Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Nacht ist Willy Brandt verstorben. In Trauer und Achtung vor seiner Lebensleistung nehmen wir Abschied von einem großen Staatsmann.
Der Lebensweg Willy Brandts spiegelt wie kaum ein anderer diese wechselvolle Geschichte unseres Volkes in diesem Jahrhundert wider.
Willy Brandt war Parlamentarier der ersten Stunde. Dem Deutschen Bundestag gehörte er als Berliner Abgeordneter zunächst von 1949 bis 1957 an. Auf ein weiteres Mandat 1961 verzichtete er nach kurzer Zeit wegen seiner Tätigkeit als Regierender Bürgermeister von Berlin. Seit 1969 hat er ohne Unterbrechung dem Deutschen Bundestag angehört.
Willy Brandt war ein Anwalt des Friedens und der Verständigung. Frieden durch Versöhnung, Frieden durch Gerechtigkeit, dies war das Anliegen, das durch ein bedrängendes Emigrantenschicksal verbindlich geworden war.
Er, der den Krieg als „Ultima irratio", den Frieden jedoch als „Ultima ratio" der Menschheit bezeichnet hat, verstand sein Wirken als Teil einer weltumspannenden Friedenspolitik. Überall wurde bei uns seine Politik in diesem Sinne aufgefaßt und gewürdigt.
Seine zunächst umkämpfte Ostpolitik hat die Welt verändert. Er stand zu seiner Geste am Mahnmal des Warschauer Ghettos. Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises ist seiner Haltung weltweit Anerkennung zuteil geworden.
Seine Kanzlerschaft, kurz an Jahren, war gleichwohl von tiefer Wirkung und ist als Ära schon in die Zeitgeschichte eingegangen. Das lag auch daran, daß er Politik für die Menschen erlebbar und anziehend machen konnte.
Auch nach seiner Kanzlerschaft wirkte er mit seiner Vision einer friedlichen Weltinnenpolitik national und international in der Sozialistischen Internationale und in der Nord-Süd-Kommission weiter.
Willy Brandt blieb bei all seinen internationalen Tätigkeiten ein Politiker der deutschen Einheit. Er war von ihr überzeugt und sah in ihr eine wichtige Voraussetzung für wirklichen Frieden und echte Einheit in ganz Europa.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben Willy Brandt persönlich gekannt, manche von uns schon seit Jahrzehnten. Er hat unser Parlament, sein Ansehen und seine Wirkung in der Öffentlichkeit geprägt. Er war ein profilierter und fesselnder Redner. Seine Debattenbeiträge wirkten nicht nur durch sein rhetorisches Geschick. In seinen Reden spürte man immer das Engagement einer großen, unverwechselbaren Persönlichkeit, die durch feste Grundüberzeugungen, aber auch durch Nachdenklichkeit bestimmt war. So blieb er ständig offen für neue Gedanken, für neue Ansätze zur Problemlösung.
Willy Brandt konnte mitunter in der Argumentation sehr scharf werden, aber niemals hat er mit seinen Beiträgen Personen verletzt oder persönlich herabgewürdigt. Er war ein vorbildlicher Parlamentarier, der gerade in den letzten Jahren zwischen den streitigen Standpunkten auszugleichen vermochte.
Mit seiner Familie trauern wir um den Menschen Willy Brandt, mit ihm um eine der bedeutendsten historischen Gestalten der Nachkriegsgeschichte Deutschlands.
Der Fraktion der SPD gilt unsere besondere Anteilnahme.
Willy Brandt hat sich um Deutschland verdient gemacht.
Ich bitte Sie, daß wir die Sitzung erst nach zehn Minuten weiterführen und sie dann wieder eröffnen.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12a und 12 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Kinderpornographie
— Drucksache 12/3001 —b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hanna Wolf, Dr. Hans de With, Hermann Bach-
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9466 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines . . . Strafrechtsänderungsgesetzes — Verjährung von Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen
— Drucksache 12/2975 —Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.Ich erteile das Wort der Bundesjustizministerin Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kinder gehören zu den Schwächsten in unserer Gesellschaft und bedürfen unseres besonderen Schutzes. Das ist von dieser Stelle aus bereits mehrfach gesagt worden. Ich wiederhole es, weil dies auch heute für uns das Leitthema bei den zu beratenden Gesetzentwürfen sein muß.Mit der Kinderpornographie hat sich in den letzten Jahren vor allem durch die fortschreitende Videotechnik eine besonders verabscheuungswürdige Form sexuellen Mißbrauchs von Kindern entwickelt. Videofilme, die vielfach von nahen Verwandten authentisch aufgenommen werden, zeigen kaum vorstellbare Perversionen des sexuellen Mißbrauchs von Kindern. Filme werden privat getauscht oder geschäftsmäßig verwertet. Dabei erfolgt der Vertrieb überwiegend konspirativ über Chiffreanzeigen, Btx oder Postfachkontakte.Dieser üblen Erscheinung will die Bundesregierung in dem vorliegenden Gesetzentwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes — Kinderpornographie — mit den Mitteln des Strafrechts zuleibe rücken. Die Verbreitung und Veröffentlichung von Kinderpornographie sowie Vorbereitungshandlungen hierzu sind schon nach geltendem Recht wie auch ihre Herstellung strafbar. Für die Verbreitung kinderpornographischer Machwerke ist aber bisher nur ein Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe vorgesehen. Dieser Strafrahmen ist zu gering. Angesichts der enormen Gewinne, die beim Vertrieb von Kinderpornographie erzielt werden können, reicht er nicht aus, um Täter abzuschrecken. Deshalb sieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung eine deutliche Erhöhung auf Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe und, wenn die Tat Bewerbs- oder bandenmäßig begangen wird, auch Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren vor.Wichtig ist außerdem: Der Entwurf stellt den bisher straflosen Besitz und die Besitzverschaffung von kinderpornographischen Produkten unter Strafe. Mit der Strafbarkeit des bloßen Besitzes bzw. des Besitzverschaffens soll künftig auch der Konsument von Kinderpornographie zur Rechenschaft gezogen werden, denn durch die Nachfrage schafft letztendlich er den Markt für solche Produkte und ist mitverantwortlich dafür, daß weiterhin solche Machwerke produziert und Kinder zu diesem Zweck sexuell mißbraucht werden.Der Entwurf berücksichtigt allerdings noch nicht, daß mit dem jüngst in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität eine verbesserte Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung im Strafgesetzbuch geschaffen worden ist. Ich meine, man sollte das neue Institut des erweiterten Verfalls auch auf den neuen Qualifikationstatbestand der gewerbsmäßigen und bandenmäßigen Verbreitung von kinderpornographischen Schriften anwenden und so die bereits nach geltendem Recht bestehenden Möglichkeiten zur Abschöpfung von Gewinnen aus diesem schmutzigen Geschäft erweitern.Über die Verschärfung des Strafrechts hinaus hat sich die Bundesregierung auch weiterer Maßnahmen zur verbesserten Bekämpfung der Kinderpornographie angenommen. Das Problem der kurzen presserechtlichen Verjährung bei der Verbreitung von Kinderpornographie haben wir an die Länder herangetragen. Der Bundesminister des Innern und ich haben einen Formulierungsvorschlag für eine Kommission der Länder erarbeitet, nach dem die Verbreitung von Kinderpornographie nicht mehr unter die presserechtlichen Verjährungsvorschriften fällt.In dem vom Kabinett am 1. Oktober 1992 beschlossenen Entwurf eines Zollrechtsänderungsgesetzes wird endlich die langerwartete gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, daß der Zoll auch auf dem Postwege verbotswidrig ein- oder ausgeführte Kinderpornographie an die zuständige Staatsanwaltschaft weiterleiten kann. Das war bisher ein Mißstand, den wir alle gemeinsam an verschiedenen Stellen beklagt haben. Ich bin froh darüber, daß wir jetzt auch ein Bündel von Maßnahmen außerhalb des Strafrechts haben, um die Verbreitung und den Besitz kin derpornographischer Produkte zu unterbinden und damit hoffentlich auch dazu beizutragen, daß die Herstellung zurückgeführt, wenn nicht sogar auf ein solches Minimum reduziert wird, das bei uns nicht mehr die Bedeutung hat, die es in den letzten Monaten mit einer fürchterlich ansteigenden Tendenz bekommen hat.Dem Schutz der Kinder vor sexuellem Mißbrauch dient nicht zuletzt auch eine effektive strafrechtliche Verfolgung der Täter. Dem steht — darin stimme ich mit dem Gesetzentwurf der SPD überein — nach geltendem Recht die Gefahr entgegen, daß Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern zum Teil schon verjährt sind, bevor das Opfer sich überhaupt entschließen kann, Anzeige zu erstatten. Die Erfahrung hat gezeigt, daß viele — besonders Frauen, die als Kinder mißbraucht wurden — erst im Erwachsenenalter imstande sind, die an ihnen verübten Verbrechen den Strafverfolgungsbehörden zu offenbaren. Die Täter sind häufig nahe Verwandte, zu denen die Kinder in der Regel in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Das hindert sie daran, über das Geschehen Dritten gegenüber frei zu sprechen. Hinzu kommt, daß die Betroffenen oft erst als Erwachsene ermessen können, was ihnen in der Kindheit angetan wurde. Wenn sie sich dann zu einer Strafanzeige entschließen, müssen sie häufig feststellen, daß die Taten, die heute innerhalb von drei bis zehn Jahren verjähren, nicht mehr verfolgt werden können.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992 9467
Bundesministerin Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerIch habe mich deshalb in den vergangenen Monaten wiederholt für eine Änderung des Verjährungsrechts in diesem Punkt ausgesprochen. Der sexuelle Mißbrauch ist Mord an Kinderseelen und führt häufig zu lebenslanger Angst, Bindungsunfähigkeit und sexuellen Problemen im Erwachsenenalter. Deshalb muß alles getan werden, um Kinder vor diesen Perversionen der Erwachsenen zu schützen. Am geltenden Verjährungsrecht darf eine notwendige und abschreckende Strafverfolgung nicht scheitern. Ob das von der SPD vorgeschlagene Hinausschieben des Laufens der Verjährung ab Vollendung des 18. Lebensjahres geeignet und der richtige Weg ist, werden wir im Rahmen der Gesetzesberatungen noch prüfen und überlegen. Vielleicht gibt es auch einen Konsens über die unterschiedlichen Vorstellungen, die Verjährungsfrist erst ab dem 14. Lebensjahr laufen zu lassen. Ich bin hier offen für Vorschläge und Argumente. Daß wir in diesem Punkte etwas tun sollen, glaube ich, ist wichtig und soll an dieser Stelle hier erwähnt werden.
Zum Schluß möchte ich noch einen Gesichtspunkt hervorheben: Bei allem Bemühen um eine sachgerechte Lösung der Verjährungsfrage dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, daß die Strafverfolgung, so wichtig sie auch ist, für das Opfer im konkreten Fall zu spät kommt. Von entscheidender Bedeutung scheint mit daher auch die Frage der Prävention und der Aufklärung zu sein. Hierzu gehört für mich auch die Enttabuisierung des Themas in unserer Gesellschaf t.
Sie ist aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt, um den Tätern die bisherige Sicherheit zu nehmen, daß ihr abscheuliches Tun unentdeckt und damit straflos bleiben wird.Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Simm.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte zu den Strafrechtsänderungsgesetzen gegen Kinderpornographie und zur Verjährung von Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen hat eine Vorgeschichte, auf die ich noch einmal kurz zurückblenden möchte.Aufgeschreckt durch eine Reportage im „Stern" von 1989 und durch das Ergebnis einer im März 1990 durchgeführten Anhörung formulierten weibliche Abgeordnete aller Fraktionen einen gemeinsamen Antrag zu „Maßnahmen gegen Kinderpornographie", den sie im Oktober 1990 der Öffentlichkeit vorgestellt und auch schon damals den zuständigen Ministerien zugeleitet haben. Wegen des Ablaufs der elften Legislaturperiode wurde dieser überfraktionelle Antrag — getragen wiederum von vielen Abgeordneten, diesmal auch von Männern in den Fraktionen — im Juni 1991 erneut eingebracht. Vor ziemlich genau einem Jahr wurde er in einer sehr ernsthaftenund von breitem Konsens getragenen Debatte hier im Plenum behandelt.Dieser überfraktionelle Gruppenantrag, der seitens der Bundesregierung, insbesondere vom damaligen Staatssekretär im Ministerium für Frauen und Jugend, Herrn Hinze, sehr warmherzig befürwortet wurde, enthielt eine Vielzahl von Forderungen an die Bundesregierung, von denen die Verschärfung des Strafrechts nur eine war.Mit dem nun vorliegenden Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes — Kinderpornographie — ist die Bundesregierung ihrer Verpflichtung, alles ihr Mögliche zur Bekämpfung der sexuellen Mißhandlung und Ausbeutung von Kindern zu tun, nach meiner Meinung bei weitem noch nicht nachgekommen. Zwar ist grundsätzlich die Anhebung des Strafmaßes für die Verbreitung kinderpornographischer Darstellungen und für banden- und gewerbsmäßiges Handeln ebenso zu begrüßen wie die allseits geforderte Möglichkeit der Bestrafung des bloßen Besitzes kinderpornographischer Darstellungen. War es doch bisher so, daß sichergestelltes kinderpornographisches Material nicht selten von der Polizei wieder an den Besitzer ausgehändigt werden mußte, weil ihm eben nichts anderes als der Besitz zu beweisen und mangels Strafvorschrift nicht nur keine Bestrafung, sondern auch keine Einziehung möglich war. Polizeibeamte haben mir gegenüber in persönlichen Gesprächen diese ihre Hilflosigkeit wiederholt zornig beklagt. Hier bringt also der Gesetzentwurf der Bundesregierung eine wesentliche Verbesserung gegenüber der geltenden Rechtslage.
Das für den Besitz und die Besitzverschaffung vorgesehene geringere Strafmaß — wiederum nur Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder Geldstrafe — wird jedoch der Bedeutung und dem Gewicht dieser Straftat nicht gerecht. Man halte sich vor Augen, dieses Strafmaß entspricht — darauf hat der Kollege Pick bereits in der Debatte im Oktober des vorigen Jahres hingewiesen — dem Strafmaß für das Schwarzfahren. Das Strafmaß berücksichtigt nicht hinreichend, daß es ohne die Abnehmer keinen Markt für Kinderpornographie gäbe, daß also die Nachfrage der Konsumenten den entscheidenden Anreiz darstellt, kinderpornographische Videofilme herzustellen und Kinder zu diesem Zweck zu mißbrauchen. Die Abnehmer sind somit eigentlich als Anstifter zu betrachten, und sie sind meiner Meinung nach auch als solche zu behandeln.
Da aber nach unserem Strafrecht — ich verweise auf § 26 des Strafgesetzbuchs — der Anstifter „gleich einem Täter" zu bestrafen ist, halte ich die mildere Bestrafung des Besitzes gegenüber dem Herstellen und Verbreiten von Kinderpornographie für sachlich falsch.
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9468 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992
Erika SimmIch befürchte, daß das jetzt vorgeschlagene Strafmaß wiederum dazu führen wird, daß die Täter eine nennenswerte Bestrafung nicht befürchten müssen, daß wiederum im Regelfall allenfalls geringe Geldstrafen verhängt und eine Vielzahl von Verfahren eingestellt werden.Ich habe mich sachkundig gemacht, weil ich wissen wollte, was damals an Strafverfahren eigentlich herausgekommen ist, nachdem die „Stern"-Reporter ihr gesamtes Material 1989 der Staatsanwaltschaft übergeben hatten. Ich habe erfahren können: Es gab eine Bestrafung in einem einzigen Fall. Alle anderen Verfahren haben nicht zur Bestrafung der Täter geführt.Kein Verständnis habe ich dafür, daß die Bundesregierung nicht bereit war, die Verjährungsfrist für Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen zu verlängern, wissen wir doch, daß viele Opfer erst nach Jahren über ihre Erlebnisse sprechen können, weil sie entweder erstmals eine Person gefunden haben, der sie vertrauen und der gegenüber sie nicht befürchten, als Lügnerin abgestempelt zu werden, oder weil sie das eigentlich Unfaßbare und Unerträgliche über viele Jahre hinweg verdrängt haben, um sich selbst zu schützen. Für viele Kinder und Jugendliche kommt eine Strafanzeige schon deswegen nicht in Betracht, weil sie, da der Täter ein naher Familienangehöriger ist, sich damit außerhalb ihrer Familie stellen müßten, von der sie ja nicht nur ökonomisch, sondern, wie wir wissen, auch emotional abhängig sind.
Dem trägt der heute ebenfalls zu behandelnde Gesetzentwurf der SPD Rechnung, wonach die Verjährung erst mit Volljährigkeit beginnt. Ich freue mich, daß unsere Justizministerin, Frau LeutheusserSchnarrenberger, an ihrer früher schon geäußerten Meinung, die Altersgrenze sei bei 14 Jahren anzusetzen, nicht um jeden Preis festhalten will.
Lassen Sie mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch auf einen der zahlreichen unerledigten Punkte aus unserem überfraktionellen Antrag zur Kinderpornographie hinweisen, der mich persönlich maßlos ärgert. Das ist die Tatsache, daß noch immer über Btx Kinder und Jugendliche zur Prostitution angeboten werden.
Damit ich nicht über Dinge rede, von denen ich nichts weiß, habe ich mir die Mühe gemacht, selber in Btx hineinzugehen und solche Angebote abzufragen. Was ich festgestellt habe, ist erschreckend. Da findet man z. B. neben detaillierten und verantwortungslosen Ratschlägen für Sextouristen nach Thailand — Zitat: „Hin im Bums-Bomber, zurück im TripperClipper" — unter der Rubrik „Lolita-Kontakt" und den Schlagworten „schüchtern", „unerfahren", „natürlich", „knabenhaft", „zerbrechlich" Angebote wie „Mona, ganz lieb!, Konfektionsgröße 134" und anderenorts „sexy Schülerinnen verführen" oder nach der Frage „Wären Sie gerne einmal der Allererste? Faszinieren Sie Schulmädchen und Teenies?" als Angebot „Blonde Schmusepuppe ... zierlich, unbehaart".
Ich denke, hier kann kein Zweifel bestehen, um welche Art von Angeboten es sich handelt.Auf Nachfrage bei einem örtlichen Pressesprecher der Telekom meinte dieser, daß Unternehmen sei für den Inhalt des Angebots nicht verantwortlich. Es hieß: „Wir stellen nur die Technik zur Verfügung". — Ähnliche Stellungnahmen haben wir bei verschiedenen Gelegenheiten ja auch schon aus dem Bundespostministerium zu hören bekommen. Ich nenne dies einen Skandal!
Für mich gibt es nur eine Bewertung dieses Sachverhalts: Das Bundesunternehmen Telekom und damit der politisch verantwortliche Postminister, Herr Schwarz-Schilling — er verzeihe mir die Härte —, der diesen Skandal nicht unterbindet, leisten objektiv Beihilfe zum sexuellen Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen.
Ich muß in diesem Zusammenhang auch sagen: Es interessiert mich nicht, ob es schwierig ist, bestimmte Anbieter vom Zugang zu Btx auszuschließen. Das ist nicht mein Problem, sondern das der Telekom und das des Postministers. Ich hoffe nur, daß dieser es endlich auch zu seinem Problem macht.
— Nicht nur der Länder. Ich rede hier von dem zur Verfügung gestellten technischen System, das dies ermöglicht, und das ist nicht das Problem der Länder. — Ich bin gleich fertig, Herr Präsident.Der Minister sollte sich vor Augen führen: Daß in unserer Gesellschaft Kinder und Jugendliche vor sexueller Ausbeutung und Mißhandlung bewahrt werden, liegt in unser aller Verantwortung. Wer als einzelner wegschaut, statt zu helfen, wer als politisch Verantwortlicher nicht alles tut, um sexuellen Mißbrauch zu unterbinden, macht sich mitschuldig.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Heinrich Seesing.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor ungefähr einem Jahr, am 14. November 1991, hat der Deutsche Bundestag das „Gesetz zu dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes" verabschiedet. Wir mußten in der Debatte, die wir in diesem Hause führten, feststellen, daß für viele Kinder diese Welt kein Platz für Freude und Wohlbefinden ist, obwohl es in dieser Konvention heißt, „daß das Kind zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer Familie und umgeben von Glück, Liebe und Verständnis aufwachsen sollte".
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992 9469
Heinrich SeesingAber ist die Familie noch ein Platz für Kinder, wenn z. B. Eltern ihre Kinder gegen hohes Entgelt vermieten, damit skrupellose Geschäftemacher ihr Schäfchen ins Trockene bringen können? Dabei ist den Eltern durchaus bewußt, daß ihre Kinder für Filme und Fotos sexuell mißbraucht, gequält und erniedrigt werden. Man muß davon ausgehen, daß diese Kinder ein Leben lang unter den körperlichen und seelischen Folgen dieser Kinderpornographie zu leiden haben. In Art. 34 des Übereinkommens fiber die Rechte des Kindes haben wir uns verpflichtet, das Kind vor allen Formen sexueller Ausbeutung und sexuellen Mißbrauchs zu schützen. Insbesondere ist von uns innerstaatliches Handeln gefordert, um zu verhindern, daß Kinder zur Beteiligung an rechtswidrigen sexuellen Handlungen verleitet oder gezwungen werden, daß sie für die Prostitution oder andere rechtswidrige sexuelle Praktiken und für pornographische Darbietungen und Darstellungen ausgebeutet werden. Wir wollen dieser Verpflichtung durch die Vorlage dieses Gesetzentwurfs, seine zügige Beratung und baldige Inkraftsetzung nachkommen.Während der Beratung des Gesetzentwurfs in den Ausschüssen werden wir uns Gedanken zu machen haben, ob die vorgesehenen Bestimmungen ausreichend sind. Ich will jetzt nicht auf die Vorschläge der Bundesregierung im einzelnen eingehen; sie können aus der Drucksache entnommen werden. Ich weise aber schon jetzt darauf hin, daß wir uns mit dem einen oder anderen Vorschlag des Bundesrates durchaus anfreunden können. Es gibt auch aus der CDU/ CSU-Fraktion weitergehende Vorschläge, die in die Ausschußarbeit eingebracht werden können. Ich möchte aber heute einige grundsätzliche Fragen aufwerfen, die mich sehr beschäftigen.Wie kommen Menschen dazu, Befriedigung durch Videos und Bilder zu suchen, in denen ein authentischer Geschlechtsverkehr mit vier- oder fünfjährigen Kindern, meist Mädchen, oder sogar mit Säuglingen dargestellt wird? Ist das eine Sucht, die den Menschen innerlich von immer neuen Formen sexueller Handlungen und Darstellungen total abhängig macht, um eine gewisse körperliche Befriedigung zu erfahren? Wenn das so ist, wo ist dann der Ausgangspunkt zu finden? Unsere Zeit ist von einem massiven Angriff auf das Privatleben geprägt. Jeder Mensch versucht, sich in dieser Welt als eine Person einzurichten, die unverwechselbar ist. Das Privatleben ist der Platz, an dem er sich selbst wieder erfahren kann, um dann wieder in der Gemeinschaft zu leben und zu wirken. Auf diesen Ort der Selbstbesinnung haben sich zunächst unsere Massenmedien eingeschossen. Aber Feinde sind sicherlich auch die Uniformität unserer politischen und wirtschaftlichen Vorgaben oder die Lebensbedingungen unserer Massengesellschaft an sich. Wenn das so weitergeht, werden wir Abgeschiedenheit nur noch im Nervenzusammenbruch, im Bankrott oder eben in der Sucht erfahren können. So kann man erfahren, daß das Bedürfnis nach Reizmitteln von bisher nicht gekannter Brutalität und technischer Vollendung ständig ansteigt.Lange war das Geschlechtsleben ein Hort des Privaten. Ich will nicht darauf eingehen, daß die sexuellen Erlebnisse in dieser Ein- oder besser Zweisamkeit Menschen zu vielen positiven Leistungen fürandere Menschen beflügeln können. Die Pornographie des Bildes zerschlägt das alles. Sie höhlt Menschen aus. Das Sexualleben wird immer mehr zum Bestandteil des öffentlichen Lebens. Ich erinnere nur an Fernsehsendungen, Illustriertenserien und Zeitungsartikel. Dort kann der Mensch nicht mehr den Platz für das Private finden. Die Sucht, Befriedigung des Sexualtriebs zu erlangen, wird immer neue Ausdrucksformen finden müssen, wenn sie befriedigt werden will. Die Grenze des Tragbaren ist auch in unserer Gesellschaft längst überschritten. Es muß der Versuch gemacht werden, in einem Teilbereich, nämlich dem der Kinderpornographie, die Grenzen neu aufzuzeigen. Wahrscheinlich sind noch strengere Strafen, als bisher vorgesehen, dafür notwendig.Unsere ganze Arbeit wird aber nur dann wirklich Erfolg haben, wenn wir in die Köpfe und Seelen der Menschen hineinkommen. Es ist heute leider sehr modern geworden, unser Nachdenken und das Sprechen darüber im Parlament nur noch in abwertender oder ablehnender Kritik zur Kenntnis zu nehmen. Daß es dahin gekommen ist, mag auch eine Folge unserer Art sein, oft zuviel zu reden, dem anderen nicht mehr zuzuhören, seine Vorschläge nicht zu bedenken und Entscheidungen möglichst lange hinauszuzögern. Wir sollten im Fall der Kinderpornographie und anderer Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen gemeinsam versuchen, in dem Menschen eine Haltung zu erzeugen, die hilft, diese Welt für alle Kinder wieder zu einem Ort zu machen, wo sie von Glück, Liebe und Verständnis umgeben aufwachsen können.
