Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe unmittelbar die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11d auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
- Drucksache 13/8011 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusss für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/8671 - Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kauder Ulrike Mascher
Andrea Fischer
Dr. Gisela Babel
Petra Bläss
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/8672 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Adolf Roth
Antje Hermenau
Dr. Wolfgang Weng
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rudolf Dreßler, Ulrike Mascher, Ottmar Schreiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Strukturreform statt Leistungskürzungen in der Alterssicherung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Fischer , Marieluise Beck (Bremen), Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Generationenvertrag neu verhandeln
- zu dem Antrag der Gruppe der PDS
Rentenversicherung stabilisieren und Reform 2000 vorbereiten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss und der Gruppe der PDS
Gegen Armut und Abhängigkeit - für eine eigenständige Alterssicherung von Frauen
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 SGB VI
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 1996
- Drucksachen 13/8032, 13/8036, 13/8044, 13/ 4684, 13/5370, 13/6109, 13/8671-
Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kauder Ulrike Mascher
Andrea Fischer
Dr. Gisela Babel
Petra Bläss
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzierung eines zusätzlichen Bundeszuschusses zur gesetzlichen Rentenversicherung
- Drucksache 13/8704 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusss für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Abgeordneten der PDS
Stopp der Rückforderungen von Sozialzuschlägen
- Drucksachen 13/274, 13/2644 - Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Grund
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/ CSU und F.D.P. liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache namentlich über den Gesetzentwurf abstimmen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Wir verfahren so.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Abgeordnete Wolfgang Vogt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag verabschiedet heute das Rentenreformgesetz 1999 im Streit. Selbstverständlich ist es das gute Recht der SPD, auch mit schwachen Argumenten nein zu sagen.
Die Konsequenz daraus ist klar: Für die Zukunftssicherung der Renten leistet die SPD heute keinen konkreten Beitrag. Sie ist ein glatter Ausfall.
Das Rentenreformgesetz 1999 im Streit zu verabschieden heißt, es wird in dieser Debatte nicht ohne einen Schuß Polemik abgehen.
Doch Polemik hin, Polemik her: Ich werbe darum - und ich bin sicher, jetzt Ihre Zustimmung zu finden -, mit den Worten so umzugehen, daß sich kleine Geister außerhalb dieses Hauses nicht zu bösartigen Entgleisungen und unerträglichen Verleumdungen ermutigt fühlen.
Solch ein kleingeistiger Zeitgenosse ist der Chef des DGB-Landesbezirks Bayern, Fritz Schösser. Auf einer Kundgebung nannte er Norbert Blüm „den Henker der Rentenversicherung".
Dies ist eine bösartige Entgleisung. Das ist völlig unerträglich.
Ich hoffe, Sie ziehen sich diesen Schuh nicht an.
Wenn ich das Wort „Henker" höre, denke ich an Roland Freisler, den Präsidenten des Volksgerichtshofs und fanatischen Vollstrecker der Nazi-Justiz, oder an Hilde Benjamin, die DDR-Justizministerin, die die ersten Schauprozesse in der DDR in Szene gesetzt hat. Ich frage mich, in welchem Sumpf solche Bösartigkeiten gedeihen können.
Ich bedaure zugleich, daß Fritz Schösser auf die Aufforderung der CDA, sich bei Norbert Blüm zu entschuldigen, nicht reagiert hat. Dieses Wegducken ist schäbig.
Meine Damen und Herren, seit der Verabschiedung des Rentenreformgesetzes 1992 am 9. November 1989, also an dem Tag, an dem die Mauer fiel, sind dramatische Veränderungen eingetreten. Ihre Folgen spüren auch die Sozialsysteme. Sie müssen den neuen Herausforderungen angepaßt werden. Dieser Pflicht stellen wir uns mit dem Rentenreformgesetz 1999. Dabei bleiben wir auf der Schiene des bewährten Rentensystems. Rente bleibt Lohn für persönliche Leistung.
In der Anhörung von Sachverständigen zu diesem Gesetzeswerk hat Prof. Dr. Ruland eine Entwicklung skizziert, die - so glaube ich - schlaglichtartig die seit 1989 eingetretenen Veränderungen beleuchtet. 1989, so meinte er, schien ein Anstieg der Beiträge zur Rentenversicherung bis zum Jahre 2030 auf 25 bis 27 Prozent noch erträglich zu sein; die Menschen würden diesen Anstieg akzeptieren.
Aber genau das hat sich geändert; das ist nicht mehr der Fall. Wir akzeptieren diese Beiträge nicht. Ich glaube, es gibt für diese Beitragssätze keine Mehrheit in diesem Haus, geschweige denn eine Mehrheit unter der deutschen Bevölkerung.
Diese Beitragssätze wären Gift für den Arbeitsmarkt, -und was Gift für den Arbeitsmarkt ist, ist auch Gift für die Rentenversicherung.
Auf diese Veränderung muß jetzt reagiert werden, nicht 2015. Mit dem SPD-Motto „Augen zu und Hände in den Schoß" sind die Probleme nicht zu lösen.
Die Jungen sorgen sich um die steigende Beitragsbelastung. Sie fragen, ob sie im Alter mit einer angemessenen Leistung rechnen können.
Die Alten wollen Gewähr für ihre Rente, die sie sich erarbeitet haben. Diese Fragen müssen ernstgenommen werden. Die Jüngeren, die fragen, dürfen nicht abgeputzt werden, wie das bei der SPD zu sein scheint. So beklagt die SPD-Kollegin Ute Vogt - ich zitiere sie:
Wenn wir beispielsweise über die Lage der Rentenversicherung im Jahre 2030 reden wollen, machen die dicht.
Wolfgang Vogt
„Die", das sind die Älteren in der SPD. - Dichtmachen ist das Dümmste, was man machen kann. So schafft man nämlich kein Vertrauen in den Generationenvertrag, auf dem die Rentenversicherung beruht.
Reden heißt nicht, allen Thesen, die von Jüngeren vertreten werden, zuzustimmen. So habe ich überhaupt kein Verständnis, wenn ich aus dem Munde junger Akademiker außerhalb dieses Hauses - untypisch für ihre Generation - die Forderung höre: Wir steigen aus dem Generationenvertrag aus. Elternhaus, Kindergarten, Schule und Universität - dort haben die Jungen Solidarität erfahren. Aus ihr in dem Moment aussteigen zu wollen, in dem erstmals Solidaritätspflichten entstehen, ist völlig unakzeptabel. Generationenegoismus nach dem Motto „Jede Generation sorgt für sich selbst" führt zum sozialen Dschungel. Ein menschliches Gemeinwesen kann nur auf Solidarität und Subsidiarität, auf Gerechtigkeit und Eigenverantwortung aufgebaut werden.
Dabei ist Solidarität keine Einbahnstraße. Das wissen die Älteren. Sie wissen auch - denn sie erleben es persönlich -, daß sie im Durchschnitt älter werden - mit der Folge, daß die Renten länger bezogen werden. Allein zwischen 1980 und 1997 stieg die Rentenlaufzeit um zwei Jahre.
Zwischen 1960 und 1996 stieg sie um sechs Jahre.
Ein Jahr kostet 27 Milliarden DM; das sind knapp 1,5 Beitragspunkte.
Diese finanziellen Folgen können nicht ausschließlich auf die Schultern der Jungen oder der Alten gelegt werden. Die Lasten müssen gemeinsam getragen werden, von Jung und Alt. Darin sind sie sich auch einig, die Jüngeren und die Älteren, wenn sie in ihren Familien über diese Probleme sprechen. Der Bund - so ist unsere Konzeption - soll sich mit einem zusätzlichen Zuschuß an diesen Lasten beteiligen.
Unsere Konzeption heißt also: Umstrukturierung und Umfinanzierung. Veränderungen der Rentenlaufzeiten werden ab 1999 bei den jährlichen Rentenanpassungen berücksichtigt. Das Recht der EU- und BU-Renten wird neu geordnet. Die Kindererziehungszeiten werden aufgewertet. Die Rentenversicherung erhält einen zusätzlichen Bundeszuschuß. Die Kollegin Maria Böhmer und der Kollege Volker Kauder werden sich in ihren Redebeiträgen vor allem auf die Kindererziehungszeiten und die Änderungen im EU- und BU-Bereich beziehen.
Für die Jungen bedeutet unsere Konzeption, daß ab 1999 die Beitragslast gemindert wird. Für die Rentnerinnen und Rentner bedeutet dies, daß sie in einer sozial maßvollen Weise an der Finanzierung ihres eigenen längeren Rentenbezugs beteiligt werden.
Der Anstieg der Renten wird abgeflacht. Das führt nach den üblichen Modellrechnungen dazu, daß eine Rente von heute 2000 DM monatlich bis zum Jahr 2030 auf 4310 DM steigen wird. Ohne gesetzliche Änderung wären es 4544 DM.
Behutsam wird das Rentenniveau zurückgeführt. Diesen Anstieg der Renten nennt Herr Dreßler „Kürzung" .
Dies ist eine Vergewaltigung der deutschen Sprache. Sie soll die Menschen irreführen.
1989 hat Herr Dreßler es als Werk der SPD gefeiert, daß ab 1992 die Renten nicht länger den Bruttolöhnen folgen, sondern den Nettolöhnen. Diese Umstellung hatte ebenfalls zur Folge, daß der Anstieg der Renten abgeflacht wurde.
Aber nicht einmal andeutungsweise hat Herr Dreßler damals von Rentenkürzung gesprochen. 1989 nannte er eine abgeflachte Anhebung „Anstieg", 1997 nennt er den gleichen Vorgang „Kürzung". Herr Dreßler, Sie wechseln Ihre Argumente wie schmutzige Hemden. Sie sind unglaubwürdig.
Strukturelle Änderungen im Rentenrecht führen wegen des gebotenen Vertrauensschutzes nur mittel- und langfristig zur Entlastung bei den Beiträgen. Die Beiträge sind aber nicht erst 2005, 2010 oder 2015 zu hoch; sie sind es schon jetzt. Darum muß jetzt umfinanziert werden, durch Belastung des Verbrauchs und Entlastung der Arbeit. Der Entwurf eines Gesetzes dazu liegt vor.
Unsere Absicht ist, daß die Rentenversicherung dauerhaft einen zusätzlichen Bundeszuschuß erhält, um die Beitragszahler dauerhaft zu entlasten. Dieser zusätzliche Bundeszuschuß soll aus dem Aufkommen eines um einen Prozentpunkt erhöhten allgemeinen Mehrwertsteuersatzes finanziert werden. Der ermäßigte Steuersatz für Güter des täglichen Bedarfs bleibt aus sozialen Gründen unverändert.
Zu diesem Gesetz ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich, aber ich sehe nicht, daß durch diese Gesetzgebung Interessen der Länder beeinträchtigt werden könnten. Deshalb gehe ich davon aus, daß die Länder im Bundesrat ihrer Pflicht gerecht werden und diesem Gesetzeswerk zustimmen.
Damit erhält die Rentenversicherung 1999 zusätzlich 13,3 Milliarden DM, im Jahre 2000 werden es 16,3 Milliarden DM sein. Diese Beiträge kommen zum Zuschuß des Bundes an die Rentenversiche-
Wolfgang Vogt
rung, einschließlich der Knappschaft, in Höhe von jetzt knapp 87 Milliarden DM hinzu. Angesichts dieser 87 Milliarden DM Bundeszuschuß ist die Behauptung der SPD, der Staat stehle sich aus der Verantwortung für die Rentenversicherung, töricht; und mit dieser Formulierung bin ich höflich.
Nicht CDU/CSU und F.D.P. sind es, die den Staat aus seiner Pflicht gegenüber der Rentenversicherung entlassen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Alle sogenannten versicherungsfremden Leistungen gehen in ihrem finanziellen Umfang mittel- und langfristig zurück. Daher führt der Vorschlag der SPD, der Bund solle der Rentenversicherung alle sogenannten versicherungsfremden Leistungen erstatten, dazu, daß die Rentenversicherung immer weniger Zuschuß vom Staat erhält.
Das hätte zur Folge, daß die Beiträge steigen müßten, zu Lasten der Jüngeren. Das kommt für uns nicht in Frage.
Mit seiner Erstattungsideologie fährt Herr Dreßler die SPD rentenpolitisch an die Wand. Wer Vorschläge macht, wie er sie vorlegt, will gar nicht Verantwortung für die Rentenversicherung übernehmen; er darf es auch nicht.
In der Aussprache zum Rentenreformgesetz 1992 mahnte Herr Dreßler:
1972 ist es in der Rentenpolitik schon einmal passiert, daß man sich an papiernen Milliarden berauschte und sich zu Entscheidungen verleiten ließ, deren finanzielle Folgen später nicht mehr beherrschbar waren. Die SPD hat aus dieser Erfahrung Lehren gezogen.
1972 - das ist wahr - hat man sich gesundgerechnet.
- Darauf hat der Kollege Dreßler Bezug genommen. Herr Kollege, bitte hören Sie zu.
Aus diesem Fehler aber hat die SPD nicht gelernt. Denn genauso schlimm wie Gesundrechnen ist das Verdrängen von Problemen.
Im Verdrängen erweist sich die SPD jetzt als Meister. Ihr Antrag auf Drucksache 13/8032 mit dem bekanntlich irreführenden Titel ist ein Dokument des Versagens: Anhebung der Altersgrenze - im Prinzip ja, aber nicht jetzt; Wegfall der Berufsunfähigkeitsrente - im Prinzip ja, aber nicht jetzt; Wiedereinführung
der abstrakten Betrachtungsweise bei Erwerbsunfähigkeit - im Prinzip ja, aber nicht jetzt.
Meine Damen und Herren, die Sprüche des Orakels von Delphi waren nicht nebulöser als das, was die SPD hier kundtut: Rudolf Dreßler auf dem Thron der Pythia - von Schwaden umnebelt. Welch ein herrlicher Anblick!
Wie mahnte Herr Dreßler 1989 - ich zitiere -:
Wer für langfristige Verläßlichkeit unseres Rentensystems eintritt, muß populistischen Versuchungen widerstehen.
Bitte halten Sie sich an diesen Rat!
Unser System sozialer Sicherung ruht auf dem Pfeiler Arbeit. Arbeitslosigkeit schlägt auf die Rentenversicherung durch. Das diskutiert hier niemand weg. Im Mittelpunkt unserer Bemühungen steht darum, die Rahmenbedingungen für mehr Arbeit zu verbessern. Diese Aufgabe darf aber nicht als Alibi dazu mißbraucht werden, die Probleme, die durch die steigenden Rentenlaufzeiten entstehen, zu verdrängen. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, das ist eine Aufgabe. Eine Antwort zu geben auf die steigenden Rentenlaufzeiten ist eine andere Herausforderung.
Zu unserer Konzeption, durch bessere Rahmenbedingungen mehr Beschäftigung zu erreichen, gibt es keine Alternative. Kronzeuge ist die SPD selbst. Ihr Papier zu „Innovation und Wachstum" und der Leitantrag des SPD-Parteivorstandes für den Hannoveraner Parteitag sind in vielen Passagen nichts anderes als eine - wenngleich mißlungene - Kopie unserer Politik.
Sie hecheln hinter unseren Konzeptionen her, und Sie schlagen Haken, die einem Hasen zur Ehre gereichen würden.
Sie preisen nämlich jetzt an, was Sie verdammt haben. Zwei Kostproben:
Erstens. Von der SPD hört jetzt der Zeitgenosse: Wir werden „die nach geltendem Recht schon möglichen Sanktionen bei der Ablehnung zumutbarer Arbeit voll ausschöpfen" .
Ich traute meinen Augen nicht, als ich das las. Sie werden also die Zumutbarkeitsregelung des AFRG nicht wieder aufheben, wie Sie das hier immer angekündigt haben. Sie wollen diese Regelung voll ausschöpfen.
Sagen Sie doch endlich den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit!
Wolfgang Vogt
Zweitens. Im Leitantrag für den SPD-Parteitag lese ich:
Wir brauchen flexible Arbeitszeiten und flexibel ausgestaltete Arbeitszeitverkürzungen. Mit flexibleren Arbeitszeiten können teure Maschinen länger laufen, ohne daß die Menschen länger arbeiten müssen. Die bessere Nutzung des Kapitalstocks stärkt die Leistungsfähigkeit der Unternehmen und sichert Arbeitsplätze.
- Richtig!
Das ist Wort für Wort aus der Begründung zum Arbeitszeitgesetz abgeschrieben, das wir 1994 verabschiedet haben.
Die Parolen, mit denen Sie uns damals überschüttet hatten, gipfelten in der Anklage, wir eröffneten einen neuen Kirchenkampf und bereiteten einen Anschlag auf die Gesundheit der Menschen vor. Und jetzt Ihre Kehrtwende!
Das Arbeitszeitgesetz und die Zumutbarkeitsregelung haben Sie früher als Teufelswerk verdammt. Jetzt preisen Sie diese Dinge als Instrumente sozialdemokratischer Politik an.
Herr Dreßler, Sie hätten eigentlich Abbitte zu leisten. Sie sitzen hier in gesteiftem Hemd mit Krawatte. Sie sind verkehrt angezogen. Sie müßten hier im Büßerhemd erscheinen.
Meine Damen und Herren, wer Angst hat, etwas zu verlieren,
dem fehlt die Kraft, zu gestalten. Die Angst hat die SPD ergriffen. Sie flüchten in Blockade, aber Sie können uns nicht blockieren. Die Verabschiedung des Rentenreformgesetzes 1999 widerlegt die Behauptung vom politischen Stillstand in Bonn. CDU/CSU und F.D.P. tun das, was heute getan werden muß. Von Stillstand kann gar keine Rede sein.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Mascher.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Herr Vogt hat hier zu Behutsamkeit, zu Sachlichkeit in der Debatte aufgerufen. Er hat sich in das Gewand des Staatsmannes gehüllt. Ich hätte dann eigentlich von ihm eine andere Rede erwartet;
denn, Herr Vogt, wer zu Behutsamkeit aufruft, der sollte das dann auch selber beherzigen, sonst sind solche Forderungen wirklich wohlfeil.
Die Regierungsmehrheit im Bundestag beschließt heute ein Rentengesetz, das erhebliche Einschnitte und faktische Verschlechterungen im Rentenrecht bringt. Wenn ich das sage, sind das keine schwachen Argumente, sondern das ist zu belegen. Es ist zwar nicht das Ende der gesetzlichen Rentenversicherung, wie die „Süddeutsche Zeitung" heute schreibt, aber der Anfang vom Ende kann es sehr wohl sein.
Gerechtfertigt werden diese Einschnitte von Ihnen durch große Worte zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland angesichts der Globalisierung, zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen durch die Notwendigkeit, auf die Veränderung in der Alterszusammensetzung der Bevölkerung zu reagieren.
Versprochen werden eine gerechte Verteilung der Lasten und die Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung als der Hauptsäule der Alterssicherung. Die geplante Absenkung des Rentenniveaus - wie Sie das schönfärberisch nennen; real wird sich das als Kürzung der Renten auswirken -, die Streichung der Berufsunfähigkeitsrente und die schwerwiegenden Eingriffe bei der Erwerbsunfähigkeitsrente sowie die Verschlechterungen bei den Schwerbehinderten sind nach dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz vom letzten Jahr ein weiterer schwerer Einschnitt in das Rentenversicherungsrecht, diesmal auch und gerade für diejenigen, die bereits Renten beziehen und die sich in ihrer Lebensplanung eben nicht mehr auf diese Veränderungen einrichten können.
Die letzte große Rentenreform von 1992 liegt im Jahre 1999, wenn Ihr Gesetz in Kraft treten soll, gerade mal sieben Jahre zurück. Das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz hat erst im letzten Jahr eingeschlagen. Die Verunsicherung der Rentnerinnen und Rentner ist groß, aber auch die Arbeitnehmer, die Frauen, die Jungen, die chronisch Kranken und die Behinderten wissen inzwischen, daß ihre Planungen und Erwartungen immer wieder durch die Politik der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung zerstört werden: durch die drastische Veränderung der Altersgrenzen, durch die Einführung von Rentenabschlägen und jetzt durch die Zerstörung der Erwerbsunfähigkeitsrente.
Die Anhörung der Sachverständigen und der betroffenen Sozialverbände hat deutlich gemacht, daß diese rasche Folge von Veränderungen im Rentenrecht die Zustimmung zur gesetzlichen Rentenversicherung ganz erheblich gefährdet;
dies um so mehr, als sich die versprochenen Ziele - Förderung von Wachstum und Beschäftigung - angesichts der'über 4 Millionen Arbeitslosen als Fata Morgana erwiesen haben und die erwünschte Dämpfung
Ulrike Mascher
des Beitragssatzanstieges bisher eine Luftbuchung in Ihrem Gesetz ist.
Die wesentlichen Elemente im Rentengesetz von CDU/CSU und F.D.P. sind die Absenkung des Rentenniveaus - ich übernehme einmal Ihren Sprachgebrauch - und die drastische Einschränkung der Erwerbsunfähigkeitsrente. Die Absenkung des Rentenniveaus wird von Norbert Blüm mit der griffigen Formel verkauft: von 70 Prozent des letzten Nettoeinkommens auf 64 Prozent. Hier wird suggeriert, die Rentenberechnung laute einfach so: x Prozent vom letzten Einkommen. Das mag ja bei Beamten, Ministern, Staatssekretären und auch bei den Abgeordneten stimmen. Aber in der gesetzlichen Rentenversicherung erhält nur derjenige 70 Prozent seines letzten Nettoeinkommens, der 45 Jahre lang ein Durchschnittseinkommen hatte und entsprechende Beiträge gezahlt hat. Dieses Phantom, der „Eckrentner", ist natürlich eine Rechengröße. Im wirklichen Leben haben Männer durchschnittlich 39 Versicherungsjahre und Frauen 24 Jahre. Der Startpunkt für Frauen liegt also weit unter den 70 Prozent des letzten Nettoeinkommens. Das Ziel bei dieser Rentenabsenkung liegt für viele Frauen dann nahe bei der Sozialhilfe.
Dazu ein paar Zahlen. Der „Standardrenter", also dieser fiktive Rentner, den es in der Realität kaum gibt, erhält ab 1. Juli 1997 netto 1 974,70 DM. Real beträgt die durchschnittliche Altersrente für Männer 1 844 DM. Sie liegt also noch unter der des Standardrentners und immerhin mehr als 150 DM unter der Rechengröße, die Herr Vogt mit 2 000 DM angesetzt hat.
Die durchschnittliche Altersrente für Frauen liegt bei 792 DM. Was da eine Absenkung des Rentenniveaus, angesichts der geringen Rentensteigerungen also ein Einfrieren der Rente, eine Nullrunde, bedeutet, das ist allein angesichts der steigenden Wohnungskosten sozial schwer zu verantworten. Und Sie, Herr Vogt, halten das für maßvoll und behutsam!
Zu welch absurden Ergebnissen die Absenkung des Rentenniveaus durch den demographischen Faktor führt, der mit der längeren Lebenserwartung begründet wird, zeigt sich zum Beispiel in der Unfallversicherung. Jemand mit einer Unfallrente wegen einer durch Asbest ausgelösten Berufskrankheit, die eine erheblich geminderte Lebenserwartung in der Realität zur Folge hat, erhält jetzt auch eine Absenkung seiner Rente wegen der allgemein gestiegenen Lebenserwartung. Viele Frauen befürchten, daß Ihre demographische Formel dazu führen wird, daß die Frauenrenten weiter abgesenkt werden; denn noch haben Frauen eine höhere Lebenserwartung als die Männer.
Übrigens, Herr Vogt, Herr Dreßler und die SPD haben nie verschwiegen, daß die Umstellung von der Brutto- auf die Nettoanpassung ein empfindlicher Einschnitt ist. Das war damals allen klar. Es ist auch von uns immer wieder erklärt und verteidigt worden, daß das zur Berücksichtigung der demographischen
Entwicklung notwendig ist. Damals ist das Ganze zwischen den Beitragszahlern, den Rentnern und den Steuerzahlern - über den Bundeszuschuß - gerecht verteilt worden.
Wir wehren uns nur dagegen, daß Sie sieben Jahre nach Berücksichtigung des demographischen Faktors durch den drastischen Einschnitt der Umstellung von der Brutto- auf die Nettolohnanpassung die Rentner nun noch einmal mit dieser Begründung „demographischer Faktor" zur Kasse bitten. Dagegen wehren wir uns allerdings entschieden.
Alle Experten in der Anhörung haben bestätigt, daß der demographische Faktor in der Rentenformel auch eine weitere Rentenabsenkung zuläßt. Die Regierungskoalition beruhigt sich selbst und versucht die Rentnerinnen und Rentner mit einer Rentenniveausicherungsklausel zu beruhigen, die eine Absenkung bei 64 Prozent festschreibt.
Übrigens, bereits 2010 werden die 65 Prozent Rentenniveau durch den demographischen Faktor erreicht sein, obwohl die einschneidenden Veränderungen im Altersaufbau erst ab 2015 beginnen. Da werden Sie dann, falls Sie noch einmal an der Regierung sein sollten, wieder versuchen, einen demographischen Faktor einzuführen. Irgendwann muß es auch mit der Demographie ein Ende haben!
Die SPD lehnt die Absenkung des Rentenniveaus entschieden ab. Wir befinden uns dabei in guter Gesellschaft. Der DGB, die Sozialverbände, die Frauenorganisationen, aber auch der Vorsitzende des Sozialbeirates der Bundesregierung, Herr Professor Schmähl, und andere angesehene Wissenschaftler halten die Absenkung des Rentenniveaus für problematisch und für sozial unverantwortlich. Professor Schmähl fürchtet insbesondere den Vertrauensverlust für die Rentenversicherung, wenn nach vielen Jahren Beitragszahlung auch Männer nur noch ein Rentenniveau nahe der Sozialhilfegrenze erreichen.
Die zweite wesentliche Verschlechterung des Rentenrechts betrifft diejenigen Menschen, die wegen gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr vollzeiterwerbstätig sein können und auf dem Arbeitsmarkt oder in dem Betrieb, in dem sie noch arbeiten, weder eine Teilzeitarbeit noch die immer wieder geforderte leichte, sitzende Tätigkeit finden. Bisher konnten sie eine Erwerbsunfähigkeitsrente bekommen und wurden nicht in Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit gedrängt.
Jetzt gibt es nach Ihrem Gesetz für diejenigen, die nur noch sechs Stunden arbeiten können, keine Rente mehr und für diejenigen, die zwischen drei und sechs Stunden arbeiten können, eine halbierte Teilerwerbsminderungsrente. Nur für diejenigen, die weniger als drei Stunden arbeiten können, gibt es eine volle Erwerbsminderungsrente.
Ausschlaggebend ist nur noch die medizinisch feststellbare Erwerbsminderung, nicht mehr die Chance am Arbeitsmarkt.
Ulrike Mascher
„Zur Vermeidung von Ausweichreaktionen" - so heißt es in der Begründung Ihres Entwurfs - werden die Erwerbsminderungsrenten mit den bekannten Abschlägen, pro Jahr 3,6 bis zu maximal 10,8 Prozent, belegt. Sie suggerieren damit, daß es ganz einfach wäre, zum Vertrauensarzt zu gehen und zu sagen: „Ich hätte jetzt gerne eine Erwerbsminderungsrente". Sie müßten eigentlich aus der Praxis in Ihren Wahlkreisen wissen, daß die Anforderungen für den Erhalt einer Erwerbsminderungsrente in den letzten Jahren erheblich gestiegen sind und daß die Menschen schon ganz schön angeschlagen sein müssen, damit der Vertrauensarzt ihnen eine Erwerbsminderung, zum Beispiel von 50 Prozent, bestätigen kann.
Zu Recht haben sich viele Personal- und Betriebsräte, viele Vertrauensleute der Schwerbehinderten und die Gewerkschaften, allen voran der DGB, gegen diese Zerschlagung der Erwerbsunfähigkeitsrente gewandt. Die Personal- und Betriebsräte kennen die Realitäten in den Unternehmen und wissen aus bitterer Erfahrung: Neueinstellungen von Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht 100 Prozent, besser noch: 120 Prozent Arbeitsleistung erbringen können, gibt es nicht mehr. Den Arbeitsplatz zu behalten wird für Erwerbsgeminderte immer härter. Und diese Arbeitsplätze fallen nach dem Ausscheiden erwerbsgeminderter Kollegen aus dem Betrieb oder aus der Verwaltung sofort weg.
Die Betriebs- und Personalräte wissen deshalb, was es bedeutet, nur noch eine halbe Erwerbsminderungsrente zu bekommen und deshalb auf Arbeitslosengeld und Sozialhilfe angewiesen zu sein. In der Rentenversicherung sollen so 40 Prozent der Gesamtausgaben für Invalidität eingespart werden. Das heißt: Sie rechnen sich hier auf Kosten derjenigen gesund, die am Arbeitsmarkt am schwächsten sind.
Für die Rentenversicherung ergibt sich noch ein weiterer Einspareffekt: Die Erwerbsminderungsrente wird grundsätzlich nur befristet und erst ab dem 7. Monat der Erwerbsminderung gezahlt. Für die ersten sechs Monate muß die gesetzliche Krankenversicherung oder die Bundesanstalt für Arbeit oder müssen die Städte und Gemeinden mit der Sozialhilfe einspringen. Die richtige Bezeichnung für dieses Vorgehen heißt „Verschiebebahnhof " .
, Auch die Schwerbehinderten müssen eine Verschlechterung des bisherigen Rechts hinnehmen, wegen heftiger Proteste jedoch etwas abgebremst: Es wird nur noch einen Abschlag von 10,8 Prozent geben, wenn sie wie bisher mit 60 Jahren in Rente gehen. Praktisch heißt das: Das Rentenzugangsalter für Schwerbehinderte wird auf 63 Jahre angehoben; denn erst ab 63 Jahren erhalten Schwerbehinderte die Rente ohne Abschlag.
In Betrieben und Verwaltungen wurden über 200 000 Unterschriften gesammelt, die einige Betriebs- und Personalräte Ihnen, Herr Arbeitsminister, gerne selbst übergeben hätten. Leider fand sich in Ihrem Kalender kein Termin.
Stellvertretend wurden die Unterschriftslisten bei mir als Ausschußvorsitzender hinterlegt. Ich möchte Ihnen wenigstens einen Karton mit Unterschriftslisten persönlich geben, fünf weitere erhalten Sie durch die Boten des Deutschen Bundestages.
Auch die wenigen Verbesserungen dieser Rentenreform sind nur halbherzig, zum Beispiel die Regelung, daß für die vor dem 1. Januar 1942 geborenen Menschen, die 45 Beitragsjahre haben, die besseren Regelungen der Rentenreform von 1992 weiter gelten sollten. Eine kleine Einschränkung: Zeiten des Bezuges von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe werden bei diesen 45 Jahren nicht mitgerechnet. Zum Beispiel erreicht der Bauarbeiter, der vor der Schlechtwettergeldregelung häufig im Winter arbeitslos war, möglicherweise deshalb diese 45 Jahre nicht. Pech gehabt - oder wieder einmal eine Regierungswohltat mit bitteren Nebenwirkungen?
Oder ich kann die Anhebung der Bewertung der Kindererziehungszeiten nennen. Auch sie erfolgt nur in kleinen Trippelschritten. Aber vielleicht hoffen Sie, daß Sie bis zum Jahr 2000 noch eine solide Finanzierungsgrundlage für diese längst überfällige Reform finden werden.
Diese Reform ist auch deshalb längst überfällig, weil der Bundestag in einer gemeinsamen Entschließung bereits 1991 diese Verbesserung der Anrechnung der Kindererziehungszeiten gefordert hat. Aber so notwendig diese Reform ist - sie ist unzureichend zur Beseitigung der Benachteiligung von Frauen in einem Rentensystem, das sich vor allem auf Erwerbsarbeit und Erwerbseinkommen bezieht. Die niedrigen Frauenrenten sind die Folge der niedrigen Erwerbseinkommen von Frauen, die wegen der Kindererziehung, der Pflege von Angehörigen oder einfach wegen der Familienarbeit ihre Erwerbsarbeit unterbrechen oder sich auf Teilzeitarbeit zurückstufen lassen. Die niedrigen Frauenrenten sind das bittere Ergebnis der ungeschützten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die ganz überwiegend von Frauen besetzt werden.
Ulrike Mascher
- Ja, Herr Louven, aber es reicht nicht aus; es reicht einfach nicht aus.
- Herr Louven, trotz der Einführung der Kindererziehungszeiten können Sie doch nicht wegdiskutieren, daß Frauen im Alter häufig von Sozialhilfe abhängig sind oder, weil sie sich dessen schämen und sich nicht trauen, zum Sozialamt zu gehen, in wirklich elenden Umständen leben.
Auch ich weiß, daß es da keine Patentrezepte gibt, aber die SPD hat in ihrem Antrag „Strukturreform statt Leistungskürzungen in der Alterssicherung" ein ganzes Bündel von Vorschlägen entwickelt.
- Einschließlich Finanzierung. Wir sind für eine Rentenreform auch mit Perspektiven für Frauen.
Wir wollen, daß alle Erwerbstätigen Beiträge zahlen und damit Rentenanwartschaften erwerben. Wir wollen die Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf den Wert des durchschnittlichen Einkommens anheben; das wollen Sie ja auch.
Wir wollen aber eine solide Finanzierung dadurch erreichen, daß diese Rentenanwartschaften durch reale Beitragszahlungen aus Steuermitteln finanziert werden.
Ich würde mich, Herr Louven, darüber nicht so sehr aufregen; Sie wissen ganz genau, daß dieser schöne Vorschlag sich auch in der Empfehlung der Expertenkommission des Arbeitsministers gefunden hat, leider aber nicht mehr im Gesetzentwurf der CDU/CSU und F.D.P.
Wir schlagen einen Ausgleich in der Rentenversicherung für die Frauen vor, die wegen der Arbeitsteilung in der Familie keine oder nur geringe Rentenanwartschaften erwerben konnten. Wie ein Paar sich partnerschaftlich Familienarbeit und Erwerbsarbeit teilt, das ist nach wie vor Sache der jeweiligen Partner. Wir wollen aber eine faire und partnerschaftliche Teilung der Rentenanwartschaften erreichen, die während einer Ehe gemeinsam erworben wurden und die im Hinterbliebenenfall sozial flankiert werden durch einen an der jeweiligen Rentenhöhe orientierten Aufschlag von 10 bis 30 Prozent.
Wir greifen mit diesem Konzept der gerechten Teilung der gemeinsam erworbenen Rentenanwartschaften die Vorschläge vieler Frauenverbände auf,
auch aus dem kirchlichen Bereich, Herr Kauder. Sie können ja den katholischen und evangelischen Frauen einmal erzählen, daß es sich dabei um einen Ladenhüter handelt. Sie halten das für aktuell und dringend notwendig.
Um Altersarmut zu vermeiden, wollen wir die Rente nach Mindesteinkommen unbefristet weiterführen und endlich ein zuverlässiges Instrument zur Vermeidung von Altersarmut einführen, nämlich eine steuerfinanzierte, bedarfsabhängige soziale Grundsicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Das würde heute allen alten Frauen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, helfen. Das würde in Zukunft aber auch den Frauen und Männern in Ostdeutschland hellen, die wegen der vielen Brüche in ihrer Erwerbsbiographie in 20 Jahren möglicherweise auf Sozialhilfe angewiesen sind. Es würde auch den jungen Männern helfen, die wegen der Veränderungen in der Arbeitswelt Sorge haben, im Alter auf das Sozialamt gehen zu müssen.
Wir wollen diese bedarfsabhängige soziale Grundsicherung rasch einführen. Eigentlich müßte die CDU uns dabei unterstützen; denn wer eine Rentenabsenkung will, der muß wenigstens dafür sorgen, daß unten ein zuverlässiger Sockel eingezogen wird, damit niemand in die Sozialhilfe abstürzt.
Wir wollen die Grundlagen der sozialen Alterssicherung stabilisieren. Wir wollen deswegen alle Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. 1 Million Erwerbstätige mehr bedeuten 10 Milliarden DM mehr Einnahmen. Wir wollen die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben endlich durch Steuermittel angemessen finanzieren.
Wir wollen eine risikogerechte Zuordnung der Kosten, zum Beispiel auch bei der Frühverrentung wegen Arbeitslosigkeit. Darin hat uns auch die Expertenanhörung bestärkt.
Wir wollen das Vertrauen in die Rentenversicherung stabilisieren; denn wir sind überzeugt, daß unsere umlagefinanzierte, solidarische Rente das beste Instrument ist, um ins nächste Jahrtausend zu kommen - gerecht für Junge und für Alte. Deshalb darf dieses Rentenreformgesetz 1999 nicht in Kraft treten; denn es zerstört die Vertrauensgrundlage.
Eine kleine Anmerkung: Ich weiß nicht, wie viele Kisten mit Unterschriftensammlungen hier noch unter den Sitzen ruhen.
Ich sage Ihnen ganz offen: Wir als Sozialpolitiker haben in diesen Wochen alle solche Unterschriftenlisten entgegengenommen. Wenn wir es zur Regel machen, daß sie hier im Plenarsaal übergeben werden, durchbrechen wir unsere bisherigen Regeln.
Das haben wir bisher nicht gemacht. Ich sage das nur deshalb, weil all diejenigen, die uns diese Listen überreichen, zukünftig die Erwartung haben werden, daß sie im Plenarsaal dem Minister überreicht werden.
Das heißt, das inflationiert. Wenn Sie also noch weitere dieser Listen haben: Heute und überhaupt werden hier im Plenarsaal keine mehr überreicht.
- Auch wenn er keinen Termin gibt. Ich wiederhole, daß alle diejenigen, die Listen übergeben wollen, sagen werden: Das wollen wir nur noch im Plenarsaal machen.
Der nächste Redner ist Matthias Berninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um Sie gleich zu beruhigen: Ich habe keine Unterschriftenlisten dabei.
Eines möchte ich sehr deutlich sagen: Für meine Generation gilt, daß wir tief besorgt sind über die Frage - -
- Ich habe auch schon mal Rentenbeiträge gezahlt. Aber vielleicht, lieber Herr Kollege, lassen Sie mich erst mal ausreden. Ich verstehe, daß Sie nervös sind, weil Sie nämlich ein Experte für die Rentenversicherung sind und meine Sorgen, was die Zukunft dieser Versicherung angeht, wahrscheinlich teilen.
Der Zwischenruf ist beendet. Herr Berninger, Sie haben das Wort.
Wenn Herr Laumann Sie etwas fragen möchte, stellt er eine Frage.
Meine Damen und Herren, meine Generation ist tief besorgt über die Frage, wie über die Rentenversicherung diskutiert wird. Meine Generation ist tief besorgt über die Frage, ob dieses Rentenversicherungssystem Zukunft hat. Ich glaube nicht daran, daß der Spruch „Die Renten sind sicher" nach wie vor so gilt, wie das jahrelang gebetsmühlenartig von verschiedenen Seiten hier vorgetragen wurde.
Aber eines will ich Ihnen auch sagen: Ich glaube, daß dieses beitragsfinanzierte soziale Sicherungssystem in der Anlage das richtige System ist. Ich glaube, daß wir in der Rentenversicherung keinen grundsätzlichen Systemwechsel brauchen.
Ich glaube, daß wir alle in diesem Haus dafür werben müssen, dieses System zukunftsfest und zukunftsfähig zu machen, weil es das einzige System ist, das für eine breite Gruppe in dieser Gesellschaft so etwas wie Altersarmut verhindert, weil es - übertragen auf die Krankenversicherung - das einzige System ist, das in dieser Gesellschaft dafür sorgt, daß alte Menschen selbst dann, wenn sie kein hohes Einkommen haben, auch in Zukunft noch eine Krankenversorgung haben. Ich stehe hinter diesem System.
Wenn man aber hinter diesem System steht, muß man die Sorgen der jungen Generation ernst nehmen und nicht dazwischenblöken, wie das der Kollege eben sehr eindrucksvoll gemacht hat.
Ich glaube, die „Süddeutsche Zeitung" hat recht, wenn sie sagt: Die Reform, die uns die Bundesregierung vorgelegt hat, ist keine Grundsatzrentenreform, sondern hier waren Sozialklempner am Werk. Sie wollen Einsparungen vornehmen und versuchen, diese Einsparungen durch eine demographische Komponente zu kaschieren.
Ich persönlich denke, daß man darüber reden kann, ob man bei den Spitzenrenten Einschnitte vornehmen kann, um das Geld umzuverteilen, um beispielsweise dort, wo Altersarmut droht, Ausgleiche vorzunehmen. Ich halte das für eine sehr vernünftige Lösung.
Ich glaube aber nicht, daß durch diese Maßnahme kaschiert werden kann, daß Sie andere Reformen verhindern.
Der Kollege Schäuble hat vor einigen Wochen einen guten Vorschlag gemacht. Er hat gesagt: Wir brauchen eine Strukturreform in unserem sozialen Sicherungssystem. Er hat gesagt: Mit der Ökosteuer und mit anderen Verbrauchssteuern können wir für eine Beitragssatzstabilität sorgen. Diesen Vorschlag
Matthias Berninger
halte ich für sehr vernünftig. Er ist an Ihnen gescheitert.
Des weiteren ist es so, daß wir uns allesamt Sorgen darüber machen und uns allesamt nicht darüber streiten sollten, wie die Chancen und die Lasten fair zwischen den Generationen verteilt werden. Sie werden hier aber nicht fair verteilt, weil das, was Sie zur Rentenniveausenkung machen, den jungen Leuten zunächst einmal überhaupt keine Chancen bringt.
Gestern haben wir über die Arbeitslosigkeit von jungen Leuten diskutiert. Da hat sich ein Minister hier hergestellt, der noch nicht einmal Gesetzentwürfe zur Sicherung von Ausbildungsplätzen gelesen hat. In Deutschland leben 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche von Sozialhilfe. Auch hier hat die Bundesregierung einige Fehler gemacht, die jetzt zu Buche schlagen. Deswegen nehme ich Ihnen nicht ab, daß Ihre Sorge wirklich einer dauerhaften Sanierung der Rentenversicherung gilt.
Wenn es so wäre, würden Sie in Ihrer Reform jetzt damit anfangen, die zukünftige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt stärker zu berücksichtigen. Wir brauchen eine Rentenreform, nach der heute Teilzeitarbeit begünstigt wird. Heute sind in Wirklichkeit alle, die Teilzeitarbeit machen, gekniffen, weil sie später mit einer geringeren Rente rechnen müssen.
Wir brauchen eine Rentenreform, mit der heute Vorsorge dafür getroffen wird, daß wir in Zukunft das Ungleichgewicht zwischen Beitragszahlern und denen, die Leistungen bekommen, das ab dem Jahre 2010 bzw. 2015 droht, in den Griff bekommen.
Ihre Rentenreform, die Sie ursprünglich diskutiert haben, enthielt auch einen solchen Vorschlag, weil - wie vorhin gesagt wurde - es auch junge Sozialdemokraten gibt, die sich um die Rente sorgen. Auch in Ihren Reihen sitzen Leute, die gesagt haben: Wir müssen sehen, ob wir noch eine weitere Säule aufbauen können, ob wir es heute schon schaffen, neben der Rentenversicherung einen weiteren Kapitalstock aufzubauen, der die Beiträge dann, wenn es Zeit wird, stabilisiert. Mit solchen Reformen müssen wir aber heute beginnen, weil man diesen Kapitalstock nur langsam ansparen kann. All das tun Sie nicht.
- Die Frage ist richtig: Wer soll es denn zahlen?
Herr Schäuble hat einen Vorschlag in die richtige Richtung gemacht. Wir brauchen eine stärkere Finanzierung unserer sozialen Sicherung basierend auf einer Ökosteuer und basierend auf Verbrauchsteuern. All das machen Sie nicht.
Da Sie das nicht machen, wird die Rente langfristig auch nicht sicher sein. Ich hoffe, daß die nächste Bundesregierung hier wirkliche Reformen zustande bringt und den Mut hat, einen ehrlichen Dialog zu führen.
Das Entscheidende ist aber, daß Junge und Alte gemeinsam an dieser Reform arbeiten. So, wie Sie sie anlegen, tun Sie das heute nicht.
Als nächste spricht die Abgeordnete Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition beschließt heute in zweiter und dritter Lesung die Rentenreform 1999 und bringt gleichzeitig den Gesetzentwurf zur Anhebung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt ein. Dadurch sollen der Bundeszuschuß zur Rentenversicherung angehoben und die Rentenkassen entlastet werden.
Zwei Signale gehen heute von der Politik aus:
Erstens. Die Koalition ist handlungsfähig. Sie scheut den Konflikt mit der Opposition nicht. Sie setzt durch, was sie auch ohne Zustimmung der SPD im Bundesrat durchsetzen kann.
