als erfolgreich erwiesen, daß die politischen Grundrechte gesichert wurden und der Sozialstaat ausgebaut wurde. Ist dieser Kompromiß heute in Gefahr? Der Verfassungsschutz und manche hier im Raum sehen das Grundgesetz durch Bestrebungen am rechten und linken Rand, insbesondere durch die PDS, als gefährdet an. Beweise in bezug auf die PDS gibt es keine. Wenn es Verfassungsschutzberichte für verfassungsfeindlich halten, daß eine Partei für den
Dr. Uwe-Jens Heuer
demokratischen Sozialismus eintritt, so verletzen sie damit den Konsens des Jahres 1949 und behindern die Integration wesentlicher Teile der ostdeutschen Bevölkerung.
Die wirkliche Gefahr für den im Grundgesetz verankerten Minimalkonsens geht von ganz anderer Seite aus. Es droht ein neuer Bismarckismus, eine konservative Revolution im Weltmaßstab. Innen- und Außenpolitik sollen der Globalisierung immer rigoroser untergeordnet werden, durch Sparprogramme, Ausbau von Krisenreaktionsstreitkräften, verschärfte Repression im Innern und eben auch durch Abbau der Rechtsstaatlichkeit.
Der Prozeß der Verschlechterung der grundgesetzlichen Standards nahm seinen Ausgangspunkt in der Behandlung des angegliederten Ostdeutschlands. Er machte an der Elbgrenze nicht halt. 1993 wurde das Grundrecht auf Asyl, Art. 16, in seinem Kerngehalt beseitigt, 1994 durch Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Einschränkung des Streitkräfteeinsatzes auf Verteidigung, Art. 87 a, aufgehoben, 1996 das strafrechtliche Rückwirkungsverbot für bestimmte Handlungen in der DDR außer Kraft gesetzt und im März dieses Jahres schließlich der Wesensgehalt des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung, Art. 13, angetastet. Man kann diesen Prozeß nicht besser charakterisieren, als dies Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung" vom 9. August 1997 getan hat:
1992/94 wurde das Grundgesetz quasi unter Denkmalschutz gestellt. Heute bedauern die Denkmalschützer von gestern die Schwierigkeiten, die sich jetzt beim Umbau ergeben. Deshalb kommen sie mit der Abrißbirne.
Meine Damen und Herren, eine persönliche Bemerkung zum Abschluß. Die fast acht Jahre hier gehörten für mich zu den interessantesten, aber auch schwierigsten Jahren meines Lebens.
Ich muß Ihnen offen sagen, daß ich mehr rechtsstaatliches Bewußtsein bei meinen Kollegen im Bundestag erwartet habe. Es sind gute Juristen, und es waren faire Kollegen. Aber die Bereitschaft mancher, vor der Politik des Bundeskanzleramtes zurückzuweichen, wenn es um rechtsstaatliche Grundprinzipien geht, hat mich erschreckt. Ein CDU-Kollege hat mir erklärt, am schlimmsten sei es für ihn, wenn ausgerechnet ich Rechtsstaatlichkeit und Verfassungsmäßigkeit einklage.
Aber was erwarten Sie von mir? Daß ich hier die Weltrevolution einfordere?
Angesichts der Erfahrungen, die ich in der DDR mit der radikalen Unterordnung des Rechts unter die Politik gemacht und mit der ich mich auseinandergesetzt habe, muß ich doch wohl heute dieselbe Frage stellen. Ich sehe es durchaus als einen Fortschritt an, daß eine oppositionelle Partei dies tun kann. Aber
wenn das Echo gering ist, ist der Trost so groß auch wieder nicht.
Offenbar brauchen wir wieder eine starke Volksbewegung - vielleicht ausgelöst durch „das Schmettern des gallischen Hahnes" - gegen Massenarbeitslosigkeit, für den sozialen und demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes.
Es spricht jetzt die Kollegin Michaela Geiger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den vergangenen Tagen und Wochen zahlreiche hervorragende Reden, Vorträge und Aufsätze über das 150jährige Paulskirchen-Jubiläum gehört. Ganz besonders schön und würdig habe ich die Feier in Frankfurt empfunden, als wir - wie unsere Vorgänger vor 150 Jahren - vom Kaisersaal des Alten Römers in die Paulskirche gezogen sind.
Ich will heute zu diesen Gedenkreden nicht in Konkurrenz treten. Ich möchte nur fragen: Was sagen uns Parlamentarier heute die damaligen Vorgänge? Wo gibt es Parallelen? Was können wir aus dem damaligen Geschehen lernen? Was können wir im heutigen Bundestag besser machen?
Ich will mit einer Äußerlichkeit beginnen: Die 598 gewählten Abgeordneten, die am 18. Mai 1848 in der Paulskirche zusammenkamen, bildeten das erste nationale Parlament in Deutschland und stellten die geistige und bürgerliche Elite Deutschlands dar. Die damalige Nationalversammlung spiegelte aber genauso wenig wie unser heutiger Bundestag die tatsächliche Zusammensetzung der deutschen Nation wider.
Das gehobene Bürgertum überwog bei weitem. Staatsbedienstete, Juristen, Universitäts- und Schullehrer, Richter, Staatsanwälte und Kleriker dominierten. Frauen durften noch lange nicht wählen und waren auch nicht wählbar. Kleinbürger, Bauern und Handwerker fehlten fast völlig.
Bis heute haben wir es nicht geschafft, eine etwas ausgewogenere Berufsstruktur in unser Parlament zu bringen. Auch bei uns überwiegen die Staatsbediensteten, die Gewerkschaftsangestellten, die Juristen. Selbständige, Freiberufler, Handwerker, Arbeiter und Bauern fehlen auch heute noch fast völlig. Hieran sollten wir in Zukunft etwas ändern, so schwer es auch ist und so lange es auch dauern wird.
Ich glaube nämlich, daß sich unser Volk in seiner
ganzen Breite besser vertreten fühlen würde, wenn
Michaela Geiger
der Deutsche Bundestag etwas ausgewogener zusammengesetzt wäre. Es ist eine wichtige Aufgabe für uns, daran zu arbeiten.
Reich war das Paulskirchen-Parlament an Dichtern und Denkern. In dem ersten deutschen Parlament saßen mehr Männer, die der geistigen Elite ihres Volkes angehörten, als in allen anderen Volksvertretungen danach, zum Beispiel der Dichter Ludwig Uhland, der Historiker Johann Gustav Droysen, der Märchensammler Jacob Grimm und viele andere.
Das hatte uns das damalige Parlament voraus: die Präsenz der Dichter und Denker, die ihre Gedanken und Überlegungen in die Beratungen einbrachten und sie entscheidend mitprägten. Es ist ein Manko unserer heutigen Zeit, daß sich die Intelligenz, die Dichter und Denker vom Tagesgeschehen der Politik so fernhalten und daß sie die Politik allenfalls aus gesichertem Abstand kritisch betrachten und kommentieren. Wir sollten uns schon einmal fragen, woran das liegt und wie und ob wir dies ändern können.
Etwas ganz besonderes war die Debattenkultur in der Paulskirche. Stunden-, tage- und wochenlang wurde mit großer Leidenschaft debattiert. Die Deutschen debattierten damals, als hätten sie die Demokratie erfunden. Sie nahmen sich Zeit dazu: Allein die erste Lesung des Grundrechtskatalogs beanspruchte die Zeit vom 3. Juli bis zum 12. Oktober - also mehr als ein viertel Jahr. Solch langen Debatten will ich heute nicht das Wort reden. Aber für die wirklich wichtigen Themen sollten wir uns hier im Parlament schon mehr Zeit nehmen.
Warum hören wir immer wieder gern Rednern zu, die nur mit einigen Notizen zum Pult kommen? Weil sie ihre Gedanken ausführen können und weil sie sich besser auf neue Argumente einlassen können. Aber wenn man sowenig Zeit hat wie die meisten von uns - auch mir geht es heute wieder so -, muß man seine Rede aufschreiben, um alle Gedanken unter einen Hut zu bekommen. Da leidet die Debattenkultur.
Es wird steril und langweilig, und zwar nicht nur für uns selbst, sondern - das ist das Eigentliche - besonders für unsere Zuhörer und Zuseher.
Die Hetze, in die wir uns in jeder Sitzungswoche treiben lassen, hat mit der Würde des Parlaments nichts zu tun. Wir jagen von Ausschußsitzung zu Ausschußsitzung, von einem Gremium zum anderen und schließlich in die Bundestagssitzung. Beklagen sollten wir uns allerdings ausschließlich bei uns selbst. Es ist allein unsere Sache, unsere Geschäftsordnung und unsere Tagesordnungen so zu gestalten, daß der parlamentarische Alltag so ablaufen kann, wie man sich das ideal vorstellt.
Nietzsche hat einmal gesagt: „Nicht wir geben den Gedanken Audienz, sondern die Gedanken geben uns Audienz. " Für diese Audienz der Gedanken brauchen wir aber Zeit. Wir brauchen die Muße,
auch einmal gründlich über etwas nachzudenken. Wenn wir ehrlich sind: Die meisten von uns haben diese Zeit nie.
Aber ich glaube, wir müssen nicht jede nebensächliche Frage im Bundestag debattieren. Das könnten wir auch in öffentlichen Ausschußsitzungen tun.
Aber für die wirklich brennenden Fragen, die auch unsere Bürger interessieren, brauchen wir ausreichend Raum. Angenommen, wir hätten - wie in der Paulskirche - tatsächlich Dichter und Denker in unseren Reihen: Glauben Sie, man könnte es einem Martin Walser, einem Siegfried Lenz oder einem Günter Grass zumuten, seine Gedanken in fünfeinhalb oder dreieinhalb Minuten herunterzuspulen? Das ist eine absurde Vorstellung. Aber manchmal muß man absurde Vorstellungen aufzeigen, um zu sehen, daß etwas in die falsche Richtung läuft.
Jetzt aber wieder zurück zur Paulskirche. Woran sind die damaligen Demokraten gescheitert? Die Revolutionäre sind zum einen am fehlenden Rückhalt im Volk gescheitert; die Deutschen waren in ihrer breiten Masse trotz aller wirtschaftlichen Not keine Revoluzzer. Vor allem aber hatten die Abgeordneten außer der Waffe des Wortes keine reale Gewalt. Sie hatten weder Armee noch Polizei, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Während die Abgeordneten noch konzentriert an der Verfassung arbeiteten, machten die Fürsten schon wieder gegen die neu errungene Demokratie mobil.
Was sagt uns das? Eine Demokratie muß wehrhaft sein, sonst ist sie zum Scheitern verurteilt. Ich bin dem Bundespräsidenten sehr dankbar, daß er bei seiner Rede am 18. Mai in Frankfurt betont hat, daß, wer da glaube, „sich aus Unzufriedenheit einen vorübergehenden Flirt mit den Gegnern der Demokratie leisten zu können", buchstäblich mit dem Feuer spiele.
Er hat gesagt:
Das Spiel, in dem sich linker und rechter Extremismus gegenseitig die Stichworte und Begründungen liefern, hat schon einmal eine deutsche Demokratie zerstört.
Ich bin davon überzeugt - das sage ich mit allem Ernst -, daß es unter den demokratischen Parteien den Grundkonsens geben muß: Es darf keine Zusammenarbeit mit der extremen Rechten und der extremen Linken geben.
Das heißt nicht, daß wir deren Wähler ausgrenzen
sollten. Ganz im Gegenteil: Wir müssen sie in den
Kreis der Demokraten zurückholen, und das sollte je-
Michaela Geiger
der an seinem Platz tun. Auch wir in Bayern hatten vor einigen Jahren relativ hohe Prozentzahlen von Wählern der äußersten Rechten. Wir haben mit diesen Rechten nicht zusammengearbeitet, obwohl uns das viele nicht zugetraut haben. Wir haben diese Rechten mit aller Härte bekämpft. Wir haben ihre Ideologie angegriffen und sind so mit dem Problem fertig geworden.
Heute erwarte ich von der alten, traditionsreichen Partei der SPD, daß sie mit der äußersten Linken auf die gleiche Weise verfährt.
Kein Schmusekurs, kein Anbiedern, sondern harte Auseinandersetzung mit den Fakten: so bekämpft man extremistische Parteien. Leider ist Sachsen-Anhalt kein ermutigendes Beispiel.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, erst im dritten Anlauf haben es die Deutschen geschafft, eine stabile parlamentarische Demokratie zu installieren. So gut wie heute ist es trotz - zugegeben - mancher Schwierigkeiten den Deutschen noch nie gegangen.
In den Zeiten, in denen das Parlament entmachtet oder gar abgeschafft war, hatten Deutsche und ganz Europa Furchtbares zu erleiden. Auf diese Zusammenhänge müssen wir unsere Bevölkerung immer wieder hinweisen. Wir müssen gerade deshalb immer wieder jeder Geringschätzung und Verächtlichmachung des Parlaments entgegentreten.
Noch eines: Keine Demokratie ist eine statische Angelegenheit. Sie entwickelt sich immer weiter, natürlich ohne ihre Grundüberzeugungen zu vernachlässigen. Der schlanke Staat und die Entbürokratisierung, die überall gefordert werden, könnten gerade hier bei uns im Parlament praktiziert werden. Wir haben uns im Bundestag mit Regelungen überzogen, die die freie Entfaltung des Parlaments einschnüren, die unserer Darstellung nach innen und außen nicht guttun.
Winston Churchill hat in seiner berühmt gewordenen Rede im Jahr 1947 im Unterhaus gesagt:
Mancherlei Regierungsformen sind in diesem Jammertal schon ausprobiert worden und werden in Zukunft noch ausprobiert werden. Kein Mensch behauptet, Demokratie sei der Weisheit letzter Schluß. Ja, man hat von ihr gesagt, daß sie die schlechteste Regierungsform überhaupt - mit Ausnahme aller anderen - sei, mit denen man es von Zeit zu Zeit versucht hat... .
- Ja, genau der war es.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, arbeiten wir gemeinsam daran, daß diese „schlechteste Regierungsform ... - mit Ausnahme aller anderen -" erhalten bleibt, daß sie überzeugen kann und vor allem daß
wir unsere Bürger davon überzeugen können, daß es sich lohnt, dafür einzutreten und dafür zu kämpfen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Kollege Hans-Ulrich Klose.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 150 Jahre später eine Debatte im Deutschen Bundestag über die Revolution von 1848, das ist keine Selbstverständlichkeit. Aber sie ehrt dieses Parlament, weil es jene ehrt, die dem ersten gesamtdeutschen Parlament, der Nationalversammlung von 1848, angehörten. In einem Land mit eher bescheidenen demokratischen Traditionen - die Kollegin Lengsfeld hat es gesagt - ist es gut, solche - im heutigen Sprachgebrauch -„Highlights" zu pflegen.
Daß die Nationalversammlung verhältnismäßig demokratisch gewählt wurde - ein Frauenwahlrecht gab es ja nicht - und zusammentreten konnte - genau am 18. Mai 1848-, das war der eigentliche Höhepunkt. Denn diese Wahl ist den Regenten der Einzelstaaten als Zugeständnis an den demokratischen Zeitgeist abgetrotzt worden. Die Herren sind ja nicht von einem Moment auf den anderen zu Demokraten geworden. Dazu kam aber auch, daß im Kreis der Revolutionäre die parlamentarischen Reflexe zumindest zum Teil unscharf ausgebildet waren. Die republikanische Linke, für die die Namen Struve und Hecker stehen, wollte lieber das sogenannte Vorparlament als, wie es hieß, Kontrollausschuß gegenüber dem damaligen Bundestag im Amt lassen, um jeglicher „Reaktion" vorzubeugen. Den Glauben an die - ich zitiere Valentin - „alles erlösende Kraft des parlamentarischen Prinzips" teilte sie nicht. Es war - der Wahrheit die Ehre - die liberale Mehrheit, die einen entsprechenden Antrag zurückwies und dafür sorgte, daß das parlamentarische Prinzip nicht schon am Anfang zugunsten eines wie auch immer definierten virtuellen Volkswillens aufgegeben wurde.
Das Volk selbst, von dem in den Reden des Jahres 1848 und 1849 auffallend häufig die Rede ist - in der Kombination „ Volksstaat", noch auffälliger in der Kombination „Volksheer" -, hat diese Entwicklung offenbar gutgeheißen.
Jedenfalls wurden die Parlamentarier, die sich vor 150 Jahren in Frankfurt einfanden, stürmisch begrüßt - freundlicher als jemals danach ein deutsches Parlament.
Die Hoffnungen, die sich mit diesem Parlament verbanden, waren - das ist die Erklärung - weitreichend, umfassend, aber auch widersprüchlich. Entsprechend groß, umfassend, aber auch widersprüch-
Hans-Ulrich Klose
lich war der Erwartungsdruck. Damals sei es, liest man bei den Historikern - zugegeben: nicht bei allen -, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa um Freiheit und Demokratie gegangen, in Wien ebenso wie in Paris und in Berlin. Aber das ist, scheint mir, eine wenig präzise und eher etwas beschönigende Aussage.
In Frankreich mag das Bemühen um Demokratie und um die Republik im Vordergrund gestanden haben. In Wien dagegen ging es um die Rechte der nationalen Minderheiten im Verbund des Vielvölkerstaates Österreich, und in Deutschland ging es vor allem um die nationale Einheit, um sie zuerst und erst in zweiter Linie um die geschriebene Verfassung, um Demokratie, konstitutionelle Monarchie oder Republik, und die soziale Frage, die bei der Auslösung der Revolution eine so entscheidende Rolle gespielt hatte, geriet im weiteren Verlauf eher zur Nebensächlichkeit. Daß auch das Kommunistische Manifest im Jahre 1848 veröffentlicht wurde, erscheint, so gesehen, eher als Zufall.
Meine Damen und Herren, wenn man aus heutiger Sicht nachliest, was vor 150 Jahren geschrieben und in der Nationalversammlung gesprochen wurde, entdeckt man viele Übereinstimmungen im Begrifflichen und in der Wortwahl und zugleich außerordentliche Unterschiede. Besonders auffallend im Unterschied zu unserer heutigen Zeit - Graf Lambsdorff, Sie haben es erwähnt - das nationale Pathos, das in den Reden der Nationalversammlung mitschwang, ja dominant war: Deutsche Größe, deutsche Ehre - oder, mit negativem Vorzeichen: „Verrat an der Nation" . Solche Begriffe würde in diesem Hause, im heutigen Deutschen Bundestag, niemand verwenden, nicht einmal denken. Damals aber beschrieben solche Worte das eigentliche Ziel der Revolution: die Bildung eines deutschen Reiches für alle Deutschen in allen seinen Gliederungen, in einem nicht exakt definierten Territorium,
dessen Grenzen aber weit, weit vorgeschoben waren: „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt".
Es läßt sich nicht leugnen, daß dieser Umstand den Charakter der demokratischen Revolution des Jahres 1848 schon bald verändert hat. Aus der demokratischen wurde eine nationale Revolution, und die ist letztlich an dem Unwillen nicht nur der Abgeordneten, sondern der Deutschen insgesamt gescheitert, andere - nicht deutsche - nationale Befreiungsbewegungen als legitim anzusehen und zu akzeptieren.
Dies galt natürlich auch umgekehrt. Denn auch von außen, von Rußland oder von England her, bei den Polen und Tschechen wurde mißtrauisch, ja besorgt, zum Teil sogar feindselig beobachtet, was da in Deutschland geschah.
Vielleicht kann man es so sagen: Die nationale Frage oder Pluralis, die nationalen Fragen verwandelten die Revolution, die europäisch und demokratisch begann, sehr schnell, gewissermaßen von Monat zu Monat, in ein Szenario nationaler Konflikte.
Es ist dieser Punkt, der mich an den damaligen Ereignissen in besonderer Weise interessiert und, wie ich zugeben muß, auch erschreckt. Daß die Bildung des deutschen Nationalstaates schon in der Anfangsphase mit nationalen Überlegenheitsgefühlen einherging und letztlich - was nicht die Ironie der Geschichte beschreibt, sondern deren bittere Logik - durch einen provozierten Krieg gegen Frankreich bewirkt wurde, hat die folgenden europäischen und deutschen Katastrophen nicht herbeigeführt, aber doch vorbereitet.
Der deutsche Nationalstaat - die „verspätete " Nation - entstand nicht als demokratischer Staat. Die Demokratie kam, als das Kaiserreich fiel, und wurde von einem Regime nationalistischer Barbarei hinweggefegt.
Es folgten nach dem zweiten Weltkrieg - der schrecklichsten Katastrophe - der Verlust der Einheit und der dritte demokratische Versuch auf deutschem Boden, aber nur in einem Teil Deutschlands. Erst heute, nach der friedlichen Wiedervereinigung, haben wir Deutschen die Chance, Einheit und Demokratie zu vollenden. Vielleicht ist es die heutige Generation, die 150 Jahre später aufgerufen ist, auf nationaler und europäischer Ebene zu einem guten Ende zu führen, was damals begann und scheiterte.
Unsere Chancen stehen nach über 40 Jahren westdeutscher und fast zehn Jahren gesamtdeutscher Demokratie nicht schlecht. Gleichwohl dürfen wir die Gefahren nicht übersehen. Es gibt - darauf hat der Herr Bundespräsident in seiner Frankfurter Rede hingewiesen - heute eine zunehmende Zahl von Menschen, die an der Demokratie, ihrem Wert und vor allem ihrer Leistungsfähigkeit zweifeln. Sie ist im Osten des wiedervereinigten Deutschlands größer als im Westen, was niemanden verwundern kann. Aber auch im Westen hat die Zustimmung zur parlamentarisch-demokratischen Staatsform abgenommen.
Daß das, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch mit uns, den Politikern, und mit der - ich will das einmal so formulieren - fast natürlichen Neigung von Parteien zu tun hat, bei der Willensbildung des Volkes nicht nur mitzuwirken, sondern sie durch Parteitagsbeschlüsse zu ersetzen,
das ist gewiß richtig.
Dennoch widerrate ich dem öffentlichen Kotau.
Hans-Ulrich Klose
Wer von Verdrossenheit redet, muß auch die Verdrossenen ansprechen. Demokratie - wenn ich das so salopp formulieren darf - ist doch keine Theatervorstellung,
bei der einige Akteure - Politiker genannt - auf der öffentlichen Bühne agieren, während das Volk als Publikum in privaten Auditorien sitzt und Beifall klatscht oder buh ruft, je nachdem, ob das Stück gefällt oder nicht.
Demokratie ist die Sache aller. Alle müssen sich auf die eine oder andere Weise beteiligen, mitwirken, mitbestimmen, Mitverantwortung übernehmen.
Nicht das unterwürfige Versprechen der Politik, künftig alles besser zu machen, nein, vor allem die Bereitschaft vieler, möglichst aller, Politik als eigene Aufgabe zu begreifen, sich also in den oft mühseligen Willensbildungsprozessen der Demokratie zu engagieren, nur dies gibt der deutschen Demokratie die Chance, sich immer wieder zu erneuern und gegen ihre Verächter zu behaupten.
Nur so, mit diesem Bewußtsein und Selbstbewußtsein, wird auch dieses Parlament seinen Auftrag erfüllen können, nicht in der Distanz zum Volk - bisweilen geradezu ängstlich -, sondern mitten im Volk, mit hohen demokratischen Anforderungen an sich selbst und an das Volk, als dessen Repräsentanten auf Zeit - ich betone: auf Zeit - wir handeln.
Die Unzufriedenheit mit der Politik und dem demokratischen System ist derzeit in Ostdeutschland besonders hoch. Dafür gibt es viele Gründe: soziale, ökonomische und - nicht zu vergessen - kulturelle, über die ich im Detail aus Zeitgründen nicht sprechen kann. Ein ganz wichtiger Grund ist sicher die Enttäuschung darüber, daß hochgesteckte und hochgeschaukelte Erwartungen nicht - noch nicht - realisiert werden konnten. Realistischerweise konnte das auch niemand so schnell erwarten. Es war aber zu erwarten - einige wenige haben es auch gesagt -, daß die Wiederherstellung der Einheit mit Schmerzen verbunden sein würde. Es konnte nicht nur Gewinner der Einheit geben, es gab auch Verlierer. Daß die sich heute als - wie sie es empfinden - „gedemütigte" Verlierer zumindest in Teilen der PDS zuwenden, ist nicht nur ihr, sondern vor allem jenen zuzuschreiben, die die Erwartungen allzu hoch getrieben haben.
Dazu kommt der - wenn ich so sagen darf - „Kulturschock" einer Bevölkerung, die aus einem diktatorischen Fürsorgestaat in die oft sehr kalte, unfreundliche Freiheit einer nur mäßig gebändigten globalisierten Marktwirtschaft entlassen wurde. Verzeihen Sie, daß ich das so harsch formuliere. Aber zumindest in der Analyse sollte man sich um Objektivität bemühen, ohne den persönlichen Standpunkt zu verleugnen.
Der Wille zur Objektivität zwingt uns auch zu der Frage, ob die inzwischen 50 Jahre alte westdeutsche Demokratie den Deutschen zur Herzensangelegenheit geworden ist. Es sollte so sein, meinte der Herr Bundespräsident bei seiner Rede in Frankfurt. Demokratie, sagte er, „ist gewiß zuerst eine Sache der Vernunft - aber sie ist auch eine Sache des Herzens". - Es wäre gut, wenn es so wäre. Jedenfalls muß gute Politik - Politik, die gut ist in der Absicht und im Ergebnis - so angelegt und ausgerichtet sein, daß sie demokratisch überzeugt.
Daß aber demokratische Überzeugung im Nachkriegsdeutschland immer auch etwas mit ökonomischem Erfolg und der Zauberformel „Wohlstand für alle" zu tun hatte, das wird spätestens heute offenbar, also in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft stärker als zuvor spaltet und schichtet in Reich und Arm, Gewinner und Verlierer.
Heute, in Zeiten der Unsicherheit - um das Wort „Krise" zu vermeiden -, wird sich zeigen, ob diese Demokratie eine Schönwetterdemokratie ist, ob die soziale Verantwortung vor allem der Eliten, ob ihre Führungsverantwortung über den Horizont des eigenen Interesses und Wohlergehens hinausreicht.
Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang jedenfalls daran, daß es in der Demokratie um Rechte und Pflichten geht, daß den Rechten, die normiert sind, Pflichten gegenüberstehen, die nicht normiert, sondern ein Gebot des Gewissens sind.
Dieses Gebot zur Selbstverpflichtung trifft vor allem die Stärkeren im Verhältnis zu den Schwächeren. Das sollte gerade heute bedacht werden, wenn von „Opfern" gesprochen wird, wenn Opfer gefordert werden.
Es war immer und bleibt auch heute ein guter Grundsatz, daß die starken Schultern stärker tragen müssen als die schwachen. Reformen, die Reformen genannt werden, sollten diesem Grundsatz folgen; sonst sind es keine.
Die soziale Frage - ich sagte es schon - hat auch die Mitglieder der Nationalversammlung von 1848 beschäftigt. Allerdings waren sie mehrheitlich der Auffassung, die auch heute wieder vertreten wird,
Hans-Ulrich Klose
daß nämlich der Markt, daß die von ihm vorangetriebene Entwicklung der industriellen Produktivkräfte am besten geeignet sei, allgemeinen Wohlstand zu schaffen. Folglich finden sich in dem Verfassungstext, der schließlich in der Paulskirche mit Mehrheit verabschiedet wurde, keine Hinweise auf soziale Rechte und auf den Sozialstaat. Der ist eine Errungenschaft der jüngeren Vergangenheit und ist heute im Prinzip, aber nur im Prinzip, unbestritten. Gestritten wird, wie wir alle in diesem Hause wissen, über den Umfang und die Einzelausgestaltung sozialstaatlicher Systeme und Leistungen.
Dieser Streit ist heftig, besonders in heutiger Zeit; denn er berührt die materielle Existenz von Menschen und das „Eingemachte" der Politik. Sozialdemokraten auf der einen Seite, so könnte man sagen, Liberale auf der anderen: die Existenz des Grabens ist nicht zu leugnen. Bisweilen hat man das Gefühl, daß es heute eher darauf ankommt, Brücken ab- als aufzubauen. Es ist also kein Wunder, daß heftig gestritten wird
Dennoch sage ich: Meinungsverschiedenheiten, auch in grundsätzlichen Fragen, teilen uns nicht auf, dürfen uns nicht aufteilen in Demokraten und Nichtdemokraten.
Es ist mir wichtig, auf diesen Punkt auch in aufgeregter Zeit, in Wahlkampfzeiten, aufmerksam zu machen. Die Profiteure einer solchen Entwicklung, die aus demokratischen Gegnern Feinde macht - Feinde, Herr Kollege Duve -, wären die wirklich nicht demokratischen extremistischen Parteien auf der rechten und auf der linken Seite.
Die werfe ich nicht alle in einen Topf. Es macht schon Sinn, im einzelnen nachzuprüfen, abzuwägen und zu urteilen. Aber ich füge hinzu: Es macht auch Sinn, sich an klaren Grundsätzen und demokratischen Maximen zu orientieren. Beliebigkeit, in welcher Form auch immer, sollte unser aller Sache nicht sein.
Im übrigen möchte ich Sie auf einen wichtigen Punkt aufmerksam machen. Die entschiedensten Gegner des Sozialstaates, der auf dem Prinzip der Solidarität gründet, sind jene, die von den Vorzügen des Sozialstaats profitieren, die aber andere - weil sie sie für minderwertig halten, sich selbst dagegen für besser - von diesen Vorzügen ausschließen wollen.
Das war schon immer so und ist auch heute so. Daher ist es kein Wunder, daß der Anteil der DVU-Wähler dort besonders hoch ist, wo sich eine deutsche
Mehrheit mit Problemen durch eine ausländische Minderheit materiell und kulturell bedroht fühlt. Demokratische Politik sollte darauf mit dem verstärkten Bemühen um soziale und kulturelle Integration reagieren, die beiden, Deutschen und Ausländern, zugute kommt,
nicht mit Populismen oder mit der billigen Erklärung, daß man solches Protestverhalten angesichts der Lage doch verstehen müsse.
Es ist gewiß legitim, gegen falsche Politik zu protestieren. Die beste Form des Protestes - ich wiederhole es - ist aber das eigene demokratische Engagement, der Versuch also, es selbst besser zu machen als andere. Diese Form des Protestes ist hilfreich.
Der Protest wird illegitim, wenn er sich in Haß und Feindschaft verwandelt.
Stimmen für die DVU sind Stimmen für eine Partei, die Haß und Feindschaft predigt.
Dies als legitime Reaktion auf äußere Umstände zu akzeptieren wäre wiederum eine Form von Beliebig-keit, die nicht akzeptiert werden darf.
Rechtsextremistische Parteien zu wählen mag vielleicht - „vielleicht" sage ich eher zögernd - entschuldbar sein in Ländern ohne Schuld, in Deutschland nach Auschwitz nie.
Nein, Deutschland, wir Deutschen sollten uns auch künftig aller nationalistischen Reflexe enthalten und sie, wenn vorhanden, entschieden bekämpfen. Wir haben genügend Erfahrung, wohin eine extremistische, auf Konfrontation angelegte Politik führen und welche Folgen es haben kann, wenn eine Gruppe der Gesellschaft eine andere für minderwertig erachtet und auch so behandelt.
Wir, die Deutschen, sind durch die Einheit wieder eine Nation geworden und sollten das auch innerlich akzeptieren. Es ist - wir wissen es - eine schwierige, durch Erfahrung und Geschichte hin und her gerissene Nation. Dennoch sollten wir bedenken: Dieses Mal haben wir die nationale Einheit nicht durch Krieg und Gewalt und gegen andere, sondern friedlich und mit Zustimmung aller Nachbarn wiedergewonnen. Diese Tatsache sollte unser nationales Bewußtsein prägen und uns ermutigen, auch künftig alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um die Probleme, die nationalen und die internationalen, zu meistern und den Menschen Sicherheit und Hoffnung zu geben.
Die Deutschen als Volk guter Nachbarn nach innen und außen - auf dieses Ziel muß sich deutscher Patriotismus heute und morgen konzentrieren. Und nur auf dieser Basis, nicht durch Flucht vor der Ge-
Hans-Ulrich Klose
schichte, haben wir eine Chance, Europa aufzubauen, als Gemeinschaft freier Völker, die als gute Nachbarn miteinander leben und zusammenarbeiten. Das, meine Damen und Herren, ist die Lehre der vielleicht doch nicht gescheiterten Revolution von 1848.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Frau Professor Dr. Rita Süssmuth, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als die Frankfurter Paulskirchen-Versammlung zusammentrat, war die freiheitliche Revolution in den meisten europäischen Ländern schon gescheitert. Es war in der Tat eine europäische Bewegung mit jeweils nationaler Ausrichtung. Vergessen wir aber nicht: Sie war immer verbunden mit Freiheit und Einheit.
Am Ende dieser Debatte möchte ich als erstes feststellen: Wie immer die Historiker über 1848/49 urteilen: Daß wir heute zum erstenmal diese Freiheitsbewegung im deutschen Parlament würdigen, uns damit auseinandersetzen und fragen, was wir damit zu tun haben, ist eine historische Einmaligkeit. Das hat vorher nicht stattgefunden.
Wir mögen von den Ergebnissen her sagen: Sie ist gescheitert. Sie führte nur zur konstitutionellen Monarchie; sie wurde nicht von allen getragen. Ich sage dagegen ganz deutlich: Sie ist die Grundlage unserer heutigen Demokratie; denn weder 1918 noch 1948/ 49 wären ohne Rückgriff auf die Taten der damaligen Bürger und - das füge ich hinzu - Bürgerinnen möglich gewesen. Damals wurden die Grundrechte formuliert, die auch Eingang in das Grundgesetz gefunden haben, eine Verfassung, die wir heute zu Recht als die freiheitlichste unserer Geschichte bezeichnen.
Wenn wir in unseren Parlamenten immer das praktizierten, was der erste Präsident der Paulskirche, Heinrich von Gagern, als Richtschnur streng verfolgt hat, nämlich daß wir den anderen eben nicht als Feind und Gegner betrachten, sondern ihn vielmehr reden lassen, ihm zuhören und Diffamierungen vermeiden, dann würden wir feststellen, daß alle die Regeln, die wir uns gegeben haben, auch die Frankfurter Paulskirche schon kannte. Das ist ganz entscheidend, wenn wir als demokratisches Vorbild in die Offentlichkeit hineinwirken wollen.
Zu den Regeln der Geschäftsordnung - das wurde schon gesagt - haben wir nicht viel hinzugefügt.
Mir ist wichtig, daß wir beim Gedenken an die Frankfurter Paulskirche allerdings auch folgendes nicht vergessen - da mag ich mich vom Kollegen Klose unterscheiden -: Die Entwicklung - bis hin zum Kommunistischen Manifest - wäre anders verlaufen, wenn es in Deutschland den Willen zu sozialen Reformen auf breiter Basis gegeben hätte, wenn auch in der Frankfurter Paulskirche die Idee der Sozialstaatlichkeit, die wir später verwirklicht haben, eine Rolle gespielt hätte und wenn die kirchlichen Sozialenzykliken anders durchgesetzt worden wären.
Damit möchte ich auf keinen Fall den großen Aufbruch von damals herabsetzen. Ich wünsche mir, daß wir in Teilen der Bevölkerung gegenwärtig einen solchen Aufbruch in Sachen Freiheit und Demokratie hätten, wie wir ihn 1848/49 gehabt haben.
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Auch ich denke, daß in der Tat offenbleibt und die Historiker darüber streiten, ob es sich um eine Revolution oder um einen Aufstand handelte. Wenn wir uns die Barrikaden vom März, die Ereignisse des ganzen Jahres und die vielen blutigen Opfer - es waren mehr als 200 000 - vor Augen führen, dann möchte ich hier sagen: Es war ein Akt der Gewalt, mit dem die Bewegung niedergeschlagen wurde. Wenn hier eben betont worden ist, daß viele Deutsche nicht mitgemacht haben, dann möchte ich erwidern: Allein im südbadischen Raum wäre die freiheitliche Revolution zu einem Erfolg geführt worden, wenn sie nicht mit Waffengewalt niedergeschlagen worden wäre.
Das damalige Preußentum fühlte sich durch die Idee einer konstitutionellen Monarchie verächtlich gemacht. Man wollte so etwas wie eine konstitutionelle Monarchie nicht anerkennen; man lehnte es ab, Macht aus der Hand des Souveräns, des Volkes, verliehen zu bekommen. Sie waren Könige oder Kaiser von Gottes Gnaden.