Denn, wie so oft in dieser Welt, werden Verbote und Gebote allein nichts nützen. Aber wir können und dürfen nicht auf eine Verschärfung der strafrechtlichen Bestimmungen verzichten. Ich sagte schon, daß wir uns noch über die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen in den Ausschüssen unterhalten müssen. Nicht alles erscheint mir ausreichend. Ich verweise ausdrücklich auf den Antrag unserer Kolleginnen und einiger Kollegen auf Drucksache 12/709, in dem zahlreiche Maßnahmen gegen Kinderpornographie verlangt werden.Der Gesetzentwurf der Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion verlangt, daß die Verjährung von Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen nicht vor Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers beginnt. Im Grundsatz stimme ich diesem Anliegen zu. Es ist allerdings zu überdenken, ob die Verjährung tatsächlich erst mit dem 18. Lebensjahr des Opfers einsetzen soll oder aus manchen Gründen vielleicht nicht doch schon früher einsetzen müßte. Aber darüber wollen wir miteinander und mit dem Bundesminister der Justiz sprechen. Aber, meine Damen und Herren, wir sollten schnell arbeiten, denn die Sache drängt.Ich danke Ihnen.
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9470 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992
Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem sexuellen Mißbrauch von Kindern und der Kinderpornographie, die in mehr als 95 % aller Fälle Gewalt gegen Mädchen ist. Die heutige Diskussion kann deshalb meiner Meinung nach nicht losgelöst von der Frage der allgemeinen Gewalt gegen Frauen und Mädchen geführt werden.Ich habe eine Redezeit von fünf Minuten. In diesem Zeitraum werden in der Bundesrepublik Deutschland etwa 40 Frauen verprügelt. Etwa alle acht Sekunden wird eine Frau verprügelt, und zwar von ihrem Ehemann oder einem Mann, mit dem sie zusammenlebt. Das Verprügeln von Frauen ist das häufigste Verbrechen in diesem Lande. Alle 23 Minuten wird eine Frau vergewaltigt, und dies in nahezu der Hälfte aller Fälle von jemandem, den sie kennt. Dies sind nur die Fälle, die tatsächlich gemeldet werden. Die Dunkelziffer wird etwa auf das Zehnfache geschätzt. Wenn es der eigene Ehemann war, fällt die Vergewaltigung dabei statistisch gesehen nicht ins Gewicht, denn sie ist als Nötigung nur ein Kavaliersdelikt.Die genaue Anzahl der Opfer sexuellen Mißbrauchs im Kindesalter liegt im Dunkeln. Aber die Anzahl der gemeldeten Fälle läßt ein jährliches Ansteigen auch dieser Gewalt gegen Frauen und Mädchen erkennen. Es klingt übertrieben, aber die Zahlen sprechen dafür, daß es bald keine Frau mehr geben wird, die noch nie in ihrem Leben in irgendeiner Form verbaler oder körperlicher Gewalt ausgesetzt war.Alles dies spielt sich in dem ab, was wir unser alltägliches, normales Leben nennen. Im überwiegenden Teil der Fälle passiert es in der Familie des Opfers, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft und nicht irgendwo weitab. Trotzdem besteht so etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft, diese alltägliche Gewalt nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen oder — wo dies unumgänglich ist — sie als untypisch zu verharmlosen.Eine Vorreiterrolle in dem expandierenden System von Ausbeutung und Mißbrauch, in dem Frauen und Kinder als minderwertige Ware terrorisiert werden, spielt die Pornographie, die durch eine sadistische, militärisch organisierte und sehr einflußreiche „Industrie" organisiert wird. In den alten Bundesländern erleben Sie seit Jahren eine explosionsartige Verbreitung der Pornographie: immer mehr und immer härtere Pornos mit immer jüngeren Opfern.Der Gedanke, daß ein Kind sexuell diskriminiert und sexuell mißbraucht wird, ruft gemeinhin Wut und Empörung hervor und läßt den Ruf nach härteren Strafen für die laut werden, die für diesen Mißbrauch verantwortlich sind. In diesem Kontext sehe ich den heute zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf.Fast auf den Tag genau vor einem Jahr habe ich mich schon einmal zu dieser Problematik geäußert und die Zustimmung unserer Abgeordnetengruppe zu gesetzlichen Präventivmaßnahmen zum Ausdruck gebracht. Für uns besteht auch heute kein Zweifeldaran, daß es für Frauen und Kinder einen staatlich garantierten Schutz vor der permanenten Verletzung ihrer Menschenrechte geben muß. Pornographie ist eine Verletzung der Menschenrechte. Dennoch — auch darüber habe ich schon vor einem Jahr gesprochen — sehe ich keinen Grund zur Zufriedenheit, wenn dieses Gesetz verabschiedet werden sollte.Zum einen wird durch den Gesetzgeber noch immer ein Unterschied zwischen der Verletzung der Menschenrechte der Frauen und der der Kinder gemacht. Während die Frauen ungestraft zu Opfern sexueller Gewalt gemacht werden dürfen — die Bundesregierung geht in ihrer Begründung des Gesetzentwurfs noch immer vom Mythos der freiwilligen Mitwirkung von Frauen im Pornogeschäft aus —, wird dasselbe für Kinder — zu Recht — unter Strafe gestellt. Dies nenne ich jedoch scheinheilig. Wie soll der, der ungestraft Pornofilme herstellen, verbreiten und besitzen darf, in denen Frauen vergewaltigt, verstümmelt, getreten und zerstückelt werden, zur Achung der kindlichen Subjektivität erzogen werden?Zum anderen ist das Gesetz für mich auch Ausdruck der Hilflosigkeit und Unfähigkeit unserer Gesellschaft, die Ursachen für die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu beseitigen. Die Pornoindustrie hat in diesem Land, wie überall in der westlichen Zivilisation, eine riesige Lobby: Nach seriösen Untersuchungen konsumieren mehr als 80 % aller Männer zwischen 18 und 65 Jahren pornographische Erzeugnisse. Unter Hinweis auf die Meinungs- und Pressefreiheit hat diese Lobby bisher jeden Versuch der Störung des Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage zunichte machen können. Ich habe Zweifel, ob ein Gesetz wie das vorliegende einen Industriezweig, in dem es derart hohe Gewinnspannen gibt, dazu bringen kann, freiwillig auf einen Teil seiner Einnahmequellen zu verzichten.Sie wollen durch das Anheben des Strafrahmens und die Ausweitung auf den Besitz kinderpornographischer Produkte den Unrechtsgehalt des Deliktes stärker erkennbar machen und Täter abschrecken. Dies erscheint mir jedoch etwas blauäugig. Eine absehbare Folge der Verschärfung der Strafen ist doch, daß die Preise für Kinderpornos steigen, die Pornos gewaltsamer werden und damit ihr Vertrieb und Verkauf noch lukrativer wird.In der Begründung zum vorliegenden Gesetzentwurf wird zu Recht darauf hingewiesen, daß bereits das geltende Recht die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornographie verbietet. Trotzdem steigt die Anzahl derartiger Erzeugnisse seit Jahren an. Um nicht immer nur an den Symptomen zu kratzen, sondern wirklich etwas gegen sexuellen Mißbrauch von Kindern zu tun, müssen wir die Ursache, nämlich die Kinder- und Frauenfeindlichkeit der Gesellschaft, in der wir leben, beseitigen.
Ich denke, wir könnten im Zusammenhang mit der anstehenden Arbeit am Grundgesetz gemeinsam die Grundlagen dafür schaffen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992 9471
Dr. Barbara HöllIch danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sexuelle Ausbeutung von Kindern und deren pornographische Vermarktung kann nur teilweise durch die Verschärfung von Gesetzen bekämpft werden. Wesentlich effektiver wären ausreichende Präventionsmaßnahmen sowie ausreichende Hilfsangebote für betroffene Mädchen bzw. Frauen.Ich finde es schon merkwürdig, wenn auf der einen Seite das Bundesjustizministerium — meines Erachtens völlig zu Recht — den § 184 des Strafgesetzbuches verschärft, auf der anderen Seite aber der Bundesfinanzminister eine Politik macht, die dazu führt, daß die Beratungstätigkeit und die Prävention in diesem Bereich schon im nächsten Jahr fast gänzlich zum Erliegen kommen werden. Sämtliche „Wildwasser"- und „Zartbitter"-Beratungsstellen arbeiten mit ABM-Kräften, deren Zahl von Jahr zu Jahr geringer wird. Bei „Wildwasser" Frankfurt wird jetzt schon nur noch auf Honorarbasis beraten, und 1993, also im nächsten Jahr, werden, wenn das so weitergeht, viele Beratungsstellen ganz schließen müssen. Hieran wird deutlich, wie halbherzig der Umgang der Bundesregierung mit diesem überaus ernsten Problem ist.Dann überrascht es mich fast schon nicht mehr, daß der Maßnahmenkatalog der Regierung gegen Pornographie mit Kindern so ausgesprochen mager ausgefallen ist.
Nur ein kleiner Teil der Vorschläge des interfraktionellen Antrages „Maßnahmen gegen Kinderpornographie" wurde aufgegriffen. Der Rest ist teilweise auf die Länder, teilweise auf die lange Bank geschoben worden.Mit dem interfraktionellen Antrag gegen Kinderpornographie ist die Bundesregierung aufgefordert worden, die Dinge, die in der Kompetenz der Länder liegen, die aber im Interesse eines wirksamen Beitrages im Kampf gegen diese Art der Gewalt gegen Kinder bundesweit geregelt werden müßten, in Zusammenarbeit mit den Ländern einer Lösung zuzuführen. In dieser Hinsicht ist — das muß man hier klar sagen — noch nichts Befriedigendes geschehen.Noch immer ist zur Sperrung des Btx-Angebotes für die Anbieter von Kinderpornographie nichts Verbindliches zu hören. Ich frage: Soll es denn allen Ernstes dabei bleiben, daß über das Vertriebssystem der Deutschen Bundespost, über Btx, weiterhin Filme angeboten werden, bei deren Herstellung Kinder sexuell mißhandelt werden?Um die Einführung der Verfolgung von Auslandstaten bei Straftaten gegen die §§ 174 und 176 hat sich die Regierung bis jetzt ebenfalls herumgedrückt.Ich denke, es gibt keine Rechtfertigung für die Untätigkeit gegenüber dem Skandal, daß jährlichTausende und Abertausende von deutschen Männern nach Asien fahren, um sich dort an wehrlosen Kindern zu vergehen.Ich meine auch, an der Unkenntnis der Bundesregierung bezüglich des Phänomens des Prostitutionstourismus liegt es jedenfalls nicht; denn sonst hätte das Bundesgesundheitsministerium nicht kürzlich eine Broschüre herausgegeben, in der deutsche Touristen Ratschläge bekommen, wie sie sich vor AIDS schützen können.Der Schutz ausländischer Kinder vor dem massenhaften sexuellen Mißbrauch durch bundesdeutsche Bürger interessiert die Bundesregierung ganz offensichtlich weniger.In bezug auf die Forderung im interfraktionellen Antrag, die Verjährungsfristen zu verlängern, wurden die Schularbeiten der Bundesregierung diesmal von der SPD-Fraktion gemacht. Wir begrüßen es als Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, daß nun endlich ein Vorschlag auf dem Tisch liegt, den wir guten Gewissens unterstützen können.Eine Verlängerung der Verjährungsfristen bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist insbesondere bei Straftaten gegen Kinder und Jugendliche unbedingt erforderlich. Nicht umsonst ist die Dunkelziffer bei Straftaten nach § 176 so extrem hoch. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer ist in den meisten Fällen so gravierend, der Schock und die Sprachlosigkeit der Opfer sind so enorm, daß dieses Verbrechen, wenn es nicht rechtzeitig von dritter Seite bemerkt wird, bei den jetzt geltenden Verjährungsfristen so gut wie sicher nicht mehr gesühnt werden kann.Die Frage ist nur, ob ein Ruhen der Verjährungsfrist bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers — wie es die SPD hier vorschlägt — ausreichend ist. Eine junge Frau hätte danach für die psychische Aufarbeitung ihrer Gewalterfahrungen, ihrer Mißbrauchserlebnisse nur bis zum 28. Lebensjahr Zeit, was nach Meinung von Frauen aus der Beratungspraxis zu kurz sein kann. „Wildwasser" Darmstadt fordert z. B. die gänzliche Aufhebung der Verjährungsfristen bei Kindesmißbrauch nach § 176.Da es zu diesem Punkt mehrere Meinungen gibt, schlage ich vor, daß wir zu dieser Frage der Verjährungsfristen eine Anhörung durchführen. Ich meine speziell für unsere Gruppe, daß diese Anhörung für uns eine Entscheidungshilfe sein könnte, ob wir einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringen.Insgesamt bin ich der Auffassung, daß der interfraktionelle Antrag „Maßnahmen gegen Kinderpornographie" mit der heutigen Gesetzesvorlage der Bundesregierung keineswegs erledigt ist. Ich denke, daß wir, d. h. diejenigen, die diesen Antrag eingebracht haben, zu gegebener Zeit die Regierung erneut in die Pflicht nehmen müssen.Danke.
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9472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Jörg van Essen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte ist ein Zeichen dafür, daß wir als Parlament unsere Aufgabe ernst nehmen. Wir verdanken es nämlich insbesondere einer fraktionenübergreifenden Initiative unserer Kolleginnen, aber auch den Anstrengungen der Kinderkommission des Deutschen Bundestages, daß wir heute über den Gesetzentwurf der Bundesregierung betreffend Kinderpornographie beraten können.Ich danke allen, die hier für den notwendigen Druck gesorgt haben.
Für die F.D.P.-Fraktion unterstütze ich alle drei Zielsetzungen des Entwurfes der Bundesregierung. Er sieht härtere Strafen für diejenigen vor, die satte Gewinne aus dem Vertrieb solcher Produkte, aus dem Leid von besonders Schwachen ziehen.Bei allen Vorbehalten, die gegen die Schaffung neuer kurzfristiger Freiheitsstrafen berechtigt erhoben werden können, stehe ich hinter der Zielsetzung des Entwurfes, nach § 184 Abs. 4 StGB den gewerbsmäßigen oder bandenmäßigen Vertrieb kinderpornographischer Produkte ausschließlich mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden.
Diese Ausnahme ist schon deshalb gerechtfertigt, weil hier schutzlose Kinder aus blankem Profitinteresse in ihrer Seele mit Folgen für das ganze Leben nachhaltig getroffen werden. Auch der Besitz wird zu Recht unter Strafe gestellt, weil kinderpornographischen Produkten, die ein tatsächliches Geschehen wiedergeben, immer ein Vergehen an diesen Kindern zugrunde liegt.
Jeder — das ist auch vom Kollegen Seesing hervorgehoben worden —, der diese Produkte besitzt, macht sich mit schuldig an dem abgebildeten Geschehen.Es bedarf nicht der zweiten, aber ebenfalls zutreffenden Begründung, daß Vertreiber sich angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten darauf beschränken, nur ein Band zu besitzen, von dem sie jederzeit Vervielfältigungen herstellen können. Von daher ist auch die dritte Zielsetzung zu unterstützen, die Möglichkeiten der Einziehung zu verbessern.Ich kann mich in keiner Weise der Argumentation des Arbeitskreises „Humane Sexualität" anschließen — die viele von Ihnen gelesen haben werden —, das Verfügungsrecht des Kindes über das eigene Bild müsse ernster als bisher genommen werden. Ich frage mich, ob ein Kleinkind von sechs oder zwölf Monaten —in diesem Alter gibt es schon den pornographischen Mißbrauch — tatsächlich über sein Bildrecht verfügen kann. Ich denke, das ist eine verquere Argumentation. Auch wenn man kritisch zu dem Vorhaben Stellungnimmt, muß man, wie ich meine, auf dem Boden der Realitäten bleiben.
Zu den erfreulichen Tatsachen gehört dagegen, daß nach dem zum 1. Januar 1992 in Kraft getretenen Btx-Staatsvertrag eine rechtliche Grundlage für ein generelles Verbot pornographischer Produkte besteht und von den Ländern geprüft wird, ob die kurzen presserechtlichen Verjährungsfristen in diesem Bereich verlängert werden können.Es gibt bisher aber nur Ansätze; wir haben das gehört. Die Kollegin Simm hat hier Ausführungen gemacht, die ich nur nachdrücklich unterstützen kann. Sie haben vollkommen recht: Da muß mehr geschehen.
Eng verzahnt mit diesem Thema ist der zweite Punkt unserer heutigen Debatte: die Verjährungsfristen bei sexuellem Mißbrauch von Kindern. Auch aus unserer Bundestagsfraktion ist vielfältige Zustimmung zu dem Grundgedanken des SPD-Vorschlags geäußert worden, die Verjährungsfrist für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nicht wie bisher mit der Beendigung der Tat beginnen zu lassen. Auch in meiner Fraktion gibt es Zustimmung zu der Überlegung der SPD-Kollegen, diese Frist erst mit dem 18. Lebensjahr und damit mit der zivilrechtlichen Volljährigkeit beginnen zu lassen.Ich verkenne nicht, daß es Gründe für diese Altersgrenze gibt: Frühestens in diesem Alter ist die eigene Persönlichkeit so gefestigt, der Druck aus der Familie nicht mehr so stark, daß eigenverantwortliche Entscheidungen tatsächlich erwartet werden können.
Weiterhin führt der notwendige Abstand zu den Taten im Kindesalter zu einer für den Rechtsfrieden notwendigen ruhigen Abwägung, ob diese früheren Vergehen und Verbrechen, die häufig von engsten Familienangehörigen begangen worden sind, verfolgt werden sollen oder ob nach dem Zeitablauf durch das Opfer — es fällt die Entscheidung darüber — auf eine Strafverfolgung verzichtet werden soll.Teilweise wird sogar ein völliger Ausschluß der Verjährung gefordert; auch die Kollegin Schenk hat hier heute so plädiert. Ich gebe zu bedenken, daß wir eine Nichtverjährung nur bei den schwerstmöglichen Delikten, nämlich Mord und Völkermord, kennen. Trotz all der schweren Schäden, die diese Taten, über die wir heute sprechen, nach sich ziehen, kann von einer Gleichwertigkeit mit diesen Vorschriften sicherlich nicht ausgegangen werden.Ich neige bisher dazu, die Verjährung mit der Vollendung des 14. Lebensjahres beginnen zu lassen. Die hier in Rede stehenden Taten verjähren in fünf bzw. zehn Jahren. Danach hat der junge Mensch bis zum 19. bzw. 24. Lebensjahr Gelegenheit, die notwendige Abwägung vorzunehmen, ob er Strafanzeige erstatten will. Wir werden dies aber in den Beratungen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992 9473
Jörg van Essen— auch das kann ich zusagen — sorgfältig prüfen; ich bin dort auch für neue Argumente offen.An einem möchte ich jedoch keinen Zweifel lassen: Wir werden hier zu einer Verjährungsregelung kommen, die von der bisherigen abweicht und einen besseren Schutz vor sexueller Gewalt im Kindesalter ermöglicht.
Kinder und ihre ungestörte sexuelle Entwicklung verdienen jede Anstrengung.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Bundesministerin für Familie und Senioren, Hannelore Rönsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kinder sind uns anvertraut. Sie vor Verletzungen ihrer Menschenwürde zu schützen ist in allererster Linie natürliche Pflicht ihrer Eltern, aber auch Pflicht der Gesellschaft und der staatlichen Gemeinschaft insgesamt.
Wir sprechen heute über eine besonders abstoßende Form der Gewalt gegen Kinder, über Kinderpornographie. Die Vermarktung von Sexualität mit Kindern muß auf das schärfste bestraft werden. Mit der strafrechtlichen Erweiterung, über die wir heute hier debattieren, denke ich, sind wir auf dem richtigen Weg.
Kinder werden am Körper, an der Seele verletzt, und sie tragen an derartigen Belastungen ein Leben lang. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir nun den Strafrahmen für die Verbreitung und für die Veröffentlichung kinderpornographischer Produkte erhöhen. Ich glaube, es ist an der Zeit.
Herstellern und Vertreibern von Kinderpornographie muß deutlich vor Augen geführt werden, daß Kinder und Jugendliche unter dem besonderen Schutz des Staates stehen und daß sie es verdienen, geschützt zu werden. Es darf nicht sein, daß sie von Erwachsenen als deren Eigentum benutzt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, gerade die Konsumenten von kinderpornographischen Darstellungen sind diejenigen, die die Nachfrage nach Kinderpornographie und damit auch einen Anreiz für die Produzenten schaffen, solch schändliche Machwerke herzustellen.
Den Herstellern muß endlich das schmutzige Handwerk gelegt werden. Ich glaube auch, daß wir aufgefordert sind, sie in der Gesellschaft zu entlarven und sie auch entsprechend zu diskriminieren.
Ich würde mich freuen, Frau Kollegin Simm, wenn wir gerade bei diesem bitteren Thema immer sachlich bleiben würden. Sie haben Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling angegriffen. Ich denke, daß
Sie sich vorher informiert haben, daß für die Ausgestaltung von Btx die Kultus- und Innenminister der Länder verantwortlich sind. Ich habe an die Kultus- und Innenminister der Länder geschrieben. Wir alle wissen, offensichtlich ist es sehr schwierig, dort etwas zu ändern. Ich hoffe, daß wir uns alle in dem Bemühen einig sind, hier etwas zu verändern, und daß wir uns an die richtige Adresse wenden.
Solche Angriffe im Parlament sind deshalb meines Erachtens fehl am Platz.
Als Familienministerin geht es mir natürlich darum, daß wir besonders in die Familien hineinwirken, weil Kinderpornographie sehr oft gerade in den Familien hergestellt wird. Täter sind oft Familienangehörige, und sie mißbrauchen ihre Stellung als Vertrauensperson. Hier muß es uns ganz besonders darum gehen, daß die doppelt starke Belastungssituation von Kindern aufgefangen wird.
Es ist angesprochen worden, daß z. B. Projekte wie „Wildwasser" in den Ländern nicht weitergeführt werden. Auch ich halte das für ausgesprochen bitter. Hier hat die Bundesregierung modellhaft etwas gefördert, was nachher von den Ländern nicht weitergeführt wird. Auch hier muß an die einzelnen Bundesländer appelliert werden, weitere Projekte zu unterstützen, d. h. ihrer Aufgabe nachzukommen und entsprechende Projekte auch zu finanzieren.
Als Familienministerin ist es mir natürlich ein ganz besonderes Anliegen, daß der Mißbrauch von Kindern — insbesondere durch ihnen nahestehende Personen — verhindert wird und daß Kindern, die zu Opfern geworden sind, wirksamer geholfen werden kann. Wir wollen hier mit wichtigen Modellprojekten wegweisend sein.
