Rede von
Dr.
Graf
Otto
Lambsdorff
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(F.D.P.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! „Die Freiheit der Person ist unverletzlich." „Die Wohnung ist unverletzlich." „Das Briefgeheimnis ist gewährleistet. " „Die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei." „Das Eigentum ist unverletzlich." - Diese Sätze kommen uns allen vertraut vor. Das Grundgesetz und die Weimarer Verfassung wiederholen sie. Sie stammen aus dem Kernstück des großen Werkes der Paulskirche, dem Grundrechtskatalog der Verfassung.
Daß viele Menschen sie auch heute noch als ausgesprochen aktuell einstufen, zeigt, daß bei der Frage der Rechte der Menschen das wahre große Vermächtnis der 1848er Revolution zu suchen ist.
Dr. Otto Graf Lambsdorff
Die Mitglieder der Paulskirchen-Versammlung, die sich zugleich die große Aufgabe der Vereinigung Deutschlands gestellt hatten, speisten ihre Inspiration aber nicht nur aus der Idee der Menschenrechte.
Über dem Stuhl des Präsidenten der Versammlung prangten die Worte:
Des Vaterlandes Größe, des Vaterlandes Glück, Oh schafft sie, oh bringt sie dem Volke zurück.
Das blumige nationale Pathos hinter diesem Reim wirkt - so sehr es für das Verständnis des Gesamtphänomens „ 1848 " wichtig ist - für uns heute wohl eher leicht belustigend. Aber dennoch haben Sie, Herr Duve, recht, wenn Sie eine Parallele zwischen 1848 und 1989 ziehen. Im übrigen erlaube ich mir die Bemerkung, daß es immer ein besonderes Vergnügen war, mit Ihnen hier im Plenarsaal diskutieren zu dürfen. Vielen Dank dafür!
Der dürre Gesetzestext der Menschenrechte hat seine bezwingende Wirkung ungebrochen beibehalten. Die Paulskirchen-Versammlung konnte - das wissen wir - ihren Verfassungsentwurf nicht durchsetzen. In diesem Sinne scheiterte sie. In einem anderen Sinne scheiterte sie nicht: Sie war in ihrer tatsächlichen politischen Tragweite trotz ihrer Niederlage zu gewaltig, als daß man danach einfach zur Tagesordnung übergehen konnte. Die Idee der Freiheit war ein für allemal in die deutsche politische Tradition eingeflossen.
Wenngleich diese Idee in vielen Etappen der deutschen Geschichte - etwa der des Nationalsozialismus oder der des sowjetgestützten und kommunistischen Regimes in Ostdeutschland - niedergeschmettert wurde, war sie doch immer wieder der Regeneration fähig. Dies war sie nicht zuletzt, weil sie mit der 48er Revolution irgendwie in das kollektive Bewußtsein eingedrungen war. Es ist sicher richtig, daß etwa der demokratische Neubeginn der Bundesrepublik in mancher Hinsicht ein Werk der Westalliierten war, die den Geburtsvorgang geburtshelferisch unterstützten. Aber Erfolg konnte dies nur haben, weil ein vielfältiges demokratisches und freiheitliches Bewußtsein vorhanden war. Es konnte sein Selbstverständnis auch daraus beziehen, daß es im denkwürdigen Jahr 1848 ein Fanal der Freiheit gegeben hatte, das ganz und gar ein eigenes, aus dem deutschen Volke gekommenes Werk war. Es gäbe sonst auch keinen Grund, warum wir heute diesen Jahrestag feiern sollten.
Ich kann mir keine echte Regeneration irgendeines deutschen Gemeinwesens vorstellen, die nicht an das Vermächtnis der Revolution von 1848 anknüpft. Kein Geringerer als Hoffmann von Fallersleben hat das Fortleben der Ideen der Revolution schon 1848
erkannt, als er den Mächten der Reaktion mit viel Spott die Zeilen entgegendichtete:
Nein, Michel ist munter, wird hinfort wachen. Und läßt sich kein X für ein U hinfort machen. Ihr möget zensieren und Euch abkastein -
Doch den Michel, den schläfert ihr nie wieder ein!