Man muß sehr stark zwischen der Obrigkeit und dem Volk unterscheiden. Das Volk wurde niedergehalten. Denn gegenüber nichts hatten die damaligen Machthaber mehr Mißtrauen und nichts erschien ihnen gefährlicher als Menschen, die kundig gemacht waren. Man wollte die Bevölkerung nicht mit dem Ziel bilden, daß sie in einem Staatswesen mitwirken könnten.
Noch ein Wort zur Elite. Wir alle kennen das Wort, das die Frankfurter Paulskirche begleitete: Wir brauchen nicht Gelehrte, sondern Staatsmänner. Darin liegt eine Verächtlichmachung aller Dichter und Denker, aller derjenigen, die das Nachdenken über etwas mindestens genauso hoch bewertet haben wie das Handeln. In der Tat gehören Denken und Tun zusammen. Aber was die Arbeit im Rahmen eines par-
Dr. Rita Süssmuth
lamentarischen Systems mitunter sehr aufwendig macht, ist, daß es manchmal angezeigt erscheint, über eine Sache lieber zwei- oder dreimal nachzudenken. Schnellschüsse zu machen ist einfacher. Dazu sage ich: Nur eine Diktatur ist schnell.
Die Idee der Freiheit gilt es nach wie vor - gerade gegenwärtig - vor ihrer Relativierung zu schützen. Diejenigen, die in Freiheit leben, meinen, sie brauche nicht mehr wehrhaft verteidigt zu werden. Das Allerwichtigste, das von diesem Parlament ausgehen kann, ist: Freiheit ist ein wichtiges Gut. Freiheit ist anstrengend. Wer meint, Freiheit sei nur dann erstrebenswert, wenn sie mit wirtschaftlichem und sozialem Wohlstand unmittelbar einhergehe, der verkennt die Opfer all derjenigen, die für die Freiheit unendlich viel gelitten haben.
Das sage ich im Blick auf alle Freiheitskämpfer während der Nazidiktatur und der nachfolgenden Diktaturen. Ich denke, heute ist zu Recht noch einmal daran erinnert worden: Die erste gewaltfreie Revolution haben wir 1989 erlebt.
Auch dort sind Frauen und Männer vorangegangen; nicht gleich war das ganze Volk auf den Straßen. Immer bedarf es derjenigen, die vorangehen. Allerdings: Lassen Sie uns den Begriff der Elite nicht einschränken. Im Sinne von Michaela Geiger: Wichtig ist, daß wir bei dem Grundsatz bleiben, alle müssen ihren Beitrag zur Demokratie leisten. Wo die bürgerliche Gesellschaft nicht mitmacht, ist die Demokratie bald verloren. Dann haben wir jene „Sesselmentalität", die die Demokratie zugrunde richtet.
Deshalb möchte ich den Elite-Begriff ausweiten: Die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts hat uns gezeigt, daß ein Handwerker nicht deswegen keine Elite ist, weil er keinen hohen gesellschaftlichen Status einnimmt. Wichtig ist das holländische Prinzip: Wer etwas zu sagen hat und Kompetenz aufweisen kann, der gehört zur Elite - nicht jener, den wir künstlich zu ihr zählen.
Ich wünschte mir, daß sich jene, die ständig erklären, wir im Parlament leisteten nichts und seien zu hoch bezahlt, einmal aus ihrem Sessel erheben und ins Parlament kommen, um selbst teilhaben zu können, welche Leistungen erbracht werden. Vorher werden wir ihre Meinung nicht ändern können.
Ein letzter Gedanke: Ich bin davon überzeugt, daß auch wir in diesem Parlament einen neuen Aufbruch brauchen. Ich nenne nur ein paar Stichworte: Erstens. Wir brauchen mehr Konzentration auf das Wesentliche. Wir haben in dieser Parlamentsperiode 802 Gesetzentwürfe, Verordnungen und Entschließungen eingebracht. Davon sind mehr als 400 erledigt worden. Sind wir wirklich der Meinung, daß die alle notwendig waren? - Ich nicht. Das heißt, Konzentration ist ausschlaggebend.
Zweitens. Seit langem ist es mein Wunsch - ich wiederhole ihn heute -, bei aller Einflußnahme im Wege von Vorberatungen in der Fraktion und durch Parteibeschlüsse dem Parlament mehr Gelegenheiten zu offener Debatte, zur Beteiligung an Problemlösungen zu geben. Immer dann ist es am besten.
Das schließt überhaupt nicht aus, daß die Lösungen hinterher in Partei- und Fraktionsbindung gefunden werden.
Ein Letztes: Wir brauchen Transparenz, Überschaubarkeit. Das Wichtigste aber ist - damit möchte ich schließen - die Sprache. Die Frankfurter Paulskirche baute auf den Geist und die Macht der Sprache und lehnte Gewalt ab. Deswegen wurde ihr später vorgehalten, sie sei zu schwach gewesen. Ich setze nach wie vor - ob wir nun Vaclav Havel oder andere in diesem Sinne zitieren - auf die Macht und die Durchsetzungskraft des Wortes. Wägen wir ab, und seien wir vor allen Dingen in Wahlkampfzeiten vorsichtig mit unserem Wort!
Ich danke.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2a und b auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der EG-Einlagensicherungsrichtlinie und der EG-Anlegerentschädigungsrichtlinie
- Drucksache 13/10 736 —Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte
- Drucksache 13/10 708 —Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Innenausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
zu überweisen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit vife ich Zusatzpunkt 1 auf:
Vereinbarte Debatte zur
Sicherheit von Castor-Transporten
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Frau Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe heute dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit einen umfassenden Bericht über die Hergänge vorgelegt und möchte diejenigen, die sich für die Details interessieren, darauf verweisen. Ich glaube, in unserer Debatte heute nachmittag geht es um eine politische Bewertung.
Die Mitteilung über die Erkenntnisse von Grenzwertüberschreitungen bei Transporten von abgebrannten Brennelementen nach Frankreich, die von Energieversorgungsunternehmen über Jahre hinweg zurückgehalten worden sind, hat zu einem tiefen Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt. Wir brauchen uns jetzt nicht zu wundern, wenn bei den Bürgerinnen und Bürgern der Verdacht aufkommt, man nehme es mit Grenzwerten sowieso nicht so genau. Man habe schon immer geahnt, daß bestimmte Kreise unserer Gesellschaft skrupellos über Ängste und Sorgen der Menschen hinwegsehen. Man müsse jetzt vielleicht auch noch fürchten, daß zum Beispiel Dosimeter, die die Castor-Transporte begleitenden Polizisten mit sich führen, falsch geeicht sind und vielleicht auch noch falsche Ergebnisse zeitigen.
Meine Damen und Herren, dieser Vertrauensverlust wiegt um so schwerer, als es bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie um ein Thema geht, bei dem Urängste von Menschen wach werden. Wie ,können wir mit etwas umgehen, das wir nicht sehen, nicht riechen, nicht fühlen können? Wie können wir uns darauf verlassen, daß das Risiko der Verstrahlung beherrschbar ist? Wie soll man das Risiko der friedlichen Nutzung der Kernenergie und der Entsorgung insgesamt einordnen, wenn verschiedene Wissenschaftler und Gutachter, die doch die Gefahr eigentlich einschätzen können müßten, zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen? Wem soll man vertrauen - denen, die das Risiko für beherrschbar halten, oder denen, die es für unverantwortlich halten? Übertreibt die eine Gruppe, verharmlost die andere?
Vollends unverständlich wird die gesamte Diskussion dann - insbesondere für die unbeteiligten Zuschauer -, wenn man den Sprecher eines Energieversorgungsunternehmens sagen hört, man habe die Grenzwertüberschreitungen nicht gemeldet, weil es
erstens keine Meldepflicht gebe und weil zweitens keine radiologische Gefahr vorgelegen habe. Es ist durch nichts zu rechtfertigen, wenn gerade in dieser Weise argumentiert und die Wahrheit verdreht wird. Es geht doch gar nicht darum, ob es eine Meldepflicht gegeben hat oder nicht, sondern es geht darum, ob gesetzliche Grundlagen, die existieren, eingehalten werden.
Aus der Strahlenschutzverordnung ergibt sich jedenfalls für die Kernkraftwerke die Verpflichtung zur Weitergabe ihrer Kenntnis von den Grenzwertüberschreitungen an den Inhaber der Beförderungsgenehmigung. Wer Transporte in ein Kernkraftwerk bereitstellt und weiß, daß Kontaminationen am Bestimmungsort festgestellt werden, der hat ebenso wie andere an dem Transport Beteiligte die Pflicht, die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden über diesen Sachverhalt zu informieren.
Wer nun aber wie die Energieversorgungsunternehmen über diese gesetzlichen Regelungen einfach hinwegredet, der braucht sich nicht zu wundern, wenn das Vertrauen in die Kernenergie in der Bevölkerung verlorengeht. Wer wie die SPD und die Grünen von der Verantwortung der Länder gerade wegen der Verantwortung beim Beladungsvorgang im Kernkraftwerk einfach ablenken will, der betreibt vier Monate vor der Bundestagswahl nur ein rein parteitaktisches Spiel, der betreibt nur noch Wahlkampf. Das werde ich nicht zulassen.
Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ablenkungsmanöver!)
Damit eines klar ist: Grenzwerte gibt es nicht aus Jux; deshalb ist ein Ignorieren von Überschreitungen dieser Grenzwerte unter keinen Umständen hinnehmbar.
Das gilt auch dann, wenn wir wissen, daß in Deutschland keine gesundheitliche Gefahr für die Bevölkerung und das Personal bestand und dies nach Angaben der französischen Behörden auch für Frankreich zutrifft - auch wenn dort noch weiter untersucht wird.
Wenn jetzt der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei laut ruft, bei den Castor-Transporten seien die Polizisten - so wörtlich - „verheizt" worden, so ist das eine völlig unverantwortliche und unerträgliche Stimmungsmache, die in keiner Weise gerechtfertigt ist, da - Sie wissen es genau - bei den Transporten in die Zwischenlager Gorleben und Ahaus gerade keine Grenzwertüberschreitungen vorgelegen haben.
Meine Damen und Herren, ich habe immer deutlich gemacht und werde dies auch weiter deutlich
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
machen, daß ich die friedliche Nutzung der Kernenergie für verantwortbar halte, gerade und insbesondere in Deutschland.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Behrendt?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfragen. Diejenigen, die mich jetzt fragen wollen, haben in den letzten Tagen zum Teil alles gewußt. Deshalb habe ich keine Intention, Ihre Fragen heute zu beantworten.
Sie brauchen das nicht zu begründen.
Herr Vizepräsident, ich weiß nicht, ob Sie die Vizepräsidentin -
Frau Ministerin, ich habe den Zwischenruf nicht gehört. Aber Sie brauchen Ihre Entscheidung nicht zu begründen. Das ist Ihr gutes Recht.
Bitte fahren Sie fort.
Danke. - Herr Fischer, weil ich die friedliche Nutzung der Kernenergie für verantwortbar halte, werfen Sie mir vor, daß ich ein Erfüllungsgehilfe der Atomindustrie
und für die Einschätzung der Gefahren nicht sensibel sei, weil mir Distanz zur Sache fehle.
Herr Müller hat es noch etwas „netter" als „Kumpanei mit der Atomindustrie" bezeichnet.
Meine Damen und Herren in der Opposition, welches Denken offenbaren Sie dabei? Haben Sie eigentlich begriffen, daß es in dieser Frage weniger darum geht, welche Grundüberzeugung ich habe,
als darum, was ich nach Recht und Gesetz zu tun habe?
Es gibt einen klaren Gesetzesauftrag, wonach ich dafür zu sorgen habe, daß die atomrechtlichen Vorschriften von den Ländern nach Recht und Gesetz auszuführen sind. Sie, Herr Fischer, wollen den Menschen einreden, daß ich nur deshalb, weil ich für etwas bin, nicht in der Lage oder gewillt sei, hierbei Recht und Gesetz einzuhalten. Umgekehrt soll es doch heißen: Nur wenn man gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie sei, könne man auch verantwortungsbewußt zum Schutze der Menschen handeln.
Ein solches Denken, Herr Fischer, halte ich für diabolisch.
Sie und viele Ihrer Leute verbinden quasi die Einhaltung von Recht und Gesetz mit politischen Überzeugungen. Ich halte das für perfide. Ich werde es Ihnen nicht durchgehen lassen.
Im übrigen sind Sie sehr still, wenn man bei Ihnen nachfragt, was Sie in Ihrer Amtszeit als hessischer Umweltminister von 1991 bis 1994 gewußt haben. Ich lese dazu in der Zeitung: keinerlei Erkenntnisse. Ihr Verhalten ist damit zutiefst entlarvend. Ihnen geht es nur darum, jetzt eine Wahlkampfkampagne zu machen. Das werden die Bürgerinnen und Bürger durchschauen. Es ist keineswegs so, daß wir nicht aufklären wollen.
Meine Damen und Herren, wenn man mir mangelnde Distanz zur Sache vorwirft - Herr Schröder hat das sehr explizit getan; nicht nur Sie, Herr Fischer, und nicht nur Sie, Herr Müller -, sage ich: Der Kanzlerkandidat der SPD ist Mitglied im Aufsichtsrat von Preussen-Elektra, einem der von den Kontaminationen betroffenen EVUs. Mehr noch: Im Aufsichtsrat von Preussen-Elektra sitzt der Energieminister von Schleswig-Holstein, und die Vorgängerin von Herrn Schröder im Aufsichtsrat war Frau Griefahn, also die beiden für die Aufsicht zuständigen Minister in ihrem Land. Machen Sie sich selbst Ihren Reim auf die Distanz oder die Nichtdistanz!
Meine Damen und Herren, bei dieser Angelegenheit geht es wahrlich nicht um Wahlkampf. Es geht für jeden - ob er nun für oder gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie ist - darum: Mein Handeln als Sicherheitsministerin ist von Recht und Gesetz und von dem entscheidenden Gebot, dem Gebot der
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
Sicherheit, bestimmt. Dies hat absoluten Vorrang vor Wirtschaftlichkeit oder Versorgungssicherheit.
Das Zurückhalten von Informationen über das Überschreiten der Grenzwerte in Frankreich durch die EVUs ist deshalb - auch wenn es keine Sicherheitsfrage in dem Sinne ist, daß Gefahr bestanden hätte - in keinem Fall hinnehmbar. Genau deshalb habe ich die Erkenntnisse über Grenzwertüberschreitungen bei Transporten von abgebrannten Brennelementen nach entsprechender Information aus Frankreich an die Öffentlichkeit gebracht. Nicht die Medien, nicht Sie, Herr Fischer, nicht Herr Struck, sondern niemand anderes als ich ist an die Öffentlichkeit gegangen. Das war auch richtig so.
Was ist geschehen? 1997/98 wurden bei insgesamt 68 Transporten mit abgebrannten Brennelementen von deutschen Kernkraftwerken nach La Hague in 16 Fällen Kontaminationen mit erhöhter Radioaktivität gefunden -13 an den Bodenwannen, 3 an den Behältern. Die französischen Behörden haben darüber hinaus bestätigt, daß in Frankreich bei Transporten, die von französischen Kernkraftwerken stammen, auch Kontaminationen an der Außenabdeckung der Eisenbahnwaggons festgestellt wurden. Dies sind rein innerfranzösische Transporte gewesen.
In die britische Wiederaufbereitungsanlage Sellafield sind 1997/98 50 Transporte aus deutschen Kernkraftwerken verbracht worden. Aus Großbritannien liegen uns noch keine offiziellen Behördenmitteilungen vor. Nach Angaben der britischen Betreibergesellschaft BNFL weisen ein oder zwei Transportbehälter erhöhte Kontaminationen auf. Die Verschmutzungen sind trotz regelmäßiger Kontrollen in Deutschland nicht entdeckt worden. In Deutschland wurden zu keinem Zeitpunkt - ich sage das noch einmal deutlich - erhöhte Kontaminationen festgestellt.
Die deutschen Betreiber haben bereits seit Jahren Kenntnis von konkreten Verschmutzungen der Transportbehälter; es sind französische. Gleichwohl wurden das Eisenbahn-Bundesamt und das Bundesumweltministerium über diesen Sachverhalt nicht informiert. Die Energieversorgungsunternehmen haben dies in einer gemeinsamen Erklärung vorgestern erneut gegenüber der Öffentlichkeit eingeräumt.
Ich möchte hier ein für allemal klarstellen: Erstmals ist das Bundesumweltministerium mit Telefax vom 24. April 1998 von den in Valognes festgestellten konkreten Kontamintionen über die französischen Behörden informiert worden. Ich sage Ihnen auch zum Schutze meiner Beamten: Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß andere Sachverhalte vorliegen. Ich bitte Sie wirklich, mit Ihren Verdächtigungen, Vermutungen usw. vorsichtig zu sein, auch im Sinne der Beamten.
Am 19. Mai 1998 wurde das Bundesumweltministerium von den erhöhten Kontaminationen an
Transportbehältern in Sellafield durch das niedersächsische Umweltministerium informiert. Was Frankreich anbelangt, möchte ich sagen, daß mir meine französische Kollegin gestern erklärte, daß sie wahrscheinlich noch eine Stunde nach mir von den Kontaminationen erfahren hat. Daran sehen Sie, daß hier sozusagen Gleichstand vorliegt.
Meine Damen und Herren, ich habe es in diesen Tagen auch noch mit einer völlig absurden anderen Diskussion zu tun. Es wird ein vermeintlicher Widerspruch zwischen den Aussagen mancher Wissenschaftler oder Techniker und den Aussagen des Bundesumweltministeriums herbeigeredet. Ich will sagen, einen solchen Widerspruch gibt es nicht. Es trifft zwar zu, daß das in der Wissenschaft erörterte Problem möglicher Kontaminationen bei Brennelementtransporten, die erst zu einem späteren Zeitpunkt festgestellt werden können, in Fachkreisen diskutiert wurde.
Meine Damen und Herren, ich habe diese Diskussion nicht begonnen, weil ich der Meinung bin, daß Ministerien nicht jede wissenschaftliche Diskussion und nicht jeden wissenschaftlichen Fachkongreß nachvollziehen können. Es wird immer wieder eine Fachkonferenz vom 8. bis zum 10. Mai 1991 in Großbritannien angeführt. Wir haben einmal geschaut, wer dort aus Deutschland anwesend war. Ich kann Ihnen sagen, Herr Fischer, es waren drei Vertreter der EVUs und einer des hessischen Umweltministeriums, wenn die Teilnehmerlisten stimmen, die uns übersandt wurden.
Ich habe die Diskussion nicht begonnen. Ich sage nur: Schauen Sie - ehe Sie rufen und sich über angebliche Widersprüche beschweren -, wie die Sachverhalte genau waren. Ich weiß nicht, ob Sie zu Ihrer Zeit als Umweltminister über alles diskutiert und alles gewußt haben. Auf jeden Fall halte ich es für merkwürdig. Aus dem Bundesamt für Strahlenschutz - um es gleich vorneweg zu sagen - war anfangs bei der Organisation dieser Tagung einer der Mitarbeiter beteiligt. Er ist später ausgeschieden. Anwesend war er nicht.
Meine Damen und Herren, weil sich aber bei allen bekannten Kontrollmessungen keine Grenzwertüberschreitungen ergeben haben, gab es genau deshalb keinen Ansatzpunkt, diesen wissenschaftlichen Fragestellungen nachzugehen. Das war übrigens nicht nur in Deutschland so, das ist auch in der Schweiz, in England und in Frankreich so gewesen. Damit kann ich nur feststellen: Wir haben heute ein Problem, ganz klar. Wir kannten es nicht, und wir müssen deutlich sagen: Ansatzpunkte für konkrete Verschmutzungen hatten wir in Deutschland keine. Das halte ich für außerordentlich wichtig.
Es haben sich an Behältern und Waggons keine Hinweise auf Kontamination ergeben. Während des Transports führt das Eisenbahn-Bundesamt auf Bahnhöfen stichprobenartige Messungen an Behältern und Waggons durch. Auch hier haben sich keine Hinweise auf Kontaminationen ergeben. Ich werde immer wieder gefragt, warum nicht bei jedem Trans-
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
port gemessen wird: Jeder Transport wird zunächst beim Abgang gemessen. Beim Eisenbahn-Bundesamt gab es keinerlei Anhaltspunkte, daß während des Transports etwas passieren könnte. Deshalb die stichprobenartige Überprüfung; im Jahre 1997 erfolgten Kontrollen an 60 Prozent der Waggons.
Erst durch die Messungen bei der Umladung auf französischer Seite konnte eine Realisierung der bestehenden Möglichkeit einer Grenzwertüberschreitung festgestellt werden. Sowohl die französische Seite als auch die durch sie unterrichteten Energieversorgungsunternehmen haben es aber unterlassen, den zuständigen Behörden in der Bundesrepublik Deutschland ihre Kenntnisse über diese Meßergebnisse zu übermitteln.
Fazit ist: Das Bundesumweltministerium hatte vor dem 24. April keine Informationen über die konkreten Kontaminationen. Das Bundesumweltministerium hat unmittelbar nach Kenntnis der Vorgänge von sich aus die Öffentlichkeit informiert. Damit ist das Bundesumweltministerium seiner Sorgfalts- und Aufsichtspflicht nachgekommen.
Meine Damen und Herren, nach den nunmehr vorliegenden konkreten Erkenntnissen sind wir jetzt in der Lage, zu handeln und das Problem zu lösen. Deswegen habe ich in einem Zehn-Punkte-Plan die nächsten Schritte sehr klar beschrieben. Sie werden die Länder einschließen. Wir haben die Gesellschaft für Reaktorsicherheit beauftragt, die technischen Fragen zu erkunden. Wir werden uns nicht auf das Votum der Elektrizitätsversorgungsunternehmen verlassen.
Des weiteren haben wir Anweisung an das Eisenbahn-Bundesamt gegeben, mögliche rechtliche Schritte zu ergreifen. Ferner habe ich gestern mit meiner französischen Kollegin einen transparenten Informationsaustausch zwischen den französischen und den deutschen Behörden vereinbart. Ich habe keinerlei Zweifel daran, daß das klappen wird.
Solange die Ursachen nicht geklärt sind, wird der Stopp von Transporten bestrahlter Brennelemente ins Ausland und im Inland fortgelten.
Am 2. Juni 1998 werde ich mit den Länderministern den Zehn-Punkte-Plan diskutieren und dabei auch eine Reihe von Fragen stellen. Ich habe die Länder aufgefordert, sämtliche Meßprotokolle über die Eingangs- und Ausgangskontrollen in den Kernkraftwerken im Zusammenhang mit Transporten bestrahlter Brennelemente ins Ausland und im Inland zu übersenden. Die Stromerzeuger habe ich mit gestrigem Schreiben aufgefordert, mir bis zum 3. Juni ihre Vorschläge über technische und organisatorische Maßnahmen zuzusenden.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Fakten und des bisherigen Erkenntnisstandes kann ich
mich nicht des Eindruckes erwehren, daß der konkrete Fall der Grenzwertüberschreitungen bei Transporten nach Frankreich manchen ganz gelegen kommt, um dieses Problem - es ist ein Problem; ich betone es noch einmal - für ganz andere Zwecke zu nutzen.
Offensichtlich will man den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie mit allen Mitteln, notfalls auch mit Unwahrheiten, herbeizwingen, weil man natürlich kühl kalkuliert, daß Meldungen über nicht zu billigende Grenzwertüberschreitungen Ängste auslösen und zwischen Verunreinigungen und realer Gefahr kaum noch unterschieden wird. Dies ist eine zutiefst verantwortungslose Politik gegenüber den Menschen in diesem Lande.
Herr Fischer, als ich gehört habe, wie Sie in Ihrer Pressekonferenz am Montag wirklich mit innerem Drang Ihre Äußerungen dazu benutzt haben, von eigenen Desastern wie den Beschlüssen zum Ausstieg Deutschlands aus der NATO oder zur Erhöhung des Benzinpreises auf 5 DM abzulenken, wurde ich den Eindruck nicht los, daß es Ihnen eigentlich nur um Wahlkampf geht.
Meine Damen und Herren, ich sage mit großem Ernst: Diese Diskussion führt uns an die ganz spannende und für die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland wichtige Frage, wie wir mit Hochtechnologien umgehen. Klar ist, der Umgang mit Hochtechnologien fordert klare Grenzwerte und Richtlinien zur Vermeidung von Sicherheits- bzw. Gesundheitsrisiken. Überschreitungen und Nichteinhaltungen müssen konkret kontrolliert und im Zweifelsfall umgehend abgestellt werden. Weil aber nicht jedes theoretisch denkbare physikalische Phänomen im Vorfeld absolut ausgeschlossen werden kann, gibt das Kriterium der Sicherheitsrelevanz ein Handlungsraster vor, nach dem etwa mit Hilfe von Messungen Risiken eingeschätzt, bewertet und unterschieden werden können. So wird es möglich, daß man weder einen Staat völlig bewegungs- und handlungsunfähig macht noch über bestimmte Vorkommnisse und Erscheinungen einfach hinwegsieht oder sie gar billigend in Kauf nimmt.
Meine Damen und Herren, damit untrennbar verbunden ist das Gebot der Transparenz. Das heißt in diesem Fall Offenlegung und Austausch konkreter Meßergebnisse. Schließlich gehört zu einer verantwortungsvollen Einschätzung des in diesem Fall von den Elektrizitätsversorgungsunternehmen eingeräumten Versäumnisses - ich will hier auch ganz deutlich sagen, daß mir die Entschuldigung der Energieversorgungsunternehmen zur Zeit überhaupt nicht hilft; ich brauche ein verantwortungsvolles Handeln dieser Unternehmen und die Umsetzung der notwendigen Schritte - auch:
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
Es darf keine Pauschalverurteilung vorgenommen werden. - Ich sage das mit der nötigen Distanz, die Sie mir nicht gleich wieder abzusprechen brauchen. - Deshalb muß dieser Sachverhalt in den Gesamtzusammenhang der Entsorgung radioaktiver Abfälle und der friedlichen Nutzung der Kernernergie eingeordnet werden. Es gehört zu meiner Verantwortung als Umwelt- und Reaktorsicherheitsministerin, dies genauso deutlich zu machen, wie es - gerade wegen der verständlichen Ängste der Menschen - zu meiner Verantwortung gehört, die notwendigen Schritte zur Klärung des konkreten Problems weiter voranzubringen.
Ich habe diese Verantwortung auch und gerade in bezug auf die Sicherheitskonzeption von Kernkraftwerken in Mittel- und Osteuropa. Sie verurteilen die Gesellschaft für Reaktorsicherheit als in keiner Weise unabhängig. Ich aber werde von meinem österreichischen Kollegen - Österreich ist bekanntlich ein Land, das die friedliche Nutzung der Kernenergie nicht befürwortet - gebeten, darauf hinzuwirken, daß Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit in das Kernkraftwerk Mochovce fahren, um darüber zu urteilen, ob dort die Sicherheitsbestimmungen eingehalten werden. Sind wir denn völlig verrückt - muß ich wirklich einmal fragen -, unseren eigenen Sachverstand aus parteitaktischen Überlegungen herunterreden? Ich kann Ihnen versichern: Ich mache das nicht mit!
Das 1979 zwischen Bund und Ländern vereinbarte Entsorgungskonzept muß weiterentwickelt werden.
Ein solches Entsorgungskonzept ist, Frau Fuchs, leider gescheitert. Als wir mit Herrn Bohl, Herrn Rexrodt, Herrn Müntefering, Herrn Schröder und den EVUs zusammengesessen haben, gab es nur eine ungelöste Frage, die hieß: Wohin geht der nächste Castor-Transport? Nach Ahaus oder nach Gorleben? In dieser Frage haben Sie gekniffen; daraufhin ist es nicht zum Entsorgungskonsens gekommen.
Ich möchte nur noch eines sagen: Wenn diese Situation etwas für sich hat, dann die Chance, gemeinsam transparent, konsistent und auch mit Vernunft die Probleme zu lösen, die auf uns zukommen. Ich werde meinen Beitrag dazu leisten.
Herzlichen Dank.
Bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich das Haus darauf aufmerksam machen, daß zwei Entschließungsanträge vorliegen, und zwar von der Fraktion der SPD und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, über die wir im Anschluß an diese Debatte abstimmen werden, wenn keine anderen geschäftsordnungsmäßigen Anträge vorliegen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Michael Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Der Rechtsbruch, gar der organisierte, ... fordert die Demokratie und den Staat ... zentral heraus....... Niemand ist berechtigt, sich den Teil der Rechtsordnung herauszupicken, der ihm paßt, und den Rest zu mißachten.
Dies sagte Innenminister Kanther in der Debatte über die Castor-Transporte im letzten Jahr. Aber er meinte nicht die Atomkraftbetreiber; vielmehr meinte er die Demonstranten. Ich meine, Frau Umweltministerin, Sie hätten die heutige Debatte auch zum Anlaß nehmen sollen, sich bei den Demonstranten zu entschuldigen. Ich glaube, Frau Merkel, dies hätte Ihnen und der Bundesregierung gut zu Gesicht gestanden.
Heute müssen wir feststellen, daß es bei aller Kritik an einzelnen Vorgängen während der Demonstrationen in erster Linie fast kriminelle Energie auf der Seite der Atomkraftbetreiber gegeben hat, nämlich beim Verschweigen von radioaktiven Gefährdungen.
Herrn Kanther ist völlig recht zu geben, wenn er sagt: Dies fordert die Demokratie heraus - weil es das Vertrauen in den Rechtsstaat beschädigt. Das ist der entscheidende Punkt!
Wir stellen fest: Die Energieversorgungsunternehmen haben mehr als zehn Jahre geschwiegen, zum Teil über gravierende Verstöße. Es gab Verstrahlungen, die teilweise mehr als das Dreitausendfache des Grenzwerts erreicht haben. Wenn das keine massiven Verstöße gegen Vorsorge und Sicherheit sind, dann weiß ich nicht, was massive Verstöße sind.
Dies als Kavaliersdelikt abzutun geht nicht!
Dadurch zerstört man auch das Vertrauen in die Technik; dadurch zerstört man das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit von Politik.
Es ist unverfroren, wenn sich die Vertreter der Energieversorgungsunternehmen heute hinstellen und sagen, die Unternehmensleitungen hätten davon nichts gewußt, sondern nur einige Mitarbeiter auf unteren Ebenen. Das nehmen wir ihnen nicht ab.
Michael Müller
Ich verweise beispielsweise auf einen Brief der französischen Nuklearfirma Cogema von 1990, in dem sie sagt, sie werde in Zukunft auf Bitten der Betreiber von Atomkraftwerken nicht mehr die Transportunternehmen, sondern nur noch die EVUs über Strahlenwerte informieren. Was kann das denn anderes bedeuten, als daß einige in der Spitze der Unternehmen Bescheid gewußt haben? Anders sind solche Briefe nicht zu erklären.
Deshalb kommen Sie, meine Damen und Herren, aus der politischen Verantwortung der Bundesregierung für diese Sache nicht heraus.
Es ist vielleicht altmodisch geworden, von politischer Verantwortung zu sprechen, aber es sollte zur politischen Moral gehören.
Ich unterstelle Frau Bundesumweltministerin Merkel nicht, daß sie selber von den Vorgängen gewußt hat. Ich habe das auch öffentlich nie gesagt. Es ist aber eindeutig, daß es eine politische Verantwortung ihres Amtes gibt. Wenn man hier trotz der wissenschaftlichen Debatte über diese Fakten, trotz Veröffentlichungen in zahlreichen Publikationen und trotz der Diskussionen auf Fachkongressen erklärt, das Ministerium habe davon nichts gewußt, dann frage ich, wie dieses Ministerium organisiert ist. Eine solche Aussage über Unwissen bei Radioaktivität ist nicht hinzunehmen.
Meine Damen und Herren, wir können es nicht zulassen, daß uns Unternehmen auf der Nase herumtanzen, insbesondere nicht bei der Risikotechnologie Atomkraft. Wir dürfen die Verantwortungsebenen nicht verwischen. Wir wissen nicht, was die Bundesregierung gewußt hat. Einmal unterstellt, sie hätte nichts gewußt, dann müßte sie jetzt aber viel klarer handeln. Wir fragen uns, warum nicht unter Bezugnahme auf das Atomgesetz die Zuverlässigkeit sowohl der Transporteure von nuklearem Material als auch der Betreiber von Atomkraftwerken in Frage gestellt und überprüft wird. Ankündigungen nützen da nichts!
Es drängt sich der Verdacht auf, daß entweder die kritische Distanz zur Atomwirtschaft zu gering war oder Sie von diesen Vorgängen nicht gewußt haben. Eines von beidem - Schlamperei oder Kumpanei - kann nur stimmen. Ich vermute, das erstere. Aber das wäre nicht weniger schlimm.
Man hat nach dem Motto „Augen zu und durch" gehandelt. Ich möchte hinzufügen: Die Schuld daran kann man nicht allein Frau Umweltministerin Merkel geben, auch ihr Vorgänger war nicht viel besser. Wir erinnern uns an die Auseinandersetzung um den Nuklearskandal Ende der 80er Jahre und an die Ankündigung, die gesamten Transportsysteme für nukleare Abfälle neu zu ordnen. Heute stellen wir fest, daß die Transportunternehmen mindestens zu 80 Prozent in Händen der EVUs sind. Stimmt da nicht die Feststellung Ihres früheren Kollegen Hans Dichgans, daß man die Festlegung der Steuersätze nicht den Millionären überlassen dürfe? Das gilt doch hier genauso.
Wir haben den Eindruck, daß Sie sich immer mehr in dem Irrgarten Atomwirtschaft verlaufen haben und daher in immer neue Sackgassen geraten.
Frau Merkel, wir fordern Sie auf, endlich wirkliche Konsequenzen zu ziehen. Wir fordern Sie auf, nicht nur die Atomwirtschaft anzugiften und den Finger zu erheben, sondern ernsthaft zu prüfen, wie zuverlässig sie handelt. Wir fordern eine Entflechtung von Transportunternehmen und Betreibern. Es muß eine klare Trennung geben, sonst ist keine Vertrauensbasis gegeben.
Wir stellen fest: Es gibt - zumindest derzeit - keine sichere Entsorgung. Die Atomwirtschaft steht auf tönernen Füßen. Auch Sie müßten eingestehen, daß es ohne ein Konzept für eine dauerhafte Entsorgung keine Zukunft für die Atomwirtschaft geben kann.
- Ja, das ist das Grundproblem unseres Streites. Sie versuchen, eine Politik gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen. Die Mehrheit der Bevölkerung will nämlich eine andere Energiepolitik. Das wissen Sie doch ganz genau. Das ist doch der eigentliche Streitpunkt!
Ihr Motto „Augen zu und durch" unterstreicht, daß Sie an einer Technologie festhalten wollen, die keine Zukunft hat.
Im Zusammenhang mit Osteuropa muß man fragen: Wieso war es möglich, daß in Mochovce in der Slowakei ein Kraftwerk mit deutscher Hilfe nachgerüstet wurde, dessen Sicherheitsstandards den westlichen Sicherheitsanforderungen der 70er Jahre entsprechen? Was anderes als bloße wirtschaftliche In-
Michael Müller
teressen der Atomwirtschaft können dahinterstehen? Das ist doch nicht hinnehmbar!
Ihre Atompolitik ist gescheitert. Deshalb müssen wir zu einer Neuordnung der Energiepolitik insgesamt kommen.
- Mein Gott, Sie können mir doch jetzt nicht vorwerfen, daß ich seit 25 Jahren für eine andere Energiepolitik streite. Das hat doch nichts mit Wahlkampf zu tun.
Wo leben wir denn eigentlich? Das ist doch nur konsequent.
Ich kann doch nichts dafür, daß Sie seit 25 Jahren verblendet sind. Es wird Zeit, daß wir auf Einsparung von Energie und ihre effektivere Nutzung und die Solartechnologie setzen und nicht an Technologien festhalten, die keine Mehrheit in der Bevölkerung finden.
Alle Fakten müssen auf den Tisch. Eines ist klar: Wenn es auf die vielen offenen Fragen keine befriedigenden Antworten gibt, dann müssen wir den Bundeskanzler auffordern, gegenüber der Umweltministerin die politischen Konsequenzen zu ziehen; denn es gibt eine politische Verantwortung. Niemand darf sich ihr entziehen - egal, auf welcher Seite dieses Hauses.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Atompolitik ist man ja einiges gewohnt.