Beispielhaft nennen möchte ich die Erarbeitung von Konzepten zur Qualifizierung von Mitarbeitern in pädagogischen, medizinischen und juristischen Arbeitsfeldern. Außerdem werden Möglichkeiten wie Beratungs- und Hilfsangebote weiterentwickelt, verbessert und modellhaft erforscht. In einem weiteren Projekt werden Interventions-, Präventions- und Therapiekonzepte erarbeitet. Auf dieser Grundlage wollen wir auch Aufklärungsmaterialien erstellen.
In Vorbereitung ist ein gemeinsames Projekt des Ministeriums für Familie und Senioren und des Justizministeriums. Dieses Vorhaben zielt auf die Kooperation aller am Hilfe- und Strafprozeß beteiligten Institutionen. Damit soll vermieden werden, daß die betroffenen Kinder durch Strafmaßnahmen gegen ihre Eltern ein zweites Mal zu Opfern werden,
Ich denke, unsere Gesellschaft ist aufgefordert, die körperliche und die seelische Unversehrheit dieser geschundenen Kinder endlich herzustellen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Professor Dr. Jürgen Meyer das Wort.
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9474 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute in erster Lesung zu behandelnde Gesetzentwurf der Bundesregierung betrifft die Kinderpornographie. Der ebenfalls zu beratende Gesetzentwurf der SPD geht weiter: Er berührt im Zusammenhang mit der Verjährungsfrage das Gesamtproblem des sexuellen Mißbrauchs von Kindern.Sexueller Mißbrauch von Kindern ist seit fast 100 Jahren eines der wichtigsten Forschungsthemen der Kriminologie. Wir wissen heute, daß Kinder, vor allem Mädchen, im Alter zwischen sieben und dreizehn Jahren am stärksten von sexuellen Übergriffen betroffen sind. In einer Untersuchung des Bundeskriminalamts aus dem Jahre 1982 wird festgestellt, daß 45 % der Opfer noch keine zehn Jahre alt waren. Täter war nur in 6,2 % der Fälle ein Fremder. Die Mehrzahl der Täter kam aus dem unmittelbaren Umfeld des Kindes. Es waren Väter, Stiefväter, Brüder, Onkel, Lehrer usw. Je enger die soziale Bindung zwischen dem Täter und dem betroffenen Kind ist, desto intensiver, gewalttätiger und länger andauernd ist der sexuelle Mißbrauch.Die Nähe zwischen Täter und Opfer mag auch erklären, daß nach der Studie des Bundeskriminalamts 70 % der mißbrauchten Kinder keinerlei Hilfe in der Verwandtschaft fanden. Schon das Gespräch über dieses Thema wird vielfach tabuisiert. Auch für ausgebildete Erzieher und Erzieherinnen ist es äußerst schwierig, Verhaltensauffälligkeiten bei Jungen und Mädchen, die auf sexuellen Mißbrauch schließen lassen, nachzugehen, ohne das Kind in den Konflikt zu stürzen, „Verrat" etwa am eigenen Vater zu begehen. Das ist ein schwieriges Problem.So wird verständlich, daß die Dunkelziffer ungewöhnlich hoch ist. Schätzungen tendieren gegen 95 %. Das heißt: Von etwa 20 Mißbrauchsfällen wird nur einer bekannt.Wir wissen, sexuellen Mißbrauch von Kindern gibt es in allen sozialen Schichten. Allerdings wird der Mißbrauch eher bekannt, wenn der Täter fremd ist, das Kind also keinen emotionalen Bezug zu ihm hat, oder wenn der Täter einer unteren sozialen Schicht angehört, in der die Gesellschaft Mißbrauch eher für möglich hält.Wir wissen, daß die mißbrauchten Kinder in vielen Fällen lebenslange psychische Schäden davontragen. Die frühere Skepsis gegenüber der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen von Kindern ist heute einem verstärkten Bemühen um kindgerechte Vernehmungsmethoden gewichen.Gegenstand der heutigen Gesetzesberatungen ist, soweit es den Entwurf der Bundesregierung betrifft, eine relativ neue und spezielle Form des sexuellen Mißbrauchs von Kindern, nämlich die Kinderpornographie. Über die erhebliche Strafwürdigkeit dieser Form des Kindermißbrauchs gibt es keinen Streit. Insofern habe ich dem, was meine Vorredner gesagt haben, nichts hinzuzufügen.Wir begrüßen ausdrücklich, daß nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung künftig auch der Besitzkinderpornographischer Darstellungen sowie die Besitzverschaffung mit Strafe bedroht sein sollen.
Nur so ist auch die vorgesehene Einziehung der Videos rechtlich problemlos begründbar.Dagegen erscheint uns die vorgesehene Anhebung der Strafrahmen noch nicht voll überzeugend. Bekanntlich ist kaum je ein potentieller Täter durch die Höhe der Strafdrohung zu beeindrucken, zumal die Strafurteile dann in aller Regel im unteren Bereich des Strafrahmens bleiben. Wenn Strafrahmen überhaupt etwas bewirken, dann eher durch eine hohe Mindeststrafe, die übermäßiger gerichtlicher Milde einen Riegel vorschiebt.
Deshalb wird im Rahmen der Gesetzesberatungen die umfassende Anhebung des Strafrahmens auch für die Gewaltpornographie und die Darstellung sexueller Handlungen von Menschen mit Tieren zu prüfen sein. Der von der Bundesregierung insoweit behauptete Wertungswiderspruch zu anderen Straftatbeständen besteht jedenfalls dann nicht, wenn etwa entsprechend § 176 Absatz 3 StGB, der den sexuellen Mißbrauch von Kindern betrifft, „in besonders schweren Fällen" eine Freiheitsstrafe von mindestens drei oder besser sechs Monaten vorgesehen wird, wie es die Bundesregierung nur für die Bewerbs- oder bandenmäßige Kinderpornographie vorschlägt.Ob hingegen das Schutzalter entsprechend dem Vorschlag des Bundesrates von 14 Jahren auf 16 Jahre anzuheben ist, kann nur im Zusammenhang mit der Diskussion über die unterschiedlichen Schutzaltersregelungen des westdeutschen § 175 und des fortgeltenden § 149 StGB der früheren DDR entschieden werden.
Viel wichtiger aber als höhere oder geringere Strafandrohungen ist der Versuch, dem Täter deutlich zu machen, daß sein Bestrafungsrisiko künftig größer ist. Es geht also nicht in erster Linie um die Höhe, sondern um das Ob der Bestrafung. Das ist ein Problem, das weit über den Bereich der Kinderpornographie hinausreicht und den gesamten Bereich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung betrifft.Es ist — darin stimmen wir sicher überein — eine schlimme Erfahrung der kindlichen Opfer von sexuellem Mißbrauch, wenn sie im Erwachsenenalter endlich von starker Abhängigkeit und häufig schlimmen Depressionen frei sind, Strafanzeige erstatten und dann erfahren: Die Tat ist verjährt. Der Täter hat es geradezu in der Hand, sein schutzloses Opfer zu mißbrauchen und anschließend durch die Verhinderung der Strafanzeige selbst straflos auszugehen. Die Verjährung darf nach unserer Überzeugung nicht beginnen, solange Strafverfolgung tatsächlich nicht möglich ist.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992 9475
Dr. Jürgen Meyer
Wir sprechen in anderem Zusammenhang von einem Stillstand der Rechtspflege, z. B. in totalitären Staaten, in denen bestimmte Delikte tatsächlich nicht verfolgt werden, aber gerade deshalb doch nicht verjähren dürfen. Wir diskutieren diese Fallgruppe gerade für die politischen Delikte, die in der früheren DDR nicht verfolgt worden sind. Der Staat selbst hat die Durchsetzung des an sich bestehenden Strafanspruchs verhindert. Nach unserer Überzeugung kann aber die Verhinderung von Strafverfolgung durch nächste Angehörige für das Opfer eine viel schmerzlichere Erfahrung sein. Das sollten wir bei unseren künftigen Überlegungen berücksichtigen.
Diese Verhinderung von Strafverfolgung gibt den Tätern das Gefühl, Strafe, gleichgültig in welcher Höhe, überhaupt nicht befürchten zu müssen. Deshalb fordert die SPD in ihrem Gesetzentwurf, bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung die Verjährungsfrist nicht vor Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers beginnen zu lassen.
Wir hoffen, daß die Zustimmung, die von Mitgliedern dieser Bundesregierung ohne Vorbehalt in Zeitungsinterviews bekundet worden ist und die heute erfreulicherweise grundsätzlich durch die Justizministerin erklärt worden ist, auch anhält, wenn es um die Entscheidung über unseren Gesetzentwurf geht.Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Eymer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte kann ich Sie sicherlich nicht mit meinem Redebeitrag erfrischen. Es ist ein zu ernstes Thema. Es ist kein spaßiges Thema. Es geht uns allen unter die Haut. Einmal hatte ich Gelegenheit, ein paar Aufnahmen sehen zu müssen. Ich muß sagen, ich habe mich angewidert abgewendet.Es ist ein Jahr her, daß wir hier auf Grund einer interfraktionellen Initiative über Kinderpornographie debattierten. Heute beraten wir einen Gesetzentwurf gegen Kinderpornographie, der seinen Ursprung in dieser Initiative hat. Kinderpornographie ist die Vermarktung kindlicher Sexualität. Dabei ist die Spannbreite weit. Sie reicht von der Produktion pornographischer Filme und Magazine bis hin zur gewerblichen Prostitution.Erschreckend ist, wie lange dieses Thema verdrängt wurde. Die Vorstellung, die Familie, der eigentlich sicherste Ort für Kinder, könnte der Ort furchtbarer sexueller Mißhandlungen sein, fügte sich nicht so recht in unser Bild von der Familie. Die Wirklichkeit hat uns eingeholt und eines Besseren belehrt. Tatort ist zumeist die Familie. Es sind die Väter, die netten Onkel, der vertraute Nachbar, ja, oftmals die ganze Familie, die ein Kind sexuell mißbrauchen. Dabei gibtes — wir hörten es schon von meinem Vorredner — keine sozialen Unterschiede. Kinderpornographie ist in allen sozialen Schichten anzutreffen.Die Opfer sind ihren Peinigern schutzlos ausgeliefert. Selbst dann, wenn ein Opfer den Mut faßt anzuklagen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, bleibt es wehrlos. Wer seinen Vater, seinen Onkel, eben die ganze Familie anklagen muß, ist in der Defensive, gilt als Nestbeschmutzer, als derjenige, der den Zusammenhalt der Familie zerstört.Wer sind diese Opfer, die diese Wehrlosigkeit ertragen müssen? Es sind Kinder, ja Kleinkinder, auch schon im Alter unter drei Jahren, die sexuell mißbraucht werden. Es gibt pornographische Darstellungen selbst von elf Monate alten Säuglingen; man mag es sich gar nicht vorstellen.Die Fotos, Filme und vor allem Videos werden gleichermaßen für den privaten Gebrauch wie für Verleih und Verkauf produziert. Die Folgen sind gravierend. Das Leben der Opfer ist in der Regel zerstört. Schwerste körperliche und seelische Schäden sind die Folgen eines solchen Mißbrauchs.Das Geschäft dagegen blüht, der Markt ist international. Die erzielten Umsätze liegen in Millionenhöhe. Hergestellt werden die Kontakte über Chiffre-Anzeigen, anonymisiert durch Postfächerangaben, Postlagerkarten oder Postcodewörter. Anbieter und Konsumenten halten sich bedeckt. Allein der Kreis der sogenannten Sammler, der kinderpornographische Filme über Videoaustauschnetze vermittelt, umfaßt in Deutschland mindestens 30 000 Personen.Meine Damen und Herren, Kinder brauchen unsere Hilfe. Kinder haben keine Lobby. Kinder können sich nicht frei entscheiden. Sie werden gezwungen, gepeinigt, mißbraucht — alles für die Geldgier anderer.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht an wichtigen Eckpunkten nicht weit genug.Erstens. Die Strafandrohung ist zu niedrig.
Wir Frauen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordern für die Neufassung des § 184 Absatz 3 und 4 StGB einen höheren Strafrahmen für die Verbreitung und das gewerbsmäßige Vertreiben von Kinderpornographie. Wir alle wissen: Im Strafmaß kommt zum Ausdruck, welche Verwerflichkeit einem Handeln beigemessen wird. Die Strafbarkeit hat auch maßgeblichen Einfluß auf die Bewußtseinsbildung der Bevölkerung.Um dem sich immer weiter ausdehnenden Markt der Kinderpornographie erfolgreich zu begegnen, muß sich auch die Einstellung der Menschen zu den Besitzern und Herstellern von Kinderpornographie verändern.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Mißhandlung von Kindern als solche wird von niemandem gebilligt. Es darf aber auch die Kinderpornographie nicht als weniger verwerflich angesehen werden. Kinderpornographie ist sexueller Mißbrauch von Kindern. Wir dürfen keine Unterschiede aufkommen
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9476 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992
Anke Eymerlassen. Die Strafdrohung für Kinderpornographie muß sich daher an der Strafdrohung für den sexuellen Mißbrauch von Kindern orientieren. Nur wenn Kinderpornographie von uns allen, von der gesamten Gesellschaft, abgelehnt und geächtet wird und die Ächtung der Täter kompromißlos ist, kann es gelingen, den Absatzmarkt auszudörren.
Mit Kinderpornographie werden Millionen verdient. Ich sagte es bereits. Eine Geldstrafe nimmt sich gegenüber solchen Umsatzdimensionen als kleineres Betriebsrisiko aus. Das gilt ebenso für die Konsumenten. Die Summen, die für Filme, Magazine und Videos gezahlt werden, sind beträchtlich. Schon deshalb muß die Strafandrohung Händler wie Konsumenten mit aller Härte treffen. Es gilt, Händler und Konsumenten durch ein höheres Strafmaß abzuschrecken.
Zweitens. In das Konzept zur Bekämpfung der Kinderpornographie müssen Auslandsstraftaten mit einbezogen werden. Es soll auch der Bestrafung unterliegen, wenn die Verbreitung kinderpornographischer Erzeugnisse im Ausland erfolgt und wenn die Herstellung von Kinderpornographie durch einen deutschen Staatsangehörigen im Ausland mit ausländischen Kindern erfolgt.
Sie werden mir sicherlich alle zustimmen: Es macht keinen Unterschied in der Verwerflichkeit, ob ein deutsches Kind in Deutschland oder ein ausländisches Kind im Ausland von einem Deutschen sexuell mißbraucht wird.
Angesichts des heutigen Sextourismus ist diese Gesetzesänderung dringend geboten. Wir würden nicht sehr glaubwürdig wirken, wenn wir in unserem Land die Taten verfolgten, es uns dann aber nicht weiter interessierte, wenn Kinder im Ausland mißbraucht werden.Erlauben Sie noch einen weiteren Hinweis: Dem Problem der Kinderpornographie werden wir mit einer Änderung des Strafrechts allein nicht gerecht. Wir brauchen zusätzlich Änderungen im Strafprozeßrecht. Die Konfrontation der Opfer mit dem Peiniger und dem Erlebten muß auf ein Minimum beschränkt werden. Wir brauchen ein umfassendes Aufklärungs- und Schulungsprogramm, und ich bin sehr froh, Frau Ministerin Rönsch, daß Sie schon ankündigten, daß hier etwas auf den Weg gebracht werden soll.Lehrer, Ärzte, Pastoren, Jugendpfleger, aber auch Kriminalbeamte und Richter, überhaupt Menschen, die auf Grund ihrer beruflichen Stellung in der Situation sind, mit Opfern sexuellen Mißbrauchs zusammenzutreffen, müssen hierauf vorbereitet werden. Die Vorbereitung muß zudem darauf ziehlen, daß Anhaltspunkte erkannt werden können, die auf sexuellen Mißbrauch bei Kindern hindeuten. Nur so kann es für die Zukunft gelingen, Fälle aufzudecken, die viel zu oft im dunkeln bleiben. Nur so kann den Opferngeholfen werden, die stumm und wehrlos ihren Peinigern ausgeliefert sind.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren! Jetzt sind wir wirklich am Ende der Aussprache.
Ich kann Ihnen mitteilen, daß der Ältestenrat Ihnen vorschlägt, die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/3001 und 12/2975 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorzunehmen. Kommen aus dem Haus weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann kann ich die Überweisung als beschlossen feststellen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hanna Wolf, Dr. Marliese Dobberthien, Erika Simm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz — Drucksache 12/2096 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Frauen und Jugend Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Der Ältestenrat schlägt Ihnen hier ebenfalls eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ich frage das Haus, ob es damit einverstanden ist. — Das ist offensichtlich der Fall.
Dann kann ich die Debatte eröffnen und der Abgeordneten Frau Hanna Wolf das Wort erteilen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Sekretärin, seit sechs Jahren in einem Unternehmen beschäftigt, wird von dem Verkaufsleiter, ihrem Vorgesetzten, über Jahre hinweg mit verbalen Anzüglichkeiten und sexuell bezogenen Tätigkeiten belästigt. Trotz ihrer Aufforderung, das zu unterlassen, setzt er sein Verhalten fort. Eine Beschwerde an den Betriebsrat führt dazu, daß dieser sich für die Kollegin einsetzt und von der Geschäftsführung verlangt einzugreifen. Der Verkaufsleiter bestreitet die sexuellen Belästigungen. Die Sekretärin wird kurz darauf entlassen mit der Begründung, daß sie durch ihre Beschuldigungen das Betriebsklima gestört habe.Ist das ein Ausnahmefall? In der Tat hat dieser Fall von sexueller Belästigung in zwei Punkten eher Ausnahmecharakter; denn meistens wagen die betroffenen Frauen gar nicht erst den Weg der Beschwerde, oder der Betriebsrat geht der Beschwerde nicht oder nur unzureichend nach. Aus Angst oder Scham gehen Frauen häufig nicht gegen den Belästiger vor. Weder wollen sie als sogenannte zickige Emanze gelten noch ihren Arbeitsplatz aufs Spiel setzen. Der Tatbestand der sexuellen Belästigung wird auch vom Gesetzgeber weitgehend ignoriert.Schon um die Jahrhundertwende brandmarkte der Strafrechtsautor Rudolf Quanter sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz. Die Probleme sexueller Belästigung
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Hanna Wolfam Arbeitsplatz sind aber erst in den letzten zehn Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Erhebungen und Untersuchungen geworden. 1979 wurde in den USA eine breite Umfrage im öffentlichen Dienst durchgeführt. 42 % der befragten Arbeitnehmerinnen hatten sexuelle Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz erlebt. Seither gibt es auch mehrere Umfragen und Untersuchungen in der Bundesrepublik, insbesondere von Plogstedt und Bode, außerdem eine InfasUmfrage sowie eine Untersuchung der Hamburger Gleichstellungsstelle und zuletzt eine umfassende Studie der Sozialforschungsstelle Dortmund.Nach diesen neuesten Studien werden mehr als zwei Drittel der befragten erwerbstätigen Frauen am Arbeitsplatz sexuell belästigt. Das reicht von anzüglichen Bemerkungen über pornographische Bilder am Arbeitsplatz bis zu unerwünschten körperlichen Annäherungen und Übergriffen. Die spontane Abwehrreaktion bleibt oft deshalb unterdrückt, weil diese Übergriffe unerwartet kommen.Die Studien zeigen auch, daß Männer sehr wohl zwischen Flirt und unerwünschter Anmache zu unterscheiden wissen. Sie wissen, wann sie sich einer Frau aufdrängen, sie belästigen, sich über ihre Willen hinwegsetzen. Und sie tun es doch!Der Arbeitsplatz ist also neben der Familie der häufigste Ort, an dem sexuelle Übergriffe auf Frauen stattfinden. Ähnlich wie bei sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Familienbereich wird versucht, die sexuelle Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz zu bagatellisieren und mit Witzen abzutun.Was hat nun die Bundesregierung bisher getan? Weder ist bis heute die Vergewaltigung in der Ehe strafbar, trotz mehrfacher gesetzgeberischer Initiativen der SPD-Bundestagsfraktion und der GRÜNEN, noch hat die Bundesregierung Schutzgesetze gegen sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz vorgelegt. Das geltende Strafrecht versagt hier. Die Arbeitsschutzgesetze gelten in erster Linie für technische Gefährdungen der Gesundheit. Vor sexuellen Übergriffen ihrer männlichen Vorgesetzten oder Kollegen schützen sie die Frauen nicht. Die Fürsorgepflicht der Arbeitgeber gegenüber den Beschäftigten gebietet Schutz vor Eingriffen in ihre Persönlichkeitsrechte.
Sie gebietet Schutz vor gesundheitlichen und seelischen Gefahren. Die Arbeitgeber haben bis heute diese Verpflichtung nicht erfüllt. Sie haben keine präventiven Maßnahmen ergriffen, um Frauen vor sexuellen Belästigungen zu schützen.
Beschwerden von belästigten Frauen gehen sie in der Regel nicht ernsthaft nach, obwohl die Belästigungen eine Beeinträchtigung des Betriebsfriedens und eine Behinderung der Arbeitsfähigkeit der Frauen bewirken. Beschweren sich Frauen, werden sie und nicht etwa der Belästiger gekündigt, versetzt oder auf eineandere Weise benachteiligt. Einer DGB-Studie zufolge kündigen 6 % der betroffenen Frauen das Arbeitsverhältnis sogar selbst.Auch die meisten männlichen Betriebs- und Personalräte stellen sich nicht selten auf die Seite der Belästiger. Gewerkschaftsfrauen haben sich deshalb dafür stark gemacht, daß Betriebsvereinbarungen über ein innerbetriebliches Vorgehen gegen sexuelle Belästigungen zwischen Arbeitgebervertretungen festgelegt werden.
Dies wäre ein geeignetes Mittel, diese Probleme anzugehen. Nur, diese Vorschläge haben bei den Betriebs- und Personalräten kaum ein Echo gehabt.Auf Grund der Erfahrungen der letzten Jahre ist deshalb davon auszugehen, daß mit einem breiten freiwilligen Abschluß von Betriebsvereinbarungen — wie Ministerin Merkel das am Anfang der Behandlung dieses Themas ja vorgeschlagen hat — über sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz nicht zu rechnen ist. Inzwischen hat die Frau Ministerin selbst erkannt, daß gesetzliche Regelungen mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Betriebsvereinbarungen sozusagen jetzt angegangen werden müssen. Wir brauchen also gesetzlich vorgeschriebene Maßnahmen, und zwar sowohl für den öffentlichen Dienst als auch für die privaten Unternehmen.Folgendes wollen wir mit unserem Antrag erreichen: Arbeitgeber müssen verpflichtet werden, Vorkehrungen zu treffen, um sexuelle Belästigungen im Betrieb zu verhindern. Sie müssen auf das Verbot sexueller Belästigungen in den Geschäftsräumen und in den Verwaltungsräumen hinweisen. Kommt es dennoch zu sexuellen Belästigungen, ist ein innerbetriebliches Beschwerdeverfahren durchzuführen. Nur ein wirksames Beschwerdeverfahren kann den Frauen nämlich helfen.
Wir sehen daher in unserem Antrag vor, daß sich die betroffene Frau mit ihrer Beschwerde über sexuelle Belästigungen an die Gleichstellungsbeauftragte des Betriebes bzw. der Verwaltung wenden kann. Daneben sind Beschwerdekommissionen einzurichten, die sich paritätisch aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern und -vertreterinnen mit einem Frauenanteil von 50 % zusammensetzen sollen. Die Gleichstellungsbeauftragte und die Beschwerdekommission müssen jeder Beschwerde einer Frau über sexuelle Belästigungen nachgehen und bei konkreten Anhaltspunkten von sich aus ein Verfahren einleiten. Die Beschwerdekommission schlägt im Falle von sexuellen Belästigungen Maßnahmen vor. Kommt der Arbeitgeber diesen nicht nach, muß eine Einigungsstelle verbindlich entscheiden.Wann es sich um sexuelle Belästigungen handelt, ist aus der Sicht der betroffenen Frauen zu beurteilen.