Das ist bei der Rentenreform der Fall. Wir sind gut beraten, so zu handeln.
Zweitens. Die Koalition - es ist ganz wichtig, daß wir diesen Zusammenhang immer wieder deutlich machen - bekämpft die Arbeitslosigkeit und verfolgt das Ziel, mit den notwendigen Reformen in den sozialen Sicherungssystemen Lohnzusatzkosten zu senken. Das ist unerläßlich, wenn man Arbeitsplätze in Deutschland erhalten und die Grundlage für neue Arbeitsplätze schaffen möchte. Für die Rentenreform heißt das: Beitragssätze senken und für lange Zeit unterhalb von 20 Prozent halten.
Erforderlich dafür sind langfristige Sparmaßnahmen. Erforderlich ist dafür ebenfalls die durch Steuern erreichte Einnahmenverbesserung, die kurzfristig eine Beitragssenkung möglich macht. Zumindest dieser Teil müßte Zustimmung bei der SPD finden, die die notwendige Sanierungsaufgabe ja ausschließlich mit mehr Steuergeld bewerkstelligen will.
Die Rentenversicherung ist eine mehrere Generationen überspannende, auf lange Zeiträume angelegte soziale Einrichtung. Korrekturen sind immer nur äußerst behutsam und in breitem politischen Konsens vorgenommen worden. Es galt aber immer der Grundsatz: Man soll sich auf seine Rente verlassen können.
Große gesellschaftliche Umbrüche, wie wir sie derzeit erleben, mit enormen Strukturveränderungen in der Wirtschaft, mit großer Arbeitslosigkeit, lassen jedoch auch die Rentenversicherung nicht unberührt. Steigende Rentenversicherungsbeiträge wer-
Dr. Gisela Babel
den nicht mehr hingenommen; Sie sollten auch nicht mehr hingenommen werden. Man sollte sich in der arbeitenden Bevölkerung eben auch auf stabile Beitragssätze verlassen können. Das ist ein neues Ziel, in der Vergangenheit von der Politik vielleicht nicht so klar erkannt.
Das Übersteigen der 20-Prozent-Grenze für Beiträge zur Rentenversicherung hat die Frage nach der zukünftigen Sicherung der Rente aufgeworfen. Deswegen ist es wichtig, daß wir handeln, und zwar rechtzeitig handeln, weil wir wissen, daß es langfristige Zeiträume sind, in denen das wirkt.
Die Koalition hat gehandelt. Zunächst wurde die hergebrachte sehr in die Breite gehende Frühverrentung in Form der vollen Rente wegen Arbeitslosigkeit ab 60 Jahren abgeschafft; das war noch der Konsens mit der Opposition. Für mehr als 300 000 Frühverrentungen im Jahr ist unser Rentensystem nicht ausgelegt. Hier gab es diesen Konsens.
Das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz hat 1996 weitere tiefe Einschnitte bei der Rente gebracht, durchaus schmerzlich: die Zurückführung der Ausbildungszeiten, die Frauen mit kleinen Renten betroffen hat.
Den wichtigen Schlußpunkt dieses Reformprozesses, bei dem nun die SPD nicht mitmachen will, bringt die Rentenreform 1999. Ziel ist es, den Beitragssatz stabil zu halten.
Ich will noch einmal auf die sogenannte Systemfrage eingehen, die immer wieder anklingt. Es gibt zwei große, sehr unterschiedliche Alternativen zu unserem Rentenrecht. Die eine ist die steuerfinanzierte Grundrente mit gleich hoher Altersrente für alle Bürger nach dem Modell des sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf. Die andere ist eine Rentenversicherung im Kapitaldeckungsverfahren. Hier spart dann jede Generation für sich selber. Ich würde das nicht als eine egoistische Rentenversicherung brandmarken; man kann sie auch so bauen.
Die Frage ist, ob wir in eine dieser zwei Alternativen einmünden können oder einmünden wollen. Die F.D.P. lehnt die steuerfinanzierte Grundrente deswegen ab, weil sie das Prinzip der Leistungsbezogenheit aufgibt. Ich hatte kürzlich noch einmal Gelegenheit, mit Frau Fischer von den Grünen darüber zu reden. Ihre Meinung haben Sie, Herr Berninger, wiederholt, indem Sie sagen: Sie stehen hinter dem System. Aber Sie meinen, bei der Teilrente müsse man eine Lösung finden, die eine auskömmliche Rentenhöhe sichert. Damit haben Sie die Weichen dafür gestellt, daß die Rente die Leistungsbezogenheit aufgibt. Denn eine Teilzeitarbeit kann nur eine Teilrente erwirtschaften. Wer dies in Frage stellt, geht, ob er will oder nicht, in ein anderes System.
Die Umstellungsschwierigkeiten sind enorm. Das wissen wir. Aber die Schwierigkeiten wären mindestens so groß, wenn wir in ein kapitalgedecktes Verfahren umsteigen wollten. Denn eine Generation alleine könnte die doppelten Lasten für die Rentner, die gerade leben, und für die eigene Vorsorge kaum schultern. Hier müssen wir sehr lange Zeiträume haben. Ich weiß nicht, ob wir uns in einer Demokratie über 50 Jahre festlegen können; ich habe da meine Zweifel. Ich bin der Meinung, das Kapitaldeckungsverfahren ist bei der betrieblichen und der privaten Eigenvorsorge gut aufgehoben.
Es ist also richtig, am System festzuhalten. Die Rentenversicherung ist zukunftsfähig, und sie ist auch zukunftssicher. Wir müssen aber den Mut haben, heute das Notwendige zu beschließen.
Kernpunkte des Rentenreformkonzepts sind der Einbau eines demographischen Faktors, die Reform der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente, die bessere Anerkennung der Kindererziehung und eine Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge.
Hinter dem demographischen Faktor - das ist ein Wortungetüm - verbirgt sich, daß die Menschen erfreulicherweise immer länger leben. Die Lebenserwartung der 65jährigen steigt in Deutschland im Schnitt in zehn Jahren um 1,4 Jahre an.
Gemeinsam mit der Frühverrentung hat die höhere Lebenserwartung die Bezugsdauer von Renten dramatisch ansteigen lassen, bei Männern von 1965 bis 1995 von 10 Jahren auf 14 Jahre, bei Frauen von 11,5 Jahren auf 18 Jahre.
Wenn wir bereits im Jahre 1965 den demographischen Faktor beachtet hätten, hätten wir heute einen Beitragssatz von 12 Prozent. Ich weiß, das sind Formulierungen im Konjunktiv, es gibt schließlich auch andere Dinge, die die Rentenversicherung belastet haben. Ich weiß das wohl, aber dieser eine Faktor hat bereits eine sehr beachtliche Wirkung.
- Richtig, und wenn die Wiedervereinigung nicht gekommen wäre und einiges mehr; das ist alles richtig. Aber man muß die Wirkung des demographischen Wandels zumindest als Faktum anerkennen. Ob Sie ihn in der Formel beachten wollen oder nicht, ist eine weitere Entscheidung. Ich habe den Eindruck, daß Sie diesen Faktor aus Ihren Überlegungen völlig ausblenden.
Meine Damen und Herren, wenn über einen wesentlich längeren Zeitraum Rente bezogen wird, dann ist es doch einleuchtend, daß der Zahlbetrag etwas geringer ausfallen muß. Im Ergebnis - das hat bereits mein Vorredner gesagt - werden die Renten nicht gekürzt, sondern sie werden nur langsamer steigen. Auch diese Renten werden eine Alterssicherung gewähren - es ist wichtig, daran festzuhalten -, nach Auffassung der F.D.P. werden sie aber nicht mehr die Abdeckung des vollen Lebensstandards garantieren. Deswegen lautet unser Appell: Eigenvorsorge in betrieblicher und privater Lebensversicherung.
Die Reform der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente haben wir weitgehend nach den Vorschlägen der Regierungskommission entwickelt. Wir haben sie in einer einzigen Rente zusammengefaßt. Für die Frage, ob Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente besteht, sollen jetzt gesundheitliche Kriterien allein ausschlaggebend sein und nicht mehr die Lage
Dr. Gisela Babel
auf dem Arbeitsmarkt. Damit ordnen wir die Risiken den entsprechenden Sozialversicherungen zu.
Wir sind in den Vorschlägen ein wenig milder als die Rentenreform; denn die Abschläge betragen nur 10,8 Prozent, vorgeschlagen waren ursprünglich 18 Prozent. Dies erfolgt durchaus auf Kosten des Einsparvolumens.
Ich komme nun zur Anerkennung der Kindererziehung. Ich glaube, es ist richtig, immer wieder festzustellen: Außerordentlich bedeutsam ist die Anerkennung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung. Das ist einer der großen Schritte. Das Wort „Anerkennung der Kindererziehungszeiten" ist besonders für Frauen wichtig.
Für mich ist der Satz „Rente ist Lohn für Lebensleistung" besonders wichtig, weil für mich das Aufziehen von Kindern zu dieser Lebensleistung gehört und deswegen richtigerweise in der Rentenversicherung gewertet wird. Jetzt wird sie sogar höher bewertet.
Ich habe nie gesagt - ich glaube, das wäre auch unvernünftig -, daß wir über die Anerkennung von Kindererziehungszeiten zu einer eigenständigen, allein auf Rente beruhenden Alterssicherung der Frau kommen. Das ist eine Illusion. Es widerspricht dem, was wir vorhin gesagt haben, daß wir hinter dem System stehen wollen. Die Leistungsbezogenheit, also das Bezahlen von Beiträgen während der Erwerbstätigkeit und das Erarbeiten der Rente, wird durch die Anerkennung von Kindererziehungszeiten nicht unbedingt erreicht. Sie wissen, daß man ungefähr 37 Kinder erziehen muß, um eine Durchschnittsrente zu erreichen. Das ist eine Illusion.
Wir sollten nicht sagen: Wir ermöglichen innerhalb eines beitrags- und leistungsbezogenen Systems eine solche Alterssicherung der Frau. Diese läßt sich nur erreichen, wenn Sie sie mit sehr viel Geld, zusätzlichem Steuergeld oder wie auch immer aufpumpen. Sie können das aber nicht im System machen.
Gut ist es, daß wir die additiven Kindererziehungszeiten ins Rentenreformgesetz 1999 aufnehmen. Das ist eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts und seit langer Zeit auch eine F.D.P.-Forderung. Gut finde ich auch, daß wir die Kindererziehung von 0,75 Entgeltpunkten auf einen Entgeltpunkt aufwerten. Das wertet dann auch inhaltlich die Kindererziehung wie einen Entgeltpunkt im Durchschnittsverdienstbereich. Ich finde, auch das ist ein sehr wichtiges Signal.
Ich komme zur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung. Wer also weiß, daß die Rentenversicherung der Zukunft eine grundsätzliche Abdeckung der Alterssicherung durchaus noch leistet, aber daß sie den Lebensstandard in der früheren Weise nicht mehr sichert, muß um so mehr darauf bedacht sein, betriebliche Altersversorgung und auch die private
Vorsorge zu verbessern. Ich bedaure, daß wir hier außer arbeitsrechtlichen Vorschriften nicht viel mehr haben machen können.
- Ich meine, die Koalition muß berücksichtigen, welche Steuerausfälle verkraftet werden können.
Immerhin haben wir die auf Richterrecht beruhende nachholende Anpassung beseitigt. Damit war die Betriebsrente praktisch an die Inflationsrate gebunden. Auch haben wir dafür gesorgt, daß ein Arbeitgeber, der sich zu einer Anpassung von 1 Prozent pro Jahr verpflichtet, von weiteren Anpassungsverpflichtungen frei bleibt. Hier hätten wir uns mehr gewünscht, nämlich daß es auch diejenigen betrifft, die nur eine Betriebszusage oder bereits selbst eine Betriebsrente haben. Aber es ist ein erster Anfang, mit dem wir mehr Planungssicherheit haben.
Bei der Frage Ausbau der Unverfallbarkeitsgrenzen ist uns keine steuerliche Flankierung gelungen. Das bedaure ich sehr; denn in der modernen Arbeitswelt gewinnt die Frage, ob die erworbenen Betriebsrentenansprüche bei einem Wechsel erhalten bleiben, natürlich außerordentlich an Bedeutung. Es ist sehr schade, daß wir bei dieser Flankierung nicht mehr haben durchsetzen können. Manchmal habe ich den Eindruck, daß die Sozialpolitiker den Finanzpolitikern bei der Zukunftsorientierung ein Stück voraus sind, was die Alterssicherung anlangt.
Wir haben Änderungen gegenüber dem Gesetzentwurf vorgenommen. Änderungspakete bei der sozialen Gesetzgebung werden in Kilogramm gewogen. Aus diesem Paket möchte ich zwei herausgreifen.
Zum einen haben wir etwas für Langzeitarbeitende getan. Diese sind bei uns mittlerweile selten anzutreffen. Frau Mascher meint, es gibt sie überhaupt nicht mehr. Es geht um Arbeitnehmer, die 45 Jahre gearbeitet haben und jetzt mit 60 Jahren in Rente gehen wollen. Wir haben für sie vorgesehen, daß es keine Abschläge gibt, wenn sie mit 60 Jahren in Rente gehen. Ich glaube, wir sind uns einig, daß diese Korrektur gerecht und notwendig ist.
Zweitens. Wir haben in diesem Reformgesetz Rentenarten zusammengeführt und vereinheitlicht. Ab dem Jahre 2012 sollen alle Rentenarten, ob wegen Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Behinderung, langjähriger Beschäftigung oder vorzeitigem Ausscheiden, mit 62 Jahren mit Abschlägen für drei Jahre in Rente gehen können, also 10,8 Prozent. Wenn wir uns vor Augen halten, daß wir in den vergangenen Zeiten in der Rentenversicherung immer nur weiter differenziert, ausgefeilt, verästelt und das Rechtsgebiet damit unübersichtlicher gestaltet haben, ist anzuerkennen, daß die Rentenreform 1999 nicht nur Einsparungen, sondern in eindrucksvoller Weise auch Vereinfachungen bringt.
Nun zur Opposition. Die SPD hat Vorschläge unterbreitet, wie mit Steuergeld die Beiträge gesenkt werden können. Darin ist sie der Koalition durchaus nahe. Sie will mit diesem Geld versicherungsfremde
Dr. Gisela Babel
Leistungen - davon greift sie drei heraus - finanzieren und diese deutlich und sichtbar aus der Rentenversicherung heraustrennen. Der Bundeszuschuß von heute bereits 67 Milliarden DM im Jahr wird entlastet, aber nicht auf Dauer. Die Beitragsstabilität ist kein definiertes Ziel der SPD.
Ich habe für eine Politik der Transparenz, den Bundeszuschuß betreffend, viel Sympathie. Man sollte in der Tat politisch genau festlegen, welche Leistungen er abdeckt und wieviel wir für die staatliche Garantie des Systems nun aufwenden wollen. Ich halte diese Festlegung durchaus für sehr gut. Sie übt auch heilsame Zwänge auf uns aus, uns darüber Rechenschaft abzulegen. Aber das Kernproblem bleibt davon unberührt: Wie ist das Ziel einer über Jahrzehnte währenden Beitragssatzstabilität zu erreichen? Ich halte es für unerträglich, wenn Beiträge immer weiter ansteigen und die erwerbstätige Generation immer mehr belastet wird.
Auch halte ich es für unhaltbar, wenn künftig immer mehr Steuergeld in die Rentenkasse fließt. Dann landen wir nämlich im steuerfinanzierten Versorgungssystem und verabschieden uns von der leistungsbezogenen Rente. Das Fatale an dem Konzept der SPD ist, daß sie damit ein Gaukelspiel treibt. Sie will 20 Millionen Rentnern einreden, die Rentenkassen ließen sich ohne Einsparungen einfach mit mehr Geld sanieren und füllen. Auch alle anderen Verbesserungen wie die Vorschläge zur Alterssicherung der Frauen, die natürlich für Frauen außerordentlich attraktiv klingen, wollen Sie auf diese Weise finanzieren. Das können Sie doch im Ernst nicht vertreten. Sie scheinen nicht eine Minute damit zu rechnen, daß sie im Bund Verantwortung übernehmen und sich an diese Vorschläge, erinnern lassen müssen.
Frau Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner?
Nein, bitte nicht. - Vor den Problemen stecken Sie den Kopf in den Sand und bei Ihren Vorschlägen haben Sie den Kopf in den Wolken. Nein, meine Damen und Herren, in der Rentenversicherung muß gespart werden; alles andere ist Augenwischerei. Unsere Pflicht ist es, dieses offen auszusprechen und mutig zu vertreten.
Die Rente bleibt sicher. Diesen Satz zu sprechen, bedarf es der Anstrengung, verantwortungsvolle Maßnahmen zu Einsparungen in der Rentenversicherung durch die Einführung einer neuen Rentenformel, die die Lebenszeit mehr berücksichtigt, und einer neuen Erwerbsunfähigkeitsrente zu ergreifen. Die Blockade der SPD, die nicht nur beim Handeln zu beobachten ist, sondern bereits beim Denken beginnt, kann uns dabei nicht aufhalten.
Die F.D.P. stimmt dem Rentenreformgesetz zu. Vielen Dank.
Es spricht jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gruppe der PDS im Bundestag lehnt die Koalitionsvorschläge zur Rentenreform ab,
weil sie jetzt so nicht notwendig, unsozial und systemzerstörerisch sind.
Eine Reform, die nicht nur die jetzige Rentnerinnen- und Rentnergeneration, sondern auch die Alterssicherung der heute 30- bis 40jährigen und Jüngeren betrifft, sollte in einem breiten Konsens erfolgen. Doch dieser Konsens - das haben die Reden meiner Vorrednerinnen und Vorredner gezeigt - ist derzeit nicht vorhanden.
Es ist bezeichnend, mit welcher Ignoranz diese Regierungskoalition der Ablehnung der Rentenreform im Bundesrat, den Warnungen etablierter Verbände und auf den jüngsten Protestveranstaltungen vorgetragenen Mahnungen begegnet. Ist es nicht verständlich, daß sich die Länderkammer wehrt, weil deren Vertreterinnen und Vertreter sehen, welche Belastungen auf sie verlagert werden? Der VdK hat Sie fast täglich mit Erklärungen zur Vernunft aufgerufen, denn dort weiß man, was auf die Betroffenen zukommen wird. Das Kuratorium ostdeutscher Verbände hat vorgestern im Namen Hunderttausender Mitglieder an uns Bundestagsabgeordnete appelliert, eine derart einschneidende Reform in dieser Form nicht zu beschließen.
Die 66 Änderungsanträge der Koalition, Frau Kollegin Dr. Babel, geben keinen Anlaß, die Kritik am Gesetzesentwurf zurückzunehmen. Viele Korrekturen sind formaler Art, am unerträglichen Gehalt der Regelungen hat sich wenig geändert: Geblieben ist die Senkung des Rentenniveaus von 70 auf 64 Prozent mit dem sogenannten demographischen Faktor. Damit entledigen Sie die gesetzliche Rente nun völlig ihrer lebensstandardsichernden Funktion und verweisen auf zusätzliche private Vorsorge. Das werten wir als Systembruch. Hier gebe ich Ihnen, Frau Kollegin Babel, sogar recht. Mit diesem Beschluß haben Sie tatsächlich ein Signal gesendet.
Da nichts getan wird, die Rentenversicherung auf tatsächlich gelebte Erwerbsbiographien auszurich-
Petra Bläss
ten und die Lebensleistung anzuerkennen, werden immer mehr Menschen im Alter in die Sozialhilfe abrutschen. Die, die bereits in Rente sind und auf eine erfüllte Erwerbsbiographie zurückblicken können, werden Abstriche am Lebensstandard machen müssen.
Geblieben ist im Gesetz die Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente und die Installierung einer untauglichen, zeitlich befristeten Teil- bzw. Vollerwerbsminderungsrente. Sie verteilen das Risiko nicht sachgerecht zwischen den Kassen, sondern schieben es auf die gesundheitlich Beeinträchtigten ab.
Die Anhörung hat deutlich gezeigt, daß Arbeitgeberverbände und Wirtschaft keinerlei Garantie dafür zu geben vermögen, verstärkt geeignete Teilzeitarbeitsplätze anzubieten. Für den an sich sinnvollen Ansatz, nicht nur einen vollen gesundheitsbedingten Ausstieg aus dem Erwerbsleben zu ermöglichen, sondern eine Teilrente einzuführen, fehlen leider die komplementierenden Regelungen. Notwendig wäre, die Arbeitgeber über langfristig angelegte Lohnkostenzuschüsse zur Schaffung geeigneter Arbeitsplätze anzuregen und im Arbeitsförderungsgesetz für diese Fälle ein unbegrenztes Arbeitslosengeld zu verankern.
Geblieben ist der Abschlag für Erwerbsminderungsrenten - zwar abgemildert auf maximal 10,8 statt 18 Prozent, aber gerade für Teilerwerbsgeminderte wird damit Sozialhilfebedürftigkeit zur Norm werden. Geblieben ist die Heraufsetzung des Rentenalters für Schwerbehinderte von 60 auf 63 Jahre. Zurückgenommen haben Sie zwar die Heraufsetzung der Zugangsbedingungen von 50 auf 60 Prozent des Grades der Behinderung; aber das ändert nichts an der Gesamteinschätzung, bei der wir uns voll dem Präsidenten des VdK anschließen können: Arbeitslosigkeit oder massive Einkommensverluste sind für schwerbehinderte und erwerbsunfähige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in hohem Maße vorprogrammiert. Die massiven Einschnitte und ihre absehbaren Folgen stehen in krassem Widerspruch zu dem im Grundgesetz inzwischen festgeschriebenen Verbot, behinderte Menschen zu benachteiligen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sich mit der leicht verbesserten Anerkennung von Kindererziehungszeiten zu brüsten ist angesichts der vielen Verschlechterungen wirklich makaber. Zudem ist die veränderte Bewertung der Kindererziehung durch das Bundesverfassungsgericht erzwungen worden. Um die Alterssicherung von Frauen zu verbessern, bleibt wirklich noch vieles zu tun. In dem heute auch zur Abstimmung stehenden PDS-Antrag - „Gegen Armut und Abhängigkeit - für eine eigenständige Alterssicherung von Frauen" haben wir unsere Vorschläge hierzu unterbreitet.
Ihre sogenannte Rentenreform ist zu einem finanziellen Konsolidierungskonzept für die Rentenkassen verkommen. Zu den Leistungskürzungen auf der einen Seite präsentieren Sie uns nun noch ein - in
Form und Inhalt einzigartiges - Konstrukt eines zusätzlichen Bundeszuschusses. Zu dessen Refinanzierung bringen Sie heute einen Gesetzentwurf ein. Im Rentenreformgesetz wird verankert, daß die Regelung über den zusätzlichen Bundeszuschuß in Kraft tritt, wenn dieses neue Gesetz verabschiedet ist.
Der zusätzliche Bundeszuschuß soll mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt finanziert werden. Eine solche Zweckbindung einer Steuer ist ein völlig neues Konstrukt. Aber auch vom Wesen her steht die Mehrwertsteuererhöhung der eigentlichen Sinngebung des Bundeszuschusses voll entgegen. Der Bundeszuschuß soll die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für das garantierte Funktionieren der Rentenversicherung gewährleisten. Wem aber bürden Sie die Belastung aus der Mehrwertsteuererhöhung auf? Denen, die heute oder morgen durch die Rentenreform sowieso betroffen sind. Das ist zutiefst unsozial.
Nebenbei bemerkt, ändern Sie mit dem heute eingebrachten Refinanzierungsgesetz bereits wieder die heute zu verabschiedende Neufassung des Sozialgesetzbuches VI. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, kennen Sie eigentlich jemanden, der hier noch voll durchblickt?
Ich finde es auch bemerkenswert, mit welcher Offenheit in der Begründung des Gesetzentwurfes von der Förderung der Beschäftigung im Niedriglohnbereich gesprochen wird.
Die Regierungskoalition hat einen einzigartigen Erfindungsreichtum für Kürzungsvorschläge und Finanzierungskrücken entwickelt. Alles ist zu einer finanztechnischen Debatte verkommen; tatsächlicher Reformbedarf bleibt außen vor.
Wir gehen davon aus, daß der Generationenvertrag nicht in Gefahr ist; er muß nur auf die tatsächlich neuen Bedingungen der zukünftigen Entwicklung eingestellt werden.
Die sind eben nicht einseitig demographischer Natur dergestalt, daß mehr Ältere weniger Jüngeren gegenüberstehen, sondern vor allem geprägt durch die Veränderungen in der Arbeitswelt.
Zweifellos bringt die anhaltende und immer weiter steigende Arbeitslosigkeit die Prognosen der letzten Rentenreform von 1992 durcheinander. Aber wir wenden uns strikt dagegen, den einfacheren Weg zu gehen und die Renten weiter zu beschneiden, statt den schwierigeren Weg anzupacken und die Lage auf dem Arbeitsmarkt zu entschärfen.
Doch diese Regierung zeigt sich unfähig, die Komplexität der Probleme zu lösen. Alles mißlingt: die Steuer-, die Arbeitsförderungs-, die Gesundheits- und nun auch die Rentenreform. Leider scheint der gegenwärtige neoliberale Kurs von Deregulierung und Sozialabbau mit der jetzigen politischen Kräfte-
Petra Bläss
konstellation nicht aufzuhalten zu sein. Aber es gibt das berechtigte Hoffen auf einen Wechsel 1998. Dann
muß eben auch die Rentenreform neu in Angriff genommen werden.
Von diesem Ansatz geht auch der vorliegende Entschließungsantrag der SPD aus. Allerdings meinen wir, daß es eine Vielfalt von Vorschlägen gibt. Deshalb sollte unseres Erachtens nicht nur der vorliegende Antrag der SPD zur Grundlage einer Rentenreform genommen werden, die ihren Namen dann wirklich verdient. Deshalb werden wir uns bei Ihrem Entschließungsantrag der Stimme enthalten.
Auch Bündnisgrüne und PDS haben im Parlament alternative Anträge vorgelegt. Gewerkschaften und Verbände, wie die Volkssolidarität oder die RheumaLiga, haben interessante eigene Konzepte vorgestellt. All dies gilt es zu prüfen. Alles scheint uns kombinier- und verhandelbar, nur eines nicht: die Absenkung des Rentenniveaus.
Auch nach strukturellen Leistungsverbesserungen ist ein Standardniveau von 70 Prozent zur Haltung des Lebensstandards im Alter ein Minimum.
Natürlich erfordern Verbesserungen im Rentenversicherungsrecht mehr Geld. Wir sind daher froh, daß sich die SPD in ihrem Antrag für das Prüfen einer Wertschöpfungsabgabe ausspricht. Dafür plädiert die PDS schon seit Jahren. Mit einer Wertschöpfungsabgabe könnte an die tatsächliche Leistungskraft der Unternehmen angeknüpft werden, nicht an die Löhne, die Betriebsgröße oder die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern daran, was ein Betrieb in Mark und Pfennig erwirtschaftet.
Meine Damen und Herren, eine wirklich soziale Reform ist ohne Umverteilung des produzierten Reichtums nicht möglich. Je größer der durch eine Umverteilung von oben nach unten gewonnene finanzielle Spielraum ist, desto mehr kann die Rentenversicherung armutsfest, gerechter und attraktiver gemacht werden.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Peter Dreßen.
Herr Vogt, ich möchte auf Ihren Beitrag eingehen. Wenn Sie sich um die dauerhafte Finanzierung ernsthaft Sorgen machen, müßten Sie auch überlegen, wie wir zu mehr Beitragsehrlichkeit auf der Arbeitgeberseite kommen.
Bisher wurde immer nur von den Beiträgen der Versicherten gesprochen.
Mich ärgert es zum Beispiel, daß arbeitsintensive Betriebe sehr viel zur sozialen Sicherung beitragen - das Handwerk und verarbeitende mittelständische Betriebe bringen viel von ihrem Umsatz in die soziale Sicherung ein -, während sich kapitalintensive Unternehmen legal immer mehr aus der sozialen Sicherung verabschieden.
Hier gibt es nach meiner Auffassung eine viel größere Schieflage, darauf zu reagieren, der Gesetzgeber gefordert wäre. Warum denken wir nicht gemeinsam darüber nach, wie wir etwa durch eine Wertschöpfungsabgabe diesen Mißstand beseitigen können? Es darf doch nicht sein, daß bei jeder Rationalisierungswelle unser Sozialstaat erneut in Gefahr gerät.
Bevor Sie wieder einmal einen Lastenausgleich zwischen den Versicherten herbeiführen, Herr Vogt, fordere ich Sie auf, auch einmal darüber nachzudenken, wie man kapitalintensive Betriebe wieder mehr in das Sozialversicherungssystem einbauen kann, als dies in der Vergangenheit passiert ist.
Herr Dreßen, darf ich einmal fragen, auf wen Sie jetzt Bezug nehmen?
Auf Herrn Vogt. Das habe ich vorhin gesagt.
- Herr Kauder, Sie sind ja gleich an der Reihe und können darauf eingehen.
Ich bin der Überzeugung, daß Reformen nicht, wie Sie hier übersetzen, nur aus Leistungskürzungen bestehen dürfen. Reformen verabschieden heißt auch neue Wege gehen. Die Wertschöpfungsabgabe wäre ein neuer Weg. Wir müssen auch auf der Arbeitgeberseite für mehr Gerechtigkeit bei der Beitragsgestaltung sorgen. Ich kann und will nicht akzeptieren, daß kapitalintensive Betriebe wie Banken und Versicherungen nichts oder nur sehr wenig zur sozialen Sicherung in unserem Land beitragen.
Herr Vogt.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu dem Thema Wertschöpfungsabgabe habe ich in meinem Redebeitrag aus guten Gründen überhaupt nichts gesagt. Dies ist nämlich ein Thema, das seit zehn Jahren tot ist. Zu dieser Feststellung komme ich auch, wenn ich mir die sozialpolitische Debatte in der SPD vor Augen halte. Dieses Thema beinhaltet keinen konstruktiven und nach vorn weisenden Vorschlag.
Herr Kollege, ich habe den Eindruck, Sie hatten diese Kurzintervention schon vorbereitet. Sie suchten
Wolfgang Vogt
nur noch einen Adressaten. Ihre Fraktion hat Sie nicht als Redner benannt. Also mußten Sie Ihren Beitrag für das Fernsehen im Rahmen einer Kurzintervention loswerden.
Ich sage noch einmal: Die Wertschöpfungsabgabe ist unter seriösen Sozialpolitikern seit zehn Jahren tot.
In der Debatte setzt jetzt der Kollege Volker Kauder fort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Regierungskoalition hat am 27. Juni 1997 den Entwurf des Rentenreformgesetzes hier im Deutschen Bundestag eingebracht. Heute werden wir das Gesetz, was die Grundentscheidungen anbelangt, gegenüber dem Entwurf unverändert beschließen. Die ganz wichtige Botschaft: Wir werden dieses Gesetz beschließen und beweisen: Diese Regierungskoalition ist in wichtigen Fragen handlungsunfähig
- handlungsfähig - und nicht auf die handlungsunfähige Opposition angewiesen. Wie gesagt: Wir sind handlungsunfähig
- handlungsfähig - und nicht auf die handlungsunfähige Opposition angewiesen.
Überall dort, wo die Opposition gebraucht wird, herrscht Stillstand, und dort, wo wir allein arbeiten können, geht es voran und geht es vorwärts in diesem Land.
Mit diesem Reformgesetz leisten wir einen Beitrag dazu, daß der Gesamtsozialversicherungsbeitrag sinkt und die Sozialabgabenquote gesenkt werden kann, eine Forderung, die in der großen Diskussion im letzten Jahr mit den Tarifpartnern so beschlossen worden ist. Mich wundert, daß die SPD diesem Thema so wenig Aufmerksamkeit widmet. Mit diesem Rentenreformgesetz werden die höheren Kosten einer längeren Lebenserwartung zwischen der jungen und der älteren Generation gerecht aufgeteilt. Dieses Rentenreformgesetz ist damit ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Dies haben die Fachleute in der Anhörung ausdrücklich bestätigt.
Das Rentenreformgesetz, wie wir es heute verabschieden, ist zugleich - dies ist ein ganz wichtiger Punkt - eine vertrauensbildende Maßnahme für die Rentenversicherung. Die Botschaft an die junge Generation ist: Der drohende dramatische Anstieg der Beiträge wird gebremst. Zugleich wird zugesagt, daß die Funktion der Rente als Hauptsäule im Gesamtsystem der Altersversorgung erhalten bleibt. Die Botschaft an die ältere Generation ist: Die Rente wird nicht gekürzt, sondern der Anstieg wird nur etwas geringer sein.
Wir geben also als Regierungskoalition mit diesem Gesetzentwurf klare und verläßliche Auskünfte. Die Opposition dagegen, Herr Dreßler und Herr Andres, verunsichert in unverantwortlicher Weise die ältere Generation.
Deshalb sage ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich: Keinem Rentner wird durch dieses Gesetz die Rente gekürzt. Ich bin mir sicher: Das, was Sie machen, wie Sie versuchen, die ältere Generation zu verunsichern, wird Ihnen bei der älteren Generation gerade kein Vertrauen einbringen. Statt dessen werden sich die klaren und deutlichen Aussagebekenntnisse, die wir machen, auszahlen.
Im übrigen verschweigt die Polemik der Opposition, daß steil ansteigende Beiträge das Niveau der Rente drücken, weil hohe Beiträge natürlich die Nettolöhne verringern und deshalb die Rente nicht erhöht werden kann. Es liegt also im Interesse der Jüngeren und der Älteren, daß die Beiträge nicht steigen. Genau dies erreichen wir mit unserem Gesetz.
Die Fachleute in der Rentenversicherung haben dieses wesentliche Strukturelement unseres Gesetzentwurfes in der Anhörung ausdrücklich bestätigt. Sie haben bestätigt, daß ein wesentlicher Grund für die drohenden Beitragssatzsteigerungen in der längeren Lebenserwartung und den damit verbundenen Kosten liegt. Natürlich - dies hat Wolfgang Vogt ausdrücklich bestätigt - bringt die hohe Arbeitslosigkeit allen Sozialversicherungssystemen zusätzliche Probleme ins Haus. Die hohe Arbeitslosigkeit werden wir aber nur mit Kostenentlastung von Arbeitnehmern und den Unternehmen erfolgreich reduzieren können.
Da sind wir mit diesem Gesetz auf dem richtigen Weg. Ich habe in der letzten Debatte bei der Einbringung dieses Gesetzes gesagt, daß die Gewerkschaften in diesem Jahr ausdrücklich formuliert haben, daß es einen ganz klaren Zusammenhang zwischen Lohnkosten, Lohnzusatzkosten und Arbeitslosigkeit gibt. Dann ist mir von Herrn Schily entgegengehalten worden, dies sei eine Lüge. Ich kann nur noch einmal zitieren, was in diesen Wochen auch vom Gewerkschaftsvorsitzenden wieder gesagt worden ist: Hohe Löhne und hohe Lohnzusatzkosten bedingen natürlich auch einen Beitrag zur Arbeitslosigkeit.
Volker Kauder
Dies ist die Wahrheit. Dies müssen sie endlich anerkennen und auch einen Beitrag dazu leisten, daß diese Entlastung kommt. Da wundert es mich, wie offensichtlich der Experte für all diese Fragen der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Lafontaine, zu dem Vorschlag kommen kann: Immer höhere Löhne reduzieren immer stärker die Arbeitslosigkeit. Einen größeren wirtschaftspolitischen Unsinn habe ich in den letzten Tagen nicht gehört.
Die Anhörung hat aber auch erbracht, daß wir die Gesetzesvorlage in einigen Punkten korrigieren. Diese wichtigen Änderungen, die auch zu Diskussionen geführt haben, möchte ich kurz ansprechen.
Mit dem Rentenreformgesetz regeln wir die Absicherung bei Invalidität neu. Das bisherige System der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente wird durch eine einheitliche Erwerbsminderungsrente ersetzt. Diese gibt es als Vollrente, wenn weniger als drei Stunden am Tag gearbeitet werden kann, und als Teilrente, wenn zwischen drei und sechs Stunden am Tag gearbeitet werden kann.
Das Arbeitsmarkt- und Arbeitsplatzrisiko wird in Zukunft nicht mehr von der Rentenversicherung, sondern dort, wo es hingehört, von der Arbeitslosenversicherung getragen. Um Ausweichreaktionen von der mit Abschlägen versehenen vorzeitigen Altersrente in die Erwerbsminderungsrente zu verhindern, war im Gesetzentwurf eine Absenkung der Erwerbsminderungsrente von bis zu 18 Prozent vorgesehen. Anhörung und Beratung haben uns dann aber davon überzeugt, daß ein Abschlag in dieser Höhe nicht notwendig ist. Die Regelung, die jetzt beschlossen wird, sieht vor, daß lediglich eine Absenkung von maximal 10,8 Prozent vorgenommen wird. Insofern findet eine Angleichung der Regelungen für die Erwerbsminderungsrente an die Regelungen für die Altersrente für Schwerbehinderte und für die vorzeitige Altersrente statt.
Damit ist jede Polemik, meine Damen und Herren von der Opposition, gegen die neue Erwerbsminderungsrente unglaubwürdig. Wir haben jetzt eine Regelung geschaffen, die akzeptabel ist. Hinzu kommt, daß die Zurechnungszeit zwischen dem 55. und 60. Lebensjahr gegenüber heute von einem Drittel auf zwei Drittel erhöht und damit die Wirkung der Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente weiter gedämpft wird. Wer jetzt behauptet, eine Erwerbsminderung sei in der Rentenversicherung nicht mehr abgesichert, der sagt die Unwahrheit. Das will ich hier noch einmal ausdrücklich betonen.
Ein weiterer, auch von einer Fülle von Eingaben begleiteter Diskussionspunkt war die Anhebung der Altersgrenze für Schwerbehinderte vom 60. auf das 63. Lebensjahr. Auch hier haben wir nach intensiven Diskussionen Änderungen vorgenommen, die nun heute beschlossen werden. Danach bleibt es bei den bestehenden Regelungen, nämlich der abschlagfreien Rente ab dem 60. Lebensjahr für diejenigen Versicherten, die am heutigen Tage bereits als
schwerbehindert anerkannt und mindestens 55 Jahre alt sind.
Wir haben also eine überzeugende Vertrauensschutzregelung geschaffen. Für alle übrigen wird nach dem Jahr 2000 die Altersgrenze stufenweise vom 60. auf das 63. Lebensjahr angehoben. Insoweit findet eine Angleichung statt, die zu einheitlichen Regelungen für alle Altersrenten führt. Wir belassen es auch dabei, daß für die Schwerbehinderung ein Behinderungsgrad von 50 Prozent ausreicht. Die zunächst vorgesehene Erhöhung auf 60 Prozent wird also mit dem heutigen Gesetz gestrichen.
Eine Änderung gegenüber dem eingebrachten Gesetzentwurf betrifft -die betriebliche Altersversorgung; Frau Kollegin Babel hat es angesprochen. Wir wollten mit diesem Gesetzentwurf diese zweite Säule stärken. Leider war es nicht möglich, die dafür notwendige finanzielle Flankierung durch Steuern zu erreichen. Trotzdem bleibt dieses Thema auf der Tagesordnung. Wir wollen die erste, zweite und dritte Säule als Gesamtsystem der sozialen Alterssicherung erhalten und stärken.
Darüber braucht nun niemand von der Opposition groß zu diskutieren. Wir haben dieses Ziel. Wir können nicht alles auf einmal umsetzen. Wir werden in der nächsten Zeit ohnehin noch einmal neu über die Altersversorgung und Hinterbliebenenversorgung diskutieren müssen. Dann werden wir all diese Dinge einbringen. Ich sage ausdrücklich: Ich bin davon überzeugt, daß wir dies einbringen und entscheiden, nicht Sie - auch nicht im Jahr 1998.
Ich sage auch ganz offen, daß wir zwei Punkte nicht regeln konnten, die wir gerne geregelt hätten und die ich für regelungsbedürftig halte. Es handelt sich um die geringfügigen Beschäftigungen und um die Scheinselbständigkeit. Ich sage es klar und deutlich: Es gibt in einer Koalition Punkte, über die man sich nicht einigen kann. Dies war hier der Fall.
Die 610-DM-Arbeitsverhältnisse waren einmal zum Abbau von Arbeitsspitzen gedacht. Jetzt entwickeln sie sich mehr und mehr zu einer Alternative zu regulären Arbeitsverhältnissen. Überall dort, wo sie eine Zusatzbeschäftigung zur Hauptbeschäftigung sind, sind sie in erster Linie kein Problem der sozialen Absicherung, sondern des Wettbewerbs. Sie verzerren den Wettbewerb. Deshalb haben wir die Idee, daß überall dort, wo zu einer Haupttätigkeit eine Nebentätigkeit hinzukommt, diese voll mit Sozialversicherungsbeiträgen verbunden werden muß.
Dies unterscheidet sich aber eklatant von dem, was die Opposition will. Ich hoffe, daß wir in diesem Punkt weiterkommen.
Es darf nicht so sein - dies sage ich ausdrücklich auch an die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. -, daß man in dem Betrieb, in dem man seinen festen Arbeitsplatz hat und Überstunden ableistet, über
Volker Kauder
1000 DM verdienen muß, um 600 DM netto herauszubekommen, aber in einem benachbarten kleinen Handwerksbetrieb im Rahmen einer Nebenbeschäftigung locker 610 DM erhalten kann. Dies ist eine Verzerrung des Wettbewerbs, die so nicht mehr zugelassen werden darf.
Ein anderes Problem ist die Absicherung von sogenannten Scheinselbständigen. Auch hier waren wir der Meinung, daß eine Grundabsicherung sein muß. Wir wollen mehr Selbständigkeit. Wir brauchen mehr Existenzgründungen. Dies fördern wir auch. Aber wir wollen nicht, daß diejenigen, die sich selbständig machen, zu einem späteren Zeitpunkt in die Sozialhilfe fallen. Deswegen wäre uns eine Grundabsicherung, wie wir sie beim Handwerk hatten, auch recht gewesen. Ich bin sicher, daß wir hier einen erheblichen Schritt weiterkommen. Diese Fragen werden wir regeln.
- Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da brauchen Sie gar keine hämischen Anmerkungen zu machen.
Wenn ich mir anschaue, welche vermeintlichen Grundprinzipien Sie in Koalitionen aufgeben, die Sie mit den Grünen eingegangen sind, komme ich zu dem Ergebnis: Wir hätten allen Grund, über Sie zu lachen, aber nicht Sie über uns. In Koalitionen kann man eben nicht alles durchsetzen.
Aber eines können wir heute klipp und klar feststellen: Wir legen mit diesem Rentenreformgesetz, das wir heute verabschieden, ein Gesetz vor, das die Zukunftsfähigkeit dieses Landes und Zukunftschancen für die junge Generation garantiert. Sie von der SPD sitzen in den Schützengräben des 19. Jahrhunderts.
Wir machen uns mit diesem Gesetz auf ins 21. Jahrhundert.
Vielen Dank.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Rudolf Dreßler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, in dieser Rede zur Einleitung zwei Zitate in Erinnerung zu rufen. Das erste Zitat lautet: Die Rentenformel wird von mir nicht verändert. Das zweite Zitat lautet: Eine Rentenreform ohne Umfinanzierung wird von mir nicht vorgelegt.
Das erste Zitat stammt aus dem Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages vom 2. Februar 1996, das
zweite Zitat aus einem Interview mit dem „Spiegel" vom 27. Januar 1997. Autor: Sozialminister Blüm.
Heute nun soll der Bundestag auf Vorschlag von Sozialminister Blüm beschließen, daß die Rentenformel zum Nachteil der Rentner und Beitragszahler verändert wird. Es soll eine Rentenreform beschlossen werden, die keine Umfinanzierung mehr enthält.
Ich frage heute den noch immer zuständigen Sozialminister: Herr Blüm, wenn das stimmt, was Sie gesagt haben, wenn Sie das also nicht vorgelegt haben, wie Sie behaupten, wer war es dann? War es der neue rentenpolitische Koordinator der Bundesregierung, Minister Bohl? War es der Kollege Dr. Schäuble? War es doch der F.D.P.-Vorsitzende Gerhardt? Die Antwort kennen wir alle: Sozialminister Blüm ist der für diese Rentengesetzgebung federführende und verantwortliche Minister.
Ob er das, wie er manchmal den Eindruck erweckt, nur mit halbem Herzen, aus Koalitionsräson, auf Druck oder aber aus voller Überzeugung tut, ist nebensächlich; dieses Gesetz trägt seine Unterschrift.
Die eingangs vorgetragenen Zitate und das heute zu verabschiedende Gesetz stehen in einem eklatanten Widerspruch. Dies zeigt: Wer sich auf das Wort des Bundesministers der CDU/CSU, Blüm, verläßt, hat auf Sand gebaut. Dieser Minister hält sein Wort nicht.