Ich habe gelernt, daß es an dem neuen Skandal zwei Hauptschuldige gibt. Einer steht vor Ihnen.
Das habe ich gerade den Worten der zuständigen Ministerin entnommen. Der zweite Hauptschuldige ist Gerhard Schröder.
Weiter habe ich gelernt, daß die Rede der Ministerin mit Wahlkampf nichts zu tun haben soll. Ihre Rede soll auch nichts mit dem verzweifelten Versuch zu tun haben, sich aus der politischen Verantwortung zu stehlen.
Anknüpfend an die Diskussion über die heutige Lage möchte ich sagen: Nicht nur in der Atomenergiepolitik, sondern auch in der Atomtechnik scheint nichts unmöglich zu sein. Es wurde uns jahrelang verkündet, bei dem Castor-Behälter handele es sich um ein mehrfach geprüftes, unbedingt sicheres System. Jetzt heißt es, es handele sich um ein tonnenschweres Ungetüm aus Stahl. Plötzlich lernen wir, Frau Ministerin, daß dieses tonnenschwere Stahlungetüm sozusagen weint und schwitzt. Jetzt passieren Dinge, die zu dem Schluß führen, daß es sich nicht um ein sicheres System handelt, sondern um ein System, bei dem es mehrfach zu erheblichen Überschreitungen der gesetzlichen Grenzwerte für Strahlenexpositionen gekommen ist. Dies war ganz offensichtlich den Betreibern, aber auch den Behörden bekannt, wurde aber von ihnen verschwiegen. Genau über diesen Fall reden wir heute.
Der Castor-Skandal steht für den Irrweg der deutschen Energiepolitik. Es ist nicht der erste Skandal, mit dem wir hier zu tun haben. Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf. Sie waren damals, in der Zeit vor der deutschen Einheit, noch nicht im Deutschen Bundestag. Der Transnuklear-Skandal hatte exakt dieselbe Struktur. Diejenigen, die das Geschäft schon länger kennen - egal, auf welcher Seite -, werden sich daran erinnert fühlen, daß auch damals die Probleme hinsichtlich einer Risikotechnologie, wie sie gefährlicher nicht sein kann, auf höchst menschliche Art und Weise - mit Hilfe von Schmiergeldern, Bordellbesuchen und vor allen Dingen mittels des Verschweigens der Risiken - gelöst wurden. Das war damals der Transnuklear-Skandal.
- Entschuldigung, dazu wurde ein entsprechender Untersuchungsausschuß eingerichtet. Wenn Sie des Lesens fähig sind, können Sie ja die Protokolle nachlesen. Darin ist alles genau aufgeschrieben worden.
Frau Ministerin, die heutige Situation erinnert mich auch an den 17. Dezember 1987, als beim Wiederanfahren von Biblis A der Primärkreislauf wegen eines klemmenden Ventils von der Mannschaft - gegen alle Sicherheitsmaßnahmen, die in den Betriebshandbüchern beschrieben waren - geöffnet wurde. Erst fünf Jahre danach kam dieser Störfall über den Umweg Amerika an den Tag. Es wurde damals geschwiegen, aus demselben Grunde, aus dem heute wieder geschwiegen wurde, nämlich weil man die Atomenergie nach wie vor als sichere Energie dar-
Joseph Fischer
stellen wollte. Deshalb hat man vertuscht und getäuscht.
So war es auch beim Castor. Da müssen Sie es sich schon gefallen lassen, daß Ihnen die Verantwortung dafür zugeschoben wird. Auch beim Castor war es doch Angela Merkel, die an erster Stelle immer gesagt hat: „Wir ziehen das durch" und die immer verkündet hat, es gebe keine radiologischen Einwände, es gebe keine Sicherheitsbedenken, die nicht geprüft worden seien. Von wegen Entsorgungssicherheit!
Ich sage Ihnen, Frau Ministerin - dafür mache ich das Geschäft lange genug, und da geht es mir nicht um eine einfache Schuldzuweisung;
ich weiß, wie schwierig es werden wird, die ganze Sache hier aufzuarbeiten und vor allem die praktischen Probleme zu lösen, wenn Sie im September als Regierung abtreten -: Die Erfahrung zeigt, daß das noch nicht das Ende des Verschweigens und Vertuschens war.
Der erste große Vorwurf, den wir Ihnen machen müssen, ist Ihre Vertrauensseligkeit gegenüber der Atomwirtschaft.
Lesen Sie doch mal in einer grünen Zeitung, nämlich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom heutigen Tage, was dort über Ihr Verhältnis zur Atomwirtschaft steht. Ich zitiere:
Wer als Minister mit einer solchen Industrie zu tun hat, verdient keine Vorwürfe, sondern Mitleid. Wie soll er, kann er eine Behörde führen, die immerzu Offenheit und Transparenz predigt, beim Einlösen dieses Versprechens aber auf die Mitwirkung und die Zuarbeit einer Branche angewiesen ist, die von Offenheit und Transparenz aus guten Gründen nicht viel hält? Um sich in einer derartigen Gesellschaft zu Tisch zu setzen, braucht man lange Löffel: längere offenbar, als Angela Merkel sie besitzt.
Nun kommen Sie - das kenne ich schon von Ihrem früheren Kollegen Töpfer - mit dem beliebten Spiel: die Länder. Erst ist der Fischer schuld, dann ist der Schröder schuld, und dann sind die Länder schuld. Angela Merkel, die in den letzten Tagen wie ein begossener Atompudel dastand, verkündet jetzt: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts und trage keine Verantwortung dafür. - Die Länder sind also plötzlich schuld. Da mache ich Ihnen einen einfachen Vorschlag - ich habe ihn vorhin schon gemacht -: Lassen Sie uns gemeinsam einen Untersuchungsausschuß einrichten! Uns fehlt die Mehrheit. Beantragen Sie
ihn! Sie untersuchen Fischer, wir untersuchen Merkel, unter denselben Bedingungen.
Ich habe überhaupt kein Problem damit, mich sofort darauf einzulassen. Aber so einfach, daß Sie die Schuld jetzt den Ländern zuweisen, wird es nicht gehen. Sie kennen genau die Zuständigkeiten.
Mein zweiter Vorwurf: Sie versuchen gegenwärtig, sich aus der politischen Verantwortung herauszustehlen. Sie meinen, bundespolitische Verantwortung gebe es nicht, sondern Sie könnten sie bei den Ländern ablegen. Ich sage Ihnen folgendes, Frau Merkel: Sie sind doch diejenige, die gegenüber den Ländern in einem solchen Maße mit Weisungen gearbeitet hat, daß Ihr Vorgänger, Professor Töpfer, nachgerade als Waisenknabe erscheint.
Jedesmal, wenn ein Land aus dem betreiberfreundlichen Gesetzesvollzug - mein dritter Vorwurf -
ausscheren will, kommt eine Weisung aus Bonn. Biblis A wäre schon längst stillgelegt, wenn Sie es nicht mit einer Weisung weiter am Netz halten würden. Sie wissen genau, warum: weil es den Sicherheitserfordernissen von der Baukonstruktion her nicht entspricht, die heute Stand der Technik in der Bundesrepublik Deutschland sind. Das muß man auch als Befürworterin oder Befürworter der Atomenergie sehen.
Sie wissen ganz genau, welchen Streit, welche Auseinandersetzung und welche Konflikte wir um Hanau hatten. Bei Hanau haben wir, nachdem wir die Regierung damals übernommen haben, festgestellt, daß dort die Genehmigungen von der Firma Siemens selbst erarbeitet wurden und die zuständige Behörde unter CDU-Führung nur noch ihr Signum daruntergesetzt hat. Realität war, daß die Originalakten teilweise noch bei der Betreiberin lagen und ähnliche Dinge mehr. Das zeigt das ganze Ausmaß von damals.
Und in dieser Kontinuität steht der gegenwärtige Skandal der Verquickung von Politik mit den Interessen der Atomwirtschaft. Das ist der vierte Punkt, den wir Ihnen vorwerfen.
Da kann ich Ihnen beim besten Willen nicht den Vorwurf ersparen, daß Sie eine Politik der Erfüllungsgehilfenschaft gegenüber den Interessen der Atomwirtschaft betreiben. Denn wo bleibt denn jetzt die Ent-
Joseph Fischer
schuldigung von Angela Merkel bei den friedlichen Demonstranten?
- Nein, hören Sie sich das einmal an. Ausgerechnet Sie, Herr Grill, der Mister Gorleben persönlich. Sie kommen mir gerade recht! Sie sollten sich doch besser als Abgeordneter der Firma Cogema begreifen.
Das sage ich Ihnen, wissend um den Vorwurf, den ich hier erhebe.
- Herr Bundeskanzler, wenn Sie finden, das sei unerträglich, dann sage ich Ihnen: Unerträglich ist die Verquickung der Interessen der Atomwirtschaft und das, was wir in diesem Zusammenhang mit diesem Herrn in der Vergangenheit erlebt haben. Das ist unerträglich!
Nein, meine Damen und Herren, nein, Herr Bundeskanzler, wir werfen Ihnen hier Erfüllungsgehilfenschaft vor, mangelnde Distanz. Wie ist es denn möglich, frage ich Sie, daß einer der wichtigsten Abteilungsleiter in dieser Frage, Dr. Hohlefelder, bei der Firma Veba eingestellt wurde, nachdem er aus dem Dienst der Bundesregierung ausgestiegen ist, wo er auch für Energiepolitik zuständig war? Was sind das für merkwürdige Verknüpfungen? Ist auch das unmöglich, Herr Bundeskanzler? Hat das etwas mit der Sache zu tun, oder hat es mit der Sache nichts zu tun? Das zeigt nicht zum erstenmal - ich wiederhole: Transnuklear, Biblis, jetzt der Castor-Skandal - das Ausmaß von Verfilzung in Deutschland zwischen Aufsichts- und Genehmigungsbehörden auf Bundesebene und der Atomwirtschaft. Damit muß Schluß sein. Das ist die Konsequenz, die wir aus dem CastorSkandal zu ziehen haben.
Frau Ministerin, wenn Sie es ernst meinen, warum dann nicht neben der GRS ein unabhängiges Institut, das über jeden Zweifel erhaben ist? Warum berufen Sie nicht das Öko-Institut als Gutachter?
- Sehen Sie, das genau wollte ich haben, Herr Bundeskanzler. Allein die Erwähnung des Namens „Öko-Institut" führt zu dieser Reaktion, weil Sie genau wissen: In dem Moment, in dem die Desinformationspolitik von Kraftwerksbetreibern und Bundesaufsicht durchstoßen wird, ist es mit der Entsorgungssicherheit vorbei, in dem Moment sind die Atomkraftwerke dicht.
Untersuchungsausschuß? Jederzeit und gerne und sofort!
Der entscheidende Punkt ist jedoch: Wir diskutieren hier bereits über die Abwicklung des nuklearen Abenteuers.
Nehmen Sie die letzte Erklärung von Herrn Farnung, dem Vorstandssprecher von RWE Energie, zur Grundlage! Er erklärt klipp und klar: Eine neue Reaktorlinie ist viel zu teuer, ist nicht wettbewerbsfähig. Das heißt, was wir hier diskutieren, ist doch nur noch eine Verzögerung. Anstatt endlich mit konkreten Ausstiegsschritten Ernst zu machen, mit Schritten eines Umstiegs auf eine von einem breiten Konsens getragene atomenergiefreie Energiezukunft, blockieren Sie dies weiter.
Aus all diesen Gründen, die ich vorgetragen habe, müssen Sie, wenn Sie den Begriff der politischen Verantwortung ernst nehmen, zurücktreten, Frau Merkel. Daß Sie das nicht tun werden, ist mir völlig klar. Die gewaltige Regierungsumbildung des Bundeskanzlers ist schon zu Ende. Da haben Sie noch einmal Glück gehabt; sie beschränkte sich auf den Regierungssprecher. Die Abteilung Schmutz wird jetzt noch nachgereicht. Aber wenn politische Verantwortung einen Sinn macht, müssen Sie zurücktreten.
Darüber hinaus müssen wir uns endlich von dieser nicht verantwortbaren Energieerzeugungsform Atomenergie verabschieden und den Ausstieg aus ihr und den Einstieg in eine atomenergiefreie Zukunft organisieren.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte gerne vorab eine Bemerkung machen: Wenn so etwas stattgefunden hat und wenn ein solcher Vorgang in die Öffentlichkeit geraten ist, dann ist es nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht der Opposition hier im Deutschen Bundestag, zu untersuchen und auch anzuprangern, wenn es entsprechendes Regierungsversagen gibt. Aber ich möchte auf der anderen Seite klar sagen: Das, was beide Redner der Opposition bislang vorgetragen haben, war ziemlich dünne Suppe.
Sie haben nichts anderes vorgetragen als persönliche
Ehrabschneidungen gegenüber einem Kollegen der
Dr. Guido Westerwelle
CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Herr Fischer, auf Ihre Rede paßt das Wort von Goethe:
Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, Was ihm an Wahrheit ... fehlt.
Im übrigen hat die Atomindustrie in bezug auf die Sicherheit des Castor-Behälters nicht die Wahrheit gesagt. Wer die Unwahrheit sagt, zerstört Vertrauen, und wer Vertrauen zerstört, schafft Angst bei den Menschen. Ich finde, daß die Opposition der Versuchung widerstehen sollte, mit dieser Angst der Menschen parteipolitische Vorteile erzielen zu wollen.
Die Freie Demokratische Partei hat diese Debatte beantragt, lange bevor Sie aufgewacht sind. Dies zeigt nur, Herr Kollege Fischer: Wenn Rotgrün die Wahl gewinnt, dann wird nur eines besser: die Opposition.
Es besteht die dringende Notwendigkeit, meine Damen und Herren, diese Fälle aufzuklären.
- Ich freue mich sehr, Herr Kollege, daß sich die Aufregung über Ihre Rede jetzt so weit gelegt hat, daß Sie wieder Platz nehmen können. - Ich möchte sagen: Es wäre die Aufgabe des Deutschen Bundestages, zu untersuchen - das müssen wir tun; deswegen reden wir hier darüber -, wer in der Energiewirtschaft Unterlassungen begangen und Dinge verschwiegen hat. Wir sind der Meinung, daß diejenigen in der Atomwirtschaft, die Angaben verschwiegen haben, eine persönliche Verantwortung tragen. Diejenigen, die in der Atomwirtschaft Verantwortung dafür tragen, daß verschwiegen wurde, diejenigen, die in den Vorstandsetagen Dinge unter den Teppich kehren wollten, müssen ihren Hut nehmen. Sie können nicht mehr als persönlich zuverlässig gelten. Deswegen ist auch eine rechtliche Prüfung erforderlich, meine Damen und Herren.
Wir sagen als F.D.P., daß es aus unserer Sicht genügend Anlaß gibt, in ein Verfahren einzutreten, das die Zuverlässigkeit der Atomwirtschaft und ihrer Vertreter überprüft. Die Zuverlässigkeit ist gerade in diesem Bereich von herausragender Bedeutung. Wer verschweigt und vertuscht, dem fehlt diese Zuverlässigkeit, der kann nicht weiter tätig sein.
Die Bundesumweltministerin hat den Vorgang in ihrem Bereich unmittelbar aufgeklärt. Sie hat damit der Klarheit und der Wahrheit den Vorrang vor politischem Kalkül gegeben.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, der Bundesumweltministerin vorwerfen, sie
habe es zu verantworten, daß ihr die Atomwirtschaft Informationen verschwiegen hat, dann zeigen vier Finger der gleichen Hand auf Sie zurück. Denn wenn Sie Frau Merkel vorwerfen, sie habe nicht gewußt, was die Atomwirtschaft verbockt hat, dann müssen Sie Ihren Umweltministern - an der Spitze Joschka Fischer - den gleichen Vorwurf machen. Dann hat er genauso versagt wie die Ministerin, von der Sie jetzt politische Konsequenzen verlangen.
Im übrigen ist es schon ein starkes Stück, der Ministerin vorzuwerfen, sie sei für die Atomenergie, deswegen habe sie nicht genügend Distanz zur Kontrolle der Atomwirtschaft.
Der Verteidigungsminister ist auch für die Bundeswehr. Trotzdem erwarte ich von ihm, daß er die Bundeswehr kritisch kontrolliert. Die Innenminister sind hoffentlich für die Polizei; aber ich erwarte gerade deswegen von ihnen, daß sie der Polizei kritisch auf die Finger schauen, wenn sich diese nicht an Recht und Gesetz hält, was Gott sei Dank die Ausnahme ist.
Die Atomministerin ist für die Kernenergie. Das nimmt ihr jedoch gewiß nicht die Fähigkeit, nach Recht und Gesetz Aufsicht zu führen.
Ich finde es im übrigen auch sehr bedauerlich, daß Sie allen Ernstes eine Diskussion darüber initiieren wollen, was bei den Castor-Transporten stattgefunden hat.
Die friedlichen Demonstranten gegen den Castor sind von keinem Redner der Koalition jemals kritisiert worden.
Kritisiert haben wir diejenigen, auch aus den Reihen der Fraktion der Grünen, die zur Gewalt gegen Sachen, nämlich zur Schienendemontage, aufgerufen haben.
Wenn Sie die Unsicherheit von Castor-Transporten kritisieren, dann können Sie nicht allen Ernstes sagen, das Zersägen von Schienen im Rahmen von Castor-Transporten sei ein Beitrag zur Erhöhung der Sicherheit. Es ist absurd, was Sie dazu vorgetragen haben.
Wer wie Sie den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie fordert, der muß dann genauso die ökologi-
Dr. Guido Westerwelle
sche Abwägung im Blick auf die anderen Energiegewinnungsformen vornehmen. Wer den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie fordert, der muß ebenso wenigstens über die Entsorgung dessen sprechen, was bislang angefallen ist. Auch diese Antwort bleiben Sie schuldig,
weil Sie es vorziehen, parteipolitisch auf der Welle der Empörung zu surfen, anstatt zur Lösung der Probleme beizutragen.
Wir als Freie Demokratische Partei sagen: Was vortuscht worden ist, muß transparent gemacht, muß vorgetragen werden. Die Politik hat einen Auftrag zur Transparenz. Wir begrüßen, daß die Vorgänge durch die Umweltministerin an die Öffentlichkeit gekommen sind. Die Konsequenzen werden uns noch lange beschäftigen. Es werden rechtliche und organisatorische Konsequenzen sein. Aber aus diesem Mißbrauch der Energiewirtschaft kann ganz gewiß nicht der Schluß gezogen werden, die neoromantische Umweltpolitik von Rotgrün sei für Deutschland der Weg in das 21. Jahrhundert.
Ich weiß, Sie sind der Meinung, daß die Energieversorgung im Grunde genommen eine Sache ist, die aus der Steckdose kommt.
Sie sind bis heute nicht in der Lage, einen abschließenden vernünftigen Vorschlag für die Energiegewinnung in Deutschland vorzulegen.
Ihre Redezeit!
Sofort, mein letzter Gedanke.
Denn wir müssen in einem Energiemix berücksichtigen, daß jede Form der Energiegewinnung nicht ohne Risiko ist. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, die Risiken zu minimieren. Das ist die Aufgabe des Deutschen Bundestages. Seine Aufgabe ist es nicht, in der Bevölkerung Ängste zu schüren.
Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann - das ist richtig, Herr Westerwelle - diese Debatte nicht führen, ohne über Atomenergie an sich zu sprechen. Sie haben soeben erklärt, daß jede Form von Energiegewinnung Risiken in sich birgt. Jede Form von Industrie birgt Risiken in sich; jede Form von Verkehrssystem birgt Risiken in sich. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen der Nutzung von Atomenergie und anderen Risikotechnologien und Produktionszweigen. In der Regel sind solche Risiken beherrschbar, das heißt vom Ausmaß und den Folgen her kontrollierbar. Selbst die schlimmste Flugzeugkatastrophe ist zum Beispiel vom Ausmaß her begrenzbar.
Genau das ist bei der Atomenergie nicht der Fall. Das ist die große Sorge der Bevölkerung.
Wenn es hier je zu einem wirklich schlimmen Unfall kommt, ist niemand von uns - auch nicht die heute Regierenden - in der Lage, die Folgen abzuschätzen, zu begrenzen und irgendwie beherrschbar zu gestalten. Das ist der Unterschied zu allen anderen Formen der Energiegewinnung.
Ich weiß, daß es zum Beispiel in Bergwerken schlimme Unfälle mit höchst tragischen Folgen gegeben hat. Aber auch das blieb immer begrenzt, so tragisch es war. Das ist bei der Atomenergie nicht der Fall, wie wir zum Beispiel aus der Ukraine wissen und wie wir das für kein einziges Kraftwerk mit der letzten notwendigen höchsten Sicherheit ausschließen können. Das ist das Grundproblem, um das es hier geht.
Angesichts dessen sage ich: Mehr Vorsicht ist immer angebrachter, als im wirtschaftlichen Interesse bestimmter Leute zu sagen „Durch durch das Risiko" und einfach zu hoffen, daß nichts passieren wird. Jeder und jede hier hofft, daß nichts passiert. Aber wenn es passiert, kann niemand dafür letztlich die Verantwortung übernehmen. Sie ist überhaupt nicht zu übernehmen, weil sie durch niemanden vertretbar ist. Deshalb brauchen wir den Ausstieg aus der Atomenergie. Alternativen dazu müssen gefördert und entwickelt werden.
Die Mittel für die Erforschung der Solarenergie sind übrigens ständig gekürzt worden. Allein bei der Gestaltung des Haushalts trägt die Bundesregierung eine hohe Verantwortung, weil dies nämlich zum Ausdruck bringt, in welcher Richtung sich die diesbezügliche Energiepolitik gestalten soll. Es liegt doch, Frau Bundesministerin Merkel, im Interesse zum Beispiel der Atomlobby, wenn man die Mittel zur Erforschung der Solarenergie kürzt, weil sie dann weiß, daß sie mit der Atomenergie länger Profit betreiben kann und daß es länger dauert, bis ausreichende Alternativen zur Verfügung stehen.
Oder wie sieht es mit der Diskussion über die Subvention der Kohle aus? Das geht doch in dieselbe Richtung, nämlich alle anderen Energieformen stärker zu diskreditieren als die Atomenergie, obwohl gerade sie die gefährlichste von allen Energiegewinnungsformen ist.
Dr. Gregor Gysi
Frau Bundesministerin, es kann sein, daß Sie über viele Einzelheiten nicht informiert worden sind; das will ich gar nicht in Zweifel ziehen. Aber wissen Sie, was mich stört? Sie haben früher mit einer Überzeugung und einer Hundertprozentigkeit davon gesprochen, daß die Transporte sicher sind, und stellen sich heute hier hin und sagen zum Beispiel, alle wüßten - nicht: gehen davon aus, sondern: wüßten -, daß die Transporte nach Ahaus und Gorleben nie ein Gefährdungsmoment enthielten, daß es dort nie eine Kontamination und eine Überschreitung der Grenzwerte gab. Ich frage Sie: Woher wissen Sie das denn? Es sind doch dieselben Quellen, auf die Sie sich früher gestützt haben und die sich vor kurzem als falsch erwiesen haben.
Können wir nicht einmal lernen, in der Politik vorsichtiger zu formulieren? Weshalb müssen wir immer so formulieren, als wüßten wir die Dinge hundertprozentig? Warum haben Sie den Demonstrantinnen und Demonstranten nie gesagt: soweit ich weiß oder nach den mir vorliegenden Informationen? Da strahlen Sie eine Sicherheit aus und sagen, Sie wüßten das alles ganz genau; es werde alles hundertprozentig kontrolliert. Es gebe keine Grenzwertüberschreitung. Es gebe keine Gefährdung. Wenn sich dann später herausstellt, daß dies falsch ist, dann ist Ihre einzige Erklärung: Ich habe es nicht gewußt, das ist mir nicht gesagt worden. - Ich meine, so kann man in der Politik Verantwortung nicht wahrnehmen. So kann man sie auch nicht tragen. Das ist der falsche Ansatz.
Im übrigen scheint es auch nicht ganz zu stimmen: Vor ein paar Jahren haben Sie mit Blick auf die Atomwirtschaft erklärt, daß beim Backen immer ein bißchen Backpulver danebenfällt, und damit auf mögliche Gefahren hingewiesen. Das Problem war Ihnen also - unabhängig von den Informationen, die Sie erhalten haben - zumindest bewußt.
Deshalb sage ich auch, was hier schon andere gesagt haben: Sie haben in den letzten Tagen viele Erklärungen abgegeben; Sie haben Pressekonferenzen gegeben. Es ist nicht so, daß man da nicht auch ein bißchen Mitleid hätte. Man weiß ja, wie schwer es in solchen Situationen ist; das ist nicht das Problem. Aber ich hätte auch erwartet, Frau Bundesministerin, daß Sie einmal eine Erklärung gegenüber den Demonstrantinnen und Demonstranten abgegeben hätten; denn sie hatten in der Sache einfach recht, und die Frau Bundesministerin hatte einfach unrecht. Sie haben eine Gefahr beschrieben, die real existierte und dessen Existenz sie bestritten hat.
Wenn man sich so irrt
und so viele andere, die man verunglimpft und kriminalisiert hat, recht hatten, dann gehört es sich, an einem solchen Tag als erstes zu sagen: Sie hatten im Prinzip - jetzt einmal ganz unabhängig von den Methoden; darüber kann man immer noch reden - recht, und ich hatte unrecht; dafür entschuldige ich mich bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der
Demonstrationen. Das wäre wirklich aufrichtig gewesen.
Das haben Sie versäumt. Das halte ich wirklich für einen schweren Fehler.
Das können Sie einfach nicht leugnen. Es stimmt auch nicht, Herr Westerwelle, was Sie hier gesagt haben, nämlich daß nur diejenigen, die dabei Gesetze überschritten hätten, kritisiert worden seien. Soll ich Ihnen einmal sagen, was Bundesinnenminister Kanther am 9. Mai 1996 pauschal über alle diese Demonstrantinnen und Demonstranten gesagt hat: „Unappetitliches Pack, Politchaoten und Gewalttäter". Das war seine Bezeichnung für Menschen, die auf Gefahren in dieser Gesellschaft aufmerksam machen wollten und die damit recht hatten.
Die meisten von denen waren völlig friedlich.
Jetzt frage ich Sie: Von wem ging die größere Gefahr aus, von diesen Demonstranten oder von den Transporten? Jetzt wissen wir: von den Transporten.
Die Grenzwertüberschreitungen betrugen zum Teil das Dreitausendfache des Zulässigen. Das ist doch keine Bagatelle, über die man hier einfach hinweggehen kann.
Ich sage ein Weiteres: Sie sagen, die entsprechenden wissenschaftlichen Diskussionen waren Ihnen nicht bekannt. Ich zitiere hierzu nur einen, Herrn Professor Schlich, den Erfinder des Castors.
- Moment! Daß jemand, der ein bestimmtes Transportsystem erfindet, von diesem auch etwas versteht, ist doch nicht völlig abwegig. Deswegen hätte man doch auch einmal zuhören können, als er etwas gesagt hat.
Er hat etwas ganz Einfaches gesagt, nämlich daß bei einem längeren Transport Wasser verdunstet und daß dann, wenn das Wasser verdunstet, Radioaktivität frei wird und das eine beträchtliche Gefahr sei. Eine so einfache, selbst mir als physikalisch eher ungebildetem Menschen einleuchtende Logik
will man im Bundesumweltministerium nicht zur Kenntnis genommen oder nicht nachvollzogen haben. Das hängt eben mit folgendem zusammen: Wenn Sie eine innere Verteidigungshaltung gegenüber dieser Wirtschaft haben, wenn Sie ständig Essen mit diesen Vorständen veranstalten, dann fühlt man sich denen so verbunden, daß man innerlich
Dr. Gregor Gysi
jede Kritik und jede Gefährdungsbeschreibung abblockt.
Das ist in der Politik immer gefährlich.
Deshalb meine ich, es wäre wirklich besser, hier würde eine Entfilzung in jeder Hinsicht stattfinden.
Nun gibt es den Antrag der Grünen auf Ablösung der Ministerin.
- Rücktritt, ja. - Herr Fischer, lassen Sie mich dazu zwei Bemerkungen machen. Wir werden nicht dagegen stimmen. Warum ich aber nicht richtig begeistert bin, will ich Ihnen erklären.
Erstens. Woher nehmen Sie denn überhaupt Ihre Hoffnung, daß der Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl danach jemanden zum Bundesminister oder zur Bundesministerin berufen wird, der in irgendeiner Hinsicht besser wäre, was die Kontrolle der Atomwirtschaft anbelangt? Diese Hoffnung habe ich nicht.
Zweitens. Wissen Sie überhaupt, was uns das kosten würde? Ich gehe davon aus, daß alle Minister am 27. September weg sind. Wenn wir jetzt einen neuen Minister berufen, müssen wir diesen nachher auch noch abfinden. Das ist den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern eigentlich nicht zuzumuten. Dann halte ich es diese drei Monate lieber noch aus.
Damit ich aber nicht in den Ruf komme, Frau Bundesministerin Merkel zu unterstützen - was ihr persönlich auch ungeheuer schaden würde - werde ich Ihrem Antrag trotzdem zustimmen.
Ich gebe dem Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist für mich eine einmalige Chance, dem Abgeordneten Gysi einmal recht zu geben. Deswegen bin ich ans Rednerpult gekommen. Er hat mit Recht die Erwartung ausgesprochen, daß ich dem Antrag auf Ablösung der Kollegin Merkel nicht zustimmen werde.
Die Gründe sind eindeutig: Sie ist eine ausgezeichnet arbeitende Ministerin.
Sie hat in ihrer Amtszeit Großartiges geleistet. Sie genießt international höchstes Ansehen.
Sie hat im Gegensatz zu einer Reihe derer, die hier nur Sprüche geklopft haben, in Kioto Hervorragendes für den Umweltschutz geleistet. Sie ist sehr wohl in der Lage, ihre Aufgabe in jeder Weise verantwortlich wahrzunehmen.
Es ist schon ein ziemlich mieses Spiel, in einer solchen Debatte - bei aller Leidenschaft in Wahlkampfzeiten - einer Persönlichkeit vorzuwerfen, sie sei Erfüllungsgehilfe irgendwelcher Interessen, nur weil man mit der Politik nicht übereinstimmt.
Herr Abgeordneter Fischer, wenn Sie es unbedingt wollen, dann haben Sie die Gelegenheit, in einem Ausschuß, dessen Einsetzung Sie herbeiführen können, über die Arbeit dieser Umweltministerin im Bund und der Minister in den Ländern das Notwendige in Erfahrung zu bringen. Da Sie sich auf den Weg gemacht haben, mit den Sozialdemokraten in diesem Hause und - wie wir in diesen Tagen erlebt haben - auch mit der PDS Mehrheiten zu bilden: Bilden Sie doch eine Mehrheit auch in diesem Ausschuß!
Sie haben Furcht, weil Sie die Wahrheit scheuen.
Sie wissen genauso gut wie ich und jeder auf der sozialdemokratischen Bank - von Herrn Gysi will ich hier nicht sprechen -, daß die Bundesministerin in dieser Sache ihre Pflicht getan hat. Sie ist zu Recht darüber empört, daß die Verantwortlichen in diesem Bereich der Industrie ihre Pflicht nicht getan haben.
Wir sind sehr wohl bereit, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Das ist heute sehr deutlich geworden.
Aber man sollte nicht den Andersdenkenden in einer so billigen Form als Erfüllungsgehilfen bezeichnen. Wenn dies zur Regel würde, dann fiele mir zu den Namen, die in diesen Tagen im Rahmen einer neuen Regierungsbildung genannt werden, eine ganze Menge zum Thema Erfüllungsgehilfe ein.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
- Der Abgeordnete Struck weiß am besten, wen ich meine. Wenn Sie das so wollen, können wir das machen.
Unser Stil ist das nicht.
Jedenfalls will ich hier ausdrücklich sagen, daß die Kollegin Merkel ihre Pflicht in hervorragender Weise erfüllt hat
und daß die Vorschläge, die sie heute eingebracht hat, auch umgesetzt werden. Im übrigen müssen Sie sich daran gewöhnen: Sie wird auch am Ende dieses Jahres noch ihr Ressort innehaben.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Anke Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler ist ja artig, wenn er seine Ministerin schützen will.
Aber wenn das alles war, was Sie zu dem für mich politisch unbegreiflich schwierigen Thema „Wie gehen wir mit Atomenergie und ihrer Entsorgung um?" zu sagen haben, dann habe ich den Verdacht: Sie haben etwas gewußt, und Ihre Nähe zu den Atomkraftwerksbetreibern ist größer, als wir bisher vermutet haben.
Folgendes möchte ich gerne hinterfragen: Der Bundeskanzler rühmt sich immer seiner guten Kontakte zur Wirtschaft. Wer sagt mir eigentlich, daß er nicht auch sehr gute Kontakte zur Atomwirtschaft hat? Wer sagt mir eigentlich, daß er nicht viel früher gewußt hat, daß es Probleme bei den Transporten gibt? Also stellen Sie sich hier nicht hin und tun Sie nicht so naiv, Herr Bundeskanzler. Sie haben Dreck am Stecken, was diese Dinge betrifft.
Aber ich wollte mich eigentlich zu diesem Thema ganz anders äußern.
Ich will Frau Merkel bescheinigen, daß sie ganz tapfer kämpft. Aber es bleibt folgender Vorwurf: Daß sie
die friedliche Nutzung der Kernenergie bejaht, ist der Kern ihres Problems. Sie will das durchsetzen; sie will die Probleme nicht wahrhaben. Ich erinnere mich noch an die Energiekonsensgespräche. Sie sind daran gescheitert, Frau Merkel, daß Sie und Herr Rexrodt ein Bekenntnis zum weiteren Ausbau der Atomenergie wollten und nicht bereit waren, mit uns zusammen die praktischen Probleme der Entsorgung zu lösen. Deswegen ist es falsch, wenn Sie, die Sie die friedliche Nutzung der Kernenergie bejahen, hier so tun, als ob Sie nicht der Kern des Problems wären.
Ich bin mit der Bejahung der friedlichen Nutzung der Atomenergie groß geworden. Ich kann viele der von Frau Merkel geäußerten Sätze nachvollziehen. Auch sie ist mit der Bejahung von technischem Fortschritt groß geworden. Aber sie kann die Debatte, die in unserer Gesellschaft gelaufen ist, nicht so ganz nachvollziehen.
Sie hat im Grunde nicht mitbekommen, was viele Sozialdemokraten davon überzeugt hat, den Ausstieg aus der Kernenergie zu wollen, nämlich die Tatsache, daß jahrelang abgegebene Versprechungen der Wissenschaft und der Atomkraftwerksbetreiber, sie würden das Problem der Entsorgung lösen, nicht gehalten wurden. Das Problem der Entsorgung ist nicht gelöst; deswegen müssen wir aus der Nutzung dieser Energie aussteigen. Das ist meine tiefste Überzeugung.
- Die Entsorgungsfrage ist nicht gelöst, Herr Kollege. Transporte lösen das Problem nicht. Bei der Erzeugung von Kernenergie fallen abgebrannte Brennstäbe an. Es kann doch nicht angehen, daß wir diesen Müll durch Europa kutschieren müssen, weil sich die Atomkraftwerksbetreiber nicht in der Lage sehen, vor Ort für eine regionale Lagerung zu sorgen. Das ist doch das Problem.
- Ich bin nicht das Problem. Ich werde dafür sorgen, daß wir aus der Kernenergie aussteigen, weil die Probleme der Entsorgung nicht zu lösen sind.
Wir werden nach dem 27. September die Energiekonsensgespräche wieder aufnehmen und als erstes die Frage der sicheren Entsorgung lösen. Dann werden wir ein Konzept erarbeiten, wie wir langfristig aus der Kernenergie aussteigen. Darüber müssen Sie mit mir nicht diskutieren. Sie sind nicht bereit, zuzugeben, daß die Frage der Entsorgung der abgebrannten Brennstäbe nicht gelöst ist. Das ist der Kern unserer Auseinandersetzungen. Deshalb sind wir über-
Anke Fuchs
zeugt, daß wir aus der Nutzung dieser Energie aussteigen müssen.
Frau Merkel hat gesagt, wir wollten ein Wahlkampfthema. Wahlkampfthemen haben wir eigentlich genug.