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Hanna WolfDies entspricht auch einer Entschließung des Rates der Europäischen Gemeinschaft zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz. Würde man dagegen versuchen, auf einen sogenannten objektiven Kriterienkatalog abzustellen, würde eine männliche Sichtweise zugrunde gelegt, wie wir es heute leider immer noch erleben.Die Sanktionen im Falle sexueller Belästigung sind jeweils nach der Schwere der Belästigung abzustufen, die sich danach richtet, wie groß die psychischen und physischen Folgen für die Frau sind. Danach wird beurteilt, ob der Belästiger wiederholt gehandelt hat. Die Sanktionen reichen daher von einem persönlichen Gespräch und dem Hinweis auf das Verbot der sexuellen Belästigung über eine Verpflichtung zur offiziellen Entschuldigung bis hin zur Versetzung oder Kündigung, auch fristlosen Kündigung.Wir halten eine breite Aufklärung über das Problem der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und die Folgen für Frauen für notwendig. Die Bundesregierung fordern wir deshalb auf, Aufklärungsmaterialien über Rechts- und Beschwerdemöglichkeiten für belästigte Frauen in Betrieben und im öffentlichen Dienst zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, daß die Verantwortlichen in ihrem Zuständigkeitsbereich durch Schulungsprogramme für diese Probleme sensibilisiert werden.Werfen wir einen Blick über die Grenzen: Der Rat der Europäischen Gemeinschaft hat die Mitgliedstaaten 1991 aufgefordert, Maßnahmen zur Vorbeugung und Bekämpfung von sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz zu ergreifen. In den USA gibt es bereits seit langem die Verpflichtung des Arbeitgebers, Beschwerden über sexuelle Belästigungen nachzugehen; es sind erhebliche Schadensersatzansprüche wegen sexueller Belästigung festgelegt. In Frankreich ist vor kurzem ein Gesetz verabschiedet worden, das sexuelle Belästigungen mit Geldstrafen oder sogar mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr ahndet. Jegliche Benachteiligung von Frauen infolge sexueller Belästigung, insbesondere Kündigung, ist verboten.Meine Damen und Herren, ich komme zur abschließenden Bewertung: Sexuelle Belästigung ist das Gegenteil von Flirt und Werbung. Sexuelle Belästigung ist immer der Versuch, die Person bzw. die Arbeitsleistung einer Frau zu entwerten. Sexuelle Belästigung ist der Versuch, eine Hierarchie zwischen dem Belästiger und dem Belästigten herzustellen und zu erhalten.
Insofern ist der Tatbestand der sexuellen Belästigung nicht ein Randproblem einer Wohlstandsgesellschaft, wie manche es so gerne definieren möchten, sondern die Grundwelle einer patriarchalen Gesellschaft, deren Merkmale von einem Drittel weniger Lohn für Frauen bis zum Frauenanteil von zwei Dritteln an der Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland reichen. Dies ist ein Unrecht!Das Unrechtsbewußtsein im Falle der sexuellen Belästigung muß bei den Belästigern offenbar erst geschärft werden. Wie in allen Unrechtsfällen, muß diese Bewußtseinsschärfung durch Gesetze unterstützt werden. Ich fordere Sie daher auf, endlich auchin der Bundesrepublik die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und dem SPD-Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Rahardt-Vahldieck.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! — Ein paar Kollegen sind zu diesem Thema erfreulicherweise sogar da. — Die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz darüber sind wir uns völlig einig; Frau Wolf hat darauf hingewiesen — ist ein täglicher Alptraum für viele Frauen. Wenn über zwei Drittel aller Frauen über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz klagen, dann kann man das nicht mehr als Ausnahmefall bagatellisieren. Es ist vielmehr ein ganz wesentliches Phänomen, das Frauen ihren Arbeitsplatz, ihr Arbeitsleben und damit auch ihre eigene Identität — möglicherweise über Jahre — vergällt.Gesetzliche Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Zudringlichkeiten, Entwürdigungen, Grapschereien usw. sind erforderlich. Allein bewirken sie allerdings auch nicht viel. Entscheidend ist es, die Frauen zu motivieren, sich zu wehren. Und entscheidend ist vor allen Dingen, den Männern die Dimension dieses Problems aufzuzeigen.
Jetzt nur als Arabeske am Rande: Wenn in meiner eigenen Fraktion dieses Thema aufgerufen wird und es heißt. dazu spricht Frau Rahardt-Vahldieck, wird das von mehreren Kollegen mit den Worten kommentiert: Ach, leider hat mich noch nie jemand am Arbeitsplatz sexuell belästigt. — Da sieht man, mit welcher Optik manche Männer diese Problematik betrachten. Und vor allen Dingen diese Optik ist es, die wir ändern müssen.
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz trifft alle Berufs- und alle Altersschichten. Insbesondere betroffen und gefährdet sind allerdings jüngere Frauen, d. h. Auszubildende oder Frauen in einer Probezeit, die noch in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Arbeitgeber oder Vorgesetzten stehen. Sie sind auch die häufigsten Opfer gerade schwerer Belästigungen, die bis zur sexuellen Nötigung reichen.Sexuelle Belästigung ist aber nicht nur die direkte Anmache. Dazu gehört z. B. auch das Aufhängen eindeutig pornographischer Bilder und der Zwang für eine Frau, sich das anzusehen. Dazu gehört weiter, sich anzügliche Witze anhören zu müssen und dabei vielleicht sogar mit den Blicken ausgezogen zu werden. All das ist sexuelle Belästigung, gegen all das muß man sich wehren.
Diese scheinbar weniger schweren Fälle werden von den Arbeitgebern häufig bagatellisiert. Eine Frau, sie sich darüber beklagt, gilt als zickig oder frigide. Da sie das Arbeitsklima nicht noch weiter verderben
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Susanne Rahardt-Vahldieckmöchte, als es ohnehin schon verdorben ist, schweigt sie und wehrt sich nicht.Wir müssen Frauen motivieren, sich zu wehren; dafür ist ein entsprechendes Gesetz sehr wichtig. Wir müssen vor allen Dingen aber auch die Männer verpflichten, sich dieses Problems anzunehmen. Das heißt, wir brauchen eine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers — sei es ein privater, sei es ein öffentlicher —, sexuellen Belästigungen auf allen Ebenen des Betriebes zu wehren. Da stimmen wir mit der SPD völlig überein.Dieses Gesetz muß auch — das ist schon angesprochen worden — Sanktionen enthalten, einschließlich der Möglichkeit der fristlosen Kündigung. Gespräch, Verweis und weitere — abgestufte — Maßnahmen gibt es im Arbeitsrecht und im Disziplinarrecht des öffentlichen Dienstes ohnehin. Eine sexuelle Belästigung verstößt gegen die arbeitsvertraglichen Pflichten im privaten Bereich und ist eine Dienstpflichtverletzung im öffentlichen Bereich — das muß eindeutig festgehalten werden —, mit allen daraus zu ziehenden Konsequenzen.
Diese Problematik muß also gesetzlich geregelt werden. Ob allerdings die Einzelfallvorschläge, die die SPD gemacht hat, in jedem Fall richtig sind, weiß ich nicht. Ich habe immer ein bißchen Bedenken, wenn ich das Wort „Beschwerdekommission" höre. Es gibt eine ganze Menge Arbeitgeber, vor allem im mittelständischen Bereich, die gar nicht so viele Arbeitnehmer haben, daß sie eine paritätisch zusammengesetzte Kommission — noch dazu mit Einigungsstelle — besetzen können. Das klingt mir alles ein bißchen zu formalistisch. Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist; darüber müssen wir reden.Reden müssen wir auch über die Frage der Beweiserleichterung; sie muß selbstverständlich geprüft werden. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob eine Beweiserleichterung nicht dazu führen könnte, daß das Gesetz seine Schlagkraft verliert oder nicht in der Form gemacht wird, wie es erforderlich wäre. Denn über eines müssen wir uns im klaren sein: Gesetze werden überwiegend von Männern gemacht; man braucht sich nur dieses Haus anzugucken. Die Beweiserleichterung im Bereich der sexuellen Belästigung dürfte einige außerordentlich verstören. Seit der guten alten Geschichte von Potiphars Weib gibt es bei Männern das Urtrauma, zu Unrecht einer sexuellen Belästigung beschuldigt zu werden. Wenn wir diese Urangst nicht in Rechnung stellen und auf der Beweiserleichterung bestehen, kann die Folge sein, daß wir dieses Gesetz gar nicht bekommen.Aber die Beweiserleichterung ist sicherlich nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, daß die sexuelle Belästigung, wie bereits angeführt, aus der Sicht der Frau gesehen wird, daß sie als Dienstvergehen oder als Verletzung des Arbeitsvertrages gilt und daß die entsprechenden Sanktionen den Belästiger und nicht — wie heute — die belästigte Frau treffen.Danke.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einigen Tagen hat die Abgeordnete im Europaparlament Lissi Gröner gefordert, in der Verwaltung dieser Institution künftig die Unterrepräsentation von Frauen in der Männerdomäne Fahrdienst durch die Einstellung von Frauen abzubauen. Eigentlich hatte ich vor, die analogen Anstrengungen von Frau Süssmuth für unser Parlament zu unterstützen. Allerdings überlege ich dies jetzt. Der Grund liegt in einem Gespräch, das ich kürzlich mit einem Bundestagsangestellten hatte; der gab unter Bezug auf seine eigenen täglichen Beobachtungen zu bedenken, daß es keine Kollegin länger als zwei Tage beim Fahrdienst aushalten würde, weil es eine nicht unerhebliche Anzahl von männlichen Abgeordneten gebe, die schon bei ihren Mitarbeiterinnen ihre Hände nicht unter Kontrolle hätten. Diese Aussage sollte uns hier im Hause schon zu denken geben. Ich bedauere, daß bei einer solchen Debatte nur so wenige Abgeordnete anwesend sind.Damit bin ich beim Thema: der permanenten Verletzung von Persönlichkeitsrechten von Frauen durch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Neun Millionen Frauen werden jedes Jahr in bundesdeutschen Amtsstuben, am Fließband und in Werkhallen Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Diese Form der Gewalt gegenüber Frauen ist lange tabuisiert worden. Auch heute, fast zehn Jahre nach der heftigen öffentlichen Debatte über den Busengrapscher Hecker, haben wir es noch immer mit einem Tabuthema zu tun. Besonders die wirklichen Ursachen sexueller Belästigung, die strukturelle Gewalt in der Gesellschaft, das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, werden aus der Diskussion nach Möglichkeit ausgeblendet. Statt dessen wird sexuelle Belästigung als Fehlverhalten einzelner unaufgeklärter Männer bagatellisiert.Dabei zeigen die von mir genannten Zahlen, die einer im Auftrag des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit 1991 erstellten Studie entnommen sind, daß fast jede Frau schon einmal solche Verhaltensweisen wie anzügliche Bemerkungen, scheinbar zufällige Körperberührungen und sexistische Witze am Arbeitsplatz erlebt hat. 56 % aller weiblichen Erwerbstätigen werden mit anzüglichen Bemerkungen über das sexuelle Verhalten im Privatleben belästigt, jede dritte Frau erhält unerwünschte Einladungen mit eindeutig sexueller Absicht, ein Drittel ist pornographischen Bildern am Arbeitsplatz ausgesetzt, und jede dritte Frau muß Belästigungen wie Pokneifen und Busengrapschen ertragen.Beschweren sich Frauen über derartige diskriminierende Umgangsformen, wird in den meisten Fällen die Schuld zuerst bei ihnen selbst gesucht. Ihr Verhalten oder ihre Art, sich zu kleiden, werden als Gründe für Anzüglichkeiten der Kollegen vorgeschoben. In anderen Fällen werden sie mit dem Vorwurf konfrontiert, sie seien zu empfindlich, zu prüde oder es fehle ihnen eben einfach der Humor. Es wird ihnen sofort unterstellt, daß sie einen harmlosen Scherz völlig falsch verstanden hätten, und ihre Glaubwürdigkeit wird herabgesetzt.
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Petra BlässDabei haben Studien gezeigt, daß Männer sexuelle Belästigung meist ebenso einordnen wie die belästigten Frauen, ihnen also bewußt ist, wann es sich um sexuelle Belästigung handelt. Trotzdem wird mit der Unterstellung, Kollegen anschwärzen zu wollen, versucht, aus den Opfern Täterinnen zu machen.Frauen, die sich wehren, sind nicht nur das Opfer sexueller Übergriffe, sondern erfahren oft zusätzlich Anfeindungen, Ausgrenzungen und Schikanen. Die Entscheidung, es öffentlichzumachen, bringt in den wenigsten Fällen eine Entlastung; in der Mehrzahl führt sie zu noch größeren Spannungen. Nicht die Belästigung wird als Grund für das schlechte Betriebsklima wahrgenommen, sondern deren öffentliche Benennung. Wehren sie sich dagegen nicht, sondern schweigen, wird dies häufig als Aufforderung zum Weitermachen verstanden.Egal, wie Frauen reagieren, sie reagieren nach Meinung ihrer Umgebung immer falsch. Das ist auch der Grund, weshalb sich bisher so wenig Frauen mit Entschiedenheit gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gewehrt haben, statt dessen eher kündigen und sogar eine längere Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen.Sexuelle Belästigung gerade der subtileren Art, bei der keine offene Gewaltanwendung erkennbar ist, verhindert, daß Frauen in einer angst- und streßfreien Atmosphäre arbeiten können. Um diesen Zustand zu ändern, sind eine bessere Aufklärung und eine größere Sensibilisierung der Gesellschaft ebenso notwendig wie strengere gesetzliche Auflagen für öffentliche und private Arbeitgeber. Es reicht nicht aus, das Thema auf Frauenseminaren der Gewerkschaften, Parteien und kirchlichen Bildungseinrichtungen zu behandeln.
Sensibilität und Problembewußtsein müssen bei Frauen und Männern gleichermaßen geweckt werden. Dazu sind die im vorliegenden Antrag geforderten Aufklärungskampagnen, Beratungsstellen für Frauen und Männer und Beschwerdestellen geeignete Mittel. Diese sind allerdings nicht zum Nulltarif zu haben; dazu müssen im Bundeshaushalt entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden.Die heutige Rechtssituation entmutigt viele Frauen, sich gegen sexuelle Belästigung zu wehren. Häufig genug geben Urteile erschreckende Einblicke in die Einstellung der Richter zur Sexualität und zur Gewalt gegenüber Frauen. Ich erinnere nur an das bekannte Skandalurteil von Zweibrücken, das einem Täter einen Freibrief für eine sexuelle Belästigung in Tateinheit mit Körperverletzung erteilte. Jedes derartige Urteil bringt weitere Frauen davon ab, sich gerichtlich gegen eine Belästigung zur Wehr zu setzen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Forderung, die Verbesserung der Beweislasterleichterung zu prüfen. Allerdings möchte ich anregen, daß weitergehende Reformen mit geprüft werden, z. B. die Pflicht, daß in Gerichtsverfahren wegen sexueller Belästigung künftig auschließlich Richterinnen und Schöffinnen Recht sprechen. Dies könnte den Widerstandswillen von Frauen gegen die Verletzung ihrer Menschenrechte auch auf anderen Gebieten nachhaltig stärken.Das ist ein Angebot zur Diskussion.Ich danke.
Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Uta Würfel das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte acht Kollegen, die Sie sich hier im Saal befinden! Liebe Kolleginnen! Natürlich ist sexuelle Belästigung kein Vorgang, der ausschließlich Frauen betrifft; auch Männer fühlen sich ab und an von Frauen — wie es in der Sprache der Jugend heißt — angemacht und in unangemessener Weise sexuell belästigt. Männer sind in ihrer Gesamtheit jedoch weit weniger vom Tatbestand der sexuellen Belästigung betroffen als Frauen, und Männer haben Mechanismen entwickelt, mit denen sie als belästigend empfundene Handlungsweisen von Frauen ganz schnell unterbinden.Wenn ich mich also im Verlauf meiner Ausführungen jetzt ausschließlich auf den Frauenaspekt beschränkte, dann deshalb, weil die meisten von sexuellen Belästigungen betroffenen Frauen meines Erachtens noch nicht gelernt haben, mit diesem Thema sachgerecht umzugehen.
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gibt es natürlich schon so lange, wie Frauen berufstätig sind. Früher waren es die Mägde auf den Gutshöfen, oder es waren die Dienstmädchen bei den Herrschaften; heute trifft es die Arbeiterinnen in der Fabrik ebenso wie die Angestellten im Dienstleistungssektor.Sexuelle Belästigung von Frauen ist also kein neuer Tatbestand. Neu ist aber — das begrüße ich sehr —, daß die Dinge beim Namen genannt werden, bei diesem Thema ebenso wie vorhin im Zusammenhang mit der Debatte über den sexuellen Mißbrauch von Kindern. Bemerkungen mit eindeutig sexuell schlüpfrigem Inhalt, unbeabsichtigt erscheinende körperliche Berührungen, Pokneifen und Potätscheln oder eindeutige Aufforderungen zu sexuellen Handlungen sind keine Kavaliersdelikte, wenn Frauen durch keinerlei Signale zu erkennen gegeben haben, daß sie am Arbeitsplatz derartige Verhaltensweisen schätzen.
Meine Damen und Herren, ich leugne nicht, daß es weibliche Angestellte gibt, die es mögen, wenn Anspielungen mit sexuellem Inhalt gemacht werden oder wenn ihnen der Po getätschelt wird. Diese Frauen mögen ein derartiges Arbeitsklima als besonders motivierend empfinden. Diese Frauen wissen aber auch, was sie tun.Es sollte jedem klar sein: Obwohl die Grenzen fließend sein können, obwohl Frauen durch entsprechende Signale zu einer bestimmten Atmosphäre am Arbeitsplatz beitragen können, gibt es eine Fülle von eindeutigen Fällen, in denen sich Frauen ohne eige-
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Uta Würfelnes Zutun und allein auf Grund ihres Frauseins sexuellen Belästigungen ausgesetzt sehen.Sexuelle Belästigung hat nichts, aber auch gar nichts mit Erotik zu tun. Erotik ist eine Sache zwischen zwei Menschen, die sich voneinander angezogen fühlen. Bei sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz liegt in der überwiegenden Zahl der Fälle ein Machtgefälle zwischen männlichem Vorgesetzten und weiblicher Untergebenen vor.
Frauen sind allein auf Grund ihres beruflichen Untergeordnetenseins von vornherein die Schwächeren: als Sekretärin, als Auszubildende, als Frau im ungeschützten Beschäftigungsverhältnis. Die Frauen wissen nicht, wie sie sich wehren sollen, ohne sich dabei gravierende Benachteiligungen oder Nachteile einzuhandeln. Sie können nicht reagieren, sie sind hilflos. Von diesen Fällen sprechen wir hier.Es ist vorhin schon von einer Kollegin gesagt worden: Anmache im Betrieb wird durch betriebliche Hierarchie begünstigt. Das ist eindeutig so.
Viele Frauen haben noch nicht gelernt, Instrumente zu entwickeln, sich gegen diese Form der Erniedrigung zu wehren. Es ist schon gesagt worden: Tun sie es dennoch, machen sie das beleidigende Verhalten eines Mitarbeiters oder ihres Vorgesetzten öffentlich, werden sie mit ihrer Beschwerde entweder nicht ernstgenommen oder sogar häufig — auch das wurde bereits gesagt — vom Opfer zur Täterin gestempelt. Sie werden als humorlos bezeichnet, als zickig, als prüde, als sexuell verklemmt oder als frigide. Sie werden verspottet. Natürlich fühlen sich diese Frauen zu Objekten degradiert. Sie fühlen sich nicht als gleichwertige Menschen behandelt, die ebensoviel Würde besitzen wie die Männer, die dies tun. Sie fühlen sich — und das muß den Männern klar sein — entwürdigt und gedemütigt.Die Studie des Bundesfrauenministeriums ist hier schon dargestellt worden: Zwei Drittel von 4 000 befragten Frauen haben zugegeben, sexuellen Belästigungen ausgesetzt gewesen zu sein. Natürlich sind auch Poster mit pornographischem Inhalt und sogenannte Herrenwitze ein Tatbestand, durch den sich Frauen in ihrer persönlichen Würde verletzt fühlen. Das Sich-anhören-Müssen von Zoten ist auch nicht gerade etwas, was der persönlichen Würde der Frau dient. Männern, Mitarbeitern, Vorgesetzten muß klar sein, daß durch ihre — von ihnen unter Umständen als üblich eingestuften — Handlungsweisen die persönliche Sphäre einer Frau verletzt wird.Jetzt möchte ich etwas anführen, womit ich mich im Gegensatz zu den Vorrednerinnen befinde. Ich glaube tatsächlich, daß es vielen Männern bei diesen Sachverhalten am Unrechtsbewußtsein fehlt. Ich glaube, daß sie in vielen Fällen nicht fühlen, daß Frauen sich durch die Art und Weise ihres Vorgehens belästigt fühlen. Vielleicht ist es ihnen in der Vergangenheit auch so ergangen, daß ihrem Tun nicht vehement genug entgegengetreten worden ist. Vielleicht haben manche auch Erfahrungen gemacht, die sie ermuntern, in ihrem Tun fortzufahren. Vielleicht haben sie nie gelernt, zu differenzieren, und vielleichthalten sie ihr Tun tatsächlich für üblich. Ich glaube, erst wenn es den Frauen in ihrer Gesamtheit durch selbstbewußtes Auftreten gelingt, dazu beizutragen, daß Männer überhaupt merken, daß sie Frauen belästigen, wird es hier zu einer Veränderung kommen.Ich denke, daß die Debatten über sexuelle Belästigung, die auch durch die Veröffentlichung dieses Themas durch die Medien ausgelöst worden sind, einen Lernprozeß sowohl bei Männern als auch bei Frauen auslösen werden. Frauen werden nachdenken und zu der Erkenntnis kommen, daß sie vor allen Dingen in jungen Jahren nicht mit dem Thema umgehen konnten, daß sie nur deshalb, weil sie nicht wußten, wie sie darauf reagieren sollten, Handlungen und Vorkommnisse geduldet haben, derer sie sich in der Zukunft zu erwehren wissen. Ich denke auch, daß Männer und Frauen gemeinsam für dieses Thema in Zukunft sensibler werden und ihre Handlungsweisen überprüfen.Die Hoffnung auf Einsicht reicht allein natürlich nicht; das ist von den Vorrednerinnen schon gesagt worden. Wir brauchen wirksame Instrumente, wir brauchen einen wirksamen Schutz für die Betroffenen. Denn die bislang vorhandenen Instrumente haben eben nicht ausgereicht. Wir müssen die Frauen vor allen Dingen am Arbeitsplatz, in ihrem Arbeitsbereich schützen. Denn weder der bislang vorhandene arbeitsrechtliche Schutz, der bedeutet, daß der Arbeitgeber eine Schutzpflicht gegenüber dem Beschäftigten hat, hat etwas gebracht, noch haben die in wenigen Fällen verhängten Sanktionen eine durchschlagende Wirkung gezeigt. Es ist bereits gesagt worden: Nach der genannten Studie ist nur in 6 % aller Fälle eine Verwarnung ausgesprochen worden.Ich halte es also für unverzichtbar, daß neue, effektivere Instrumente eingeführt werden. Frau Merkel wird in ihrem Gleichberechtigungs-Gesetzentwurf eindeutige Vorschläge zur Bekämpfung dieses Tatbestandes machen. Wir werden dann im Ausschuß die Vorschläge von Frau Merkel wie die Vorschläge der SPD gemeinsam diskutieren.Was wir brauchen, sind Instrumente, die potentielle Anmacher — wie unsere Jugend sagt — abschrecken. Dazu gehört natürlich auch, daß der Betrieb unter Umständen eine Vertrauensperson vorsieht, an die sich die Betreffenden wenden können und die sie in ihrem Anliegen auch ernst nimmt und nicht lächerlich macht. Diese Vertrauensperson muß natürlich nicht zwingend beim Betriebsrat oder bei der Verwaltung angesiedelt sein. Wir werden zu prüfen haben, wie wir das am besten machen. Ich schließe mich den Ausführungen von Frau Rahardt-Vahldieck an, die gesagt hat, ob es gleich Kommissionen sein müßten, werde sich zeigen.
Ich glaube, daß dies ein unverhältnismäßiges Instrument sein könnte.Auf die Bemühungen des Europäischen Parlaments, den sexuellen Mißbrauch einzudämmen, ist bereits hingewiesen worden. Ich denke, daß das schon viel geholfen hat, dieses Thema in der Öffentlichkeit darzustellen. Es ist damit enttabuisiert worden.