Warum hat diese Revolution immer noch so eine vitale Symbolfunktion für das freiheitliche und demokratische Deutschland? Die Antwort ist genau dort zu finden, wo die Sprache der Revolution auch heute noch aktuell wirkt, nämlich bei jenem Menschenrechtskatalog, den ich eben erwähnte.
Der Grund für diese Aktualität wäre den damaligen Autoren dieses Katalogs kaum eine Überraschung gewesen. Viele von ihnen hatten die Rechtstheorien Immanuel Kants studiert und wußten, daß diese Rechte, die sie dort zu Papier brachten, universal waren. Sie waren und sind gültig, unabhängig von Zeit und Raum. Sie erschütterten 1848 überall in Europa die absolutistischen Throne, die sich seit der Restauration im Gefolge des Wiener Kongresses von 1815 nur allzu sicher gewähnt hatten.
Die Internationalität - oder wie man damals wohl gesagt hätte: Weltbürgerlichkeit - ist ein Aspekt, der nicht vergessen werden sollte. Trotz des spezifisch nationalen Hintergrundes der deutschen Ereignisse fühlte man sich stets von den Ereignissen im Ausland, insbesondere in Frankreich, inspiriert. Die Paulskirchen-Versammlung hatte eine Friedensordnung vor Augen, die in der freiheitlichen Verfassung aller europäischen Länder wurzelte. Ich denke, es ist auch dies eine immer noch aktuelle Idee.
Demokratie und Menschenrechte sind immer noch die besten Garanten für den Frieden. Dort, wo Herrschaftsregime nicht den inneren Frieden mit den eigenen Bürgern gefunden haben, steht erfahrungsgemäß der äußere Frieden mit anderen Ländern auf schwachen Füßen. Deshalb und weil Menschenrechte natürlich immer auch ein Selbstzweck in sich sind, ist es uns nicht gleichgültig, was außerhalb unseres eigenen Landes in Sachen Menschenrechten geschieht. Als 1989 das von Ronald Reagan zu Recht so apostrophierte „Reich des Bösen" zusammenbrach, meinten ja einige schlaue Geister tatsächlich, es sei nun das Ende der Geschichte gekommen; bald gebe es nur noch liberale Demokratien, nur noch Meine technische Probleme würden ab und zu zu lösen sein. Schön wäre es gewesen! Sieht man sich in der Welt um, dann stellt man fest, daß das Ende der Geschichte selbst schon ein schnelles Ende gefunden hat.
Es sind nicht nur Kuba und Nordkorea, die einem einfallen, weil sie die letzten Reste des kommunistischen Ungeistes beherbergen. In Tibet wird eine alte Kultur durch Fremdherrschaft unterdrückt. In Burma wird der explizite Wille des Volkes zur Demokratie mit Füßen getreten. In Ruanda wurden wir vor kur-
Dr. Otto Graf Lambsdorff
zem Zeuge eines Völkermordes, der seinesgleichen sucht. Immer noch besteht das Todesurteil gegen Salman Rushdie. In Weißrußland beobachten wir die schleichende Wiederkehr kommunistischer Herrschaftspraktiken. Die Liste ist schier unendlich.
Ich will bei dieser Liste auch nicht die allen internationalen Vereinbarungen zuwiderlaufende schauderhafte Praxis der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten vergessen.
Sie ist um so beschämender, als die Vereinigten Staaten doch in vieler Hinsicht stets das große Vorbild aller demokratischen Staaten waren. Sie waren es auch für die Mitglieder der Paulskirchen-Versammlung, die einen regen Briefwechsel mit den weitaus erfahreneren Parlamentskollegen in Washington pflegten und die nach dem Scheitern der Revolution in Scharen das Exil in der neuen Welt suchten.
Die gegenwärtige Menschenrechtssituation ist nicht mehr so sehr an weltbedrohendes Großmachtstreben gebunden. Deswegen wird sie hierzulande nicht mehr als so bedrohlich empfunden wie zur Zeit des kalten Krieges. Das darf uns aber nicht davon abhalten, die Einhaltung der Menschenrechte zu einem wesentlichen Maßstab unserer Politik zu machen.