Unser Regierungsprogramm liegt vor. Wir wollen die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Frau Merkel, Sie tun gerade so, als hätten wir dafür gesorgt, daß die Behälter leck sind, um das Thema im Wahlkampf verwenden zu können. Das ist wohl ein bißchen überzogen.
Richtig ist aber, daß die Frage der Gefährdung durch diese Energie von Ihnen unterschätzt wird, weil Sie an der friedlichen Nutzung der Kernenergie festhalten. Das ist Ihr großer Fehler und läßt jene Kompetenz und Sorgfalt vermissen, derer es bei diesem Thema eigentlich bedürfte. Jede Pommesbude wird geschlossen, wenn das Fett zu lange gebraucht wird. Aber bei der Kernenergie lassen wir einfach zu, die Anlagen weiter zu betreiben, obwohl das Problem der Entsorgung der Brennstäbe nicht gelöst ist und bei den Transporten gefährliche Strahlung ausgetreten ist. Das kann doch so nicht weitergehen.
Sie sagen „Stopp der Transporte" - vier Monate vor der Bundestagswahl. Am liebsten aber würden Sie doch die Entsorgungspolitik wie bisher betreiben und Castor-Behälter weiter beladen. Das halten wir für unverantwortlich.
Nun haben Sie einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt. Das ist ja alles ganz ordentlich aufgeschrieben; das finde ich auch durchaus akzeptabel. Aber die zehn Punkte lesen sich für mich wirklich wie ein Schulaufsatz auf dem Küchentisch. Da heißt es dann:
Bei den Meldewegen müssen die aufgetretenen Mängel beseitigt werden.
Donnerwetter!
Es muß sicher sein, daß bei Transporten Kontaminationen, wo und wann auch immer sie auftreten und gemessen werden, allen zuständigen Behörden mitgeteilt werden.
Das ist Teil eines Zehn-Punkte-Plans einer Ministerin, die die Frage beantworten muß, wieso bei Transporten mit abgebrannten Brennelementen nach Frankreich Strahlung austreten konnte. Angesichts dessen einen solch lapidaren Kram aufzuschreiben, halte ich für unter dem Niveau einer Bundesministerin, die für dieses schwierige Gebiet zuständig ist.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß die Atomkraftwerksbetreiber Fehler gemacht haben. Ich akzeptiere auch, daß Sie jetzt sagen, vor dem 24. April haben Sie nichts gewußt. Ich glaube Ihnen das schon, aber wiederhole, was ich am Anfang gesagt habe: Es gibt so viele Kontakte und Gespräche, und dennoch will keiner etwas gewußt haben, sollen in keinem Gespräch irgendwelche Anmerkungen gemacht worden sein. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.
Um das gleich aufzugreifen: Wenn auch die Länder Fehler gemacht haben, dann werden wir Sozialdemokraten dafür sorgen, daß auch diese Fehler auf den Tisch kommen.
- Natürlich. Ich werde an die von uns gestellten Landesregierungen appellieren, die Genehmigung für weitere Transporte zu entziehen, wenn Fehler gemacht wurden und Vertuschungspolitik betrieben wurde. Dieses Problem ist viel zu gefährlich, als daß sich jemand aus der Verantwortung stehlen könnte - sei es der Bund oder seien es die Länder. Wenn der Bundeskanzler hier Frau Merkel beredt in Schutz nimmt, dann bleibt bei mir der Verdacht: Angesichts seiner guten Kontakte zur Wirtschaft hat er mehr gewußt, als wir bisher geahnt haben.
Nun haben sich - das fand ich das Tollste - die Atomkraftwerksbetreiber entschuldigt, so als ob es damit getan sei, vor der Regierung einen kleinen Knicks zu machen und zu sagen: Tut mir leid, da ist etwas schiefgelaufen. - Ich finde, das ist ein unbeschreibbares Maß an Unverschämtheit.
Dann lassen sie noch verlautbaren, sie hätten die politische Bedeutung verkannt. Umgekehrt wird doch ein Schuh daraus: Sie haben gewußt, wie brisant dieses Thema ist, und sie wußten, welche politischen Konsequenzen es hat, wenn die Informationen weitergegeben werden. Sie wußten, daß diese Information, auf die Tagesordnung des Parlaments gebracht, die ganze Debatte um die Atomenergie wieder aufwärmt. Das wollten sie doch gerade vertuschen. Deswegen haben sie doch die Informationen nicht weitergegeben. Das ist Vertuschung seitens der Atomkraftwerksbetreiber.
Ich sage es Ihnen noch einmal - das ist auch in den Diskussionen klargeworden -: Niemand von Ihnen kann sich hier hinstellen und zackig sagen, wir sind für die friedliche Nutzung der Kernenergie. Dazu müßten Sie mir die Frage beantworten können: Wie halten wir es denn nun mit den abgebrannten Brennstäben? Was soll denn damit passieren? Sollen wir denn so weitermachen, daß wir die Transporte durch die Lande juckeln lassen - wieder nach Gorleben, damit Sie dort Ihren Auftritt haben, Herr Kollege Grill?
Nein, meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: Wir steigen aus der Kernenergie aus; denn ich kann nicht sehen, wie das Entsorgungsproblem gelöst werden wird.
Deswegen werden wir sorgfältig darauf achten, welche Informationen wir bekommen. Wir werden darauf achten, wie es sich mit den Meldepflichten verhält.
Anke Fuchs
Ich komme noch einmal auf das Verhältnis der Regierung zu den Atomkraftwerksbetreibern zurück. Ich erinnere mich daran, daß wir vor zehn Jahren das Bundesamt für Strahlenschutz und Reaktorsicherheit eingerichtet haben, weil Herr Töpfer damals alle Informationen bei sich haben wollte. Er sagte, wir müssen aufpassen, daß bei der gefährlichen Atomenergie nicht so viele Fehler gemacht werden. Was hat dieses Bundesamt eigentlich die letzten zehn Jahre gemacht? Wo sind eigentlich die Informationen hingeflossen? Das Ergebnis ist auch ein Versagen dieser Regierung, die davon ablenken will, daß sie nicht genügend Sorgfalt darauf verwendet hat, die Lösung des Transport- und Entsorgungsproblems wirklich voranzutreiben.
Deswegen finde ich es auch - wie soll man das am besten sagen? - nicht hinnehmbar, daß die Atomwirtschaft sagen kann: Es gibt ja keine gesetzliche Meldepflicht, und deswegen müssen wir nichts unternehmen. Ist das eigentlich die Moral von Gemeinsamkeit in unserem Land? Kann eine Industrie, die ganz genau weiß, wie groß die Ablehnung dieser Technologie ist, wie gefährlich die Nutzung dieser Energie ist und daß das Problem der Entsorgung nicht gelöst ist, wirklich sagen: Wir rühren uns nur nach Gesetzeslage? Es ist ein Verfall der Werte in unserem Land und ein Verfall der Zusammenarbeit zwischen Regierung und Wirtschaftsvertretern, wenn wir es durchgehen lassen, daß die Atomkraftwerksbetreiber sagen: Wir erfüllen unsere Pflicht, und dabei belassen wir es. Ich würde es wirklich sehr bedauern, wenn wir jetzt ein Gesetz erlassen müßten, das eine Meldepflicht einführt.
Das ist ein Armutszeugnis unserer ganzen Atompolitik. Deswegen ist es an der Zeit, daß wir unsere Konzepte einbringen. Nach dem 27. September werden wir uns dieses Themas so annehmen, daß dessen Brisanz erkannt wird, daß die gesellschaftliche Akzeptanz wiederhergestellt wird und daß der Streit um die Nutzung der Kernenergie aufhört.
Vielen Dank.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, es mag ja sein, daß die Lautstärke der Zurufe in einem inneren Zusammenhang mit der Lautstärke der Rede steht.
Aber wenn beides so laut wird, daß man dem Redner
nicht mehr zuhören kann, dann ist das nicht in Ordnung. Ich glaube, wir sollten uns etwas zurückhalten.
Dieses vorausgeschickt gebe ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Kollegin Fuchs, Sie sind ja eine erfahrene Politikerin. Deshalb schaffen Sie es, ganz dramatisch zu werden, wenn es um die Verantwortung von Frau Merkel geht, und ganz sanft zu werden, wenn es um die Verantwortung der von Ihrer eigenen Partei gestellten Landesminister geht.
Ganz sanft werden Sie da und lassen Zuverlässigkeit prüfen.
Ich sage Ihnen einmal noch etwas anderes, das mir heute vormittag aufgefallen ist. Da wacht man auf, Herr Bundeskanzler, liest Zeitung und sieht eine Liste der Hoffnungsträger der SPD.
Frau Kollegin Fuchs, für Umwelt, Bildung und Forschung ist künftig die Frau Kollegin Bulmahn vorgesehen.
Sie hat eine Zeitlang zugehört; es ist für sie vielleicht auch ganz interessant. Ich muß aber schlicht feststellen: Weder Sie noch Herr Müller sind im Konzept des Bundeskanzlerkandidaten der SPD vorgesehen.
- Doch! - Wir diskutieren heute mit der alten Garde der SPD, und Frau Bulmahn, die Hoffnungsträgerin, hört zu. Das ist ganz interessant.
Meine Damen und Herren, ich habe noch eine Vorbemerkung zu machen. Ich habe heute im Umweltausschuß um 12.40 Uhr kurz den Saal verlassen, um zu telefonieren. Im Saal hat der Kollege Lennartz für die SPD Fragen gestellt, und vor dem Saal hat der Kollege Müller Fragen beantwortet. Er wollte gar nicht wissen, was Frau Merkel im Umweltausschuß gesagt hat.
Herr Kollege Müller, Sie haben vergessen, sich bei der Umweltministerin dafür zu entschuldigen. Ihr Verhalten, Herr Müller, gehört sich nicht.
Ich habe noch eine Vorbemerkung zu machen. Es wurde uns immer wieder eine gewisse Nähe zu der sogenannten Atombranche unterstellt. Erstens bekenne ich mich dazu. Ich bin Anhänger der friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Zweitens weise ich jeden Verdacht zurück, daß ich ein Spezi von Vorstandsetagen bestimmter Energieversorgungsunternehmen bin. Ich habe dafür auch meinen Grund, Herr Kollege Müller. Wir haben im bayerischen Wackersdorf die Polizei eingesetzt, um einen Zaun zu verteidigen; aber diejenigen, deren Anlage dort gebaut werden sollte, hatten sich schon
Dr. Gerhard Friedrich
verabschiedet. Seitdem habe ich ein gewisses Mißtrauen gegenüber einzelnen dieser Branche.
Deren wirtschaftliche Interessen sind Ihnen wichtiger als der politische Schaden, den sie immer wieder anrichten.
Wir sind keine Spezis; aber wir haben zu einzelnen Personen und zu einzelnen Firmen Vertrauen. Das entscheiden wir ganz individuell nach unseren persönlichen Erfahrungen.
Der Kollege Fischer hat sich darüber aufgeregt, daß wir ihn für diese Dinge verantwortlich machen. Sie hätten sagen müssen: teilweise verantwortlich machen.
Das eine wissen Sie ja: Für die Kontrollen der CastorBehälter beim Verlassen eines Kernkraftwerks sind die Länder verantwortlich.
Als früherer Atomminister von Hessen haben Sie einige Jahre lang die Verantwortung dafür getragen, daß Castor-Behälter ausgelaufen sind, die in Frankreich eine hohe Strahlenbelastung aufwiesen -
nicht in Deutschland, sondern in Frankreich.
Auf Ihre Vorwürfe gegen Frau Merkel, sie hätte von den Grenzwertüberschreitungen wissen müssen, sage ich Ihnen - Sie waren ja nicht im Umweltausschuß, Sie können es nicht wissen -: Heute hat sich herausgestellt, daß die Mitarbeiter im Bundesumweltministerium von diesen Grenzwertüberschreitungen keine Kenntnis hatten. Einige Länderministerien, auch das von Ihnen früher geführte hessische Atomministerium, hatten dagegen sehr wohl Kenntnis davon.
Deshalb waren Sie, Herr Kollege Fischer, viel näher dran - nicht nur weil Frau Merkel früher in einem anderen Teil Deutschlands gelebt hat.
Herr Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schütz?
Sofort, aber zuvor möchte ich noch meine Ausführungen zum Kollegen Fischer zu Ende führen.
Herr Kollege Fischer, Sie haben wahrscheinlich noch nicht gemerkt, daß Sie noch ein großes Stück Verantwortung für die Castor-Transporte tragen. Wir waren dafür - auch im Bundestag habe ich jahrelang dafür gekämpft -, Wiederaufarbeitung im bayerischen Wackersdorf durchzuführen. Sie haben diese Anlage mit den Müllers zusammen erfolgreich bekämpft. Die derzeitigen Castor-Transporte ins Ausland liegen unter anderem in der Verantwortung von Joschka Fischer.
Herr Fischer, Sie haben gefragt: Warum hat der frühere Abteilungsleiter Hohlefelder das Bundesumweltministerium verlassen und ist zu den Energieversorgern gegangen? -
- Herr Fischer, so naiv sind Sie doch nicht. Der wird dort besser bezahlt.
Es gibt auch noch einen zweiten Grund. Ich habe zu den Beamten im Bundesumweltministerium ständig Kontakt. Diese Leute sagen: Die üblen Verdächtigungen der Grünen und der Sozialisten halten wir langsam nicht mehr aus. Das ist unerträglich.
Es ist doch langsam kein Beamter mehr so blöd, für dieses miese Gehalt dauernd solche Kampagnen gegen sich zu ertragen. Das sind die Gründe, weshalb Herr Hohlefelder dieses Ministerium ziemlich erschöpft und ausgelaugt verlassen hat.
Jetzt die Frage des Kollegen.
Herr Schütz, eine Sekunde; ich möchte mir diese Zwischenbemerkung erlauben. Ich finde es nicht gut, wenn wir hier über persönliche Motive eines Beamten sprechen, den viele von uns kennen, der aber keine Möglichkeit hat, sich hier zu äußern. Man kann alle möglichen allgemeinen Überlegungen anstellen; aber es ist nicht in Ordnung, hier einen einzelnen Menschen öffentlich anzugehen, der sich nicht äußern kann. Das bitte ich doch zu bedenken.
Ich gebe nun das Wort zu einer Zwischenfrage. Bitte, Herr Kollege Schütz.
Herr Kollege Friedrich, Frau Ministerin Merkel hat von ihren Beamten einen Revers unterschreiben lassen - Sie hat das heute im Ausschuß berichtet -, wonach keiner von diesen Tatsachen gewußt habe. Sie behaupten jetzt, die Länder hätten das gewußt. Woher haben Sie die Kenntnis, daß die Länderminister davon gewußt haben? Könnte man nicht auch dort einen Re-
Dietmar Schütz
vers über diese Fragen anfordern? Woher beziehen Sie Ihr Wissen, daß Frau Merkel nichts gewußt hat und daß die Länderumweltminister in Hessen und Niedersachsen davon gewußt haben?
Herr Kollege Schütz, das Wissen habe ich, weil ich mit der Umweltministerin und ihren Beamten in den letzten Tagen mehrfach gesprochen habe. Die Umweltministerin in Bonn hat ihre Beamten befragt. Wir wissen von den Energieversorgungsunternehmen - das ist auch in den schriftlichen Berichten festgehalten -, daß sie zumindest einige Länderaufsichtsbehörden informiert haben. Frau Merkel ist nicht befugt, in Hessen dienstliche Erklärungen zu verlangen. Das muß schon der grüne hessische Umweltminister tun. Vielleicht schläft er noch, Herr Fischer.
Herr Präsident, ich darf mir erlauben, festzustellen, daß das Thema Hohlefelder vom Kollegen Fischer aufgeworfen wurde - mit einer üblen Spekulation.
Ich hatte jahrelang wöchentlich oft mehrfach mit Herrn Hohlefelder Kontakt. Das, was ich Ihnen gesagt habe, entspricht dem Eindruck aus diesen Gesprächen. Ich spekuliere nicht wie Sie, Herr Fischer.
Herr Abgeordneter Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Köhne?
Nein. Ich bitte um Verständnis, ich bin überhaupt noch nicht bei meinem vorbereiteten Text. Ich werde ihn aus zeitlichen Gründen auch gar nicht mehr vortragen können. Ich sage Ihnen nur noch zwei Dinge. Herr Präsident, ich fasse mich kurz.
Erstens. Der Sprecher der Grünen hat heute gesagt: Die Koalition hat einen Untersuchungsausschuß in dieser Angelegenheit verhindert. Ich sage Ihnen, Herr Fischer: Mit der Rechtsordnung hatten Sie schon immer Ihre Probleme.
Sie waren doch ein starker Kämpfer im Zusammenhang mit dem Frankfurter Flughafen. Das wissen wir doch noch. Jetzt sind Sie altersweise geworden.
Angefangen haben Sie einmal ganz anders.
Herr Kollege Fischer, ich empfehle Ihnen: Lesen Sie Art. 44 Abs. 1 des Grundgesetzes. Dort steht, daß auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Deutschen Bundestages ein Untersuchungsausschuß einzusetzen ist. Wenn es keinen gibt, liegt es ausschließlich daran, daß Sie und die SPD den Ausschuß noch nicht beantragt haben.
Dann habe ich noch eine allerletzte Bemerkung. Es ist wieder nicht das, was ich eigentlich sagen wollte. Wissen Sie, Herr Müller, was unser Problem ist?
Sie sagen vor der Wahl wieder einmal: Zusätzliche Vorschriften, zusätzliche Kontrollen, alles ist schrecklich. Ihr Kanzlerkandidat stellt fest, diese Umweltbürokratie ist unerträglich. All die Vorschriften, die Sie uns empfehlen, will dieser Populist Schröder streichen. Das bringt mich dazu, zu sagen: Nicht nur die Energieversorgungsunternehmen haben zur Zeit Glaubwürdigkeitsprobleme, auch die Genossen haben sie.
Danke.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Rolf Köhne das Wort.
Herr Kollege Friedrich, ich war heute mit Ihnen zusammen im Umweltausschuß und habe dort nicht vernommen, daß die Bundesumweltministerin bekanntgegeben hat, aus Gesprächen mit den Energieversorgungsunternehmen sei herausgekommen, daß Landesbehörden
von diesen Kontaminationen gewußt hätten. Anderenfalls wäre jetzt von Ihnen oder aber von der Bundesministerin selbst zu erklären, welche Ministerien aus welchen Ländern das gewesen sind. Vor allem wäre zu erklären, warum es nicht die Pflicht dieser Behörden war, das Bundesumweltministerium unverzüglich zu informieren. Diese Frage ist, meine ich, von einem ganz eminenten öffentlichen Interesse.
Herr Kollege Friedrich, Sie können darauf antworten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Information habe ich aus verschiedenen Gesprächen der letzten Tage. Wahrscheinlich hatte der Kollege Köhne keine Zeit, den schriftlichen Bericht der Umweltministerin sowie eine Sammlung von Presseerklärungen zu lesen, die mir und allen interessierten Kolleginnen und Kollegen in den letzten Tagen zur Verfügung gestellt wurden. Wenn ich die Unterlagen sofort finde, werde ich sie Ihnen im Laufe der Debatte übermitteln. Ansonsten werde ich Ihnen sofort nach Ende der Debatte per Fax die Fundstellen mitteilen, aus denen sich ergibt: Die Energieversorgungsunternehmen behaupten, sie hätten einzelne Landesministerien über die Probleme, die seit 1985 auftreten, informiert.
Dr. Gerhard Friedrich
Den Kollegen Fischer habe ich angesprochen, weil er ab 1985 für eine gewisse Zeit Atomminister in Hessen war.
Ich gebe nun der Abgeordneten Birgit Homburger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vorgänge um die radioaktiv strahlenden Transportbehälter haben - das ist hier heute mehrfach festgestellt worden - zu einer unglaublichen Verunsicherung der Menschen in Deutschland geführt. Diese Verunsicherung ist verständlich und berechtigt. Es ist, wie ich finde, unerträglich, daß es überhaupt soweit kommen konnte.
Es ist ein unglaublicher Vorgang, daß die Elektrizitätsversorgungsunternehmen in diesem Land seit Mitte der 80er Jahre davon wußten und es den aufsichtführenden Behörden nicht mitgeteilt haben. Dieser Vorgang hat eine Bedeutung, die weit über die Frage der Castor-Transporte hinausgeht und auch die Akzeptanz der friedlichen Nutzung der Kernenergie in Deutschland trifft.
Das Verhalten der Kernkraftwerksbetreiber und der Transportfirmen hat deren Glaubwürdigkeit beschädigt. Aber gerade Glaubwürdigkeit ist im Hinblick auf die Akzeptanz einer so risikobehafteten Technologie wie der Kernenergie eine der grundsätzlichen Voraussetzungen dafür, daß Vertrauen überhaupt geschaffen werden kann. Mit ihrem Verhalten ist die Wirtschaft ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie hat sich mit der Geheimniskrämerei einen Bärendienst erwiesen. Man hat fast schon den Eindruck, als wollten die EVU selbst den Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland beschleunigen.
Dieses Verhalten wird und muß Konsequenzen haben. Die F.D.P. verlangt, daß die Vorgänge lückenlos aufgeklärt werden.
Erstens. Wir müssen die wirkliche Strahlenbelastung aller Transporte ermitteln und veröffentlichen. Nach den heutigen Erklärungen im Umweltausschuß scheint es so, daß eine Gefährdung für Menschen nicht vorgelegen hat. Wir sind es den Beamten von Polizei und Bundesgrenzschutz, aber auch den Mitarbeitern der Transportfirmen jedoch schuldig, daß das wirklich mit letzter Gewißheit aufgeklärt wird.
Nur eines geht nicht, Herr Kollege Müller und Frau Kollegin Fuchs: Sie dürfen hier nicht sagen, wir würden radioaktive Gefährdungen verschweigen. - Das stimmt nicht. Vor allem Sie, Frau Fuchs, haben gesagt, Behälter seien leck gewesen. Das ist eine Fehlinformation. Es geht nicht um leckgeschlagene Behälter; es gab überhaupt keine leckgeschlagenen Behälter. Vielmehr geht es um das technische Phänomen des sogenannten Ausschwitzens. Wer so argumentiert, wie Sie das hier tun, der schürt die Ängste
der Menschen nur noch mehr. Was Sie hier machen, finde ich unzulässig.
Das Hin- und Herschieben von Verantwortung, wie es hier stattgefunden hat, sind die Leute leid. Die Leute wollen von uns keine Panikmache und auch kein Herunterreden. Die Menschen erwarten von uns Aufklärung und das Ergreifen der nötigen Maßnahmen. Genau das werden wir tun.
Zweitens. Weitere Grenzwertüberschreitungen müssen technisch ausgeschlossen werden. Solange das nicht geschehen ist, können und dürfen keine weiteren Transporte genehmigt werden. Darüber sind wir uns einig. Zu Ihrer Unterstellung, Frau Fuchs, man werde weitere Transporte vor der Bundestagswahl vorübergehend aussetzen,
obwohl man alles am liebsten unverändert weitermachen wolle, kann ich nur sagen - ich kenne Sie schon lange und schätze Sie eigentlich -: Die Rede, die Sie hier gehalten haben, war absolut unter Ihrem Niveau.
Drittens. Die betroffenen Kernkraftwerksbetreiber und die Transportfirmen müssen nicht nur organisatorische, sondern auch personelle Konsequenzen ziehen. Es darf sich nicht wiederholen, daß eine solche Information angeblich auf der mittleren Ebene steckenbleibt. Transparenz und Vertrauenswürdigkeit müssen zur Unternehmensphilosophie werden. Wer diesen Leitlinien nicht gerecht wird, der ist für verantwortliche Posten in dieser Risikobranche nicht qualifiziert.
Abschließend möchte ich, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zu Ihrem Entschließungsantrag eine Bemerkung machen. Sie bieten in diesem Antrag einen Entsorgungskonsens an. Ja, wir brauchen mindestens einen Entsorgungskonsens; eigentlich brauchen wir einen Energiekonsens.
Der Umgang mit der Risikotechnologie Kernkraft darf nicht weiter Gegenstand politischer und ideologischer Grabenkämpfe sein. Wir von seiten der F.D.P. waren immer bereit, Gespräche darüber zu führen. Aber, Frau Kollegin Fuchs: Herr Schröder hat in zwei Anläufen zur Herstellung eines Energiekonsenses von seiner eigenen Partei keine Vollmacht zum Abschluß eines solchen erhalten. Wem die eigene Partei
Birgit Homburger
eine solche Vollmacht nicht einräumt, der darf auch keine Regierungsverantwortung übernehmen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Kurt-Dieter Grill.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Fuchs, ich möchte zunächst einmal auf Ihre Argumentation eingehen. Wer in Deutschland eine solche Vergangenheit hinsichtlich des Umgangs mit Kernenergie wie die sozialdemokratische Partei unter der Regierung Schmidt hat, der sollte mit dieser Art von Vorwürfen mehr als vorsichtig umgehen.
Wer einen Kanzlerkandidaten hat, der sich über Jahre hinweg gerühmt hat, daß er zur Energiewirtschaft einen besseren Kontakt als die CDU/CSU hat, wer protzend damit durchs Land gezogen ist, daß die Energiewirtschaft auf sein Wort und nicht mehr auf das der CDU/CSU hört, der sollte mit dieser Art Polemik, mit dieser Art Diffamierung aufhören und vor der eigenen Haustür kehren.
Dem ist hinzuzufügen, daß alle norddeutschen Ministerpräsidenten, allen voran Gerhard Schröder, stillschweigend - in Vereinbarungen mit der VEBA und der Preussenelektra - darauf setzen - wenn Sie so anfangen, dann muß ich das so deutlich sagen, auch wenn es mir leid tut -, daß die Wiederaufbereitungsanlage in La Hague als Zwischenlager dient, um nur keinen Castor-Transport nach Gorleben durchführen zu müssen. So sieht die Realität aus, für die Frau Simonis, Herr Runde und Herr Schröder stehen.
Und Sie stellen sich hierhin und beschimpfen diese Umweltministerin und diesen Bundeskanzler, obwohl Sie für die Transporte nach La Hague sorgen.
Herr Müller, Sie haben behauptet, daß Frau Merkel und wir alle von der CDU/CSU nach dem Prinzip „Augen zu" vorgingen. Nach der Sitzung des Umweltausschusses heute morgen sage ich, daß bei Ihnen die Ohren zu sind, weil Sie die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen.
Frau Fuchs, in bezug auf den Standort Gorleben möchte ich Ihnen gern eines mit auf den Weg geben: Ich habe erlebt, was die Bundesregierung unter Helmut Schmidt wollte, umgesetzt und von Ernst Albrecht und den Kommunalpolitikern vor Ort verlangt hat. Sie sollten sich schämen, daß Sie diejenigen, die die Aufgabe der Entsorgung vor Ort ernst nehmen, vor diesem Parlament in einer solchen Art und Weise beschimpfen.
Außerdem möchte ich Ihnen, Frau Fuchs, sagen: 1990 hat Johannes Rau von dieser Bundesregierung, von Bundeskanzler Helmut Kohl und seinem damaligen Umweltminister Klaus Töpfer verlangt, schnellstmöglich einen Beschluß, den die rotgrüne Regierung in Niedersachsen - auch die Grünen! - mitgetragen hat, für die Errichtung eines Endlagers für nicht wärmeentwickelnde Abfälle und für zentrale Zwischenlager zu fassen.
Sie haben überhaupt keine Veranlassung, dieser Bundesregierung vorzuwerfen, sie ginge mit dem Thema unsensibel und konzeptionslos um, weil wir gemeinsam mit Ihnen 1990 solche Beschlüsse gefaßt haben. Fassen Sie sich an die eigene Nase, bevor Sie uns beschimpfen!
Als letztes, meine Damen und Herren, möchte ich sagen: Mich erschüttert, daß Sie in anderen politischen Fragen in Deutschland Rationalität und Vernunft einfordern und uns vorwerfen, wir würden die Ängste der Menschen schüren. Sie haben in diesen Tagen hemmungslos wider bessere Erkenntnis Ihrer eigenen Landesbehörden Ängste geschürt. Dieses ist schriftlich dokumentiert.
Ich komme zu dem, was Herr Fischer gesagt hat. Herr Fischer, Sie sind ein Meister der Verleumdung. Ich fordere Sie hiermit auf, das, was Sie schon ein paarmal gesagt haben, außerhalb des Plenums öffentlich zu wiederholen oder mir schriftlich mitzuteilen, damit ich Sie endlich verklagen kann. Sie sind ein Verleumder, weil Sie vor diesem Parlament Behauptungen aufstellen, für die Sie keinerlei Beweise in der Hand haben.
Ich komme nun zu den Ablegern Ihrer Politik in den Ländern und will Ihnen nur zwei Dinge vorlesen, damit Sie es endlich begreifen. Frau Griefahn hat den Bürgerinnen und Bürgern in Lüchow-Dannenberg nach dem letzten Castor-Transport folgendes mitgeteilt:
Im Verlauf der Transport- und Einlagerungsvorgänge wurden auch zahlreiche weitere Messungen von verschiedenen Institutionen durchgeführt . Trotz unterschiedlicher Meßgeräte und Randbedingungen liegen die uns bekannten Meßergebnisse in einer vergleichbaren Größenordnung weit unterhalb der für die Polizeibegleitung festgelegten Grenzwerte.
Das ist der Brief aus dem Hause Griefahn.
- Doch! Hören Sie einmal zu! Das, was Sie hier behaupten, ist schlicht und einfach falsch.
Kurt-Dieter Grill
Am 19. Mai dieses Jahres haben Vertreter der Länder Saarland, Hessen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen im Länderfachausschuß Kernenergie folgende Feststellung getroffen:
Selbst bei einer hypothetisch angenommenen Inkorporation der gesamten auf einem Waggon gemessenen Aktivität durch das Transportpersonal ist die dadurch erzeugte Dosis gering. Gefahren für Mensch und Umwelt gehen von diesem Phänomen zumindest von den deutschen Transporten nicht aus.
Unterschrieben wurde dieser Bericht von Vertretern aus sechs sozialdemokratisch oder rotgrün regierten Ländern. Ich frage Sie: Wo ist der Beweis für die Vorwürfe gegen Frau Merkel?
Herr Kollege Grill, ich kann persönlich Ihre Erregung verstehen, aber ich kann in diesem Hause - Sie mögen Ihre Auseinandersetzung außerhalb dieses Hauses austragen - den persönlichen Vorwurf „Verleumder" nicht stehenlassen. Deswegen rufe ich Sie zur Ordnung.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Hans-Peter Kemper.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich an der Diskussion über Verleumdung und Nichtverleumdung hier nicht beteiligen. Ich will nur ein Wort des Kollegen Friedrich aufgreifen, der einige der Redner des heutigen Tages zum alten sozialdemokratischen Eisen gezählt hat. Ich denke, Herr Friedrich, daß auch ich dazugehöre, weil ich nicht zur neuen Riege gehöre. Ich muß aber feststellen, daß auch Sie der Ministerriege nicht angehören und damit möglicherweise zum alten Eisen der CSU gehören.
Das ist ein Glück für Sie, denn dann wird Ihnen das Wahlergebnis vom 27. September nicht so weh tun.
Frau Merkel, ich habe Ihrer Rede sehr aufmerksam zugehört und mich gefragt: Wer redet dort eigentlich? Ist das eine Oppositionskollegin oder die verantwortliche Umweltministerin?
Die heutige Debatte führen wir auf Grund der Ignoranz und Inkompetenz dieser Bundesregierung und ihrer Umweltministerin.
Es ist nicht die erste Debatte, die wir im Zusammenhang mit dieser Frage führen. Sie haben in der Vergangenheit bisher alle Warnungen in den Wind geschlagen. 'Sie haben einem Weiterbetrieb der Kernenergie das Wort geredet; Sie haben sich um die Ängste und Sorgen der Bürger nicht gekümmert; Sie haben bis heute kein Wort der Entschuldigung für die Menschen gefunden, die in Ahaus und Gorleben friedlich demonstriert haben.
Es ist verheerend, wenn sich eine Umweltministerin so eng an die Kernenergie anlehnt, wenn sie sich kritiklos auf die Seite der Kernenergie schlägt und wenn sie kein Wort zum Ausstieg aus der Kernenergie findet. Sie befürworten den Weiterbetrieb der Kernenergie und auch die weitere Durchführung von Castor-Transporten quer durch die Bundesrepublik, die der damalige Wirtschaftsminister von NordrheinWestfalen, Wolfgang Clement, völlig zu Recht als unsinnig und als politische Provokation bezeichnet hat.
Ich will mich dieser Äußerung ausdrücklich anschließen und ihn in seiner Meinung unterstützen.
Frau Merkel, Sie beziehen sich immer wieder auf die Bund-Länder-Vereinbarung aus dem Jahre 1979. Sie sollten dann ehrlicherweise aber auch sagen, daß diese Bund-Länder-Vereinbarung folgenden Punkt beinhaltet: Zwischenlagerung erst dann, wenn die Endlagerung gesichert erscheint. - Es gibt aber weltweit kein funktionierendes Endlager. Auch in der Bundesrepublik ist keines in Sicht. Das hat Sie aber nicht daran gehindert, auf diesem Wege weiterzugehen. Sie lösen das Problem auf Ihre Weise, indem Sie sagen: Ich erkläre die Endlagerung für gesichert. - Damit ist das Problem für Sie vom Tisch. Dieses Vorgehen ist typisch für die Leichtfertigkeit, mit der Sie dieses Problem behandeln. Es ist auch typisch dafür, wie unsensibel Sie mit den Ängsten der Menschen in diesem Bereich umgehen.
Ich will noch an folgendes erinnern: In der aufgeheizten Atmosphäre auf Grund der Transporte nach Gorleben haben Sie wenige Tage später erklärt: Transporte nach Gorleben sind nicht mehr durchzusetzen. Wir müssen jetzt Transporte nach Ahaus ins Auge fassen.
Im Zusammenhang mit der Aussage, niemand wolle den Kalkarer Kern haben, haben Sie erklärt: Wir müssen Ahaus als Lagerstandort für den Kalkarer Kern ins Auge fassen. - Sie haben den Menschen im Kreis Borken und den Menschen in Ahaus folgenden Eindruck vermittelt: Weil sie sich in der Vergangenheit gesetzestreu und besonnen verhalten haben, bekommen sie nun den gesamten atomaren Dreck der Bundesrepublik vor die Tür gekippt.
Wie wenig sensibel und wie uneinsichtig Sie mit diesem Problem umgehen, will ich an zwei Beispielen deutlich machen.
Herr Kollege Kemper, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Gerhard Friedrich?
Nein, jetzt nicht.
Erstes Beispiel: Sie wußten seit dem 24. April 1998 konkret um die Gefährdungslage. Sie hatten seit Ende April den Kenntnisstand, den Sie heute haben. Dennoch lag im Innenausschuß ein Antrag vor, der sich mit der Problematik der Atomenergie befaßte. In diesem Antrag wurde die Atomenergie als unverzichtbar und verantwortbar dargestellt und weiteren Transporten nach Gorleben und Ahaus das Wort geredet, obwohl Sie damals seit 14 Tagen den heutigen Kenntnisstand hatten.
Ein zweites Beispiel: Am 9. Mai hat der NRW-Tag der Jungen Union in Ahaus stattgefunden. Hauptrednerin war Angela Merkel -14 Tage, nachdem Sie den Kenntnisstand hatten, den Sie heute haben.
Allein Ihr Auftritt an diesem Ort unmittelbar nach dem Castor-Transport nach Ahaus war eine Provokation.
Aber auch dort haben Sie keinerlei Nachdenklichkeit oder Einsicht erkennen lassen; denn Sie haben auf dieser Veranstaltung in Ahaus erklärt: Menschen und Umwelt waren nicht gefährdet. Ich gehe davon aus, daß bald wieder Transporte nach La Hague gehen werden. Von Castor-Stopp, von Einsicht, von Nachdenklichkeit überhaupt keine Spur.
Ich will aber noch einen anderen Aspekt ansprechen, der bisher erst sehr wenig zur Sprache gekommen ist. Castor-Transporte haben auch Bedeutung für den Bereich der inneren Sicherheit. Viele zehntausend Beamte haben - unabhängig von ihrer persönlichen Überzeugung, unabhängig davon, ob sie für oder gegen Atomenergie, für oder gegen Transporte sind - ihren Dienst verrichtet, indem sie die Gastoren begleitet haben, über weite Strecken und sehr lange. Sie haben das getan im Vertrauen auf die Aussage der Umweltministerin: Das ist ungefährlich. Ich sage Ihnen: Diese Beamtinnen und Beamten fühlen sich von der Umweltministerin heute belogen und getäuscht.