Und noch eines zeigt sich: Für diese Regierung und die sie tragenden Parteien zählen keine Versprechen eines Ministers, zählen keine Prinzipien, für sie zählt nur noch eines, die Sicherung der Macht um jeden Preis; ich wiederhole: um wirklich jeden Preis.
Vor einem richtigen Rezept, meine Damen und Herren, steht bekanntlich eine richtige Diagnose. Als der Bundestag am Mittag des 9. November 1989 gemeinsam die Rentenreform für 1992 verabschiedete, waren zwei Dinge nicht absehbar: erstens die an Ignoranz grenzende Wirtschaftspolitik dieser Regierung mit fast fünf Millionen Arbeitslosen als unmittelbare Folge und zweitens die finanziellen Folgen der deutschen Einheit.
Daraus erwachsen drei Probleme:
Erstens. Die hohe Arbeitslosigkeit und die zu ihrer Eindämmung durchgeführten Vorruhestandsaktionen belasten die Rentenversicherung in der Höhe von mindestens zwei Beitragspunkten.
Zweitens. Das regionale Defizit der Rentenversicherung in den neuen Ländern, bedingt durch den ökonomischen Zusammenbruch 1990, macht mehr als ein Prozent des Beitragssatzes aus.
Rudolf Dreßler
Drittens. Die Ausgaben für die versicherungsexternen beitragsungedeckten Leistungen wie Fremdrenten, Vertrauensschutz für altes DDR-Rentenrecht, Entschädigung für SED-Unrecht machen noch einmal etwa einen Prozentpunkt des Beitragssatzes aus und sind durch den Bundeszuschuß, also die Steuer, nicht gedeckt.
Keinen dieser Leistungsbereiche will ich hier in Frage stellen. Aber eines ist doch wohl klar: Wenn nur einer der genannten Bereiche vernünftig finanziert wäre, nur einer, nicht einmal alle drei, dann wäre die gesetzliche Rentenversicherung, dann wäre der Generationenvertrag außerhalb jeder Diskussion, meine Damen und Herren.
Statt dessen will Herr Blüm auf Anraten vor allem seiner liberalen Busenfreunde das Rentenniveau senken. Denen aber ist nach eigener Aussage das Mittel dazu völlig gleich, wenn nur das Niveau gesenkt, also gekürzt wird. In seiner Not greift Herr Blüm zu einer Dauertherapie mit der Aufschrift „demographischer Faktor" , und das ist das eigentlich Verheerende.
Der demographische Faktor, meine Damen und Herren, ist aus meiner Sicht politischer Unsinn.
Ist Ihnen von der Koalition eigentlich schon auf gefallen, daß die Lebenserwartung der Frauen durchschnittlich um fast sieben Jahre höher liegt als die der Männer? Wenn man also Ihren sogenannten demographischen Faktor wirklich ernst nähme, dann müßte Frau X weniger Rente erhalten als Herr Y mit gleicher Erwerbsbiographie und Beitragsleistung. Die im Durchschnitt mickrigen Frauenrenten würden noch mickriger. Ich frage: Soll das etwa der nächste Schritt beim demographischen Faktor werden?
Sie müßten doch eigentlich mittlerweile einsehen, zu welch blühendem Unsinn Ihre Argumentation führt. Die gesetzliche Rentenversicherung ist kein Unternehmen, das wie eine Lebensversicherung funktioniert. Dort sind solche Elemente üblich, sie sind systemimmanent.
Für eine Sozialversicherung - die Betonung liegt dabei auf „sozial" - sind sie gleichwohl tödlich. Die steigende Lebenserwartung soll zu realen Rentenkürzungen führen, bis dann bereits 2010 das Niveau auf 65 Prozent heruntergeschraubt ist. Wenn das Niveau aber bei 64 Prozent stehe, so Herr Blüm, dann solle wirklich Schluß sein; tiefer dürfe es nicht gehen mit dem Rentenniveau. Mit Verlaub: Wer soll Ihnen das eigentlich noch glauben? Nach alledem, was diese Koalition an rentenpolitischer Prinzipienlosigkeit und Wortbrüchen bisher geboten hat, kann man Ihnen nicht mehr glauben, Herr Blüm!
Jetzt reden Sie den Leuten ein, die Lasten der längeren Lebenserwartung müßten zwischen den Generationen verteilt werden, obwohl genau das bereits durch die bewährte Nettorentenanpassungsformel der Reform von 1992 geschieht. Alle Lasten, meine
Damen und Herren - Demographie, Arbeitslosigkeit -, werden also schon ausgewogen auf die Rentner und die Beitragszahler sowie den Bund verteilt.
In Wahrheit geht es der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. auch gar nicht um den demographischen Faktor. Der muß nur als pseudowissenschaftliches Alibi herhalten, um zu verdecken, worum es eigentlich geht. Diese Bundesregierung will den Leuten an die Rente! Das ist alles, meine Damen und Herren. Darum geht es!
- Nun regen Sie sich ab, Herr Kauder. Sie reden doch ganz offen und ständig über die vermeintliche Üppigkeit unserer Sozialsysteme. Da haben Sie sich doch Goldmedaillen verdient. Die Konsequenz aus diesem Gerede ist eindeutig: Sie wollen kürzen! Warum verstecken Sie sich auf einmal hinter einer sogenannten demographischen Komponente?
Wenn der demographische Faktor nach diesem Prinzip einmal eingeführt ist, warum soll dann die Absenkung bei 64 Prozent gestoppt werden, obwohl die Leute im nächsten Jahrzehnt wahrscheinlich noch länger leben werden?
Sie betreiben eine Politik nach der Formel: 15 Jahre Rente reichen.
Wenn die Menschen dennoch länger leben, dann muß der Gesamtbetrag gestreckt werden. Das ist die fatale Logik dieser Formel, meine Damen und Herren.
Damit wird der Sozialminister als derjenige in die Geschichte eingehen, der 40 Jahre nach der großen Rentenreform des Jahres 1957 der dynamischen Rente den Todesstoß versetzt hat. Mit dem demographischen Faktor, der ehrlicher Nullrundenfaktor heißen sollte, verabschiedet sich die Rentenversicherung vom Ziel der Lebensstandardsicherung aus dem Jahre 1957, das wir gemeinsam mit der Reform 1992 bekräftigt hatten. Gemeinsam hatten wir ein Rentenniveau von 70 Prozent bei langjähriger Beitragszahlung als dauerhaft tragfähig ermittelt. Und vor allen Dingen: Wir hatten es versprochen.
Ihr heute zu beschließendes Gesetz rückt davon ab, obwohl die eigentlichen Ursachen der Finanzprobleme bekannt sind und durch dieses Gesetz vom Grundsatz her nicht ausgeräumt werden. Sie wollen sie nicht angehen. Lieber nehmen Sie einen dauerhaften Vertrauensschaden in Kauf.
Rudolf Dreßler
Unser entschiedener Widerstand gegen die Niveauabsenkung liegt nicht nur im Interesse der heutigen Rentner, die bereits bis 2010 den größten Teil der realen Rentenkürzung selbst erleben werden. Unser Widerstand liegt auch im Interesse der jungen Generation, die die Folgen zu tragen hat. Welche das sind, haben die Busenfreunde von der F.D.P. dem Sozialminister ja vorgerechnet.
Der Präsident des Arbeitgeberverbandes der Versicherungsunternehmen, Hans Schreiber, hat am Montag dieser Woche vor Frankfurter Wirtschaftsjournalisten vorgerechnet, daß der Eckrentner 1975 noch 2,06 DM für jede Beitragsmark erhalten habe. Der Rentner des Jahres 2014 werde von jeder eingezahlten Beitragsmark nur noch 98 Pfennig wieder herausbekommen. Sie sehen die Folgen des Gesetzes der CDU/CSU und F.D.P., die Folgen der Rentenpolitik des Sozialministers für die jungen Menschen, für die er vorgibt, diesen Unsinn hier beschließen zu lassen.
Als Quelle - damit Sie als Zwischenrufer bestens im Bilde sind - gibt Herr Schreiber den CDU-Spitzenpolitiker Ministerpräsident Kurt Biedenkopf an. Na, da bin ich wirklich erstaunt, wie Sie das jetzt definieren.
Angesichts dieser Zahlen, meine Damen und Herren, ist es doch kein Wunder, wenn die junge Generation das Vertrauen in die Sicherheit der Renten verliert. Sie werden mit die Hauptleidtragenden sein; denn sie werden die relativ höchsten Beiträge zahlen, um später relativ schlechte Leistungen zu erhalten.
Deshalb entspricht es den Interessen von alten wie jungen Menschen, wenn sie die Möglichkeit haben, über dieses Gesetz am 27. September 1998 anläßlich der Bundestagswahl zu entscheiden. Ich sage Ihnen voraus: Erhält die SPD einen Regierungsauftrag, wird dieses Gesetz nicht in Kraft treten. Wir werden es abschaffen, meine Damen und Herren.
Eine SPD-geführte Bundesregierung wird erhebliche Aufräumungsarbeiten zu leisten haben; denn die noch amtierende Koalition verhält sich so, wie das bei windigen Geschäftsleuten kurz vor dem Konkurs üblich ist. Dieses gilt auch für die Rentenfinanzen. Nachdem CDU/CSU und F.D.P. aus reiner Machtpolitik die von der Opposition im Vermittlungsausschuß durchgesetzte Senkung der Beitragssätze zur Rentenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung im Bundestag niedergestimmt haben, droht ihnen der Rentenbeitragssatz für 1998 - höflich formuliert - zu entgleiten; die Ursachen - zuvörderst die Beschäftigungskrise - habe ich bereits angesprochen.
Nach seriöser Rechnung müßte der Beitragssatz mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar auf 21 Prozent steigen, meine Damen und Herren. Der sogenannte Schätzerkreis - das ist ein Expertengremium der Rentenversicherungsträger, das unter anderem die notwendigen Beitragssätze vorausberechnet - sollte in dieser Woche über den Beitragssatz des Jahres
1998 entscheiden und beraten. Der Sozialminister Blüm hat die Sitzung abgesagt, ohne Grund, obwohl er nach dem Gesetz den neuen Beitragssatz eigentlich schon vor zehn Tagen hätte vorlegen müssen.
Herr Blüm, ich frage Sie, warum haben Sie das getan? Nach den Erfahrungen der Jahre 1995 und 1996 liegt die Vermutung nahe, daß Sie erneut einen politischen Beitragssatz planen, der der tatsächlichen Entwicklung nicht entspricht. Wenn die Rentenversicherung dann im Spätherbst 1998 erneut finanziell über Grund schleift, ist die Bundestagswahl gelaufen. Die Folgen dieser politischen Konkursverschleppung sollen offenbar der Nachfolgeregierung in die Schuhe geschoben werden.
Nachdem Sie unseren Vorschlag zur Umfinanzierung ab 1998 abgelehnt haben, einen Vorschlag, der weitgehend die Auffassungen von Herrn Blüm und Herrn Schäuble beinhaltete, wollen Sie nun unsere Zustimmung für eine Mehrwertsteuererhöhung zur Finanzierung Ihres untauglichen Rentenkonzeptes ab 1999. Herr Blüm, dieses Geld wird Ihnen die sozialdemokratische Bundestagsfraktion nicht beschaffen.
- Mein verehrter Kollege Louven, weder Sie noch ich haben für den Bundesrat zu sprechen. Ich wage aber die Prognose, ohne den Bundesrat für mich in Anspruch zu nehmen: Dieser wird es Ihnen auch nicht beschaffen. - Nur damit das klar ist.
Dies ist übrigens auch nicht erforderlich, meine Damen und Herren. Wir brauchen das Geld gar nicht zu beschaffen; denn eine SPD-geführte Regierung wird dieses Rentengesetz aufheben und auf der Basis unseres heutigen Antrages ein neues Verfahren einleiten, welches dann die Beitragssatzsenkungspolitik durch Herausnahme von versicherungsfremden Leistungen zur ersten politischen Priorität erklärt, um das System wieder stabil zu machen und Vertrauen in seine Verläßlichkeit zu erzeugen, wozu Sie heute nicht in der Lage sind.
Unser von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin durchgerechnetes Gesamtkonzept, das dem Hause vorliegt, kostet den Bund 20 Milliarden DM, 5 Milliarden DM mehr als das Blüm-Konzept. Dafür senkt die Sozialdemokratie die Lohnnebenkosten um fast 3 Prozentpunkte.
Das ist eine Entlastung, die bei den Unternehmen und den Beschäftigten ankommt. Wir verzichten auf eine Niveauabsenkung und die faktische Privatisierung des Invaliditätsrisikos. Wir reparieren den Vertrauensschaden des Kürzungspaketes von 1996 durch Wiederherstellung des Zustands nach der Rentenreform 1992. Und wir finanzieren die Verbesserung der Anerkennung von Kindererziehungszeiten,
Rudolf Dreßler
die in diesem Gesetzentwurf der Koalition mit keiner zusätzlichen Mark finanziert ist.
Wieder einmal steht in diesem Gesetz klammheimlich die Übertragung staatlicher Hoheitsaufgaben, die eigentlich nicht mehr vorkommen sollen, auf den Beitragszahler. Dies wird für die zukünftige Generation wieder höhere Beitragssätze erzeugen und die Lohnnebenkosten erhöhen. Ich habe schon einmal gesagt: Diejenigen, die seit 1991 die Lohnnebenkosten erhöht haben, waren nicht die Tarifvertragsparteien, sondern die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien, meine Damen und Herren. Heute wird genauso weitergemacht.
Zu unseren Aufräumarbeiten nach der Wahl wird auch das schlimmste Kapitel dieser sogenannten Reform 1999 gehören: die geplante Amputation der Invalidenversicherung, der Leistungen an Menschen, die der harte Arbeitsprozeß bereits vorzeitig verschlissen hat, an Erwerbsgeminderte und Schwerbehinderte. An dieser Stelle das Wort „Einschnitt" zu benutzen verbietet sich angesichts des Ausmaßes Ihrer Rentenkürzungen in diesem Bereich.
Meine Damen und Herren, aus meiner Sicht ist es eine Amputation, wenn CDU/CSU und F.D.P. die gesamten Ausgaben für diese Renten um 40 Prozent kürzen wollen. Die gute alte Rentenversicherung ist vor über 100 Jahren als Invalidenversicherung gestartet. Diese Wurzeln wollen CDU/CSU und F.D.P. als Regierung jetzt unwiderruflich kappen.
Sie wollen die Berufsunfähigkeitsrente ohne Übergangsfrist ganz abschaffen. Sie wollen die Erwerbsunfähigkeitsrente für viele ganz streichen. Wer trotz dieser Streichaktion noch immer eine Invalidenrente erhalten sollte, wird zur Strafe mit Kürzungen zwischen 7 und 55 Prozent belegt. Und hier wird von Sozialverträglichkeit geredet! Ihnen sind doch die gesellschaftspolitisch realen Proportionen während Ihrer Regierungszeit abhanden gekommen!
Zusätzlich führen Sie für die Mehrzahl der Erwerbsunfähigkeitsrenten sechs Karenzmonate ein. Das heißt: In den ersten sechs Monaten wird diesen Menschen überhaupt keine Rente mehr gezahlt.
Sie kürzen die Altersrenten für Schwerbehinderte ab 60 Jahren um fast 11 Prozent. Das ist faktisch nicht nur eine Privatisierung, sondern auch eine Kommunalisierung des Invaliditätsrisikos. Zu all dem muß die Rentenkürzung durch die Niveauabsenkung addiert werden. Selbst im günstigen Fall einer sogenannten vollen Erwerbsminderungsrente ergibt sich dadurch gegenüber heute ein Kaufkraftverlust von etwa 20 Prozent.
Wer 1996 in der Arbeiterrentenversicherung erstmals eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezog, der erhielt im Durchschnitt nach Zahlen des Verbandes der Rentenversicherungsträger bei den Männern 1 497 DM und bei den Frauen 1 005 DM im Monat. Davon wollen Sie - wohlgemerkt: im künftig bestmöglichen Fall einer sogenannten vollen Erwerbsminderungsrente - 20 Prozent wegnehmen. Damit läge der Durchschnitt in jedem Fall unterhalb der Sozialhilfeschwelle. Dabei sind die Rentenkürzungen durch das Sparpaket 1996 noch gar nicht berücksichtigt, weil sie sich erst ab diesem Jahr auswirken.
Herr Blüm, ich fordere Sie auf - Sie reden ja noch nach mir -: Erklären Sie heute von diesem Pult aus vor der deutschen Öffentlichkeit, wieso die von mir aufgezeigten Tatbestände keine Kürzungen sein sollen. Das, was Sie, Herr Blüm, hier vornehmen, ist sogar eine brutale Kürzung. Das hat mit einer einfachen Kürzung schon gar nichts mehr zu tun.
Die verehrten Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen haben ja bereits heute Schwierigkeiten, den über 150 000 Frauen, die dieses Jahr mit 65 eine kleine Rente beziehen, zu erklären, warum diese Rente, die gekürzt wurde, in Wahrheit gar nicht gekürzt worden ist, wie Herr Blüm sagt. Dabei kann niemand von Ihnen sagen, er oder sie sei nicht dabeigewesen. Am 13. September 1996 haben Sie alle - einstimmig, ohne Ausnahme - diesen Kürzungen zugestimmt.
Stellvertretend für Tausende von Frauen, die sich an den Petitionsausschuß, an Abgeordnetenbüros und Rentenversicherungsträger gewandt haben, will ich hier den Fall der Frau Hildegard Weber nennen. Allen Kolleginnen und Kollegen aus dem Sozialausschuß liegt dieser Fall vor. Frau Weber hat am 2. Juli 1996 von der Landesversicherungsanstalt Hannover eine Rentenauskunft erhalten: Ab März 1997 werde ihr eine Rente von 367 DM ausgezahlt, stand da zu lesen.
Im November 1996, also vier Monate später, erhielt sie ihren Rentenbescheid: Ab März 1997 werden ihr nur noch 300 DM ausgezahlt, das sind 20 Prozent weniger Rente als noch kurz zuvor versprochen. Inzwischen hatte nämlich das sogenannte Sparpaket den Bundestag passiert, das diese Kürzungen bei der Berufsausbildungszeit, von der bisher vier Jahre angerechnet wurden, enthält. Nicht einmal eine kleine Übergangsfrist, einen ganz kleinen Vertrauensschutz haben Sie den Frauen eingeräumt.
Verehrte Frau Kollegin Dr. Böhmer, verehrte Frau Dr. Babel, ich habe kürzlich gelesen, daß Sie als Gesprächsteilnehmerinnen einer Frauenrunde erläutert haben, wieviel Sie für die Frauen erreicht haben wollen.
Bitte erklären Sie doch der deutschen Öffentlichkeit, ob Sie damit die hier in Rede stehenden Rentenkürzungen meinen. Wenn Sie statt dessen die im Koalitionsentwurf wie auch im SPD-Antrag vorgesehene stärkere Bewertung der Kindererziehungszeiten meinen sollten, dann werden Sie sicherlich nicht ver-
Rudolf Dreßler
gessen haben, zu erläutern, daß Sie das Verfassungsgericht durch zwei Urteile dazu gezwungen hat. So sieht es nämlich in Wahrheit mit der Rentenpolitik für Frauen in dieser Koalition aus: Nicht diese Koalition wurde initiativ; nein, das Verfassungsgericht hat Sie zwingen müssen, diesen Schritt zu gehen. Und zu allem Überfluß ist keine müde Mark für die Finanzierung dieses Vorhabens vorgesehen.
Das ist nicht nur nicht seriös; das ist ein Offenbarungseid.
Schlußbemerkung: Nach unserer festen Überzeugung gibt es für die Zeit, in der wirklich die Demographieprobleme neu auf uns zukommen, ab 2015, für die Rentenversicherungspolitik genug Optionen. Wir haben allein in unserem Antrag vier davon genannt; es gibt sicherlich - abhängig vom politischen Standpunkt desjenigen, der sie nennt - noch mehr. Daß die Politik gegenüber den Entwicklungen beim Altersaufbau der Bevölkerung hilflos sei, ist eine Erfindung. Die Politik ist dieser Entwicklung nicht hilflos ausgeliefert. Es gibt genügend Möglichkeiten, die Belastungen über Generationen hinweg gerecht auszubalancieren.
Aber mit der geplanten Roßkur für die Rentenversicherung nach der Therapie von CDU/CSU und F.D.P. wird das nicht gelingen. Die Folgen dieses Gesetzentwurfs sind klar: Operation gelungen, Rentenversicherung auf der Intensivstation. Wer bei Herrn Blüm, bei der CDU/CSU und der F.D.P. mitmacht, wird über kurz oder lang bei Herrn Biedenkopf und der Abschaffung des Systems landen. Dafür steht die Sozialdemokratische Partei nicht zur Verfügung.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer, Bündnis 90/ Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ja nichts Neues, daß die Bundesregierung nichts Richtiges mehr zustande bringt. Aber das, was Sie uns heute hier vorlegen, ist schon eine Kapitulationserklärung.
Zuerst mußten Sie in die Reformbereitschaft geprügelt werden. Nur massiver öffentlicher Druck hat dazu geführt, daß Sie, wenn auch lustlos und ohne
große Motivation, dem Gedanken an eine Rentenreform nahegetreten sind.
Dann haben Sie eine illustre Kommission einberufen, deren Arbeitsergebnisse sich in dem späteren Gesetzentwurf allerdings nur noch in Spurenelementen wiederfanden. Gleichzeitig waren Sie damit beschäftigt, die Widersprüche zwischen den Koalitionspartnern zu befrieden und den Kritikern in den eigenen Reihen ordentlich eins auf die Mütze zu geben.
Überdies haben Sie dann natürlich auch versäumt, die wichtigste Voraussetzung für das zu schaffen, was Sie hier immer fordern und sich wünschen, nämlich eine Rentenreform im Konsens. Dafür müßte man zunächst einmal das Gespräch mit der Opposition suchen. Da Sie das nicht getan haben, dürfen Sie sich heute auch nicht beklagen, daß wir uns nicht in Mithaftung für Ihren Kretin von einer Rentenreform nehmen lassen.
Über all diesem internen Geklüngel ist Ihnen diese Rentenreform vollkommen zerbröselt. Aber das kennen wir von Ihnen. Am Anfang steht bei Ihnen nicht eine politische Idee, eine Vision von der Gestaltung unserer Zukunft. Sie suchen nur noch nach Schadensbegrenzung und machen damit den Schaden immer noch größer.
Das Heil der Rentenversicherung liegt nicht in einer phantasielosen Kürzung der Leistungen. Das Heil der Rentenversicherung liegt ebenfalls nicht in einer Verteidigung der alten Strukturen. Im Gegenteil: Die wirkliche Gefahr droht der Rentenversicherung von ihren vermeintlich besten Freunden.
Herr Minister Blüm, daß unsere Rentenversicherung gut ist, weil sie alt ist, ist eine falsche Diagnose. Das Problem der Rentenversicherung besteht genau darin, daß sie alt, steinalt ist. Die Leitbilder der Bismarck-Ära sind doch längst Geschichte.
Sie sind in der modernen Gesellschaft noch nicht angekommen. Deswegen haben Sie auch keine mutigen Ideen für eine Alterssicherung, die auf die neuen Lebensmuster paßt. Deshalb machen Sie keine Strukturreform, sondern verfallen einfach nur auf das miefigste Ihrer Politikrezepte: eine flächendeckende Kürzung.
Wir bestreiten gar nicht, Herr Kollege Kauder, daß bei einem veränderten Altersaufbau der Gesellschaft eine Begrenzung der Ausgaben für die Altersrenten eine zentrale Zukunftsaufgabe für uns ist.
Andrea Fischer
Dazu gehört aber eine neue Bestimmung der Qualität der Leistungen. Was nützt mir der niedrigste Beitragssatz, wenn ich dafür keine ausreichende Alterssicherung bekomme?
Ein Rentenversicherungssystem ist nicht nur ein technisches Gebilde mit Beitragssätzen, Anwartschaften, Entgeltpunkten usw. Eine gute Rentenversicherung muß die tatsächlichen Lebensverhältnisse widerspiegeln, ihnen gerecht werden. Wenn ich mir Ihre Reformbemühungen anschaue, dann sehe ich ein Weltbild aus fernen Zeiten, das mit der Lebenslage der jungen Leute von heute nichts zu tun hat.
Schauen Sie sich bei den jungen Leuten doch mal um: Sie fädeln sich mühsam und auf gewundenen Wegen in den Arbeitsmarkt ein. Auch diejenigen, die das Glück einer guten Berufsausbildung haben, müssen sich auf lebenslanges Lernen einstellen. Erst kürzlich haben die Arbeitgeber gesagt, daß sie die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter inzwischen für noch wichtiger halten als die Erstausbildung.
Außerdem sind die jungen Menschen mit einem Arbeitsmarkt konfrontiert, der nicht mehr lebenslange Sicherheit bei einem einzigen Arbeitgeber garantiert. Phasen der Arbeitslosigkeit werden vermutlich ebenfalls zu ihrem Leben gehören wie Zeiten mit Honorar- oder Werkverträgen oder anderen flexiblen Formen der Beschäftigung.
Die jahrzehntelange Hausfrauenehe ist kein Ideal von jungen Leuten mehr. Sie suchen vielmehr nach Formen, Kindererziehung und berufliche Tätigkeit miteinander zu verbinden.
All das findet in Ihrem Rentenkonzept aber nicht statt. Sie wollen, daß wir uns flexibel den Anforderungen der globalisierten Wirtschaft stellen, wollen unsere soziale Sicherung aber nach den Regeln des letzten Jahrhunderts organisieren.
Da können Sie noch so gebetsmühlenartig wiederholen, Ihre Rentenreform mit Niveauabsenkung werde die Renten sichern - die jungen Leute werden Ihnen das nicht glauben, weil sie sich darin nicht wiederfinden.
Deswegen ist es auch nicht vertrauensbildend, Kollege Kauder.
Außerdem, finde ich, haben Sie offensichtlich kein Vertrauen in Ihre Reform. Warum kann sie nicht Anfang nächsten Jahres in Kraft treten,
und Sie treten damit vor die Wählerinnen und Wähler - auch mit den Konsequenzen? Sie trauen sich doch nichts.
Aufgabe einer wirklich gestaltenden Sozialpolitik wäre es, neue Bedürfnisse und neue Problemlagen zu erkennen und darauf mit neuen Konzepten zu reagieren. Die bloße Absenkung des Rentenniveaus, ohne gleichzeitig die Spielregeln für die Rentenberechnung zu ändern, wird viele Menschen in die Altersarmut treiben. In unserem Konzept hat die Rentenniveauabsenkung einen völlig anderen Stellenwert und ist in Strukturreformen eingebettet. Deshalb können wir Ihrer Reform nicht zustimmen. Sie enthält keine zukunftsfähigen Ideen für die Alterssicherung.
Daß Sie jetzt die Kindererziehungszeiten besser bewerten, wird uns nicht von unserer grundsätzlichen Kritik abbringen. Spät - allzu spät - erfüllen Sie die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zur Bewertung von Kindererziehung. Selbstverständlich sind auch wir dafür, aber erwarten Sie hier von uns kein Lob. Das war einfach schon zu lange fällig. Und: Das kann vor allem nicht alles gewesen sein. Fällt Ihnen eigentlich nach der jahrelangen Diskussion um die eigenständige Altersabsicherung von Frauen nichts anderes mehr ein? Was sagen Sie denn der jungen Frau, die nach dreijähriger Kindererziehungszeit Teilzeit arbeitet, um Beruf und Kinder unter einen Hut zu bekommen? Bei Norbert Blüm muß sie darauf hoffen, daß sie einen gutverdienenden Gatten findet.
Weil Sie keinen einzigen guten Vorschlag für eine verbesserte Absicherung unstetiger Erwerbsverläufe haben, können Sie sich natürlich auch nicht an die Reform der Hinterbliebenenversorgung herantrauen. Dies ist auch so ein alter Zopf aus der Bismarck-Zeit: Der Mann, der Ernährer hinterläßt seine Ehefrau, gut versorgt vom eigenen Einkommen. Die Welt hat sich aber längst verändert. Zu einer Modernisierung des Sozialstaates gehört es, daß die Ehe nicht mehr die unverzichtbare Sicherungsinstanz für die Frau ist.
Warum fällt es Ihnen eigentlich so schwer, von diesem Leitbild des Alleinernährers, einem Mann, der 45 Jahre lang vollzeiterwerbstätig ist, Abschied zu nehmen? Unsere Gesellschaft hat diesen Abschied längst eingereicht.
In diesem Fall müßten Sie noch nicht einmal die Kraft dafür haben, Vorreiter zu sein. Sie müßten nur eine längst vorhandene Entwicklung nachvollziehen.
Andrea Fischer
Es wird uns nicht weiterführen, wenn wir die Mängel bei der Versorgung von Frauen durch irgendwelche Sondermaßnahmen ausgleichen. Wenn so viele Menschen an einer Norm - in diesem Fall an der Rentenversicherung - scheitern, machen nicht die Menschen einen Fehler, sondern dann ist die Norm falsch.
Was ist denn mit den flexiblen Arbeitnehmern, die sich offen auf die Veränderungen der Arbeitswelt einlassen? - Kollege Schäuble fordert sie ja immer in seinen Blut- Schweiß-und-Tränenreden zu jedem neuen Sparpaket. - Wenn sich diese flexiblen Arbeitnehmer dann weiterbilden, wenn sie den Job wechseln, wenn ihr Unternehmen sie zur Effizienzsteigerung entläßt, wenn sie einen Teilzeit-Job annehmen, dann müssen sie mit dem Risiko einfach allein fertig werden.
Sie trauen sich nicht an die herrschende Leistungslogik in der Versicherung heran. Frau Babel hat sie vorhin sogar noch einmal ausdrücklich verteidigt: Wer viel zahlt, bekommt viel.
Wenn wir aber vor dem Problem stehen, daß die Rentenausgaben nicht ins Unermeßliche steigen dürfen, warum finanzieren wir dann nicht die Sicherheit der Schwachen durch die Solidarität der Starken?
Wir werden in Zukunft hohe Renten nicht mehr durch die Rentenversicherung finanzieren können, denn wir brauchen Verteilungsspielräume, um diejenigen mit unstetigen Erwerbsabläufen absichern zu können. Wir wissen, daß das mit dem herkömmlichen Leistungsbegriff der gesetzlichen Rentenversicherung bricht. Aber wer die Renten zukunftsfest machen will, braucht ein neues Leitbild für dieses System.
Sprechen wir über ein weiteres System von gestern: Die Veränderung der Arbeitswelt und auch die veränderten Gerechtigkeitsvorstellungen machen die alte Trennung in Sozialversicherte und Menschen in besseren Versorgungssystemen in meinen Augen hinfällig. Die ständische Organisierung der Alterssicherung wird am augenfälligsten an der Beamtenversorgung. Angesichts der Höhe der Beitragssätze ist es den Bürgerinnen und Bürgern immer schwerer zu vermitteln, daß sie mit ihren Steuergeldern quasi noch einen Rentenbeitrag zu einem System zahlen, von dem sie als Sozialversicherte nichts haben und trotzdem davon bedroht sind, daß in zwei Jahrzehnten ihre Steuern in den Bundesländern von den Pensionslasten aufgefressen werden.
Hier tickt eine Zeitbombe für die Legitimation der Rentenversicherung. Ihr Fonds reicht nicht aus, dieses Problem und vor allen Dingen die Wurzel allen Übels anzugehen: Warum haben wir überhaupt verschiedene Systeme?
Eine wachsende Anzahl von Arbeitsverhältnissen hat neue Formen, die dem alten Muster des tarifvertraglich dauerhaft abgesicherten Vollzeitarbeitsplatzes nicht mehr entsprechen. Deshalb besteht dringender Handlungsbedarf bei der Einbeziehung aller Menschen in die Rentenversicherung, unabhängig vom Charakter des Arbeitsplatzes. Manche werden in die neuen, flexiblen Arbeitsverhältnisse gezwungen. Für sie wäre es ein Schutz. Andere wollen sich über die Scheinselbständigkeit der Solidarität entziehen; die würden wir wieder in die Pflicht nehmen. Außerdem - das sei an dieser Stelle noch einmal gesagt - gehören wir Abgeordneten in die gesetzliche Rentenversicherung; denn was für alle gut ist, muß auch für uns gut sein.
Was - außer ideologischen Vorbehalten und Privilegienverteidigung - spricht eigentlich gegen eine allgemeine Bürgerversicherung?
Reden wir noch von zwei alten Traditionen im deutschen Rentensystem, der zweiten und dritten Säule der Altersversorgung. Inzwischen gucken alle ins Ausland und stellen fest: Dort hat man eine Grundversorgung bei der Rentenversicherung, dort hat man betriebliche Altersversorgung, und obendrauf hat man dann noch die private Altersvorsorge. Weil man das im Ausland mit schönen Worten wie zum Beispiel Cappuccino-Prinzip beschreibt, denken alle, das hätten wir bei uns nicht. Nun ist es zwar so, daß man zweifelsohne lieber über Cappuccino als über Säulen redet,
aber festzuhalten ist: Wir hatten immer schon betriebliche Altersversorgung und private Vorsorge. Daß das so in Vergessenheit geraten konnte, hat eine Menge mit der Politik der Bundesregierung in den letzten Jahren zu tun.
Wir haben es mit einem dramatischen Rückgang der betrieblichen Altersversorgung zu tun. In Ostdeutschland hat gerade jeder Zehnte Ansprüche an betriebliche Altersversorgungssysteme, im Westen nur die Hälfte aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Mittlerweile kommt es fast überhaupt nicht mehr zu Neuzusagen. Das erklärt sich auch aus einer Steuerpolitik, die in den letzten Jahren die Bedingungen für die betriebliche Altersversorgung ständig verschlechtert hat. Dazu kommt, daß es für Arbeitnehmer aus bekannten Gründen schwierig geworden ist, die lange Betriebszugehörigkeit zu erreichen, die die Voraussetzung für die Anwartschaft ist.
Andrea Fischer
Deswegen brauchen wir Verbesserungen im Steuerrecht, aber auch verbesserte Regelungen für die betriebliche Altersversorgung. Sie müssen gelockert werden, damit sie auf die neuen Arbeitsverhältnisse passen.
Das hatte Ihnen auch Ihre Rentenkommission ins Stammbuch geschrieben. Einige dieser Vorschläge hatten Sie im ursprünglichen Gesetzentwurf umgesetzt. Ich habe eingangs schon einmal von Kapitulation gesprochen. Der Kollege Kauder hat das eben eindrücklich getan. Er hat kapituliert und gesagt: Das haben wir dann doch nicht geschafft; denn die Arbeitgeber haben darauf hingewiesen, daß es entsprechende steuerliche Flankierungen für Verbesserungen bei der betrieblichen Altersversorgung braucht, und das würde natürlich Steuerausfälle bedeuten.
Der Clou bei der Geschichte ist allerdings: Bei den damit verbundenen Steuermindereinnahmen geht es nach Aussagen von Ihnen, Herr Kauder, um 200 Millionen DM. Ich sage das noch einmal ganz deutlich: 200 Millionen DM - nicht Milliarden.
Das ist in der Tat eine Bankrotterklärung: Eine Stärkung der betrieblichen Altersversorgung scheitert an der desaströsen Waigelschen Finanzpolitik.
Sie haben zum Sprung angesetzt und sind wieder einmal gestrauchelt. Nicht einmal dieses kleine bißchen kriegen Sie hin.
Sicher, wir haben einen Höchststand bei den privaten Lebensversicherungen. Deren Leistungen sind aber häufig nur gering, weil nur geringe Beiträge gezahlt werden können. Ob man Geld für private Vorsorge hat, hängt doch davon ab, was man überhaupt netto in der Tasche hat. Eine Steuerfreistellung aller Vorsorgeaufwendungen bis zur Beitragsbemessungsgrenze könnte auch der privaten Vorsorge Vorschub leisten. Gering- und Durchschnittsverdiener erhielten damit Freiräume zum Sparen und für die private Vorsorge. Wenn man das Steuerreformkonzept so gestaltet, dann kann man auch später die Erträge aus diesen Lebensversicherungen besteuern.
Wenn man es aber so macht wie Sie und ein vernünftiges Steuerkonzept nicht hinkriegt, dann schickt man den Leuten nur erneut die böse Botschaft: Wie ihr euch auch dreht und wendet, wir nehmen es euch immer wieder weg.
Ich fasse das traurige Ergebnis
zusammen.
Mit der Höherbewertung der Kindererziehungszeiten erfüllen Sie nur Ihre Pflicht. Bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten haben Sie die Folgen Ihrer Pläne - -
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, könnten Sie sich über die Qualität meiner Rede verständigen, wenn ich geendet habe?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie doch die Rednerin reden! Sie hören doch, sie ist erkältet und tut sich deshalb ein bißchen schwerer als sonst.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Also: Mit der Höherbewertung der Kindererziehungszeiten erfüllen Sie nichts anderes als Ihre Pflicht. Was die Erwerbsunfähigkeitsrenten angeht, sind Ihnen bei der Anhörung die Folgen Ihrer Kürzungspläne so heftig um die Ohren gehauen worden, daß Sie sie abmildern mußten; aber sie sind immer noch dramatisch für diejenigen, die davon betroffen sind.
Die guten Ideen bei den Betriebsrenten haben Sie aus Ihrem Konzept wieder herausgenommen. Als Herzstück Ihrer Reform bleibt die Rentenniveausenkung übrig, deren Folgen für die Versicherten in der von Ihnen vorgelegten Form unkalkulierbar sind. Für die Umfinanzierung haben Sie uns mit Ihrem Gesetzentwurf zur Mehrwertsteuererhöhung heute einen ungedeckten Scheck vorgelegt. Sie wissen, daß Sie als Regierung nicht mehr kreditwürdig sind.
Mit Ihrer Stümperei verspielen Sie die Zustimmung der jungen Leute zur Rentenversicherung, weil es kein überzeugendes Konzept ist, was Sie heute vorlegen. Sie verweigern Antworten auf die kritischen Fragen. Sie haben keine Ideen, keine gestalterische Kraft und trauen sich nicht an die alten Zöpfe in der Rentenversicherung heran.
Ich erteile jetzt dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das also war das Kontrastprogramm der Opposition.
Ich gestehe: Es gibt Differenzen. Frau Fischer hat immerhin das nettolohnbezogene Niveau der Rente nicht tabuisiert. Herr Dreßler hat unsere Vorschläge zur Katastrophe erklärt.
Herr Kollege Dreßler, wenn ich Sie wie heute morgen reden höre, dann denke ich immer, Robespierre steht vor dem Wohlfahrtsausschuß: alle zehn Sätze eine Verurteilung. Was da alles gefallen ist; es wimmelt nur so von Beleidigungen. Aber ich lasse mich da nicht irremachen.
Herr Kollege Dreßler, in einem Satz haben Sie beklagt, daß wir die Lohnzusatzkosten in die Höhe getrieben hätten. Ohne Punkt und Komma haben Sie dann im nächsten Satz gesagt, wir hätten zuviel gespart. Jetzt machen Sie mir einmal klar, welcher der beiden Sätze gilt. Entweder haben wir die Lohnzusatzkosten unverantwortlich in die Höhe getrieben, oder wir haben zuviel gespart. Was denn nun? Oder ist Ihr Geheimnis, mit weniger Geld mehr ausgeben? Das ist die sozialdemokratische Rechenkunst.
- Ich ziehe ganz ruhig meine Furche. Wir ackern, Sie reden. Das ist der Unterschied!
Ich will einmal die Philosophie unserer Reform klarmachen. Sie folgt einer uralten Einsicht - das können Sie als Zopf bezeichnen oder wie immer -, sie ist uralt und wird weiterbestehen: Die Jungen sorgen für die Alten. Das ist die Regel unserer Rentenversicherung. Sie galt schon im Familienverband, und sie gilt unabhängig davon, ob die Rente steuer-
oder beitragsfinanziert ist. Immer sorgen die Jungen für die Alten.
Die erste Maxime dieser Rentenreform heißt: die Generationensolidarität durch Generationengerechtigkeit stärken.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Gilt das für Ihre ganze Rede?
Das gilt für die ganze Rede. - Es geht darum, die Lasten zwischen Jung und Alt gerecht zu verteilen.
Die zweite Maxime ist: Die Quelle der sozialen Sicherheit ist die Arbeit. Auch das ist völlig unabhängig davon, wie die soziale Sicherheit organisiert ist. Wir kanalisieren nur den Fluß, die Quelle sind wir nicht. Die Quelle ist die Arbeit.
Richtig ist, daß wir den Teufelskreis durchbrechen müssen: Höhere Beiträge führen zu mehr Arbeitslosen, mehr Arbeitslose führen zu weniger Beitragszahlungen, weniger Beitragszahlungen führen zu höheren Beiträgssätzen, und höhere Beitragssätze führen zu mehr Arbeitslosen. - Das können Sie bis zum Zusammenbruch fortsetzen. Aber diesen Zusammenbruch gibt es mit uns nicht. Wir wollen den Teufelskreis im Interesse von Jung und Alt, von Rentnern und jungen Beitragszahlern durchbrechen.
Unsere Rentenpolitik bleibt deshalb in der Kontinuität des Systems. Ich verändere das Rentensystem nicht. Was werfen Sie mir also vor? Ich ergänze lediglich die Formel.
Wir machen also keine Rentenrevolution, sondern wir bleiben im System, auch im System der nettolohnbezogenen Rente. Noch einmal: Wir machen keine Rentenrevolution, wir machen eine Rentenreform. Es gilt der Satz - zum Mitschreiben -: Die Rente ist sicher.
- Sie können nur lachen. Aber wenn Sie die Hände in den Schoß legen und nichts machen, dann ist sie unsicher. Ich wiederhole: Die Rente ist sicher.
Aber sie fällt nicht vom Himmel. Sie ist kein Weihnachtsgeschenk. Sie wächst nicht wie das Gras. Sie ist weder ein Wunder noch ein Naturprodukt. Sie ist Handlungsauftrag. Wir handeln, Sie reden. Das ist der Unterschied.
Unsere Rentenpolitik ist auch kein kopfloses Agieren von der Hand in den Mund. Sie folgt der Grundabsicht, den Generationenzusammenhalt zu festigen. Dem dient die demographische Formel. Unsere Leitlinie ist, die Beitragsbezogenheit zu stärken. Deshalb erfolgt eine Neuordnung der Erwerbsunfähigkeitsrenten.
Wir stehen - ich gebe es zu - an einer Weggabelung: zum erstenmal eine Reform ohne Konsens. Ich bedaure das. Aber die Alternative wäre gewesen: weil kein Konsens, also nichts tun; weil die SPD zu feige ist, also nichts tun. Das kann nicht die Alterna-
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
five sein! Konsens kann nicht unter der Bedingung des Stillstandes verwirklicht werden; sonst gäbe es eine Nullpolitik.
Es gab unsererseits - das will ich einmal festhalten - für den Konsens nur eine Bedingung: daß wir nicht nur umfinanzieren und daß wir eine Antwort auf die demographische Veränderung finden. Das war die einzige Bedingung. Wenn Sie eine andere Antwort gehabt hätten - Sie haben sich auch heute wiederum verweigert -, wären wir nicht nur gesprächsbereit gewesen. Wenn sie besser gewesen wäre, hätte sie dem Konsens gedient.
Eine SPD-Reform - Sie haben es heute wieder erlebt - heißt immer nur Draufsatteln. Alles, was Sie heute gehört haben, lief darauf hinaus, immer nur draufzusatteln.
Ich habe von Ihrem neuen Hoffnungsträger, Schröder, am 30. September auf dem Seniorenkongreß gehört: Wir müssen klar sagen, daß wir im Sozialsystem nicht mehr draufsatteln können. - Es wäre mir lieber, er würde es nicht klar sagen, sondern Sie würden es hier klar machen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist doch die größte Sattelwerkstatt in dieser Republik.
Sättel en gros! Rittmeister Dreßler hat mehr Sättel als Pferde. Seine ganze Rede hier war eine Sattelrede; sonst nichts.
Sie wollen den Bundeszuschuß erhöhen; richtig. Das wollen auch wir. Aber auf der anderen Seite wollen Sie bereits getroffene Einschränkungen zurücknehmen. Sie geben mit der einen Hand mehr Bundeszuschuß, laden aber der Rentenversicherung mit der anderen Hand viel mehr auf, nehmen sogar Einschränkungen zurück. Wenn ich richtig rechne, macht das, was Sie mit der linken Hand an Bundeszuschuß geben, weniger aus als das, was Sie der Rentenversicherung an Mehrbelastung durch Zurücknahme von Einschränkungen aufhalsen. Wenn Sie wollen, rechne ich es Ihnen vor. Das können wir noch machen.