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Uta WürfelWir können heute von hier aus nur an die männlichen und weiblichen Beschäftigten appellieren, es mit Art. 1 unseres Grundgesetzes ernst zu meinen, der besagt, daß die Würde des Menschen unantastbar ist. Das ist wohl gerade auch in diesem Bereich zu beachten.
Nunmehr erteile ich der Abgeordneten Frau Christina Schenk das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht heute hier um ein Thema, dessen Dimension jede Form von Bagatellisierung oder gar von Ignoranz als Frauenfeindlichkeit im Dienst der Aufrechterhaltung patriarchalischer Herrschaft von Männern über Frauen kennzeichnet.
Die jüngsten Erhebungen haben ergeben, daß in Westdeutschland zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln der Frauen bereits Erfahrungen mit sexueller Belästigung gemacht haben. Jede dritte Frau fühlt sich durch die Konfrontation mit sexistischem Bildmaterial in ihrem Arbeitsbereich belästigt. Jede dritte hat unerwünschte Berührungen seitens Vorgesetzter oder Kollegen hinnehmen müssen. 3 % der befragten Frauen sind unter Androhung von Nachteilen zu sexuellen Handlungen gezwungen worden.Es ist sicher unstrittig, wenn ich hier sage, daß die Häufigkeit und die Formen sexueller Belästigungen am Arbeitsplatz Indizien für das Ausmaß alltäglicher patriarchaler Gewalt gegen Frauen sind. So kann mit gutem Recht vermutet werden, daß die Größenordnung des Problems „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz" in der DDR weitaus geringer war, als es in der früheren BRD der Fall war. Zwar ist dieses Thema in der DDR weitaus stärker tabuisiert worden als hier — es ist nie öffentlich darüber diskutiert worden —, jedoch kommt in Gesprächen mit ostdeutschen Frauen immer wieder zum Ausdruck, daß das Geschlechterverhältnis in der DDR weit weniger hierarchisch war als im Westen, daß Frauen, insbesondere im Arbeitsbereich, ernstgenommen und in der Regel als gleichberechtigte Kolleginnen angesehen wurden und daß Frauen durchaus über das nötige Selbstbewußtsein verfügten, etwaige Belästiger in die Schranken zu weisen. Hierbei ist sicher nicht unwesentlich, daß es Angst um den Arbeitsplatz so gut wie nicht gab.Im Rahmen retrospektiver Frauenforschung zur Situation von Frauen in der DDR wäre es sicher interessant, dieser Frage nachzugehen, könnte hieraus doch ein vergleichender Aufschluß über Struktur, Form und Ausmaß patriarchaler Unterdrückung von Frauen erlangt werden, wie sie grundsätzlich in beiden deutschen Staaten existiert hat bzw. existiert, jedoch mit gravierenden Unterschieden.Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist Folge des Machtgefälles zwischen Männern und Frauen im Arbeitsbereich. Sie ist aber zugleich auch Mittel zur Aufrechterhaltung dieses Machtgefälles, Mittel zurAufrechterhaltung der Macht von Männern über Frauen.Überproportional sind Frauen davon betroffen, die ohnehin auf der untersten Stufe der innerbetrieblichen Hierarchieleiter angesiedelt sind: junge Frauen, Frauen, die neu im Betrieb sind, Frauen ohne berufliche Qualifikation und Angehörige ethnischer Minderheiten. Sexuelle Belästigung wird aber auch in besonderem Maße gegen diejenigen Frauen eingesetzt, die versuchen, sich hochzuarbeiten, gegen Frauen also, die eine Chance haben, Vorgesetzte zu werden. Sexuelle Belästigung als Mittel zur Zerstörung weiblicher Autonomie und weiblichen Selbstbewußtseins wird mit Vorliebe auch gegen Frauen eingesetzt, die sich in das weibliche Rollenklischee nicht einfügen, z. B. Lesben.Bei sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz handelt es sich — entgegen einer beliebten Schutzbehauptung von Belästigern — in der Regel nicht um sexuell motivierte Flirts, sondern um einen Machtmißbrauch, der mit der Absicht getätigt wird, mehr Macht zu gewinnen bzw. Macht aufrechtzuerhalten. Und das ist, wie die jüngsten Untersuchungen ergeben haben, den Belästigern zu einem großen Teil durchaus bewußt.Erscheckend ist nicht nur das Ausmaß der Belästigung selbst, sondern die Art und Weise, wie damit umgegangen wird. In den allermeisten Fällen tragen nämlich nicht die Belästiger die Nachteile aus ihrem Verhalten, sondern die betroffenen Frauen. Das finde ich unglaublich, und das zeigt auch den Handlungsbedarf auf.
Fast die Hälfte der befragten belästigten Frauen gab an, daß ihnen auf Grund der Belästigung Nachteile am Arbeitsplatz entstanden sind. Demgegenüber wurden nur 6 % der Täter verwarnt, nur 1 % versetzt, und nur in 0,4 % aller Fälle kam es zu einer Entlassung des Täters.Wir — die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — unterstützen den vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion, sind jedoch der Auffassung, daß er keinesfalls ausreichend ist. Zwei Dinge sollten unseres Erachtens noch berücksichtigt werden.Erstens: Der Arbeitgeber sollte für die Zustände in seinem Betrieb haftbar gemacht werden können, wobei eine Umkehr der Beweislast vorzusehen ist. Das heißt: Wenn ein Fall von sexueller Belästigung im Betrieb vorkommt, muß der Unternehmer, die Behörde oder welcher Arbeitgeber auch immer nachweisen, daß präventiv alles getan worden ist, um dies zu verhindern. Gelingt das nicht, so besteht eine Entschädigungspflicht gegenüber der belästigten Frau.Zweitens sollte nach unserer Auffassung eine strafrechtliche Möglichkeit zum Vorgehen gegen Belästiger in gravierenden Fällen geschaffen werden. Es ist nicht einzusehen, warum der § 174 StGB, in dem es um den Mißbrauch von Schutzbefohlenen geht, eine Altersgrenze enthält. Das Ausnutzen einer aus einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis resultierenden Abhängigkeit zu sexuellen Handlungen muß grundsätzlich
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Christina Schenkstrafbar sein, nicht nur dann, wenn sie bei Personen unter 16 bzw. unter 18 Jahren erfolgt. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird prüfen, ob sie diese Forderung in einem Gesetzentwurf einbringt.Vielen Dank.
Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Cornelia Yzer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz verletzt wie jede sexuelle Belästigung die Würde des Menschen. Sie greift in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und deren Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung ein. Die Integration in das Berufsleben wird beim Vorliegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in erheblichem Maße beeinträchtigt, wenn nicht sogar unmöglich gemacht.Besonders verwerflich ist sexuelle Belästigung dann, wenn ein Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt wird, berufliche Vorteile versprochen oder Nachteile angedroht werden. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist ein schwerwiegendes Problem für berufstätige Frauen. Das wurde nicht zuletzt in der bereits erwähnten Studie des Bundesministeriums für Frauen und Jugend zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz nachgewiesen, die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Die Ergebnisse dieser Studie brauche ich hier im einzelnen nicht vorzutragen. Sie liegen Ihnen vor. Die SPD hat sie in ihrem heutigen Entschließungsantrag wiedergegeben.Tatsache ist: Es gibt eine Reihe von Schutzvorschriften im Arbeits- und Dienstrecht sowie im Zivil- und Strafrecht. Tatsache ist aber auch, daß eine spezielle Regelung für die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz bisher nicht besteht. Aus umfassenden Untersuchungen in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft geht hervor, daß die bestehenden Regelungen leider keinen umfassenden Rechtsschutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz gewährleisten.Deshalb hat der Rat der Europäischen Gemeinschaft am 29. Mai 1990 eine Entschließung zum Schutz der Würde von Frauen und Männern am Arbeitsplatz angenommen. Im Anschluß daran hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaft am 27. November 1991 eine entsprechende Empfehlung sowie einen Kodex über praktische Verhaltensregeln und Maßnahmen zur Bekämpfung sexueller Belästigung am Arbeitsplatz verabschiedet.Diese Empfehlungen hat das Bundesministerium für Frauen und Jugend zusammen mit dem Verhaltenskatalog den Tarifpartnern mit der Bitte um Berücksichtigung übersandt. Weitere Maßnahmen wurden von der Bundesregierung ergriffen bzw. sind im Stadium konkreter Planung. Das dürfte auch der Opposition nicht entgangen sein.
Die Bundesregierung wird den Entwurf des Gleichberechtigungsgesetzes in Kürze beschließen. Sie haben in der laufenden Diskussion wohl festgestellt, daß ein Gesetz zum Schutz der Beschäftigten in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst von Bund, Ländern und Gemeinden vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ein eigener Artikel in diesem Gleichberechtigungsgesetz sein wird.Durch dieses Gesetz wird klar zum Ausdruck gebracht werden, daß sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten bzw. ein Dienstvergehen ist. Die Beschäftigten haben durch ihr Verhalten zu einem Arbeitsklima beizutragen, in dem die persönliche Integrität und die Würde aller Beschäftigten respektiert werden. Insbesondere tragen Vorgesetzte dafür Verantwortung, daß in den ihnen unterstellten Bereichen dieses Arbeitsklima gefördert und sexuelle Belästigung vermieden wird.Gleichzeitig wird — das ist wohl das Ausschlaggebende — den Betroffenen ein gesetzlicher Regelungsmechanismus an die Hand gegeben werden, damit sie sich gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in geeigneter Weise zur Wehr setzen können. Sie werden die Möglichkeit erhalten, sich durch eine Vertrauensperson beraten zu lassen. Außerdem wird ein spezieller Verfahrensweg für Beschwerden festgelegt.Bei erwiesener sexueller Belästigung werden Arbeitgeber oder Dienstherr unter Beteiligung des Betriebs- bzw. Personalrats die im Einzelfall angemessenen arbeitsrechtlichen oder dienstrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen haben. Dazu werden z. B. Abmahnung, Versetzung oder Kündigung des schuldigen Arbeitnehmers sowie die vergleichbaren disziplinarischen Maßnahmen gegen die betreffenden Beamten gehören. Arbeitgeber und Dienstherr dürfen die betroffenen Beschäftigten nicht benachteiligen, weil sie sich gegen eine sexuelle Belästigung gewehrt und in zulässiger Weise ihre Rechte ausgeübt haben.In dem Antrag der SPD wird all das gefordert, was die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht hat.
Er bestätigt der Bundesregierung, daß sie auf dem richtigen Weg ist. Für Ihre Unterstützung darf ich mich bedanken.
Ich will hinzufügen, daß bereits im Vorfeld dieses Gesetzentwurfs im Bundesministerium für Frauen und Jugend Grundsätze zum Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz als Teil der behördlichen Geschäftsordnung veröffentlicht wurden, die die genannten Punkte zum Inhalt haben. Die Grundsätze wurden auch an die anderen Ressorts gesandt, damit diese dem Gesetz ebenfalls mit ähnlichen Geschäftsordnungsbestimmungen vorgreifen können. Denn zum Schutz der Betroffenen wollen wir gerade auf der Bundesebene in den Bundesressorts nicht das Gesetz
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Parl. Staatssekretärin Cornelia Yzerabwarten, sondern eine Vorbildfunktion übernehmen.
Neben diesen Aktivitäten haben wir die Tarifpartner aufgefordert, ihrerseits Schritte gegen sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz einzuleiten. Hierzu wurden ihnen nicht nur die Empfehlungen und der Verhaltenskodex der Kommission der Europäischen Gemeinschaft übersandt, sondern auch eine MusterBetriebsvereinbarung aus der Studie des Ministeriums für Frauen und Jugend zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz, freilich nicht, wie von seiten der SPD-Fraktion behauptet, an Stelle eines Gesetzes, sondern als Vorwegnahme des anstehenden Gesetzes.Weiterhin ist ein Faltblatt zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz, das die SPD in ihrem heutigen Entschließungsantrag fordert, im Bundesministerium für Frauen und Jugend bereits in Arbeit.Sie sehen also: Die Bundesregierung nimmt sich des Problems in verantwortungsbewußter Weise an. Angesichts der Tatsache, daß wir die richtigen Maßnahmen bereits eingeleitet haben, sehe ich den heutigen Antrag der SPD als nicht weiterführend an.
Es spricht Frau Kollegin Dr. Marliese Dobberthien.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Angestellte berichtet: Ein Kollege betritt mein Zimmer, stellt sich hinter meinen Stuhl und schaut auf meine Arbeit. Plötzlich reißt er meinen Kopf nach hinten und küßt mich in einer ekelerregenden Weise. Mit den Worten: „So etwas habe ich schon immer tun wollen" verläßt er mein Zimmer. Als ich meine Kolleginnen vor ihm warnen wollte, hieß es: Wieso? Es ist doch bekannt, daß der so etwas macht.Ein anderer Fall. Eine Auszubildende berichtet: Eines Tages fragte mich mein Chef, ob ich Interesse hätte, mir eine neu eröffnete Filiale an einem anderen Ort anzusehen. Ich hatte Interesse. Auf dem Rückweg fuhren wir plötzlich eine andere, einsame Strecke. Als ich fragte, wo wir sind, hielt mein Chef an und fing an, mich abzuknutschen. Ich stemmte mich mit aller Gewalt gehen ihn. Mit meinen 50 Kilo hatte ich gegen seine 100 Kilo wenig Chancen. Wie ich es geschafft hatte, aus dem Auto zu springen, weiß ich nicht. Heulend und verwirrt erzählte ich die Geschichte meinen Eltern. Reaktion: Ungläubigkeit. So ein seriöser Geschäftsmann tut so etwas nicht, wurde mir entgegengehalten. Und selbst wenn: Was sind schon ein paar Küsse? Frau kann von den Bedürfnissen des Mannes schließlich auch profitieren.Das sind zwei Beispiele für sexuelle Belästigung aus dem heimlichen sexistischen Alltag in Fabriken und Verwaltungen. Neben der Familie ist das Erwerbsleben der andere große Bereich, in dem sexuelle Übergriffe auf Frauen alltäglich sind.Nach einer Studie der Sozialforschungsstelle Dortmund berichteten 1990 93 % der befragten erwerbstätigen Frauen über einschlägige Erfahrungen. Ein solches Ausmaß ist erschreckend. Die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist also beileibe kein Minderheitenproblem.Jahrzehntelang geduldet und tabuisiert, begann erst vor etwa 13 Jahren in den USA die Diskussion über das „Sexual harassment", den sexuellen Störangriff auf Frauen.Seit rund fünf Jaaren wird auch in der Bundesrepublik Deutschland das Problem öffentlich thematisiert. Der DGB nahm sich des Themas an. In Hamburg gelang es uns, gegen große Widerstände eine Studie über sexuelle Belästigung im öffentlichen Dienst zu erwirken. Das damalige BMJFFG schloß sich der Studie an. Ich wünsche mir, andere, auch konservativ regierte, Bundesländer zögen zumindest mit Aufklärungsaktionen nach.
Immer noch werden Frauen, die gegen Anzüglichkeiten und Mißachtung durch Kollegen und Vorgesetzte protestieren, nicht ernst genommen. Darum gilt es, der Frau und ihren Äußerungen Akzeptanz und Respekt zu verschaffen. Wann wird endlich das alte frauenfeindliche Vorurteil ausgerottet, eine Frau meine „ja", wenn sie „nein" sagt? Wann werden wir Frauen endlich ernst genommen?Mißachtung ihres Willens und ihrer persönlichen Integrität haben auch die wenigen Männer leidvoll verspüren müssen, die ihrerseits belästigt wurden — übrigens meistens von Männern. Auch sie bedürfen des Schutzes. Darum gilt unser Antrag auch für Sie, meine Herren.Sexuelle Belästigung zählt zu dem Formenkreis der Gewalt gegen Frauen. Sie wird ausgeübt von Vorgesetzten und Kollegen, von alten und jungen Männern, von schönen und von häßlichen. Bis heute fühlen sich Frauen alleingelassen und bespöttelt, gar für mitschuldig erklärt, wenn es zu einer Belästigung kam. Da heißt es, ihr Rocksaum sei zu kurz, ihre Bluse zu eng, ihr Make-up zu grell, ihr Verhalten zu aufreizend. So und ähnlich lauten die gängigen Vorurteile, die sie auch von Kollegen und Vorgesetzten zu hören bekommt. Nicht der belästigende Mann gilt als schuldig, sondern sein Opfer.
Mit einem solchen frauenfeindlichen Denken muß endlich Schluß sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Belästigungen können den betrieblichen Frieden tiefgreifend stören. Für eine belästigte Frau kann ihre Situation so uner-
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Dr. Marliese Dobberthienträglich werden, daß sie sich versetzen läßt oder gar kündigt und somit ein zweites Mal Opfer wird.
Der Belästiger hingegen bleibt sanktionsfrei. Keine Abmahnung, keine Kündigung oder wenigstens eine Buße, nicht einmal ein klärendes betriebliches Gespräch braucht er derzeit zu fürchten. Fröhlich kann er weiterhin sein Unwesen treiben.Bemerkenswert ist, daß es bei der sexuellen Belästigung keineswegs um Sexualität und Erotik geht, sondern stets um Macht und Herrschaft. Mittels sexueller Belästigungen wollen Vorgesetzte Macht demonstrieren, wollen Kollegen scheinbar angestammte bessere Positionen in Betrieb und Behörde behaupten. Durch Verunsicherung, Demütigung und Herabwürdigung von Frauen sollen bestehende traditionelle Herrschaftsverhältnisse verfestigt werden, bei denen auch ein Drittel weniger Lohn und schlechtere Arbeitsbedingungen für Frauen die Bilanz sind.
Die Belästigung, als Störangriff auf die weibliche Integrität zu werten, dient auch nicht der Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse, sondern ausschließlich der Demonstration männlicher Macht. Der Frau soll klargemacht werden, daß sie Objekt ist, jederzeit verfügbar und beleidigbar.
Bisher löst die Diskussion des Themas bei vielen Männern Widerstand, Abwehr und Bagatellisierung, aber kein konstruktives Verständnis aus, es sei denn, sie waren selber Opfer von Belästigungen.
Ambivalente bis aggressive Reaktionen sind bis heute an der Tagesordnung. Bis heute können sich Belästiger, manchmal gar heimlich bewundert, hinter der Schutzbehauptung verstecken, sie hätten nur flirten wollen.Diesen Unterdrückungsstrategien zu Lasten von Frauen wollen wir mit unserem Antrag ein Ende bereiten. Wenn die Gegenwehr nicht gewalttätige Selbsthilfe sein soll, muß endlich der Gesetzgeber handeln. Denn es ist nicht jedermanns — vor allem nicht „jederfraus" — Sache, sich so energisch selbst zu helfen wie jene Arbeiterinnen von VW, die berichteten:Nachdem wir gemerkt hatten, wie ein Kollege um eine junge Frau herumschlich und sich am Band hinter sie stellte und immer wieder anpackte, haben wir ihm eine Falle gestellt. Als er das nächste Mal ankam, haben wir ihn auf Verabredung zu fünft auf das Band gehoben und ihm damit gedroht, ihm die Hose aufzumachen, wenn er das noch mal tue. Die Kollegin hatte seitdem Ruhe vor ihm.Wenn wir einem geregelten Verfahren den Vorzug geben wollen, muß der Gesetzgeber tätig werden. Ich halte dabei — im Gegensatz zu Ihnen, Frau RahardtVahldieck — Beschwerdekommissionen für unverzichtbar, weil nur sie helfen, Frauen zu ermutigen, sich überhaupt zu artikulieren. Beweiserleichterungen sind aus unserer Sicht ebenfalls unverzichtbar, weil auch sie Frauen ermutigen. Frau Schenk, Ordnungswidrigkeiten haben wir als Sanktion für den Arbeitgeber vorgesehen, der seine Aufklärungs- und Präventionspflicht mißachtet.Wichtig ist, daß auch die Regierung handelt. Wir wollen mehr als Absichtserklärungen aus dem Frauenministerium.
Seit bald zwei Jahren wird das Gleichberechtigungsgesetz mit einem Passus über sexuelle Belästigung angekündigt. Bisher habe ich alles immer nur aus der Presse entnommen und bin parlamentarisch nicht befaßt worden.
Ich wünsche mir eine baldige Gesetzesvorlage, und ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Nun hat der Kollege Hubert Hüppe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über ein Thema, das in der Öffentlichkeit vielfach nicht ernstgenommen wird. Häufig wird sexuelle Belästigung sogar gerechtfertigt und entschuldigt. Als ich darauf angesprochen wurde, heute über dieses Thema zu reden, war ich nicht gerade begeistert. Das muß ich eingestehen. Ich habe zwar geglaubt, daß es dieses Problem gibt, aber angenommen, es betreffe nur relativ wenige. Als ich jedoch mit mehreren Frauen in verschiedenen Berufen gesprochen habe, habe ich gemerkt, daß sexuelle Belästigung wesentlich mehr verbreitet ist, als ich mir vorgestellt hatte.
Allerdings hat mich die Einstellung von Männern, mit denen ich auch darüber gesprochen habe, noch viel mehr erschreckt. Die Vorurteile, die eben genannt wurden, sind wirklich sehr verbreitet.
Erst als ich einige fragte, was sie davon halten würden, wenn ihre Tochter oder ihre Frau sich darüber beschweren würde, daß ihr Chef sie angepackt hätte, wurden sie nachdenklich. Das ist ein erster Schritt, um auch die Männer zu gewinnen.
Ich bin daher dankbar, daß die Bundesregierung schon vor einigen Jahren das Thema aufgegriffen und eine repräsentative Untersuchung zu Ausmaß und Formen sexueller Belästigung in Deutschland in Auftrag gegeben hat. Die Bundesregierung hat also sehr
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Hubert Hüppewohl schon gehandelt. Dies war meiner Meinung nach auch ein ganz wichtiger Schritt, um dieses Problem aus der Tabuzone herauszuholen.
Ich freue mich, daß auch die SPD mit ihrem Antrag die Diskussion wieder belebt.Das Ergebnis der Untersuchung wurde 1990 veröffentlicht und 1991 von der Kollegin Merkel an die Arbeitgeber und Gewerkschaften versandt. Das Ergebnis dieser Studie bestätigt meinen Eindruck: Sexuelle Belästigung kommt nicht nur hin und wieder vor, sondern gehört zum Alltag der großen Mehrheit der Frauen in Berufen. Über zwei Drittel der befragten Frauen und immerhin auch 19 % der Männer berichteten von Belästigungen am Arbeitsplatz.Der Katalog der Belästigungen reicht von strafrechtlich relevanten Vorkommnissen, z. B. sexuelle Nötigung oder gar Vergewaltigung, über anzügliche Witze bis hin zu scheinbar zufälligen Körperberührungen.Interessant ist außerdem, daß die Männer nicht glauben, daß es sich nur um einen Flirt handelt, sondern ihr Handeln sehr wohl selber einzuschätzen wissen. Es handelt sich dabei nicht um bestimmte Gruppen von Männern, sondern um „ganz normale" Männer zwischen 30 und 50 Jahren.Nach dieser Studie kommt sexuelle Belästigung besonders dann vor, wenn Frauen in einem Abhängigkeitsverhältnis sind: bei Auszubildenden, in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen und in Probezeiten. Sexuelle Belästigung wird aber auch dazu benutzt, karrierewilligen Frauen einen Platzverweis zu erteilen, um männlich dominierte Hierarchie am Arbeitsplatz zu bestätigen. Sexuelle Belästigung wird also auch als Machtmittel eingesetzt.
Es geht um Herrschaft im wahrsten Sinne des Wortes.
Das geltende Recht — darin stimmen wir überein — bietet dagegen keinen wirksamen Schutz. Während der Täter meist ungestraft davonkommt, erleben knapp 50 % der betroffenen Frauen Nachteile im Beruf. Nur wenige Frauen gehen dagegen offensiv vor. Zu sehr haben sie Angst vor einem Spießrutenlaufen im Betrieb, vor weiteren Bemerkungen oder, handelt es sich bei dem Täter um einen Vorgesetzten, vor schlechten Beurteilungen.Dem Ganzen wird die Krone aufgesetzt, wenn die Opfer unter Rechtfertigungsdruck geraten.