Sie haben damit Ihre Fürsorgepflicht sträflich vernachlässigt. Sie haben die Polizei verunsichert und demotiviert. Ihre Inkompetenz ist auf dem Rücken der Polizei ausgetragen worden. Es ist nur allzu verständlich, daß die Gewerkschaft der Polizei eine Anzeige gegen Sie erstattet hat. Wenn Sie hier behaupten, es handele sich bei dieser Anzeige der GdP um eine unverantwortliche Stimmungsmache, dann kann ich Ihnen nur sagen: Unverantwortlich ist das, was Sie hier tun, nicht das, was die GdP macht.
Wir können eine demotivierte Polizei gerade in dieser Situation nicht gebrauchen. Alle reden von innerer Sicherheit. Alle reden vom subjektiven Sicherheitsgefühl der Bevölkerung. Wenn Sie in einer solchen Situation hingehen und die Polizei demotivieren und verunsichern, dann richten Sie schweren Schaden innerhalb der inneren Sicherheit an.
Es wird deutlich, daß die innere Sicherheit bei dieser Regierung und bei dieser Koalition in sehr schlechten Händen ist.
Wer so leichtsinnig mit den Gefühlen der Menschen umgeht und wer so leichtfertig einen verläßlichen Partner der Politik, nämlich die Polizei, demotiviert und verunsichert, der muß sich fragen lassen, ob er oder sie der richtige Mann oder die richtige Frau in diesem Amt ist. Sie sollten ernsthaft darüber nachdenken.
Der nächste Redner ist Dr. Klaus Lippold.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Union läßt sich in nichts, aber auch in gar nichts in der Frage der Vorsorge übertreffen. Deshalb haben wir der Frage deutlich Rechnung getragen: War eine Gefährdung für die Bevölkerung oder für die Polizei gegeben?
Jetzt zitiere ich Frau Griefahn 1997: „Diese Gefährdung hat es nicht gegeben. " Sie behaupten hier das Gegenteil. Hat Frau Griefahn damals gelogen?
Wie ist denn der wahre Sachverhalt? Sie drehen es gerade so, wie Sie es brauchen. Es gibt keine internationale Institution, die heute nicht deutlich sagt: Es gibt keine Gefährdung für die Bevölkerung, es gibt keine Gefährdung für die Begleitmannschaften, es gibt keine Gefährdung für die Polizei.
Was es gibt, sind Sozialdemokraten, die auf dieses Thema heute gar nicht eingegangen sind, weil sie ihre Vorwürfe nicht belegen können.
Es gibt Sozialdemokraten, die hier als Ministerzöglinge sitzen und nur noch Sinn dafür haben, was am 27. September passiert. Aber denen ist die Gesundheit der Bevölkerung und die Gesundheit der Polizei schnurzegal. Das ist doch der Punkt.
Dann wollen wir doch einmal sehen: Wie ist denn das Interesse der Sozialdemokraten in den Ländern? Da schaue ich hier auf die Regierungsbank und dort auf die Bundesratsbank und muß fragen: Wo sind
Dr. Klaus W. Lippold
denn Ihre Leute, die sich der Länderverantwortung in diesem Zusammenhang stellen?
Ich verstehe natürlich, daß Herr Fischer in dieser Frage die Länderverantwortung vom Tisch bringen will, denn die Aufsichtspflicht liegt in erster Linie klar und eindeutig bei den Ländern.
Jetzt zitiere ich den Kanzlerkandidaten, der zwar im Feingestreiften durchs Land geht, aber die Zuständigkeiten nicht kennt und deshalb sagt, dafür sei ausschließlich der Bund zuständig. Ich sage ganz deutlich: Ihr Kanzlerkandidat sollte sich in der Sache firm machen, bevor er dazu eine Äußerung macht.
Dann hat er gesagt, diese Bundesregierung lasse sich von der Wirtschaft über den Tisch ziehen.
Herr Lippold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Struck?
Nein. - Jetzt kommen wir zu einem ganz sensiblen Punkt: Wen kontrolliert Herr Schröder eigentlich in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen im Aufsichtsrat eines großen Kraftwerkbetreibers? Kontrolliert Herr Schröder sich selbst? Darauf möchte ich eine Antwort haben.
Kontrollierte Frau Griefahn sich selbst? Darauf möchte ich eine Antwort haben. Kontrollierte Herr Möller sich selbst? Darauf möchte ich eine Antwort haben. Denn auch der Aufsichtsrat gehört zum Unternehmen, und der Aufsichtsrat hat Verpflichtungen.
Ich möchte wissen: Was hat das neue Aufsichtsratsmitglied Schröder in seiner Verantwortung als Aufsichtsratsmitglied gemacht?
Wo hat er intern einen Auftrag vergeben, nachzuprüfen, wo Versäumnisse sind?
Können Sie belegen, daß dieser Auftrag da ist, oder können Sie es nicht? Hat er wieder einmal nur geschwätzt, und muß er in der nächsten Runde nach Ihren Interventionen wieder zurücknehmen, was er vorher gesagt hat?
Das ist doch der Sachverhalt; da entlassen wir Sie nicht aus der Verpflichtung.
Hier draußen sagen Sie, die Industrie ziehe Sie über den Tisch. Aber Sie ziehen mit der Industrie,
mit den Betreibern. Da will ich wissen: Was hat er getan? Zu welchen Ergebnissen hat das geführt? Darüber soll Rechenschaft abgelegt werden. Deshalb verstehe ich, daß Sie die Länder in diese Frage nicht hineinziehen wollen. Denn dann müßten Sie das ganz deutlich auf den Tisch legen. Aus dieser Verantwortung entlassen wir Sie nicht.
Ich sage ganz deutlich: Für mich stellt sich nicht die Frage über Frau Merkel. Für mich stellt sich die Frage, ob Aufsichtsratsmandat und Aufsichtspflicht miteinander vereinbar sind. Diese Frage will ich von Ihnen genauso beantwortet haben.
Da mauscheln Sie herum und stellen sich hier als Saubermänner hin. Das können Sie dann machen, wenn nicht ich ans Rednerpult gehe.
Solange wir hier aufpassen, kommen Sie aus der Ihnen zuzuordnenden Verantwortung nicht heraus.
Deshalb: Stellen Sie sich hier hin und sagen Sie, was in den Ländern geschehen ist! Dann können wir miteinander diskutieren. Bis dahin übernehmen wir voll die Vorsorge für die Bevölkerung und für die Polizei und sorgen dafür, daß keine Gefährdungen auftreten.
Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Struck.
Herr Kollege Lippold, wer schreit, hat unrecht; das möchte ich als erstes sagen.
Daß Ihre Fraktion Ihre Rede mit bierzeltartigem Beifall belohnt, spricht nicht unbedingt für die Qualität der Rede. Herr Kollege Lippold, Sie haben überhaupt nichts zur Sache gesagt.
Ich stelle Ihnen jetzt eine Frage: Ist Ihnen vielleicht im Eifer der feurigen Rede der Satz durchgegangen, uns Sozialdemokraten sei die Gesundheit von Polizeibeamten völlig gleichgültig
- schnurz -, und sind Sie bereit, ihn zu korrigieren? Ich will Ihnen, Herr Lippold, konzedieren, daß in einer solchen Rede, einer solchen Debatte so etwas schon einmal passieren kann. Aber dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie das gleich korrigierten. Wenn Sie allerdings dabei bleiben, dann will ich Ihnen sa-
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21796 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 237. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1998
Dr. Peter Struckgen: Wenn das die Art und Weise der Auseinandersetzung im Bundestagswahlkampf ist, dann können Sie sich auf einiges gefaßt machen.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Lippold.
Herr Kollege Struck, ich habe gedacht: Jetzt kommt ein Sozialdemokrat mit einem fundierten Beitrag. Zum erstenmal bin ich von Ihnen enttäuscht. Ich sage ganz deutlich, warum.
Wenn Sie nicht verstanden haben, was ich zur Sache gesagt habe, können wir das in einem Privatissimum gleich nachholen. Ganz wesentlich ist, daß wir die Zuständigkeiten herausgestellt haben, daß wir deutlich gemacht haben, daß keine Gefährdung für die Bevölkerung besteht, daß keine Gefährdung der Polizei vorhanden ist.
- Das ist alles zur Sache, Herr Struck.
Dann habe ich gesagt, daß Ihre Leute heute an der Diskussion, die ja von der Gefährdung ausging, überhaupt kein Interesse mehr gezeigt haben. Sie haben heute nur noch versucht, mit Informationslücken zu argumentieren - die ich persönlich geißele, Herr Struck, und zwar schärfer als Sie, denn Sie haben dies gerade nicht angesprochen. Diese Informationslücken haben nicht wir zu verantworten, sondern die, die in den Wirtschaftsunternehmen sitzen und von denen ich schon in x Interviews ganz deutlich gesagt habe, daß wir sie zur Rechenschaft ziehen werden, wenn nachgewiesen werden kann, daß sie davon gewußt und nicht gehandelt haben. Das alles ist bei Ihnen heute nicht mehr zum Tragen gekommen.
Ich sage es einmal so: Daß Sie keinen einzigen Satz zur Verantwortung der Aufsichtsratsmitglieder in den Gremien gesagt haben, ist entlarvend. Das heißt doch im Klartext, daß Sie von dieser Kernfrage ablenken wollen.
Ich verstehe das, Herr Struck. Es ist Ihre Aufgabe als Parlamentarischer Geschäftsführer, daß Sie denjenigen, der auf einen bestimmten Stuhl möchte, aber nicht dort hinkommt, in Schutz nehmen müssen. Aber Sie haben es heute in einer vergleichsweise schwachen Form getan.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/10820. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/10813. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Fragestunde
- Drucksachen 13/10757, 13/10778 -
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Walter Hirche bereit. Wir beginnen mit der Dringlichen Frage 1 des Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt:
Gedenkt die Bundesregierung der Aufforderung des österreichischen Umweltministers Martin Bartenstein nachzukommen, vor Aufnahme des Probebetriebes die Sicherheitsauflagen des slowakischen Atomkraftwerkes Mochovce zu überprüfen, dessen Bau Deutschland mit Kreditbürgschaften unterstützt hat, und von wem wird diese Überprüfung ggf. vorgenommen werden?
- Ich bitte diejenigen, die nicht mehr hier sein wollen, jetzt auch hinauszugehen. - Herr Staatssekretär!
Frau Präsidentin! Herr Kollege Dr. Lippelt, zu Ihrer Frage 1 sage ich: Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die slowakische Seite den von der Europäischen Kommission beauftragten internationalen Experten die sicherheitstechnischen Unterlagen kurzfristig zugänglich machen sollte, damit diese sich selbst ein belastbares Bild von der Sicherheit des Kernkraftwerkes Mochovce machen können. Dies steht in Übereinstimmung mit dem österreichischen Wunsch nach weiterer Aufklärung.
Im Rahmen multilateraler Zusammenarbeit, insbesondere durch das PHARE-Programm der Europäischen Union, wie auch in bilateraler Zusammenarbeit werden unter anderem von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, GRS mbH, mit der slowakischen atomrechtlichen Aufsichts- und Genehmigungsbehörde Untersuchungen und Gespräche zur Sicherheit des KKW Mochovce mit dem Ziel geführt, daß alle international für erforderlich erachteten Nachrüstmaßnahmen realisiert werden.
Zusatzfrage, Herr Dr. Lippelt.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für diese Auskunft. Weshalb hat Ihr Ministerium es bisher so erscheinen lassen, als mäßen Sie den österreichischen Bewertungen nur wenig Wert bei? Ich zitiere nur einen Satz des Sprechers Ihres Ministeriums: „Wir haben keine Veranlassung, an den sicherheitstechnischen Fortschritten zu zweifeln."
Dieser bei Ihnen möglicherweise entstandene Eindruck ist von vornherein unrichtig. Wir haben uns intensiv darum bemüht, durch bestimmte Maßnahmen konkrete Nachrüstungen zu erreichen. Hierzu hat es einen Meinungsaustausch und sehr konkrete Kooperationen mit den slowakischen Behörden gegeben. Wir haben das weniger über die Presse vermittelt, weil wir nicht den Eindruck hatten, daß sich die slowakische Seite von der intemationalen Presse beeindrucken läßt.
Zweite Zusatzfrage.
Von slowakischer Seite, nämlich vom Staatspräsidenten, sind dazu ja sehr ablehnende Äußerungen gemacht worden. Insofern bestand doch der Eindruck - dieser ist über die Presse vermittelt worden, der Ihre Erkenntnisse noch gar nicht zugrunde lagen -, daß Sie sich überhaupt nicht kümmerten. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?
Der Eindruck ist unberechtigt. Denn, Herr Abgeordneter, auch die österreichische Regierung, bei der Sie besondere Unterstützung vermuten, hat in all diesen Fragen immer wieder versucht, und zwar mit unserer positiven Resonanz, Deutschland als einen Gesprächspartner einzuschalten, der ganz offenkundig größere Einwirkungsmöglichkeiten auf die Entscheidungen der slowakischen Behörden hat. Dies geschah möglicherweise deshalb, weil wir uns weniger öffentlich, als vielmehr konkret hilfreich geäußert haben.
Herr Kollege Behrendt.
Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer Antwort soeben erwähnt, daß die GRS im Rahmen des PHARE-Programms der EU eine Untersuchung der Sicherheitsmaßnahmen durchgeführt hat, Ich habe an Sie die Frage: Wie bewerten Sie im Rahmen dieser Untersuchung die Feststellung, daß vom Betreiber von Mochovce nur 56 von 89 erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt worden sind, und würden Sie mir zustimmen, daß diese Aussage der GRS deutlich macht, daß die Bedingungen, die Deutschland an den Hermes-Kredit gestellt hat, nicht erfüllt worden sind?
Es ist ja so, daß bei diesen Feststellungen, Herr Abgeordneter, von den Punkten auszugehen ist, zu denen uns Informationen übermittelt worden sind. Es ist in der Tat richtig, daß uns zu einigen Punkten noch keine Dokumentationen vorliegen und wir deswegen die slowakische Seite aufgefordert haben, uns diese Dokumentationen zu übermitteln, weil die slowakische Seite erklärt hat, daß die entsprechenden Nachbesserungen - auch zu den Punkten, die Sie als noch nicht abgearbeitet benennen - erfolgt seien. Wir können das nicht nachprüfen, solange uns die Dokumentationen dazu nicht vollständig vorliegen.
Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, Sie haben von konkreten Maßnahmen gesprochen. Welche waren das?
Herr Abgeordneter, es hat ja im Zusammenhang mit dem ganzen Bereich der Nachrüstung und der Änderungen am KKW Mochovce viele Maßnahmen gegeben. Ich denke zum Beispiel an die Aufwärmung des Inhaltswassers des Notspeisewasserbehälters oder an neue Druckhaltersicherheitsventile. Als drittes will ich noch die Installation von Kernflutbehältern nennen. Es gibt eine Reihe von Spezialmaßnahmen, die dort ergriffen worden sind. Insbesondere ist es so gewesen, daß wir den Aufsichtsbehörden über die GRS mit Rat zur Verfügung gestanden haben. Dieser Rat ist in Teilbereichen auch angenommen worden.
Im übrigen wissen Sie, daß auch die österreichische Expertenkommission, auf die wir nachher sicherlich noch zu sprechen kommen werden, versucht hat, unseren Rat mit einzubeziehen, weil in all diesen Gesprächen deutlich geworden ist, welch herausragende Stellung - im Unterschied zu den Vorwürfen, die vorhin in der Debatte gegenüber der GRS erhoben worden sind - die GRS mit ihren Fachleuten in den Augen sowohl der Slowaken als auch der Osterreicher genießt.
Ich rufe die Dringliche Frage 2 des Abgeordneten Dr. Lippelt auf:
Welchen Stellenwert mißt die Bundesregierung der Warnung des Leiters der internationalen Expertenkommission zu Mochovce vor der Aktivierung des Reaktors bei, weil dadurch Sicherheitsmängel geschaffen würden, „die später nicht mehr oder nur noch mit enormen Kosten aufzuheben wären"?
Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter! Nach den der Bundesregierung vorliegenden Unterlagen der österreichischen Expertenkommission wird von dieser nicht behauptet, daß mit der Inbetriebnahme des Reaktors Sicherheitsmängel geschaffen werden, die später nicht behoben werden können.
In einem der Bundesregierung zugeleiteten Aide Mémoire wird um Unterstützung der österreichischen Haltung gebeten, daß die slowakische Seite die für den 20. Mai geplante erste Aktivierung des Reaktors vom KKW Mochovce verschiebt - das ist geschehen -, damit nicht - ich zitiere aus dem Aide Mémoire - „allenfalls notwendige Reparaturmaßnahmen nach der Aktivierung des Reaktors nur mit großen Problemen und unter hohen Kosten durchgeführt werden können".
Das Sicherheitsbedenken der österreichischen Experten bezieht sich in erster Linie auf eine mögliche Versprödung des Reaktordruckbehälters. Es gibt anerkannte wissenschaftlich-technische Verfahren, die beim Auftreten dieses Phänomens zur Anwendung zu bringen sind. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß diese Verfahren in vollem Umfang eingesetzt werden sollen, um die Versprödung so gering wie möglich zu halten.
Nach Ansicht der Bundesregierung sind den von der Europäischen Union beauftragten Experten die entsprechenden Sicherheitsdokumentationen von der slowakischen Seite kurzfristig zur Verfügung zu stellen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da Sie das Problem, daß dieser Reaktor keinen Berstschutz hat und daß dementsprechend Versprödungsprobleme schon eine sehr ernste Sache sind, wahrscheinlich kennen, darf ich Sie im Hinblick darauf, daß die Mochovce-Debatte schon lange läuft und der Reaktor in dieser Woche angefahren werden sollte, fragen: Warum ist die Bundesregierung nicht früher darauf aufmerksam geworden, daß man hier energisch hinterhergucken muß, und wieviel Zeit hat Ihnen die Slowakei denn jetzt zur Prüfung der Unterlagen zugesichert, das heißt, wieviel Zeit hat sie zugesichert, bevor sie den Reaktor dann doch in Gang setzt?
Herr Abgeordneter, zunächst einmal unterstreiche ich, daß wir heute in diesem Haus nicht zum erstenmal über das Thema diskutieren. Bei früheren Debatten hat es einen sehr tiefgreifenden Dissens in der Frage gegeben, wie man auf die slowakische Regierung einwirken kann, die in souveräner Entscheidung und unter Zurückweisung jeder Einmischung von außen die Probleme lösen will, die sie im eigenen Land in diesem Zusammenhang hat.
Da war die Position der Bundesregierung, im Rahmen der EBRD und des ursprünglich beantragten Kreditverfahrens über Kreditvergabe auf konkretere
Verbesserungen hinzuwirken. In Deutschland haben Sie als Partei sich daran beteiligt. International hat sich auch Österreich beteiligt. Es hat dann heftige Diskussionen gegeben. Die Slowakei hat ihren Antrag auf Kreditgewährung zurückgezogen und gesagt: Wenn ihr uns hineinreden wollt, dann finanzieren und machen wir das ganz alleine.
Deswegen haben diejenigen, die dazu beigetragen haben, daß das Kreditverfahren der EBRD gescheitert ist, ein sehr großes Stück Verantwortung daran, daß sich die Situation so entwickelt hat, wie es sich jetzt darstellt.
Die Bundesregierung hat dagegen immer versucht, durch konkrete Hilfeleistung einzuwirken - angesichts der offensichtlichen Finanzprobleme, die in diesem Zusammenhang in der Slowakei vorhanden sind, und auch angesichts des Energiebedarfs, der auf Grund der sozialen Probleme in diesem Lande gedeckt werden muß.
Ich begrüße es außerordentlich, daß die österreichische Regierung nach einer Meldung der „Süddeutschen Zeitung" vom heutigen Tage unter Änderung ihrer bis gestern eingenommenen Position nun durch Kabinettsbeschluß festgelegt hat, dem Nachbarland finanzielle Unterstützung zur Behebung der aufgetretenen Mängel anzubieten. Die österreichische Regierung geht damit den gleichen Weg wie die deutsche Bundesregierung im Zuge der Gewährung konkreter finanzieller Hilfen, um auf Verbesserungen bei der Sicherheitstechnik einzuwirken. Ich denke, daß wir auf diesem Weg erfolgreich sind.
Wir haben deswegen in der Slowakei die abschließende Dokumentation eingefordert. Ich denke, daß dies am Ende einen größeren Erfolg haben wird als die Bemühungen der internationalen Expertenkommission. Bezogen auf Ihre Frage kann ich Ihnen keinen Zeitpunkt nennen. Ich gehe davon aus, daß wir diese Dokumentation bekommen, damit unsere Besorgnisse ausgeräumt werden.
Zweite Zusatzfrage, Herr Lippelt.
Herr Staatssekretär, weil Sie so eindringlich geschildert haben, wie schwierig die Verhandlungen mit den Slowaken waren und daß es zum Abbruch der Kreditgewährung durch die EBRD kam, frage ich mich natürlich: Wie konnten Sie in dieses Geschäft überhaupt einsteigen, obwohl doch ganz klar ist, daß Sie es hier mit jemandem zu tun haben, der diktatorische Gelüste hat und sich daher auch nicht leicht reinreden läßt?
Nun haben Sie im letzten Moment das Anfahren des Reaktors noch etwas hinausgeschoben. Finden Sie nicht auch, daß Sie wirkliche Zusagen brauchen, um genügend Zeit zur Prüfung zu haben, bevor er angefahren werden soll?
Herr Kollege, ich begrüße Ihre Frage sehr,
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 237. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1998 21799
Parl. Staatssekretär Walter Hircheweil sie es ermöglicht, auf einen Punkt aufmerksam zu machen, der in anderen Zusammenhängen, etwa bei der Frage, unter welchen Bedingungen der Friedenseinsatz von Truppen erfolgt, bestimmte moralische Gesichtspunkte in ein neues Licht bringt.Zunächst einmal geht die Bundesregierung weiter davon aus, daß nicht der Abbruch von Gesprächen und die Verdammung von Gesprächspartnern, auch nicht das Fingerzeigen auf Gesprächspartner Probleme löst. Diese kann man nur im Dialog bewältigen. Wir haben die Linie über den EBRD-Kredit und auch über die Hermes-Bürgschaft - darauf komme ich noch - verfolgt, weil es dadurch konkrete Verbesserungen gibt.Ich will aber in aller Deutlichkeit sagen: Die Entscheidung, ob ein Reaktor in einem bestimmten Staat angefahren wird oder nicht, fällt nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Entscheidung trifft jeder dieser Staaten souverän für sich allein. Gerade die Staaten in Mittelosteuropa verbitten sich auf Grund der historischen Erfahrungen in diesem Jahrhundert in besonderer Weise, daß sie aus Deutschland belehrt werden. Deswegen befinden wir uns in einem ganz schwierigen Überzeugungsprozeß.Ich möchte um Verständnis dafür bitten, daß es in einer solchen Situation immer besser ist, wenigstens etwas zu erreichen, also zum Beispiel dieses Versprödungsproblem anzugehen, anstatt zu sagen: Wir klagen die Leute an; dann haben wir ein reines Gewissen, daß wir unsere Position vertreten haben; alles andere ist uns egal!Die Bundesregierung begibt sich hier in einen konstruktiven und kritischen Dialog. Möglicherweise erreichen wir am Ende nicht all das, was wir wollen. Ich glaube aber, es ist trotzdem verantwortungsbewußter, in diesen Dialog zu gehen, statt die Hände in den Schoß zu legen.
Frau Schönberger, bitte. -
Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch sagen: kurze Fragen, kurze Antworten. Ansonsten befürchte ich, daß wir diesen Komplex in einer Stunde noch nicht abgeschlossen haben.
Herr Staatssekretär, es geht nicht nur um einen Dialog mit der Slowakei, sondern auch darum, daß Sie die Fertigstellung von Mochovce über die Hermes-Kreditbürgschaften im Namen Deutschlands finanziert haben, obwohl Europa, obwohl die EBRD dies abgelehnt hat.
Sie haben gesagt: Es gibt offensichtlich Finanzprobleme in der Slowakei. Wird nicht umgekehrt ein Schuh daraus? Dieses Atomkraftwerk hätte überhaupt nicht fertiggestellt werden können, wenn es nicht die deutsche Unterstützung dafür gegeben hätte - für ein Atomkraftwerk, das keinen Berstschutz besitzt.
Frau Präsidentin und Frau Kollegin, ich weiß jetzt nicht genau, ob ich nicht schon Teile der Antwort auf Ihre Frage, die Sie gestellt haben, vorwegnehme. Aber sei es drum.
Zunächst einmal stelle ich fest: Die EBRD hat keinen Kredit abgelehnt. Vielmehr hat die slowakische Regierung vor der Entscheidung ihren Antrag zurückgezogen. Das macht schon einen kleinen Unterschied aus. Damit war uns aber die Möglichkeit der Einwirkung versperrt. Wir versuchen jetzt, über die Hermes-Bürgschaften, die an Siemens gegeben worden sind, in den Fragen der Sicherheitstechnik eine Verbesserung zu erreichen. Wir sind uns sicher, daß uns das gelingen wird.
Darüber hinaus benutzen wir dies sozusagen als Türöffner, um über alle Fragen der Sicherheit zu reden.
Ich bin wirklich erfreut darüber, daß die österreichische Regierung den Weg, den die Bundesregierung seit langem gegangen ist, inzwischen auch gehen will, weil sie sieht, daß Dialog mehr bringt als die Veröffentlichung von Interviews in Zeitungen.
Darf ich mit dem Einverständnis der anderen Fragesteller vorschlagen, daß diese Frage gleich im Zusammenhang - falls noch etwas zu ergänzen ist - beantwortet wird? Sie kommen gleich an die Reihe. Es handelt sich ja um den gleichen Kontext.
Ich rufe die Dringliche Frage 3 der Abgeordneten Schönberger auf:
Welche vertraglichen Möglichkeiten hat die Bundesregierung, vor Aufnahme des Probebetriebes die Einhaltung der Sicherheitsauflagen des slowakischen Atomkraftwerkes Mochovce durchzusetzen, dessen Bau Deutschland mit Kreditbürgschaften unterstützt hat, und beabsichtigt sie, diese Möglichkeiten auszuschöpfen?
Ich möchte eine kurze Ergänzung zu der Antwort auf Frage 3 anbringen. Die Bundesregierung glaubt, daß sie mit der Hermes-Bürgschaft insofern einen Beitrag dazu leisten kann, daß die erforderlichen Nachrüstungen im sicherheitstechnischen Bereich nach westeuropäischem Standard erfolgen können. Denn dabei geht es um die Lieferung von besonders sicherheitsrelevanter Leittechnik durch die Firma Siemens. Nach dem Scheitern des EBRD-Projekts hat sich die Bundesregierung damit angesichts der von der slowakischen Regierung beschlossenen Fertigstellung des Kernkraftwerks Mochovce für die Erhöhung der nuklearen Sicherheit in einem sehr sensiblen Bereich eingesetzt.
Die Bundesregierung hat im übrigen keine vertraglichen Einwirkungsmöglichkeiten. Bei der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der kerntechnischen Sicherheit setzen wir auf einvernehmliche Absprachen und Lösungen mit der slowakischen atomrechtlichen Aufsichts- und Genehmigungsbehörde. Wir versuchen, alles, was wir tun, mit der EU und den
Parl. Staatssekretär Walter Hirche
entsprechenden Gremien dort abzustimmen, weil wir glauben, daß wir mit dieser Vorgehensweise unserem Ziel, mehr Sicherheit, näherkommen. Denn die EU wird ja irgendwann einmal über einen möglichen Beitritt der Slowakei entscheiden müssen.
Frau Schönberger.
Habe ich Sie bei Ihrer Antwort richtig verstanden, daß es keine Möglichkeiten gibt, über Regelungen - welcher Art auch immer - im Rahmen der HermesBürgschaften die Aufnahme des Probebetriebes zu verhindern, bevor nicht die Sicherheitsauflagen, die ja mit den Hermes-Bürgschaften verknüpft waren, erfüllt sind? Und: Gilt dies gleichzeitig für die Abschaltung von Bohunice? Das heißt: Sind wir jetzt in einer Situation, daß schon Gelder geflossen sind und wir auf das Goodwill der Slowakei angewiesen sind, daß also eine eventuelle Nicht-Abschaltung von Bohunice nicht verhindert werden kann?
Ich darf darauf hinweisen, daß die Erteilung der grundsätzlichen Zusage für eine Hermes-Dekkung, die im Mai 1996 erfolgt ist, an die schriftliche Erklärung von Siemens gebunden war, wonach der Sicherheitsstandard im Rahmen des jetzigen Projektkonzepts dem seinerzeitigen, unter Mitwirkung der GRS erstellten - aber nicht verwirklichten - EBRD-Konzept entspricht. Anläßlich der Unterzeichnung des Kreditvertrages im Mai 1996 hat der damalige slowakische Wirtschaftsminister Ducky - das zu dem zweiten Teil Ihrer Frage - die Absicht seiner Regierung bekräftigt, die Blöcke I und II des Kernkraftwerkes Bohunice nach einem Jahr zuverlässigen Betriebs von Mochovce abzuschalten. In bezug auf diese Position ist Ende März dieses Jahres beim G-
24-Meeting noch einmal bestätigt worden, daß die Slowakei zu ihrer Erklärung von früher steht.
Wir nehmen das zur Kenntnis. Wenn Regierungsvertreter das erklären, haben wir auch keine Veranlassung, daran zu zweifeln. Denn das würde uns im Dialog und in unserem Bestreben, auf Grund von Sicherheitsinteressen Einwirkungen vorzunehmen, nur zurückwerfen. Wir werden die Entwicklung abwarten müssen.
Ich will noch einmal ganz klar sagen: Die Bundesrepublik Deutschland hat keinerlei Möglichkeiten, einem anderen Staat in vertraglichen Beziehungen vorzuschreiben, was diesbezüglich zu passieren hat. Wenn wir die Hermes-Bürgschaft zurückziehen würden - was gar nicht mehr geht, also nur hypothetisch angenommen -, wäre ein Weniger an Sicherheit die einzige Konsequenz. Ich glaube nicht, daß es einen Abgeordneten in diesem Hause gibt, der der Bundesregierung empfiehlt, weniger an Sicherheit anzustreben, als möglich ist.
Sie haben die Möglichkeit einer zweiten Zusatzfrage. Ich darf Sie noch einmal darum bitten, sich kurz zu fassen.
Sie haben ausgeführt, die Hermes-Bürgschaften zurückzuziehen, gehe gar nicht mehr. Außerdem hätten Sie keinen Anlaß, an den Erklärungen der Regierung zu zweifeln. Das sei dahingestellt! Das heißt de facto: Auch wenn Mochovce in Betrieb geht, ohne daß die Sicherheitsauflagen erfüllt sind, und Bohunice nicht nach einem Jahr abgeschaltet wird, gibt es keine Möglichkeit, die Hermes-Bürgschaft zurückzuziehen. Habe ich Sie da eben richtig verstanden?
Frau Kollegin, das geht schon vom Verfahren her gar nicht. Wenn eine Bürgschaft gegeben wurde, dann wird sie zu einem bestimmten Zeitpunkt fällig. Sie verkennen da die Sachverhalte.
Viel wichtiger ist mir, in diesem Zusammenhang noch einmal festzuhalten, daß - entgegen dem, was in der Frage 2 von Herrn Dr. Lippelt so zweideutig formuliert worden ist - auch die österreichische Expertenkommission, jedenfalls nach dem Zwischenbericht, der uns gestern abend übermittelt worden ist, nicht von nicht behebbaren Sicherheitsmängeln ausgeht. Vielmehr seien die Mängel nachträglich nur „mit Problemen und zu hohen Kosten" zu bereinigen. Das ist ein Unterschied zu der Annahme, die Sicherheitsmängel seien sozusagen unüberwindbar.
Wir bemühen uns im Dialog mit der slowakischen Seite, daß bestimmte Maßnahmen - ich habe das ausgeführt: das ist aus Aspekten der Sicherheit sinnvoll und liegt, wie wir meinen, durchaus auch im wirtschaftlichen Interesse der Betreiberseite - jetzt vorgenommen werden und nicht erst nach Anlaufen des Betriebes.
Zunächst Herr Behrendt.
Ich habe eine Zusatzfrage zu der Frage 2 und eine zu der Frage 3.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Bedeutung des österreichischen Gutachtens zur Neutronenversprödung des Reaktordruckbehälters so ein bißchen heruntergespielt. Ist Ihnen bekannt, daß die österreichische Sicherheitskommission mit ihren Erkenntnissen - daß diese Neutronenversprödung ein ernstes Problem für Mochovce darstellt - durchaus nicht alleine dasteht, sondern schon im Dezember 1994 in einem Bericht eines deutsch-französischen Expertenteams die Forderung erhoben wurde, die Neutronenstrahlenbelastung von Betriebsbeginn an wirksam herabzusetzen? Schon damals wurde diese Forderung von den Betreibern des Kernkraftwerkes in Mochovce nicht aufgegriffen. Inzwischen liegen neue Sicherheitsberechnungen vor, nach denen sich dieses Problem im Vergleich zu den Erkenntnissen aus dem Jahre 1994 um ein Vielfaches verschärft hat.
Herr Kollege, ich habe ausdrücklich be-
Parl. Staatssekretär Walter Hirche
stätigt, daß auch die Bundesregierung in dem Thema der Versprödung der Behälter ein langfristiges Problem sieht. Es verbietet sich mit Blick auf die Zeit, in die Sache tiefer einzusteigen. Nur soviel: Versprödungsgefahr bedeutet in diesem Zusammenhang, daß Materialien, die - ich sage das vereinfacht - auf eine Betriebszeit von 40 Jahren ausgelegt sind, schon nach 20 Jahren, also der halben Betriebszeit, bestimmte Ermüdungserscheinungen aufweisen. Diese Mängel lassen sich durch Nachglühen, also mittels zusätzlicher Maßnahmen, beheben, oder man trifft gleich zu Beginn bestimmte andere Maßnahmen.
Wir würden immer empfehlen, möglichst zu Beginn Maßnahmen zu treffen; denn die Kosten, die im Laufe des Prozesses auftreten, sind nicht geringer, wenn man sie auf das Ganze umrechnet. Aber es entstehen keine Sicherheitsprobleme dadurch, daß der Reaktor jetzt angefahren wird. Vielmehr entstehen sie wegen der Versprödung in einem bestimmten Zeitpunkt. Das leugne ich in keiner Weise. Im Gegenteil: Das ist ein Gesprächsthema, und es ist - da kann man den Bericht der Österreicher durchaus unterstreichen - sozusagen der zentrale Punkt, über den wir uns auch weiter unterhalten werden.
Darf ich gleich meine Zusatzfrage zu der Frage 3 anschließen?
Wir gehen in der Reihe der Wortmeldungen jetzt weiter. Wir werden diesen Komplex gleich abschließen müssen.
Herr Kubatschka.
Herr Staatssekretär, Sie weisen darauf hin, daß die Versprödung ein langwieriges Problem ist: Das ist es bei jedem Kernkraftwerk. Die Schwierigkeit ist, daß wir den Zeitpunkt, zu dem die Stabilität des Sicherheitsbehälters durch diese Versprödung am Ende ist, nicht kennen. Aber wie wollen Sie dann dieses Problem jetzt lösen? Heißt das, daß Sie jetzt den Sicherheitsbehälter - Entschuldigung, nicht Sie, aber die Betreiber - vor Ort durch Nachglühen der Stähle und so weiter behandeln? Das ist ja abenteuerlich.
Herr Abgeordneter, ich bin Ihnen im Interesse unseres Dialogs erst einmal sehr dankbar, daß Sie sich selber korrigiert haben. Man muß gerade dann, wenn man im internationalen Geschäft ist, aufpassen, daß nicht Halbsätze falsch ankommen.
Zur Sache selber: Ich bin kein Techniker und kann Ihnen zu den Einzelheiten nichts sagen.