- Ich kann Ihnen den Zettel ganz vorlesen: Fremdrenten: 10 Milliarden DM; Auffüllbeträge: 3 Milliarden DM.
Sie werden im besten Falle 18 Milliarden DM, einen Beitragssatzpunkt für die Rentenversicherung, flottmachen. Aber allein die Rücknahme der Verschiebung der Anhebung der Altersgrenzen für Frauen und die Verlängerung der Ausbildungszeiten machen im Jahre 2010 so viel aus wie ein Beitragspunkt bei der Rentenversicherung. - Wollen Sie weitere Rechnungen vorgelegt haben? Ich denke, es langt
für den Beweis: Sie geben weniger, als Sie der Rentenversicherung an neuen Lasten aufhalsen.
- Das langt jetzt.
Ich habe mir nicht vorgenommen, in meiner Rede alle Fehler des Herrn Dreßler vorzutragen. In meiner Rede möchte ich den Leuten klarmachen, was der Sinn unserer Rentenreform ist. Also, Dreßler ist wichtig, die SPD auch. Aber noch wichtiger ist es, den Sinn unserer Reform klarzumachen.
Die Demographie besteht aus drei Dimensionen: Geburten, Lebenserwartung und Wanderungsbewegung. Bei der Geburtenfrage ist eine Antwort die Anrechnung von Kindererziehungszeiten. Wir haben das Schema durchbrochen, Kindererziehung in der Rentenversicherung nicht zu berücksichtigen. Wir wollen in der nächsten Legislaturperiode die familienpolitischen Leistungen gerade im Hinblick darauf neu ordnen.
Die Verlängerung der Lebenserwartung geschieht jetzt. Herr Kollege Dreßler, wenn ich Ihre Papiere richtig verstanden habe, haben Sie gesagt, auf demographische Veränderungen antwortet die SPD nach 2015. In welchem Land leben Sie denn? Soll die Lebenserwartung erst ab dem 1. Januar 2016 steigen? Vielleicht können Sie das so beschließen. Aber leider richtet sich das Leben nicht nach der Beschlußlage der SPD.
Wenn die Papiere des SPD-Präsidiums ein Zahlungsmittel wären,
dann könnte man es machen. Aber noch sind Ihre Papiere kein Zahlungsmittel. Deshalb kommt ein Reagieren auf demographische Veränderungen erst im Jahre 2015 zu spät. Jetzt verlängert sich die Lebenserwartung: in zehn Jahren um 1,5 Jahre.
Der Kollege Vogt hat darauf hingewiesen, daß eine um ein Jahr längere Rentenlaufzeit allein 27 Milliarden DM kostet. Gäbe es noch die Rentenlaufzeiten von 1960, läge der Beitragssatz zwischen 12 und 13 Prozent, und niemand würde über die Rentenversicherung reden.
Gemessen an den geleisteten Beiträgen bekommt der Rentner des Jahres 1997 ein wesentlich größeres Rentenvolumen als der Rentner des Jahres 1980, denn er bezieht zwei Jahre länger Rente als der Rentner im Jahre 1980. Die heutigen Rentner haben als Beitragszahler im Jahre 1980 für die damaligen Rentner eine - verglichen mit heute - um zwei Jahre kürzere Rentenlaufzeit finanzieren müssen. Das widerstreitet dem in der Rentenversicherung hoch angese-
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
heuen Satz der Beitragsäquivalenz: für gleiche Entgeltpunkte auch gleiche Beitragsleistungen. Selbst wenn die Kassen prall gefüllt wären, wäre eine demographische Formel bei Verlängerung der Lebenserwartung aus Gründen der Generationengerechtigkeit notwendig - nicht nur, um Geld zu beschaffen.
Die finanziellen Folgen der Verlängerung der Lebenserwartung können nicht allein von den Jungen getragen werden, sondern müssen von den Alten, die ja Gott sei Dank und erfreulicherweise diese längere Lebenserwartung genießen, mitgetragen werden. Deshalb wäre eine Anhebung der Altersgrenze zwar eine Antwort auf die demographischen Veränderungen, aber eine völlig asymmetrische; denn eine Anhebung der Altersgrenze betrifft nur die neu hinzukommenden Rentner. Ein 70jähriger wird durch Anhebung der Altersgrenze auf 65 Jahre nicht betroffen. Wer wirklich Lasten auf Jung und Alt verteilen will, der kommt an einer - das können Sie nennen, wie Sie wollen - die demographischen Sachverhalte berücksichtigenden Formel nicht vorbei. Sie ist kein Willkürakt, sondern sorgt als Regelkreis für gerechte Lastenverteilung.
Das Rentenvolumen ergibt sich aus Höhe mal Dauer. Wenn die Dauer wächst, wird das Rentenvolumen größer. Wenn man 10 000 DM auf zehn Jahre verteilen muß, ergibt das einen anderen jährlichen Betrag, als wenn man diesen Betrag auf zwölf Jahre verteilen muß. Das Volumen wird überhaupt nicht gekürzt; es wird nur auf mehr Jahre verteilt. Dadurch kommt es nicht zu einer Rentenkürzung. Eine Nullformelregelung ist das nur,
wenn Sie davon ausgehen, daß die Nettolöhne Jahr für Jahr nur um 0,4 Prozent steigen; denn so hoch ist ungefähr der demographische Abschlag. Wenn Sie an die Regierung kämen und die Steuern und Beiträge weiter stiegen, dann könnte es sein, daß es nur 0,4 Prozent sein werden.
Daran sehen Sie doch, daß eine Nettoformel mit einem demographischen Faktor nicht nur im Interesse der Jungen liegt, sondern auch im Interesse der Alten. Wenn die Beiträge steigen, sinkt die Rentenanpassung. Also liegt eine die demographische Entwicklung berücksichtigende Formel auch im Interesse der Alten. Denn wenn die Beiträge davonlaufen, sinkt die Anpassung. Das ist das Wesen der Nettoformel, die wir jetzt durch einen demographischen Faktor ergänzen.
Damals wie heute ging es darum, die Interessen von Jung und Alt aneinanderzukoppeln. Auch die Alten haben ein Interesse an gemäßigten Beiträgen, die eine um einen demographischen Faktor erweiterte Nettoformel sichert. Beide, nicht nur die Jungen, sondern auch die Alten, können kein Interesse an Beitragserhöhungen haben, weil sonst die Rentenanpassung sinkt. Von daher ist es ganz im Sinne der Rentenanpassung, daß die Nettoformel um einen demographischen Faktor, der die Veränderungen bei der Lebenserwartung präzise auffängt, ergänzt wird. Ich gebe zu, daß man ihn früher nicht gebraucht hat. Denn damals bewegte sich die Lebenserwartung auf stabilem Niveau. Wenn sie aber so steigt wie jetzt, muß man darauf antworten. Wenn das Tempo bei der Verlängerung der Lebenserwartung zurückgeht oder stagniert, wird auch die Entlastungswirkung der demographischen Formel wieder zurückgehen. Das ist ganz logisch, da ja auch die Belastung auf der anderen Seite geringer ist.
Sie sehen, daß es sich um einen Regelkreis ohne Willkür und ohne staatliche Intervention handelt. Es ist ein Regelkreis der gerechten Lastenverteilung zwischen Jung und Alt.
Mir kommt es darauf an, daß nicht Junge gegen Alte und Alte gegen Junge Stellung beziehen. Das wäre Gift für die Rentenversicherung.
Eine Rentenversicherung muß auf die Jungen wie auf die Alten Rücksicht nehmen.
Der jungen Generation - auch das will ich sagen - wünsche ich, daß sie nie mehr die Lasten tragen muß, die die jetzige Rentnergeneration tragen mußte.
Ich wünsche ihr, daß sie nie mehr ein Land von Schutt und Trümmern befreien muß. Ich wünsche ihr, daß sie sich nie mehr von Unterdrückung und Diktatur befreien muß; manche der Älteren mußten zwei Diktaturen - rot und braun - ertragen. Und ich wünsche ihr, daß sie ihrer nachfolgenden Generation den Sozial- und Rechtsstaat so geordnet übergibt wie die jetzige Rentnergeneration, die unseren Staat mit aufgebaut hat. Dafür gebührt ihr Anerkennung und Dank, den ich auch aus Anlaß dieser Rentendebatte aussprechen will.
Umgekehrt können, so denke ich, auch die Großeltern kein Interesse daran haben, daß ihre Enkel unter den Lasten der Beiträge zusammenbrechen. Insofern ist das doch kein Klassenkampf! Da wird doch nicht zwischen Reich und Arm verteilt, sondern zwischen Jungen und Alten - bei beiden gibt es genauso Arme wie Reiche -, die sich diesen Generationenvertrag aufgebaut haben. Es geht doch um einen Generationenausgleich!
Die SPD denkt immer nur in Klassen, ständig in Verteilungskategorien.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Hier geht es um Gerechtigkeit im Sinne der Generationensolidarität. Sie machen keine Sachpolitik, Sie machen Rentnern Angst.
Herr Dreßler hat es gerade wieder versucht. Dabei handelt es sich um einen ganz normalen Vorgang: Der Beitragssatz wird immer möglichst spät festgesetzt, also Ende Oktober/Anfang November. Das passiert nicht zum erstenmal. Daß wir einen Schätzerkreis beauftragen, die Zahlen erst zu schätzen - übrigens einvernehmlich mit den Rentenversicherungsträgern -, wenn sich die Institute gemeldet haben, wenn auch eine Synchronisation mit der Bundesregierung erreicht wurde, macht Sinn. Es stimmt, Herr Dreßler, daß wir im August und September jeweils 1 Milliarde DM an Beiträgen weniger eingenommen haben, als wir geschätzt haben. Aber das ist doch ein Grund, alles zu tun, damit die Beiträge sinken; denn sonst werden wir noch mehr Beitragsausfälle haben, weil es noch mehr Arbeitslosigkeit und noch weniger Beitragszahler gibt.
Sie haben es heute wieder probiert, Niveausenkungen mit Rentenkürzungen gleichzusetzen, aber ich werde das mit gleicher Konstanz zurückweisen: Wenn eine Lohnerhöhung von 2 DM gefordert wird, die Gewerkschaften aber nur 1 DM herausholen, habe ich noch nie gehört, daß sie das als eine Lohnkürzung ausgegeben haben. Wenn eine Rente nicht mehr in dem Maße steigt wie bisher, ist das immer noch keine Kürzung.
Der Kollege Vogt hat Zahlen genannt; ich will andere nennen: Momentan verdient sich ein Durchschnittsverdiener, wenn er ein Jahr Beiträge bezahlt, einen Rentenanspruch von 47,44 DM. Laut Modellrechnung beträgt dieser Wert im Jahre 2030 mit dieser Rentenreform 103 DM gegenüber 109 DM ohne Reform. Um diese 6 DM machen Sie ein solches Geschrei!
Sie behaupten, bei einem Rentenniveau von 64 Prozent würde die Sicherheit der Rente einbrechen.
Bei Willy Brandt betrug das Nettorentenniveau 1971 61 Prozent. 3 Prozent weniger als der Wert, den wir in 30 Jahren anpeilen, gab es schon einmal, vor mehr als 20 Jahren unter sozialdemokratischer Regierung, und niemand hat gesagt, das sei der Ruin der Rente. Wenn das dem Willy Brandt recht war, dann sind wir mit 3 Prozent mehr in 30 Jahren sicher nicht im Unrecht.
Frau Kollegin Mascher, es ist eine Falschmeldung, zu sagen, die Zahl der Beitragsjahre gehe zurück. Sie nimmt erstaunlicherweise zu. Übrigens sagt die Zahl durchschnittlicher Beitragsjahre über Alterseinkommen gar nichts aus. Viele kleine Renten, die aus
wenigen Beitragsjahren entstanden sind, sind nicht das einzige Alterseinkommen.
Viele Beamte waren wenige Jahre Beitragszahler. Das sind Kleinrentner. Genauso verhält es sich mit Selbständigen, die nur ein paar Jahre Beiträge gezahlt haben. Diese Gruppen haben ein zweites oder drittes Einkommen. 40 Prozent der Rentnerehepaare West und 77 Prozent der Rentnerehepaare Ost haben zwei Alterseinkommen. Die alleinstehenden Männer im Westen haben in 44 Prozent, im Osten in 26 Prozent der Fälle zwei Alterseinkommen. Für alleinstehende Frauen gilt das für 47 Prozent im Westen und für 69 Prozent im Osten. Drei Alterseinkommen haben im Westen immer noch 32 Prozent der Ehepaare. Wir haben diese Formel noch mit der Sicherungsklausel verbunden: niemals Minusanpassungen und nicht unter 64 Prozent.
Ich komme zur Neuordnung der Erwerbsunfähigkeitsrente. Sie selber haben doch in Ihrem Papier vorgeschlagen, daß in diesem Bereich eine Neuordnung geschehen soll. Nur wollen Sie das Geld woandersher beschaffen. Die Rentenversicherung ist aber nicht zuständig für die Abdeckung eines Arbeitsmarktrisikos, und sie ist nicht zuständig, wenn jemand auf Grund seines Gesundheitszustandes keinen Arbeitsplatz findet. Für diese Leistung erhält die Arbeitslosenversicherung Beiträge. Dieses Risiko kann doch nicht die Rentenversicherung durch Rente abdecken.
Insofern korrigieren wir nur die Rechtsprechung, die sagt: Für die Erwerbsunfähigkeit spielt nicht nur der Gesundheitszustand eine Rolle. In einem gegliederten System muß jeder Träger für das Risiko zuständig sein, für dessen Abdeckung er Beiträge erhält. Die Rentenversicherung ist nicht für das Arbeitsmarktrisiko zuständig.
Was ist an einer Teilrente inhuman? Was ist daran inhuman, wenn Menschen ihr Renteneinkommen durch eine Teilzeitarbeit ergänzen, weil sie noch teilerwerbsfähig sind? Es ist doch im Gegenteil human, daß man diese Menschen nicht aus dem Erwerbsleben schiebt. Sie wollen doch zum Teil arbeiten; sie wollen doch nicht einfach vor die Tür gesetzt werden. Diese Regelung ergänzen wir sogar durch Einführung eines Teilarbeitslosengeldes.
Im übrigen zahlt die Krankenversicherung bis zum siebten Monat Krankengeld. Auch in diesem Punkt muß ich aufklären: Das war bei der Rente auf Zeit immer so gewesen. In Holland hat man gute Erfahrungen mit der Rente auf Zeit gemacht, auch unter Rehabilitationsgesichtspunkten. Wo steht eigentlich „einmal erwerbsunfähig, immer erwerbsunfähig"? In den Fällen, in denen das so ist, wird die Erwerbsunfähigkeitsrente auf Dauer gewährt. Aber man muß der Rehabilitation eine Chance geben.
Nächster Punkt: Umfinanzierung. Sie wie auch wir schlagen als Flankierung der Umstrukturierung vor,
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
die Fahrtrichtung, daß unterhalb des Daches des Sozialbudgets immer mehr aus Beiträgen und immer weniger aus Steuern finanziert wird, umzudrehen. Die größte Verschiebung - das sage ich, damit Sie nicht gleich falsche Schlüsse ziehen - hat allerdings in Ihrer Zeit stattgefunden.
- Ich kann das belegen: Zwischen 1975 und 1995 hat sich die beitragsfinanzierte Sozialleistung von 58,1 auf 65,4 Prozent erhöht. Das ist eine Erhöhung um 7,3 Prozentpunkte. Von 1975 bis 1983 betrug die Erhöhung 5,2 Prozentpunkte. Sie haben viermal den Bundeszuschuß ausfallen lassen. Das wird die Menschen aber nicht mehr interessieren; das sind alles Schlachten von gestern. Die Menschen wollen nach vorne blicken.
Ich komme zu den Kindererziehungszeiten. Ich sehe nicht nur den quantitativen Gesichtspunkt. Kein Verfassungsgericht hat uns aufgefordert, auf 100 Prozent aufzustocken. Das machen wir, weil wir glauben, es würde eine Geringschätzung darin liegen, wenn Kindererziehungszeiten nur mit drei Viertel des Durchschnittslohnes bewertet werden. Deshalb wollen wir schrittweise die Kindererziehungszeiten so wie die erworbenen Rentenansprüche eines Durchschnittsverdieners werten.
Für die Erziehung eines Kindes erhöht sich die Rente um 144 DM im Jahr. Bei Geburten nach 1992 beträgt die Erhöhung 432 DM.
Ich fasse zusammen: SPD - Konsensverweigerung. SPD - blind vor demographischer Veränderung nach dem Motto „Augen zu, blinde Kuh". Sie machen keine demographische, sondern eine demoskopische Rentenpolitik nach dem Motto „Wie habt ihr's gern?" Damit kann man keine Politik machen.
Wir bleiben auf der Spur des bewährten Rentensystems. Wir stärken die Generationensolidarität. Wir wollen durch eine demographische Formel die Lasten gerecht auf jung und alt verteilen. Kindererziehung wird höher bewertet. Die Beitragsbezogenheit wird gestärkt, indem Risiken sachgerecht zugeordnet werden.
Der Bundeszuschuß soll erhöht werden. Herr Kollege Dreßler. Sie haben mich nicht richtig zitiert. Sie haben in meinen Äußerungen angeblich ein Täuschungsmanöver gesehen. Sie behaupten, ich würde keinen Gesetzentwurf ohne Umfinanzierung vorlegen. Wir legen doch heute einen Gesetzentwurf vor, der eine Umfinanzierung enthält. Es liegt allein an Ihnen. Aus diesem Schwitzkasten kommen Sie nicht heraus: Stimmen Sie zu, sinken die Beiträge um einen Prozentpunkt. Stimmen Sie nicht zu, steigen sie um einen Prozentpunkt und bleiben damit hoch.
Ich mute Ihnen nicht mehr zu, über die Rentenreform zu diskutieren. Dazu haben Sie einfach nein gesagt. Ab sofort diskutieren wir mit der SPD nur noch unter dem Gesichtspunkt „Wollt ihr die Lohnzusatzkosten senken - ja oder nein?". Es gibt keine Ausrede in der Form mehr, daß Sie uns aus ideologischen Gründen sagen, daß wir die Rentenreform auf unsere Schultern nehmen müssen. Sie haben zu entscheiden, ob Sie zur Frage der Lohnnebenkosten mehr als nur heiße Luft zu bieten haben.
- Auf den Zwischenruf will ich noch ein Wort sagen. Die SPD hat eine Absenkung der Lohnzusatzkosten um zwei Prozentpunkte gefordert. Das ist mir ganz sympathisch. Aber ich muß fragen, woher Sie das Geld nehmen. Wir haben gesagt: Wir sind nur in der Lage, eine Senkung um einen Prozentpunkt anzubieten. Ich habe noch nie einen Tarifpolitiker getroffen, der zwei Prozent gefordert hat, dem ein Prozent angeboten wird und der dann sagt: 0 Prozent ist mir lieber.
Aus einer Tarifkommission wären Sie herausgeflogen, Kollege Dreßler, wenn Sie bei der Verhandlung über 2 Prozent oder nichts, bei der der andere sagt: „1 Prozent", sagen: „Nein, dann lieber nichts."
Wir machen eine Rentenpolitik mit Augenmaß und Verantwortung gegenüber den Rentnern. Ich sehe auch, daß die Rentenversicherung wie bisher und noch stärker der Ergänzung bedarf, auch durch private und betriebliche Vorsorge. Ich sehe auch in der Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand ein Instrument, das solidarische System der Rentenversicherung zu ergänzen, Eigentumsbildung auf breiter Basis als ein Sicherungselement, als ein Freiheitselement.
Ich sehe auch in der Möglichkeit, das Datum der Altersgrenze selbst zu bestimmen, eine weitere Option. Es zeigt sich, daß freie Entscheidung rücksichtsvoller ist als der gesetzliche Befehl zum Zurückziehen in den Ruhestand. Ich hoffe, daß solche flexiblen Übergänge in den Ruhestand stärker als bisher auch von den Tarifpartnern unterstützt werden, weil sich auch hier zeigt: Starke Tarif- und Betriebspartner sind aufeinander angewiesen.
Wir machen eine Politik, die Verantwortung vor den Rentnern beweist, einer Generation, die vieles geleistet hat, und Verantwortung vor den Jungen, die zu Recht die Frage stellen: Wie sieht es mit meiner Rente aus? Herr Kollege Dreßler, Ihre Renditerechnung ist eine Milchmädchenrechnung. Denn wenn die Beiträge steigen, sinkt die Rendite, und wenn die Beiträge sinken, betrifft das auch die Rendite. Sie müssen doch Rendite immer mit Beitrag und Leistung in Beziehung setzen. Sie haben vorhin in Ihrem Beispiel offenbar nur von der Leistungsseite gesprochen.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Die Frage der Jungen, wie es mit ihrer Zukunftssicherung aussieht, ist berechtigt. Deshalb spielt nicht Jung gegen Alt aus! Die Rentenversicherung wird nur Zukunft haben, wenn sie solidarisch ist, und dazu ist Generationengerechtigkeit notwendig. Es geht nicht ohne eine Lastenverteilung, eine neue Lastenverteilung, es geht nicht ohne eine größere Beitragsgerechtigkeit, und es geht vor allen Dingen nicht ohne Mut zur Veränderung. Und da helfen Worte allein nicht.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerd Andres, SPD-Fraktion.
Herr Bundesarbeitsminister, wer Ihre Rede verfolgt hat
und wer eine Reihe von Kernsätzen, die Sie gesagt haben, für richtig hält, muß sich doch sehr darüber wundern, wie Sie zentralen Fragen und Problemstellungen, die hier in der Debatte eine Rolle gespielt haben, ausgewichen sind.
Wir wollen von Ihnen wissen: Wo liegt die Beitragshöhe für das kommende Jahr? Wir wollen von Ihnen wissen: Wie finanzieren Sie die Anrechnung der Kindererziehungszeiten? Wir wollen von Ihnen wissen, wo Ihre Zusagen - Umstrukturierung gibt es nur mit Umfinanzierung und umgekehrt - bei Ihnen geregelt sind.
Sie haben doch ein Verfahren auf den Weg gebracht, das man üblicherweise Unternehmen unterstellt, die im Konkursverfahren sind.
Sie stellen einen ungedeckter Wechsel auf die Zukunft aus.
Das eine kann ich Ihnen sagen - das weiß ich aus eigener Erfahrung -: Von Tarifverhandlungen hat im Zweifelsfall Herr Dreßler viel mehr Ahnung als Sie, weil er da sehr viel mehr Praxis hat. Wenn Sie glauben, Herr Blüm, man könne in diesem Verfahren so vorgehen, daß Sie gesetzlich machen, was Sie für richtig halten, und die SPD nur für die Finanzierung haftbar gemacht wird, daß sie nur für die Gegenfinanzierung durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer die Hand zu heben hat, haben Sie sich geirrt; das ist mit uns nicht zu machen.
Das haben wir Ihnen während des gesamten Sommers gesagt.
Zu Ihrer Sprechblase, Herr Blüm: „Wir handeln, Sie reden." Sie hatten in der letzten Woche hier die
Möglichkeit, auf Handlungen von uns zu reagieren. Hier lagen Gesetzentwürfe.
Die deutsche Öffentlichkeit weiß, daß Sie das für richtig gehalten haben, daß Herr Schäuble das für richtig gehalten hat, daß Herr Blens das für richtig gehalten hat und noch viele andere mehr. Lassen Sie also doch die Sprechblasen weg.
Herr Blüm, die SPD sagt, nach 2015. Jetzt muß man handeln. Jetzt ist es ganz wichtig.
Herr Blüm, ich habe einen schönen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung" gefunden, der überschrieben ist: „Wo war eigentlich Blüm die ganze Zeit?" Dieser Artikel fängt wie folgt an:
Schon lange vor dem Amtsantritt des Bundesarbeitsministers im Jahr 1982 war hinlänglich bekannt, daß die Lebenserwartung der Rentnergeneration kontinuierlich steigt und damit zwangsweise längere Rentenzahlungen und höhere Belastungen auf die Alterssicherungssysteme zukommen werden. Blüm aber schaffte offenbar keine Abhilfe - zumindest nicht genug. Wo war eigentlich Norbert Blüm die ganze Zeit?
Sie haben gesagt: Man muß jetzt reagieren. Darf ich Sie einmal daran erinnern, was wir im Rahmen der Rentenreform 1989 gemacht haben, die 1992 in Kraft getreten ist? Ist nicht das, was wir da geregelt haben, die Reaktion auf demographische Veränderungen gewesen, und war nicht der Wechsel von der bruttolohnbezogenen zur nettolohnbezogenen Rentenanpassung exakt eine solche Maßnahme, um auf demographische Entwicklungen einzugehen?
Nein, Herr Bundesarbeitsminister, es gibt ein ganz anderes Problem.
- Nein, Herr Blüm. Ich führe so aus wie auch Sie. Auch Sie haben keine Zwischenfrage zugelassen. - Ihre Ausführungen am Anfang fand ich völlig richtig: Die Quelle ist die Arbeit. Jetzt ist die spannende Frage: Wie reagiert denn dieser Bundesarbeitsminister, der seit 15 Jahren nicht nur für die Rente, sondern auch für die Arbeitsmarktpolitik, für die Entwicklung am Arbeitsmarkt mit zuständig ist, in diesem Bereich?
Dazu zitiere ich diesen Artikel noch einmal und gebe damit auch gleich Herrn Kauder eine kleine Antwort. Herr Kauder hat vorhin darauf hingewiesen, daß alle Sachverständigen in der Anhörung der Koalition zugestimmt haben.
Herr Kauder, das war schlicht die Unwahrheit. Ich könnte jetzt Herrn Professor Schmähl, den Vorsitzenden des Sozialbeirats der Bundesregierung, Mitglieder der Rentenkommission der Bundesregierung und andere zitieren, die Ihnen ganz andere Dinge um die
Gerd Andres
Ohren gehauen haben. Der Kern des Problems ist eigentlich an einer ganz anderen Stelle.
Franz Ruland, der hier von Herrn Kauder aus der Anhörung zitiert worden ist, wird in diesem Artikel mit folgendem Satz zitiert:
Franz Ruland, Mitglied seiner Rentenkommission, bestätigt, daß Blüms Gesetzentwurf wegen der demographischen Entwicklung allein „nicht vorgelegt worden wäre" .
Weiter heißt es:
Im Eifer ist Blüm der Blick für das Notwendige verlorengegangen. Eine Rentenreform ist nämlich tatsächlich bitter nötig - doch nicht, wie Blüm in den Vordergrund zu schieben versucht, wegen des demographischen Wandels, sondern vor allem wegen der hohen Arbeitslosigkeit.
Durch Beitragsausfälle sind nach Berechnungen der Rentenversicherungsträger der Rentenversicherung 16 Milliarden DM jährlich verlorengegangen.
Damit bin ich genau bei dem Punkt, Herr Blüm, den Herr Dreßler angesprochen hat: Sie haben eine falsche Analyse. Sie reagieren mit den falschen Maßnahmen. Das, was Sie eigentlich tun müßten, nämlich sich um die verheerende Arbeitsmarktentwicklung zu kümmern und strukturelle Veränderungen vorzunehmen, bekommen sie nicht zustande, weil Ihr Koalitionspartner alle notwendigen Maßnahmen und Mittel in diesem Bereich verhindert.
Deswegen bleibt richtig, daß die Koalition einen Gesetzentwurf vorlegt, der keine Erneuerung der Rentenversicherung ist, sondern ein weiteres untaugliches und zutiefst ungerechtes Gesetz zum Sozialabbau darstellt.
Das, was Sie hier als Strukturreform bezeichnen, ist bei Lichte gesehen nichts anderes als ideologisch begründete Kürzungspolitik auf dem Rücken der Älteren und Invaliden.
Es ist auch Kürzungspolitik zu Lasten der jungen Menschen, wenn Sie hier im parlamentarischen Eilverfahren ein weiteres, gut funktionierendes Sozialversicherungssystem ruinieren. Die Botschaft der Koalition an die junge Generation lautet: Heute hohe Beiträge, morgen niedrige Leistungen. Wer das verantwortet, der sorgt erst recht dafür, daß die Legitimationskrise in diesem bewährten Sozialversicherungssystem Rentenversicherung durch ihn selbst verursacht und angelegt wird.
Das genügt einer modernen Sozialpolitik unserer Auffassung nach nicht. Ich möchte auf einige Bereiche unseres Antrages eingehen und damit die Versäumnisse der Koalition deutlich machen.
Erster Punkt. Da ist zunächst das von mir schon angesprochene Problem der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Die finanzielle Lage der deutschen Rentenversicherung wird doch zuallerst durch den Rückgang der Zahl der versichert Beschäftigten belastet.
In Jahresfrist haben wir hier einen Rückgang um über eine halbe Million ordentlich versicherter Arbeitsplätze zu verzeichnen. Entsprechend hoch ist der Beitragsausfall für die Sozialversicherung.
Wir haben hier vor 14 Tagen über die geringfügige Beschäftigung und andere Konstruktionen heftig diskutiert und gestritten. Herr Kauder, ich wiederhole, was ich in der Aktuellen Stunde gesagt habe: Die Worte hör' ich wohl. Auch ich lese, was Herr Schäuble öffentlich verkündet. Nur, Sie wissen so gut wie ich, daß Frau Dr. Babel im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung erklärt hat, mit ihr komme eine solche Regelung absolut nicht in Frage. Dies hat sie dort öffentlich erklärt. Deswegen entspricht das, was Sie hier erzählen, nicht der Wahrheit.
Herr Dr. Kauder, damit bin ich bei einem anderen Problem.
- Sie können das alles beraten. Es wird nur nicht Realität werden. Das wissen Sie so gut wie wir.
Zweiter Punkt. Auf die Frage, die Ihnen hier auch von Frau Fischer schon gestellt worden ist - auch das ist eine ganz spannende Geschichte - ,warum im Eilverfahren ein Gesetz durch den Deutschen Bundestag gepaukt wird, das in seinen Kernpositionen erst 1999 in Kraft tritt,
gibt es eine ganz einfache Antwort: Diese Koalition rechnet und setzt auf das schlechte Gedächtnis der Bürgerinnen und Bürger.
Denn der Obmann der Union hat uns erklärt: Das muß bis zum 10. dieses Monats über den Tisch des Hauses gehen, weil die Rente in den Wahlkämpfen des kommenden Jahres keine Rolle mehr spielen darf.
Ich sage Ihnen voraus: Wir werden dafür sorgen, daß diese Rechnung nicht aufgeht. Wir werden die Rente im Wahlkampf thematisieren.
Wir thematisieren die Rente nicht, um die Rentnerinnen und Rentner zu verunsichern, wie Sie hier immer vortragen.
Wir müssen sie vielmehr thematisieren, weil wir die Veränderung, die Sie im Rahmen der Rentenversicherung vornehmen, für grundfalsch halten und der einzige Souverän, der damit vernünftig umgehen kann, in Wahrheit am 27. September des nächsten Jahres die Wählerinnen und Wähler in diesem Lande sind. Einen anderen kann ich mir nicht vorstellen. Deswegen, Herr Blüm, werden wir nicht durchgehen lassen, daß Sie mit falschen Aussagen, mit Durchmo-
Gerd Andres
geln und mit Nichtbenennen wahrer Positionen versuchen, sich hier vor der Öffentlichkeit davonzuschleichen.
Dritter Punkt. Frau Fischer und wir haben vorgeschlagen, daß wir in Reaktion auf die Lage auf dem Arbeitsmarkt doch dafür sorgen müßten, daß die Versicherungspflicht kräftig ausgebaut wird. Es macht doch Sinn, zu sagen: Jeder, der in diesem Lande arbeitet, wird in die Versicherung einbezogen. Das gilt nach unserer Konzeption nicht für diejenigen, die entweder über die Handwerksversicherung oder über die Kammerberufe entsprechend abgesichert sind.
Wenn hier über Reformstau oder ähnliches gesprochen wird, Herr Bundesarbeitsminister, dann empfehle ich Ihnen einen Blick nach Holland, Österreich und in die Schweiz, die exakt diese Regelungen vorgenommen und damit einen Mechanismus gefunden haben, der der Erosion unserer Sozialversicherung einen deutlichen Riegel vorschiebt.
Vierter Punkt. In diesem Zusammenhang hat Herr Kauder kräftig Wasser in den Wein gießen müssen. Wir hören in der Diskussion immer die Philosophie von den drei Säulen. Ich sage ganz deutlich: Ich halte sie für richtig. Wenn man sich aber anschaut, was Sie im Bereich von zwei Säulen praktisch vornehmen, dann ist das, was Sie im Bereich der Betriebsrenten gesetzlich vorgelegt haben, absolut lächerlich. Es ist jämmerlich, es ist eine Regelung von 0,0, die sogar dazu beitragen wird, daß das, was Sie heute durch die einprozentige Anpassung der Betriebsrenten beschließen, ihrer Logik folgt. Denn wenn man in all den Bereichen der gesetzlichen Rentenversicherung kürzen muß, dann sorgt man mit einer solchen Regelung dafür, daß die Betriebsrentenregelungen unattraktiver werden und sich die Kürzungen hier entsprechend fortsetzen, weil eine Koppelung an die Nettolohnentwicklung oder an die Nettorentenentwicklung faktisch nicht mehr stattfindet.
Sie haben in diesem System versagt. Wie auch im Bereich der Lebensversicherung kommt es in Ihrer Runde immer wieder zu einem Widerspruch. Sie sprechen von der Stärkung dieser Säulen, praktisch aber schlagen Sie in den Gesetzgebungsvorhaben etwas ganz anderes vor.
Der fünfte Punkt ist die Frage der Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten und der Altersgrenze für Schwerbehinderte. Auch hier muß man der Öffentlichkeit deutlich sagen, worum es eigentlich geht, meine sehr verehrten Damen und Herren. Auch das ist im Ausschuß mit einer, wie ich finde, schonungslosen und zynischen Offenheit gesagt worden. Da ist gesagt worden: Wir haben im letzten Jahr dafür gesorgt, daß die Altersgrenzen in der Rentenversicherung systematisch hochgenommen werden und daß diejenigen, die künftig früher in Rente gehen, Rentenabschläge hinzunehmen haben.
In der Rentendebatte im Ausschuß haben Sie dann die Wahrheit darüber gesagt, warum die Invalidenrente faktisch abgeschafft wird. Sie haben gesagt, es ist die Notwendigkeit aus der gesetzlichen Regelung des letzten Jahres. Wir müssen nämlich mit dieser Neuregelung die Schlupflöcher schließen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Argumentation ist doch die Wahrheit, die Sie hier eigentlich vortragen müßten; denn Sie befinden sich in der Logik der Änderungen des letzten Jahres, in der Logik von Sozialabbau.
Ich habe vorhin, als hier diskutiert wurde, Heiner Geißler sehr genau beobachtet, der sich bei der Frage, daß dieses Gesetz nichts anderes bedeutet als faktische Rentenkürzung, drei Reihen weiter nach hinten gesetzt und immer leise genickt hat, weil Heiner Geißler im Grunde seines Herzens genau der Überzeugung ist, daß das stimmt, daß das richtig ist.
Dann hat Norbert Blüm - sechster Punkt - hier erklärt, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir verweigerten den Konsens. Ich will darauf hinweisen, was wir vorgelegt haben. Wir haben heute einen Entschließungsantrag neben unserem grundsätzlichen Antrag zu unseren Vorstellungen von einer Rentenreform vorgelegt, der folgendes aufgreift:
Herr Professor Schmähl, Mitglied Ihrer Rentenkommission, Vorsitzender des Sozialbeirates der Bundesregierung, hat einen Vorschlag gemacht. Er hat nämlich vorgeschlagen und das auch inhaltlich völlig vernünftig begründet, daß man in dieser Legislaturperiode eigentlich folgendes tun müßte: Man muß für eine rechtliche Umsetzung der Kindererziehungszeiten sorgen, weil wir durch Bundesverfassungsgerichtsurteil längst gebunden sind. Darüber sind wir uns auch einig. Das muß man vernünftig finanzieren.
Er hat zweitens vorgeschlagen, gemeinsam dafür zu sorgen, die versicherungsexternen Leistungen vernünftig zu finanzieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch hier muß die Öffentlichkeit etwas wissen. Herr Bundesarbeitsminister Blüm hat uns doch im Verfahren im Sommer mit Änderungsanträgen zur Rentenversicherung eingedeckt, wobei er faktisch exakt unserer Logik und unserer Systematik gefolgt ist. Er hat nämlich zugestimmt, daß wir versicherungsfremde bzw. versicherungsexterne Leistungen herausnehmen und dafür eine entsprechende Gegenfinanzierung machen sollten.
Deswegen sage ich heute: Herr Blüm, Sie können sofort einen Konsens haben. Wir regeln in dieser Legislaturperiode Kindererziehungszeiten, versicherungsfremde Leistungen und die Frage der Beitragszahler, also die Frage der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit, und wir nehmen uns in der nächsten Legislaturperiode eine grundlegende und grundsätzliche Reform der Versicherung vor, die notwendig ist.
Gerd Andres
Sie ist aber nicht notwendig in der Art und Weise, wie Sie sie hier vorgelegt haben.
Deswegen lehnen wir Ihre Konzeption ab.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Peter Ramsauer, CDU/ CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ganz gern in vier knappen Punkten auf das eingehen, was Kollege Andres gerade vorgetragen hat.
Gleich zum letzten Punkt: Herr Kollege Andres, Professor Schmähl hat dem Konzept der Expertenkommission der Bundesregierung unter Vorsitz von Bundesminister Blüm zugestimmt. Nur ein einziger Teilnehmer, nämlich Professor Miegel, hat ein Minderheitenvotum abgegeben. Das möchte ich feststellen, damit die deutsche Öffentlichkeit in diesem Punkt richtig informiert ist.
Zweitens. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede reklamiert, daß wesentlich intensiver - so habe ich Sie verstanden - von uns eine Antwort auf die Herausforderungen gegeben wird, die sich aus dem sich verändernden Altersaufbau der Bevölkerung ergeben.
Ich habe hier Ihr Rentenpapier mit dem Titel „Strukturreform statt Leistungskürzungen in der Alterssicherung" vorliegen. Sie haben, nebenbei gesagt - das sollte in der deutschen Öffentlichkeit bekannt sein -, überhaupt keinen Gesetzentwurf als Alternative vorgelegt, sondern nur dieses Papier hier. Hier schreiben Sie zum Thema Demographie:
Für den Fall ... wachsender demographischer Belastungen ... kann auch die Frage einer maßvollen Verlängerung der Lebensarbeitszeit nicht tabuisiert werden. Wenn nötig, könnte diese ab 2015 nach Maßgabe der Verlängerung der Lebenserwartung von 65jährigen erhöht werden ...
Was heißt das im Klartext? Sie haben das Problem zwar erkannt, wollten sich aber in der deutschen Öffentlichkeit und der Politik mit solchen fluchtartigen Ausflüchten davonstehlen. Aber wir packen und stellen Sie hier. Auch wenn Sie es ansprechen: Das, was Sie in Ihren Antrag hineinschreiben, genügt den Herausforderungen des Jahres 1997 und der Folgezeit nicht.
Dann haben Sie gefragt - das ist der dritte Punkt -: Warum soll die Reform erst 1999 in Kraft treten?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Sie haben Herrn Kollegen Blüm auch nicht fragen lassen. Das gilt für den Rest meiner Rede.
Bei der Durchsetzung der Rentenreform 1989 trat diese auch erst drei Jahre später in Kraft. Dazwischen lag ebenfalls eine Bundestagswahl. Bei dieser Bundestagswahl haben die Wähler das der schon seinerzeit regierenden Bundesregierung und Koalition honoriert.
Der vierte Punkt. Sie haben ganz am Anfang gesagt, es sei ein zentraler Punkt, in dieser Debatte die Frage zu beantworten, wie die Beitragshöhe zur gesetzlichen Rentenversicherung in dem nächsten Jahr sei. Das ist ja nun wirklich nicht die zentrale Frage dieser Debatte. Heute geht es in der zweiten und dritten Lesung des Gesetzes darum, daß wir die zentralen Herausforderungen für eine funktionierende und vertrauenswürdige Altersversorgung der Zukunft richtig meistern. Genau das gewährleistet dieses Reformpaket.
Wir reagieren mit diesem Reformpaket mit einem ausgewogenen Konzept auf die zunehmende Überalterung der Gesellschaft. Überalterung klingt vielleicht etwas negativ, es ist aber etwas Positives, daß die Menschen immer älter werden. Die künftigen Rentner können auf eine sichere Altersvorsorge bauen, trotz der Verunsicherungen, die von Ihnen ausgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Die Beitragssätze werden nicht zu einer arbeitsplatzvernichtenden Gefahr ausufern. Wir schaffen Klarheit in der Rentenfrage und damit Vertrauen in ein bewährtes Rentensystem.
Ich wünsche mir von der Debatte heute vormittag, daß von der Altersvorsorge in Form der gesetzlichen Rentenversicherung ein Stück neues Vertrauen ausgeht, daß die deutsche Öffentlichkeit auf dieses bewährte System vertraut; denn sie kann sich darauf verlassen.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben von vornherein aus den bekannten parteitaktischen Motiven heraus einen parteiübergreifenden Konsens, eine große übergreifende Übereinstimmung in der Rentenfrage nicht gewollt,
obwohl Arbeitsminister Blüm wirklich jede Möglichkeit gegeben hat, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Er hat die Hand ausgestreckt, Sie haben sie immer wieder ausgeschlagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mit dieser Reform das Finanzierungsproblem auf Grund der immer länger werdenden Rentenlaufzeiten im Sinne des Generationenvertrages gelöst. Die Lastenverteilung auf Jung und Alt zu gleichen Teilen ist Ausdruck der Solidarität, die unser Rentensystem ja gerade stark gemacht hat. Wir brauchen also Gerechtigkeit zwischen den Generationen.
Hätten wir die Lasten aus dem sich ändernden Altersaufbau einseitig der Rentnergeneration selbst aufgehalst, wäre das ungerecht gewesen. Hätten wir die zusätzlichen Lasten allein der jungen Generation aufgehalst, wäre es genauso ungerecht gewesen. Wir sind den Zwischenweg gegangen, den Weg einer intergenerativen Gerechtigkeit. Das ist der einzige plausible und wirklich gerechte Weg, der von der
Dr. Peter Ramsauer
Politik zu erwarten ist. Ich glaube, daß das von Jung und Alt in unserer Gesellschaft verstanden wird.
Allerdings müssen wir der Jugend von heute weiterhin deutlich machen, daß die ergänzende Eigenvorsorge ein Gebot der Zukunft bleibt. Niemand darf von vornherein darauf hoffen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß man eigene, private Altersvorsorge erst dann zu leisten bräuchte, wenn der Staat mit steuerlichen Anreizen dazu lockt. Private Eigenvorsorge muß für jüngere Menschen zur Selbstverständlichkeit werden und nicht erst dann, wenn mit dem Zügel des steuerlichen Anreizes gelockt wird Nein, es muß eine absolute Selbstverständlichkeit werden.
Wer umgekehrt meint, Altersvorsorge sei bei jungen Menschen erst zu erwarten, wenn der Staat mit Vergünstigungen lockt, macht Altersvorsorge doch wiederum zu einer Obliegenheit des Staates und entmündigt dadurch die Bürger, was wir nicht wollen. Sie sind für eine eigene Altersvorsorge mündig genug. Für sie muß es zur Selbstverständlichkeit werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Reform ist keine - das sage ich im wohlverstandenen Sinne, Herr Minister Blüm - reine „verblümte" Reform.
In wichtigen Punkten trägt sie auch die Handschrift der CSU.
Dafür möchte ich einige Beispiele nennen.
Erstes Beispiel: Das neugeschaffene System von Abschlägen bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Rente ist sicherlich notwendig und richtig. Allerdings muß die Rente eng mit der individuellen Beitragszahlung verknüpft sein. Deshalb halten wir es für angemessen, daß nach 45 Pflichtbeitragsjahren keine Abschläge erfolgen.
Wir haben uns schließlich in der Koalition darauf verständigt, in Anlehnung an die Vertrauensschutzregelung im Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz bei Versicherten der Jahrgänge ab 1941 von Abschlägen abzusehen.
Das zweite Beispiel: Auch die Stärkung der Anerkennung von Familienleistungen war ein großes Anliegen der CSU. Die stufenweise Anhebung der Anerkennung der Kindererziehungszeiten, die nun auch neben den Zeiten der Berufstätigkeit in Anspruch genommen werden kann, dient der Stärkung der zentralen Rolle der Familie in der Rentenversicherung. Das ist eine echte strukturelle Verbesserung, die den Familien zugute kommt.