Häufig werden sie als prüde, humorlos oder als Sensibelchen abgestempelt und müssen sich mitunter sogar des Verdachts der Mitschuld erwehren. Viele Frauen sehen dann nur einen Ausweg: Sie kündigen.Das Risiko der Täter ist dagegen gering. Während laut der Studie 46 von 778 betroffenen Frauen kündigten, wurden nur 3 beschuldigte Männer entlassen.Das Resultat ist: Die belästigten Frauen haben Angst, und einige leiden sogar unter Depressionen und Krankheiten. Eine Umfrage in den Vereinigten Staaten unter 160 der größten 500 Unternehmen ergab auf Grund dieser Folgeerscheinungen einen jährlichen Produktionsverlust von durchschnittich 6,7 Millionen Dollar pro Unternehmen. Niemand kann ernstlich bestreiten, daß auch die Arbeit darunter leidet, wenn Frauen in einer Umgebung arbeiten, in der ihre Würde nicht anerkannt wird und in der sie jeden Tag mit der Angst vor neuen Übergriffen leben müssen.Damit es deutlich ist: Für mich ist nicht der Produktionsverlust entscheidend. Entscheidend ist, daß wir ein solches menschenverachtendes Verhalten niemals anerkennen dürfen.
Wir brauchen daher eine anerkannte gesellschaftliche Ächtung solcher sexueller Übergriffe am Arbeitsplatz, ja jeglichen sexuellen Machtmißbrauchs.Das Phänomen sexueller Belästigung gibt es nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in Universitäten, in der U-Bahn, auf der Straße — schlicht überall. Gesetze allein reichen da nicht aus. Wir müssen erreichen, daß über diese Probleme offen gesprochen wird. Wir müssen vor allem die Frauen stärken. Wir müssen aber darüber hinaus die Männer dazu bewegen, darüber intensiver nachzudenken; denn diese — das ist gesellschaftliche Realität — stehen häufig an wichtigen Stellen, an denen sie die Situation verändern könnten — sei es als Arbeitgeber, als Gewerkschafter, als Betriebsräte oder hier im Parlament. Deswegen bedaure ich, daß so wenige Männer und Kollegen an dieser Diskussion teilnehmen.
Natürlich muß der Staat eine Vorreiterrolle übernehmen. Deswegen wollen wir die sexuelle Belästigung in unser Gleichberechtigungsgesetz aufnehmen. Wir wollen deutlich machen, daß es sich dabei nicht um eine Bagatelle handelt, sondern um eine Form von Aggression, gegen die wir entschieden vorgehen müssen.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Marliese Dobberthien das Wort.
Herr Hüppe, könnten Sie mich darüber aufklären, wer hinter wem herhinkt, wenn bereits 1987 der DGB eine Studie zur sexuellen Belästigung verfaßt hat, 1989 die Freie und Hansestadt Hamburg eine Studie für den öffentlichen Dienst vorgelegt und eine Reihe von Umsetzungsmaßnahmen, z. B. die Information sämtlicher Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes durch ein Rundschreiben und die Entwicklung einer Lehreinheit vorgenommen hat, damit das Ganze in der beruflichen Fortbildung thematisiert wird, und wenn erst danach, nämlich 1990, die Studie des BMJFFG kam? Wie ist
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Dr. Marliese Dobberthiendas Ganze zu verstehen in puncto: Wer zieht hier eigentlich hinter wem her?
Sie dürfen eine weitere Kurzintervention machen, Herr Kollege Hüppe, und haben dafür, wenn Sie das begehren, das Wort.
Frau Kollegin Dobberthien, ich halte es grundsätzlich für völlig in Ordnung, daß auch andere dies machen. Ich begrüße jede Initiative. Sie sagen, 1987 wurde eine Studie vom DGB in Auftrag gegeben. Die Studie, die ich erwähnte, wurde 1986 in Auftrag gegeben. Also auch hier war die Bundesregierung etwas schneller.
Wir haben über dieses Thema informiert. Wir haben auch den DGB informiert. Ich wünschte mir, daß im DGB — er hat sehr wohl Einfluß auf die Personal- und Betriebsräte — noch viel mehr über dieses Thema diskutiert würde. Dann hätten die Kolleginnen in den Betrieben sicher viel weniger Probleme.
Jetzt ist mit den Kurzinterventionen Schluß. Vom Platz aus gibt es überhaupt keine.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, mir liegen zu diesem Tagesordnungspunkt keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Antrags auf Drucksache 12/2096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Haben Sie anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unbeschränkte Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus den Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten in die Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 12/2222 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Shoa, die Vernichtung von Millionen jüdischer Menschen, wird für immer das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden bestimmen. In den Jahren seit dem Krieg haben sich zahlreiche Menschen um das Gespräch zwischen Deutschen und Juden bemüht. Was undenkbar erschien, geschah: Deutsche und Juden lernten, wieder miteinander zu reden und miteinander zu leben und einander als Menschen zu begegnen, immer wissend, daß es eine Wiedergutmachung nicht gibt und nicht geben kann.Was versucht wurde, ist Zeichen der Versöhnung zu geben und Zeichen der Versöhnung zu empfangen. Ein solches Zeichen der Versöhnung und der besonderen Verantwortung für Deutsche will auch der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sein, Juden aus den Staaten der zerfallenden Sowjetunion die Einwanderung in Deutschland ohne Höchstgrenzen und Kontingente möglich zu machen.Als ich vor einem halben Jahr diesen Antrag einbrachte, wußte ich nicht, in welchem Ausmaß sich die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland ausbreiten würde. Ich habe mich vor dem heutigen Tag ernsthaft gefragt, ob dieser Antrag denn überhaupt noch verantwortbar ist, ob es noch verantwortbar ist, jüdischen Menschen in Deutschland Zuflucht und Heimat anzubieten. Ich bin mir nicht sicher. Aber ich habe den Antrag nicht zurückgezogen; denn ich hoffe und glaube, daß die Mehrheit der Deutschen noch immer nicht fremdenfeindlich ist und sich der besonderen Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk bewußt ist.
Wir alle wissen, daß mit dem Zerbrechen der Sowjetunion der Nationalismus in vielfältigen Formen wieder aufgelebt und häufig mit einem aggressiven Antisemitismus verwoben ist. Viele Jüdinnen und Juden aus der GUS erleben Ausgrenzung und Mißachtung und haben berechtigte Angst vor Verfolgung und Pogromen.Die Tatsache, daß sich Jüdinnen und Juden trotz der bitteren Erfahrung ihrer Mütter und Väter mit dem deutschen Antisemitismus und trotz der Shoa und der Verfolgung in deutschen Konzentrationslagern entschließen, nach Deutschland zu emigrieren, ist ein gutes, ein hoffnungsvolles Zeichen für die Deutschen. Es ist auch eine Anerkennung für unsere Demokratie und den freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat, den sich die Deutschen geschaffen haben.Die Anregung zu unserem Antrag kam von Heinz Galinski. Ich betrachte ihn als sein Vermächtnis.In vielen jüdischen Gemeinden in Deutschland sind die Auswirkungen der Judenverfolgung des Dritten Reichs noch immer zu spüren. Die jüdische Gemeinschaft in Ostdeutschland hatte 40 Jahre lang unter dem Antizionismus der Realsozialisten, der in Wahrheit Antisemitismus war, zu leiden und war in ihrer Entwicklung gehemmt. In Potsdam wie in vielen anderen ostdeutschen Städten gab es jahrzehntelang keine lebendige jüdische Gemeinschaft. Es gab nicht jene zehn Manner, die sich, wie es die jüdische Liturgie verlangt, zum Gebet versammeln konnten.
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Konrad Weiß
Heute hat Potsdam dank der Zuwanderung aus Rußland wieder eine lebendige jüdische Gemeinde, und in anderen ostdeutschen Städten ist es ebenso.Ich weiß, daß die Einwanderung russischer Juden nach Deutschland bei vielen in Israel, auch bei der israelischen Regierung, auf Widerspruch stößt. Natürlich verstehe ich es, wenn gesagt wird, daß Israel doch die Heimat der Juden sei. Ich weiß auch um unsere Pflicht, den enormen Integrationsprozeß in Israel mit aller Kraft zu unterstützen.Aber ich frage die Kritiker immer auch, wie sie selbst und wie die Weltöffentlichkeit reagieren würden, wenn Deutschland seine Grenzen vor jüdischen Flüchtlingen und Einwanderern schlösse, und ich sage ihnen, wie wichtig für die Deutschen eine lebensvolle jüdische Gemeinschaft auch in Deutschland ist, das Zusammenlegen von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen in Gerechtigkeit, Toleranz und Achtung, so wie es der große jüdische Deutsche, der Aufklärer Moses Mendelssohn, uns gelehrt hat.Ich bitte Sie deshalb, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, den vorliegenden Antrag sehr bald in den Ausschüssen zu beraten und ihm zuzustimmen.Vielen Dank.
Als nächste hat Frau Kollegin Dr. Roswitha Wisniewski das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man kann den Antragstellern wirklich nur darin zustimmen, daß es ein hoffnungsgebendes Zeichen ist, wenn sich Jüdinnen und Juden aus den GUS-Staaten trotz der unvergessenen schrecklichen nationalsozialistischen Vernichtungspolitik heute dazu entschließen, in die Bundesrepublik Deutschland einzuwandern und hier ihr Leben weiterzuführen. Das ist ein Zeichen des Vertrauens in den jetzigen deutschen Staat, das dankbar zur Kenntnis genommen werden muß.
Gleichzeitig muß bedacht werden, daß gerade auch wegen der nationalsozialistischen Judenverfolgungen der Staat Israel — wie Herr Weiß es eben schon erwähnte — den Anspruch erhebt, die Heimstatt aller bedrängten Juden zu sein. Im Interesse seiner Weiterexistenz ist der Staat Israel auf die Einwanderung jüdischer Menschen angewiesen. Dieses Anliegen Israels gilt es — gerade auch wegen der deutschen Vergangenheit — in erster Linie zu unterstützen. Wir dürfen dem Staat Israel also nicht durch eine unabgestimmte, bevorzugte Aufnahmepolitik für russische Jüdinnen und Juden in den Rücken fallen.
Eine Ermutigung zur generellen Einreise in die Bundesrepublik Deutschland sollte nicht nur nicht aus dem eben genannten Grund erfolgen, sondern auch wegen des daraus möglicherweise entstehenden Aderlasses für die GUS-Staaten. Wir in der Bundesrepublik Deutschland erkennen ja jetzt erst richtig, welch ein Schaden dem deutschen Volk durch die Vernichtung oder Vertreibung des jüdischen Volksanteils und insbesondere auch der jüdischen Intelligenz zugefügt wurde.
Unser Streben muß es sein, darauf hinzuwirken, daß Antisemitismus und Judenverfolgung überall in der Welt als absolut verbrecherisch, inhuman und in gewissem Sinne als rückständig erkannt und gebrandmarkt werden. Ein gutnachbarliches Verhältnis der verschiedenen Völker, Rassen und Religionen muß selbstverständlich werden. Wer dies sagt, denkt heute natürlich an das nicht eben ermutigende Beispiel in Jugoslawien. Und dennoch: Der Verständigung und dem Zusammenleben trotz rassischer und religiöser Unterschiede gehört — darin sind wir uns, denke ich, alle einig — die Zukunft. Daran gilt es zu arbeiten.
Dennoch wird es notwendig sein, in Einzelfällen auch und gerade jüdischen Auswanderern aus den GUS-Staaten Aufnahme und Hilfe bei uns in der Bundesrepublik zu gewähren. Daher sollte — so wie es bisher bereits geschieht — namentlich in Fällen der Familienzusammenführung und bei Härtefällen sowie unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der Lebensfähigkeit jüdischer Gemeinden in Deutschland, vielleicht auch unter dem Gesichtspunkt der Wiedergutmachung im weitesten Sinne die Aufnahme von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ermöglicht werden. Daß dies in einem — wie es heißt — für Bund und Länder insgesamt zumutbaren Maß geschehen muß, wird jedem einleuchten, der die Schwierigkeiten bedenkt, die gerade im Bereich der Asylpolitik zur Zeit bestehen.
Von den beteiligten Behörden des Bundes und der Länder ist in den vergangenen Jahren ein guter Mittelweg gefunden worden, der sowohl für den Staat Israel akzeptabel ist als auch den Zentralrat der Juden in Deutschland im allgemeinen zufriedenstellt. Gleichwohl sollten bei der parlamentarischen Beratung über den Antrag die Gesamtproblematik und das bisherige Verfahren noch einmal bedacht und überprüft werden. Es wäre sicherlich auch hilfreich, direkt mit deutschen jüdischen Gemeinden über deren Erfahrungen bei der ihnen besonders auferlegten Integrationsarbeit zu sprechen und ihren Rat zu erbitten.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Vorschlag auf Überweisung an die Ausschüsse natürlich zu.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nun spricht unsere Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es bedauerlich, daß wir ein so komplexes Thema nur in einer relativ kurzen Debattenzeit behandeln. Das hätte, glaube ich, eine ausführlichere Debatte verdient; denn selbstverständlich können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, wenn es um die Forderung nach unbeschränkter Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus der GUS geht.Antisemitismus — Sie haben es erwähnt, Herr Weiß — war und ist in der früheren Sowjetunion sichtbar und fühlbar vorhanden. Damit verbunden ist
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Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast— verständlich — die Furcht der Menschen vor Bedrohung und Verfolgung. Unsere entsetzliche historische Schuld gibt uns eine besondere Verantwortung. Wir tragen eine Hypothek — übrigens nicht nur gegenüber den Jüdinnen und Juden, sondern auch gegenüber anderen Angehörigen benachteiligter und diffamierter Minderheiten.Das sage ich in vollem Bewußtsein der augenblicklich laufenden Diskussion über die Frage, wie wir in der Bundesrepublik mit den Flüchtlingen umgehen, die zu uns kommen. Ganz gleich, wie wir die Probleme der Zuwanderung bewältigen werden, ob wir Wege der Steuerung und Begrenzung finden: Eine Abschottung unseres Landes kann und darf es schon wegen unserer besonderen Geschichte nicht geben.
Dennoch will ich erklären, warum wir uns der Forderung nach einer unbeschränkten Einwanderung so nicht anschließen. Es gibt für eine begrenzte Zahl einen speziellen Weg, um in die Bundesrepublik einzuwandern. Zunächst hatten einige Bundesländer, so etwa Nordrhein-Westfalen, eigene Kontingente festgelegt. Dann einigten sich die Ministerpräsidenten Anfang des Jahres 1991 auf eine gemeinsame Grundlage, die noch Bestand hat.Diese Regelung sieht vor, daß die Menschen aufgenommen werden, die besondere humanitäre Gründe geltend machen oder zu Verwandten nachziehen wollen. Was als Kriterium freilich nicht ausreicht, ist der Hinweis auf wirtschaftliche Not. Nun weiß ich aus den Erfahrungsberichten von Menschenrechtsorganisationen sehr wohl, daß wirtschaftliche Not oft mit persönlicher und beruflicher Benachteiligung verzahnt ist. Das trifft freilich auch auf andere religiöse oder ethnische Minderheiten zu. Deshalb wehren wir uns auch so vehement dagegen, Armutswanderer als Wirtschaftsflüchtlinge oder Schmarotzer zu beschimpfen. Selbst die erregteste Debatte über eine steigende Zahl von Zuwanderern rechtfertigt nicht den Griff ins Wörterbuch der Unmenschlichkeit.Jüdinnen und Juden aus der GUS stellen ihren Antrag bei der deutschen Auslandsvertretung vor Ort. Bei positiver Beantwortung gehen diese Anträge an das Bundesverwaltungsamt, das dann die Einwanderungswilligen auf die Bundesländer verteilt. Diese Migranten erhalten eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis sowie Start- und Eingliederungshilfen.Betrachten Sie es bitte nicht als Ausflucht, sondern als ganz ernst zu nehmenden Hinweis, wenn ich sage, daß die Bundesrepublik auch beachten sollte, daß sie der Einwanderungspolitik Israels nicht ins Gehege kommt, und daß wir Deutschen auch kein Recht haben, diese Menschen anzuwerben.
Allerdings sollten wir, wenn wir die bisherige Regelung beibehalten, darauf achten, daß humanitäre und familiäre Motive für eine Einwanderung möglichst großzügig gefaßt werden, großzügiger, denke ich, als es bisher vielfach der Fall war. Damit leisten wir denBetroffenen den besten Dienst — übrigens eine Auffassung, die der Zentralrat der Juden teilt.Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege Wolfgang Lüder das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Weiß, es ist richtig, glaube ich, daß Sie den Antrag nicht zurückgezogen haben, denn wir müssen uns mit der Thematik beschäftigen.Der Antrag mahnt uns an unsere Verpflichtung, die wir auf Grund der deutschen Geschichte gegenüber den Juden in aller Welt haben. Wir müssen uns auch der Verantwortung gegenüber den Juden in den Staaten der GUS bewußt bleiben, die von dort auswandern wollen. Aber die Lösung kann nicht so einfach gefunden werden, daß wir nur die unbeschränkte Öffnung beschließen. Meines Erachtens müssen wir von fünf Grundsätzen ausgehen. An diesen fünf Grundsätzen sollten wir uns orientieren.Erstens. Unsere Politik muß davon bestimmt sein, daß keine Jüdin, kein Jude, der heute in den Staaten der GUS lebt, gezwungen wird, dort zu bleiben. Dies ist dank der Demokratisierung in den Staaten der GUS heute wohl auch gewährleistet.Zweitens. Es kann in dieser Frage nur ein Zusammenwirken der Bundesrepublik Deutschland mit dem Staat Israel geben. Was immer wir staatlicherseits tun, sollte — da will ich etwas abgestuft zu dem Stellung nehmen, was Sie gesagt haben, Frau Professor Wisniewski — zumindest im Benehmen und möglichst im Einvernehmen mit der israelischen Regierung geschehen. Aber wir sollten uns nicht abhängig machen davon.
Drittens. Deutschland steht in besonderer Pflicht aus seiner historischen Verantwortung, die bis auf den heutigen Tag und noch auf lange Zeit nachwirkt, gegenüber den Freiheitsrechten jeder Jüdin, jedes Juden, wo immer sie leben. Davon müssen wir uns auch bei dieser Frage leiten lassen. Wir werden also jüdischen Bürgern das deutsche Haus weiter öffnen müssen, als wir es anderen gegenüber tun. Ich meine, daß wir auch viele Kommunalpolitiker und auch viele Beamte im Bund und in den Ländern davon überzeugen müssen, daß Grenzen der Zumutbarkeit bei der Frage der Einwanderung von Juden zurückzustehen haben.
Viertens. Wir sollten unsere Entscheidung nicht allein in den Debatten des Bundestages suchen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland vertritt die jüdischen Mitbürger, die zu uns gekommen sind, und er wird sie vertreten, wenn sie zu uns kommen werden. Wir sollten deshalb mit ihm eine Einvernehmensregelung herbeiführen über die Frage, wie wir uns für diejenigen öffnen, die nicht nach Israel wollen, sondern zu uns.
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Wolfgang LüderFünftens. Nach der Beratung mit den Vertretern des Staates Israel und mit dem Zentralrat der Juden muß gelten, daß sogenannte bürokratische Sachzwänge Entscheidungen nicht blockieren dürfen. Das darf nicht sein. Humanität muß über der pingeligen Einhaltung von Verwaltungsprinzipien stehen.
Von diesen Grundsätzen werden wir uns bei der Beratung des Antrages in den Ausschüssen leiten lassen. Wir stimmen dem ausdrücklich zu, daß wir hier nicht verzögern, sondern möglichst schnell die Klärung in den Ausschüssen herbeiführen sollten.
Nun hat Frau Kollegin Ulla Jelpke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es gleich vorwegzunehmen: Wir stimmen der Diktion des Antrags vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im wesentlichen zu. Einbezogen werden sollten aber auch die sowjetischen Jüdinnen und Juden, die über ein Drittland zu uns einreisen wollen.
In den letzten Jahren hat der Antisemitismus auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion einen neuen und dramatischen Aufschwung erhalten. Gruppierungen wie „Pamjat" und monarchistische Vereinigungen, aber auch Intellektuelle und Literaten, die nach einem „neuen russischen Weg" suchen, tragen viel zu einer Belebung des Antisemitismus bei. Ich möchte besonders daran erinnern, daß in den ersten Berichten über die antisemitischen Exzesse der Bewegung „Pamjat" betont wurde, daß gerade im Staatsapparat und in den Sicherheitsbehörden „Pamjat" zuverlässige Verbündete hatte.
Viele Jüdinnen und Juden verlassen das Territorium der einstigen SU auch, weil sie befürchten, daß durch weitere Verschlechterungen der Lebensumstände die antisemitischen Angriffe innerhalb kürzester Zeit gefährlich zunehmen könnten. Gerade die deutsche Geschichte zeigt, daß sich der Zeitpunkt einer Flucht schlecht planen läßt. Am sichersten ist immer der früheste.
Es ist nicht nur aus menschlichen, sondern auch aus grundsätzlichen moralischen und politischen Erwägungen unannehmbar, wenn heute bundesdeutsche Politiker schikanöse Hürden aufbauen, um Juden und Jüdinnen die Einreise in die Bundesrepublik zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. Es spricht weder für Problembewußtsein noch für Schamgefühl, wenn der damalige Bundesinnenminister Schäuble Anfang 1991 gegenüber der Presse äußerte, daß die Einwanderung von sowjetischen Juden in die BRD ein zumutbares Maß nicht übersteigen dürfe.
Laut Beschluß der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 können sowjetische Juden und Jüdinnen gemäß den Vorschriften des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge in der BRD aufgenommen werden. Das gilt explizit nicht für Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die aus Drittstaaten, z. B. Israel, in die BRD einreisen wollen.
Für diejenigen Juden und Jüdinnen, die aus der einstigen SU in die BRD direkt einreisen wollen, wurde eine ganze Reihe von bürokratischen Einschränkungen errichtet, die die Zahl der auf diesem Wege Einreisenden gering halten soll. Im Oktober 1991 mußte die „Allgemeine Jüdische Wochenzeitung" berichten, daß das Bundesministerium des Innern jüdischen Flüchtlingen die Einreise nur noch zur Familienzusammenführung und in besonderen Härtefällen erlauben werde. Schäuble forderte damals, daß die Flüchtlinge angeben sollten, wieso sie statt nach Israel in die BRD ausreisen wollten.
Die beabsichtigte Wirkung trat prompt ein. Es kam zu einem Stau jüdischer Flüchtlinge in der ehemaligen UdSSR. Jüdische Flüchtlinge mußten ca. ein Jahr warten, um in die BRD einreisen zu können. Eine Reihe von jüdischen Flüchtlingen versuchte daher den schnelleren Weg der Einreise in die BRD über Israel.
Das Ergebnis: Die Bundesrepublik hatte im Sommer 1991 zum erstenmal ein sogenanntes Judenproblem. In Berlin, wo vor einem halben Jahrhundert einmal 170 000 Juden lebten, führten 269 Jüdinnen und Juden zu einem politischen Eklat. Man wollte ihnen keine Aufenthaltsgenehmigung erteilen, da das Bundesinnenministerium befürchtete, einen Präzedenzfall zu schaffen. Gerade noch geduldet und einkaserniert, mußten die jüdischen Flüchtlinge auf ihre sichere Abschiebung warten. Die „Frankfurter Rundschau" vom 14. August 1991 gibt die Stimmung der Berliner Behörden wieder:
Eine große Anzahl einwandernder Juden aber, so war aus der Senatsverwaltung zu hören, würde in der deutschen Bevölkerung nur dem Antisemitismus Vorschub leisten.
Meine Damen und Herren, Antisemitismus muß mit anderen Mitteln bekämpft werden. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie diesem Antrag zu.
Danke.