- Das ist in diesem Fall ein Pluspunkt für Sie. - Ich will nur soviel sagen: Es gibt ja bestimmte Maßnahmen, die man auch zu Beginn, ohne daß man auf dieses Nachglühen zugreifen muß, ergreifen kann. Die GRS befindet sich im Dialog mit der slowakischen Behörde darüber, wann diese Maßnahmen ergriffen
werden, damit die Dinge eben nicht erst in ferner Zeit, wenn das Problem konkret auftreten könnte, sondern in einem früheren Zeitraum angegangen werden. Ich bin gern bereit, Sie in einer Zusatzinformation auch schriftlich darüber zu informieren, was sich da denken läßt. Aber ich bitte um Verständnis - auch um einem Techniker gegenüber nichts Falsches sagen zu müssen -, daß ich das jetzt nicht im Detail ausführen möchte.
Herr Lippelt.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir widersprechen, wenn ich sage, daß ich nach all dem, was ich von Ihnen gehört habe, zu der genau entgegengesetzten Interpretation komme? Meciar lehnte EBRD-Kredite ab. Siemens war sehr interessiert, trotzdem zu liefern. Sie sicherten das durch Hermes-Bürgschaften ab. Das bedeutet aber, daß Sie sich in die Gefahr mit Herrn Meciar und seinem Atomkraftwerk hineinbegaben, während Sie vorhin doch sagten, daß bei der bekannten engen Kassenlage für die slowakische Seite ein Problem bestand. Weshalb haben Sie Siemens überhaupt so hilfreich unter die Arme gegriffen, statt den Reaktor zu verhindern?
Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß die Hermes-Bürgschaft von Siemens dazu führt, die Leittechnik, das heißt den Sicherheitsbereich des Kraftwerks nach westeuropäischem Standard deutlich zu verbessern. Wenn das Geld nicht zur Verfügung gestellt worden wäre, wäre das nicht passiert. Es wäre eine Technik zur Anwendung gekommen, die wir für sicherheitsbedenklich halten. Ich stelle nur fest, daß seitens der Fraktion der Grünen jetzt eine Forderung kommt, kein Bundesgeld für die Verbesserung der Sicherheit im Kraftwerksbereich zu geben, mit einer Begründung, Herr Lippelt, über die ich Sie noch einmal nachzudenken bitten würde.Die slowakische Regierung hat sich aus - wie sie uns sagt - sozialen oder Arbeitsplatzgründen und wegen der Notwendigkeit, Energie für Wirtschaftsprozesse bereitzustellen, für den Bau dieses Kraftwerks entschieden. Wir hätten das vielleicht anders gemacht, aber das ist nicht unsere Entscheidung; die Slowakei ist ein souveräner Staat. Jetzt sagen Sie, wir sollten sie in der Situation, in der sie sind, alleine lassen und sozusagen in ihrem Saft schmoren lassen. Die Bundesregierung versteht internationale Zusammenarbeit gerade unter den Prinzipien von Rio, in denen wir nachhaltige Entwicklung als den Dreiklang der Prinzipien sozial, wirtschaftlich und ökologisch bezeichnet haben. Dann kann man sich nicht zurücklehnen und sagen: Wir lassen sie ganz allein, sollen sie sehen, was sie machen. Vielleicht verhungern sie dann, oder sie kommen nicht zurecht.
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21802 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 237. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1998
Parl. Staatssekretär Walter HircheDas ist eine Moral, die wir nicht akzeptieren und nicht mitmachen.Wenn nicht bei uns, wird sie sich anderswo Geld besorgen. Dann wird dort eine faule Technik benutzt, während wir hier durch eine Hermes-Bürgschaft unter Nutzung der Erfahrungen der Firma Siemens ein Stückchen Verbesserung erreichen können. Hierbei ist mir der Spatz in der Hand immer noch lieber, als wenn überhaupt nichts zur Verfügung steht. Ich bin sehr gern bereit, an Hand dieser Frage einmal über die Moral in der internationalen ökologischen Zusammenarbeit, in der Entwicklungszusammenarbeit zu diskutieren.Ich wundere mich sehr, Herr Lippelt, daß Sie sich diesen Argumenten bisher angeschlossen haben. Wir kennen uns nun schon einige Zeit. Daher habe ich trotzdem die Hoffnung, daß Sie nach Abwägung der Argumente übermorgen vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Man muß helfen, wo man kann, wenn man die Sicherheit verbessern kann. Deswegen die Bundesregierung anzugreifen, weil sie etwas für mehr Sicherheit in Europa tun will, ist eine erstaunliche Fortsetzung der Debatte, die wir eben über die Castor-Transporte geführt haben.
Ich sage gleich, daß ich nur noch die Frage von Herrn Köhne zulasse. Wir haben jetzt eine halbe Stunde über diesen Komplex diskutiert. Nach der Beantwortung dieser Frage wird er beendet. Herr Köhne.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen eigentlich nicht klar, daß zwar einerseits die Firma Siemens Leittechnik liefert, die zur Sicherheit dient, daß andererseits aber ohne diese Leittechnik das Atomkraftwerk überhaupt nicht betreibbar ist und daß es daher rein technisch gesehen sehr wohl die Möglichkeit gibt, über Siemens Druck auszuüben, um die Nichtinbetriebnahme dieser Leittechnik zu erzwingen oder zumindest einzufordern, daß diese Sicherheitsprüfungen so wie gefordert stattfinden können?
Herr Kollege, es gibt viele Kraftwerke auf der Welt, die ohne die Siemens-Technik laufen. Es gibt solche Kraftwerke, die erhebliche Sicherheitsrisiken bergen. Das wäre auch hier das Ergebnis gewesen, wenn wir die Hilfe verweigert hätten. Ich denke, daß wir hier verantwortlich gehandelt haben und deswegen, weil wir geholfen haben, eine Chance haben, die Sicherheitsmängel, die wir heute noch sehen, mit dem Ziel, sie abzustellen, weiter zu beheben. Das ist - so hoffe ich immer noch - das Interesse des ganzen Hauses.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Ich komme jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft.
Die Frage 1 des Abgeordneten Hans Wallow wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zu Frage 2: Ich höre gerade, daß die Abgeordnete Faße nicht anwesend ist. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Entschuldigen Sie, Herr Staatssekretär Kolb. Herzlichen Dank fürs Hiersein.
Ich komme nun unmittelbar zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Beantwortung erfolgt durch die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Sabine Bergmann-Pohl.
Ich rufe Frage 3 des Abgeordneten Hans Büttner auf:
Hält es die Bundesregierung nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes über das Gesundheitswesen vom 28. April 1998 noch für zulässig und sinnvoll, daß deutsche Krankenkassen die Erstattung der Kosten für Arzneimittel verweigern, die von zugelassenen Ärzten verschrieben werden und in einem EU-Land zugelassen sind und dort gekauft werden können?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Büttner, das im Vertrag von Amsterdam ausdrücklich vereinbarte Prinzip der Subsidiarität beläßt den Mitgliedstaaten uneingeschränkt die Kompetenz, ihre Systeme der sozialen Sicherheit selbst zu organisieren. Diesem haben Bundestag und Bundesrat mit überwältigender Mehrheit zugestimmt.
Nach Auffassung der Bundesregierung bleibt es zur Zeit im Verhältnis zu den anderen EU-Staaten bei der Weitergeltung der Verordnung 1408/71 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und der Selbständigen, da die Urteile spezielle Luxemburger Fälle betrafen. Die Verordnung sieht vor, daß die Krankenkasse die Erbringung von Leistungen im anderen EU-Staat genehmigen kann. Eine darüber hinausgehende Übertragung der EuGH-Urteile auf die soziale Krankenversicherung bedarf wegen der möglichen globalen Gefährdung insbesondere der Steuerungsfähigkeit und Finanzierbarkeit dieses sozialen Sicherungssystems nach Auffassung der Bundesregierung einer sorgfältigen Prüfung.
Das Bundesministerium für Gesundheit hat mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen, den Tarifpartnern, den Leistungserbringern sowie den Aufsichtsbehörden die Frage der Übertragbarkeit der beiden EuGH-Urteile auf die gesetzliche Krankenversicherung erörtert. Die große Mehrzahl der Beteiligten war sich in diesen Gesprächen darin einig, daß eine Übertragung der EuGH-Urteile auf die deutsche gesetzliche Krankenversicherung rechtlich nicht zwingend ist. Sie würde im übrigen grundsätzliche Fragen der sozialen Krankenversicherung aufwerfen.
Herr Kollege Büttner.
Darf ich aus Ihrer Antwort schließen - Sie haben gesagt, dieses EuGH-Urteil gebe nun den Krankenkassen die Möglichkeit,
Hans Büttner
Kosten für Medikamente, die im europäischen Ausland zugelassen sind, zu erstatten -, daß sich Krankenkassen bei der Ablehnung der Finanzierung in solchen Fällen, in denen die Medikamente für einzelne lebensnotwendig werden können, nun nicht mehr darauf berufen können, daß dies gesetzlich nicht zulässig ist, sondern es jetzt im Ermessen der Krankenkassen liegt, ob sie so verfahren wollen oder nicht?
Herr Kollege Büttner, meine Aussage der Möglichkeit der Genehmigung einer Krankenkasse für die Erbringung einer Leistung in einem anderen EU-Staat hat sich nicht auf das EuGH-Urteil bezogen, sondern auf die Verordnung, die ich Ihnen vorgelesen habe. Diese Verordnung bezieht sich darauf, daß jemand, der sich zum Beispiel in einem anderen EU-Land befindet und akut krank wird, dort auch eine medizinische Versorgung im Rahmen des Sachleistungsprinzipes erhält. Darauf bezieht sich diese Verordnung. Das EuGH-Urteil berührt diesen Gegenstand nicht unmittelbar.
Eine weitere Zusatzfrage. Nach den mir bekannten Bestimmungen müssen spätestens ab dem Jahr 2000 Arzneimittel, die in anderen EU-Ländern zugelassen werden, auch auf unserem Markt zugelassen werden. In Deutschland sind dann Arzneimittel zugelassen, deren Wirksamkeit noch nicht überprüft ist. Würden Sie mir unter diesem Gesichtspunkt des EuGH-Urteils nicht zustimmen, daß es jetzt schon legitim wäre, wenn deutsche Ärzte in Deutschland Patienten ein Medikament verschrieben, das sie im speziellen Fall therapeutisch für wichtig erachten, das aber auf dem deutschen Markt noch nicht zugelassen ist, aber zum Beispiel in Italien oder in Frankreich?
Herr Kollege, diese Zusatzfrage steht in überhaupt keinem Zusammenhang zu der ursprünglichen Frage,
da sich hier auf arzneimittelrechtliche Grundlagen bezogen wird. Ich kann Ihnen aber dazu sagen, daß es bereits jetzt schon eine zentrale Zulassungsstelle in Europa für Medikamente und hier eine gegenseitige Anerkennung gibt. Ein Medikament, das in Deutschland nicht zugelassen ist, darf auch nicht unmittelbar zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung von einem Arzt verordnet werden.
Weitere Fragen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereiches des Bundesministeriums für Gesundheit. Ich bedanke mich bei der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Für die Fragen 4 und 5 des Kollegen Klaus-Jürgen Warnick wurde schriftliche Beantwortung beantragt. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Für die Fragen 6 und 7 des Abgeordneten Horst Kubatschka wurde schriftliche Beantwortung beantragt. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Für die Frage 8 des Abgeordneten Rudolf Bindig wurde schriftliche Beantwortung beantragt. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Klaus Rose zur Verfügung. Die Frage 9 des Kollegen Frederick Schulze wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 10 des Abgeordneten Jürgen Koppelin:
Auf welcher Grundlage kommt das Bundesministerium der Verteidigung zum Rüstungsvorhaben „Gepanzertes TransportKraftfahrzeug - GTK" zu dem Ergebnis, wonach beide ARGE-
GTK-Angebote deutlich günstiger als das TEAM InternationalAngebot sind ?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Lieber Herr Kollege, Basis für das Ergebnis sind die vergaberechtlich allein zu berücksichtigenden, verbindlichen Angebote, die beide Konsortien zeitgerecht zum 1. Oktober 1997 abgegeben haben. Dabei waren in der Summe von Entwicklungskosten und Beschaffungskosten für ein erstes Los von 600 Fahrzeugen die Angebote von ARGE GTK für 6x6- wie für 8x8-Basisfahrzeuge sowohl für die bilaterale als auch für die trilaterale Zusammenarbeit günstiger als die von TEAM International für ein 6x6-Fahrzeug. Vergleichsgrundlage waren die Preise mit Preisstand Februar 1997 ohne Mehrwertsteuer.
Bilateral, also deutsch-britisch, ergibt sich ein Preisvorteil von rund 315 Millionen DM für das ARGE-GTK-6x6-Konzept und von rund 200 Millionen DM für das ARGE-GTK-8x8-Konzept gegenüber dem 6x6-Angebot von TEAM International. Trilateral, also deutsch-britisch-französisch, beträgt der Kostenvorteil für die drei Nationen bei Auswahl des ARGE-GTK-6x6-Konzepts rund 250 Millionen DM und rund 90 Millionen DM bei Auswahl des ARGE-
GTK-8x8-Konzepts gegenüber dem 6x6-Angebot von TEAM International.
Bei der Rückrechnung auf die nationalen Programmkosten für Entwicklung und optionale Beschaffung eines ersten Loses von 200 Fahrzeugen ergeben sich bilateral beim 6x6-Angebot von ARGE GTK gegenüber dem TEAM-International-Angebot für ein 6x6-Konzept Kostenvorteile von 120 Millionen DM für den Bund. Bei trilateraler Realisierung des
Parl. Staatssekretär Dr. Klaus Rose
Programms liegen die nationalen Programmkosten für das ARGE-GTK-6x6-Konzept um 85 Millionen DM günstiger und für das ARGE-GTK-8x8-Konzept um 28 Millionen DM günstiger als die von TEAM International angebotenen Preise.
Im Preis-Leistungs-Verhältnis, das zudem die Effizienz der geforderten Leistungserfüllung berücksichtigt, ist das ARGE-GTK-Angebot für das 8x8-Konzept eindeutig besser als das von TEAM International angebotene 6x6-Konzept.
Ich gebe zu, daß ich viele Zahlen vorgetragen habe. Aber ich wollte das hier so deutlich zum Ausdruck bringen.
Bitte, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Unterschiede zwischen den einzelnen Angeboten bei 600 Fahrzeugen genannt. Sie wissen, daß im Zusammenhang mit der Zustimmung des Haushaltsausschusses eine Bestellung von 200 Fahrzeugen und nicht, wie das erste Los sagt, von 600 Fahrzeugen vorgesehen ist. Angesichts dessen müßten Sie doch - das ist auch meine Frage gewesen - die durchschnittlichen Systempreise der einzelnen Anbieter pro Fahrzeug errechnet haben.
Herr Kollege, das war Ihre zweite Frage.
Entschuldigung, ich korrigiere mich.
Dann rufe ich gleich die Frage 11 auf:
Wie hoch waren im Vergleich die jeweiligen Angebote für den durchschnittlichen Systempreis pro Fahrzeug sowohl bilateral als auch trilateral?
Die durchschnittlichen Systempreise lagen für die ARGE-GTK-6x6-Fahrzeuge bei allen Varianten deutlich unter den Angeboten von TEAM International für die 6x6-Fahrzeuge. Im Vergleich der von ARGE GTK angebotenen 8x8-Varianten mit den TEAM-International-6x6-
Fahrzeugen waren die Angebote für die Gruppentransport-Panzer und die Fahrschulfahrzeuge von ARGE GTK günstiger, während die von TEAM International angebotenen Führungsfahrzeuge kostengünstiger waren.
Ich bitte um Verständnis, daß ich wegen der Vertraulichkeit der Angaben Einzelheiten nur in nichtöffentlichen Sitzungen der zuständigen Ausschüsse, nicht aber hier im Plenum vortragen kann.
Sie können es auch schriftlich mitteilen, Herr Staatssekretär.
Ich kann es natürlich auch schriftlich mitteilen.
Bitte schön, eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, zu den Preisen gehören natürlich auch die Entwicklungskosten. Können Sie sagen, wie hoch die Entwicklungskosten sind, die der Partner Großbritannien übernimmt, und in welcher Form abgerechnet wird? Wird in einem Betrag oder gestaffelt abgerechnet werden, oder wie wird das Abrechnungsverfahren aussehen? Wie hoch wird der Anteil sein, den Großbritannien für die Entwicklung aufbringen muß? Das muß man dann ja auch auf den Systempreis umrechnen.
Ich habe mich auf die deutschen Kosten konzentriert. Ich kann selbstverständlich auch nachliefern, was die Briten oder die Franzosen zu zahlen haben.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, die Planung des BMVg besagt, daß 3 000 Fahrzeuge benötigt werden. Rechnet man im BMVg auch damit, daß es etwas weniger Fahrzeuge sein könnten? Dann würde sich ja auch der entsprechende Preis pro Fahrzeug verändern.
Das BMVg arbeitet eng mit dem Parlament zusammen. Wenn Haushaltsausschuß und Verteidigungsausschuß der Meinung sind, daß es nicht bei der ursprünglich geplanten Zahl bleiben wird, wird das Ministerium entsprechend rechnen müssen.
Jetzt die letzte Zusatzfrage, Herr Kollege Koppelin, bitte schön.
Herr Staatssekretär, ist Ihr Haus bereit, dem Haushaltsausschuß, bevor Sie die Beschaffung vornehmen, ein MoU vorzulegen, das im Detail so formuliert ist, daß man erkennen kann, welchen Betrag die Partner bei den Entwicklungskosten übernehmen?
Lieber Herr Kollege, Sie gehören dem Haushaltsausschuß an und wissen, daß wir immer bereit sind, das zu tun.
Wir werden das also auch in Zukunft machen.
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 237. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1998 21805
Die Fragen 12 und 13 der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums der Verteidigung. Ich bedanke mich beim Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Klaus Rose.
Ich möchte vor allem die Parlamentarischen Geschäftsführer darauf aufmerksam machen, daß diese Fragestunde vermutlich keine ganzen zwei Stunden dauern wird. Wir werden sofort nach Beendigung der Fragestunde in die Aktuelle Stunde eintreten.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatssekretär Dr. Willi Hausmann zur Verfügung.
Die Fragen 14 und 15 der Abgeordneten Verena Wohlleben werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 16 des Abgeordneten Klaus Hagemann:
Sieht die Bundesregierung in dem kasernenförmigen Charakter der zur Zeit als mögliche Standorte für Zivildienstschulen geprüften BGS-Kasernen in Braunschweig und Bodenteich Probleme für die Akzeptanz des Angebots der politischen Bildung, und gibt es Pläne, durch Umbaumaßnahmen den pädagogischen Rahmen positiv zu ändern?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Hagemann, die Bundesregierung prüft zur Zeit unter Beachtung der gesetzlichen Verpflichtungen zu Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit in Abstimmung mit dem Bundesrechnungshof, ob Zivildienstschulen, die bisher in von Vertragspartnern zur Verfügung gestellten Liegenschaften betrieben werden, wirtschaftlicher in freien oder freiwerdenden Bundesliegenschaften untergebracht werden können.
Die BGS-Kasernen in Braunschweig und Bodenteich wurden in diesem Zusammenhang einer näheren Prüfung unterzogen. Diese Prüfung hat ergeben, daß typische Kasernenanlagen, wie die in Braunschweig, zur politischen Bildung Zivildienstleistender grundsätzlich nicht geeignet erscheinen.
Etwas anderes gilt grundsätzlich für den bisherigen BGS-Standort Bodenteich, der bereits seit 1976 speziell zu Aus- und Fortbildungszwecken genutzt wird. Das Ergebnis der Wirtschaftlichkeitsprüfung bleibt abzuwarten.
Bitte schön, eine Zusatzfrage, Herr Hagemann.
Inwieweit sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, die Zusammenarbeit der pädagogisch bewährten Standorte Buchholz - ich habe mir ihn unmittelbar ansehen können - und
Braunschweig mit dem Vertragspartner Deutsche Bahn AG fortzusetzen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir stehen derzeit mit den Betreibern der beiden Schulen in Verhandlungen bezüglich einer Verlängerung über 1998 hinaus. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, daß die Wirtschaftlichkeitsprüfung noch nicht abgeschlossen ist. Wenn sich bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung ergeben sollte, daß der Betrieb in Bodenteich kostengünstiger zu gestalten ist, dann wird das bestehende Vertragsverhältnis aufgelöst und die Schule in Bodenteich betrieben. Ich möchte aber noch einmal darauf verweisen, daß wir noch nicht soweit sind.
Eine zweite Frage, bitte schön.
Wie wird es sich auf die bisher bestehenden Standorte, die hier genannten, aber auch die weiteren, auswirken, wenn es eine Übergabe der Facheinführung an die Wohlfahrtsverbände geben sollte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Prüfung, ob die Fachlehrgänge den Wohlfahrtsverbänden übergeben werden sollten, ist noch längst nicht abgeschlossen. Ich habe hierüber Gespräche mit dem Hauptpersonalrat geführt und darauf hingewiesen, daß sich die Verhandlungen erst in einem frühen Stadium befinden und daß vor dem Jahr 2000 mit einer Änderung nicht zu rechnen ist.
Damit kommen wir zur Frage 17 der Abgeordneten Siegrun Klemmer:
Hat die Bundesregierung bei der Neustrukturierung der Zivildienstschulstandorte die Ergebnisse der Wirtschaftlichkeitsprüfung der drei bereits in Bundesliegenschaften befindlichen Zivildienstschulen einbezogen, und ist die Bundesregierung zur Auffassung gelangt, daß grundsätzlich eine größere Wirtschaftlichkeit der Standorte in Bundesliegenschaften erzielt werden kann?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete Klemmer, eine Entscheidung über mögliche Neustrukturierungen einzelner Zivildienstschulstandorte ist bisher noch nicht getroffen. Im Zuge der Wirtschaftlichkeitsprüfung wird zu klären sein, ob im konkreten Fall der Betrieb in einer bundeseigenen Liegenschaft gegenüber dem bisherigen Betrieb kostengünstiger ist. Eine generelle Aussage über eine größere Wirtschaftlichkeit in Bundesliegenschaften kann nicht getroffen werden.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, es wird Sie nicht wundern, wenn ich als Haushälterin zur Wirtschaftlichkeit eine Zusatzfrage habe. Gibt es zu den bisher bestehenden 20 Schulen eine Wirtschaftlichkeitsprüfung, die eine Vergleichbarkeit zuläßt? Gibt es eine Wirtschaftlichkeitsprüfung, aus der sich eine Kostenstruktur ableiten läßt, die ergibt, daß größere Schulen kostengünstiger sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja, gerne. Vizepräsidentin Michaela Geiger: Bitte.
Wir wissen aus Erfahrungen an anderen Einrichtungen - nicht gerade an Zivildienstschulen -, in denen junge Männer dieser Altersklasse zusammen sind, daß die soziale Kontrolle nicht unbedingt parallel zur Größenordnung der Einrichtung zunimmt. Daher meine Frage: Wird bei einer Wirtschaftlichkeitsprüfung für neue und dann ja wohl auch größere Standorte der Faktor der „Vandalismuserscheinungen" eingerechnet?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung sicher nicht, aber er wird bei einer Entscheidung insgesamt mit eingerechnet.
Danke schön. Die Frage 18 der Abgeordneten Leyla Onur wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereiches des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Vielen Dank, Herr Staatssekretär, Dr. Hausmann.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Stephan Hilsberg auf:
Was tut die Bundesregierung und was hat sie bisher getan zur Wiederaufnahme der derzeit ruhenden Tätigkeit des Stiftungsrates der Stiftung für das sorbische Volk, um damit der ihr aufgegebenen „besonderen Verantwortung des Staates für die Bewahrung und Fortentwicklung der sorbischen Kultur und Tradition" gerecht zu werden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Entsprechend dem Erlaß des
Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen vom 19. Oktober 1991 über die Errichtung der Stiftung für das sorbische Volk ist die zweite Amtszeit des Stiftungsrates der Stiftung am 5. November 1997 ausgelaufen. Dennoch trifft es nicht zu, daß die Tätigkeit des Stiftungsrates deswegen derzeit ruht. Vielmehr haben die bisherigen Vertreter des sorbischen Volkes im Stiftungsrat anläßlich dessen Sitzung vom 5. November 1997 mit Zustimmung der Vertreter der Länder Sachsen und Brandenburg sowie des Bundes erklärt, sie würden unabhängig von dem zwischen Sachsen und Brandenburg noch nicht geschlossenen Staatsvertrag zugunsten der Sorben weiterhin ihre Pflicht im Stiftungsrat erfüllen, um die Arbeitsfähigkeit des Gremiums nicht zu gefährden. Der Stiftungsrat kann daher jederzeit beschlußfähig tagen, sofern hierfür Veranlassung besteht.
Zusatzfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß der Stiftungsrat selber seine Tätigkeit ganz anders einschätzt und erklärt hat, das Ruhen seiner Tätigkeit hänge damit zusammen, daß sich die Bundesregierung einseitig aus ihrer finanziellen Verpflichtung für die Finanzierung der Stiftung für das sorbische Volk zurückzieht?
Das ist keine objektive Beschreibung des Zustandes. Es gibt zwar noch Probleme bei der Abwicklung der Beschlußfassung über den Staatsvertrag zwischen Brandenburg und Sachsen, aber soweit ich informiert bin, soll er in Kürze, wahrscheinlich im Juli, unterzeichnet werden. Dann müßten die Länderparlamente das Abkommen ratifizieren, so daß ich diesbezügliche Schwierigkeiten nicht sehe.
Ihre zweite Frage, bitte.
Die ursprüngliche Anfangsfinanzierung der Stiftung für das sorbische Volk seitens der Bundesregierung war ja eine unerläßliche Voraussetzung dafür, daß diese Stiftung ihre Arbeit überhaupt aufnehmen konnte. Seit einigen Jahren zieht sich die Bundesregierung einseitig jahr- und stückweise aus der Finanzierung dieser Stiftung zurück. Wie verträgt sich das mit der im Gegensatz zum Westen nachlassenden Wirtschaftskraft der Länder? Halten Sie diesen Rückzug aus der finanziellen Verantwortung für diese Stiftung nicht für etwas zu früh?
Man kann wirklich sagen, daß der Bund diese Stiftung überdurchschnittlich stark gefördert hat. Das haben Sie in Ihrer Frage ja im Grunde genommen auch zum Ausdruck gebracht. In den Anfangsjahren sind es erhebliche Beträge gewesen, die seitens des Bundes zur Verfügung gestellt worden sind.
Parl. Staatssekretär Manfred Carstens
Die Finanzierung soll ja noch eine Reihe von Jahren in der bisherigen Größenordnung weitergehen, aber der Bund will sich in Jahr für Jahr zunehmendem Maße von dieser sehr starken Finanzierung zurückziehen. Er will die Förderung nicht auf Null zurückschrauben, sondern bis 2007 noch etwa 7 oder 8 Millionen DM jährlich zur Verfügung stellen. Das scheint mir mehr als angemessen zu sein, wenn ich daran denke, daß der Freistaat Sachsen und das Land Brandenburg, die die Länderkompetenz haben, die eigentlich Verantwortlichen und Zuständigen sind. Man hat es ja in diesen Ländern zwischenzeitlich auch als richtig erkannt, diesen Weg zu gehen, denn, wie gesagt: Der Vertrag zwischen Sachsen und Brandenburg soll wohl im Juli unterzeichnet werden.
Wir kommen zur Frage 20 des Abgeordneten Stephan Hilsberg:
Wie verträgt sich nach Ansicht der Bundesregierung die von ihr begonnene Kürzung der Zuschüsse für die Stiftung des sorbischen Volkes, welche durch die beteiligten Länder Sachsen und Brandenburg nicht ausgeglichen werden kann, mit dem in der Bundesrepublik Deutschland am 1. Februar 1998 in Kraft getretenen Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten und der - ebenfalls ratifizierten - Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Die kulturellen Einrichtungen der Sorben sind seit 1991 aus Bundes- und Ländermitteln über die im selben Jahr errichtete sächsische Stiftung für das sorbische Volk finanziell unterstützt worden, wobei der Bund bisher unbeschadet der vorrangigen verfassungsrechtlichen Zuständigkeit der Länder für das sorbische Volk drei Sechstel, also die Hälfte, der jährlich notwendigen Haushaltsmittel bereitgestellt hat. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß sich die Länder entsprechend ihrer verfassungsmäßigen Verpflichtung nunmehr nachhaltiger als der Bund an dem Erhalt der kulturellen Einrichtungen der Sorben finanziell beteiligen müssen. Folgerichtig soll die Bundesförderung künftig angemessen vermindert werden.
Das von Deutschland ratifizierte Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten wird durch die künftig geplante Verminderung der Bundesförderung nicht berührt. Bund und Länder erfüllen ihre Verpflichtungen nach dem Rahmenübereinkommen entsprechend ihren Zuständigkeiten.
Die Ratifizierung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen durch die Bundesrepublik Deutschland ist für Juli 1998 vorgesehen. Das Inkrafttreten wird voraussichtlich am 1. November 1998 erfolgen. Die dem Europarat notifizierten Verpflichtungen zum Schutz der sorbischen Sprache werden bereits erfüllt. Ihre Einhaltung wird auch künftig gewährleistet werden.
Zusatzfrage? - Bitte, Herr Hilsberg.
Durch die Anerkennung und Ratifizierung der Europäischen Charta zum Schutz der Regional- und Minderheitensprachen, also auch zum Schutz unserer ethnischen Minderheiten, hat ja die Bundesregierung und damit die Bundesrepublik deutlich gemacht, daß der Schutz dieser Minderheiten eine Aufgabe von nationalem Rang ist. Wir teilen diese Ansicht mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Mir ist bekannt, daß die Bundesregierung beispielsweise für die deutsche Minderheit in Dänemark mehr Geld ausgibt als für die Minderheiten im unserem eigenen Land. Ist die Relation da gewahrt, oder wie verträgt sich das miteinander?
Ich kann jetzt auf Anhieb nicht überprüfen, ob Ihre Behauptung richtig oder falsch ist.
In den nächsten Tagen werde ich die deutsche Minderheit in Dänemark und auch die dänische Minderheit in Deutschland besuchen. Sie erhalten, wie ich meine, eine angemessene Förderung. Diese angemessene Förderung erhalten auch weiterhin die Sorben. Es ist ein erheblicher Betrag, der von uns zur Verfügung gestellt wurde. Ich habe eben die Zahl genannt: 16 Millionen DM. Das ist ein erheblicher Posten. Brandenburg und Sachsen müssen sich stärker beteiligen, als das bislang der Fall ist. Auch die beiden Länder sehen das ein.
Eine Zusatzfrage wird nicht mehr gewünscht.
Wir kommen jetzt zur Frage 21 des Abgeordneten Kurt Neumann:
Wie viele Fälle nachgewiesener „Inoffizieller Mitarbeit" für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR sind der Bundesregierung und den ihr nachgeordneten Behörden bekannt, bei denen
- kein Beschluß zur Umregistrierung vom Vorlauf zum Inoffiziellen Mitarbeiter erfolgte,
- keine F-16-Karteikarte mit entsprechender Eintragung als IM vorhanden ist,
- keine schriftliche Verpflichtungserklärung vorliegt,
- kein Vermerk über eine mündliche oder sonstige Verpflichtung aktenkundig ist,
- kein handschriftlich gefertigter Bericht und auch kein von dem IM unterschriebener Bericht aufgefunden wurde,
- keine von dem IM unterzeichnete Quittung über Zuwendungen vorliegt und auch
- kein Hinweis auf eine Auszeichnung durch das MfS gegeben ist,
und welchen Anteil machen diese Fälle an allen bekanntgewordenen Fällen der „Inoffiziellen Mitarbeit" für das MfS aus?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Es bestand und besteht kein Anlaß, die genannten Einzelkriterien statistisch separat zu erfassen. Derartige Zahlen liegen demzufolge nicht vor.
Metadaten/Kopzeile:
21808 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 237. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1998
Zusatzfrage, bitte.
Auf Grund meiner Erfahrung mit Akten aus den Beständen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit und auf Grund anderer Kenntnisse kann ich aber feststellen, daß eine ganze Reihe von Fällen zu klären sind, bei denen bestimmte Kriterien eine Rolle spielen. Ist es daher nicht sinnvoll, zukünftig den Bestand der Akten der Gauck-Behörde so zu strukturieren und so auszuwerten, daß man feststellen kann, nach welchen Merkmalen eigentlich dingfest gemacht werden kann, wer ein IM ist, und daß man das auch statistisch belegen kann?
Man kann diesen Vorschlag in der Tat einmal überprüfen. Bislang haben wir dazu aber keine Veranlassung gesehen.
Zweite Zusatzfrage.
Ich frage einmal andersherum. Ich kenne eine ganz Menge von Akten. Mir ist aber kein einziger Fall untergekommen, in dem ein IM existiert hat und nicht eines dieser Tatbestandsmerkmale vorhanden war. Könnte es sein, daß deswegen keine Angaben gemacht werden können, weil es einen solchen Fall nicht gibt?
Das kann ich nicht bestätigen.
Dann kommen wir jetzt zur Frage 22 des Abgeordneten Kurt Neumann:
Ist der Bundesregierung die Aussage des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Joachim Gauck, bekannt, der am 28. Mai 1996 im Hessischen Rundfunk zur Aktenführung innerhalb des MfS unter anderem ausgeführt hat:
„Ein militärisches System lügt sich nicht selbst in die Tasche. Militärische Mitarbeiter können versetzt werden. Was machen die Nachfolger mit einem Kunstprodukt von Akten? Und können sie mit diesem Menschen, über den die Akte angelegt ist, überhaupt arbeiten? Diese Fragen stellen heißt schon, mit einiger Sicherheit davon auszugehen, daß die Akten korrekt sein müssen",
und teilt sie diese Bewertung der Korrektheit und des Wahrheitsgehalts der Stasi-Akten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
In der Sendung des Hessischen Rundfunks vom 28. Mai 1996 hat der Bundesbeauftragte das in der Frage genannte Zitat ge-
braucht, um die Validität der Stasi-Unterlagen zu verdeutlichen. Er hat noch folgenden Satz angefügt:
Die Akten haben einen recht hohen Aussagewert, deshalb sind unsere Gerichte und ist die Forschung auch so interessiert, die Akten zu bekommen.
Daß der Wahrheitsgehalt von MfS-Akten als überdurchschnittlich hoch einzuschätzen ist, ergibt sich aus folgendem:
Erstens. Gezielte Informationsgewinnung war eine der Hauptaufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit und bildete die Grundlage für fast alle anderen operativen Aktivitäten. Angesichts der zentralen Bedeutung der Informationstätigkeit war der Staatssicherheitsapparat hier bemüht, verfälschende Faktoren systematisch auszuschalten, weil sie die eigene Effizienz gefährdeten. Er führte daher eine permanente Überprüfung und Bewertung seiner eigenen Informationserhebung durch.
Zweitens. Der Staatssicherheitsdienst besaß eine straffe militärische Struktur, in der die jeweiligen Leiter einen relativ überschaubaren Kreis von direkt Unterstellten anleiteten und kontrollierten. Daneben bestanden auf der zentralen Ebene, auf der Ebene der Hauptabteilungen und selbständigen Abteilungen des Ministeriums sowie auf der Ebene der Bezirksverwaltungen sogenannte Kontrollgruppen, die über die Einhaltung von dienstlichen Bestimmungen und anderen Vorgaben wachten. Diese Struktur gewährleistete im MfS ein hohes Maß an Regelkonformität in operativer Praxis und Aktenführung.
Zusatzfrage, bitte.
Kann ich die Antwort so verstehen, daß auf Grund der Feststellung, die Sie getroffen haben, davon auszugehen ist, daß die Aktenführung stets entsprechend den Richtlinien, die beim MfS bestanden, erfolgte und daß man, wenn bestimmte Maßnahmen nicht getroffen wurden, davon ausgehen kann, daß auch die Grundlagen für diese Maßnahmen nicht gegeben waren?
Was damals im einzelnen gemacht wurde, weiß ich nicht. Ich wollte gerade sagen: leider nicht, aber ich weiß es Gott sei Dank nicht.
Aber durch das, was wir jetzt in der Gauck-Behörde - um das einmal vereinfacht auszudrücken - feststellen können, wird leider belegt, daß man dort sehr präzise vorgegangen ist und daß man sehr großen Wert darauf gelegt hat, das, was man erforschen wollte, auch richtig zu erforschen.