Meine Damen und Herren, ich habe jetzt leider nicht die Zeit, eine Reihe von Punkten, die ich den Anträgen der SPD, insbesondere dem heute vorliegenden Entschließungsantrag entnommen habe, im einzelnen vorzutragen. Einen Punkt aber möchte ich herausgreifen.
In dem heutigen Entschließungsantrag ist wieder die Forderung enthalten, alle versicherungsfremden Leistungen aus der Rentenversicherung herauszunehmen und durch Steuern zu finanzieren. In der Debatte wird immer eine Liste vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, vom VDR, angeführt. Danach macht die Summe aller versicherungsfremden Leistungen einen Betrag von über 100 Milliarden DM aus. Ich empfehle jedem, der sich mit dem Thema der versicherungsfremden Leistungen auseinandersetzt, sich das einmal im einzelnen anzusehen. Danach wird jeder zu der Schlußfolgerung kommen, daß bei weitem nicht alles, was dort als beitragsfrei deklariert ist, auch versicherungsfremd ist. Wenn eine Leistung einer Sozialversicherung nicht unmittelbar beitragsgedeckt ist, ist sie deswegen noch lange nicht versicherungsfremd.
Ich möchte Ihnen dazu zwei Beispiele nennen. Auf dieser Liste vom VDR stehen zum Beispiel Ersatzzeiten, die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg für die Zeit der Gefangenschaft angerechnet werden. Ist das denn eine versicherungsfremde Leistung? Ich glaube, deutsche Soldaten, die im Krieg und auch noch danach in Gefangenschaft waren, verdienen die Solidarität der gesetzlichen Rentenversicherung.
Diese 13,5 Milliarden DM, die dafür in der Liste angeführt sind, stellen keine versicherungsfremden Leistungen dar, nur weil dafür keine Beiträge gezahlt worden sind.
Ein anderes Beispiel: Altersrenten, die vor dem 65. Lebensjahr gezahlt werden, werden in dieser Liste als versicherungsfremd dargestellt. Wo kommen wir da hin? Eine Summe von 18,7 Milliarden DM ist dafür angeführt - und das ist alles andere als versicherungsfremd. Hier wird in einem wissenschaftlichen Versuch so getan, als ob jede Rente, die vor dem 65. Lebensjahr gezahlt wird, versicherungsfremd sei. Das stimmt nicht: Renten, die vor dem 65. Lebensjahr gezahlt werden, beruhen auf ganz normalen Anwartschaften.
Wenn man all das, was man so als versicherungsfremd definiert, aus der gesetzlichen Rentenversicherung herausnähme, bliebe doch kaum noch etwas übrig. Was bleibt denn übrig an wirklicher Solidarität? Wenn man so denkt, kann man gleich eine private Rentenversicherung abschließen, die ganz genau kalkulierbar ist. Aber auch sie hält dem sogenannten Renditevergleich, der immer angestrengt wird, nicht bis zum letzten stand.
Herr Abgeordneter, denken Sie bitte an die Redezeit! Sie ist nämlich abgelaufen.
Die Redezeit ist abgelaufen, also komme ich zum Ende.
Ich kürze meine Rede ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie oft hört man von Schicksalen, davon, daß jemand sagt: Ich bin in derartigen existentiellen Nöten, daß ich sogar meine private Versicherung zur Altersvorsorge habe beitragsfrei stellen lassen. In Vergleichen wird immer von einer störungsfreien Rentenbiographie ausgegangen. Die gesetzliche Rentenversicherung aber deckt viel mehr ab als eine private Versicherung. Deshalb sollten wir es dabei belassen, diese Leistungen, die aus dem solidarischen Gedanken heraus resultieren, in der Rentenversicherung anzusiedeln.
Herr Dreßler hat gesagt: Wenn die SPD die Wahl gewinnen sollte, würde sie dieses gesamte Reformwerk abblasen. Ich kann Ihnen versichern: Der deutsche Wähler wird Sie daran hindern.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Jäger, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte wird auch in den neuen Ländern mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt. Natürlich kann man bei allen Problemen, die die Rentenüberleitung im Detail noch enthält, eine relativ zufriedenstellende Versorgung bei den ostdeutschen Rentnern feststellen.
Auch trifft es zu, daß die durchschnittlichen Rentenzahlbeträge zum Teil über den Zahlbeträgen in den alten Bundesländern liegen. Doch bei vergleichbarem Versicherungsverlauf ergibt sich nach wie vor ein deutlicher Abstand zwischen den sogenannten Eckrenten im Westen und denen im Osten. Dies ist aber eine Folge der hohen Erwerbsquote in der Vergangenheit, aus der sich längere Beitragszeiten ergaben. Das war politisch so gewollt, und es lag auch insbesondere bei Frauen an den besseren Möglichkeiten, Beruf und Kindererziehung miteinander zu verbinden.
Wie entwickelt sich das aber für die zukünftigen Rentnerjahrgänge? Die Zahl der erwerbstätigen Personen hat in den ostdeutschen Ländern schlagartig
abgenommen. Damit sind Rentenbiographien weggebrochen oder unterbrochen. Bei der Anrechnung sind die Zeiten der Zugehörigkeit zu den noch bestehenden Betrieben und Einrichtungen des öffentlichen Dienstes vor 1990 hart weggeschnitten worden, so daß bei neuentstehenden Betriebsrenten- und Zusatzversorgungssystemen die Arbeitnehmer der mittleren Jahrgänge einfach schon auf Grund der kurzen Zugehörigkeit zu diesen Systemen minimale Anwartschaften erwerben können.
Dazu kommen die weitaus niedrigeren Löhne und die langsame bzw. stagnierende Lohnangleichung im Osten. Ende 1996 betrug das Tarifniveau Ost 88,7 Prozent. Das Niveau beim Hotel- und Gaststättengewerbe in Sachsen lag jedoch erst bei 78,5 Prozent und das des privaten Verkehrsgewerbes bei 69 Prozent.
Daneben läuft der Prozeß der Umwandlung von Normalarbeitsverhältnissen in sozialversicherungsfreie Jobs in alten und neuen Ländern gleichermaßen.
Erinnern wir uns doch an dieser Stelle auch an die zuletzt von der Koalition beschlossenen Änderungen im Rentenrecht: Heraufsetzung des Renteneintrittsalters, geringere Anrechnung von Ausbildungszeiten 'und Abschläge bei vorzeitigem Renteneintritt. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von der Koalition: Stellen Sie sich unter Berücksichtigung dieser Tatsachen Ihre im Gesetz vorgesehene Absenkung des Nettorentenniveaus doch bitte einmal in Ruhe vor. Zeichnen wir einmal das Bild eines Betroffenen: 1991 aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, war er eine Zeitlang arbeitslos, hatte mehrere Jahre einen versicherungsfreien 520-DM-Job und bezog Rente wegen Arbeitslosigkeit unter Berücksichtigung des Abschlags. Ich frage Sie: Wird Ihnen dabei nicht klar, daß man eine Niveauabsenkung bei diesen gesellschaftlichen Verhältnissen, wie Sie sie hier geschehen lassen, überhaupt nicht zulassen kann?
Wenn viele Mitbürger angesichts dieses Gesetzes um die Zukunft ihrer Altersversorgung bangen, ist das doch wohl verständlich.
Der Bundesminister verniedlicht diese Niveauabsenkung mit dem Hinweis, die Haushalte verfügten ja noch in erheblichem Umfang über weitere Einkommen. Genannt werden Betriebsrenten, Einkünfte aus Mieten, private Lebensversicherungen oder Zinseinnahmen aus höheren Sparguthaben. Das gibt es in den neuen Ländern überhaupt nicht, und das wird es auch in Zukunft in größerem Umfang nicht geben. 99 Prozent der Menschen über 65 Jahre in den neuen Bundesländern haben als einzige Einnahmequelle ihre Rente.
Um so mehr empört es die ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner, wenn Teile der Koalition, insbesondere die CSU, immer wieder die Abkoppelung der Renten von der Lohnentwicklung in Ostdeutschland verlangen. Ich fordere Sie deshalb nochmals auf: Las-
Renate Jäger
sen Sie diese Vorstöße! Für uns bleibt es dabei: Die Renten folgen den Nettolöhnen.
Angesichts der ostdeutschen Wirtschafts-, Lohn- und Arbeitsmarktsituation werden die ostdeutschen Rentenbiographien leider schnell genug bundesdeutsche Negativrekorde erreichen. Um der dadurch entstehenden Altersarmut vorzubeugen, hat die SPD einen finanzierbaren Vorschlag für eine bedarfsabhängige soziale Grundsicherung im Alter und bei Invalidität vorgelegt. Frau Mascher sprach bereits ausführlicher darüber.
Auch haben wir in unserem Antrag vorgeschlagen, die Frist für die Rente nach Mindesteinkommen aufzuheben. Diese Rente soll auch für Zeiten nach 1991 gelten. Das ist ein gutes Angebot gerade für die Frauen in Ostdeutschland, die nach 1990 sehr oft mit schlechtbezahlten Teilzeitjobs vorliebnehmen mußten, damit sie überhaupt Arbeit hatten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit 1990 ist es im Osten mit der hohen Erwerbsquote vorbei. Die dortige Arbeitslosenquote liegt noch über der bundesdeutschen Rekordhöhe. Da ist es nicht angebracht, Niveauabsenkungen vorzunehmen. Vielmehr muß man Regelungen schaffen, die den veränderten Erwerbsbiographien und der Lage am Arbeitsmarkt entsprechen.
Zuallererst ist zu fordern, was auch aus all den Reden der Koalition hervorgeht: Sorgen Sie endlich für mehr Beschäftigung!
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ab dem 1. Juli 1998 können 7,6 Millionen Frauen in Deutschland mit einer höheren Rente rechnen.
Das ist ein wesentliches Ergebnis der heute zu verabschiedenden Rentenreform.
Wer ein wirkliches Interesse daran hat, daß Frauen im Alter eine eigenständige Alterssicherung haben, daß Familienarbeit und Erwerbsarbeit wirklich gleichwertig sind und daß die Erziehungsleistung von Frauen und auch die von Männern voll anerkannt werden, der darf sich dieser Reform nicht verweigern.
Durch die bessere Anerkennung der Kindererziehungszeiten im Rentenreformkonzept wird ein weiterer wichtiger Pflock eingeschlagen, damit sich
Frauen aus eigener Kraft existenzsichernde Rentenanwartschaften aufbauen können.
In der Zukunft werden wir erstens die Erziehungszeiten höher bewerten. Damit sind Kindererziehung und Erwerbstätigkeit erstmals völlig gleichwertig.
Zweitens werden Kindererziehungszeiten und gleichzeitige Erwerbstätigkeit in der Rente additiv angerechnet. Damit, Herr Andres, folgen wir nicht nur der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Wir erkennen damit an, daß die erwerbstätigen Mütter eine Doppelbelastung haben. Dem tragen wir mit dieser Entscheidung Rechnung.
Konkret bedeutet diese Entscheidung für eine Mutter: Sie bekommt für die Erziehung eines jeden Kindes zukünftig nahezu 150 DM Rente. Das haben Mütter mehr als verdient. Das ist die finanzielle Seite. Mindestens ebenso wichtig ist uns, daß wir auf diese Weise unterstreichen: Kindererziehung ist für unsere Gesellschaft genauso wertvoll wie Erwerbstätigkeit. Arbeit ist Arbeit, ganz gleich, ob sie in der Werkshalle, im Kinderzimmer oder am Krankenbett geleistet wird.
Wer behauptet, daß Zahlungen auf Grund von Kindererziehungszeiten versicherungsfremde Leistungen seien, dem sei an dieser Stelle gesagt: Ohne Kinder keine Rente. Kinder sind die Beitragszahler der Zukunft. Es muß endlich allen klar sein: Kindererziehung ist eine versicherungsnotwendige Leistung.
Diese Rentenreform stellt die konsequente Fortsetzung unseres Weges dar, den wir mit der Einführung der Kindererziehungszeiten in die Rentenversicherung eingeschlagen haben. Aber ich fand es schon sehr merkwürdig, daß uns hier vorgeworfen wurde, wir würden zu spät reagieren, und daß wir nur - wie Herr Andres jetzt wieder gesagt hat, wie es aber auch andere Rednerinnen und Redner vorher gesagt haben - unsere Pflicht erfüllen würden. Es ist geradezu absurd, hier einen solchen Vorwurf zu erheben.
Wer war es denn, der die Kindererziehungszeiten
überhaupt in die Rentenversicherung eingeführt hat?
Es war doch nicht die Opposition, es war doch nicht die SPD. Sie haben sich damals diesem Gesetz verweigert. Sie haben hier in diesem Haus mit Nein gestimmt.
Sie wissen, daß wir unter Familienarbeit nicht nur Kindererziehung verstehen. Wir haben die Pflege
Dr. Maria Böhmer
mitberücksichtigt. Damit haben wir in der Rentenversicherung eine Revolution herbeigeführt, nämlich einen neuen Arbeitsbegriff geschaffen: Erziehung und Pflege stehen gleichberechtigt neben der Erwerbsarbeit.
Wir haben mit der Fixierung auf die sogenannte Normalbiographie des Rentners Schluß gemacht. Das Standardbild des Rentners, der mit 16 Jahren bei Siemens angefangen hat, 45 Jahre lang an der Werkbank stand und dann in Rente gegangen ist, hat für Frauen noch nie gegolten. Ausbildung, Berufseinstieg, Familiengründung, Unterbrechung der Erwerbstätigkeit und dann nach 10 oder 15 Jahren der oft mühsame Wiederbeginn der Erwerbstätigkeit - so sah für viele Frauen die Realität aus.
Das Ergebnis ist deshalb: niedrigere Renten für Frauen.
Frau Mascher, wenn Sie sagen, daß niedrigere Renten für Frauen mit der Altersarmut von Frauen identisch sind, haben Sie die Fakten einfach nicht zur Kenntnis genommen. Eine 300-DM-Rente bei Frauen bedeutet noch keine Altersarmut, denn die Frauen verfügen in der Regel über mehr Einkommen. Zu 300 DM Witwenrente kommt noch einmal ein Einkommen, das sich auf 1740 DM beläuft. Dann sieht die Welt in der Tat ein Stück anders aus.
In den neuen Bundesländern verfügen die Haushalte übrigens in der Regel über zwei Einkommen. Das muß hier auch einmal gesagt werden. Ich wehre mich mit Vehemenz dagegen, daß Frauen, weil sie Kinder erziehen, weil sie im Beruf für die Familie kürzertreten, dann auch noch Nachteile bei der Rente in Kauf nehmen müssen. Deshalb unser Ansatz: Erweiterte Anerkennung von Kindererziehungszeiten bei der Rente, um hier einen Ausgleich zu schaffen.
Ich sage an dieser Stelle aber auch ganz klar: Es besteht weiterer Reformbedarf. Daran haben wir nie einen Zweifel gelassen. Ich kann dem Bundesarbeitsminister nur zustimmen, der angekündigt hat, daß im Zuge der Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung auch die familienpolitischen Leistungen neu geordnet werden sollen. Das ist wichtig und richtig. Wir wollen diese Entscheidung genauso verantwortungsvoll treffen wie wir jetzt die Rentenreform machen.
Deshalb ist es notwendig, fundiertes Zahlenmaterial zu haben. Deshalb werden wir dies nach 1998, wenn das Zahlenmaterial vorliegt, angehen. Wer wie die SPD ohne gesicherte Daten Vorschläge auf den Tisch legt, der kann das nur tun, wenn er weiß, daß diese Vorschläge nie Realität werden, daß er dafür keine Verantwortung übernehmen wird.
Das Splittingmodell der SPD erinnert an des Kaisers neue Kleider.
Bei näherem Hinsehen bleibt nichts davon übrig. Oder wollen Sie etwa behaupten, Frau Mascher, daß dann, wenn eine Rente zur Hälfte auf ein anderes Konto umgebucht wird, Frauen wirklich eine eigenständige Sicherung haben? Das, was hier gemacht wird, ist doch ein bloßer Buchungstrick.
Wer ist der Gewinner dabei? In der „Zeit" war spannenderweise zu lesen, daß die Banken die Gewinner seien, denn sie würden an den Buchungsgebühren verdienen. Die Frauen aber wären zum großen Teil die Verliererinnen, denn sie bekämen zum Teil niedrigere Renten, als sie nach dem derzeitigen System haben. Das kann nicht Sinn der Sache sein.
Ich kann nur sagen: Typisch SPD; sie verspricht den Frauen den Himmel auf Erden, und dann landen sie auf dem harten Boden der Tatsachen.
- Frau Mascher, damit Sie die Frage nicht stellen müssen, sage ich Ihnen, daß Ihre Kollegin Götte aus Rheinland-Pfalz in einer Broschüre selber zu den Nachteilen Ihres Modells - sie bezieht sich auf das Modell Mascher - gesagt hat:
Das Problem der Unterversorgung gerade in der traditionellen Ehe ist durch dieses Modell ebenfalls nicht gelöst.
Frau Abgeordnete, die Redezeit ist zwar fast zu Ende. Aber gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ich möchte das jetzt kurz vor Schluß gerne noch gedanklich zu Ende bringen.
Aber bitte der letzte Satz. Die Redezeit ist sowieso zu Ende.
Wer wie die SPD nur Umschichtungen statt Strukturreformen als Rezept zur Stabilisierung der Rentenversicherung propagiert, der streut den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes Sand in die Augen. Ihnen fehlen an dieser Stelle - das hat die heutige Debatte ganz deutlich gezeigt - der Mut zur Wahrheit und die Fähigkeit zur Reform.
Wir wollen den Menschen in unserem Land, den jungen Menschen und den Rentnerinnen und Rentnern, sagen, wie es weitergeht. Das tun wir mit der heutigen Reform. Diese Rentenreform der Bundesregierung bedeutet Berechenbarkeit der Zukunft.
Ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, PDS.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wissen Sie, Sie können in jeder Zeitung nachlesen, daß angeblich über die Hälfte der Mitglieder der PDS Rentnerinnen und Rentner sind. Insofern ist es völlig richtig, wenn Sie mich als Experten für Rentnerinnen und Rentner und damit auch für Renten bezeichnen.
Das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben, hängt unter anderem damit zusammen, daß diese Regierungskoalition seit Jahren eine verfehlte Politik betreibt. Es hat Sie niemand gezwungen, die Einheit über die Versicherungssysteme zu finanzieren und damit auch die gesetzliche Rentenversicherung restlos zu überfordern. Hätten Sie den Wahlkampf 1990 ehrlich geführt und gesagt, daß die Kosten durch die Allgemeinheit, das heißt über Steuern, finanziert werden müssen, dann wäre es zu dieser Situation überhaupt nicht gekommen. Dieses Eingeständnis fehlte heute wieder.
Sie diskutieren hier ständig über die Ergänzung der Rentenformel um den demographischen Faktor. Dazu zwei Bemerkungen. Wenn Sie das Rentenniveau nicht an die Bruttolohnentwicklung, sondern an die Nettolohnentwicklung koppeln, dann ist der demographische Faktor ausreichend berücksichtigt, weil von der Zahl der Beschäftigten und vielem anderen dieses Nettolohnniveau abhängt.
- Frau Babel, dann müssen wir uns noch über etwas anderes unterhalten.
Zum zweiten. Es ist zutiefst inhuman, wie hier diskutiert wird. Überlegen Sie sich doch einmal Ihre Argumente! Immer wieder sagen Sie: Die Menschen sind gesünder, sie werden älter, sie beziehen deshalb länger Rente; dem muß Rechnung getragen werden. Dann sagen Sie immer dazu: Das ist an sich ganz schön, aber für die Rentenversicherung eine Überforderung. Im Grunde genommen sagen Sie damit den Menschen doch: Sie sind zu gesund, und Sie sind zu alt; das ist das Problem, das wir irgendwie lösen wollen.
Es ist eine unerhörte, inhumane Haltung, die Sie da zum Ausdruck bringen.
Sie sagen den jüngeren Rentnern, denen, die gerade erst in Rente gegangen sind, daß sie mehr bekommen würden, wenn die älteren Rentner nicht so
alt würden. Das ist das zweite Unerträgliche an dieser Art der Argumentation.
Dann leugnen Sie auch noch, was Sie machen. Herr Bundesminister Blüm, Sie haben gerade wieder gesagt, es gebe keine Rentenkürzung. Dann erklären Sie doch einmal die Kürzung bei Berufsunfähigen, bei Erwerbsunfähigen, die Sie heute beschließen wollen. Wieso soll das keine Kürzung sein, wenn sie real sehr viel weniger bekommen als bisher?
Und wieso ist die Senkung des Rentenniveaus keine Kürzung? Auch das muß man mir einmal erklären. Denn die Kosten bleiben doch nicht gleich. Was glauben Sie, was ein Heimplatz im Jahre 2010 im Vergleich zu heute kostet? Die Nettolohnentwicklung entspricht der Kostenentwicklung. Wenn Sie dann sagen, die durchschnittliche Rente bei einer - eher illusorischen - Versicherungslaufzeit von 45 Jahren solle nicht mehr 70 Prozent des durchschnittlichen Nettolohnniveaus betragen, sondern nur noch 64 Prozent, dann ist das natürlich real eine Kürzung,
weil das nämlich heißt, daß im Vergleich zu den Kosten sehr viel weniger an Rente zur Verfügung steht.
Frau Fischer vom Bündnis 90/Die Grünen, ich will Ihnen deutlich sagen: Wenn Sie sagen, auch die Grünen sind für eine Senkung des Rentenniveaus, aber anders eingeordnet, und sie sind für eine Besteuerung der Renten, aber auch anders eingeordnet, dann verrät mir das sehr deutliche eine neoliberale Nähe.
Sie werfen der F.D.P. täglich zu Recht vor, daß sie eine Klientelpartei ist.
- Die Grünen werfen das Ihnen vor, habe ich gesagt. Das können Sie doch nicht bestreiten.
Die Grünen selbst - so lese ich in der Zeitung - gehen davon aus, daß sie nur 2 Prozent Wählerinnen und Wähler unter den Rentnern haben und daß man deshalb einen anderen Ansatz in der Rentenpolitik finden kann. Ich sage Ihnen: Auch das ist Klientelpolitik, und im übrigen werden die Wählerinnen und Wähler der Grünen mit Ihnen älter. Irgendwann werden sie Rentnerinnen und Rentner sein, und dann hätten sie das mit auszubaden.
Bei der Rentenreform der Regierungskoalition fehlt mir jeder Ansatz, um zum Beispiel endlich das Versorgungsunrecht der Ostrenten zu beseitigen. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Wenn Sie einen Arzt aus der früheren DDR mit einem Arzt aus der alten Bundesrepublik, die einen gleich langen Versicherungszeitraum hinter sich haben, miteinander vergleichen, ist das Ergebnis: Der Arzt aus der früheren
Dr. Gregor Gysi
DDR bekommt zwischen einem Drittel und der Hälfte der Rente des anderen. Das nennen wir Versorgungsunrecht, das muß überwunden werden.
Vergleichen wir zwei Ärzte aus der ehemaligen DDR. Wenn einer von ihnen bei gleicher Versicherungszeit noch im Jahre 1989 in die Bundesrepublik gegangen ist, bekommt er die volle Rente, der andere nur ein Drittel oder die Hälfte. Das können Sie im Osten niemandem erklären. Das müssen Sie einmal versuchen.
Auch die Überführungslücken haben Sie nicht beseitigt, weder für Bergleute noch für Blinde, noch für Ballettänzerinnen und Ballettänzer, noch für mitarbeitende Familienangehörige und für viele andere Gruppen.
- Die Reichsbahnerinnen und -bahner nicht zu vergessen.
Ich sage Ihnen noch etwas: Wenn man das Rentenproblem lösen will, braucht man vor allem eine andere Arbeitsmarktpolitik. Sie müssen wieder für Beschäftigung sorgen. Das ist das Entscheidende.
Man braucht eine gerechte Steuerpolitik. Auch davon sind Sie weit entfernt.
Wir haben gestern über die Ausbildung Jugendlicher diskutiert. Sie weigern sich, eine gesetzliche Bestimmung zu verabschieden, damit Jugendliche, und zwar alle Jugendliche, in Ausbildung kommen. Wer sich dem verweigert, muß sich später nicht wundern, daß die Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, keine Beiträge bezahlen und damit die gesetzliche Rentenversicherung überfordern.
Wir brauchen eine andere Berechnung der Lohnnebenkosten, nämlich nach der Wertschöpfung und nicht nach dem Bruttolohn. Wir glauben, daß auch Selbständige, besserverdienende Beamte und Bundestagsabgeordnete in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssen. Wir glauben vor allem nicht, daß man Schwierigkeiten bei der Haushaltsplanung und Ungerechtigkeiten in der Steuerpolitik zu Lasten der älteren Menschen in dieser Gesellschaft lösen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt zum letzten Redner in der Rentendebatte. Das ist der Abgeordnete Andreas Storm, CDU/CSU. Ich wäre dankbar, wenn Sie ihm zuhören könnten und vor der namentlichen Abstimmung nicht so laut wären.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute morgen war schon sehr oft von der gerechten Lastenverteilung zwischen den Generationen die Rede. Eines ist klar: Die Renten der heutigen Rentnerinnen und Rentner sind sicher, aber die entscheidende Frage ist, wie es mit den Enkelinnen und Enkeln der heutigen Rentner aussieht. Bei dieser Reform geht es also um die Enkelfrage.
Wir stehen in den nächsten Jahrzehnten vor dramatischen Veränderungen in der Altersstruktur. Diesen Fakten, meine Damen und Herren von der Opposition, können auch Sie sich nicht entziehen.
Die Fakten sind relativ einfach: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir in Deutschland zwei Jahrzehnte lang einen Babyboom, der Ende der 60er Jahre von einem Pillenknick mit einer Halbierung der Geburtenrate abgelöst wurde. Man braucht nicht viel von Statistik zu verstehen, um zu wissen, daß die ersten Kinder des Babybooms um das Jahr 2015, also in knapp 20 Jahren, in Rente gehen und die ersten der jüngeren Jahrgänge im Jahre 2035. Diese Entwicklung wird nicht nur das Bild unseres Landes dramatisch verändern, sondern es hat auch massive Auswirkungen auf die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, nicht nur der Rentenversicherung, sondern auch der Kranken- und Pflegeversicherung.
Deswegen hat das Institut der deutschen Wirtschaft im Februar die Ergebnisse von Modellrechnungen vorgelegt, die zeigen: Ohne Rentenreformen würden die Beiträge zu den Sozialversicherungen in den nächsten vier Jahrzehnten von heute 42 Prozent auf 60 Prozent oder mehr ansteigen.
Vor diesem Hintergrund ist es mehr als verständlich, wenn die junge Generation drängende Fragen stellt. Wir als die gewählten Vertreter des deutschen Volkes sind aufgerufen, auf diese Fragen eine angemessene Antwort zu geben.
Wie sieht denn nun die Antwort der Sozialdemokraten auf die drängenden Fragen der Jüngeren aus?
Da sagt Herr Dreßler: Wir müssen in großem Maßstab umfinanzieren. Der Bund muß den Rentenversicherungsträgern die Leistungen für Fremdrenten erstatten.
Die Bundesanstalt für Arbeit muß Teile der Kosten der Frühverrentung und der arbeitsmarktmäßigen Folgen von Erwerbsunfähigkeit tragen. Die Unfallversicherung muß etwas abgeben, und die Arbeitgeber sollen eine Umlage zahlen.
Herr Abgeordneter, bitte einen kleinen Moment. Ich will Ihnen etwas Ruhe verschaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie bitte Platz, oder gehen Sie in die Lobby, wenn Sie etwas zu besprechen haben. Ich bitte darum, daß wir dem Kollegen zuhören.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Auf diese Weise kann man natürlich sehr leicht den Beitrag in der Rentenversicherung senken. Aber gewonnen wäre damit überhaupt nichts; denn das, was auf der einen Seite weniger ist, wird auf der anderen Seite draufgesattelt. Das ist ein typisches Beispiel für eine Milchmädchenrechnung.
Allein eine Umfinanzierung löst die Probleme nicht. Im Gegenteil: Eine reine Umfinanzierung ohne eine strukturelle Begrenzung des Ausgabenanstiegs verschleiert nur die Probleme und wiegt uns in falscher Sicherheit.
Die Opposition sagt weiter: Wenn wir nach dem Jahr 2015 besondere Probleme haben, dann lösen wir diese eben nach dem Jahr 2015. Da bieten Sie zwei Optionen an, nämlich zum einen noch mehr Umfinanzierung aus dem Steuertopf, zum zweiten die Verlängerung die Lebensarbeitszeit. Das muß man sich einmal ganz deutlich vor Augen halten. Ihre Antwort an die junge Generation ist: Ihr könnt erstens später noch höhere Steuern zahlen, wenn ihr niedrige Beiträge haben wollt. Zweitens müßt ihr länger arbeiten.
Dies ist eine Form von Verweigerung, die die junge Generation mit Sicherheit nicht hinnehmen kann.
Deswegen ist es entscheidend, daß wir bereits jetzt, wo wir noch Zeit haben, zu reagieren, vor dem Jahr 2015 die richtigen Weichen stellen, noch in der zweiten Hälfte der 90er Jahre.
Das Herzstück der Rentenreform ist die neue Rentenformel. Die Schlüsselfrage ist: Ist es der älteren Generation zuzumuten, daß sie durch etwas geringere Rentenerhöhungen einen Beitrag zur langfristigen Stabilisierung der Rentenfinanzen leisten kann? Hierzu hat der rheinland-pfälzische Sozialminister Florian Gerster in der FAZ am 18. Juli 1997 einen wertvollen Beitrag geleistet. Er sagte nämlich:
An der Antwort auf die demographischen Herausforderungen muß sich auch die ältere Generation beteiligen. Dieser Beitrag
- jetzt hören Sie gut zu -
kann und darf ihr durchaus zugemutet werden: Die finanzielle Situation der Rentnerhaushalte hat sich in den letzten 15 Jahren deutlich verbessert.
Gersters Folgerung lautet deshalb:
Ohne eine sozial vertretbare, schrittweise Anpassung des Rentenniveaus werden wir die Rentenversicherung kaum konsolidieren können.
Der rheinland-pfälzische Sozialminister hat zumindest in diesem Punkt vollkommen recht. Schließen Sie sich dieser Haltung an!
Der mit der neuen Rentenformel verbundene langsamere Anstieg der Renten stellt einen Solidarbeitrag der heutigen Rentnergeneration dazu dar, daß auch die junge Generation in 30 oder 40 Jahren noch eine Chance auf eine angemessene Altersrente hat. Vor 40 Jahren hat der Deutsche Bundestag mit der Verabschiedung der großen Rentenreform des Jahres 1957 einen Meilenstein für das international erfolgreiche Modell der deutschen Sozialversicherung gesetzt. Wir sind nunmehr an der Schwelle zum 21. Jahrhundert erneut gefordert, durch ein solches belastungsgerechtes Reformkonzept die Weichen zur langfristigen Stabilisierung der Rentenfinanzen zu stellen.
Verweigerung, Herr Dreßler, ist hier fehl am Platz. Geben Sie sich noch einmal einen Ruck. Was wir brauchen, sind Entschlossenheit und Mut. Nur wenn wir diesen Mut aufbringen, dann hat der Generationenvertrag Bestand.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zunächst zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/8722 zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 13/8011. Diese Reihenfolge ist interfraktionell vereinbart worden.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung zu dem von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung auf Drucksachen 13/8011 und 13/8671 Buchstabe a. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung und Schlußabstimmung.
Eine Erklärung zur Schlußabstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung haben die Abgeordneten
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Hartmut Koschyk, Professor Dr. Egon Jüttner, EvaMaria Kors, Reiner Krziskewitz, Kurt Rossmanith, Dr. Fritz Wittmann, Erika Steinbach, Angelika Pfeiffer und Rudolf Meinl zu Protokoll gegeben.*)
Zur dritten Beratung und Schlußabstimmung verlangt die SPD namentliche Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Das scheint der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben. **)
Wir setzen jetzt die Beratungen mit weiteren Abstimmungen fort. Zu diesem Zweck müssen sich die Mitglieder des Hauses bitte setzen und den Innenraum räumen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zum Antrag der Fraktion der SPD zur Strukturreform in der Alterssicherung, Drucksache 13/8671 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 8032 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von SPD und PDS angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Neuverhandlung des Generationenvertrages, Drucksache 13/8671 Buchstabe c. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/8036 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und der PDS gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Stabilisierung der Rentenversicherung, Drucksache 13/8671 Buchstabe d. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/8044 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur eigenständigen Alterssicherung von Frauen, Drucksache 13/8671 Buchstabe e. Der Ausschuß
*) Anlage 3
**) Seite 17891 C
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4684 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen; Mehrheitsverhältnisse wie zuvor.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Entschließungsantrag der SPD zum Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, Drucksache 13/8671 Buchstabe f. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/6109 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 13/8704 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Darüber hinaus soll der Gesetzentwurf zur Mitberatung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie zur Mitberatung und nach § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS zum Stopp der Rückforderungen von Sozialzuschlägen. Das ist die Drucksache 13/2644. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/274 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen von Bündnis 90/ Die Grünen und SPD gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) - Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 26. Juli 1995 auf Grund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts
- Drucksache 13/7391 -
- Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 24. Juli 1996 auf Grund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union betreffend die Auslegung des Übereinkommens über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung
- Drucksache 13/7555 -
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/8731 - Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen Hans-Peter Kemper
Manfred Such
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/8733 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Ina Albowitz
Uta Titze-Stecher
Oswald Metzger
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Christian Sterzing, Manfred Such und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Statt Europol - Mehr Sicherheit vor Kriminalität durch Verbesserung direkter polizeilicher Zusammenarbeit unter demokratischer und rechtlicher Kontrolle
- Drucksachen 13/7490, 13/8731 - Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen Hans-Peter Kemper
Manfred Such
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir überschreiten heute die vorletzte Stufe zur Umsetzung eines Projektes, das die Staats- und Regierungschefs 1991 in Maastricht begonnen haben.
Wir leben heute in einer freizügigen Europäischen Union. Man kann von Frankfurt/Oder bis nach Lissabon fahren, ohne an den Grenzen kontrolliert zu werden. Das ist einerseits gut, und wir wollen das. Es ist nicht nur für den Wirtschafts- und Warenverkehr, sondern auch für die Bürger Europas gut. Aber andererseits profitieren von dieser Freizügigkeit, also den offenen Grenzen in Europa, auch Kriminelle, besonders die organisierte Kriminalität.
Ein positiver Aspekt kommt noch hinzu: Daß sich die Europäische Union mehr und mehr den mittel- und osteuropäischen Ländern öffnet, die in den nächsten Jahren vollständig integriert werden sollen, und daß sie versucht, eine offenere und vertrauensvollere
Beziehung zu Rußland aufzubauen, ist eine wesentliche Notwendigkeit für Frieden und Stabilität in Europa im 21. Jahrhundert. Aber dieser. Prozeß erleichtert eben auch Kriminellen aus Osteuropa und den Angehörigen asiatischer Verbrecherbanden den Zugang in die Europäische Union und damit nach Deutschland.
Die organisierte Kriminalität hat sich in den letzten Jahren in der Europäischen Union und in Deutschland mit großer Dynamik entwickelt. Wir wollen neben einem freizügigen Europa ein Europa der Bürger, in dem der Bürger sicher leben kann.
National ist das Krebsgeschwür der organisierten Kriminalität nicht ausreichend zu bekämpfen. Deshalb brauchen wir Europol. Europol soll im nächsten Sommer, am 1. Juli 1998, seine Arbeit aufnehmen. Das wird ein guter Tag für die Bürger Europas und ein schlechter Tag für die Verbrecher und Kriminellen.
Im Zusammenhang mit Europol stehen heute zwei Gesetze zur Abstimmung an, erstens das EuropolGesetz. Mit dem Europol-Übereinkommen wird Europol als eine europäische Zentralstelle für den Austausch und die zentrale Auswertung polizeilicher Erkenntnisse aufgebaut. Es geht bei Europol nicht darum, daß nationale Polizeibehörden ersetzt werden sollen oder eine europäische Polizeibehörde parallel zu nationalen Polizeibehörden ermitteln kann. Es geht vielmehr darum, daß die nationalen Polizeibehörden unterstützt und gefördert werden.
Europol werden zunächst nur Schwerpunktdeliktbereiche übertragen. Der Ministerrat kann Europol weitere schwerwiegende Kriminalitätsfragen zur Bearbeitung übertragen. Zur Unterstützung von Europol wird ein Computersystem mit zwei Hauptkomponenten eingerichtet. Erste Komponente: schneller Austausch von polizeilichen Informationen, zweite Komponente: zentrale Analyse von polizeilichen Informationen.
Weiterhin ist in dem Gesetz die Zugriffsmöglichkeit des Bundeskriminalamtes und der Landeskriminalämter auf Europol geregelt. Die Zuständigkeiten von Bundeskriminalamt und Landeskriminalämtern werden nicht verschoben. Auch wird in die Kompetenz der Landeskriminalämter in keinster Weise eingegriffen. Im Gegenteil, ihre Möglichkeiten gegenüber dem Bundeskriminalamt als Durchleitfunktion für Europol erhöhen sich.
Der internationale Austausch von persönlichen Daten geschieht über nationale Verbindungsbeamte, die die nationalen Daten unter Wahrung des nationalen Datenschutzes weitergeben. Der bundesdeutsche Datenschutz bleibt gewahrt.
Zweitens geht es um das Europol-Auslegungsprotokollgesetz. Eine besondere Bedeutung für den
Michael Stübgen
Deutschen Bundestag hat eine ausreichende Einbeziehung des Europäischen Gerichtshofes in die Arbeit von Europol zur Auslegung des Europol-Übereinkommen in Form der sogenannten Vorabentscheidungskompetenz. Weil der Bundestag solch einen besonderen Wert darauf gelegt hat, haben sich die Verabschiedung und das Inkrafttreten der Europol-Konvention um ein Jahr verzögert.
Nach langwierigen, schwierigen und strittigen Verhandlungen konnten sich die Staats- und Regierungschefs im Sommer 1996 auf folgendes Verfahren einigen. Der Europäische Gerichtshof wird im Wege eines sogenannten Opting-in-Verfahrens eingebunden, das heißt, die Mitgliedstaaten haben vier Möglichkeiten des Einstiegs in die Europol-Einbindung. Die erste und weitestgehende Variante ist die Vorlagemöglichkeit für alle Gerichte und die Vorlagepflicht für letztinstanzliche Gerichte. Immerhin haben dieser Variante Deutschland, Österreich, Belgien, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande und Portugal zugestimmt. Die zweite Variante ist die Vorlagemöglichkeit für alle Gerichte; sie gilt für Schweden, Finnland und Dänemark. Die dritte Variante ist - etwas abgeschwächt - die Vorlagemöglichkeit nur für letztinstanzliche Gerichte; sie gilt für Frankreich und Spanien. Die vierte Variante besagt, daß es zunächst keine Vorlagemöglichkeit für nationale Gerichte gibt, was Großbritannien in Anspruch genommen hat.
Zugegebenermaßen: Dieses Ergebnis des Auslegungsprotokollgesetzes ist ein typisch europäischer Kompromiß. Er ist ausreichend, aber nicht sehr gut. Aber wir sollten auch bedenken: Er ist beispielhaft für eine weitere Integration von Justiz und Innerem in die Europäische Union. Das war übrigens auch der Grund, aus dem sich Großbritannien so lange geziert hat, diesem Auslegungsprotokollgesetz zuzustimmen und diesen Kompromiß zu billigen.
Ich komme jetzt zu dem Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen.
- Ja, über den stimmen wir heute übrigens ab. Wir haben, Herr Penner, auch am Mittwoch im Ausschuß darüber befunden.
Entschuldigen Sie, daß ich das so salopp sage: Der Antrag der Grünen beginnt mit einer falschen Behauptung und endet nach einer Reihe weiterer falscher Behauptungen mit drei absurden Forderungen an die Bundesregierung. Wegen der Kürze der Zeit, die mir noch zur Verfügung steht, will ich nur zwei Dinge aufgreifen.
Erstens. Sie behaupten in Ihrem Antrag, Europol wäre nach dem verfassungsmäßigen Subsidiaritätsprinzip nicht als notwendig begründet. Nun weiß ich nicht genau, was Sie mit „verfassungsmäßigem Subsidiaritätsprinzip " meinen. Ich beziehe mich auf das Subsidiaritätsprinzip der europäischen Verträge von Maastricht. Es ist richtig und wichtig, daß die Europäische Union nach Maastricht nur tätig werden kann, wenn das Subsidiaritätsprinzip dies zuläßt.
Dann ist die Europäische Union aber auch verpflichtet, tätig zu werden.
Da sind drei Gesichtspunkte zu beachten. Der erste Gesichtspunkt ist, daß das entscheidende Problem national nicht ausreichend gelöst werden kann. Hier kann man nur sagen: Natürlich kann die Bekämpfung der organisierten Kriminalität national nicht ausreichend erfolgen. Das geben Sie in Ihrem Antrag auch selber zu.
Als zweites ist zu bedenken: Die Europäische Union muß das Problem besser lösen können. Auch hier liegt es klar auf der Hand, daß die Europäische Union es besser lösen kann, weil die organisierte Kriminalität in einem freizügigen europäischen Raum eben auch international arbeitet.
Drittens muß das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt werden. Dem wird durch die Begrenzung von Europol auf Schwerpunktdelikte und die Begrenzung der Arbeit auf die Unterstützung nationaler Polizeibehörden Rechnung getragen.
Die Behauptung, das wäre nicht subsidiär, ist schlichter Unsinn.
Zweitens. Sie kommen zu der absurden Forderung an die Bundesregierung, sie solle Europol stoppen, statt dessen die bi- und multilaterale Zusammenarbeit weiter ausbauen
und eine ausreichende parlamentarische Kontrolle verbessern. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie wollen den Kuchen essen, ohne daß er alle wird. Vielleicht sage ich mit Blick auf Ihre Partei besser: Sie wollen den Salat essen, ohne daß er alle wird. Das geht nur im Märchen, nicht in der Wirklichkeit.
Ich kann es kurz begründen: Bei bi- und multilateralen Verträgen - Beispiele: Schengener Abkommen, European Drugs Unit - hat das Europäische Parlament überhaupt keine Rechte, überhaupt keine Kontrollmöglichkeit. Die nationalen Parlamente sind bestenfalls beratend mit einbezogen, wie das ja bei Schengen - Herr Such, Sie wissen das - geschehen ist.
Wenn Ihnen wirklich am Abbau demokratischer Defizite in der Europäischen Union gelegen ist, müßten Sie Europol zustimmen; denn bei Europol als einem Acquit der Europäischen Union hat das Europäische Parlament Anhörungs- und Informationsrecht. Wir wollten mehr, konnten es zugegebenermaßen aber noch nicht durchsetzen. Der Deutsche Bundestag hat in diesen Angelegenheiten über Art. 23 des Grundgesetzes direkten Einfluß auf die Bundesregierung.
Michael Stübgen
Ich weiß nicht, wem Sie mit Ihrer Position in Ihrem Antrag zu helfen glauben. Eines ist sonnenklar: Würden wir als Bundestag Ihrem Antrag zustimmen und die Bundesregierung Ihrer Linie folgen, dann könnten sich alle Verbrecher Europas freuen.
Ich komme in zwei Sätzen noch kurz zum Immunitätenprotokollgesetz. Es liegt heute zwar nicht zur Abstimmung vor, aber ich gehe, da es auch Gegenstand der Europol-Konvention ist, davon aus, daß es von meinen Kollegen angesprochen wird. Ich halte das Immunitätenprotokoll so, wie es uns jetzt vorliegt, nicht nur für unschädlich, sondern auch für notwendig. Warum?
Erstens. Alle internationalen Organisationen haben normalerweise Immunität für ihre Mitarbeiter
- das war bisher in Deutschland völlig unstrittig -, und zwar zum Schutz der Arbeitsfähigkeit der Organisation. Ms Beispiel nenne ich den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Dessen Vertreter und sogar die Anklagebehörde, die exekutive Aufgaben in den Mitgliedsländern durchführen darf, haben volle Immunität. An diejenigen, die besondere Schwierigkeiten mit dem Immunitätenprotokoll haben: Dieser Regelung hat der Deutsche Bundestag 1995 mit allen Fraktionen zugestimmt.
Herr Kollege, achten Sie bitte zwischendurch auf die Zeit.
Nur noch einen Satz. Zum zweiten ist die Immunität für Europol-Beamte eng begrenzt und sehr schwach. Sie kann aufgehoben werden und ist im Prinzip nur ein Vorbehalt. Ich glaube, es ist allerhöchste Zeit, effizienter gegen Verbrecher und Gangster in Europa vorzugehen. Wir sollten den Weg freimachen für den Beginn von Europol im Juli 1998. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, komme ich auf den Tagesordnungspunkt 11 a zurück und gebe Ihnen das Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung auf den Drucksachen 13/8011 und 13/8671 Buchstabe a bekannt.