Das verlangt nicht nur Umsicht und Ausdauer, sondern auch ein Umdenken. Man sollte vielleicht in Zukunft Diplomatie weniger als die Kunst der Etablierung von Beziehungen zwischen regierenden Machthabern definieren, sondern stärker als die Kunst der Etablierung von Beziehungen zwischen Völkern.
Eine stabile freiheitliche Regierung muß die Nichtrelativierbarkeit von Menschenrechten immer und überall betonen. Diese nölige Stabilität ist die wesentliche Aufgabe jeder Politik, die sich auf das Erbe der 1848er Revolution berufen kann.
Meine Damen und Herren, es bedarf funktionierender Institutionen, damit die Menschenrechte nicht bloße Proklamation auf dem Papier bleiben.
Dies ist heute auch für mich die letzte Rede, die ich vor diesem Hause, dem Parlament im freiheitlichsten Staat der deutschen Geschichte, halte. Ich habe es immer als eine Ehre und Auszeichnung betrachtet, Volksvertreter sein zu dürfen. Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung. Ich weiß, ich habe gelegentlich bei Mitgliedern aller Fraktionen dieses Hauses heftigen Verdruß erregt. Dies war meine Absicht.
Aber, meine Damen und Herren, ich habe mich auch dafür zu bedanken - Frau Präsidentin, bei Ihnen sowie Ihren Vorgängerinnen und Vorgängern -, daß ich mir trotz mancher scharfen Rede hier niemals einen Ordnungsruf eingehandelt habe. Das fand ich schön.
Also, heute ist kein Anlaß, das nachzuholen, um das gleich zu sagen.
Nun, meine Damen und Herren, es ist mir sehr wichtig, festzustellen, daß damals, 1848, wie heute der Parlamentarismus Kern jeder erfolgreichen freiheitlichen Ordnung ist. Hier im Deutschen Bundestag liegt der Kern unserer Demokratie. Deswegen war es für mich 26 Jahre lang auch eine Erfüllung, an dieser Stelle - allerdings insgesamt gesehen in vier Plenarsälen - reden zu dürfen.
Nicht umsonst legte die Paulskirchen-Verfassung in § 186 fest:
Jeder deutsche Staat soll eine Verfassung mit Volksvertretung haben.
Und - das war das Wichtige in dieser Zeit -:
Die Minister sind der Volksvertretung verantwortlich.
Im Parlamentarismus ist der Abgeordnete vom Volk wählbar und kontrollierbar und dennoch letztlich seinem eigenen Gewissen verpflichtet und nicht Sklave des vermeintlichen gesunden Volksempfindens. Heinrich von Gagern, der Anführer der gemäßigten Liberalen, meinte im März 1848: „ ... ich will keine Pöbelherrschaft, kein Liebäugeln mit dem Pöbel. " Hinter dieser etwas grobschlächtig wirkenden Formulierung steckt indes nichts anderes als das, was Thomas Dehler 1952 vor diesem Hause sagte, als man ihn bei der großen Debatte um die Todesstrafe darauf aufmerksam machte, daß diese doch Teil der Volksüberzeugung sei:
Ich glaube, man verkennt das Wesen der Demokratie, wenn man glaubt, das Parlament sei der Exekutor der Volksüberzeugung. Ich meine, das Wesen der repräsentativen Demokratie ist ein anderes, es ist das der parlamentarischen Aristokratie. Die Parlamentarier haben die Pflicht und die Möglichkeit, aus einer größeren Einsicht, aus einem besseren Wissen zu handeln, als es der einzelne kann.
Haben wir nicht zum Beispiel bei der Abstimmung über den Euro genau so gehandelt?
Meine Damen und Herren, die konstitutionell gebundene parlamentarische Demokratie ist die Regierungsform, die am besten dazu geeignet ist, die Ausübung politischer Macht an die Einhaltung eines höheren, von jeder demokratischen oder sonstwie getroffenen Entscheidung unabhängigen Standards zu binden. Dieser Standard sind die Rechte eines jeden einzelnen. Es ist wichtig, daß der verfassungsgebundene Parlamentarismus um die Verantwortung weiß, die er damit hat. Er muß von allen Seiten in seiner Integrität geschützt werden.