Als letzter hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung ist dankbar für die Möglichkeit, unberechtigte Befürchtungen durch die Darlegung des gegebenen Sachverhalts in diesem Punkt zerstreuen zu können.Die Regierungschefs des Bundes und der Länder sind am 9. Januar 1991 übereingekommen, die Einreise von jüdischen Emigranten aus der früheren Sowjetunion auch in Zukunft auf Grund von Einzelfallentscheidungen zu ermöglichen. Die Aufnahme soll in entsprechender Anwendung des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge erfolgen. Bei diesen Einzelfallentscheidungen sollen Fälle der Familienzusammenführung und sonstige Härtefälle im Vordergrund stehen. Auch der Gesichtspunkt der Erhaltung der Lebensfähigkeit der jüdischen Gemeinden in
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Parl. Staatssekretär Eduard LintnerDeutschland soll im übrigen eine Rolle spielen. Die Aufnahme soll in einem für Bund und Länder insgesamt zumutbaren Maß ermöglicht werden.Aufnahme in „entsprechender Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes" bedeutet, daß die jüdischen Emigranten an einem für sie kostenlosen zehnmonatigen deutschen Sprachkurs teilnehmen können. Die Kosten hierfür trägt der Bund; ebenso das Eingliederungsgeld, das sie während dieser Zeit erhalten. Die Formulierung „entsprechend" dem Kontingentsflüchtlingsgesetz wurde deshalb gewählt, weil die Personen keinen Anspruch auf die Ausstellung eines internationalen Flüchtlingsreiseausweises haben sollen, was übrigens der Bitte Israels und der früheren Sowjetunion entspricht.Für die Aufnahme von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben Bund und Länder ein geordnetes Aufnahmeverfahren vereinbart, das seit dem 15. Februar 1991 gilt. Den von einzelnen Bundesländern außerhalb des geordneten Verfahrens bereits aufgenommenen sowjetischen Juden wird ebenfalls die Rechtsstellung nach dem Kontingentflüchtlingsgesetz gewährt. Sie werden auf die Verteilerquote der Länder angerechnet. Die Frist für die ohne Einhaltung des geordneten Verfahrens eingereisten und aufgenommenen Juden ist bis zum 10. November 1991 seinerzeit verlängert worden.Nach dem Stand vom 31. August 1992 sind von unseren Auslandsvertretungen in den baltischen Staaten sowie den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion weit über 100 000 Antragsformulare an Personen jüdischen Glaubens ausgegeben worden, die ihren Willen zur Ausreise bekundet haben bzw. eine Emigration in ihre Lebensplanung einbeziehen.Den innerdeutschen Behörden sind die Einreiseanträge von 32 338 Personen zur Prüfung und zur Entscheidung zugeleitet worden. Für 23 023 Personen liegen Aufnahmezusagen der Länder vor. 8 500 Personen sind ohne Einhaltung dieses geregelten Verfahrens in das Bundesgebiet eingereist.Wie viele Personen, die eine Aufnahmezusage erhalten haben, bisher tatsächlich eingereist sind, ist nicht genau bekannt. Rechnet man aber die Einreisen nach Nordrhein-Westfalen mit der höchsten Aufnahmequote hoch, so sind bundesweit bisher zwischen 7 000 und 10 000 Personen im geregelten Aufnahmeverfahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.Die Aufnahme von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion verläuft bisher reibungslos und völlig unspektakulär. Es ist offenbar ein guter Mittelweg gefunden worden, der sowohl für den Staat Israel akzeptabel ist als auch den Zentralrat der deutschen Juden in Deutschland zufriedenstellt. Eine Abkehr von diesem vereinbarten Verfahren verbietet sich nach unserer Auffassung im Hinblick auf die sensible Stimmungslage der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Zuzug von Ausländern.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/2222 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dies scheint der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bleiberecht für „Vertragsarbeitnehmerinnen und Vertragsarbeitnehmer" der ehemaligen DDR in Deutschland
— Drucksache 12/2778 —
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat wiederum der Kollege Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der DDR war es üblich, per Regierungsabkommen ausländische Arbeitskräfte zur Deckung des permanenten Arbeitskräftemangels anzuwerben. 1989 lebten etwa 90 000 Vertragsarbeitnehmerinnen und Vertragsarbeitnehmer in der DDR.Viele von ihnen — daran muß erinnert werden — lebten in ghettoartiger Isolation und wurden von Staatssicherheitsdienst und Partei überwacht. Es hat gravierende Verletzung ihrer Menschenwürde gegeben, so, wenn vietnamesische Frauen vom Staat zur Abtreibung gezwungen wurden.Beim Einigungsvertrag wurde ihre schwierige Situation, die für die Zeit nach der Wiedervereinigung abzusehen war, nur ungenügend berücksichtigt, obwohl das BÜNDNIS 90 schon damals eine menschliche und endgültige Lösung angemahnt hat. Viele ausländische Vertragsarbeiter sind inzwischen rückgeführt und abgeschoben worden.Wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den Regierungsabkommen heute noch in Deutschland leben, ist sehr schwer abzuschätzen, da die statistischen Erhebungen unvollkommen sind. Einigermaßen realistische Schätzungen der Ausländerbeauftragten gehen von rund 20 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern — zum Zeitpunkt der Stellung unseres Antrags — aus. Inzwischen, denke ich, sind es viel weniger.Betroffen sind insbesondere Menschen aus Vietnam, aus Polen, aus Mosambik, aus Angola, aus Ungarn, aus China und aus Staaten der GUS. Viele davon sind inzwischen zurückgeführt.Die Angaben, die wir haben, sind nicht nach dem Aufenthaltsstatus differenziert. Ein Teil der bereits mehr als acht Jahre hier Lebenden hat eine Aufenthaltserlaubnis bzw. -berechtigung. Viele von ihnen waren in den 80er Jahren eine entsprechende Arbeitsverpflichtung in der Hoffnung eingegangen, daß sie in den nächsten 10 bis 20 Jahren in der damaligen DDR würden arbeiten und leben können. Sie nahmen den
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Konrad Weiß
Aufenthalt als eine Möglichkeit zur finanziellen Unterstützung ihrer Familien in der schwierigen Situation ihres jeweiligen Heimatlandes wahr.Eine im Auftrag des BMZ 1991 erstellte Studie zur „Prüfung der Möglichkeiten eines Fachkräfteprogramms Vietnam und Mosambik" hat u. a. gezeigt, daß diese Arbeiterinnen und Arbeiter erhebliche Transferleistungen erbringen und damit zum Lebensunterhalt ihrer Familien im Heimatland beitragen.Die deutsche Wiedervereinigung hat die Lebensplanung vieler dieser Menschen zunichte gemacht. Sie sehen sich nun mit einem veränderten Ausländerrecht konfrontiert, das vielen von ihnen die Ausreise bringt. Wir, die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, meinen, daß das wiedervereinigte Deutschland eine besondere Fürsorgepflicht gegenüber diesen angeworbenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hat.Ein Teil der noch in Deutschland befindlichen Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter verfügt über gesicherte Arbeitsplätze. Sie werden — das wissen wir von Unternehmern — in ihren Betrieben auf Grund ihrer Qualifikation benötigt. Sie haben mit ihrer Arbeit einen Beitrag für die deutsche Wirtschaft geleistet. Sie haben maßgeblich zur wirtschaftlichen Entwicklung der DDR-Gesellschaft beigetragen. Es wäre eine große Ungerechtigkeit, diese Menschen nun dazu zu zwingen, Deutschland zu verlassen.An zwei Beispielen will ich die Dringlichkeit unseres Antrags belegen. Die rückgeführten Mosambikaner kamen in ein Land, in dem Bürgerkrieg herrschte. Sie hatten keine Chance zu einem wirtschaftlichen Neubeginn in ihrer Heimat, obwohl es Rückführungshilfe von der Bundesregierung gab. Sie sind fast alle nunmehr Arbeitslose und Flüchtlinge in eigenen Land.Auch in Vietnam herrscht eine große Arbeitslosigkeit, die nicht nur ihre Ursache in der katastrophalen Wirtschaftssituation hat, sondern auch mit der Demobilisierung der Streitkräfte zusammenhängt. Innerhalb der letzten 24 Monate wurden die vietnamesischen Streitkräfte um ca. 1 Million Soldaten reduziert. Darüber hinaus kehrten aus Osteuropa ca. 100 000 Menschen zurück; ca. 15 000 aus dem Irak während der Jahreswende 1990/91.Die Rückführungshilfen, die von der Bundesregierung gegeben werden, sind zwar zu begrüßen, aber ich habe meine Befürchtung — ich habe das auch schon mehrfach ausgedrückt —, daß die Kontrolle, wohin diese Gelder im sozialistischen Planapparat Vietnams gehen, ungenügend ist und daß das von der Bundesregierung in den Verträgen nicht in ausreichender Weise festgelegt wurde.Meine Damen und Herren, die Gleichstellung der DDR-Vertragsarbeiter mit den Arbeitsimmigrantinnen und den Arbeitsimmigranten in den westlichen Bundesländern wäre, so denke ich, ein kleiner Beitrag für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Deutschland. Es wäre wiederum ein deutliches Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhaß.Ich danke Ihnen.
Nun spricht der Kollege Dr. Michael Luther zu uns.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich etwas zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sage, möchte ich etwas zur Rechtssituation selbst ausführen. In der Absprache mit der ehemaligen DDR ist vor der deutschen Einigung festgelegt worden, daß auf Grund von völkerrechtlichen Vereinbarungen getroffene Verträge zwischen den Herkunftsländern und der DDR insofern gelten, als die ausländischen Werkvertragsarbeitnehmer auch nach dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland für die Dauer der Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bleiben können.Gemäß dem Einigungsvertrag erhielten diese Ausländer eine Aufenthaltsbewilligung, die ihrem von Anfang an zeitlich befristeten Aufenthalt Rechnung trägt. Deshalb ist nie gegenüber den ausländischen Arbeitnehmern ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden, der einen Anspruch auf Verbleib in Deutschland über die Vertragsdauer hinaus rechtfertigen würde. Die zeitliche Begrenzung des Aufenthalts ist ihnen bekannt gewesen. Die Verträge waren zweckgebunden. Sie dienten sicher zum Erhalt der maroden DDR-Wirtschaft. Sie dienten aber auch in gewisser Weise zur Aus- und Weiterbildung, damit die Betroffenen nach Ablauf dieser Zeit für ihr Land tätig werden können.Die so noch zu DDR-Zeiten getroffene Regelung diente, weil der einzelne nicht Opfer der deutschen Einheit werden sollte, der Besitzstandswahrung. Zugleich ergab die Regelung die rechtliche Gleichstellung mit den Werkvertragsarbeitnehmern im Bundesgebiet. Soweit die nüchterne Rechtslage. Demnach müßten die Ausländer nach Ablauf der Aufenthaltsgenehmigung Deutschland verlassen, und sie wären damit den Werkvertragsarbeitnehmern gleichgestellt, die insgesamt in der Bundesrepublik leben.Es gibt jedoch noch mehr als diese nüchterne Betrachtung: Nachdem sich diese Menschen eine Zeitlang auf deutschem Boden aufgehalten haben, sind neue Situationen aufgetreten. Zum einen ist eine Umbruchsituation in Deutschland, aber auch in Europa eingetreten, die auch an der Welt nicht spurlos vorübergegangen ist. Die Verträge wurden zwischen einer sozialistischen DDR und sozialistischen Staaten geschlossen. Würden die Werkvertragsarbeitnehmer heute zurückkehren, kehrten sie — ich sage es einmal so — aus dem bösen Kapitalismus zurück in den Sozialismus. Dabei ergeben sich Schwierigkeiten, die dann gerade auch in Vietnam auf die einzelnen warten könnten. Juristisch heißt das für mich, daß die Vertragsbedingungen, die zwischen den Herkunftsländern und der DDR vereinbart worden sind, heute in einem anderen Licht zu betrachten sind.Nicht zuletzt hat jeder Mensch auch ein Einzelschicksal. Sie alle kennen die Pressemeldungen aus Weimar, wo sich Kommunalvertreter, Kirchen und
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Dr. Michael Lutherauch unsere Bundestagskollegen für andere Lösungen einsetzen. So fordert nicht nur die Weimarer Baumaschinen GmbH die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung, daß diese dort Arbeitenden Fachleute sind, die zur Zeit nicht zu ersetzen wären. Es gibt auch andere Fälle. Von Ausländern verschiedener Nationalitäten wurden Familien gegründet. Wie ist das zu handhaben? Der Oberbürgermeister von Weimar schreibt in einem sehr emotionalen Brief über die Situation, die die Ausländer bei der Rückkehr in ihre Heimatländer erwartet. Ich zitiere:Zurück ins kriegsgeschüttelte Mosambik, zurück ins Wirtschaftschaos von Vietnam oder zurück nach Kuba, wo Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Fremdwörter sind.
Meine Damen und Herren, das alles sind Fakten, die gesehen werden müssen. Nach einer nüchternen gesetzlichen Analyse ist es notwendig, den Tatbestand im Hinblick auf das Rechtsgefühl und die Rechtsnorm im weiteren Sinne zu prüfen. Deshalb ist die Lage aus meiner Sicht nicht einfach. Wir müssen die einzelnen Punkte prüfen. Wir müssen prüfen, welche präjudizierende Wirkung eine Änderung des bisherigen Vertragszustandes auf andere Verträge hätte. Wir müssen prüfen, ob es nicht sinnvoll wäre, mehr zu tun, damit dann, wenn die Ausländer doch in ihre Heimatländer zurückkehren, die Eingliederung gelingt, was auch das schon angesprochene Fachkräfteprogramm beinhaltet. Wir müssen aber auch prüfen, welche Situation den einzelnen bei einer Rückkehr erwartet; drohen ihm politische Verfolgung oder andere Diskriminierung, dann sollte man natürlich anders entscheiden.Nicht zuletzt muß auch geprüft werden, ob mit der Beschäftigung Mißbrauch getrieben werden kann, wenn ich — hier sehe ich das Straßenbild von Zigarettenhändlern auf unseren Straßen — den Aufenthalt von einer Beschäftigung in Ostdeutschland abhängig mache. Das heißt, ich muß auch versuchen, den Mißbrauch auszuschließen.Ich konnte nur ein paar Punkte nennen, über die im Ausschuß beraten werden muß. Wir müssen das schnell tun, weil die Zeit drängt, und ich hoffe, daß wir uns einigen können.
Als nächste hat die Kollegin Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man so etwas wie eine Rangliste der besonders benachteiligten Gruppen unserer Gesellschaft im vereinten Deutschland aufstellen wollte, gehörten diese Menschen, von denen wir sprechen, die bis Ende Oktober 1989 aus Angola, Mosambik oder Vietnam als Arbeitskräfte für die damalige DDR angeworben wurden, wohl mit an eine exponierte Stelle.
Es zählt zu den besonders trüben Kapiteln der Ausländerpolitik überhaupt, wie das Regime mit diesen Menschen umgegangen ist. Eingeplant als Lückenbüßer auf dem Arbeitsmarkt, untergebracht in ghettoähnlicher Isolation, hatten sie kaum Kontaktmöglichkeiten zu Einheimischen. Daß das Regime mit seinem verlogenen Anspruch auf Internationalismus außerstande oder wohl auch nicht willens war, die Bürgerinnen und Bürger der DDR mit den wenigen Menschen anderer Hautfarbe und Kultur vertraut zu machen, die sich überhaupt auf dem Terrain des Staates aufhielten, erweist sich heute als Kardinalfehler und als eine von mehreren Ursachen für Fremdenhaß in den neuen Ländern.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung bereits im Juni aufgefordert, die Aufenthaltsbewilligung der Vertragsarbeitnehmer in eine befristete Aufenthaltserlaubnis umzuwandeln. Für diejenigen, die sich zur Zeit nicht in einem Beschäftigungsverhältnis befinden, aber innerhalb einer bestimmten Frist einen Dauerarbeitsplatz nachweisen, soll es eine Übergangsregelung geben.
Herr Weiß, wir unterstützen deshalb den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und wir begrüßen auch die Initative des Landes Brandenburg vom 29. September für ein endgültiges Bleiberecht für vietnamesische Vertragsarbeitnehmer. Nach Schätzungen handelt es sich dabei um etwa 25 000 Menschen. Ihr jetziger Status ist von sozialen Härten geprägt; Bleibewilligen wird eine vernünftige Lebensplanung und Integration praktisch unmöglich gemacht.
Die Zustände, die sie in ihrem Heimatland — allen voran Vietnam — vorfinden, sind wahrhaftig nicht dazu angetan, den Wunsch und Willen zur Rückkehr zu beflügeln. Sehr viel eher würden diese Menschen dann dazu neigen, in die Illegalität abzutauchen; das sollten wir verhindern.
Aber mehr noch: Wir sollten zur Aufklärung darüber beitragen, unter welchen Umständen diese Arbeitnehmer hier gelebt haben und daß sie wahrhaftig keine Bedrohung für arbeitssuchende Einheimische darstellen.
Denen, die sich jetzt noch in Ostdeutschland aufhalten, ist übel genug mitgespielt worden. Denen, die noch hier sind, wenigstens einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu geben, ist doch das mindeste, was wir aus Fairneß und Humanität für sie noch tun können.
Nun hat Frau Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Bleiberecht für ausländische Vertragsarbeitnehmer in der ehemaligen DDR" ist wirklich nicht neu. Wir haben uns schon mehrfach damit beschäftigt, aber es scheint unverhältnismäßig schwer zu sein, das Pro-
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Cornelia Schmalz-Jacobsenblem zu lösen. Ich bemühe mich seit Wochen und Monaten um eine befriedigende Lösung; das stößt bei diesem in meinen Augen in Wirklichkeit sehr kleinen Problem jedoch auf große Hürden.Sie, Herr Kollege Luther, haben auf die juristische Grundlage hingewiesen, die natürlich völlig eindeutig ist. Nur ist in Deutschland inzwischen alles völlig anders geworden. Damit ist auch für diese Menschen alles anders geworden, und ich denke, daß der Rechtsstaat seine Grundlagen nicht mit Hartherzigkeit verteidigen sollte.
Es ist natürlich verlockend, die Frage des Bleiberechtes durch simples Liegenlassen erledigen zu wollen, bis von den wenigen Tausenden — es sind ganz sicher keine 25 000 mehr — kein einziger mehr da ist. Deshalb ist es gut, daß die Länder Sachsen und Thüringen nochmals einen vorläufigen Abschiebestopp bis zum Jahresende beschlossen haben, und erst recht begrüße ich die Bundesratsinitiative des Landes Brandenburg für ein Bleiberecht dieser Menschen.Diese Initiativen aus den neuen Bundesländern, auch der Abschiebestopp, zeigen ganz eindeutig, daß man ein schlechtes Gewissen hat, daß man sieht, daß es so nicht weitergehen kann. Wichtig ist, meine Kolleginnen und Kollegen: Es eilt; wir müssen uns bis zum Jahresende entscheiden, denn die Aussetzung der Abschiebungen durch einzelne Bundesländer kann man nicht ad infinitum weiterbetreiben. Mit dieser Aussetzung beseitigt man auch nicht die großen Unsicherheiten bei diesen Menschen, die hier leben. Wir müssen den Vietnamesen, Kubanern und Angolanern in den neuen Bundesländern eine glaubwürdige Perspektive aufzeigen und eine zukunftsgerichtete Lebensplanung ermöglichen.Die Spirale „kein Aufenthaltsrecht — kein Arbeitsplatz, kein Arbeitsplatz — kein weiterer Aufenthalt und Wohnungsschwierigkeiten" trägt dazu bei, daß sich diese Leute auf nicht so ganz legale Art und Weise betätigen. Ich will das gar nicht verteidigen; das kann man aber erklären. Es ist höchste Zeit für eine deutliche Regelung.Es kommt etwas hinzu — Sie haben es angesprochen, Herr Kollege Weiß —: daß bei der augenblicklichen Stimmung gegen Ausländer die unsichere Situation dieser sehr schwachen Leute noch viel schwieriger wird. Ich habe bei einem Besuch in einer Unterkunftsanlage für Vietnamesen in Leipzig erlebt, daß sie vor lauter Angst, denn es hatte Angriffe gegeben, ihre Fenster verrammelt hatten und daß die gegenüber wohnende deutsche Bevölkerung das moniert hat und sich in ihrem ästhetischen Empfinden gestört fühlte. So absurd können Dinge werden. Die entwürdigende Ausländerpraxis der DDR sollten wir durch eine menschliche Politik ablösen.
Hier ist geschildert worden, wie diese Leute behandelt wurden. Wer einmal in solche Verträge hineingesehen hat, den überläuft es kalt. Das waren Menschen,die dem Fünfjahresplan dienten, die Frauen durften nicht schwanger werden, Geld mußte abgegeben werden. Daneben blühten Gerüchte, und die blühen auch heute noch. Ich hörte noch unlängst in Zwickau, daß das privilegierte Leute waren, die in harter Währung bezahlt wurden — lauter Unsinn!Wir brauchen Entscheidungskraft. Wir müssen hier auch sehen, daß es sich um eine Nagelprobe für das Standhalten oder Zurückweichen gegenüber einem feindlichen Klima handelt.
Es ist in meinen Augen auch noch für etwas anderes eine Nagelprobe, nämlich dafür, meine Damen und Herren, wie ernst wir das Engagement der ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen, der Ausländerbeauftragten und der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Kirchen und Verbänden nehmen, ob die „ihre" Ausländer genauso ernsthaft schützen können, wie das bei uns im Westen gang und gäbe ist.Ich bitte Sie alle: Wir sollten die Verfehlungen der DDR mit den Mitteln der freiheitlichen Demokratie korrigieren, großzügig — ich wiederhole das —, mit Anstand und schnell.