Abgegebene Stimmen: 593. Mit Ja haben gestimmt: 313. Mit Nein haben gestimmt: 280. Enthaltungen: Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 592; davon:
ja: 313
nein: 279
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Dr. Maria Böhmer Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig
Rudolf Braun
Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler Hartmut Büttner
Dankward Buwitt
Manfred Carstens Peter Harry Carstensen
Wolfgang Dehnel Hubert Deittert
Gertrud Dempwolf Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke
Ulf Fink
Dirk Fischer
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Michael Glos
Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner Peter Götz
Joachim Gres
Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise
Detlef Helling
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken
Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Peter Jacoby
Susanne Jaffke
Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr.-Ing. Rainer Jork Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Dr. Bernd Klaußner Ulrich Klinkert
Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid Arnulf Kriedner
Dr.-Ing. Paul Krüger Reiner Krziskewitz Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Johannes Lamp Armin Laschet
Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld
Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus
Editha Limbach Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven
Sigrun Löwisch
Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte
Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost
Eduard Oswald Norbert Otto Dr. Gerhard Päselt Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold
Anton Pfeifer
Dr. Gero Pfennig
Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp
Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff
Dr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber Peter Harald Rauen
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Hans-Peter Repnik Roland Richter
Roland Richwien Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer
Hannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith Adolf Roth Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze
Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer
Marion Seib
Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann Gottfried Tröger Gunnar Uldall Wolfgang Vogt
Dr. Horst Waffenschmidt
Dr. Theodor Waigel
Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann
Dr. Fritz Wittmann Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller
F.D.P.
Ina Albowitz
Dr. Gisela Babel
Hildebrecht Braun
Günther Bredehorn Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann Gisela Frick
Paul K. Friedhoff Horst Friedrich
Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Dr. Burkhard Hirsch Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Detlef Kleinert Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Sabine LeutheusserSchnarrenberger Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting
Dr. Rainer Ortleb Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt Dr. Klaus Röhl
Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Klaus Barthel
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Anni Brandt-Elsweier Tilo Braune
Dr. Eberhard Brecht Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury
Hans Büttner Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen
Rudolf Dreßler Freimut Duve
Ludwig Eich
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger Annette Faße
Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Dagmar Freitag Anke Fuchs Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Günter Graf Angelika Graf (Rosenheim) Dieter Grasedieck
Karl Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach Dr. Liesel Hartenstein
Klaus Hasenfratz
Dr. Ingomar Hauchler
Dieter Heistermann Reinhold Hemker Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Uwe Hiksch
Reinhold Hiller Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann Wolfgang ilte
Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger
Jann-Peter Janssen Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung Sabine Kaspereit Susanne Kastner
Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose
Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Eckart Kuhlwein
Helga Kühn-Mengel Konrad Kunick
Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Brigitte Lange
Detlev von Larcher Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß Winfried Mante
Ulrike Mascher
Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Ulrike Mehl
Herbert Meißner
Angelika Mertens Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Günter Oesinghaus Leyla Onur
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth Dr. Winfried Penner Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Rudolf Purps
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Otto Reschke
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter Günter Rixe
Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Schily
Günter Schluckebier Horst Schmidbauer
Ulla Schmidt Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz (Köln) Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz Ernst Schwanhold
Bodo Seidenthal Lisa Seuster
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler
Dr. Peter Struck Joachim Tappe
Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes
Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen Ute Vogt Hans Georg Wagner Hans Wallow
Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen Jochen Welt
Hildegard Wester Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier Helmut Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Heidi Wright
Dr. Christoph Zöpel
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann Elisabeth Altmann
Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Angelika Beer
Matthias Berninger Annelie Buntenbach Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Andrea Fischer Joseph Fischer (Frankfurt) Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Antje Hermenau Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Dr. Angelika Köster-Loßack Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger Kerstin Müller Winfried Nachtwei
Egbert Nitsch Cern Özdemir
Gerd Poppe
Simone Probst
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk Albert Schmidt Ursula Schönberger Werner Schulz (Berlin) Marina Steindor
Christian Sterzing
Manfred Such
Dr. Antje Vollmer
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm Margareta Wolf (Frankfurt)
PDS
Wolfgang Bierstedt
Petra Bläss
Eva Bulling-Schröter Dr. Ludwig Elm
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Ruth Fuchs
Andrea Gysi
Dr. Gregor Gysi Hanns-Peter Hartmann Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Köhne
Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth Manfred Müller Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Klaus-Jürgen Warnick Dr. Winfried Wolf Gerhard Zwerenz
Fraktionslos
Kurt Neumann
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete(r)
Antretter, Robert, SPD
Dr. Blank, Joseph-Theodor,
CDU/CSU
Graf von Einsiedel, Heinrich,
PDS
Fischer , Leni,
CDU/CSU
Francke , Klaus,
CDU/CSU
Dr. Götzer, Wolfgang,
CDU/CSU Ibrügger, Lothar, SPD
Dr. Jobst, Dionys, CDU/CSU Dr.- Ing. Kansy, Dietmar, CDU/CSU
Meckel, Markus, SPD
Opel, Manfred, SPD
Dr. Paziorek, Peter,
CDU/CSU Schloten, Dieter, SPD
Schulte , Brigitte, SPD
Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter,
CDU/CSU
Voigt , Karsten D.,
SPD
Dr. Wieczorek, Norbert, SPD Zapf, Uta, SPD
Zierer, Benno, CDU/CSU Zumkley, Peter, SPD
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Rudolf Körper, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon bei der ersten Lesung hatte ich Gelegenheit, darauf hinzuweisen, wie lange schon an dem Projekt Europol gearbeitet wird. Damals lag der Beschluß des Europäischen Rates mehr als fünf Jahre zurück, die Unterzeichnung des Übereinkommens fast zwei Jahre, die des Auslegungsprotokolls fast ein Jahr. Ich hatte seinerzeit durchaus Verständnis dafür geäußert, daß in Brüssel nicht alles auf einmal erledigt wird - auch vor dem Hintergrund des Schnekkentempos beim Bundeskriminalamtgesetz.
Was mich jetzt aber doch erstaunt, ist die Art und Weise, mit der die Vertragsgesetze zum EuropolÜbereinkommen und zum Europol-Auslegungsprotokoll durch das Plenum gebracht werden sollen,
Fritz Rudolf Körper
obwohl Europol seine Arbeit erst aufnehmen kann, wenn alle dafür grundlegenden Rechtsakte in Kraft getreten sind. Konkret bedeutet dies - darüber gibt es überhaupt keinen Streit -: Solange unter anderem das Immunitätenprotokoll noch nicht in Kraft ist, geht es sowieso mit Europol nicht los.
Dieses Protokoll steht zwar schon im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft; aber Gegenstand unserer Beratungen ist es noch nicht und sollte es ursprünglich auch gar nicht werden, weil es die Bundesregierung per Rechtsverordnung in Kraft setzen wollte. Inzwischen hat man gemerkt, daß eine Regelung, die die Gemüter dermaßen bewegt, nicht an der Volksvertretung vorbeilaufen sollte und kann.
Dann wäre es freilich konsequent, nach gründlicher Beratung des Ratifikationsgesetzes zum Immunitätenprotokoll alles in einem Aufwasch zu verabschieden. Statt dessen soll uns heute eine Zustimmung zu dem Übereinkommen und dem Auslegungsprotokoll abgenötigt werden. Damit kann die Koalition - mit vielleicht verteilten Rollen - den Polizeifreunden einerseits und den Rechtsstaatsfreunden andererseits eine Freude bereiten. Denn der Schwur wird auf das nächste Mal verschoben, und zwar auf den Zeitpunkt - mir ist dazu eine schöne Formulierung eingefallen -, wenn das Gras so hoch gewachsen ist, daß man den Hirsch darin nicht mehr sieht.
Für diese Art von symbolischer Politik habe ich nun überhaupt nichts übrig. Wir wollen Europol, aber nicht als Symbol, sondern als Mittel der Kriminalitätsbekämpfung auf europäischer Ebene. Da hat es keinen Zweck, Probleme zu leugnen. Die müssen gründlich diskutiert werden, was ja auch die Chance beinhaltet, Bedenken auszuräumen, die darauf beruhen, daß Regelungen kompliziert und auch von Abgeordneten nicht per Handauflegen zu verstehen sind.
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß im Rechtsausschuß am Mittwoch dieser Woche hinsichtlich § 8 des Europol-Gesetzes verfassungsrechtliche Bedenken geäußert wurden.
Ich habe jedenfalls den Eindruck, daß zum Thema Immunität noch erheblicher Aufklärungsbedarf besteht. Man wird sich einmal anschauen müssen, wie denn die Immunitätenregelungen für andere internationale und europäische Einrichtungen aussehen und wie man dies in Beziehung setzen kann zu den Aufgaben und Befugnissen dieser Behörden. Dann erst kann man beurteilen, ob das Immunitätenprotokoll für Europol im gegenwärtigen Stadium angemessen ist.
Solange hier keine Klärung erfolgt ist, bleibt doch die Neigung stark, von allem erst einmal die Finger zu lassen. Ich jedenfalls beschließe ungern über die
Anschaffung eines Gerätes, ohne zu wissen, ob es am Ende auch sicher betrieben werden kann.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich bei der heutigen Abstimmung wegen des merkwürdigen Verfahrens der Stimme enthalten. Wir haben verabredungsgemäß eine Anhörung zum Themenkomplex Immunitätenprotokoll beantragt. Diese Anhörung wird auch durchgeführt.
Das berührt unsere grundsätzliche Befürwortung von Europol im übrigen gar nicht. Das unterscheidet uns von anderen. Nur, wir wollen sicher sein, daß alle in diesem Zusammenhang getroffenen Regelungen rechtsstaatlichen Anforderungen genügen.
Wir sind nämlich nach wie vor der Auffassung, daß eine Notwendigkeit für Europol besteht. Der hohe Anteil internationaler Tatbegehungen der registrierten organisierten Kriminalität in Deutschland gebietet geradezu, auch die Bekämpfung europäisch zu vernetzen. Die Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen Staaten in geeigneter Form muß dabei im übrigen auch noch bedacht werden.
Eine sinnvolle Arbeitsteilung mit Interpol ist schließlich erforderlich. Die einfache Überlegung, die es ja hier und da auch gibt, auf Europol zugunsten von Interpol zu verzichten, überzeugt nicht, weil im Kreis der Mitgliedstaaten ein höheres Maß an Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit erreicht werden kann als in einem weltweiten Verbund.
Daß wir es vorziehen würden, wenn Europol einem Mitglied der Kommission unterstünde, das dem Europäischen Parlament verantwortlich ist, hatte ich schon bei der ersten Lesung bemerkt. Europol aber daran scheitern zu lassen hielte ich nicht für verantwortungsvoll.
Im übrigen würden auch wir es natürlich begrüßen, wenn in diesem Zusammenhang dem Europäischen Gerichtshof bzw. dem Europäischen Gericht erster Instanz die Befugnisse eingeräumt werden könnten, die ihnen im Rahmen des EG-Vertrages zustehen, also die Entscheidung zum Beispiel über Klagen von Bürgern gegen Handlungen europäischer Organe oder auch Schadensersatzanforderungen. Nach dem Übereinkommen sind dafür aber die nationalen Gerichte zuständig. Die sollen zwar in fast allen Mitgliedstaaten die Befugnis erhalten, in Zweifelsfragen den Europäischen Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung anzurufen, aber nur in einigen Staaten besteht dazu die Verpflichtung.
Dieses Problem ist durch Art. 2 des Europol-Auslegungsprotokollgesetzes zwar zufriedenstellend für Deutschland gelöst, aber nicht für jeden Deutschen; denn wenn der Schadensfall im Ausland eintritt, sind gemäß Art. 38 Abs. 1 des Europolübereinkommens eben die Gerichte dieses Staates zuständig.
Ich räume allerdings auch freimütig ein, daß bei den seinerzeitigen Verhandlungen über die Rolle der europäischen Gerichtsbarkeit wohl nicht viel mehr herauszuholen war, zumal angesichts der Haltung
Fritz Rudolf Körper
der damaligen konservativen Regierung Großbritanniens.
Die Bundesregierung möchte ich auffordern, beharrlich das Ziel zu verfolgen, der europäischen Gerichtsbarkeit die ihr gebührende Rolle auch bei Europol noch zu verschaffen; denn aus der Sicht des Bürgers kann es doch keinen Unterschied machen, ob er etwa mit der EG-Kommission streitet oder mit einer Einrichtung im Rahmen der europäischen Regierungszusammenarbeit.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz und knapp zusammenfassen: Wir wollen mit Europol die Kriminalität bekämpfen, aber auch die Bürgerrechte wahren.
Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Such, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind im eigenen Land nicht mehr sicher, grenzüberschreitende organisierte Kriminalität bedroht die Sicherheit der europäischen Staaten. - So oder ähnlich argumentieren die Befürworter in der Europäischen Union, und in der CDU/CSU und auch, wie wir gerade gehört haben, in der SPD.
Aber unter dem Namen Europol soll ein zentrales europäisches Kriminalamt mit umfassenden Befugnissen, jedoch ohne wirksame Kontrollinstanz geschaffen werden. Bündnis 90/Die Grünen bejaht die europaweite Zusammenarbeit der Polizeien, um auch grenzüberschreitenden organisierten Straftätern begegnen zu können.
Das internationale Verbrechen macht aber nicht an den Grenzen zu Europa halt. Insofern brauchen wir eine Institution, die darüber hinausgehend wirken kann. Eine solche Organisation und Kooperation muß demokratisch legitimiert und kontrolliert sein.
Das ist bei Europol, so wie es jetzt geplant ist, ausgeschlossen. Europol ist ein bürokratischer Popanz. Den Bürgerinnen und Bürgern bringt Europol keine Sicherheit vor Kriminalität, und wenn der Kanzler das ebenso verspricht, wie er dereinst blühende Landschaften versprochen hat, bestimmt nicht.
Was Europol bewirken soll, wird bereits durch bestehende Strukturen gewährleistet. Internationale Fahndungen werden über Interpol abgewickelt. Die meisten EU-Staaten arbeiten außerdem mit dem Schengener Informationssystem, in das Fahndungsmeldungen von Personen und Sachen eingespeist werden. Die restlichen Staaten werden folgen, da das Schengener Informationssystem demnächst in die EU integriert werden soll.
Für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger ist Europol nutzlos. Sie können sich weder gegen Europolmaßnahmen wehren, noch haben sie die Möglichkeit, sich an den Europäischen Gerichtshof zu wenden, da er nicht einmal in allen EU-Staaten zuständig ist.
Sinnvoller wäre es, meine Damen und Herren, die hohen Kosten für Europol für die Bekämpfung der Ursachen der Kriminalität und für den Ausbau der vorhandenen leistungsfähigen Strukturen zu investieren, also in die Länderpolizeien und in den Bereich von Interpol.
Europol, das bedeutet schrankenlosen Datenaustausch. Europol soll erstmals auch personenbezogene Daten in einer zentralen Datenbank verarbeiten dürfen. Nicht nur Straftäter, sondern auch potentielle Zeugen, Opfer oder Kontakt- und Begleitpersonen von Verdächtigen sollen mit Hilfe von Europol in Zukunft grenzüberschreitend und bereits im Vorfeld eines Ermittlungsverfahrens überwacht werden.
Eine Vielzahl sensibler Daten, zum Beispiel über politische, rassische und sexuelle Auffälligkeiten, sollen gesammelt und weitergegeben werden, auch an Geheimdienste. Damit würde deren in Deutschland von der Verfassung vorgeschriebene Trennung von der Polizei ein weiteres Mal ausgehöhlt. Sogar die Länder, die nicht der EU angehören, zum Beispiel die Türkei, sollen zukünftig Daten in die Informationssysteme eingeben und sich daraus bedienen können. Nicht vorgesehen ist dabei eine unabhängige, wirksame juristische und Datenschutzkontrolle.
Das Europolabkommen ist ohne Mitwirkung des Europäischen Parlaments zustande gekommen - ein Schlag ins Gesicht für die Demokratie und für den demokratischen Aufbau Europas. Wenn das Schule macht, dann sehe ich schwarz für die Demokratie in Europa. Dann sieht es schlecht aus mit den demokratischen Strukturen, wenn man das fortführt, was man sich im Bereich von Europol geleistet hat.
Die nationalen Parlamente sollen das vorgestrickte Abkommen wie wir hier heute nur noch absegnen, ohne Diskussion über mögliche Gefahren, ohne zu prüfen, ob eine solche Behörde in Europa überhaupt nötig ist.
In der Planung sind Überlegungen, Europolbeamten exekutive Befugnisse zu geben, damit sie in allen EU-Staaten ermitteln und eingreifen können. Eine wesentliche Rolle spielt dabei insbesondere die Immunität von Europolbediensteten.
Wenn Sie also die Immunität - Herr Stübgen, Sie haben es gesagt - von Polizeibeamten in Europa - für eine demokratische Polizei ein unvorstellbarer Gedanke - wollen oder nicht wollen, dürfen Sie sich nicht enthalten, meine Damen und Herren von der SPD, sondern müssen es ablehnen. Von daher dürfen Sie dem Europol-Gesetz in dieser Vorlage heute nicht zustimmen. Das später zu beschließen, ist reine Augenwischerei. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie lassen sich über den Tisch ziehen, auch wenn Sie sich heute enthalten.
So wie die Beratungen zum Europol-Gesetz gelaufen sind, kann man nicht nur von demokratischen
Manfred Such
Defiziten sprechen, sondern von einer demokratischen Katastrophe. Es ist nicht zu verstehen, daß sich Parlamentarier immer wieder damit abspeisen lassen, über Dinge zu beraten, die nur in der Entwurfsfassung oder schlichtweg noch gar nicht vorliegen und immer wieder neu nachgebessert werden.
Mit Befremden muß ich zur Kenntnis nehmen, meine Damen und Herren von der SPD, wie Sie sich im Innenausschuß verhalten haben. Immer wieder haben Sie angekündigt, noch erheblichen Beratungs- und Aufklärungsbedarf zu Europol zu haben und daß Sie, solange dieser Beratungsbedarf nicht erfüllt sei, einem Gesetz nicht zustimmen würden. Das werden Sie zwar heute auch nicht, aber Sie werden sich schleichend enthalten.
Dieser Beratungsbedarf sollte durch eine Anhörung erfüllt werden. Sie haben sich aber nicht in der Lage gesehen, eine solche Anhörung rechtzeitig auf die Tagesordnung zu setzen. Sie haben durch Geschäftsordnungstricks unsere Forderungen und auch die der PDS nach einer Anhörung mit ausgehebelt.
Das Protokoll zur Immunität wird sich nur noch damit beschäftigen, wie diese ausgestaltet wird, ob es ein bißchen oder ein bißchen mehr Immunität für Polizeibedienstete geben soll. Damit würde jeder rechtsstaatliche Standard, der die Polizei in demokratischen Staaten auszeichnet, ad acta gelegt. Das ist Wildwest in Europa. Ich denke, Wildwest war noch besser; denn der Sheriff wurde zumindestens noch gewählt.
Den nationalen Regierungen soll Europol nicht direkt verantwortlich sein. Selbst der Verwaltungsrat, der mit Regierungsvertretern beschickt wird, soll keinen direkten Einfluß auf Europolaktivitäten nehmen können.
Das Europol-Gesetz darf in dieser Form nicht angenommen werden; denn dadurch würden Datenschutz, Bürgerrechte und die staatliche Gewaltenteilung, die parlamentarische und juristische Kontrolle über die Exekutive ausgehöhlt. Europol ist ein klassisch bürokratisches Rezept gegen Kriminalität und trägt nichts, aber auch wirklich nichts zur Sicherheit der Bevölkerung und schon gar nicht zur Bekämpfung der Ursachen von Kriminalität bei.
Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, was Sie im Bereich der Innen- und Rechtspolitik in den letzten Wochen und Monaten als Bild abgegeben haben, dazu kann ich nur sagen: Etwas Desolateres kann ich mir kaum noch vorstellen. Wenn man die Meinungen von Herrn Schröder und Ihre Diskussion gestern zum großen Lauschangriff hört, dann
kann man bei Ihnen keine Linie mehr in der Innen- und Rechtspolitik erkennen.
Ich denke, wenn die CDU morgen kommt und die Hexenverbrennung fordert,
dann werden Sie erst einmal protestieren. Dann werden Sie sagen: Wir müssen erst einmal eine Anhörung machen, und schließlich werden Sie noch eins draufsetzen und sagen: Hexenverbrennung, aber nur mit Folter.
Ich denke, das macht deutlich, daß Sie in der Innenpolitik keinerlei Konzepte mehr haben und daß Sie da desolat sind und über jedes Stöckchen springen, das Ihnen die CDU hinhält.
Danke, meine Damen und Herren.
Herr Such, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Catenhusen?
Ja, gerne.
- Das ist Ihre Politik, Herr Penner.
Kollege Such, wenn Sie morgen die Möglichkeit sehen, Ihre Rede noch einmal zu lesen, würden Sie nicht spätestens dann mit mir darin übereinstimmen, daß Ihre letzten Sätze, die Sie hier gesagt haben, völlig daneben waren und der Sache, über die wir heute hier verhandeln, nicht würdig sind?
Lieber Kollege, es handelte sich um ein Bild zur Verdeutlichung des Problems. Überlegen Sie doch einmal, wie die Debatte um den großen Lauschangriff losgegangen ist. Sie haben gesagt: Großer Lauschangriff ja, aber dann auch die Beweislastumkehr zur Einziehung von kriminellem Vermögen. Sie haben wieder eins draufgesattelt, was dann die CDU bzw. die F.D.P. verhindert hat, Herr Kollege.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Fortschritt macht es einem in der Tat nicht immer leicht, sich mit ihm anzufreunden, auch wenn man ihn nicht aufhalten will. Diese Grundempfindung begleitet wohl die meisten Mitglieder der F.D.P.-Fraktion bei der heutigen Ratifizierung der Europol-Konvention.
Wir wollen den Fortschritt bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität. Wir wollen den Fortschritt bei der polizeilichen Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union. Die Europäische Union ist für uns weit mehr als eine Freihandelszone. Ihre Integration schreitet voran,
insbesondere auch auf das Betreiben der Bundesrepublik Deutschland hin.
Wir bejahen grundsätzlich die Errichtung einer Behörde wie Europol, weil wir überzeugt sind, daß damit der inneren Sicherheit in Europa besser gedient ist als nur mit zwischenstaatlichen Vereinbarungen über die Zusammenarbeit der nationalen Polizeibehörden. Kurzum: Wir sehen in der Europol-Konvention einen wichtigen Beitrag für die weitere Integration der EU-Staaten.
Gleichwohl, Herr Kollege Marschewski, fällt uns die Zustimmung zum Ratifizierungsgesetz nicht leicht.
Als Liberale stellen wir an uns selbst den Anspruch, konservativ im besten Sinne des Wortes zu sein, wenn es um die Bewahrung rechtsstaatlicher Prinzipien geht. Neuerungen messen wir deshalb daran, ob sie der bewährten rechtsstaatlichen Tradition der Bundesrepublik Deutschland entsprechen.
Wenn Regelungen auf europäischer Ebene mit 14 Partnerstaaten auszuhandeln sind, kann man freilich nicht erwarten, daß man dabei stets zu Ergebnissen gelangt, die unseren Wunschvorstellungen entsprechen. Dies gilt auch für die Europol-Konvention.
Meine Damen und Herren, reden wir nicht um den heißen Brei herum! Ein Entwurf für ein einheitliches deutsches Polizeigesetz sähe in einigen Punkten ganz anders aus als das, was mit der Europol-Konvention auf europäischer Ebene erreichbar war.
Dies gilt nicht nur für die allseits zu Recht kritisierte Immunitätenregelung, über die im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Immunitätenprotokolls gesondert zu reden sein wird.
Vielmehr sind die Kontrollmechanismen in der Konvention insgesamt nicht befriedigend ausgestaltet.
Es gibt keinen direkten Zugang für Betroffene zum Europäischen Gerichtshof. Die gemeinsame Kontrollinstanz trifft im Bereich der Datenverarbeitung rechtskräftige Entscheidungen, obwohl es sich nur um eine Verwaltungsbehörde und nicht um ein Gericht handelt.
Die Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft, ein rechtsstaatlicher Eckpfeiler im deutschen Strafverfahrensrecht, bezieht sich nicht unmittelbar auf Europol.
Dies sind einige der wichtigsten Kritikpunkte. Sie mögen alle relativierbar sein. So muß der Europäische Gerichtshof von den nationalen Gerichten doch noch in einem Zwischenverfahren eingeschaltet werden. Der Ausschuß der gemeinsamen Kontrollinstanz entscheidet unabhängig in einem gerichtsförmigen Verfahren, also einem Gericht angenähert, was für eine etwaige Beurteilung durch das Bundesverfassungsgericht unter dem Aspekt der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG von Bedeutung sein wird. Die Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft schließlich bleibt für die nationalen Ermittlungsverfahren selbstverständlich erhalten. Europol führt ja derzeit keine eigenständigen Ermittlungen. Schließlich dürften die Fälle, bei denen die Immunitätenregelung im Ergebnis zur Straflosigkeit von EuropolBediensteten führen könnte, doch eher akademischer Natur sein.
Dennoch ist es notwendig, daß der Deutsche Bundestag die Kritikpunkte in dieser Debatte deutlich benennt. Dies wird die Position der Bundesregierung bei künftigen Verhandlungen nämlich nicht etwa schwächen. Vielmehr wird eine entsprechende Meinungsäußerung des Plenums des Deutschen Bundestages diese Position stärken, wenn es darum geht, künftig Veränderungen im Sinne unserer rechtsstaatlichen Tradition durchzusetzen. Solche Veränderungen sind hinsichtlich des Textes der Konvention derzeit nicht erreichbar. Wir erwarten aber hinsichtlich des Immunitätenprotokolls von der Bundesregierung Nachverhandlungen bis zur Behandlung dieses Protokolls hier im Hohen Hause.
Wichtig für die heutige Entscheidung ist aus unserer Sicht, daß es sich bei der Konvention um einen Zwischenschritt handelt. Sobald Europol zusätzliche Befugnisse erhält - seien es operative oder exekutive Befugnisse -, muß entweder eine neue Europol-Konvention, eine Europol-Konvention II, vereinbart werden, oder aber es muß die jetzt vorliegende Konvention verändert werden. Wir halten es daher insbesondere für verdienstvoll, daß der Bundesjustizminister im Immunitätenprotokoll, für das Ähnliches gilt, eine ausdrückliche Revisionsklausel durchgesetzt hat.
Somit komme ich für die F.D.P.-Bundestagsfraktion zu folgendem Fazit: Europol ist von uns gewollt. Die Konvention begegnet in manchen Punkten beachtlicher Kritik. Diese Konvention wird aber ohnehin nur für eine Übergangszeit Bestand haben. Wir vertrauen darauf, daß die im Bundestag heute hier von vielen klar formulierte Kritik hilfreich dafür sein wird, künftig Veränderungen an der Konvention mit den Part-
Dr. Max Stadler
nerstaaten zu vereinbaren. Schließlich ist die praktische Auswirkung mancher kritikwürdiger Bestimmungen beim derzeitigen Stand der Befugnisse von Europol wohl eher gering.
Unter Abwägung all dieser Aspekte hat sich für die F.D.P.-Fraktion eine Frage als die entscheidende herauskristallisiert: Soll bei dieser von mir skizzierten Sachlage die Konvention wirklich allein an der Bundesrepublik Deutschland scheitern? Wir meinen, daß dies europapolitisch ein falsches Signal wäre. Deshalb geben wir der europäischen Raison den Vorrang vor unseren Bedenken. Wir empfehlen Zustimmung, auch wenn wir uns in diesem Fall schwertun mit dem Fortschritt.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Stadler, ich habe noch im Ohr, wie Sie erst vor wenigen Tagen der Öffentlichkeit erklärt haben, daß diese Konvention unzumutbar und untragbar sei. Der Bundestag sei dadurch in eine unerträgliche Zwangslage gebracht worden, daß ihm eine hochproblematische Konvention nach dem Motto „Vogel, friß oder stirb" vorgelegt worden sei und er zu ihr eigentlich nur ja oder nein sagen könne. Sie haben sich ganz offensichtlich heute für ein klares Ja entschieden.
Ihre Kritik teile ich allerdings. Ich finde sie sehr richtig. Nur kann ich Ihre Schlußfolgerungen, Herr Stadler, überhaupt nicht nachvollziehen, vor allem dann nicht, wenn Sie sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland bei der Bekämpfung der europäischen Kriminalität voranschreiten muß. Sie wissen genausogut wie ich, daß überhaupt erst jetzt Großbritannien diese Konvention ratifiziert hat, daß erst in der vergangenen Woche das Parlament in den Niederlanden beschlossen hat, diese Konvention vor Weihnachten auf keinen Fall zu ratifizieren, weil es noch entsprechende Fragen, Unklarheiten und Differenzen gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich meine, daß diese Woche eine schlechte Woche ist. Ich denke daran, daß gestern der Einstieg in den großen Lauschangriff beschlossen worden ist und daß heute das Europol-Gesetz durchgezogen werden soll. Gerade Europol läßt gerechtfertigt erscheinen, wenn ich sage, daß es sich dabei um „Leistungen" handelt, wie ich sie selten in diesem Parlament erlebt habe.
Mit der Europol-Konvention werden sich weitreichende Folgen in bezug auf den Abbau der Rechte der Bürgerinnen und Bürger ergeben. Ähnliches gilt für den Föderalismus und die Gewaltenteilung. Nicht nur, daß bei Europol sensibelste Daten gespeichert werden können - beispielsweise über das Sexualleben, über die politischen Anschauungen von Menschen, aber auch über die sogenannte rassische Herkunft -, nein, die Europol-Konvention legt fest, daß
es zu einer systematischen Vermischung von Polizei- und Geheimdienstarbeit kommen wird.
Die künftigen Eurocops werden weder von einer Staatsanwaltschaft noch von einem Gericht - das ist hier von Herrn Such und Herrn Stadler schon kritisiert worden -, schon gar nicht vom Parlament kontrollierbar sein. Europol wird - wie es im Moment aussieht - allein sich selber rechenschaftspflichtig sein. Ich frage mich wirklich, was das für ein Verständnis von einem Rechtsstaat ist.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wer wie Sie den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder sagt, daß Sie bei der europäischen Innen- und Justizpolitik nichts, aber auch gar nichts zu melden haben, der trägt erheblich zur Europa- und Politikmüdigkeit bei.
Ein paar Sätze zu dem Verfahren, wie die EuropolKonvention durch die Gremien des Deutschen Bundestages gedroschen werden sollte. Herr Kollege Körper, ich frage mich, ob wir im Ausschuß zu unterschiedlichen Terminen anwesend waren. Bei dem, was Sie hier dargestellt haben, kamen mir fast die Tränen.
Der Kollege Such hat vollkommen recht, wenn er kritisiert - im übrigen hätte Herr Stadler es genauso verhindern können -, daß hier ein Gesetz durchgepeitscht wird, dessen Durchführungsbestimmungen
bis heute nicht vorliegen. Das halte ich für einen Skandal.
Ich stehe mit dieser Kritik überhaupt nicht alleine da. Zum Beispiel sagt der Generalbundesanwalt Nehm dazu: Die komplett fehlende staatsanwaltschaftliche Kontrolle ist so nicht hinnehmbar. Auch der Deutsche Richterbund klagt die richterliche Kontrolle ein. Die Datenschützerkonferenz hat die Datensammelwut hinlänglich kritisiert.
Zudem ist festzuhalten, daß dem Bundestag bis heute keine Durchführungsverordnungen - da geht es mir nicht nur um das Immunitätenprotokoll, sondern generell um die Europol-Konvention - vorliegen.
Meine Damen und Herren von der SPD, ich möchte noch erwähnen, daß es kein Geheimnis ist, daß bei den Abgeordneten des Europäischen Ausschusses, aber auch des Rechtsausschusses und des Innenausschusses hinter vorgehaltener Hand wahltaktische Argumente eine Rolle spielen. Nicht selten haben mir Kollegen gesagt: Wir können es uns gegenwärtig nicht leisten, als die Blockierer in Sachen Kriminalitätsbekämpfung mit Europol dazustehen. Das ist im übrigen auch der Grund, warum der federführende Ausschuß die Anhörung verhindert hat.
Ulla Jelpke
Herr Körper hat hier heute Kritik geübt. Ich frage mich, warum Sie nicht zugelassen haben, daß wir das in einer Anhörung ausführlich erörtern.
- Nein, es geht um die Konvention. Sie versuchen, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen, wenn Sie so tun, als ob Sie etwas zu den Ausführungsbestimmungen hören wollen. Sie haben noch nicht einmal erklärt, ob Sie das öffentlich oder intern wollen. Sie müssen ganz klar sagen: Auch die Konvention ist schwer umstritten. Dazu hätte eine Anhörung stattfinden müssen. Ich meine jedenfalls, daß sich die SPD überhaupt keinen Gefallen damit tut. Die Geister, die Voscherau und Schröder gerufen haben, die werden Sie meines Erachtens nicht mehr los.
Frau Kollegin Jelpke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Ja, klar. Gerne. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
Frau Kollegin Jelpke, wie beurteilen Sie als Mitglied des Innenausschusses die Tatsache, daß die SPD-Fraktion im Rechtsausschuß erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich § 8 des Europol-Gesetzes vorgebracht und sogar einen Antrag im mitberatenden Ausschuß gestellt hat, daß es durch das Verfahren nicht mehr möglich war, daß sich der Innenausschuß mit diesen Bedenken einer Ausschußminderheit eines mitberatenden Ausschusses befassen konnte und befassen wollte, und daß diese erheblichen Bedenken verfassungsrechtlicher Art nicht in einer Anhörung in diesem Hohen Hause geklärt werden konnten?
Herr Kollege Beck, ich teile die Ansichten, die die SPD im Rechtsausschuß zur Verfassungswidrigkeit dieser Europa-Konvention formuliert hat. Ich bedauere aber, daß eine öffentliche Anhörung nicht durchgeführt worden ist und weiß, daß es im Innenausschuß Mitglieder gibt, die genauso denken; das ist geäußert worden. Ich habe das eben schon gesagt: Es sind wahltaktische Gründe. Ich kenne beispielsweise die Presseerklärung von Ihnen, Frau Wieczorek-Zeul, und anderen Ihrer Kollegen aus dem Europa-Ausschuß, in der Sie ganz klar gesagt haben: Diese Konvention darf das Parlament gegenwärtig so nicht passieren, weil die Verfassungswidrigkeit und andere Grundrechtsfragen noch offen sind. Herr Körper, hier geht es nicht um die Ausführungsprotokolle.
Ich komme zum Schluß: Sie wissen, daß ich selten mit der Koalition oder mit Herrn Kanther übereinstimme. Aber in einem Punkt stimme ich mit ihm überein, nämlich darin, daß sich die SPD dann, wenn sie so weitermacht, bis zur Wahl 1998 als unzuverlässige Schlappschwänze profilieren wird.
Danke schön.
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, Sie haben das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin von der Vorrednerin wegen des Verhaltens der SPD-Abgeordneten im Europa-Ausschuß angesprochen worden. Ich sage hier, was ich dort als europapolitische Sprecherin, aber auch öffentlich gesagt habe: Wir sind für Europol. Wir haben uns - wie es auch heute die SPD-Bundestagsfraktion tun wird - bei der Abstimmung über die Konvention, das heißt auch beim Ratifizierungsgesetz, aus den Gründen, die hier vorhin dargestellt worden sind, der Stimme enthalten.
Wir haben ausdrücklich gesagt, daß das Immunitätenprotokoll in der jetzt vorliegenden Form rechtsstaatlichen Prinzipien nicht entspricht und infolgedessen so nicht akzeptabel ist. Es stehen rechtsstaatliche Bedenken entgegen. Insofern ist es nur logisch und konsequent, sich so zu verhalten, wie wir das heute tun, nämlich daß wir uns bei der Abstimmung über die Konvention der Stimme enthalten.
Ich muß unter europapolitischen Gesichtspunkten eines sagen: Sie werden in diesem Haus oft Gemeinsamkeiten zu diesem Punkt finden. Ich bin auch immer dafür, diese zu vertreten. Aber wer heute das Interview des Europol-Direktors Storbeck gelesen hat, wird eines merken: Es ist nicht akzeptabel, daß europäischen Polizisten, die dort tätig sind, eine Immunität und damit ein Handeln in einem gewissen rechtsfreien Raum gewährt wird. Das ist nicht akzeptabel.
Damit wären sie in einer völlig anderen Situation, als Polizisten bei uns. Wenn das so ist, muß das hier auch deutlich gesagt werden.
An die Adresse des Innenministers sage ich: Legen Sie das Ratifizierungsgesetz hier vor. Sie - das geht an die Adresse der F.D.P. - wissen ganz genau, daß die Frage sein wird, wie man sich beim Immunitätenprotokoll verhält. Ich habe erlebt, daß Sie alle Ihre Bedenken über Bord geworfen haben oder Sie sich haben überstimmen lassen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Unsere Position ist absolut klar: In der jetzt vorliegenden Form - es wird eine Anhörung stattfinden, dann kann die Bundesregierung nachverhandeln - ist das Immunitätenprotokoll nicht akzeptabel. Das müssen Sie zum Verständnis der Position der Sozialdemokraten wissen.
Formal muß ich fragen, ob Sie erwidern möchten. - Sie wollen nicht!
Jetzt hat der Bundesminister Kanther das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Damen, meine Herren! Europol ist notwendig, weil das internationale organisierte Verbrechen eine neue Dimension der Bedrohung für die Länder in Westeuropa und darüber hinaus darstellt.
Auf diese neue Dimension des organisierten Verbrechens können wir nicht die klassischen Antworten der 50er, 60er oder 70er Jahre geben. Die internationale Verbrechensorganisation zeichnet sich durch ihre Mobilität von Geld, von Menschen, von Waren und Dienstleistungen aus. Darauf können Westeuropa und die entwickelten Länder, die durch ihren Wohlstand und ihre Sozialordnung eine hohe Anziehungskraft auf Rechtsbrecher aus aller Welt ausüben, nur noch gemeinsam antworten.
Deshalb hat Europol seine Aufgaben im Bereich der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Schwerstkriminalität, angefangen vom Rauschgift als der Hauptquelle illegaler Gewinne über das Schlepper- und Menschenhandelsunwesen bis hin zum gewerblichen Kraftfahrzeugdiebstahl als einer organisierten Form der Bandenkriminalität in ganz Europa und demnächst hin zum Terrorismus, einer Geißel mehrerer europäischer Länder, die gerade uns in Deutschland viel Sorge bereitet hat.
Es ist nicht möglich, diese Situation mit den Methoden von vorgestern zu beantworten. Wir können doch nicht auf der einen Seite Sicherheit für unsere Bürger wollen und auf der anderen Seite europäische Zusammenarbeit abweisen, auch wenn sie in manchen Fragen für das klassische Handling von Polizei und Justiz noch ungewohnt sein mag. Deshalb betreibt, wie richtig bemerkt worden ist, die Bundesregierung mit großer Energie diese internationale Form der Verbrechensbekämpfung, nicht nur mit Europol.
Der Schengener Außengrenzverbund gehört in den geistigen Zusammenhang. Aber er hat natürlich überhaupt keinen Zusammenhang mit dem, was Sie uns eben beschrieben haben, Herr Such. Es geht dort um Außengrenzsicherung. Hier geht es darum, gegen Kriminalität in den Ländern der Partnerstaaten der Europäischen Union anzutreten. Deshalb macht das eine nicht das andere entbehrlich. Vielmehr brauchen wir beides.
Wir müssen erkennen, daß eine Konvention der europäischen Partnerländer nicht allein unseren deutschen Maßstäben folgt. Wir haben miteinander erlebt - ich habe auch darüber berichtet -, wie mühsam es war, im Bereich Europol in Fragen des Datenschutzes voranzukommen. Jetzt gelten unsere Maßstäbe; das waren nun einmal nicht die von allen Partnerländern; aber wir haben unsere zur Basis gemacht. Wie mühsam es war, bei Europol eine Übereinkunft in Europa zu finden, hat beispielsweise die Frage der Rechnungsprüfung gezeigt, eine Frage, über die wir hier kaum je nennenswert diskutieren mußten.
Andere Länder haben das unter dem Gesichtspunkt der Abgabe von Hoheitsrechten für wichtig gehalten, ich nie. Aber daraus ergibt sich doch, wie unterschiedlich die Betrachtungsweisen sind und daß nicht allein unsere Maßstäbe gelten.
Nun ist die Situation eindeutig: 14 Partnerländer halten die Frage der Immunität der Europolbeamten - das Immunitätenprotokoll ist hier angesprochen worden - für wichtig, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Es mag uns vielleicht die Sache miteinander ein bißchen leichter machen und den Ton etwas senken, wenn ich Ihnen sage: Für die Bundesregierung war das nicht wichtig. Die Bundesregierung hätte das so nicht gebraucht. Aber für die Bundesregierung ist wichtig, daß Europol schnellstmöglich ins Leben tritt. Vier Länder haben die Konvention bereits ratifiziert; Dänemark, Spanien, Portugal und Großbritannien sind dem Rechtsstaat doch nicht weniger geneigt als wir und haben diese Bedenken nicht. Wir müssen gelegentlich wirklich die Dimensionen richtig sehen.
Ich teile Ihre Meinung, daß wir das Ganze auch ohne dieses Immunitätenprotokoll hätten machen können, aber alle Versuche, ohne es davonzukommen, waren nicht von Erfolg gekrönt, weil alle anderen das anders sehen. Daraufhin haben wir uns darangemacht, ein Immunitätenprotokoll zustande zu bringen, das sich wahrlich durch seine Schadlosigkeit auszeichnet.
Herr Such, Sie müssen einen anderen Text haben als ich. In der Konvention, die ich Ihnen vortrage, oder in dem Immunitätenprotokoll, das ich Ihnen vortragen werde, steht all das, was Sie sagen, nicht.
- Ich weiß, Herr Penner. Ich weiß es, aber ich suche hier nicht mehr Streit, als unbedingt nötig sein wird.
Was bedeutet das Immunitätenprotokoll in der Praxis? Lassen Sie es mich bitte einmal sagen: Es gilt nicht für die Verbindungsbeamten bei Europol - das sind diejenigen, die dorthin aus Deutschland oder Dänemark entsandt werden. Für sie gilt heimisches Recht, sie sind straffähig wie alle anderen.
Das Immunitätenprotokoll gilt nur für die Europolkonvention 1995, deren Ratifizierung wir heute beschließen: Europol als Datenzentrale zur Entwicklung von Lagebildern, zur Nachzeichnung von Täterbewegungen und Täterprofilen, als gewaltige Daten-
Bundesminister Manfred Kanther
sammelstelle, in der die modernen Möglichkeiten der Datenverarbeitung gegen Verbrecher genutzt werden sollen.
In weiten Teilen ist es mit unserem BKA vergleichbar, nämlich in dessen Funktion als Zentralstelle.
- Danke sehr, Herr Penner: ohne exekutive Befugnisse.
- Ja, natürlich, Herr Hirsch. Wir sind nicht auseinander.
Wenn Europol exekutive Befugnisse zuwachsen sollten, geht das nicht mehr mit dem Immunitätenprotokoll. Das ist unstreitig. Glauben Sie mir bitte, es wäre für uns schon jetzt ohne gegangen, aber andere sehen das anders, so wie sie früher die Rechnungsprüfung anders gesehen haben.
Lassen Sie uns doch bitte in eine Handhabung hineinwachsen, aus der nichts, aber auch gar nichts an Gefahren für die Bürger entstehen wird. Denn der Europol-Bedienstete, der in der Datenzentrale tätig ist, hat nicht - wie hier durch Herrn Such suggeriert werden soll - die Beziehung zum Bürger bei der Tat. Er legt ihm keine Hand auf und ist anschließend immun, egal, wie er es gemacht hat. Das ist doch alles nicht wahr.
Wir haben viele Ausnahmen in das Immunitätenprotokoll hineingebracht, die von Bedeutung sind und unsere Mühe unterstreichen. Wofür gilt es denn eigentlich noch? Es gilt nicht für alle zivilrechtlichen Ansprüche gegen Europol-Bedienstete.
Es gilt nur für Amtshandlungen, die sie vornehmen, nicht für ihren privaten Bereich. Wer also betrunken in Den Haag mit dem Auto an den Baum fährt und Schaden anstiftet, ist dort als EuropolBeamter so strafbar wie in Deutschland.