Zweite Zusatz-frage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 237. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1998 21809
Vielleicht darf ich das präzisieren. Wenn nach den Richtlinien vorgesehen war, daß ein IM-Vorlauf nach vorheriger Anwerbung durch Beschluß in eine IM-Akte umgewidmet wurde, und ein solcher Vorgang nicht aktenkundig ist, kann man dann davon ausgehen, daß eine solche IM-Werbung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht stattgefunden hat?
Man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß das, was in den Akten festgehalten wurde, auch stimmt.
Danke sehr.
Die Frage 23 des Abgeordneten Hans Wallow wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums des Innern. Vielen Dank, Herr Staatssekretär Carstens.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Ich begrüße zur Beantwortung den Parlamentarischen Staatssekretär Hansgeorg Hauser.
Ich darf darauf aufmerksam machen, daß wir jetzt noch drei Fragen haben und daß dann die Aktuelle Stunde beginnt.
Ich rufe die Frage 24 des Abgeordneten Hans Büttner auf:
Wird die Bundesregierung darauf hinwirken, daß das Kraftfahrzeugsteuerrecht, das das Ziel verfolgt, den Schadstoffausstoß von Autos zu verringern, bald korrigiert wird, nachdem aktuelle Meßuntersuchungen ergeben haben, daß durch die amtlichen Testverfahren für die Euro-Abgasnorm Pkw, die im realen Verkehrsverhalten wesentlich höheren Schadstoffausstoß verursachen, steuerlich begünstigt werden gegenüber Fahrzeugen, die im amtlichen Testverfahren schlechter abschneiden, im realen Verkehrsverhalten jedoch einen deutlich geringeren Schadstoffausstoß aufweisen, und wenn nein, warum nicht?
Frau Präsidentin, Herr Kollege Büttner, die Besteuerung von Personenkraftwagen erfolgt unter anderem in Abhängigkeit von der Einhaltung EG-weit gültiger Schadstoffgrenzwerte. Diese Werte werden in einem vorgeschriebenen Prüfverfahren gemessen. Das europäische Meßverfahren besteht aus einem Stadtfahrzyklus, der den Stop-and-go-Verkehr in europäischen Ballungsgebieten repräsentiert, und einem Außerortzyklus, der Fahrten um 90 km/h und 120 km/h darstellt.
Die Bundesregierung sieht in dem derzeit gültigen Abgasmeßverfahren eine geeignete Methode, die Abgasemissionen von Pkw zu messen und die Pkw entsprechend den von ihnen eingehaltenen Grenzwertstufen steuerlich einzuordnen. Das Meßverfahren stellt nicht auf Extremsituationen, die jeweiligen Einsatzbedingungen und das individuelle Fahrverhalten ab, sondern beschreibt das mittlere europäische Fahrverhalten. Dieses Vorgehen ist für eine flächendeckende Luftreinhaltepolitik sinnvoll.
Die Bundesregierung hat sich in den europäischen Gremien mehrfach für eine Messung auch bei noch höheren Geschwindigkeiten eingesetzt. Eine solche Ausgestaltung des Prüfverfahrens war allerdings nicht durchzusetzen.
Zusatzfrage? - Bitte, Herr Büttner.
Herr Staatssekretär, sehen Sie sich nach den jetzt bekanntgewordenen Untersuchungen des schwedischen „Elchtesters" Robert Collins nicht veranlaßt, die Meßverfahren noch einmal zu überprüfen? Denn er hat einem Bericht des Magazins „Plusminus" zufolge festgestellt, daß die der deutschen Kfz-Steuererhebung zugrunde liegende EU-einheitliche Prüfmethode nicht die Schwächen überdecken kann, die dadurch entstehen, daß Autos, die als besonders umweltfreundlich gelten, in Wirklichkeit ein wesentlich schlechteres Abgasverhalten aufweisen als Autos, die schlechter eingestuft sind. So weisen - so heißt es in dem Bericht - als Umweltverschmutzer geltende Autos, für die besonders viel Steuern zu entrichten sind, wesentlich bessere Abgaswerte auf als vermeintlich umweltfreundlichere Kfz, die steuerlich begünstigt werden.
Darf ich um die Frage bitten!
Ja, Frau Präsidentin. - Halten Sie es angesichts dieses Testes, der ein realistisches Fahr- und Beschleunigungsverhalten zugrunde gelegt hat, nicht für dringend erforderlich, das europäische Prüfsystem schleunigst zu revidieren? Denn es wird doch wohl nicht im Interesse der Bundesregierung sein, daß man mit dem Steuerrecht Umweltverschmutzer belohnt und andere bestraft.
Herr Kollege Büttner, im Grundsatz gebe ich Ihnen natürlich recht. Es wäre verkehrt, wenn man schadstoffärmere Autos schlechter als die schadstoffverursachenden Fahrzeuge behandeln würde. Allerdings muß man dazu sagen, daß für die von Ihnen zitierte Sendung offenbar Fahrzeugtests durchgeführt wurden, die - so ist es mir dargestellt worden - in Extremsituationen stattgefunden haben. Es wurden also nicht die normalen Fahrverhältnisse berücksichtigt.Man muß wissen, daß es in den meisten europäischen Ländern Höchstgeschwindigkeitsbegrenzungen gibt, so daß ein Test, der auf ein Durchschnittsfahrverhalten abstellt, nicht unter solchen Hochgeschwindigkeitsverhältnissen durchgeführt werden muß. Gleichwohl hat die EU-Kommission für die voraussichtlich ab dem Jahr 2000 geltenden Abgasgrenzwerte ein geändertes Prüfverfahren vorgeschlagen. Dabei soll insbesondere die Dauer des Betriebs mit Leerlaufdrehzahl verkürzt und der Start des Motors berücksichtigt werden. Allerdings sind auch in diesem Verfahren keine höheren Geschwindigkeiten
Metadaten/Kopzeile:
21810 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 237. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1998
Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauservorgesehen, weil diese - wie gesagt - in den meisten Ländern nicht zulässig sind.
Zweite Zusatzfrage.
Ist Ihnen nicht bekannt, daß dieser schwedische Test nicht auf höhere Geschwindigkeiten abgezielt hat, sondern in erster Linie darauf, daß für die Beschleunigung im innerstädtischen Verkehr von null auf 50 km/h nach dem europäischen Test - so diese Untersuchung und dieser Bericht - etwa 25 bis 30 Sekunden veranschlagt werden, während die normale Beschleunigung im innerstädtischen Verkehr wesentlich kürzer ist? Daher kommen durch das europäische Testverfahren gerade im innerstädtischen Verkehr Falschmessungen und falsche Ergebnisse zustande. Ist die Bundesregierung bereit, diese Testergebnisse zum Anlaß zu nehmen, das gesamte Testverfahren schleunigst noch einmal einer Prüfung zu unterziehen und darauf hinzuwirken, daß auf europäischer Ebene nicht bis zum Jahr 2000 gewartet werden muß, um eine eventuell falsche und schädliche Steuerung über das Steuerrecht zu verhindern?
Herr Kollege Büttner, Sie haben selbst angesprochen, daß die EU für die entsprechenden Abgaswerte zuständig ist. Wenn sich aus diesem Test tatsächlich neue Erkenntnisse ergeben sollten, die allgemein gültig sind und nicht, wie ich es bereits erwähnt habe, extreme Situationen darstellen, dann werden sie in der Überprüfung des Prüfverfahrens sicherlich berücksichtigt werden.
Die Fragen 25 und 26 des Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ebenso werden die Fragen 27 und 28 des Abgeordneten Horst Schmidbauer schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen jetzt zur Frage 29 des Abgeordneten Gernot Erler:
In welchem Umfang haben der Internationale Währungsfonds und die Weltbank seit Auftreten der Finanzkrisen in Südostasien Hilfszahlungen an betroffene Länder dieser Region geleistet, und wie wurden diese Zahlungen auf die einzelnen betroffenen Länder aufgeteilt?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Erler, der IWF hat folgende Kreditprogramme für die drei am meisten von der Krise betroffenen Länder - das sind Thailand, Indonesien und Korea - zur Verfügung gestellt: für Thailand 3,9 Milliarden US-Dollar, davon sind 2,7 Milliarden US-Dollar bereits ausgezahlt; für Indonesien 10 Milliarden US-Dollar, davon sind 4 Milliarden US-Dollar bereits ausgezahlt; für Korea
21 Milliarden US-Dollar, davon sind 15,1 Milliarden US-Dollar bereits ausgezahlt.
Die Weltbank hat diesen drei Ländern einen mittelfristigen Kreditrahmen von bis zu 16 Milliarden US-Dollar in Aussicht gestellt; davon waren 5,4 Milliarden US-Dollar rasch ausgezahlte Liquiditätshilfen, die sich auf die Sektoren Soziales - also Armutsbekämpfung -, Finanzen und Unternehmensumstrukturierung konzentrierten. Auch hierzu die Details: Für Thailand waren es 1,5 Milliarden US-Dollar, davon sind 350 Millionen US-Dollar bereits ausgezahlt; für Indonesien waren es 4,5 Milliarden US-Dollar, davon ist offensichtlich noch nichts ausgezahlt worden; für Korea waren es 10 Milliarden US-Dollar, davon sind 5 Milliarden US-Dollar bereits ausgezahlt.
Zusatzfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, hat es in IWF und Weltbank interne Diskussionen über diese doch sehr massiven Programme, die Sie soeben beziffert haben, gegeben?
Über eine Diskussion, ob das in diesen Größenordnungen auszuzahlen ist oder ob es verminderte oder erhöhte Programme sein sollen, kann ich Ihnen nichts berichten. Natürlich haben aber die jüngsten politischen Unruhen in Indonesien zu Diskussionen geführt, denn sie haben ja die Umsetzung der Wirtschaftsreformen behindert. Die Weltbank hat die anstehenden Kreditanträge bis zur Klärung der Lage zurückgestellt, und der IWF wird Anfang Juni über die Auszahlung einer weiteren Kreditrate beraten.
Es wird eine weitere Zusatzfrage gestellt.
Herr Staatssekretär, würden Sie die Informationspolitik von IWF und Weltbank bezüglich der Höhe der zur Verfügung zu stellenden Gelder als normal bezeichnen? In den letzten Monaten war es ja schwierig, die Zahlen, die Sie eben genannt haben, zu erhalten.
Mir ist nicht bekannt, daß es schwierig war, diese Zahlen zu erhalten. Ich habe an der Informationspolitik nichts auszusetzen.
Wir kommen jetzt zur Frage 30 des Abgeordneten Gernot Erler.
In welchem Umfang mußte die Bundesrepublik Deutschland an IWF und Weltbank zusätzliche Mittel für diese Hilfsprogramme zur Verfügung stellen, und wie hoch war bisher der deutsche Anteil an den IWF- und Weltbankleistungen zur Behebung der Krise in Südostasien in Prozent und in absoluten Zahlen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Deutschland hat weder dem IWF noch der Weltbank zusätzliche Finanzmittel für die Hilfsprogramme in Südostasien zur Verfügung gestellt, da ein solcher Beitrag auf Grund der Art der Finanzierung beider Institutionen nicht erforderlich ist.
Der IWF vergibt an Mitgliedsländer mit Zahlungsbilanzschwierigkeiten Kredite, die die Durchführung von Wirtschaftsreformen erleichtern sollen. Die Kredite werden aus den Einzahlungen der Mitgliedsländer, also aus den Quoten, bereitgestellt. Dazu stellt die Bundesbank dem IWF einen Teil ihrer Währungsreserven zur Verfügung und erhält dafür eine Forderung gegenüber dem IWF, die vom IWF verzinst wird.
Die Kreditlinien der Weltbank refinanzieren sich durch Anleihen am Kapitalmarkt. Die Zinsen für die Kredite an die Krisenländer sind so kalkuliert, daß die Kosten der Refinanzierung gedeckt sind und keine Belastungen für die nationalen Haushalte der Anteilseigner entstehen. Beide Institutionen finanzieren ihre laufenden Ausgaben - Personal und Verwaltung - für ihre reguläre Tätigkeit aus Einnahmen auf Grund ihrer Kreditvergabe, und die Weltbank finanziert diese auch aus Erträgen des Eigenkapitals. Haushaltsmittel der Mitgliedsländer sind daher nicht erforderlich.
Der Anteil eines einzelnen Landes an einem Kredit einer multilateralen Institution kann nicht im einzelnen beziffert werden, da die Zentralbanken, das heißt im Falle Deutschlands die Deutsche Bundesbank, ihre Währungsreserven nicht zur Einzelfinanzierung der jeweiligen IWF-Kredite, sondern durch einmalige Einzahlungen zur Verfügung stellen.
Der deutsche Anteil an den Mitgliedsquoten des IWF beträgt zur Zeit 5,7 Prozent und am Kapital der Weltbank 4,65 Prozent. Die Aussage, daß der deutsche Anteil an einem IWF-Kredit damit 5,7 Prozent betrage, trifft zwar rechnerisch in genereller Form, also theoretisch, zu, berücksichtigt aber nicht den multilateralen Charakter der Institution und ihrer Finanzierung.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, kann man daraus schließen, daß eine solche Krise wie die in Südostasien gar keine finanzpolitische Herausforderung für die westlichen Länder darstellt? Denn so, wie Sie es dargestellt haben, lassen sich auf dem Kapitalmarkt oder durch Nutzung von Eigenkapital grenzenlos Programme zur Stützung in einer solchen Krise auflegen. Oder ist das eine unzulässige Schlußfolgerung?
Ich denke, es ist eine unzulässige Schlußfolgerung. Denn die zur Krisenbewältigung notwendigen Institutionen, IWF und Weltbank, sind ja vorhanden. Die Mitgliedsländer arbeiten in diesen Institutionen mit und bestimmen damit, in welcher Form Maßnahmen dieser Institutionen eingeleitet werden.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, es ist ja in den vergangenen Jahren in die drei betroffenen Länder Südostasiens, die jetzt diese große Krise durchleben und internationale Unterstützung erhalten, sehr viel spekulatives Geld geflossen. Was würden Sie jemandem antworten, der behauptet, daß mit Steuergeldern aus Deutschland und natürlich auch aus anderen westlichen Ländern letztlich fehlgelaufene Geldspekulationen abgedeckt werden?
Man muß hier wirklich zwischen den Unterstützungsmaßnahmen, die über die Weltbank und den IWF durchgeführt werden, wobei Deutschland im Rahmen seines Anteils an diesen Institutionen sozusagen pauschal mitbeteiligt ist, und den anderen Schritten unterscheiden, die privater Natur sind, wenn beispielsweise durch deutsche Banken Kreditvergaben erfolgen und dort möglicherweise Risiken entstehen. Ich denke, das muß man voneinander trennen. Für die Risikofreudigkeit oder die Zurückhaltung der deutschen Banken kann die Bundesregierung natürlich keine Verantwortung übernehmen.
Die Frage 31 des Abgeordneten Dietrich Austermann wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums der Finanzen. Vielen Dank, Herr Staatssekretär Hauser.
Wir sind damit auch am Ende unserer heutigen Fragestunde.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu den ausländerpolitischen Beschlüssen der CSU
Die Aktuelle Stunde findet auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen statt.
Das Wort hat die Abgeordnete Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen. Ich erinnere: Bei der Aktuellen Stunde beträgt die Redezeit strikt fünf Minuten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir nähern uns der heißen Phase des Wahlkampfes.
- Ja, zum Beispiel heute morgen. - Das steht wohl seit dem Parteitag der Kolleginnen und Kollegen der CSU in Ingolstadt fest.
Kerstin Müller
Die CSU hat da, wie ich finde, einen sehr gefährlichen Weg betreten. Denn was waren die Parolen dieses Parteitages? „Kein unkontrollierter Zustrom", „Grenze der Aufnahmefähigkeit erreicht", „gegen Überfremdung und Identitätsverlust", „Abschiebung der Eltern straffällig gewordener Kinder", also die Wiedereinführung der Sippenhaft - so möchte ich einmal formulieren -, die damit betrieben wird - das sind die Töne der CSU zur Ausländerpolitik. Was für eine unglaubliche Demagogie!
- Doch, sehr ausführlich.
In ganz Bayern lebten 1996 gerade einmal 5000 Ausländerinnen und Ausländer mehr als 1995. Angesichts dessen sprechen Sie von unkontrolliertem Zustrom oder gar von Überfremdung.
Was Sie, meine Damen und Herren von der CSU, hier schüren, das sind Rassismus und Minderheitenfeindlichkeiten pur.
Das ist wirklich ein „erschreckender Rechtsruck" - da muß ich Herrn Westerwelle ausnahmsweise einmal recht geben - oder ein „Wahlkampf aus der Jauchegrube", wie sogar die „Bild am Sonntag" kommentierte.
Wenn diese Kritik Sie schon nicht beeindruckt, dann sollte Sie doch zumindest das Lob von der falschen Seite nachdenklich machen. Die DVU bescheinigte Ihnen nämlich, daß sie - Zitat - nach Ihrem Rechtsruck in der Ausländerpolitik nicht mehr draufsatteln wolle und deshalb keinen Sinn mehr darin sehe, sich an der Landtagswahl in Bayern zu beteiligen. Ich finde, spätestens nach dieser Feststellung sollten Ihnen Skrupel hinsichtlich der von Ihnen gefaßten Beschlüsse kommen.
Wir sind stolz auf die europäische Einigung. Wir sind stolz darauf, daß die Menschen das Recht haben, sich innerhalb Europas frei zu bewegen und sich an jedem Ort ihrer Wahl niederzulassen. Was soll da eine Parole wie: „Deutschland und Bayern sind kein Einwanderungsland"? Heißt das, daß die Türen im Haus Europa wieder verschlossen werden sollen? Wollen Sie neue Grenzen zwischen den europäischen Ländern aufbauen? Was Sie den Menschen da suggerieren, ist der Rückfall in ein borniertes nationales Denken, das ist der Abschied vom europäischen Erbe der Nachkriegszeit.
Dieses Land in der Mitte Europas war schon immer ein Einwanderungsland; das wird es auch bleiben. Der Kollege Geißler hat dazu treffend ausgeführt: Genausogut wie diese CSU-Parole gegen Einwanderung ließe sich der Satz festschreiben, daß es im Wald keine Eichhörnchen zu geben hat. Nun gibt es halt Eichhörnchen im Wald. Ich kann dem Kollegen Geißler in diesem Punkt nur nachdrücklich zustimmen.
Pro Jahr kommen zirka 700 000 Menschen hierher. Gleichzeitig wandern etwa 550 000 Menschen wieder aus. Wir haben netto eine Einwanderung von jährlich etwa 150 000 bis 200 000 Menschen. Das sind gerade einmal 0,2 Prozent der Bevölkerung.
Angesichts dieser Tatsachen kann doch nur jemand, der unter dramatischem Realitätsverlust leidet, behaupten, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland. Genausowenig kann man behaupten, ihr drohe die Überfremdung. Was Sie, meine Damen und Herren von der CSU, da machen, ist eine abstruse Ignoranz der Realität. Warum reden Sie so ein Zeug daher? - Weil Sie mit solchen Tiraden im Wahlkampf von den tatsächlichen Problemen ablenken wollen, und zwar von Arbeitslosigkeit und von Entsolidarisierung. Das sind nämlich die Dinge, für die Sie mitverantwortlich sind. Darüber wollen Sie in diesem Wahlkampf nicht reden.
Sie wollen Angst machen, Angst vor Überfremdung und Kriminalität. Sie wollen die Angst vor Ausländern schüren und damit auf Stimmenfang gehen. Ich denke, wer diesen Weg geht, der tut mehr, als nur Parolen zu dreschen, der bereitet - gewollt oder ungewollt - den Nährboden für ausländerfeindliche Gewalt.
Ich möchte gerade in dieser Woche daran erinnern: Übermorgen jährt sich der Brandanschlag von Solingen zum fünftenmal.
- Das sage ich nicht. Es gibt aber eine Zeitgleichheit. Darüber kann man wenigstens einmal nachdenken. Solingen war dramatisch genug.
Auf dem Höhepunkt der Asyldebatte, auf dem Höhepunkt des Geredes von „Das Boot ist voll" geschah der Brandanschlag von Solingen. Ich sage: Demokratische Politiker dürfen sich niemals zum Stichwortgeber für ausländerfeindliches Gedankengut machen.
Wer mit Worten zündelt, der ist nachher auch mitverantwortlich, wenn es wieder brennt. Da sind Sie alle, meine Damen und Herren von der Koalition, in der Pflicht: Sie dürfen diese makabre Arbeitsteilung mit der CSU nicht akzeptieren. Ich sage einmal: Das
Kerstin Müller
Zündeln muß doch spätestens nach den hohen Wahlergebnissen der DVU in Sachsen-Anhalt aufhören.
Nicht nur das: Wenn wir den Rechtsradikalismus wirksam bekämpfen wollen, dann brauchen wir jetzt klare Signale der Integration. Das bedeutet vor allen Dingen: Wir brauchen ein modernes, ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht, und wir brauchen ein Einwanderungsgesetz.
Ihre Redezeit ist zu Ende.
Es kommt darauf an, Einwanderung zu gestalten und die Integration zu fördern, statt Angst zu schüren und die Menschen gegeneinander aufzubringen. Darum muß es uns in den nächsten Monaten gehen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Teiser, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Müller, die Aktualität der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde zeigt sich insbesondere an der Teilnahme von sieben Abgeordneten der grünen Fraktion.
Insofern sollten Sie sich einmal fragen, ob es wirklich Sinn unserer Arbeit ist, daß wir uns zu einzelnen Beschlüssen von Parteiorganen bzw. von Parteien im Rahmen einer Aktuellen Stunde auslassen.
Die Beschlüsse Ihrer Parteitage, die Zurücknahme und Relativierung Ihrer Parteitagsbeschlüsse und deren Fassung in Kurzform hätten Gelegenheit gegeben, im Bundestag nicht nur Aktuelle Stunden, sondern sozusagen aktuelle Tage durchzuführen. Da wäre viel Diskussionsbedarf. Aber wir sehen keinen Sinn darin, das zu tun.
Ich will Ihnen allerdings deutlich sagen, was wir machen werden. Sie haben es eben wieder vermieden, deutlich zu machen, was Sie eigentlich wollen. Sie haben den Vertretern der deutschen Medien, die aus Zeitgründen selten in der Lage sind, Gesetzentwürfe zu lesen, und sich statt dessen auf kurzgefaßte Pressemitteilungen verlassen, natürlich nicht gesagt, was Sie im letzten Monat in den Sitzungen des Innenausschusses an Gesetzentwürfen eingebracht haben. Sie haben diese eben ganz kurz angerissen: das sogenannte Niederlassungs- und das Einwanderungsgesetz.
Ich will, damit wir in Klarheit diskutieren und die Positionen gegenüberstellen können, kurz deutlich machen, was in diesen Gesetzentwürfen steht; denn die Bevölkerung hat viel mehr Anspruch darauf, das zu erfahren. Bisher haben Sie den Inhalt überwiegend verschwiegen.
Sie wollen, daß pro Jahr 440 000 Menschen zusätzlich nach Deutschland kommen. Dazu kommt der Familiennachzug, der von Ihrer Seite sehr großzügig geregelt werden soll.
- Ja, diese Linie steigt auf und ab. Insgesamt macht dies ungefähr 1 Million Menschen, die zu den ohnehin schon kommenden Asylbewerbern und Asylberechtigten hinzugezählt werden müssen.
- Für die Aussiedler haben Sie eine Übergangsregelung vorgesehen. Drei Jahre lang wollen Sie sie noch als Deutsche betrachten,
danach als Einwanderer. Das ist übrigens ein Punkt, der es wert wäre, in einer Aktuellen Stunde behandelt zu werden.
Ferner wollen Sie durch eine Stichtagsregelung all denjenigen, die hier sind - gleichgültig, ob legal oder illegal; Hauptsache, sie sind sechs Monate in Deutschland -, per Gesetz ein Aufenthaltsrecht geben und streben letztendlich für alle das Wahlrecht an.
Das ist der Inhalt Ihrer Gesetzentwürfe, die Sie im Innenausschuß eingebracht haben. Sie sind dort selbst von der SPD abgelehnt worden, obwohl wir natürlich nicht wissen, ob die Gründe der Ablehnung seitens der SPD dieselben waren wie seitens der CDU.
Ich sage Ihnen hier ganz deutlich: Das, was Sie zum Thema der Aktuellen Stunde gemacht haben, nämlich die Beschlüsse des CSU-Parteiausschusses, würde, selbst wenn Sie mir jetzt Einzelmeinungen anderer entgegenhalten, auf jedem Bundesparteitag der CDU mit überwältigender Mehrheit ebenso beschlossen.
Was haben Sie den Punkten, die Sie selbst eben aufgeführt haben, eigentlich entgegenzusetzen? Sie sagen: Wir sind ein Einwanderungsland. Wir bestreiten das. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen uns.
Ich sage Ihnen, damit Sie das beispielhaft nachvollziehen können: Nur durch die Tatsache, daß sich je-
Michael Teiser
mand zehnmal pro Tag illegal auf mein Grundstück begibt, ist es noch lange kein öffentlicher Marktplatz, sondern noch immer mein Grundstück.
Deswegen können Sie aus der Zuwanderung weder ableiten, daß wir dadurch zum Einwanderungsland geworden sind, noch, daß wir dies wollten. Die große Mehrheit hier im Haus und die große Mehrheit der Bevölkerung können Ihnen da nicht folgen.
Ich bin gespannt, was die PDS nachher von sich geben wird, die von dem Ansinnen der Grünen bezüglich der Einwanderung und der Niederlassung begeistert war.
Aber ich will Ihnen schon vorweg sagen - wir können in der Aktuellen Stunde ja nicht abwechselnd reden -: Sie sollten sich sehr wohl überlegen, Frau Jelpke, wie Sie sich dazu einlassen werden. Das letzte, was Sie im Ausschuß eingebracht haben - der Kollege Penner hat Ihnen das deutlich gesagt -, war heute morgen der faktische Ersatz der parlamentarischen Demokratie durch die Urdemokratie. Dann allerdings frage ich Sie: Wie, glauben Sie, würde das, was Sie im Bereich des Ausländerrechts wollen, in einer Volksabstimmung entschieden? Würde sie in Ihrem Sinne ausgehen oder möglicherweise anders?
Ich kann deutlich sagen: Die Überschriften der Beschlüsse der CSU „Zuzug reduzieren" etc. sind Punkte, die von der CDU und der großen Mehrheit der Bevölkerung voll geteilt werden.
„Keine doppelte Staatsbürgerschaft" - dies wird, wie Sie festgestellt haben,
voll geteilt. Richtig, Herr Kollege! Sie haben das bei den Abstimmungen in diesem Haus gemerkt.
Die Feststellung, daß der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit das Ergebnis eines Integrationsprozesses sein muß und nicht am Beginn stehen darf, ist auch völlig in Ordnung. Dies ist hier auch mehrfach diskutiert worden. Die Antwort darauf, wieso es der Integration dienen soll, wenn ein Siebenjähriger einen zweiten Paß im Schrank seines Vaters liegen hat, sind Sie uns bis heute schuldig geblieben.
Ihre Redezeit ist zu Ende.
Daß die illegale Einwanderung konsequent verhindert werden muß, ist ebenso völlig klar. Daß die erfolgreiche Asylpolitik der Bundesregierung fortgesetzt werden muß, ist ebenfalls unstrittig. - Insofern an die CSU: Es besteht völlige Übereinstimmung.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Frau Dr. Cornelie SonntagWolgast, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Zur Landtagswahl in Bayern wird die DVU nicht antreten. Das hat offenbar seine Gründe. Die Rechtsextremen finden rechts von der CSU kaum Platz.
Aber das bietet keinen Anlaß zum Prahlen. Denn es signalisiert nicht etwa demokratische Hygiene, Kollege Marschewski, sondern leider eine unappetitliche Nähe bei Wortwahl und Gedankengut gerade zu den politischen Kräften, denen die CSU und auch Teile der CDU - ich denke da etwa an den schleswigholsteinischen CDU-Landesvorsitzenden mit seinen offen reaktionären Thesen - angeblich das Wasser abgraben wollen.
Eine solche Rechnung kann und darf nicht aufgehen. Denn im Stafettenlauf bei Feindseligkeiten gegen Fremde wird derjenige auf jeden Fall siegen, der am rücksichtslosesten und radikalsten voranprescht.
Natürlich gibt es Angst und Animositäten in der Bevölkerung gegenüber Zuwanderern. Es ist auch überhaupt nicht zu leugnen, daß sich in sozialen Problemgebieten diese Konflikte ballen. Hinzu kommt die Angst vor der Konkurrenz, die zum Beispiel von billigen Arbeitskräften aus Osteuropa auf deutschen Baustellen ausgelöst wird. Darüber muß man reden. Aber es sind allesamt Probleme, die diese Regierung in 16jähriger Amtszeit angehäuft hat, ohne sie lösen zu können. Weder zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und zur Minderung der Sorgen um die soziale Sicherheit noch zur Beseitigung von Lohndumping und illegaler Arbeit war diese Koalition fähig.
Nicht einmal um Integration und Konfliktminderung im Verhältnis zwischen Einheimischen und Zuwanderern hat sie sich bemüht. Das positive Signal einer durchgreifenden Staatsbürgerschaftsreform hat sie ebenfalls nicht gesetzt.
Was machen Sie jetzt? - Sie widmen sich dem Endresultat Ihrer falschen Politik. Sie greifen eine angespannte Stimmungslage auf und reizen viele Men-
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
schen dazu, für die eigenen Sorgen und die eigene Unzufriedenheit Sündenböcke zu suchen. Das ist fatal und verantwortungslos.
- Wir haben den Antrag nicht gestellt. Sie wissen, daß das von anderer Seite kam.
Ich möchte an dieser Stelle noch eine weitere Bemerkung machen, damit keine Mißverständnisse aufkommen. Kein noch so tristes Wohnmilieu, keine Arbeitslosigkeit und keine Angst um Ausbildungsplätze rechtfertigen Haß und Gewalt gegen Menschen, die anders aussehen oder an etwas anderes glauben.
Meine Damen und Herren, auf keinem anderen Gebiet - das wissen Sie sehr wohl - sind Halbwissen und Fehldeutungen so verbreitet wie beim Thema Ausländer. Was hilft dagegen? - Dagegen hilft doch nur sachliche Aufklärung etwa über Geschichte und Entwicklung der Migration in unserem Land, über Fluchtursachen, auch über die grundgesetzlich verankerten Ansprüche auf Zugang zu diesem Land - etwa über das Asylverfahren oder den Familiennachzug oder die Möglichkeiten, als Spätaussiedler oder Bürgerkriegsflüchtling anerkannt zu werden.
Oder wollen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der CDU und vor allen Dingen aus der CSU, unter dem Stichwort „Zuzug verringern" alles das, was ich eben erwähnt habe, schlichtweg streichen oder kappen? - Dann sagen Sie das; dann wissen wir Bescheid.
Wir Sozialdemokraten sagen schon deutlich, daß längst nicht alle, die hierherkommen, bleiben können, und wir sprechen auch über bestimmte Formen von Kriminalität bei Ausländern, allerdings auch über die Eigenheiten von Kriminalitätsstatistiken. Wir sagen ebenso klar aber auch: Wer hier ein Bleiberecht hat, darf auf unsere Partnerschaft, unsere Solidarität, unsere gesellschaftliche und politische Zuwendung und auch auf eigene Teilhabe rechnen. Wir wollen keine neuen Zuzugswege öffnen, sondern die Zuwanderung dort steuern und politisch gestalten, wo das möglich ist.
Nicht Katzbuckeln gegenüber rechtsaußen ist geboten, sondern Schärfe und Härte. Darüber dürfen Sie innerhalb der Union und mehr noch innerhalb der Koalition ruhig Ihren Strauß austragen.
Für uns ist die Sache eindeutig: Mit Zündeln gegen Minderheiten darf man nicht auf Wählerfang gehen. Wer gegen diesen Grundsatz verstößt, zerstört auch den Konsens der Demokraten und unsere politische Kultur, über die wir heute mittag in sehr würdiger Form diskutiert haben. Wer dagegen verstößt, handelt nicht nur schädlich, sondern schändlich.
Das Wort hat die Abgeordnete Cornelia Schmalz-Jacobsen, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Jede und jeder von uns hat seine Erfahrungen mit Parteitagsbeschlüssen gemacht. Das möchte ich vorausschikken. Ob man zu Parteitagsbeschlüssen unbedingt Aktuelle Stunden beantragen muß,
ist in der Tat mit einem Fragezeichen zu versehen. Ich bedauere sehr - das muß ich Ihnen schon sagen -, daß wir heute in dieser Form über Ausländerpolitik debattieren müssen. Parteitagsbeschlüsse, die kaum eine Chance haben, überhaupt in das gemeinsame Wahlkampfprogramm von CDU und CSU zu kommen, scheinen mir kein angemessener Anlaß zu sein. So habe ich das aus Ihren Reihen vernommen. Der Kollege Geißler - den ich hier vermisse; er hat sicherlich etwas Besseres zu tun - hat sich sehr deutlich geäußert. Es ist Wahlkampf, und da scheint das so sein zu müssen.
Ausländerpolitik ist zum zentralen Bereich unserer Innenpolitik geworden. Mit diesem Thema gewinnen manche ganz offenkundig Wahlen; und andere hoffen nur, mit diesem Thema Wahlen gewinnen zu können. Ich erinnere Sie daran, daß 1989 die CDU in Berlin, ziemlich zum Ende ihres Wahlkampfes, gemeint hat, einen krassen Anti-Ausländer-Wahlkampf führen zu müssen. Das Resultat war nicht eine Stärkung der CDU, sondern das Einrücken der sogenannten Republikaner in das Abgeordnetenhaus.
In Baden-Württemberg haben wir vor zwei Jahren erlebt, daß die Sozialdemokratische Partei einen sehr schäbigen Wahlkampf gegen deutschstämmige Aussiedler geführt hat. Auch hier war das Ergebnis nicht, daß die Sozialdemokraten gestärkt wurden, sondern daß sich die Republikaner behaupten konnten. Wenn ich mich recht erinnere, gingen sie sogar gestärkt aus diesem Wahlkampf heraus. Es gibt andere Beispiele.
Immer wieder stellt sich dann die Frage, wen die Leute eigentlich wählen, das Original oder die Kopie? Der alte Satz von Franz Josef Strauß, es dürfe keine Partei rechts von der CSU geben, ist bedenkenswert und verständlich. Aber kann dieses Ziel jedes Mittel rechtfertigen?
Cornelia Schmalz-Jacobsen
Meine Kolleginnen und Kollegen, nur damit Sie es wissen: Ich habe das Papier hier, und ich habe es auch gelesen; ich habe mir sogar Passagen angestrichen.
Eigentlich lohnt es nicht, so viele Worte um das Papier zu machen. Denn neben Selbstverständlichkeiten, allgemein Anerkanntem und unbestrittenen Allgemeinplätzen sowie, ich muß das leider sagen, einer Portion halbgarer Wunschvorstellungen - zum Beispiel die Forderung, die „Rücknahmebereitschaft der Herkunftsländer zu stärken"; wie denn, bitte? - stekken darin leider einige gefährliche Giftpfeile. Deswegen hat das zu den von manchen gewünschten Reaktionen in der Öffentlichkeit geführt.
Sie sagen, die Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit seien erreicht. Das mag sein; darüber kann man diskutieren. Aber selbst wenn es so sein sollte - warum die krampfhafte Ablehnung eines Zuwanderungskontrollgesetzes?
Sie wissen selbst ganz genau, daß man nur mit einem Gesetz, das Zuwanderung steuern und, wenn notwendig, begrenzen kann, weiterkommt. Die Unterstellung des CSU-Parteitages, ein jedes Gesetz dieser Art müsse mehr Zuwanderung bewirken, verkauft die Bürger in Wirklichkeit für dumm.
„Deutschland ist kein Einwanderungsland" - das können Sie mit Ihrer Mehrheit sicherlich in der Bayerischen Verfassung festschreiben. Aber ich frage mich - ei, potztausend -: Wie sind denn die 1,1 Millionen Ausländer, die in Bayern leben, dorthin gelangt?
„Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht eignet sich nicht für Experimente und Anpassung an den Zeitgeist. " Also, wir wollen es an die Zeit anpassen - und das ist nötig!
Ihr Vorwurf „doppelte Staatsbürgerschaft - eine für das Herz und eine für den Geldbeutel" kann ja nicht Ihr Ernst sein. Das klingt gut und giftig - und ist unwahr. Was ist denn mit all diesen Kindern aus den binationalen Ehen? Was ist mit den vielen Aussiedlern, die zwei Staatsbürgerschaften haben?