Dr. Otto Graf Lambsdorff
Die Mehrheit der Paulskirchen-Abgeordneten mußte sich damals mit ausgesprochen fundamentalen Bedrohungen auseinandersetzen. Die Macht der Reaktionäre, die zurück zu Absolutismus und Ständestaat wollten, war stark, letztlich zu stark. Auch auf dem linken Flügel der Revolution gab es bereits gefährliche Tendenzen. Für die Genauigkeit rechtsstaatlicher Prozeduren und die Ablehnung von Gewalt, wie sie die liberale Mehrheit beherzigte, hatten viele nur Spott übrig. Das Phänomen, das man schon bei der Französischen Revolution beobachtet hatte, die hemmungslose „totalitäre Demokratie", wie der amerikanische Historiker Talmon diesen Vorläufer der sogenannten modernen Volksdemokratien einmal nannte, war auch 1848 deutlich sichtbar. 1848 war schließlich - es ist schon gesagt worden - nicht nur das Jahr der Paulskirchen-Verfassung, der Botschaft der Freiheit. Es war auch das Jahr des Erscheinens des „Kommunistischen Manifests", der Botschaft der Unfreiheit.
Unsere Demokratie ist zur Zeit nicht im Entferntesten so gefährdet wie das Werk der Paulskirche. Dennoch gibt es wieder - die letzten Landtagswahlergebnisse zeigen es - deutliche Gegenströmungen zur freiheitlichen parlamentarischen Demokratie. Behalten wir stets eine klare Perspektive darüber, was wir da eigentlich verteidigen und mit wem wir dies tun.
Das Kriterium kann nicht „rechts" oder „links", „progressiv" oder „reaktionär" lauten, sondern kann nur in der Frage liegen, ob es freiheitlich-demokratisch ist oder nicht. Wir dürfen weder auf dem linken noch auf dem rechten Auge blind sein, sondern müssen, wie es vernünftige Menschen eigentlich immer tun, wenn sie die Dinge klar sehen wollen, mit beiden Augen hinsehen.
Wenn man beide Augen schon einmal offen hat, sollte man aber nicht nur die offenen Feinde der Demokratie im Blick behalten. Freiheit geht meist scheibchenweise und auf Grund von Sorglosigkeit im Kleinen verloren. Auch dieses Problem kannte man 1848 schon. Der Zünfte- und Ständestaat bestand aus einer Unmenge von kleinen Privilegien, die ihrem Empfänger eine Gefälligkeit bereiteten, aber in ihrem Anwachsen den Bürgern insgesamt ein immer größeres Netz von Bevormundungen erbrachten. Gefälligkeiten gegenüber Lobbies jeder Art - das gilt damals wie heute - sind schleichendes Gift der Demokratie.
- Wer in dieser Frage mit einem Finger auf andere zeigt, zeigt immer mit vier Fingern auf sich selbst zurück.
Meine Damen und Herren, fast wie die Klagen eines heutigen Wirtschaftsministers klingen die Worte von Arnold Duckwitz, der 1848 für kurze Zeit Reichshandelsminister war:
Es war schwerlich ein Industriezweig, ein Berg-
und Hüttenbau-, Schiffer- und Handwerkerverein in Deutschland vorhanden, der nicht seine Vertreter nach Frankfurt gesandt hätte, um sich bei dem Handelsminister „hören" zu lassen ... Die Herren hielten die Erfüllung ihrer Wünsche für das Wichtigste, was aus der Neugestaltung Deutschlands hervorgehen könne; alles andere schien ihnen ganz gleichgültig zu sein.
Die Lehre dieser schönen Sätze ist doch klar: Man darf keine Freiheit verachten - nicht die großen, die klassischen Menschenrechte und auch nicht die kleinen, die alltäglichen Marktfreiheiten.
Gerade letzteres verlangt dem Politiker enorm viel Widerstandskraft ab, soviel kann ich aus langer parlamentarischer Erfahrung versichern. Es ist ja so leicht, das Privileg über Freiheit und Wettbewerb zu stellen. Deshalb erscheint es mir angemessen, meine Ausführungen heute mit den Worten jenes Ministers Duckwitz aus dem Jahre 1848 zu beenden, die er angesichts der wachsenden Schar der ihn bedrängenden Lobbyisten fand:
Ich mußte daher, unbekümmert um die Schreier, selbständig meinen Weg gehen.
Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.