Es gilt nicht für wesentliche Aspekte, die sich aus der Arbeit, bei Amtsdelikten ergeben könnten. Das Immunitätenprotokoll gilt nicht für den Verrat von Privatgeheimnissen, es gilt nicht für den Verrat von Dienstgeheimnissen. Sie werden - wenn es überhaupt Anwendung finden muß - erleben, daß es weitgehend eine Regelung ist, die - das senkt die Debatte doch wirklich auf ein Niveau, das mit manchen Tönen von soeben nicht vereinbar ist - Strafrechtsprobleme bei Dienstfahrten umfassen wird. Das wird der Anwendungsbereich der Immunität sein, oder man konstruiert sich weitreichende Beteiligungsdelikte jenseits der Realität.
Lassen Sie uns doch die Debatte um Gottes Willen nicht um das führen, was nicht stattfinden wird. Wir sollten sie um das führen, was eine Hilfe in der internationalen Verbrechensbekämpfung der von schwerer Kriminalität bedrohten entwickelten Länder, insbesondere in Westeuropa, sein kann.
Wir werden dieses Protokoll im weiteren Verlauf der Debatte nicht verändern können. Das glaube ich nicht. Wir werden aber dazu kommen, daß mit dem Fortschreiten des Aufbaus von Europol, den wir übereinstimmend wollen,
hin zu exekutiven Befugnissen auch dieser Bereich der persönlichen Kompetenz oder Betroffenheit der Bediensteten natürlich anders geregelt wird.
In dem Augenblick, in dem der Europol-Bedienstete als praktisch tätiger Polizist an den Bürger herankommt, wird er selbstverständlich nicht mehr immun sein. Er wird seine Position, die heute von den Partnerländern eher im diplomatischen Status betrachtet wird, stärker als Polizist mit Eingriffsbefugnissen haben. Wir haben die Zusicherung der Partner, daß sie in diesem Bereich auf unserer Seite sind.
Herr Kanther, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Penner?
Ich möchte gerne das noch zu Ende führen, Herr Präsident.
Sehen Sie, ich werbe in der Europol-Frage um Ihrer aller Zustimmung. Das ist nichts, was man parteipolitisch verhandeln könnte. Es geht um die Bekämpfung des grenzüberschreitenden schwersten Verbrechens, das alle unsere Länder, nicht nur Deutschland, vor neue Herausforderungen stellt. Dabei dürfen wir nicht im ersten Anlauf in Deutschland mit allzu kleiner Münze Bedenken zu Grundsatzfragen hochstilisieren, die man haben kann und die ich nicht wegdiskutiere. Diese Grundsatzfragen werden aber in der Praxis für niemanden eine Gefahr bedeuten.
Herr Kollege Penner.
Dieses Mikrofon funktioniert nicht; ich nehme ein anderes.
- Der kleine Lauschangriff sitzt da und hat eine große Klappe.
Herr Minister, Sie erwähnten in Ihrer Rede zweimal, vielleicht sogar dreimal, den Begriff der exekutiven Befugnisse von Europol. Ich gehe davon aus, daß aus Ihrer Sicht das weiter wünschenswert ist. Auch aus unserer Sicht ist das der Fall, soweit es die grenzüberschreitende Schwerkriminalität angeht. Europol dient gewissermaßen als korrespondierender Faktor zu dem wachsenden Wirtschafts- und Finanzraum Europas.
Nun frage ich Sie: Wie schätzen Sie denn die Bereitschaft unserer Partnerländer ein, da auch nur einen Schritt voranzukommen?
Dabei muß man einen Moment exekutive Befugnisse diskutieren. Wenn, wie gelegentlich in der Öffentlichkeit, darunter verstanden würde, daß der finnische Polizist in Neapel den dänischen Täter festnimmt, dann jedenfalls, sage ich Ihnen, wird das sehr lange dauern. Es wird eher unwahrscheinlich sein, daß dies je eintritt. Dazu würde eine außerordentliche Rechtsangleichung im gesamten Geltungsraum gehören, für die ich in überschaubarer Zeit keine Basis sehe.
- Der Fall ist deshalb wichtig, weil zum Beispiel von Herrn Abgeordneten Such argumentiert wurde: Was kommt auf den Bürger zu, der rechtlos gestellt wird, wenn ihm die „böse Polizei" begegnet? Die „böse Polizei" begegnet ihm gar nicht. Das ist doch von außerordentlich großer Bedeutung. Sie hat also nach Europol-Maßstäben gar keine Gelegenheit, „bös" zu ihm zu sein. Aber in mancher Vorstellung ist sie das immer.
Zweiter Aspekt. Wenn ich von exekutiven Befugnissen spreche, dann kann - das ist nicht die heutige Rechtslage - Europol dahin wachsen, daß es sich auf Anforderung oder bei großen Kriminalfällen selbst einbringt und direkt mitwirkt. Das könnte zum Beispiel durch Ratgebung, durch Datenangebot, durch Datenzulieferung und auftragsgemäßen Abgleich mit anderen Daten, mit der Zurückgabe von Lagebildern und daraus entwickelten Ratschlägen zusätzlich unterstützt werden. Das ist der Sektor, über den wir sprechen, wenn wir exekutive Befugnisse. eines ersten erreichbaren Stadiums behandeln.
Wann die Partner bereit sein werden, diesen Schritt weiterzugehen, kann ich jetzt nicht abschätzen. Wir in Deutschland wären es. Wenn wir uns vor 30 Jahren hätten vorstellen sollen, wohin uns die Wirtschaftsunion bringen könnte, hätten wir wahrscheinlich keine Zeitangabe machen können. So ist das Zusammenwachsen der westeuropäischen Staaten zur Sicherheitsunion auch zeitlich nicht ganz sicher voraussagbar.
Wenn der Herr Minister einverstanden ist, möchte Herr Penner noch eine zweite Frage stellen.
Ja.
Herr Minister, meine Frage diente dazu, daß Sie einmal die Gelegenheit haben, zu erklären, wie schwer es ist, eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der inneren Sicherheit in Europa herzustellen, daß alle Partner bereit sind, einen Teil der diesbezüglichen Souveränität abzugeben. Ich frage Sie, ob es aus Ihrer Sicht, der Sicht der Ressortverantwortung, nicht sinnvoll wäre, vor dem Deutschen Bundestag zu erklären, welche Schwierigkeiten dies macht und woran es liegt.
Ich danke Ihnen und nehme die Gelegenheit gerne noch einmal wahr. Es ist schwierig. Aber wenn ich Ihnen die Beispiele schildere, ist eines die drei Ministerrunden zum Thema Rechnungsprüfung. Das ist heute kein Thema mehr und abgehakt. Die Konvention liegt hier im Bundestag. Auf mehreren Ministerrunden zum Thema „Anrufung des EuGH" wurde nicht alles erreicht, aber ein brauchbarer Kompromiß gefunden. Beim Immunitätenprotokoll hatten andere Länder ganz andere Vorstellungen; durch unsere Mitwirkung ist jetzt diese erträgliche Kompromißformel zustande gekommen. Im ersten Durchgang sollte es nur eine Drogenunion geben; auf dem Gipfel von Essen wurden dank des Einsatzes des Bundeskanzlers der gewerbliche Kraftfahrzeugdiebstahl, das Schlepperunwesen und die Nuklearkriminalität einbezogen. Die Frage des Terrorismus war auf Grund ganz unterschiedlicher Probleme der verschiedensten Art in den einzelnen Ländern - ich nenne beispielhaft die ETA und den Nordirland-Konflikt - besonders schwierig; auf einmal ging es doch: Die Terrorismusbekämpfung wird hinzutreten.
Es geht schrittweise voran, Herr Kollege Penner. Mehr läßt sich zu diesem Feld nicht sagen, und es ist auch nicht jeder nächste Schritt voraussehbar. Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen werden in den Fragen der Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung in Europa immer treibend sein.
Ich danke Ihnen.
Das Wort für eine Kurzintervention hat der Kollege Dr. Hirsch.
Herr Minister Kanther, Sie haben dafür plädiert, überholte Vorstellungen über Bord zu werfen. Zu diesen gehört zweifellos die Immunität für europäische Beamte. Sie ist doch zu einer Zeit eingeführt worden, als man davon ausging, daß den europäischen Behörden internationale und völkerrechtliche Qualität zukommt. In dem Moment, wo man diesen Behörden Befugnisse gibt, die innerstaatlicher Art sind und typische Polizeibefugnisse darstellen - ob sie sammeln oder exekutieren, ist sekundär -, paßt die ganze Konstruktion der Immunität nicht mehr auf den neuen Sachverhalt. Dieser alte Zopf muß weg.
Zu den alten Zöpfen gehört allerdings nicht die parlamentarische Kontrolle der Exekutive einschließlich des Finanzgebarens, die hier nicht mehr gegeben ist. Zu den alten Zöpfen gehört nicht die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft bei polizeilichen Ermittlungen, die in diesem Bereich nicht mehr vorgesehen ist, und auch nicht die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten, die in dem ganz wichtigen Bereich der Datenverarbeitung der Exekutive übertragen
Dr. Burkhard Hirsch
wird und hier ausdrücklich ausgeschlossen ist. Schließlich gehört auch die strafrechtliche Verantwortlichkeit aller Beamten für ihre Tätigkeit nicht zu den alten Zöpfen, ob es sich nun um Polizeibeamte handelt oder nicht.
Es muß Ihnen doch eigentlich zu denken geben, wenn der vorgesehene Direktor von Europol, Herr Storbeck, in einem Interview in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung" nicht nur für die zukünftig in der Exekutive tätigen Beamten von Europol Immunität fordert, sondern auf eine entsprechende Frage auch noch sagt, das müsse bei gleichem Sachverhalt auch für deutsche Beamte gelten, wenn sie mit organisierter Kriminalität zu tun haben. Die organisierte Kriminalität ist kein Passepartout zur Beseitigung aller rechtsstaatlichen Kriterien.
Herr Kollege Hirsch, da haben Sie völlig recht, sie ist kein Passepartout. Wir sind ein freies Land; ein jeder kann in Interviews schreiben, was er will. Bekommen wird er es nicht, wenn es nach der Politik dieser Regierung geht.
Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Peter Kemper, SPD.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich etwas zu Europol sage, lassen Sie mich zunächst einige Bemerkungen zu den unqualifizierten Äußerungen des Kollegen Such in Richtung SPD machen. Herr Kollege Such, die SPD hat in Fragen der inneren Sicherheit keine Nachhilfe nötig, schon gar nicht von Leuten Ihrer Fraktion, die bis vor kurzem die Existenz organisierter Kriminalität geleugnet haben und sie bis heute kaum einräumen.
Daß Ihre Fraktion so denkt, kann ich verstehen. In ihr wimmelt es nicht gerade von Fachleuten in diesem Bereich. Daß Sie aber als Polizeibeamter und als Kollege, der über viele Jahrzehnte die gleichen Erfahrungen wie ich beim Dienst an vorderster Front gesammelt hat
und genau weiß, wie es sich mit organisiertem Verbrechen und Kriminalität in unserem Lande verhält, sich hier hinstellen und behaupten, daß es das nicht gäbe und die Bösewichter vielmehr bei der Polizei säßen und die Straftäter die Guten wären, dafür fehlt mir jegliches Gespür und jegliches Verständnis.
Zu Europol: Es besteht in diesem Haus ein breiter Konsens, daß der Zunahme der internationalen Kriminalität mit neuen Strategien und neuartigen Formen der internationalen Zusammenarbeit begegnet werden muß. Wir haben die Verträge von Maastricht in diesem Hause mit großer Mehrheit beschlossen und festgelegt, daß diese Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene durch Europol wahrgenommen werden soll.
Auch heute steht die SPD zur Einrichtung von Europol. Wir haben absolut keine Zweifel an der Notwendigkeit von Europol. Mehr noch: Wir sind ganz entschieden der Meinung, daß die Kompetenzen für Europol ausgeweitet werden müssen, daß die Wirksamkeiten, die Möglichkeiten von Europol, besser werden müssen. Wir wollen, daß Europol aus den Kinderschuhen herauskommt und zu einer wirksamen europäischen Polizeieinrichtung wird.
Europol ist die logische Konsequenz aus dem Wegfall der Grenzen, aus dem freien Personen- und Warenverkehr. Ein einheitlicher, dazu noch relativ wohlhabender Wirtschaftsraum zieht zwangsläufig das Verbrechen nach sich. Die Zielrichtung der meisten Verbrecher sind die hohen Gewinne, die in der Illegalität natürlich besonders gut zu erwirtschaften sind. Es gilt, dem internationalen Drogenhandel, dem Handel mit nuklearen und radioaktiven Stoffen, dem Schleuserunwesen, dem Menschenhandel und der Kraftfahrzeugkriminalität wirksam zu begegnen und diesen Leuten das Handwerk zu legen.
Zur Zeit wird Europol lediglich als Nachrichtensammel- und -auswertungsstelle tätig. Europol bietet Analysen, Beratungen und Hilfestellungen für die nationalen Polizeien an. Wir wollen, daß Europol mittel- und langfristig operativ tätig werden kann, mit exekutiven Befugnissen.
Es kann schlechterdings auf Dauer nicht hinnehmbar bleiben, daß für die internationalen Straftäter die nationalen Grenzen schon längst nicht mehr bestehen, aber für die nationalen Polizeien die Ermittlungen immer an der jeweiligen Staatsgrenze enden. Ich denke, hier müssen wir ansetzen, und hier brauchen wir Verbesserungen. Wir brauchen keine neuen Kriminalitätsverwaltungsstellen auf europäischer Ebene, sondern die Möglichkeit einer aktiven, grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung. Nur so kann es auch längerfristig eine Daseinsberechtigung für Europol geben.
Ich will Ihnen aber auch sagen: Wir haben deutliche Kritik anzumelden. Es gibt massive Überschneidungen zwischen Interpol und Europol sowie dem Schengener Informationssystem. In diesem Bereich, in dem es keine Vernetzungen gibt, fällt eine Menge an Doppelarbeit an, gibt es eine Menge Überschneidungen. Interpol übernimmt etwa 80 Prozent der gesamten in seinem Bereich anfallenden Tätigkeit in Europa. Es gibt also Probleme mit der Abstimmung zu Europol.
Wir haben bei der ersten Lesung dem Gesetzesvorhaben zugestimmt. Wir haben allerdings deutlich ge-
Hans-Peter Kemper
macht, daß es im Bereich des Rechtsschutzes, im Bereich des Datenschutzes, vor allen Dingen aber im Bereich der Immunität eine Menge offener Fragen gibt. Ich erinnere daran, daß mein Kollege Fritz Rudolf Körper die gleichen Bedenken geäußert hat wie der Kollege Hirsch in einer Kurzintervention und der Kollege Stadler in seinem Redebeitrag.
Von den Rednern der CDU ist das aufgegriffen worden, und die Regierung hat Nachbesserungen versprochen.
Inzwischen ist ein halbes Jahr ins Land gegangen, und nichts ist passiert. Das ist ein Kritikpunkt, und hierüber sind wir deutlich verärgert. Ich denke, das können wir so nicht durchgehen lassen.
Die Bundesregierung hat es unterlassen, diese offenen Fragen zu klären.
Sie hat die Fragen der Immunität nicht nachverhandelt und keine Verbesserungen erzielt. Sie hat damit der inneren Sicherheit und der weiteren demokratischen Entwicklung von Europol einen schlechten Dienst erwiesen. Sie hat auch in diesem Bereich gezaudert und versagt. Sie hat sich da nicht handlungsfähig gezeigt.
Angesichts der Äußerungen von Herrn Storbeck in der „Süddeutschen Zeitung" will ich noch etwas zur Immunität sagen: Es widerspricht zutiefst meiner Überzeugung, die ich von einem demokratischen Berufsbild der Polizei in 30 Jahren gewonnen habe,
daß die Polizeibeamten immun sein sollen - immun gegen Verfolgung. Denn es gehört zum Aufgabenfeld der Polizei in Bürgerrechte einzugreifen, auf welche Weise auch immer. Deswegen muß polizeiliches Handeln transparent und überprüfbar sein. Polizeibeamte müssen für nicht rechtmäßiges Einschreiten zur Rechenschaft gezogen werden können.
Das gebietet der von uns angestrebte Bürgerschutz, aber auch die Fürsorge für die Polizeibeamten selbst. Eine Immunitätsregelung birgt den Kern der Unrechtsvermutung in sich. Das ist auch der Polizei nicht zuzumuten.
Die Polizei ist auf das Vertrauen der Bürger in ihre Arbeit angewiesen. Diese Regelung schürt das Mißtrauen der Bürger gegenüber der Polizei.
Ich habe in der ersten Lesung gesagt: Wir wollen eine Kompetenzerweiterung für Europol. Wir wollen, daß die Euro-Polizisten langfristig vom Sammler zum Jäger werden. Wir wollen, daß sie mehr Aufgaben bekommen.
Wir wollen auch heute noch die Hinwendung vom Sammler zum Jäger. Aber wir wollen nicht die Hinwendung zum Wilddieb; das will ich ganz deutlich sagen. Europol muß im Endstadium dieses Prozesses zu einer rechtsstaatlich einwandfreien, europaweit ermittelnden und in ein einheitliches Rechtssystem gebetteten Einrichtung werden.
Herr Kanther, ich gebe Ihnen in vielen Punkten recht. Sie haben viele Punkte angesprochen, die auch Sie kritisieren. Die Regierung hätte die Möglichkeit gehabt, diese Erkenntnisse in der Zwischenzeit in Taten umzusetzen und Nachbesserungen zu erreichen. Das hätte uns eine Zustimmung ermöglicht.
Zur F.D.P.-Fraktion muß ich sagen, daß ich einigermaßen überrascht bin, was ihr Verhalten anbelangt. Zwei ihrer führenden Mitglieder haben kurz vor der ersten Lesung Europol noch als „Sahnehäubchen" in der Verbrechensbekämpfung bezeichnet, obwohl Europol noch in den Kinderschuhen steckte und erst jetzt anfängt, mit eingeschränkten Möglichkeiten zu arbeiten. Vor diesem Hintergrund Europol als Sahnehäubchen zu bezeichnen ist ausgemachter Blödsinn.
Konnte man diese Äußerungen noch unter der Kategorie „keine Ahnung" ablegen, so erstaunt mich das Verhalten von Fachleuten doch schon einigermaßen. Da spreche ich Sie, Herr Stadler, ganz persönlich an. Sie haben heute in Ihrer Rede deutliche Kritik geübt. Sie haben deutliche Forderungen nach Nachbesserungen erhoben. Diese Nachbesserungen sind nicht erfolgt.
Dennoch hat die F.D.P. im Innenausschuß beiden Vorlagen zugestimmt.
Sie haben zwar Ihrem Ärger in der „Süddeutschen Zeitung" Luft gemacht und gesagt, das sei ein unbefriedigender Zustand; die ganze Geschichte sei abgelaufen nach dem Motto: Vogel friß oder stirb. Da Sie aber nicht sterben wollten, haben Sie sich für das Fressen entschieden. Ich kann das gut nachvollziehen. Aber insgesamt gesehen kommt man zu der Feststellung, daß die F.D.P. umgefallen ist, Herr Stadler.
Auch das Argument, das Immunitätenprotokoll stehe heute nicht auf der Tagesordnung, verfängt nicht. Wir haben im Innenausschuß ausgiebig darüber diskutiert. Herr Stübgen hat gesagt: Wir wollen darüber getrennt diskutieren. - Wir wollen darüber aber nicht rechtstechnisch, sondern gesamtpolitisch im Zusammenhang diskutieren, denn es gibt zwischen dem Europol-Gesetz und dem Immunitätenprotokoll deutliche Querverbindungen. Deswegen wollten wir im Zusammenhang diskutieren.
Hans-Peter Kemper
Wir haben uns der Stimme enthalten und werden uns auch heute der Stimme enthalten, weil dieser Punkt nicht vernünftig geregelt ist.
- Wenn Sie keine Ahnung von der Sache haben, dann quaken Sie doch nicht dumm dazwischen!
Die Regierung hat es uns durch ihr Zaudern und die fehlenden Verbesserungen unmöglich gemacht, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich will noch einmal deutlich sagen: Wir sind im Gegensatz zu den Grünen für Europol. Die Grünen lehnen Europol ab. Herr Such hat gesagt, es gebe keine Berechtigung und keine Notwendigkeit für Europol. Das sehen wir völlig anders. Wir wollen Europol. Aber wir wollen Europol unter vernünftigen Bedingungen. Dazu gehört, daß das Immunitätenprotokoll geändert wird.
Ich sage in Richtung Koalition und Regierung: Sorgen Sie durch Nachbesserungen dafür, daß wir zustimmen können! Wenn es die entsprechenden Änderungen gibt, dann werden wir zustimmen. Ansonsten werden Sie unsere Zustimmung nicht erhalten.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Franz Peter Basten, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kemper, Herr Körper, zwei Jahre haben Sie Zeit gehabt, sich das alles zu überlegen, und Sie haben nichts getan, um einen Beitrag dazu zu leisten, daß wir diese offenen Fragen, die Sie hier beschreiben, in dieser Zeit hätten klären können.
Ich muß Ihnen sagen: Zwei Jahre sind verflossen, in denen die Europol-Arbeit keine geordnete rechtliche Grundlage hatte. Jetzt wollen Sie fünf vor zwölf ein dringliches politisches Signal aufhalten, das deutschland- und europaweit gebraucht wird, damit die Arbeit von Europol in der grenzüberschreitenden Bekämpfung schwerwiegender Kriminalität ihren Fortgang nehmen kann.
Herr Kollege Basten, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kemper?
Ich lasse im Sinne der Humanisierung der Arbeitsbedingungen des Freitagnachmittags keine Zwischenfragen zu.
Was der Kollege Such von den Grünen an die Adresse der Sozialdemokraten ausgeführt hat, will ich gar nicht kommentieren. Was er in der Sache gesagt hat, lohnt eine Kommentierung nicht. Da kann ich mit einem bedeutenden deutschen Politiker sagen: Die Karawane zieht weiter. So einfach ist das, Herr Such, mit dem, was Sie hier wirklich neben der Sache vorgetragen haben. Das war eine demokratische Katastrophe. Es lohnt sich also nicht, sich mit diesen Ausführungen auseinanderzusetzen.
Herr Kollege Körper, ich habe noch gut in Erinnerung, was Sie bei der ersten Lesung dieses Gesetzes gesagt haben. Mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten zitiere ich aus Ihrer Rede, die gute Passagen enthalten hat, wie auch das, was Sie und Herr Kemper heute gesagt haben, teilweise unsere ausdrückliche Billigung und Zustimmung findet. Damals haben Sie gesagt:
Es liegt in der Natur völkerrechtlicher Verträge, daß das Parlament das, was die Regierung ausgehandelt hat, entweder ratifiziert oder nicht; das heißt, es sagt entweder ja oder nein. Bei allen Unzulänglichkeiten, die man ansprechen muß: An der Ratifikation des Europol-Übereinkommens wird kein Weg vorbeiführen. Denn die Vernetzung der Kriminalitätsbekämpfung in Europa ist dringend erforderlich.
Soweit Ihr Zitat.
Handeln Sie doch danach! In der ersten Lesung haben Sie zugestimmt, und jetzt kommen Ihnen plötzlich Bedenken. Das sind gar nicht Ihre Bedenken, und es sind auch nicht die Bedenken des Herrn Kemper,
sondern Sie haben Anweisung, jetzt dagegen zu votieren. Die Mitglieder des Innenausschusses, die eine Vorstellung von dem haben, was an Kriminalitätsbekämpfung in Europa und in Deutschland grenzüberschreitend existiert, wären zwar bereit, hier zuzustimmen, dürfen es aber nicht. Das ist Ihr Problem, und darauf muß man in aller Deutlichkeit hinweisen.
Ein Satz noch zu dem, was von Ihnen zum Immunitätenprotokoll gesagt wird. Das Immunitätenprotokollgesetz ist vom Europol-Gesetz und vom Verfahren der Ratifizierung gelöst. Es steht gar nicht auf der Tagesordnung. Warum wollen Sie dauernd über einen Gegenstand sprechen, der gar nicht auf der Tagesordnung steht, der gesondert behandelt wird und über den man im Gesetzgebungsverfahren und in den Ausschüssen gesondert und im Detail diskutieren muß?
Franz Peter Basten
Wenn Sie die Immunität grundsätzlich ablehnen, Herr Kollege Graf, müssen Sie den Konventionstext ändern. Denn in Art. 41 des Konventionstextes steht, daß die Immunität in einem gemeinsamen Immunitätenprotokoll zu verabschieden ist. Wenn Sie keine Immunität für diese Europol-Beamten wollen, dann müssen Sie hier sagen: Wir müssen die Konvention leider Gottes noch einmal auflösen; wir müssen mit allen 14 Partnern neu verhandeln, damit die Immunität herausgenommen wird. Sie müssen wissen, worüber Sie reden, damit Sie hier vor der Öffentlichkeit, die in diesen Fragen außerordentlich interessiert ist, kein dummes Zeug erzählen. Deswegen sage ich: Daran führt kein Weg vorbei.
Darüber, wie das dann im einzelnen, auch im Protokoll, geregelt werden kann, muß noch einmal gründlich gesprochen werden. Ich glaube, daß das in erster Linie auch das Anliegen der Kollegen aus der F.D.P. war.
Zu § 8 des Europol-Gesetzes nur noch folgendes. Der Oberbedenkenträger Professor Meyer - er ist leider Gottes heute nicht hier - hat völlig abwegige Vorstellungen entwickelt, die auch in den Ausschüssen vorgetragen worden sind. Offensichtlich ist auch das Bedürfnis, fünf vor zwölf plötzlich eine Anhörung durchzuführen, auf ihn zurückzuführen.
Da ist zum Beispiel gerügt worden, daß der § 353 b StGB - Verletzung des Dienstgeheimnisses - in seiner Anwendung unter den Ermächtigungsvorbehalt des Direktors von Europol gestellt sei. Ich weise darauf hin - auch einem Rechtsprofessor erleichtert der Blick in das Gesetz die Rechtsfindung -: Auch in § 353 b StGB ist die Strafverfolgung an die Ermächtigung der vorgesetzten Behörde gebunden. Das ist eben nur nachgebildet und auf die Verhältnisse bei Europol übertragen worden.
Des weiteren ist zum Beispiel gerügt worden, daß § 201 StGB - Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes - nicht in den Katalog der entsprechenden Übertragungen der Strafverfolgungsnormen aufgenommen worden sei. § 201 StGB setzt Exekutivbefugnisse der Behörde voraus. Europol hat, so wie es jetzt in der Konvention vereinbart worden ist - über diese Konvention und ihren Inhalt reden wir, über nichts anderes -, keine Exekutivbefugnis. Das wäre ansonsten genauso, als wollte man für die Finanzbehörde Strafvorschriften konstituieren, die nur vom Gewerbeaufsichtsamt verletzt werden könnten.
Es muß davon ausgegangen werden, daß durch eine Aufgabe, die Europol so gar nicht wahrnehmen kann - beispielsweise durch Datenerhebung, durch Abhöraktivitäten -, eine Verletzung des § 201 StGB nicht erfolgen kann. Deswegen ist auch die Vorstellung, es müsse § 201 StGB mit übertragen werden, völlig abwegig.
Wenn ich das im Europa- und im Rechtsausschuß richtig verstanden habe, ging das Anhörungsbedürfnis im wesentlichen gerade auf diese Fragen zurück. Ich würde den Rechtsgelehrten bei den Sozialdemokraten empfehlen, sich ein paar einschlägige Kommentare zu diesen Fragen oder einfach nur die Rechtsvorschriften anzusehen. Dann erübrigt sich
eine Anhörung. Diese wäre nur die Verschiebung einer Sache, bei der es dringend erforderlich ist, daß sie heute hier auf den Weg gebracht wird.
Europol muß das Verbrechen in Europa wirksam bekämpfen; deswegen diese Konvention, deswegen diese Ratifizierung. Wir stimmen dem zu.
Das Wort hat die Kollegin Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will im Anschluß an das, was Innenminister Kanther hier gesagt hat, an die Historie erinnern. Natürlich war ursprünglich geplant, das Immunitätenprotokoll zusammen mit der Konvention vorzulegen und dann zu ratifizieren.
Was jetzt von Herrn Kanther gemacht wird, um zu erreichen, daß die F.D.P. mitmacht, ist der Versuch, beides voneinander zu trennen und dann in einem immer noch nicht vorliegenden Ratifizierungsgesetz zum Immunitätenprotokoll zu einem anderen Zeitpunkt die Entscheidung zu treffen, wenn - ich sage das jetzt etwas ironisch an die Adresse der F.D.P.-Kollegen - sozusagen deren Schamfrist abgelaufen ist. Dann werden sie in der Ratifizierung auch dem Immunitätenprotokoll zustimmen. Das heißt, es ist nur eine Operation, um die F.D.P. in diesen Fragen auf den Weg zu ziehen.
Jetzt möchte ich mich noch mit einem zentralen Argument auseinandersetzen, das sie, Herr Innenminister Kanther, ansprechen, weil Sie sagen - damit haben Sie auch versucht, die F.D.P. in dieser Frage auf Ihre Linie zu ziehen -: Wenn Europol einmal andere Befugnisse bekommt, wird natürlich das Immunitätenprotokoll geändert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere diejenigen, welche die europäischen Wege kennen: Das ist ein Protokoll, das in allen nationalen Parlamenten ratifiziert wird -
- oder jedenfalls verabschiedet wird bzw. eine Verordnung erlassen wird.
Eines ist jedenfalls klar: Wenn es einmal beschlossen ist, wird es auf Grund der Verfahrenswege und der damit zusammenhängenden Ratifizierung nicht mehr geändert. Das ist der zentrale Punkt. Das ist auch der Widerspruch, vor dem die F.D.P. steht.
Unsere Position ist klar: Die Konvention ist als Konvention mit allem Für und Wider und den Problemen, die genannt worden sind, das eine. Aber die Art, wie die Polizei unter solchen Bedingungen arbeitet - Stichwort: Immunitätenprotokoll; da schaue ich zum Justizminister, der diese Bedenken ursprünglich selber hatte, sie dann aber öffentlich nicht mehr geäußert hat -, ist das andere. Was deshalb zählt, ist das Ergebnis.
Ich wiederhole, was die Kollegen aus dem Innenausschuß dazu gesagt haben: In der vorliegenden
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Form kann dem Immunitätenprotokoll nicht zugestimmt werden. In dieser Sache werden wir uns hier im Deutschen Bundestag wiedersehen. Dann werden Sie feststellen können, daß die F.D.P. in diesen Fragen alle ihre Bedenken beiseite gestellt hat. Die Bundesregierung hat ja die Möglichkeit, indem sie bezüglich des Immunitätenprotokolls noch verhandelt, festzustellen, ob das nach Veränderung den rechtsstaatlichen Bedingungen entspricht oder nicht.
Das Wort hat der Bundesminister Professor Schmidt-Jortzig.
Verehrte Frau Kollegin, Sie haben mich zwar nur angeschaut, aber das ist für mich Befehl genug, mich gleichwohl zu äußern. Denn Sie haben in einem Punkt unrecht. Wann immer Europol weitere Befugnisse erhält, die nach dieser Revisionsklausel auslösen müssen, daß man auch die Immunitätenfrage neu erörtert, bedarf die Europol-Konvention entweder einer förmlichen Änderung, oder es muß eine neue Konvention geben.
Wenn wir Europol II bekommen, hat jeder Ratifikationsgesetzgeber wieder eine förmliche Mitsprache, das entweder zu verhindern oder sehenden Auges mitzumachen. Insofern ist das keine Mogelpackung, sondern eine ganz saubere Aktion.
Danke.
Ich schließe jetzt die Aussprache. Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, hat der Kollege Häfner das Wort zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle für meine Fraktion den Antrag, über das Ratifizierungsgesetz zur Europol-Konvention heute nicht zu entscheiden, sondern die Vorlage nach § 82 Abs. 3 der Geschäftsordnung an die Ausschüsse zurückzuverweisen.
Der Grund ist ganz einfach: Es haben in den Ausschüssen zu dieser Vorlage keine angemessenen Beratungen stattgefunden. Das wissen Sie ganz genau. Die Mitwirkungsrechte der Opposition in den Ausschüssen sind in nicht hinnehmbarer Weise mit Füßen getreten worden. Wir sind nicht bereit, das zu akzeptieren. Wir raten Ihnen: Auch Sie sollten dies nicht akzeptieren.
Es geht hier zwar um Europol, aber auch um noch mehr. Es geht hier um die Frage, wie ernst sich dieses Parlament nimmt. Es geht um die Frage, ob dieses Parlament mehr ist als eine Art Abnickmaschine oder eine Art nachgeschaltetes Notariat der Regierung.
Ich halte die Form, die Art und Weise, wie diese Konvention beraten worden ist, für eine Beleidigung, eine Mißachtung des Parlamentes.
Ich staune, daß hier im Hause so viele Kollegen sind, die das mit sich machen lassen.
Ich will Ihnen nur sagen: Es gibt zu Europol eine ganze Reihe erheblicher rechtlicher und verfassungsrechtlicher Fragen, die wir stellen wollen. Die Konvention sieht zum Beispiel keine wirksame organisatorische parlamentarische, gerichtliche oder datenschützerische Kontrolle vor und ist insoweit wegen der Unterschreitung der verfassungsrechtlichen Normen verfassungswidrig. Sie wissen, daß das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil gefordert hat, daß europäische Institutionen mit hoheitlichen Befugnissen durch die nationalen Parlamente oder auch ergänzend durch das Europäische Parlament demokratisch legitimiert sein müssen. Das ist hier nicht der Fall.
Es gibt eine Reihe weiterer Fragen, zum Beispiel die Immunitätenregelung.
- Ich spreche zur Geschäftsordnung. Ich begründe, warum wir erhebliche rechtliche und verfassungsrechtliche Bedenken haben, die im Ausschuß nicht erörtert werden konnten.
Die Immunitätenregelung, welch ein Irrsinn! Aus unserer Geschichte sollten wir nun wirklich gelernt haben, daß alle Staatsgewalt - die Polizei ganz besonders - Recht und Gesetz natürlich in vollem Umfang unterworfen sein muß und daß ein Polizist, wenn er eine Straftat begeht, genau wie jeder andere vor Gericht gestellt werden muß. All dies ist hier nicht der Fall.
Sie wissen, daß dies Bestandteil der Konvention ist.
Aus all diesen Gründen haben wir im Ausschuß schon vor einem halben Jahr eine Anhörung beantragt. Auch die Gruppe der PDS und die Fraktion der SPD haben dies getan. Wir haben über die Anhörung abgestimmt. Sie wissen, daß eine Anhörung dann stattfinden muß, wenn ihr 25 Prozent der Mitglieder im Ausschuß zustimmen. Diese 25 Prozent waren vorhanden. Die Anhörung ist trotzdem nicht durchgeführt worden. Als wir dann im Rechtsausschuß mit dem erforderlichen Quorum eine Anhörung verlangt und beschlossen haben, wurde uns mitgeteilt, die Anhörung könne - man höre und staune - deshalb nicht stattfinden, weil der federführende Ausschuß seine Beratungen schon abgeschlossen habe.
Ich habe dann nachgesehen. Er hat sie abgeschlossen „vorbehaltlich der Zustimmung des Rechtsausschusses". Dann wurde die Stiftung unterbrochen, die Herren trafen sich draußen auf dem Gang, und nach dieser Beratung kam der Herr Marschewski und hat uns als Obmann der CDU mitgeteilt, es sei
Gerald Häfner
für den Innenausschuß ohne Belang, was der Rechtsausschuß in dieser Frage beschließen wird.
Ich frage Sie: Wozu sind wir in diesem Parlament? Welchen Sinn hat denn die Beratung in einem Ausschuß, wenn Sie nicht einmal hören wollen, was dabei herauskommt?
Der Rechtsausschuß hat - und er hat oft diese Sensibilität bewiesen, im Unterschied zu manch anderem Ausschuß - die Aufgabe, sehr sauber die rechtliche und verfassungsrechtliche Konsequenz von Gesetzgebungsvorhaben zu prüfen.
Wir sind ein frei gewähltes Parlament, wir sind die Vertreter der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande, die von uns erwarten, daß wir die Kontrolle der Regierung und die Gesetzgebung nach bestem Wissen und Gewissen durchführen. Das geht nicht, wenn Sie verhindern, daß überhaupt beraten werden kann.
Ich lese in der Beschlußempfehlung, über die heute hier abgestimmt wird, die Beratungen seien am 1. Oktober dieses Jahres abgeschlossen worden. Ich sage Ihnen, der Rechtsausschuß hat die Beratungen erst am 8. Oktober aufgenommen und dann mitgeteilt bekommen, daß der Innenausschuß an seinem Votum kein Interesse habe.
Das darf sich dieses Haus nicht gefallen lassen! Wenn wir diesen Stil akzeptieren, dann können wir nach Hause gehen, und die Regierung kann ihre Gesetze alleine machen.
Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag, nicht nur in unserem, sondern auch in Ihrem eigenen Interesse als Mitglieder dieses Parlamentes.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Marschewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Beratung ist keineswegs eine Mißachtung dieses Parlaments. Nur: Ihre Worte, Herr Kollege Fischer, zum Kollegen Kemper, einem anständigen Kollegen, nämlich „Knüppel frei und Wasser marsch!" , sind eine Mißachtung des Kollegen Kemper. Ich bedauere, daß Sie so etwas gesagt haben.
Dieser Verweisungsantrag der Grünen ist ein Verweigerungsantrag der Grünen.
- Schreien Sie nicht so viel, hören Sie bitte zu, Sie können ein bißchen davon lernen.
Dieser Verweisungsantrag der Grünen ist ein Verweigerungsantrag der Grünen, Herr Kollege Fischer, weil Sie Europa nicht wollen und weil Sie demzufolge Europol nicht wollen, meine Damen und Herren.
Ich werbe bei den Kollegen der SPD dafür, sich das, was Herr Fischer gesagt hat, und das, was Herr Such gesagt hat, nicht zu eigen zu machen. Ich werbe um Ihre Zustimmung.
Die Gesetze selbst sind unproblematisch, sowohl das Europol-Gesetz als auch das Auslegungsprotokoll, das die Anrufung des Europäischen Gerichtshofes in einem sogenannten Opting-in-Verfahren regelt. Der Europäische Gerichtshof kann von allen Gerichten angerufen werden. Er muß angerufen werden, Herr Kollege Dr. Hirsch, bei letztinstanzlichen Gerichten.
Das Immunitätenprotokoll, das hier zur Diskussion steht, meine Damen und Herren, wird ein eigener Gesetzentwurf werden, und wir werden darüber im Innenausschuß und im Deutschen Bundestag diskutieren.
Die Beratungszeit war nicht zu kurz. Herr Kollege Basten hat recht, wir haben zwei Jahre lang und in diesem Parlament danach mindestens sechs Monate Zeit, diese Gesetzentwürfe zu diskutieren, und wir wollen als Initiatoren von Europol nicht die letzten sein, die schließlich am 31. Dezember diese Gesetze ratifizieren.
Meine Damen und Herren, wir brauchen Europol, weil wir dringend handeln wollen gegen Drogenhändler, Terroristen und Waffenhändler. Wir brauchen Europol sofort, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Catenhusen hat das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten eigentlich gedacht, wir diskutieren jetzt über eine Verfahrensfrage, nämlich über die Frage der Rücküberweisung der heute zur Entscheidung anstehenden Beratungsgegenstände an den Innenausschuß.
Wir haben zum Teil hier ganz andere Reden gehört. Ich will für die SPD-Fraktion ganz deutlich sagen: Es gibt einen gewissen Sinn, über eine Rücküberweisung ernsthaft zu reden, weil wir damit vielleicht die Chance bekommen hätten, die Diskussion über die Konvention mit der Beratung über das Immunitätenprotokoll zu verbinden, was zu verknüpfen in der Sache geboten wäre.
Die Intention der Grünen ist aber offenkundig eine ganz andere, nämlich pauschal den Beratungsgang des Innenausschuses als undemokratisch und als nicht mit den Anforderungen an einen demokrati-
Wolf-Michael Catenhusen
schen Beratungsgang im Parlament übereinstimmend zu kritisieren.
- Lassen Sie mich doch bitte ausreden!
Kolleginnen und Kollegen, ich kommentiere nicht das, was Herr Marschewski hier an Fehlleistungen produziert. Ich kann nur sagen: Niemand sollte auf die Idee kommen, ein Sozialdemokrat könne sich mit solchen Aussagen anfreunden, so nach dem Motto, der Innenausschuß kümmert sich nicht um das, was der Rechtsausschuß sagt.
Sie wußten, daß Sie nur für sich reden.
Sie kommen vielleicht auch selbst auf die Idee, daß kein Sozialdemokrat sich Ihrer Auffassung anschließen kann.
- Dann hätten Sie es ja eben richtigstellen können.
Wir legen großen Wert darauf, daß unsere Kritik an der Sache und die Anforderungen an die sachliche Verknüpfung nicht mit der Frage vermischt werden, ob ein Beratungsgang im Innenausschuß sachgerecht erfolgt ist oder nicht. Wir legen Wert auf die Feststellung, daß unser Antrag auf Durchführung einer Anhörung erfüllt wird, daß heißt, daß die Anhörung zum Immunitätenprotokoll stattfindet. Damit stimmt der pauschale Vorwurf von Herrn Häfner, daß Beratungsrechte des Parlamentes nicht durchgesetzt worden seien, offenkundig nicht.
Aus all diesen Gründen, Kolleginnen und Kollegen, sehen wir uns nicht in der Lage, in dieser konkreten Auseinandersetzung über die Geschäftsordnung, über die Frage der Rücküberweisung ungeachtet inhaltlicher Differenzen gegenüber der Koalition diesem Antrag zu folgen.
Danke schön.
Herr Dr. Stadler, bitte.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin der Meinung, der Verlauf der heutigen Debatte hat gezeigt, daß es einer Rücküberweisung nicht bedarf. Denn die Debatte hat erbracht - und zwar bei allen Rednern -, daß sich alle, die hier heute abzustimmen haben, über die rechtlichen Probleme nicht nur des Immunitätenprotokolls, sondern auch der in der Konvention angelegten sehr wohl im klaren sind.
Zu entscheiden ist die Frage, ob man sich mit einer Konvention einverstanden erklärt, die nicht in jedem einzelnen Punkt den Wunschvorstellungen entspricht - wie ich vorhin ausgeführt habe -, um das Projekt Europol auf den Weg zu bringen und nicht zu verzögern. Oder man hält die rechtlichen Bedenken, die hier formuliert worden sind, für so durchgreifend, daß man als Bundesrepublik Deutschland - als einziger Staat von 15 in der Europäischen Union - die gesamte Konvention aufhält. Das ist zu entscheiden. Dessen sind sich alle bewußt.
Die Problematik ist jedenfalls im Innenausschuß, wo ich beteiligt war, sehr wohl gründlich beraten worden. Ich bin der Meinung, daß wir in vollem Bewußtsein der Problematik die Abwägung im Plenum ohne eine Zurückverweisung vornehmen können.
Frau Jelpke, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Meinung, daß die Debatte gerade gezeigt hat, daß eine Rücküberweisung dringend nötig ist.
Fast alle Redner und Rednerinnen - zumindest die Mehrheit in diesem Hause - haben heute ihre Probleme und offenen Fragen, was alles noch nicht geklärt sei, sehr, sehr deutlich gemacht. Ich meine, daß das eigentlich sehr einfach zu verstehen ist: Ein Gesetz auf den Weg zu bringen, die Durchführungsgesetze nachzuschieben und dazu eine Anhörung zu verweigern, ist wirklich unglaublich, meine Damen und Herren.
Ich möchte Kollegen Häfner in allen Punkten, die er genannt hat, unterstützen. Er hat völlig recht. Der federführende Innenausschuß hat die Beratung abgeschlossen, ohne die mitberatenden Ausschüsse anzuhören, geschweige denn die Ansinnen, die im Rechtsausschuß gestellt worden sind, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Es ist im federführenden Ausschuß keine 15 Minuten über dieses Europol-Paket, über die Konventionen inhaltlich diskutiert worden.
Ich stimme ebenfalls mit dem Kollegen Häfner überein, was das Demokratieverständnis angeht. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum Sie dermaßen Zeitdruck machen.
Ich habe vorhin schon in meiner Rede gesagt: Es gibt nur ein Land, das das Ganze bisher ratifiziert hat, nämlich Großbritannien.
Ulla Jelpke
Die Niederlande haben erklärt, bis vor Weihnachten, also in diesem Jahr, nicht mehr ratifizieren zu wollen. Ich sage Ihnen, es geht einzig und allein darum, daß das große Deutschland wieder einmal verkünden möchte: Wir haben ratifiziert - also: Alle europäischen Länder, kommt dem gefälligst möglichst schnell nach!