Die Redezeit ist zu Ende, Frau Kollegin.
Da sind eine ganze Reihe von Dingen, ob für Herz oder für Geldbeutel, jedenfalls ohne Verstand gemacht worden. Das muß ich Ihnen leider unterstellen.
Ich komme zum Schluß. Wir haben es hier mit einer bunten, populistisch gefärbten Mischung zu tun, die so gottlob nie in die Wirklichkeit umgesetzt werden wird.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulla Jelpke, PDS.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ehrlich gesagt frage ich mich, worin die Aktualität dieser Debatte besteht; denn eigentlich haben wir es hier mit immer wiederkehrenden Rollen der CDU und der CSU zu tun: Sind die Rechtsextremisten stark, biedert sich die CSU diesen an, und die CDU versucht die Mitte zu erreichen. Ich finde es schon traurig, Herr Marschewski, daß die CSU vier Wochen nach dem erschreckenden und bedrückenden Ergebnis der DVU einen Parteitag durchführt und sich nicht scheut, ausgerechnet Peter Gauweiler, der ein ausgemachter Anhänger von rassistischen und völkischen Positionen ist, die ausländerpolitische Haltung der CSU auf diesem kleinen Parteitag der Öffentlichkeit präsentieren zu lassen.
Ich meine, ich sage nichts Neues, wenn ich hier feststelle: Deutschland ist ein Einwanderungsland. 9 Prozent unserer Bevölkerung haben keinen deutschen Paß; genau das ist das Kriterium. Da beispielsweise Sie, Herr Teiser, hier Herrn Gauweiler zitiert haben, „Deutschland und Bayern sind kein Einwanderungsland" : Ich hatte ursprünglich vor, die CDU etwas differenziert von der CSU zu behandeln, aber offensichtlich haben Sie ähnliche Positionen wie die CSU in Bayern übernommen, als das hohe Ergebnis der DVU zu verzeichnen war.
Nichtsdestotrotz muß man hier feststellen, daß gerade die CSU in ihrem Land die Migrantinnen und Migranten, die Ausländerinnen und Ausländer benutzt, um ihre schäbige Politik in Sachen Rassismus weiter zu verfolgen. Wir kennen die Parolen von Politikern dieser Partei, der CSU, die immer wieder sagen, Ausländer nähmen Deutschen die Arbeitsplätze weg, sie seien kriminell, sie würden das Asylrecht mißbrauchen, Sozialleistungen mißbrauchen usw.
Von Gauweiler konnten wir in den letzten Tagen hören: „Wir haben in Deutschland und Bayern die Grenzen der Aufnahmefähigkeit erreicht". Das Boot sei voll. All das haben wir schon oft genug gehört und haben erlebt, wie dadurch gezündelt worden ist. Ich meine, daß sich all diese Sprüche, die hier von der CDU/CSU kommen, überhaupt nicht von denen der DVU unterscheiden. Sie haben ja auch deutlich angekündigt, daß Sie deren Politik übernehmen wollen.
Ich bin fest davon überzeugt: Wer glaubt, Rechtsradikale bekämpfen zu können, indem man ihre Parolen übernimmt, bläst Wind in das Feuer, das Neonazis dann nehmen, um Asylheime und Ausländerunterkünfte anzustecken. Nur zu Ihrer Erinnerung: Erst vor zwei Wochen ist ein Asylbewerberheim in Aichach in Bayern angezündet worden. Ich meine, daß Sie mit Ihrer Politik nicht wenig Verantwortung dafür tragen.
Doch anstatt alles zu tun, um dafür zu sorgen, daß wachsender Rechtsextremismus, Antisemitismus,
Ulla Jelpke
Rassismus und Ausländerfeindlichkeit geächtet und sanktioniert werden, haben Sie, wie gesagt, die Stimmung weiter angeheizt.
Wes Geistes Kinder hier im Moment reden, haben wir gestern gehört, als der neue Regierungssprecher Hauser und der CSU-Generalsekretär Protzner unter Beweis stellen wollten, was für tolle Leute sie doch sind: Wir haben von ihnen heute in den Zeitungen beispielsweise lesen können, „die schmutzigste Wahl in einem deutschen Parlament seit 1933" sei in Sachsen-Anhalt durchgeführt worden.
Wer Höppner mit Hitler gleichsetzt, der kann sich hier nicht hinstellen und so tun, als wolle er junge Menschen, die von Rechtsradikalen beeinflußt sind, überzeugen und sie eines Besseren belehren. Wer so etwas sagt, ist in meinen Augen völlig unglaubwürdig.
Nicht nur das. Sie haben mit diesen Zitaten und auch mit der Jubelei, die Sie hier zeigen, deutlich gemacht, wie Sie die Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlosen.
Das ist wirklich eine Verharmlosung gegenüber den Jüdinnen und Juden, den Roma und Sinti, den Menschen mit Behinderung und den politischen Gegnern, die wirklich etwas anderes erlebt haben als das, was Sie hier vergleichend angeführt haben. Man mag es kaum aussprechen.
Aber auch andere Aussagen wie die des neuen Regierungssprechers kann man lesen. Ich zitiere:
... ungefähr dasselbe, als wenn die Nationalsozialisten unter anderem Namen nach dem Krieg mitregiert hätten.
Ich möchte Sie nur an Namen wie Globke, Filbinger oder Kiesinger erinnern. Diese Männer waren Nazis und haben unter der CDU in diesem Hause mitregieren können, wie Sie wissen.
Ich würde Ihnen hier eine wenig selbstkritische Haltung bescheinigen wollen.
Ihre Redezeit ist zu Ende, Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluß. - Ich meine, man kann den Rechtsextremismus in diesem Land nicht bekämpfen, indem man sich die Ausländerinnen und Ausländer zum Hauptfeind macht, indem man sie zum Sicherheitsrisiko erklärt. Wir wollen in diesem Land eine solidarische Gesellschaft, in der Menschen, die ausländischer Herkunft sind, die
gleichen Rechte erhalten wie Deutsche. Wer hier lebt, hat die gleichen Rechte zu bekommen. Dafür werden wir weiter kämpfen. Nur so werden Rassismus und Rechtsextremismus tatsächlich zu bekämpfen sein.
Danke.
Frau Abgeordnete, ich finde es nicht angemessen, daß Sie eine demokratische Partei des Bundestages beschuldigen, an irgendwelchen Verbrechen beteiligt zu sein.
Das Wort hat jetzt der Bundesinnenminister Dr. Manfred Kanther.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist nach der Haltung der Bundesregierung gefragt. Deshalb sei mir gestattet, daß ich auszugsweise - aber wörtlich - aus Beschlüssen der Bundesregierung zitiere:
Nur durch eine konsequente und wirksame Politik zur Begrenzung des Zuzugs aus Ländern, die nicht Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind, läßt sich die unverzichtbare Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Ausländerintegration sichern. Dies ist zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens unerläßlich.
Es besteht im Kabinett Einigkeit, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll. ... Das Kabinett ist sich einig, daß für alle Ausländer, die aus Ländern außerhalb der EG kommen, ein weiterer Zuzug unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten verhindert werden soll. ... Ausländer, die sich illegal in der Bundesrepublik aufhalten, sollen prinzipiell abgeschoben werden. Ausländerschwarzarbeit ist strikt zu unterbinden und schärfer zu verfolgen.
Soweit die Beschlüsse der Bundesregierung aus SPD und F.D.P. vom 11. November 1981 und vom 3. Februar 1982.
Was darin steht, ist zeitlos richtig. Dies wurde in einer Zeit ausgesprochen, in der es in Deutschland 4,6 Millionen Ausländer gab. Heute gibt es etwa 60 Prozent mehr, nämlich 7,3 Millionen. Deshalb möge mir einmal jemand erklären, warum wir uns 1981/82 richtigerweise nicht als Einwanderungsland verstanden haben, uns aber jetzt als solches verstehen sollen. Deutschland ist kein Einwanderungsland, und mit der CDU/CSU und dieser Bundesregierung wird es auch keines.
Bundesminister Manfred Kanther
Deutschland braucht kein Einwanderungsgesetz. Es hat zuviel Zuzug, den es nicht will.
Und im übrigen - gefragt - sage ich Ihnen: In Fragen der inneren Sicherheit und der Ausländerpolitik bekommen Sie zwischen CDU und CSU und dem Innenminister kein Blatt Papier. Das war's.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte eines gleich zu Beginn klarstellen: Meine Fraktion ist nicht daran interessiert, das Thema „Zusammenleben von Nichtdeutschen und Deutschen in der Gesellschaft" zu tabuisieren und aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Das geht gar nicht. Wir wollen Nichtdeutsche nicht in Watte packen. Das haben sie gar nicht nötig. Aber wir wollen sachlich über das Thema diskutieren. Darin unterscheiden wir uns sehr stark von Ihnen.
Der schwarze Peter Gauweiler - bisher eher Schmuddelkind seiner Partei - stieg am vergangenen Wochenende quasi wie Phönix aus der Asche, um der CSU die rechte Richtung zu weisen.
Ich möchte einmal ein paar Beispiele aus dem bayerischen CSU-Tollhaus zitieren, damit man sieht, worüber wir eigentlich diskutieren. In München sollen die Eltern eines straffällig gewordenen Jugendlichen gleich mit abgeschoben werden. Ich bin sehr gespannt, was die Gerichtsbarkeit dazu sagen wird. Es geht hier nicht darum, daß man straffällig gewordene nichtdeutsche Jugendliche anders behandelt als deutsche. Sie sollen genauso bestraft und behandelt werden wie andere Jugendliche, die bei uns geboren sind. Aber sie sind hier straffällig geworden. Ihre Eltern zahlen hier Steuern, also müssen sie auch nach deutschem Recht so behandelt werden wie jeder andere Mensch dieser Republik. Alles andere kommt einer Verbannung gleich. Ich denke, das gehört sich in diesem Land nicht.
Zweites Beispiel: Das bayerische Innenministerium möchte in Kempten eine 29jährige junge Dame, eine Kurdias, die vier Jahre lang von ihrem Ehemann mißhandelt und geprügelt wurde, abschieben. Es erkennt einen Härtefall nicht an. Jetzt darf ich zitieren
- man lasse sich das auf der Zunge zergehen -: Ein „Verlust eines wichtigen Gliedes, Verfallen in Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit oder auch dauernde Entstellung" konnte nicht festgestellt werden.
- Ich habe das Gefühl, am vergangenen Wochenende wurde bei der CSU eine dauernde Entstellung festgestellt, nämlich eine dauernde Entstellung, was Rechtsstaatlichkeit angeht.
Schließlich soll in Nürnberg wider jede Vernunft die Ausweisung eines Krankenpflegers festgestellt werden, der Adoptivsohn von deutschen Eltern, eines deutschen Ehepaares, ist, der seit 24 Jahren in der Familie lebt und dessen einziges Manko ein haitianischer Paß ist. Dieser bayerische Sonderweg sollte an bayerischen Grenzen halt machen, aber mit Sicherheit nicht bundesweit gegangen werden.
Nun lassen Sie mich eines sagen: Ich bin kein Christ, sondern von der Geburtsurkunde her Muslim. Aber das, was ich im christlichen Religionsunterricht gelernt habe - ich habe da gut aufgepaßt -, was sowohl im Alten als auch im Neuen Testament steht, das hat nun wirklich nicht sehr viel mit dem zu tun, was den bayerischen Sonderweg ausmacht.
Jetzt noch etwas zu den Punkten, die angesprochen worden sind.
Einwanderungspolitik: Es wird durch mehrmaliges Wiederholen nicht richtiger: Wir haben in diesem Hause und in dieser Gesellschaft zwei Formen von Fundamentalismen. Die einen sagen: offene Grenzen, jeder soll kommen können. Die anderen sagen - das hat die CSU jetzt noch einmal eindrücklich unterstrichen -: Niemand soll kommen können; wir verabschieden uns von der Exportnation, wir verabschieden uns von der Globalisierung, wir verabschieden uns von Europa. Das ist die CSU-Position.
Wir stehen in der Mitte.
Wir sagen: kontrollierte, geregelte Zuwanderung, keine offenen Grenzen, aber auch keine „Schotten dicht!" Wir sagen ja zu Europa. Wir sagen ja zur gemeinsamen Politik. Es würde mich einmal interessieren, wie der Bundeskanzler das mit seiner Europapolitik vereinbaren kann, was Sie am Wochenende an uneuropäischen, europafeindlichen Positionen verabschiedet haben.
Jetzt noch etwas zur doppelten Staatsbürgerschaft: Auch dazu lohnt es sich, einige nähere Betrachtungen zu machen. Gerade Sie in Bayern sollten bei dieser Frage etwas bescheidener auftreten. Sie müßten doch eigentlich wissen - ich glaube, das lernt man in Bayern in der Schule; ich habe gehört, dort hat man recht gute Schulen -, daß die bayerische Landesverfassung Ihnen sagt, daß Sie gleichzeitig bayerischer Staatsbürger sind. Das heißt: Sie, die Sie hier sitzen und mit großer Vehemenz die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft wie eine Monstranz vor sich hertragen, haben quasi eine doppelte Staatsbürgerschaft. Vielleicht sollten Sie sich dazu einmal auslassen. Ich habe bisher nicht gehört, daß die bayeri-
Cem Özdemir
schen Staatsbürger - die wir hier herzlich willkommen heißen - große Probleme mit Identitäts- und Loyalitätskonflikten haben. Ich glaube, daß die Bayern ganz gut mit ihrer doppelten Staatsbürgerschaft in Deutschland umgehen können.
Ich darf noch eines hinzufügen: Wir haben jetzt die Unionsbürgerschaft in Europa. Das heißt, die Bayern haben sogar, wenn Sie so wollen, drei Staatsbürgerschaften. Auch das scheint ganz gut zu klappen. Also auch hier gilt: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Oder, um es biblisch auszudrücken: Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders und wirst nicht gewahr den Balken in deinem eigenen. - Also auch hier etwas mehr Vorsicht, etwas mehr Realitätstauglichkeit!
Noch ein Letztes: Otto von Habsburg - meines Wissens CSU-Mitglied im Europaparlament - hat seinerzeit auf Intervention von Franz Josef Strauß, um 1989 ins Europaparlament gewählt werden zu können, neben seiner österreichischen Staatsbürgerschaft noch die bundesdeutsche bekommen,
damit er heute die CSU vertreten kann. Was bei Otto von Habsburg Rechtens ist, sollte auch bei Menschen Rechtens sein, die in dieser Gesellschaft geboren werden und mit ihrer Geburt quasi schon zum Ausdruck bringen, daß sie zu dieser Gesellschaft gehören.
Jetzt komme ich wirklich zum Schluß. Sehr geehrte Damen und Herren, einen ernsten Satz lassen Sie mich noch sagen: Die Bekämpfung des Rechtsradikalismus - da sind wir uns in diesem Haus im Prinzip ja einig - ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Nur, was wir am Wochenende erlebt haben, ist der Abschied von der Bekämpfung des Rechtsradikalismus durch die CSU und damit auch durch die CDU. Das können wir uns in dieser Gesellschaft gar nicht leisten, da wir alle politischen Kräfte für diese Aufgabe brauchen. Ich bitte Sie und fordere Sie auf: Kehren Sie zur Vernunft zurück! Bekämpfen Sie mit uns gemeinsam antidemokratische Tendenzen!
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Peter Ramsauer, CDU/ CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bündnisgrünen betreiben mit der heutigen Aktuellen Stunde ein unwürdiges Schauspiel. Lieber Kollege Özdemir, ich habe von Ihnen wirklich mehr als das erwartet, was Sie in den letzten fünf Minuten hier abgeliefert haben. Aber ich interpretiere es jetzt einfach einmal als Kompliment, daß Sie die Staatsbürgerschaft des Freistaates Bayern hier als Besonderheit herausstellten. Weil es eine Besonderheit ist, reißt man sich in Deutschland auch darum,
daß man in den Genuß der bayerischen Staatsbürgerschaft kommt. Wer sie einmal hat, gibt sie so leicht nicht wieder her.
- Doch, das ist so, und wir sind stolz darauf. Ich freue mich, daß ich hier auch Beifall von außerhalb der weiß-blauen Grenzen bekomme.
Ihnen geht es nicht um eine sachliche Auseinandersetzung um Inhalte, sondern nur um eine politische Show. Das Übelste dabei ist wohl, die CSU an den rechten Rand drängen zu wollen oder uns den Vorwurf zu machen, wir hätten uns in den letzten Wochen im politischen Koordinatensystem irgendwohin bewegt. Das ist lächerlich, das glaubt Ihnen nicht einmal jemand in den tiefstroten oder -grünen Gebieten Deutschlands. Es stimmt einfach nicht! Das, was die CSU - egal, in welcher Gliederung - in den letzten Wochen zu diesem Thema, aber auch zum Thema innere Sicherheit gesagt hat, haben wir in den letzten Jahren doch schon zigmal in allen möglichen Variationen gesagt; nur hören Sie oft zuwenig hin.
Wir haben von seiten der CSU wirklich keinerlei Belehrungen darüber nötig, wie die Abgrenzung zu politischen Extremisten und zu radikalem politischen Gedankengut auszusehen hat. Es soll uns erst einmal jemand nachmachen, wie wir uns in Bayern erfolgreich mit dem Gespenst der Republikaner auseinandergesetzt haben. Wir waren selbst erschrocken, als sie 1989 mit 14 Prozent ins Europaparlament eingezogen sind. Wir haben nicht mit ihnen gekungelt. Wir haben nicht das betrieben, was die SPD in Sachsen-Anhalt betreibt:
die Kungelei, das Bemänteln, das Sich-von-denenwählen-Lassen, das Spekulieren, daß man sie noch für mehr als nur für eine Duldung brauchen könnte. Nein, wir haben klipp und klar gesagt, daß sie unsere erbitterten politischen Gegner sind, von denen wir uns absetzen. Es gibt keine andere politische Kraft in Deutschland, die sich so entschieden von diesen Extremisten abgegrenzt hat.
Die CSU ist wie keine andere Partei in der breiten Bevölkerung verankert. Das nennen Sie „CSU-Tollhaus", Herr Özdemir, wenn eine breite Mehrheit von deutlich über 50 Prozent diese Politik für richtig hält?
Sie beleidigen diese große Mehrheit der bayerischen Bevölkerung, wenn Sie das ernst meinen, was Sie sagen.
Dann möchte ich noch darauf zu sprechen kommen, daß ausgerechnet Bayern als ausländerfeindlich bezeichnet wurde.
- Aber andere haben es getan, und Sie inzidenter
auch. - Es gibt kein Bundesland in Deutschland, in
Dr. Peter Ramsauer
dem Ausländer so sicher wie in Bayern leben können.
Wir meinen es in Bayern mit der inneren Sicherheit ernst. Genauso sicher, wie ein Deutscher und ein Bayer in Bayern leben kann, kann auch jeder Ausländer in Bayern leben. Bei uns hat es nie eine Hafenstraße und auch nie Chaostage gegeben. Als Ausländer würde ich mich fürchten, in ein Land wie Niedersachsen oder in eine Stadt wie Hannover zu gehen, wo Chaostage stattfinden können. Warum hat Schröder so etwas wie die Chaostage geduldet? Bis heute sind die Geschädigten noch nicht voll entschädigt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was antwortet Ihr Kanzlerkandidat darauf? Schaut die Antwort so aus, daß er heute einen ehemaligen Terroristenanwalt als künftigen Innenminister bestellen will? Will er wirklich einen ehemaligen Terroristenanwalt zum obersten Hüter von Recht und Ordnung in diesem Land machen? Da wird auch den Ausländern in unserem Lande zu Recht angst. Aber in Bayern leben sie so sicher wie in keinem anderen Bundesland.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Bekämpfung des Asylmißbrauchs, Ablehnung einer generellen Doppelstaatsbürgerschaft, konsequente Verhinderung illegaler Einwanderung und Kampfansage gegen Ausländerkriminalität sind keine rassistischen Delikte, sondern ein Gebot der Vernunft für ein gedeihliches Miteinander von Ausländern und Deutschen in unserem Land.
Nachdem Ingolstadt verschiedentlich angesprochen worden ist, möchte ich folgendes sagen: Die Ausländerpolitik, wie sie in der Vergangenheit von der CSU und der Bayerischen Staatsregierung immer betrieben und wie sie auf dem kleinen Parteitag der CSU in Ingolstadt für die Zukunft formuliert worden ist, ist von ganz praktischer Vernunft und ganz praktischem Realitätssinn geprägt. Sie ist von einer Art - ich sage es noch einmal deutlich -, daß sie von der großen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird. Die Kritik der politischen Linken daran ist ein geheuchelter Aufschrei und Ausdruck welt- und menschenfremder Politik.
Das Wort hat der Abgeordnete Fritz Rudolf Körper, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer bekannten Tageszeitung war zu lesen - ich zitiere -:
Die CSU legt aus vordergründig taktischen Gründen die Lunte an ein Pulverfaß. Das in jedem Land der Welt schwierige Problem des Zusammenlebens von einheimischer und ausländischer Bevölkerung wird ohne Not in den Wahlkampf gezerrt, um von den wahren Problemen abzulenken.
Es ist wichtig, einmal darauf hinzuweisen, daß es einen Unterschied zwischen sachlichen Inhalten und
der Art und Weise, wie sie vorgetragen und interpretiert werden, gibt.
Wenn der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sagt, daß die Betonung der Themen, die wir heute besprechen, eine Facette sei, mit der wir aus manchem Stimmungstief herausgeholt werden, dann zeigt sich darin auch das wahre Gesicht dieses Menschen. Wer nämlich so mit dem Schicksal unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger umgeht, ihr Schicksal so mißbraucht und instrumentalisiert, der sollte sich im Grunde genommen schämen, weil diese Vorgehensweise keine sachgerechte Auseinandersetzung darstellt.
Ausländer, Asylsuchende und Aussiedler werden im Grunde genommen zu Sündenböcken für eine Entwicklung gemacht, die sie selbst nicht zu verantworten haben. Die objektiven Probleme der Arbeitslosigkeit und der immer größer werdende Abstand zwischen Arm und Reich gehen in der emotional geführten Ausländer- und Asyldiskussion unter. Mit ihrem Parteitagsbeschluß zur Ausländerpolitik verstärkt die CSU meines Erachtens die Argumentationsmuster rechter Gruppierungen, denen es nur darum geht, gesellschaftliche Minderheiten weiter auszugrenzen. Deswegen bin ich der Auffassung, daß sachliche Auseinandersetzung not tut - auch bei dem schwierigen Thema der Ausländerkriminalität.
Gestatten Sie mir hierzu eine Bemerkung: Wir haben immerhin 3,5 Millionen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die länger als zehn Jahre in der Bundesrepublik Deutschland leben. 1,5 Millionen leben sogar mehr als 20 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn man sich mit dieser Personengruppe beschäftigt, dann muß man der Fairneß halber hinzufügen, daß bei diesen Menschen die Kriminalitätsquote, gemessen an der Wohnbevölkerung in Deutschland, unter dem Durchschnitt liegt. Wer über Ausländerkriminalität redet, der sollte auch einmal darüber reden.
Ich muß aber, ohne bestimmte Probleme verhehlen zu wollen, auf folgendes hinweisen: Wenn man über organisierte Kriminalität redet, dann muß man wissen, daß beispielsweise Ausländer, die keinen verfestigten Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik Deutschland haben, überdurchschnittlich an organisierter Kriminalität beteiligt sind. Ich bin der Auffassung, daß es auch bei diesem Thema notwendig ist, trotz Wahlkampfs eine sachbezogene Differenzierung vorzunehmen.
Ähnlich gehen Sie ja auch mit dem Thema der Abschiebepraxis um. Ich denke, daß das nicht in Ordnung ist, weil damit nur Emotionen geweckt werden. Ich erinnere daran, daß beispielsweise das Ausländergesetz im Jahre 1997 zu einem Gesetz mit klaren rechtsstaatlichen Regelungen und Instrumenten geändert worden ist.
Ich möchte eine persönliche Bemerkung hinzufügen: Für Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, sollte es meiner
Fritz Rudolf Körper
Meinung nach ein unentziehbares Aufenthaltsrecht geben.
Wie im österreichischen Ausländerrecht sollte auch in unserem Recht verankert werden, daß ihr Auf enthalt nicht mehr zur Disposition steht. Wenn diese hier in Deutschland geborenen Kinder und Jugendlichen, die längst keine Zuwanderer mehr sind, straffällig werden, ist das ein Problem unserer Gesellschaft und nicht der abgebenden Gesellschaft ihrer Eltern und Großeltern.
Ich sage auch noch eines ganz deutlich: Für falsch und unverschämt halte ich die Behauptung in diesem Papier, das wir heute besprechen, daß die SPD immer mehr Einwanderung wolle.
Nein, meine Damen und Herren, wir haben ein Gesamtkonzept zur Steuerung der Zuwanderung und zur Förderung der Integration vorgelegt, gemäß dem sich eine Zuwanderung an den Integrationsmöglichkeiten in unserem Land auszurichten hat. Das ist, wie ich glaube, die alles entscheidende Frage. Es besteht nach meinem Dafürhalten nicht mehr die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht; sie ist durch die Fakten quasi gegenstandslos geworden. Wir haben 7,2 Millionen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Ihre Redezeit ist zu Ende.
- Von daher erledigt sich diese Frage. Ich bin jedenfalls dafür, daß wir mit diesen Fragen sachbezogener umgehen sollten. Sie eignen sich nicht für wahlkampftaktische Zwecke.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Heinz-Jürgen Kronberg, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Ich danke erst einmal für die Worterteilung zu meiner wahrscheinlich vorerst letzten Rede in diesem Hohen Hause.
Ich verstehe die Aufregung der Oppositionsbank in der Gänze eigentlich überhaupt nicht. Das Interesse läßt ja auch ziemlich nach. Waren es am Anfang wenigstens noch sieben Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, so sitzt nun noch eine auf ihrem Stuhl. Vielleicht fällt ihr ein, daß auch sie noch einen Termin hat. Ich frage mich, warum wir uns hier über Ausländerpolitik unterhalten. Deutschland ist bis heute das Land, welches die meisten Asylbewerber
und Kriegsflüchtlinge pro Kopf der Bevölkerung aufgenommen hat. Wir sind das Land mit den liberalsten Ausländergesetzen in Europa; sehen Sie sich doch in unseren Nachbarländern um. Außerdem sind wir im Vergleich zu unseren Nachbarn das Land mit den besten Integrationserfolgen. Wenn ich mir Frankreich oder Großbritannien anschaue, stelle ich fest, daß die dort herrschenden Probleme wesentlich schärfer sind als die, die wir haben. Diese beiden Länder wären froh, wenn sie nur unsere Probleme hätten.
Das ist doch kein Ergebnis, dessen wir uns hier zu schämen hätten oder vor dem wir uns gar verstecken müßten. Das ist ein Erfolg, sogar ein sehr beträchtlicher Erfolg. Es ist ein Erfolg von uns allen - auch wenn die SPD jetzt wieder etwas anderes tut -, weil wir 1993 den Asylkompromiß gemeinsam beschlossen haben. Es ist aber vor allem ein Erfolg der Union, denn wir waren die treibende Kraft in diesem Prozeß. Diesen Erfolg können wir festhalten, auch wenn die Zahl der Asylsuchenden in den letzten fünf Jahren um 75 Prozent zurückging. Dies zeigt, wir haben einen offensichtlichen Mißbrauch radikal gestoppt, die Ausländerkriminalität ist daraufhin merklich gesunken, die Steuerzahler sind deutlich entlastet worden, und das Individualrecht der wirklich politisch Verfolgten und der Kriegsflüchtlinge ist erhalten und zum Teil sogar noch verbessert worden.
Daß Sie, Rotgrün, mit Ihrer Wischiwaschi-Asylpolitik und -Ausländerpolitik keinen Erfolg haben, wissen Sie ja zum Teil selbst. Ich denke an den jämmerlich gescheiterten Versuch im baden-württembergischen Landtagswahlkampf - das wurde vorhin schon angesprochen - und an viele ähnliche unglaubwürdige Selbstbefreiungsversuche. Eine noch schlimmere Quittung - nicht nur für Sie, sondern für uns alle - war das Ergebnis des Landtagswahlkampfes in Sachsen-Anhalt. Das ist überhaupt nicht verwunderlich, wenn man sieht, daß unklare und widersprüchliche Positionen artikuliert werden - zu welcher Position hat Ihr Kanzlerkandidat nicht schon ja und nein gesagt? -, die einerseits in ihrem Kern den Menschen das Gefühl von Aufgehobenheit und Klarheit nehmen und ihnen andererseits auch nicht das Gefühl von einer zuversichtlichen Zukunft ihres ureigenen Lebens vermitteln, denn die soziale und auch die wirtschaftliche Situation gerade in den ländlichen Bereichen von Sachsen-Anhalt ist mehr als düster.
Ich selbst war Sozialamtsleiter und weiß noch zu genau, wie entwurzelt und wie sehr auf der Suche solche Menschen sind. Ich weiß, wie sehr Menschen, die auf der untersten Sprosse unserer sozialen Leiter stehen, oft hungrig nach einem Gefühl der Stärke, der Geborgenheit und der erfolgreichen Führung sind, aber auch mit Schuldzuweisungen auf Grund ihrer eigenen, oft verzweifelten und aussichtslosen Situation zu kämpfen haben.
Deswegen sage ich: Wer ein Land wie SachsenAnhalt zum Schlußlicht der Nation macht und wer die Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten alleine läßt, der braucht sich nicht zu wundern, wenn die braunen Wölfe kommen, wenn Sie nicht einmal mehr ihre Schafspelze anziehen und mehr als genug Lämmer finden, die sie reißen können. Unsere parlamen-
Heinz-Jürgen Kronberg
tarische - oder eher: unsere demokratische - Pflicht, vor allen Dingen vor dem Hintergrund unserer schlimmen historischen Erfahrungen, die wir mit diesen Rattenfängern und Totschlägern gemacht haben, ist deswegen, solche rechten Töne durch eigenes Handeln überflüssig zu machen.
Ich denke, daß die CSU in ihrem Papier einen eindeutigen und auch nachvollziehbaren Standpunkt vertreten hat, der zugegebenermaßen in vielen Passagen sprachlich eher volkstümlich als irgendwie anders wirkt. Aber die Menschen wollen klare Positionen; sie wollen kein Jein, und sie wollen auch kein Ja-aber.
Liebe Frau Präsidentin, meine Kollegen, damit verabschiede ich mich von diesem Hohen Haus für - so möchte ich einmal formulieren - dieses Jahrhundert nach acht äußerst interessanten Jahren, von denen ich sagen kann: Es waren nicht nur die lehrreichsten, es waren auch die schönsten Jahre in meinem Leben. Ich danke allen Kollegen für ihre Begleitung und Zusammenarbeit. Auf Wiedersehen im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich danke.
Lieber Kollege Kronberg, ich möchte Ihre letzte Rede im Deutschen Bundestag zum Anlaß nehmen, Ihnen ganz herzlich für Ihren Einsatz im Deutschen Bundestag zu danken, und möchte Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg alles Gute wünschen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte ist wirklich Ausfluß des bereits laufenden Wahlkampfes, sonst würde man hier nicht nach Themen, die auf Parteitagen diskutiert wurden, und nach Papieren greifen, die in allen Parteien Verbreitung finden.
Die Diskussion zum Thema Ausländer, die von mir über viele Jahre verfolgt wurde, macht mir eines deutlich: Auf der einen Seite dieses Hauses gibt es eine einseitige Betrachtung nach dem Motto: „Was können wir noch für Ausländer tun?" Auf der anderen Seite - das ist wohl das Problem - müssen die Regierungsverantwortlichen entscheiden, welche Möglichkeiten zur Eingrenzung des Mißbrauchs bestehen.
Die Diskussion wurde nicht zum erstenmal an dem Satz ausgerichtet, Deutschland sei ein Einwanderungsland. Ich habe zu diesem Thema schon zwei- oder dreimal gesprochen.
Es handelt sich um zwei Paar Schuhe.
Wer die Geschichte kennt, der weiß um die historische Bedeutung der Einwanderung. Einwanderung fand in den letzten Jahrhunderten in schwach besiedelten Ländern dieser Erde statt, die ein Interesse daran hatten, daß es gewollte Zuwanderung gab. Ich kann nicht verstehen, daß es in Deutschland irgendeinen Menschen geben kann, der sich in diesem Sinne Zuwanderung erhofft und erwünscht. Die Diskussion über Einwanderung hat nichts mit der Frage zu tun, ob es eine tatsächliche - zum Teil gewollte, zum Teil ungewollte - Zuwanderung gibt. Diese Diskussion hat auch nichts mit Eichhörnchen zu tun, denn vieles, was in dieser Republik feststellbar ist, ist noch lange nicht zum Kriterium zu erheben.
Ich sage noch einmal: Dieses Land ist liberal wie kein anderes Land in Europa und in der Welt und hat ein sehr freizügiges Ausländerrecht.
- Frau Jelpke, wer von diesem Rednerpult solche Sätze wie Sie heute spricht, ist überhaupt nicht wert, daß auf seine Zwischenrufe eingegangen wird.
Wenn hier gesagt wird, daß jemand, der ein Ausländerthema behandelt, mit schuld sei an brennenden Asylbewerberheimen, dann ist das so dumm, daß ich wirklich nicht darauf eingehen kann.
Innenminister Kanther hat doch hier die Zahlen genannt. Wenn sich der letzte SPD-Bundeskanzler bei damals über 4 Millionen Ausländern gegen ein Einwanderungsland Deutschland ausgesprochen hat,
kann man doch nicht in einer Zeit, in der wir 7,4 oder 7,5 Millionen Ausländer haben - interessanterweise bei 1,8 Millionen EU-Bürgern -, in der wir eine nahezu 60 Prozent höhere Ausländerquote in diesem Land haben, so tun, als wenn der Begriff Einwanderungsland nun richtiger wäre.
Ich wehre mich ganz entschieden dagegen, daß in der Auseinandersetzung um Ausländerfragen so getan wird, als ob sich die CSU verändert hätte. Sie hat es mitnichten.
Sie können alle die Punkte, die in dem Parteiausschuß genannt sind, über viele Jahre in unserer Programmatik wiederfinden.
Es ist auch eine Dummheit, zu glauben, die DVU-
Stimmen in Sachsen-Anhalt hätten ihre Ursache in
Wolfgang Zeitlmann
Fehlentscheidungen der Bonner oder gar der CSU-Politik.
- Für mich ist das sonnenklar: Wer Linksradikale, die Kommunisten, so behandelt, wie er sie behandelt, braucht sich nicht zu wundern, wenn rechts etwas entsteht. Sie schaukeln sich gegenseitig hoch. Das ist doch überhaupt keine Frage.
Eine der strittigen Fragen in dem Papier, über die man diskutieren kann, lautet: Ist es richtig - das hat mit Sippenhaft überhaupt nichts zu tun; das Ausländerrecht ist ja kein Strafrecht -, daß ein Minderjähriger, der nachweislich von allen sozialen Stellen als Mitglied einer freien Gesellschaft als völlig ungeeignet betrachtet wird - er ist, glaube ich, in 60 Fällen strafrechtlich in Erscheinung getreten, kann aber nicht verurteilt werden, weil er minderjährig ist -, auf Dauer zu dulden ist,
daß das Ausländerrecht hier quasi ein Aufenthaltsrecht gewährt? Es kann doch nur richtig sein, zu sagen: Wenn sich jemand so gegen das Gastrecht benimmt und die Eltern dazu beitragen, indem sie ihre Aufsichtspflicht verletzten, muß man sich fragen, ob er in diesem Land wirklich noch Platz hat.
Wenn Sie in der Öffentlichkeit sagen wollen, wir müssen jeden Ausländer, der häufig straffällig wird, hier ertragen, tun Sie das bitte; völlig d'accord. Wir sagen das Gegenteil. Ich will Leute, die das Gastrecht mißbrauchen, nicht hier haben. Übrigens bin ich da in der Gesellschaft Ihres Kanzlerkandidaten, der ähnliches geäußert hat: Wer sich strafbar macht, hat rauszufliegen.
Das wird vom Volk verstanden und wird sicher nicht zu einer Radikalisierung in dieser Gesellschaft führen.
Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28. Mai 1998, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.