Ob man hier nach demokratischen Grundsätzen verfährt, ob die parlamentarischen oder juristischen Kontrollrechte gewährt sind, das ist Ihnen offensichtlich ganz egal. Das ist, wie gesagt, eine einzige Farce.
Ich meine, daß dieser Rückholantrag sehr wohl berechtigt ist und daß eine ausführliche Debatte stattfinden muß; denn die Zeit ist dazu da.
Danke.
Herr Kollege Penner, mir ist gesagt worden, Sie wollten eine Erklärung zu dieser Aussprache abgeben.
- Immer friedlich, immer friedlich!
Ich bin ja nicht dafür bekannt, daß ich häufig das Wort nehme.
- Gut. - Daß ich es jetzt tue, ist der Beweis für die parlamentarischen Besonderheiten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die sich ab und zu so äußert, wie sie es gerade getan hat.
Es geht um folgendes: Verschiedentlich ist im Rahmen der Debatte der Vorwurf erhoben worden, das Beratungsverfahren, das im Innenausschuß stattgefunden hat, sei anstößig gewesen. Dazu sage ich: Leider konnte ich am 1. Oktober bei den Beratungen nicht anwesend sein; denn ich war verhindert. Ich habe mich aber über den Beratungsgang informiert.
Danach ergab sich folgendes Bild: Es ist wahr, daß zu dem Thema Europol alle Fraktionen die Möglichkeit hatten, ihre Standpunkte einzubringen. Keinem ist das Wort abgeschnitten worden. Es ist aber ebenso wahr, daß im Innenausschuß von vornherein eine gemeinsame Auffassung darüber gebildet werden konnte, daß ein Anhörungsverfahren zum Kern des Themas, nämlich zu Fragen des Immunitätenrechts, durchgeführt werden soll.
Uneinigkeit hat darüber bestanden, ob dies aus Anlaß der Behandlung dieser zwei Vorlagen schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt stattfinden sollte oder erst später.
Was folgt daraus? Ich muß den Vorwurf der unsachgemäßen Behandlung im Innenausschuß strikt zurückweisen.
Richtig ist allerdings, daß die Mehrheit so entschieden hat, wie es die Minderheit nicht wollte.
Das ist das Recht der Mehrheit. Sie hat dies auch politisch zu verantworten.
Als Vorsitzender des Innenausschusses sage ich zu, daß das anstehende Anhörungsverfahren von Sachverständigen zu dem, wie mir dünkt, wichtigsten Teil stattfinden wird. Ich finde mich da in Übereinstimmung mit anderen, ja mit dem gesamten Ausschuß.
Der Antrag auf Rücküberweisung ist überflüssig. Ich kann und werde dem nicht zustimmen.
Das war keine Kurzintervention, sondern eine Erklärung zur Aussprache. Darauf gibt es keine Erwiderung, Herr Kollege Häfner.
Ich schließe jetzt die Aussprache zur Geschäftsordnung und lasse abstimmen, und zwar zunächst über den Geschäftsordnungsantrag zur Rücküberweisung der Vorlage, den Herr Häfner hier gestellt hat. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen, der Gruppe der PDS und einer Stimme aus der SPD zurückgewiesen.
Bevor wir zu den Abstimmungen in der Sache kommen, muß ich noch das Wort zu Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung erteilen, und zwar zunächst der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute steht der Gesetzentwurf zur Ratifikation der Europol-Konvention zur Abstimmung. Trotz berechtigter Anliegen, im Bereich des Datenschutzes und der unabhängigen rechtsstaatlichen Kontrolle noch zu Verbesserungen zu kommen, stimmen Herr Hirsch und ich der Europol-Konvention zu.
Diese Zustimmung aber bedeutet keine Zustimmung zu dem noch ausstehenden Ratifikationsverfahren zum Immunitätenprotokoll, das noch nicht eingeleitet ist. Denn auch Europol-Beamte müssen wie nationale Polizeibeamte bei Ausübung ihrer Tätigkeit der Gerichtsbarkeit unterliegen. Auch
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
unterschiedliche Datenschutzgesetze in den Mitgliedstaaten rechtfertigen nicht die beabsichtigte Immunitätenregelung. Die Bundesregierung ist deshalb aufgefordert, die Zeit noch für Nachverhandlungen zu nutzen; denn alle hier im Haus haben Bedenken gegen diese Immunitätenregelung. Deshalb sage ich: Europol-Konvention - ja, diese Immunitätenregelung - nein.
Der Kollege Hans Büttner möchte eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll geben.*) Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. -
Dann kommen wir jetzt zu den Abstimmungen.
Ich rufe zunächst den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts auf; das ist Drucksache 13/7391. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/8731 Buchstabe a, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS und gegen eine Stimme aus der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion im übrigen angenommen worden ist.
Ich rufe den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Auslegung des Übereinkommens über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung auf; das ist Drucksache 13/7555. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/8731 Buchstabe b, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS und gegen eine Stimme aus der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion im übrigen angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Verbesserung direkter polizeilicher Zusammenarbeit unter demokratischer und rechtlicher Kontrolle auf; das ist Drucksache 13/8731 Buchstabe c. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/7490 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS und bei einer Gegenstimme aus der SPD-Fraktion angenommen worden ist.
*) Anlage 4
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Regina Schmidt-Zadel, Ingrid BeckerInglau, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Situation der Demenzkranken in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 13/3343, 13/5257 -
Dazu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und ein Entschließungsantrag der Gruppe der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch dazu gibt es nicht; dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute morgen haben wir hier an dieser Stelle über die Rentenreform debattiert und festgestellt, daß neben der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt auch die demographische Entwicklung zu den ja hinreichend diskutierten Problemen in der Rentenversicherung führt. Da paßt es natürlich sehr gut - es tut mir leid, daß das heute zu so später Stunde geschieht; ich meine „spät" in bezug auf den parlamentarischen Ablauf -, daß wir am heutigen Tag über die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage unserer Fraktion zur Situation der Demenzkranken in der Bundesrepublik debattieren. Die demographische Entwicklung mit dem Anstieg des Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung macht auch das Problem der Demenz zu einer großen Herausforderung unserer Gesundheits- und Sozialpolitik.
Die von der Bundesregierung in ihrer Antwort genannten Zahlen machen die Dimension des Problems besonders deutlich. Zur Zeit gibt es 1,2 Millionen Demenzkranke in der Bundesrepublik. Schätzungen reichen bei Einbeziehung leichter Demenzen sogar bis 1,5 Millionen, die bei einer gleichmäßigen demographischen Veränderung bis zum Jahre 2010 um etwa 20 Prozent bis 25 Prozent und bis zum Jahre 2040 sogar um 52 Prozent ansteigen werden. Das wären dann 1,8 Millionen bis 2,2 Millionen Demenzkranke in Deutschland. Soweit zu den nüchternen Zahlen, hinter denen sich für die Betroffenen oft sehr schlimme Schicksale verbergen.
In der Öffentlichkeit ist das Schicksal der Demenzkranken leider nur durch die Erkrankung einiger Prominenter bekannt, die an der häufigsten Form der Demenz, dem Morbus Alzheimer, erkrankten. Dazu zählt der ehemalige amerikanische Präsident Ronald Reagan, von dem erst in der letzten Woche zu lesen war, daß er sich auf Grund seiner Erkrankung nicht mehr an seine Präsidentschaft erinnern kann und nicht einmal mehr weiß, warum ihn Menschen auf der Straße erkennen. Reagan selbst, seine Frau und auch die amerikanische Öffentlichkeit gehen mit dieser Krankheit sehr offen um. Reagan ist mit seinem
Regina Schmidt-Zadel
offenen Bekenntnis zu Alzheimer zu einer Galionsfigur für die Alzheimerforschung geworden. Ich wünsche mir, meine Damen und Herren, daß diese Krankheit auch bei uns ihr Tabu endlich verliert, daß offen darüber geredet wird.
Es gibt auch bei uns prominente Beispiele. Ich denke da an den langjährigen Vorsitzenden meiner Fraktion, Herbert Wehner, der im Jahre 1990 nach langem Leiden und nach aufopferungsvoller Pflege durch seine Frau, Greta Wehner, an dieser heimtükkischen Krankheit verstorben ist. Es gibt hier im Hause viele - leider sind nur wenige da; aber die, die es nachlesen, werden es bestätigen -, die die kraftvolle geistige Präsenz Herbert Wehners noch vor Augen haben. Viele kennen auch den erschütternden Zustand, in den er durch den Verlauf seiner Krankheit geriet.
Dadurch, daß sich -viele an diese beiden vor und während ihrer Krankheit erinnern können, führen diese Beispiele sehr nachdrücklich vor Augen, was Demenzerkrankungen für die Betroffenen und vor allen Dingen auch für ihre Angehörigen bedeuten, wieviel Leid und wieviel Trostlosigkeit die Diagnose Demenz oder Alzheimer über diese Menschen und ihre Familien bringt.
Es sind aber nicht nur diese beiden prominenten Beispiele - ich habe sie bewußt herausgenommen -, es sind auch die bezifferten 1,2 Millionen - und bald vielleicht mehr -, deren noch immer unheilbares Leiden den Deutschen Bundestag für diese besondere Problematik sensibilisieren sollte und uns sehr deutlich machen sollte, welch große Herausforderung hier auf die Gesellschaft, auf uns alle zukommt. Jeder von uns kann von einer Demenz betroffen sein. Ich hoffe und wünsche mir, daß sich auch Kolleginnen und Kollegen im Bundestag dieses Problems verstärkt annehmen.
Die SPD-Fraktion hat eine Große Anfrage zur Situation der Demenzkranken in der Bundesrepublik gestellt, die von der Bundesregierung im Juli letzten Jahres beantwortet wurde. Leider haben wir erst heute Gelegenheit, über diese Antwort zu debattieren. Nicht nur wegen der schon angedeuteten unmittelbaren Nähe zur Rentendebatte bin ich ganz froh über diese zeitliche Verzögerung. Auch die in der Zwischenzeit betriebene Politik der Bundesregierung macht die verspätete Debatte äußerst reizvoll. Die Antwort der Bundesregierung auf die gestellten Fragen ist - trotz einiger Mängel im Detail - in der Hauptsache fundiert und zeugt davon, daß die Problematik der Demenzkrankheit im großen und ganzen erkannt wurde. Würde die Politik der Bundesregierung den in der Antwort enthaltenen Erkenntnissen auch folgen, dann wären wir bei der Verbesserung der Situation der Demenzkranken schon ein großes Stück weiter. Aber leider ist dem nicht so.
In diesem einen Jahr nach der Vorlage der Antwort ist in der Gesundheits- und Sozialpolitik einiges geschehen; vieles hat sich verändert: Die stationäre Pflegeversicherung ist in Kraft getreten. In der Gesundheitspolitik hat die Koalition mit den Gesetzen zur 3. Stufe der Gesundheitsreform, einen Weg eingeschlagen, der - leider - auch für die Demenzkranken und ihre Angehörigen zu höheren Eigenbeteiligungen, starken finanziellen Belastungen und zu Problemen mit Ärzten und Krankenkassen führen wird und schon führt.
- Das stimmt. Herr Zöller, reden Sie einmal mit den Angehörigen.
Ich möchte jetzt auf einige Beispiele eingehen. Beispiel Pflegeversicherung: In den fast 16 Monaten, in denen die Pflegeversicherung für den stationären Bereich gilt, sind zahlreiche Mängel aufgetreten, von denen die Demenzkranken besonders betroffen sind. Das gilt für die Begutachtung durch die Medizinischen Dienste, das gilt für die Zeitvorgaben für die Pflege und die Betreuung, und das gilt auch für die Qualität der Pflege, die bei der Versorgung Demenzkranker wesentlich schwieriger zu gewährleisten ist als bei anderen Schwerstpflegebedürftigen.
Beispiel Gesundheitspolitik - Herr Zöller, ich komme darauf zurück -: In den fast 16 Monaten seit der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage sind mit dem Beitragsentlastungsgesetz und den Gesetzen zur 3. Stufe der Gesundheitsreform allein die Zuzahlungen für Arzneimittel zweimal angehoben worden, zuletzt drastisch um 5 DM je Pakkung.
Zugleich sind mit der Koppelung der Beitragssatzerhöhungen an die Zuzahlungen die Weichen für noch weitere Erhöhungen der Zuzahlungen gestellt worden. - Hören Sie gut zu, ich gehe auf Ihren Zuruf ein.
Die eingeführten Praxisbudgets führen in der Tendenz immer mehr dazu, daß Demenzkranke von ihren behandelnden Ärzten oft - ich sage bewußt: oft, nicht immer - als Belastung angesehen und abgeschoben werden. Der in diesen 16 Monaten verordnete Wettbewerb zwischen den Kassen wird dazu führen, daß sich Demenzkranke in den Kassen wiederfinden werden, die die höchsten Beitragssätze haben. Ein Wechsel in eine billigere Kasse wird diesen Patientinnen und Patienten unmöglich sein.
Die Situation der Demenzkranken hat sich seit der Vorlage der Antwort nicht verbessert, sie hat sich leider verschlechtert.
Die Zusicherung der Bundesregierung in der vorliegenden Antwort, sie werde alles tun, damit die Pflege
Demenzkranker „in den Familien weiterhin gesichert
Regina Schmidt-Zadel
ist", ist zum Lippenbekenntnis geworden. Die Pflege Demenzkranker ist keineswegs sichergestellt. Die Betroffenen sind ins Spannungsfeld zwischen Pflegeversicherung und Krankenversicherung geraten. Das ist im Moment der Fakt.
Die SPD hat einen Entschließungsantrag eingebracht, mit dem der Deutsche Bundestag die besondere Problematik der Entwicklung der Demenzkranken anerkennen und sich für eine Verbesserung der Situation dieser Kranken einsetzen kann.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage hat gezeigt: Neben einer verläßlichen und sicheren Datengrundlage über die genaue Zahl und die Entwicklung der Demenzkranken müssen noch erhebliche Forschungsanstrengungen in bezug auf Behandlungsmethoden, Möglichkeiten der Früherkennung und die noch vernachlässigte Versorgungsforschung gemacht werden.
Es gilt, Demenzkranke vor einer Schlechterstellung in der Pflegeversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung zu bewahren und ihnen eine angemessene Pflege und Betreuung in der erforderlichen Qualität zu ermöglichen.
Diese zum Teil hochbetagten Menschen sind schließlich diejenigen, die unser Land nach dem Krieg aufgebaut haben. Hier sind wir moralisch in der Pflicht.
Greta Wehner hat in einer beeindruckenden Rede vor dem Deutschen Alzheimerkongreß von dem „Medikament Zuwendung" gesprochen, das Demenzkranke neben allen anderen Hilfen ganz dringend benötigen.
Sie hat damit die Zuwendung, die menschliche Wärme gemeint, die den Kranken von ihren Pflegepersonen - ob professionelle oder Familienangehörige - entgegengebracht werden muß.
Heute haben auch die Politiker die Möglichkeit, diesen Menschen das Medikament Zuwendung zukommen zu lassen. Wir haben mit der Zustimmung zum vorliegenden Entschließungsantrag die Möglichkeit, den über 1 Million Demenzkranken, den Alzheimerpatienten und ihren Angehörigen zu signalisieren: Wir stellen uns den Herausforderungen; wir erkennen das Problem, das, demographisch bedingt, weiter zunehmen wird und nach entschlossenem Handeln verlangt.
Meine Damen und Herren, versagen wir diesen Menschen die Hilfe nicht! Stimmen Sie dem Entschließungsantrag zu!
Danke schön.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Gertrud Dempwolf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Frau Kollegin Schmidt-Zadel, ich kann Ihnen in vielem zustimmen. Aber daß durch die Einführung der Pflegeversicherung den Demenzkranken etwas von der Fürsorge oder auch von der Pflege genommen werde, das muß ich ganz energisch bestreiten. Denn wir haben vor gut einem Jahr bei chronisch Kranken die Grenze für die Eigenbeteiligung von 2 Prozent auf 1 Prozent zurückgeführt. Ich denke, daß die Mängel, die heute noch auftreten, auch mit der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst zusammenhängen; die Mängel in der Qualifikation des Pflegepersonals, die Sie ansprechen, sind jedenfalls nicht auf unser Gesetz zurückzuführen.
Einiges muß noch abgestellt werden; aber ich finde, die Pflegeversicherung hat auch für Demenzkranke sehr viele Vorteile gebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Antwort auf die Große Anfrage, die Anlaß zur heutigen Debatte ist, liegt zwar schon länger als ein Jahr vor. Aber ich gebe meiner Kollegin recht: In der Zwischenzeit hat die Angelegenheit noch an Bedeutung und Aktualität gewonnen. Es ist richtig, daß wir Bilanz ziehen, Voraussetzungen für eine bedarfsgerechte Versorgung Demenzkranker benennen und gemeinsam Kriterien für vordringliche Handlungsschritte entwickeln.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Lieber Herr Präsident, ich bin jetzt um drei Uhr nicht mehr bereit, noch Zwischenfragen zu gestatten.
Sie hätten sich ja, Herr Wodarg, vorher an der Diskussion beteiligen können.
Der Welt-Alzheimer-Tag am 21. September dieses Jahres hat der Öffentlichkeit die Häufigkeit dieser schicksalhaften Erkrankung ganz eindrucksvoll verdeutlicht. Wir müssen inzwischen von 720 000 bis 850 000 Betroffenen - meine Zahlen sind nicht ganz so hoch gegriffen wie die Zahlen von Frau Schmidt; aber das liegt vielleicht daran, daß wir von unterschiedlichen Krankheitsstadien ausgehen - allein in mittleren und schweren Krankheitsstadien ausgehen.
Wir wissen auch um die Koppelung von hohem Alter und Demenz. Der rasch anwachsende Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung wird mögli-
Parl. Staatssekretärin Gertrud Dempwolf
cherweise zu einem weiteren Anstieg der Zahl der Erkrankten bis zu 1,7 Millionen in den kommenden zehn Jahren führen. Diese Entwicklung ist darum so fatal, weil wir in absehbarer Zeit nicht über Heilungsmöglichkeiten verfügen und weil wir ganz einfach viel zuwenig über die Ursachen wissen.
Aber ich denke, dies darf nicht zur Resignation führen, ganz im Gegenteil. Glücklicherweise können wir den Betroffenen und ihren Angehörigen jetzt schon helfen, Auswirkungen der Erkrankung zumindest zu lindern, ja, den Erkrankungsverlauf sogar zu verzögern oder abzumildern. Diese Chancen sollten wir nutzen.
Sehr deutlich und eindringlich sind mir die Aussagen des von meinem Hause geförderten Ersten Deutschen Alzheimer-Kongresses in Stuttgart präsent, an dem ja auch Sie, Frau Schmidt-Zadel, teilgenommen haben. Seine Stuttgarter Forderungen kristallisieren viele Maßnahmen heraus, was auch die Bundesregierung prinzipiell für notwendig hält. Dabei sehe ich drei Schwerpunkte.
Erster Schwerpunkt: Den bereits erkrankten Menschen müssen die erforderlichen medizinischen, therapeutischen sowie pflegerischen Hilfen in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen.
Beim Ausbau von Betreuungsangeboten und Einrichtungen für ältere Menschen müssen zukünftig die speziellen Bedürfnisse Demenzkranker mehr berücksichtigt werden; da sind wir uns einig. Dabei dürfen neben den unverzichtbaren medikamentösen Hilfen die hilfreichen Möglichkeiten psychotherapeutischer, psychosozialer und milieutherapeutischer Einflüsse nicht vernachlässigt werden. Mir sind viele gute Ansätze und Betreuungskonzepte bekannt, die in beeindruckender Art und Weise auf die Bedürfnisse der Betroffenen eingehen.
Wir fördern auch in unserem Haus gezielt solche Initiativen, um tragfähige Erkenntnisse über die notwendige räumliche Ausstattung der therapeutischen Konzepte und die personelle Qualifizierung für die unterschiedlichen Gruppen der Betroffenen zu gewinnen.
Wir wollen insbesondere alternative und vorstationäre Wohn- und Betreuungsformen erproben - auch darüber sind wir uns einig -, die wir schon aus anderen europäischen Ländern kennen und die sich dort bewährt haben. Hier setzt das in unserem Haus entwickelte Programm „Wohnen im Alter" an. Von den Erfahrungen insbesondere unserer niederländischen Kollegen - ich habe mir dort spezielle Einrichtungen für Demenz- und Alzheimerkranke angesehen - können wir nur profitieren. Wir unterstützen bundesweit den Erfahrungsaustausch zwischen bereits erprobten und bewährten Ansätzen, um voneinander lernen zu können.
Eine wichtige Aufgabe auf dem Weg in eine bessere Versorgungszukunft sind auch die Entwicklung bereits vorhandener Hilfsangebote und eine effektive Vernetzung. In einer Zeit, in der alle sozialen Hilfesysteme an die Grenzen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit geraten, ist es wichtig, daß wir unsere Mittel effektiv einsetzen. Wir beabsichtigen, in einem Modellprogramm Schwerpunkte
gezielt zu fördern, um die begrenzten Mittel optimal einzusetzen. Dabei geht es hauptsächlich um die Vernetzung und Erprobung der Strukturen, um individuelle Beratung und Erarbeitung von Qualitätsstandards und Qualitätsverfahren. Das erste Modell zur Einzelfallhilfe und verbesserter Koordination ist bereits angelaufen. Insbesondere Demenzkranke sollen dabei ganz besonders berücksichtigt werden.
Vielfach ist die Kritik geäußert worden, Demenzkranke würden weder von der Pflege- noch von der Krankenversicherung - wir haben es gehört - angemessene Leistungen erhalten.
Diese Kritik ist zum Anlaß genommen worden, die Begutachtungsanleitungen in den vergangenen Monaten gründlich zu überarbeiten, neu zu fassen und nach zwei Jahren wieder zu überprüfen.
Auch den zweiten Schwerpunkt möchte ich nennen: Er umfaßt die pflegenden Angehörigen, die extremer Belastung ausgesetzt sind. Ihr Bemühen, erkrankte Mitglieder der Familie im eigenen Umfeld und in der eigenen Wohnung zu versorgen, sollte nicht nur finanziell honoriert werden. Vielmehr sollte diesen Menschen hin und wieder auch die allgemeine Anerkennung öffentlich ausgesprochen werden.
Wir unterstützen die häusliche Pflege, weil sie am ehesten eine organische Ganzheitlichkeit der Versorgung des Kranken sichert. Aber wir müssen uns davor hüten, daraus eine moralische Verpflichtung erwachsen zu lassen, was die Gefahr in sich birgt, daß es zur Selbstüberschätzung und -überlastung der pflegenden Familienangehörigen kommt. Hilfs- und Entlastungsmöglichkeiten, von ambulanten Diensten angeboten, werden deshalb oft nicht akzeptiert, weil sie die wahren Bedürfnisse der Familien nicht abdekken. Hier werden in Zukunft Anpassungen der Angebote in organisatorischer wie inhaltlicher Art erfolgen müssen.
Neben der Lösung der in wichtigen Aspekten noch ungeklärten Abrechnungsfrage für gerontopsychiatrische Leistungen halten wir zudem eine Prüfung für erforderlich, ob für ambulante Dienste und Tagespflegeeinrichtungen gesetzliche Regelungen nach dem Vorbild des Heimgesetzes geschaffen werden sollen; denn gerade alte, hochgradig an Demenz erkrankte Patienten haben das Nachsehen.
Dritter Schwerpunkt: Ich denke, daß wir uns auch dem Selbsthilfegedanken nicht verschließen sollten. Das soziale Umfeld muß so gestaltet werden, daß größtmögliche Selbständigkeit in der Lebensführung und größtmögliche Normalität auch bei schwerer Beeinträchtigung gewährleistet sind. Voraussetzung hierfür scheint mir zu sein, daß die Menschen in unserem Land mehr über das Wesen der Demenz und die mit dieser Krankheit verbundenen Probleme erfahren. Genauso wichtig ist es aber, die Informationen über Hilfsmöglichkeiten und Vorbeugung, die jeder für sich selbst in seinem sozialen Umfeld für andere leisten kann, zu erfahren.
Parl. Staatssekretärin Gertrud Dempwolf
Koordinierte Öffentlichkeitsarbeit wirkt hierbei am effektivsten. Deshalb werden wir auch die Selbsthilfeorganisation „Deutsche Alzheimer Gesellschaft" zu entsprechenden Initiativen nicht nur ermutigen, sondern auch konkret weiterhin unterstützen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Marina Steindor, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialpolitischen Debatten, die wir heute hier geführt haben und führen, erfüllen mich mit großer Besorgnis. Ich habe ein ungutes Gefühl durch die Kombination, die wir heute haben. Einmal geht es darum, daß die Menschen in unserer Gesellschaft immer älter werden und dabei gesund bleiben. Daraus ergibt sich die Frage: Wie können wir die Renten finanzieren? Jetzt diskutieren wir die Frage: Die Menschen werden immer älter und zum Schluß auch noch dement. Wie sollen wir uns gesellschaftlich verhalten? Können wir uns das leisten? Ich sorge mich um das gesellschaftliche Klima.
Ich unterstütze die gesundheitspolitische Kritik und auch die Kritik an der Pflegeversicherung von seiten der Sozialdemokraten. Ich finde es im Prinzip auch begrüßenswert, diese Debatte zu führen. Allerdings: Immer wenn ich diese Überschätzung und Prophezeiungen höre, was die Zahlen betrifft, wissend, daß es sich bei Demenz um einen medizinischen Sammelbegriff handelt und die Zahl der Fehldiagnosen immens groß ist und wir gar nicht wissen, wer in welcher Form krank ist, führt das bei mir zu einer sehr großen Sorge.
Ich kann einen Punkt in dem Entschließungsantrag der Sozialdemokraten so nicht mittragen, nämlich die Forderung nach mehr Forschung. Mit der Forderung nach mehr Forschung kommen wir genau in die Bioethikdebatte hinein, die wir in den nächsten Wochen in diesem Hohen Hause führen werden. Es ist nicht so, daß zuwenig Hirn- und Demenzforschung betrieben wird. Wir haben Unterstützung durch die Weltgesundheitsorganisation. Wir haben im Bereich des Biomed-2-Programms der Europäischen Union verstärkt Hirnforschung. Auch haben wir bei der DFG in Deutschland mehr Hirnforschung, seit es möglich ist, mit bestimmten Methoden Stoffwechselvorgänge am lebenden Gehirn deutlich zu machen.
Es gibt aber viel zuwenig Forschungsprojekte, die den sozialen Kontext einbeziehen. Wir haben durch neue Forschungsergebnisse die Situation, daß diejenigen Anhängerinnen und Anhänger des genetischen Determinismus, die uns ein Menschenbild vermitteln wollen, daß es sich um eine Art molekulargenetische Biomaschine handelt, uns glauben machen wollen, daß ab einem gewissen Lebensalter ein Hirnabbauautomatismus unabänderlich eintritt.
Gerade jetzt gibt es Forschungsergebnisse über ein neues Alzheimer-Gen, das für 70 Prozent der Ausprägung dieser Krankheit verantwortlich sein soll. Wir können abwarten und absehen, wann es in diesem Bereich zu der Entwicklung eines Gentests kommt. Dann sind wir gesellschaftlich in einer Situation, wo wir alle in bezug auf die gesellschaftliche Eigendynamik gar nichts machen können, wenn ein Test bei einer Krankheit existiert, die man nicht behandeln kann. Wie wollen wir damit gesetzlich umgehen? Wie stellen wir uns dieser Auseinandersetzung?
Wir haben in diesem Haus sehr häufig über die Diskriminierung von Behinderten im Bereich von Gentests gesprochen, die es gibt. Hier betrifft es sehr viel mehr Menschen.
Wir vom Bündnis 90/Die Grünen wenden uns nicht grundsätzlich gegen Forschung oder die Entwicklung von Medikamenten. Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen. Aber die Frage des Wie steht im Raum.
In den nächsten Wochen werden wir weiterhin über die Bioethikkonvention diskutieren. Wir alle wissen, daß im Bereich der Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen gerade Alzheimer-Patienten und Menschen mit Trisomie 21 betroffen sind, an denen man Demenzforschung betreiben will.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, daß sich gerade in Deutschland Professor Hanfried Heimchen für Änderungen im Arzneimittelgesetz einsetzt. Er will Aufweichungen im Bereich der klinischen Forschung haben. Er hat einen neuen Begriff in die Forschungslandschaft eingeführt, nämlich den der Diagnostikforschung, die per definitionem überhaupt nicht mehr fremdnützig sein kann.
Frau Kollegin Steindor, gestatten Sie dem Kollegen Kirschner eine Zwischenfrage?
Ich bin gerade am Ende meiner Rede. Ich gehe davon aus, daß wir, da die Anträge überwiesen werden, im Gesundheitsausschuß noch viel Gelegenheit haben werden, gerade diese Dinge zu diskutieren.
Abschließend möchte ich an dieser Stelle sagen: Ich unterstütze die Forderung nach einer sozialpolitisch besseren Versorgung der Betroffenen. Das Schicksal ist schwer, aber ich habe Sorge in bezug auf die Forschungsförderung, wenn die menschenrechtlichen Fragen nicht geklärt sind und eine rechtliche Regelung von Gentests gesellschaftlich aussteht. Im Namen meiner Fraktion kann ich Ihnen ankündigen, daß wir dazu weitere Vorschläge machen werden.
Das Wort hat der Kollege Uwe Lühr, F.D.P.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort der Bundesregierung gibt einen umfassenden Über-
Uwe Lühr
blick über die Situation der Demenzkranken in unserem Land. Dabei fallen einige Aspekte besonders auf: Die Zahl derjenigen, die unter dem Oberbegriff „Demenzkranker" zusammengefaßt werden, ist mit zirka 1 Millionen Menschen ein erhebliches Problem. Nimmt man die Zahl der Angehörigen hinzu, sind hiervon sogar noch bedeutend mehr Menschen betroffen. Die Dimension dieses Problems wird durch die Zunahme der Zahl alter und höchstbetagter Menschen - nach Aussagen der Bundesregierung auf zirka 1,6 Millionen - in den nächsten Jahren noch beachtlich zunehmen.
Die Betreuung dieser Kranken wird heute zu zwei Dritteln in den Familien geleistet. Ansteigende Mobilitätsansprüche in unserer Gesellschaft und die Tendenz zu zunehmender Vereinzelung werden aller Voraussicht nach dazu führen, daß der Anteil familiär Betreuter drastisch zurückgehen wird. Hieraus ergibt sich die notwendige Konsequenz, außerfamiliäre Betreuungsangebote vorzusehen, die voraussichtlich nur mit einem exorbitanten finanziellen Mehraufwand zu bewältigen sein werden, der über die heutigen sozialen Sicherungssysteme mit ihrer Anbindung an die Löhne und Gehälter ohne Konsequenzen für den Arbeitsmarkt kaum zu schaffen sein dürfte.
Wir müssen deshalb nach besten Kräften alle Anstrengungen unterstützen, die Ursachen der Demenz zu erforschen und Therapieansätze zu entwickeln. Bei Alzheimerpatienten schreitet die Erkrankung bisher bis zu ihrem Tod irreversibel und progressiv fort. Durch therapeutische Maßnahmen eine Umkehr einzuleiten wäre ein Segen für alle Beteiligten. Solange jedoch eine solche Entwicklung nicht absehbar ist, kommen der gezielten Prävention und der Früherkennung der Erkrankung nicht nur im Hinblick auf die Lebensqualität der Betroffenen, sondern eben auch im Hinblick auf die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme eine tragende Rolle zu. Wenn es gelingt, in möglichst vielen Fällen die Erkrankung zu verhindern oder zumindest bei frühzeitigem Entdecken zu vermeiden, daß sie weiter voranschreitet, wären wir einen riesigen Schritt weiter.
Deshalb verdienen Forschungsansätze Unterstützung, die sich auf die Bewältigung dieser Probleme richten. Arzneimittelpositivlisten, die zum Beispiel die Verordnung von Nootropika zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verbieten, helfen da überhaupt nicht weiter.
Neueste Erkenntnisse belegen vielmehr, daß sich durch diese Arzneimittel Therapieerfolge erzielen lassen und der Zeitpunkt der Pflegebedürftigkeit unter Umständen um ein ganzes Jahr hinausgezögert werden kann. Diese Möglichkeiten sollten deshalb entsprechend genutzt werden.
Solange eine Heilung der Erkrankung noch nicht möglich ist, kommt es darauf an, die Demenzkranken so gut wie möglich zu betreuen. Den Familien, die die ungeheure Aufgabe auf sich nehmen, sich um diese Kranken zu kümmern, gebühren unser Respekt und unsere Bewunderung. Wer schon einmal mit solchen kranken Menschen zu tun gehabt hat, weiß, wie schwierig es ist, trotz der zeitlichen und psychischen Beanspruchung ruhig zu bleiben und nicht etwa aggressiv zu reagieren. Gewalt alten Menschen gegenüber resultiert häufig aus einer Situation der Oberbeanspruchung heraus.
Mit dem Pflegeversicherungsgesetz ist eine Grundlage für die Unterstützung der Familien geschaffen worden. Professionelle Hilfskräfte ergänzen, wenn die Familie das wünscht, die Betreuung. Darüber hinaus gibt es seit Inkrafttreten der Pflegeversicherung für die Angehörigen die Möglichkeit, vier Wochen Urlaub ohne den Kranken zu machen, um auf diese Weise die Kraft zu schöpfen, die für den täglichen Umgang so dringend benötigt wird.
Bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit muß weiterhin den Besonderheiten einer solchen psychischen Erkrankung Rechnung getragen werden. Der Bericht des BMA über den Stand der Pflegeversicherung belegt, daß die Demenz in zahlreichen Fällen für die Einstufung in eine hohe Pflegestufe mit herangezogen wird.
Wichtig scheint mir auch zu sein, daß sich Angehörige in Selbsthilfegruppen zusammenschließen, um ihre Erfahrungen auszutauschen und zu merken, daß sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Mit der finanziellen Unterstützung der Hospize durch die gesetzlichen Krankenkassen, die wir im 2. GKV-Neuordnungsgesetz verankert haben, wird ein weiterer Schritt zur Verbesserung der Situation gemacht.
Mein Fazit: Vieles ist in den letzten Jahren geschehen, um Demenzkranken und ihren Angehörigen zu helfen. Eine Finanzierbarkeit der Betreuung wird nur dann verläßlich gelingen, wenn wir es schaffen, die Anzahl der Demenzkranken niedrig und den Anteil der in den Familien Betreuten möglichst hoch zu halten. Weitere Anstrengungen, insbesondere auch im Bereich von Forschung und Entwicklung, und die Entwicklung neuer Therapieansätze sind notwendig. In dieser Richtung sollte weiter vorangegangen werden.
Das Wort hat die Kollegin Heidemarie Lüth, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten kennen es, und die meisten verdrängen es: das Problem der Demenzkranken. Die zunehmende Alterung der Bevölkerung, insbesondere die steigende Zahl der hochbetagten Bürgerinnen und Bürger, geht mit einer höheren Prävalenz dementiell erkrankter Menschen einher. Die mit der demographischen Entwicklung eingehenden Veränderungen sind nicht Privatsache der Betroffenen und von deren Angehörigen, sondern ein gesellschaftliches Anliegen. Das ist hier von allen Rednerinnen und Rednern betont worden, nun müssen sie aber auch so behandelt werden.
Folge ich den Intentionen der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD und des Zwischenberichtes der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" , dann fehlt eigentlich nur, daß in der Politik die richtigen Schlußfolgerungen gezogen werden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wird dann hoffentlich im nächsten Jahr geschehen.
Heidemarie Lüth
Betreuung und Pflege der dementiell erkrankten Menschen darf nicht nur das Problem der pflegenden Angehörigen sein - eine Tatsache, die man nicht oft genug betonen kann. Zur Zeit werden 80 Prozent der 1,2 Millionen Betroffenen in häuslicher Umgebung gepflegt. Diese komplizierte Pflegearbeit wird in übergroßer Zahl von den Ehefrauen und Töchtern geleistet. Sie müssen häufig ihre Erwerbstätigkeit aufgeben - und damit ihre eigenständige Sicherung in der Rente -, um diese Schwerstarbeit als nahezu unentgeltliche Reproduktionsleistung zu übernehmen.
Die Leistungen der Pflegeversicherung werden oft nur bedingt wirksam, da dementielle Erkrankungen und Einstufung durch die Pflegeversicherung nicht kompatibel sind; denn die Beurteilung nach dem physischen Leistungsvermögen entspricht oft nicht dem Betreuungs- und Pflegeaufwand der Betroffenen. Flächendeckend sind Tages- und Kurzzeitpflegeplätze sowie stationäre Einrichtungen nicht vorhanden, die eine Entlastung für pflegende Angehörige bieten könnten. Ganzheitliche Therapieangebote müßten nämlich auch Betreuung und Beratung der pflegenden Angehörigen einschließen. Dies ist heute immer noch nicht die Regel.
In Pflegeheimen werden die psychosoziale Betreuung und Therapieangebote unter dem Druck der Pflegeversicherung immer weniger möglich. Anfängliche positive Veränderungen, die nach 1990 auch in den -neuen Bundesländern möglich wurden, werden wegen des Pflegeschlüssels immer weiter zurückgefahren. Es wird nach dem Motto verfahren: „Sparen - koste es, was es wolle", ohne daß auf die Zukunft geschaut wird. So kann das Problem gegenwärtig nicht gelöst werden.
Ich möchte daher nur einige Forderungen aus unserem Entschließungsantrag hervorheben. Medizinische Demenzforschung muß geleistet werden, aber nach unserer Ansicht mit sozialwissenschaftlichen Schwerpunkten verbunden sein. Forschungen auf diesem Gebiet dürfen nicht die Würde und die Integrität der dementiell Erkrankten verletzen und nicht an nicht geschäftsfähigen Personen vorgenommen werden.
In der Aus- und Weiterbildung des medizinischen und pflegerischen Personals müssen Gerontologie, Geriatrie und Gerontopsychiatrie einen höheren Stellenwert erhalten.
Ein flächendeckendes, qualitativ und quantitativ ausreichendes Angebot an ambulanten, teilstationären und stationären Betreuungsmöglichkeiten ist zu sichern. Aber nicht nur das. Diese Angebote müssen eine aktivierende, an die Alltagskompetenz anknüpfende Pflege und Betreuung ermöglichen sowie ein würdevolles, im Rahmen der Möglichkeiten selbstbestimmtes Leben der Betroffenen garantieren. Doch dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist sicherlich ein Paradigmenwechsel in der Politik für ältere Menschen notwendig.
Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/8723 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und zur Mitberatung an den Ausschuß für Gesundheit und den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Der Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/8719 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und zur Mitberatung an den Ausschuß für Gesundheit überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Gruppe der PDS
Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen
- Drucksache 13/8477 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Gruppe der PDS soll fünf Minuten erhalten. Das Wort hat die Kollegin Petra Bläss, PDS.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen Kommentar über den Zeitpunkt der Debatte und die Besetzung hier im Haus angesichts dieses wichtigen Themas will ich mir an dieser Stelle lieber verkneifen.
Seit dem 15. November 1994 steht im Grundgesetz der Satz:
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Schon im Dezember 1993 forderte die UNO alle Staaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, um eine umfassende Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Auch die Bundesregierung stimmte offiziell dieser UNO-Resolution zu. Dennoch hat sie in den vergangenen Jahren die Chancen behinderter Menschen auf gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht verbessert, sondern vielmehr erheblich beschnitten und eingeengt.
Auf die wachsende Diskrepanz zwischen Verfassungsanspruch und Lebensrealität verwiesen am 30. September dieses Jahres im Rahmen der „Kampagne Grundgesetz" Vertreterinnen und Vertreter von 96 Behinderten- und Sozialverbänden. Dies erwähne ich ausdrücklich; denn daß die Benachteiligung behinderter Menschen wächst, ist keine Erfindung der PDS. Der Handlungsbedarf des Gesetzgebers ist unbestritten und inzwischen fast unüberschaubar.
Nur wenige Beispiele zum Beleg: Menschen mit Behinderungen sind überproportional von Sozialhilfe abhängig. Fast automatisch werden sie bei besonderem Förderbedarf auf die in der Sozialhilfe angesiedelte Eingliederungshilfe verwiesen.
Eine existenzsichernde Rente, insbesondere für von Geburt an behinderte Menschen, gibt es nicht. Der mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik oftmals beschworene verbesserte Zugang schwerbehinderter Menschen zu einer Erwerbsunfähigkeitsrente
Petra Bläss
wurde mit der heute verabschiedeten Rentenreform beseitigt, die Renten selbst wurden erheblich gekürzt. Selbst die nur für beschäftigte schwerbehinderte Menschen geltenden steuerlichen Nachteilsausgleiche wurden seit über 20 Jahren nicht an die veränderten Rahmenbedingungen angepaßt.
Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth sprach kürzlich auf einer Tagung des Bundesnetzwerkes Behinderter Frauen von deren doppelter Diskriminierung und forderte, ihnen die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Trotz der generellen Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze seit Mitte der 80er Jahre sind immer weniger schwerbehinderte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Behinderte Menschen sind überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Sie erreichte in den letzten Monaten Rekordhöhen. Allein in den neuen Bundesländern wurden seit 1990 über 50 Prozent der Arbeitsplätze für Behinderte ersatzlos beseitigt. Dennoch kürzte die Bundesregierung die Leistungen zur Rehabilitation und versuchte - zum Glück nicht mit Erfolg -, die berufliche Rehabilitation behinderter Menschen grundsätzlich in eine Ermessensleistung umzuwandeln.
Im 3. Bericht zur Lage der Behinderten und zur Entwicklung der Rehabilitation bestreitet die Bundesregierung nicht, daß Menschen mit Behinderungen keine Chancengleichheit haben. Entsprechende Maßnahmen wurden aus dieser Einschätzung jedoch nicht abgeleitet.
Die PDS fordert die Bundesregierung mit dem heute zur Debatte stehenden Antrag auf, ein Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen zu erarbeiten.
Grundgedanke unseres Antrages ist, mehr Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen herzustellen. Bestehende Beeinträchtigungen sollen durch die Gewährung von Nachteilsausgleichen kompensiert werden. So greifen wir eine jahrzehntealte Forderung der Behindertenverbände auf. Die Eingliederungshilfe soll vom Nachrang der Sozialhilfe befreit werden, weil nur auf diesem Wege tatsächlich alle Potenzen für eine umfassende Förderung und Eingliederung behinderter Menschen freigesetzt werden.
Wir halten es für zutiefst ungerecht, schwerbehinderten Menschen aus Kostengründen eine Heimunterbringung zuzumuten, obwohl sie bei genügender Assistenz durchaus in ihrem persönlich gewünschten Umfeld leben könnten. Die hierbei auftretenden Benachteiligungen ihrer Entwicklung sollen soweit wie möglich durch entsprechende Hilfen kompensiert werden.
Der vor über 20 Jahren begonnene Aufbau einer eigenständigen Alters- und Existenzsicherung für behinderte Menschen blieb in den Anfängen stekken. So haben behinderte Menschen im positiven Fall erst nach 20 Jahren ununterbrochener Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte - bei einem Entgelt von nur etwa 220 DM im Monat - einen durchschnittlichen Rentenanspruch.
Angesichts der besonderen Benachteiligung behinderter Frauen und Mädchen in allen gesellschaftlichen Bereichen hat ein Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen die Gleichstellung von behinderten Frauen mit behinderten Männern zu gewährleisten. Benachteiligungen behinderter Menschen durch die Gesellschaft sind allgegenwärtig. Sie abzubauen ist ein im Grundgesetz formuliertes Staatsziel.
Natürlich ist das nicht zum Nulltarif erreichbar. Ich bin mir sicher, daß Sie uns die Kostenfrage wieder vorhalten werden. Aber entscheidend ist doch, ob der politische Wille vorhanden ist, den Sonntagsreden vom notwendigen Abbau der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen endlich Taten folgen zu lassen.
Mit unserem Antrag auf Vorlage eines Leistungsgesetzes haben wir einen Vorschlag unterbreitet - wir hoffen, es kommen noch mehr dazu -, dessen Realisierung dazu beitragen könnte, daß Menschen mit Behinderungen ein Leben in Selbstbestimmung und Würde ermöglicht wird. Denn: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. "
Die folgenden Kolleginnen und Kollegen haben gebeten, ihre Redebeiträge zu Protokoll geben zu dürfen. Es sind Birgit Schnieber-Jastram, CDU/CSU, Karl Hermann Haack, SPD, Andrea Fischer, Bündnis 90/Die Grünen, und Uwe Lühr, F.D.P.*) Ich gehe davon aus, daß das Haus angesichts der fortgeschrittenen Zeit damit einverstanden ist. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/8477 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 29. Oktober 1997, 13 Uhr ein.
Schönes Wochenende! Die Sitzung ist geschlossen.