Nun hat Ulla Jelpke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 70 000 bis 80 000 ehemalige Vertragsarbeiter und Vertragsarbeiterinnen haben die Bundesrepublik bereits verlassen. Bei aller berechtigten Kritik, die heute, was die ehemalige DDR angeht, vorgetragen wurde, möchte ich aber auch daran erinnern, unter welchen Bedingungen diese 70 000 bis 80 000 Vertragsarbeiter und Vertragsarbeiterinnen zum Verlassen der Bundesrepublik veranlaßt worden sind.Zunächst wurde ihnen klargemacht, daß sie unerwünscht sind. Unter dem Vorwand der Gleichstellung mit westdeutschen Vertragsarbeitern und Vertragsarbeiterinnen wurde ihnen lediglich ein perspektivloses Bleiberecht bis zum Ende ihrer ursprünglichen Arbeitsverträge zugestanden. Viele wurden von Unternehmen um ihre Rückkehrprämien gebracht. Durch Vorspiegelung falscher Tatsachen wurden sie zu vorzeitigen Kündigungen bewegt und konnten dann als Billigstarbeitskräfte weiterverwendet werden. Arbeitslosigkeit, existentielle Unsicherheit und Illegalität folgten.Von Anfang an weigerte sich die Bundesregierung, durch einen humanitären Akt den Aufenthalt dieser Menschen so abzusichern, daß sie auf einer sicheren Basis die Entscheidung treffen können, ob sie hierbleiben oder zurückgehen wollen.Durch Arbeitslosigkeit, die für diese Gruppe schon sehr bald mehr als 80 % betrug, und durch die immer spürbarer werdende Ablehnung vieler Deutscher ließen sich Vietnamesen und Vietnamesinnen im Rahmen des deutsch-vietnamesischen Reintegrationsabkommens zur Rückkehr bewegen. Das Komitee zum
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Ulla JelpkeSchutz vietnamesischer Flüchtlinge beschreibt die Folgen so:Behörden in vielen Bundesländern und einige Verwaltungsgerichte mißbrauchten diese Vereinbarung, um die bisherigen Abschiebestopps ... aufzugeben. Nach unseren Informationen sind Vietnamesen sogar in Abschiebehaft genommen worden. Wie weiter bekannt ist, zwangen einige Ausländerbehörden vietnamesische Asylbewerber, eine bestimmte Geldsumme monatlich an sie abzutreten, um später davon Flugtickets nach Vietnam zahlen zu können.Vietnam hatte in den Abkommen Straffreiheit — allerdings nur bei freiwilliger Rückkehr — zugesichert. Am 8. Juli ging ein Gutachten des UN-Flüchtlingskommissars zu dieser Problematik dem Innenminister zu, leider bis heute ohne Resonanz.Gegensätzlich ist auch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte im Falle von Asylanträgen, was den heutigen Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN besonders wichtig macht. „Freiwillige Rückkehr sei zumutbar", meint ein Gießener Gericht, und weil das so ist, weisen wir Vietnamesen aus, wenn sie nicht freiwillig gehen. Das Würzburger Verwaltungsgericht beispielsweise befürchtet dagegen Umerziehungslager oder Freiheitsstrafen in Vietnam bei Ausweisung aus der Bundesrepublik und gewährt diesen Menschen deshalb Schutz vor Ausweisung.Durch den besonderen Rechtsstatus ist den Vietnamesen der legale Arbeitsmarkt hier inzwischen weitgehend verschlossen. Bei vielen ist der Aufenthalt abgelaufen. Das Land Berlin beispielsweise bewilligt ihnen den auf die neuen Bundesländer begrenzten Aufenthalt nur noch bis zu den endgültigen politischen Entscheidungen in Bonn. Ihnen zustehende Sozialleistungen wie Kindergeld und Arbeitslosengeld können sie nicht beanspruchen. Sie sind zu illegaler Arbeit geradezu gezwungen. Sozialhilfe können sie nicht beantragen, da das ein Ausweisungsgrund ist: In Berlin-Marzahn z. B., wo im März dieses Jahres ein Vietnamese auf offener Straße erstochen wurde, führt die äußerst restriktive Anwendung der ABM-Vorschriften dazu, daß die dortige Beratungsstelle für ausländische Mitbürger und Mitbürgerinnen qualifizierte Vietnamesen und Vietnamesinnen nicht einstellen kann, und das ist beileibe kein Einzelfall.Derartige bürokratische Einschränkungen, gekoppelt mit willkürlichen Schikanen auf Ämtern und in der Öffentlichkeit, hätten durch einen Federstrich des Innenministers schon lange beendet werden können. Er aber setzte offensichtlich darauf, daß die immer unerträglichere Situation ehemalige Vertragsarbeiter und Vertragsarbeiterinnen irgendwann aus dem Lande treibt oder daß man den Rest der jetzt noch 5 000 bis 20 000 Verbliebenen auf Grund ausländerrechtlicher Vorschriften problemlos hinauswerfen kann.Deshalb stimmen wir diesem Antrag zu.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/2778 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Lebhaftes Nicken; dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lieselott Blunck, Brigitte Adler, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Privatgirokonto
— Drucksache 12/1110 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Lieselott Blunck, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kreditkarten
— Drucksache 12/1223 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Finanzausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe als erste Rednerin Lieselott Bluck auf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die Bankverbindung gehört zum Leben wie das tägliche Brot, und wahrscheinlich ist den meisten Kunden gar nicht bewußt, was sie außer ihrem Geld ihrer Bank alles anvertrauen", sagt „Die Bank", die „Zeitschrift für Bankpolitik und Bankpraxis". Ich füge hinzu: Ohne Konto geht nichts; es gibt eigentlich keine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ohne ein Bankkonto. Das Girokonto ist die Verkehrsstraße und der Verbindungsweg der Bürger untereinander und der Bürger mit den öffentlichen Stellen. Miete, Gehalt, Sozialhilfe, Steuern, all dies kann man nicht bekommen oder überweisen, wenn man kein Konto hat. Deswegen ist eine der Hauptforderungen in dem Antrag 0.3r SPD auch das Recht auf ein Girokonto, selbstverständlich ohne einen Kreditrahmen, und zusätzlich bei Kündigung ein umfassender Kündigungsschutz.Wenn mit dem Konto etwas falsch läuft, läuft vieles im Leben der Bürger falsch. Die Institution Bank/ Sparkasse ist eine mächtige Organisation. Deshalb ist die Frage zu stellen: Wie geht diese Organisation mit ihrer Macht um? Wo sind ihr Grenzen gesetzt, wer setzt ihr Grenzen? Im Moment nehmen wir nicht genügend Einfluß. Die Regeln, die wir aufstellen, sind nicht ausreichend. Ich möchte nur ein Thema heraus-
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Lieselott Blunckgreifen: die Gebührenerhöhung. Es gibt eine hanebüchene Erklärung der Deutschen Bank im Rahmen der Ankündigung einer weiteren Gebührenerhöhung. Diesmal muß nicht der sonst immer angeführte — aber nie bewiesene — defizitäre Zahlungsverkehr als Begründung dafür herhalten, sondern — man höre und staune — es wird auf den gestiegenen Wert des Kontos für den Kunden verwiesen. Dies ist schon ein starkes Stück, eine nicht einmal elegante Umschreibung für den Griff in die Tasche der Bürgerinnen und Bürger,
und dies bei einer Branche, die bekanntermaßen nicht gerade am Bettelstab geht.Diesen übermächtigen Dienstleistungsunternehmen müssen Schranken auferlegt werden. Auch sie müssen sich den Regeln einer vorsorgenden Verbraucherpolitik unterwerfen.
Auch Dienstleistungsanbieter tragen Verantwortung für ihre Produkte und müssen für die Konsequenzen z. B. einer Falschberatung einstehen.Daneben muß die Position des Kunden am Markt gestärkt werden. Die Unübersichtlichkeit der Preisgestaltung für die einzelnen Dienstleistungen verhindert einen funktionierenden Wettbewerb und stößt immer häufiger auf öffentliche Kritik. Hier ist mehr Transparenz gefordert. Dazu gehören die Reduzierung der Informationsvielfalt auf wesentliche Kriterien, die leichte Verständlichkeit der Informationen, die Vergleichbarkeit der Daten und die Aushändigung eines vollständigen Gebührentableaus.Ohne generell auf die Preisgestaltung der Banken für ihre Dienstleistungen Einfluß nehmen zu wollen, sind aus Verbrauchersicht hinsichtlich der Gebühren folgende Forderungen zu erheben: Bei Konsumentenkrediten ist eine Begrenzung auf das Anderthalbfache des Marktzinses vorzunehmen. Die Bankforderungen bei Überschreiten des Überziehungslimits müssen sich am jahresdurchschnittlichen Verzugsschaden orientieren.Als Dienstleistungsunternehmen leben die Banken entscheidend vom Serviceangebot und vom Vertrauen ihrer Kunden. Bei vielen Kunden besteht aber ein Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit und der Ohnmacht. Ich glaube, es liegt daher auch im Interesse der Banken, diesen Empfindungen und Einschätzungen durch eine stärkere Berücksichtigung der Verbraucherbelange entgegenzuwirken und endlich den Verbraucherschutz als Wettbewerbsfaktor zu begreifen.Es bewegt sich bei den Banken da auch etwas, wenngleich die bisher bekanntgewordenen Neuformulierungen in wichtigen Bereichen wie z. B. der Haftung nur Anpassungen an die Rechtsprechung darstellen. Aber die Bereitschaft des Bundesverbandes Deutscher Banken, endlich mit den Verbraucherverbänden in einen Dialog hierüber einzutreten, ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Angesichts einer Reihe von Vorbehalten will ich das Werk jedoch nichtvor Anfang des nächsten Jahres loben, denn dann liegt die endgültige Fassung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen vor. Dann werden wir sehen, ob wir ihr Beifall zollen können.Die schönsten Rechte nützen nur dann etwas, wenn sie auch wirklich geltend gemacht werden können. Dies gilt nicht nur für den Bankensektor; es gilt für die Verbraucherpolitik insgesamt. Daher müssen wir den Zugang der Verbraucher zum Recht verbessern. Erweiterte Klagebefugnisse mit der Möglichkeit des Beitritts von Verbraucherverbänden zu einem Individualprozeß, die Geltendmachung des Kollektivschadens durch die Verbraucherverbände, aber auch die Verankerung des Verbraucherschutzes als Aufgabe des Bundesamtes für das Kreditwesen sind wichtige Bausteine. Dazu kommt die Aufforderung an die Verbraucherinnen und Verbraucher, sich zu informieren, zu vergleichen oder ruhig einmal die Bank zu wechseln. Auch dies würde den Verbraucherschutz sicher verbessern.Klein, praktisch, bequem — so sieht die Schokoladenseite der Kredit- und Kundenkarten aus. Der rasche Anstieg der Anzahl der Karten auf heute schätzungsweise 6 Millionen ist sicherlich nicht nur auf die massive Werbung zurückzuführen, sondern auch darauf, daß sich Verbraucherinnen und Verbraucher Vorteile davon versprochen haben und versprechen.Im täglichen Gebrauch ist allerdings schon so mancher Lack von den Kreditkarten abgeblättert. Probleme bei der Barauszahlung und de facto wertlose Zusatzleistungen sind meist noch vergleichsweise harmlos. Gleichwohl sind wir der Auffassung, daß keine Einschränkungen vereinbart werden dürfen, die diese Serviceangebote schmälern.Das Übersehen des Kleingedruckten, das meist erst auf Verlangen zugesandt wird, kann den Verbraucher vor allem bei Haftungsfragen teuer zu stehen kommen. Der Ruf, verbraucherfreundliche Haftungsregelungen zu haben, läßt sich auf Grund der Praxis nur noch sehr eingeschränkt aufrechterhalten.Angesichts des wachsenden Mißbrauchs durch Dritte — nach Schätzungen des BKA haben sich die Schäden allein durch Diebstahl und Fälschung seit 1989 auf rund 100 Millionen DM vervierfacht — müssen wir auf der Grundlage der BGH-Rechtsprechung klare Verhältnisse schaffen. Es muß auch der mißbräuchlichen Nutzung von Kundendaten Einhalt geboten werden.Kreditkarten, die den Überblick über die Ausgaben erschweren, und die leicht zugänglichen Dispositionskredite über das Girokonto haben mit dazubeigetragen, daß die Verschuldung der bundesdeutschen Bevölkerung mit 288 Milliarden DM einen neuen Höchststand erreicht hat. Undurchschaubare Gebühren- und Zinsbelastungen verbergen dabei nicht nur in Einzelfällen Spitzensätze bei den Verzugszinsen von fast 20 %. Bei Kartengebühren, Überziehungsprovisionen, Strafgebühren u. ä. sind die effektive Jahresgesamtbelastung und der effektive Jahreszins anzugeben.
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Lieselott BlunckUnbefriedigend ist außerdem die Abwälzung der Händlerprovision auch auf Barzahler im Rahmen der allgemeinen Preiskalkulation.
Hiervon besonders betroffen sind die Bezieher kleinerer Einkommen, die kaum eine Plastikkarte ihr eigen nennen. Auch hier müssen wir dem Verursacherprinzip wieder Gültigkeit verschaffen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, nach dem Vorbild Dänemarks ein Kreditkartengesetz vorzulegen. Wir wollen, daß die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft ungetrübt die Vorteile der Karten nutzen können.
Nun spricht der Kollege Detlef Kleinert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Fraktion der SPD hat sich bei der Klarstellung dessen, was eigentlich gement ist, sehr vornehm zurückgehalten. Ich habe an einigen Stellen beim besten Willen nicht verstehen können, was gemeint war. Ich dachte immer, jetzt kommt die Begründung und gibt mir Auskunft über das Gewollte. Diese Begründung fehlte aber auch. Sie haben das Ganze ziemlich locker genommen; Sie haben sich alle Sorgen vom Hals geschrieben und gesagt: Bundesregierung, nun mach einmal ein Gesetz!
Ich vermute, daß viele der bedeutenden Sozialdemokraten, die diese beiden Entwürfe unterzeichnet haben, morgen und übermorgen bei Veranstaltungen der Sozialdemokratischen Partei oder im größeren Rahmen feurige Reden über die Notwendigkeit der Einschränkung der Regulierungsflut und über die Verminderung von Gesetzen und Verordnungen halten werden. Bedauerlicherweise unterschreiben sie dann gelegentlich doch solche Anregungen — so möchte ich es höflicherweise nennen — wie diese, die zu erheblichem zusätzlichen und zum größten Teil völlig überflüssigen Regulierungsaufwand führen müßten.
Ich sage Ihnen, wer all das Gute, das Sie wollen, bezahlt: die zusätzlichen Gebührentabellen und die Zinsberechnungen unter Einbeziehung der Strafzinsen oder Strafgebühren, die mit dem Zins so wenig zu tun haben, daß es überhaupt keinen Sinn macht, sie im effektiven Jahreszins auszuweisen, weil es sich um besondere Fallgestaltungen handelt, die das Bild nur verwirren, aber keineswegs klären können. All das, was Sie verlangen, wird mit Sicherheit von dem bezahlt, den schützen zu wollen Sie vorgeben: dem Verbraucher.
In diesem Land pflegt der Verbraucher zu bezahlen, was diejenigen, die ihn schützen wollen, verursachen. Deshalb werden wir uns mit jedem einzelnen Gedanken befassen.
Wir verstehen den Grundansatz: Der Umgang mit gebündeltem Barem führt Menschen in einigen Fällen zu einer gewissen Selbstüberhebung. Der Umgang mit den Vertretern großer Banken ist nicht einmal für Kaufleute sehr angenehm und für den Verbraucher um so weniger. Das alles will ich Ihnen gerne einräumen.
Kollege Kleinert, würden Sie auch eine Zwischenfrage einräumen?
Aber der richtige Weg ist, diesen Bankern mit der nötigen selbstbewußten Gelassenheit gegenüberzutreten und sie einmal zu fragen, wie sie auf den Triller kommen, Ihnen für eine einfache Überweisung eine Abrechnung zu schicken.
Kollege Kleinert, würden Sie die Präsidentin einmal anhören, die Sie schon einmal gefragt hat, ob Sie der Kollegin Blunck eine Zwischenfrage einräumen?
Bitte schön.
Wunderbar! — Kollegin Blunck.
Vielen Dank. — Herr Kollege Kleinert, kennen Sie die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken? Und wenn Sie sie kennen, würden Sie mir dann zustimmen, daß, wenn ich bei den Allgemeinen Geschäftsbedingungen statt „Bank" das Wort „Staat" einsetze und statt „Kunde" die Worte „Bürgerinnen und Bürger" einsetze, die Kündigungsberechtigungen der Banken folgenden Wortlaut hätten: Der Staat behält sich das Recht vor, den Bürger jederzeit auszubürgern, ohne Angabe von Gründen, nach freiem Ermessen.
Würden Sie mir weiter zugestehen, daß sich bei den Zurückbehaltungs- und Aufrechnungsrechten die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken und Sparkassen folgendermaßen lesen würden: Alles, was dem Bürger gehört, gehört auch dem Staat. Soweit der Staat der Auffassung ist, daß etwas für den Bürger übrigbleibt, ist er auch gewillt, das auszuzahlen. Sehen Sie nicht auf Grund dieser Tatsache die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung ein?
Dies war eine etwas lange Zwischenfrage.
Verehrte Frau Kollegin Blunck, in den Staat sind wir hineingeboren. An seinen Geschäftsbedingungen mitzuwirken ist u. a. die Aufgabe der gewählten Abgeordneten dieses Hauses. Eine Bank kann man sich aussuchen.Wenn die Sozialdemokraten nicht ein so furchtbar unglückliches Händchen im Umgang mit Barem hätten, könnten sie auch zur BfG gehen und in ihrer eigenen Bank alles verwirklichen, was ihnen hier
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Detlef Kleinert
vorschwebt. Leider ist ihnen das Ding abhanden gekommen.
— Man soll wirklich nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.Ich wollte vorhin aber folgendes sagen: Jeder Bürger, auch ein verhältnismäßig kleiner Verbraucher, kann unter einer großen Zahl von Banken wählen. Es spricht sich dort zum großen Teil schon herum, daß man sich nicht alles gefallen lassen will.Wenn ich Abrechnungen bekomme, auf denen „Gebühr", „Porto" und dann noch — es ist gut, wenn man eine Fremdsprache kennt — „Courtage" steht, wenn man mir also, statt eine Gebühr zu berechnen, gleich drei Gebühren in Rechnung stellt, dann weiß ich zwar, daß Colbert gesagt hat, die Kunst des Geldeinnehmens ist wie die Kunst, dem Huhn die Federn so einzeln auszuzupfen, daß es das nicht bemerkt, aber ich fühle mich trotzdem von der Bank ein wenig veralbert.Dies muß man Ihnen mitteilen.Es ist doch sehr gut, daß wir durch die heutige Debatte die Gelegenheit haben, auch von dieser Stelle aus einen gewissen, in Teilen durchaus berechtigten Unmut dorthin gelangen zu lassen.Die Kollegenschar hat sich heute schon ein wenig gelichtet. Ich bin aber ganz sicher, daß das, was wir heute hier sagen, in den Chefetagen der Banken nicht unbeachtet bleiben wird.Das, so meine ich, müßte eigentlich fast genügen. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind nämlich insbesondere von den Banken als ein Gesetz durchgesetzt worden, das uns mit unglaublich viel Arbeit beschwert, das unsere Gerichte unglaublich belastet und das bisher so viel mehr Nützliches als früher nicht zutage gebracht hat.Da jetzt noch einmal draufzusatteln und dann von der Bundesregierung ein Gesetz zu verlangen, während Sie hier Materien aufzeigen, die in vielen unterschiedlichen Gesetzen angesprochen sind und auch in Zukunft zum Zweck der systematischen Übersicht geregelt werden müßten, das führt mit Sicherheit zu großer Unordnung und dient der Sache überhaupt nicht.Ich wiederhole mich: Der freundliche Gedanke, die Verbraucherverbände zu beteiligen, und das Wiederauftauchen dieses Uraltreptils — der Kollektivschaden wird durch die Verbraucherverbände geltend gemacht —, einzelner Leute Ansprüche zu höherem Zweck auf sich zu vereinigen, um das zu erhalten und mit Planstellen zu versehen, was nach Auskunft aus Ihren Reihen zum personellen Besitzstand der Sozialdemokratie gehört, das kann nicht Sinn vernünftiger Verbraucherpolitik sein. Das nützt nichts, das schadet, und bezahlen werden das die Verbraucher. Keine überflüssigen Gesetze!Danke schön.
Nun spricht der Kollege Klaus-Heiner Lehne zu uns.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! An diesen beiden Anträgen der SPD ist teilweise so viel dran, daß es zumindest Sinn macht, sie in den Ausschüssen vernünftig zu beraten. Teilweise sind darin aber Forderungen aufgestellt worden, die aus der Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schon heute keine Sinnhaftigkeit mehr erkennen lassen.Ich will mit dem Antrag zum Bereich der Kreditkarten anfangen. Ich glaube, die SPD hat — das geht schon aus der Antragsbegründung hervor — die Funktion und die eigentliche Bedeutung der Kreditkarten im wesentlichen mißverstanden. Wenn davon die Rede ist, daß das Kreditvolumen ausgeweitet werden würde, erweckt dies den Eindruck, als wäre die Kreditkarte eine Karte, die den Begriff Kredit im Sinne eines Darlehens darstellt. Das ist natürlich nicht der Fall. Im Grunde ist die Kreditkarte nichts anderes als eine Art bargeldloses Zahlungsinstrument, durch das man statt mit Bargeld mit der Kreditkarte bezahlt und das Unternehmen später quasi eine Art Inkasso durchführt.Der Begriff Credit kommt eigentlich aus dem Amerikanischen, wo er viel mehr umfaßt, als das im Deutschen der Fall ist. Da es sich im Regelfall aber nicht um einen Kredit handelt, können auch keine Effektivzinsen angegeben werden. Auch die Benutzungsgebühr läßt sich faktisch kaum in einen Effektivzinssatz umrechnen, weil dieser davon abhängig ist, wie oft man die Karte im Laufe eines Jahres benutzt. Ich habe also Zweifel daran, ob man so etwas überhaupt machen kann.Wenn ausnahmsweise einmal in einer Kreditkartenvertragskonstruktion die Rede davon ist, daß in Raten zurückgezahlt werden kann, gilt ohnehin das Verbraucherkreditgesetz mit all seinen Schutzvorschriften. Das heißt, in diesem Bereich haben wir keine Probleme und keinen Gesetzgebungshandlungsbedarf.Ich möchte mich überhaupt dem Kollegen Kleinert anschließen, der meines Erachtens überzeugend ausgeführt hat, daß wir schon genügend Gesetze und genügend Regelungen haben und wirklich nur dann neue Gesetze verabschieden sollten, wenn dafür eine dringende Notwendigkeit besteht.
Ich kann auch nicht erkennen, daß es bei den Kreditkartenbenutzern eine besondere Bevorzugung bei Barzahlungsrabatten gibt. Heute ist der Gebrauch bargeldloser Zahlungsmittel — ob das Schecks sind oder ob das Kreditkarten sind — so allgemein üblich, daß generell — das ist natürlich von der Unternehmenspolitik abhängig — kein Unternehmer Barzahlungsrabatte gewährt. Sie sind im übrigen durch das entsprechende Rabattgesetz beschränkt, was sicherlich auch Sie wissen.
— Einverstanden. Es gibt dort sicherlich Verstöße;aber die gibt es bei jedem Gesetz. Aber wir machen
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Klaus-Heiner Lehnedie Gesetze auch, damit sich die Leute daran halten.
Im übrigen ist die Kreditkarte heute sicherlich schon ein Instrument geworden, das breitesten Teilen der Bevölkerung zugänglich wird. Die großen Kreditkartenorganisationen geben bereits ab einem Jahreseinkommen von 15 000 DM regelmäßig Kreditkarten heraus.Ich komme jetzt zum Aspekt des Girokontos. Von der Einrichtung eines Mindestgirokontos, quasi einer Verpflichtung der Banken, ein Mindestkonto für jeden Verbraucher einzurichten, halte ich überhaupt nichts, weil ich meine, wir müssen in unserer Bankenlandschaft zwischen völlig unterschiedlichen Typen von Banken unterscheiden: Wir haben die bekannten Großbanken — der Name der Deutschen Bank ist genannt worden —, die allen Verbraucherkreisen heute bereits faktisch offenstehen. Wir haben eine Vielzahl von privaten Banken, die Industriefinanzierungen machen und überhaupt kein Interesse daran haben, für breite Verbraucherschichten zur Verfügung zu stehen.
Ich meine, wir können diesen Banken doch nicht vorschreiben, daß für jeden Verbraucher ein Mindestkonto einzurichten ist.Wo, frage ich Sie jetzt, wollen Sie zwischen diesen verschiedenen Typen die Trennungslinie ziehen?
Wenn überhaupt, dann könnte man darüber nachdenken, ob man eine solche Verpflichtung zu einem Mindestkonto bei den staatlich privilegierten Bankeninstitutionen vorsieht, nämlich bei der Post und den Sparkassen. Bei der Post kann bereits heute faktisch jeder ein Konto bekommen. Er hat also keine Probleme und kann alles das machen, wofür er ein Konto benötigt. Bei den Sparkassen gibt es, soweit ich weiß, landesrechtliche Regelungen, auf die wir als Bundesgesetzgeber ohnehin keinen entsprechenden Einfluß haben.Von Überlegungen in Richtung Kündigungsschutz, Abmahngebot, Aufrechnungsverbot bei Krediten halte ich deshalb nicht viel, weil ich der festen Überzeugung bin, daß dieser Schuß ganz furchtbar nach hinten losgeht. Dadurch wird das Risiko der Banken bei der Gewährung von Krediten erheblich erhöht. Dies wirkt sich zwangsläufig auf die Zinsbelastung der Verbraucher aus. Im Klartext heißt das: Wenn man so etwas macht, muß man damit rechnen, daß die Zinsen für Verbraucherkredite bei den Banken wesentlich erhöht würden mit all den Nachteilen, die für den Verbraucher daraus resultieren.Auch die Zinsbegrenzung auf das 1,5fache, also quasi eine Grenze für den Wucherzinssatz, halte ich für bedenklich; denn eine Bank muß natürlich in der Lage sein, unterschiedliche Risiken je nach der Kreditwürdigkeit des einzelnen Kreditinteressenten zu berücksichtigen. Sie muß einfach einen bestimmtenZinsrahmen haben. Dafür wird das 1,5fache nach alldem, was die Bankenfachleute sagen und was man sich auch einfach ausrechnen kann, mit großer Sicherheit nicht reichen. Wucherzinsen sind nach dem heutigen Recht im übrigen ohnehin verboten.
Die Begrenzung der Überziehungszinsen auf den durchschnittlichen Verzugsschaden halte ich nicht für praktikabel; denn das werden Sie nicht gerechnet bekommen. Auch das hängt von dem Ergebnis der Nutzung und der ungenehmigten Überziehung über den Gesamtzeitraum hinweg ab.Gegen sozial diskriminierende Gebühren bin natürlich auch ich; das ist gar keine Frage. Aber ich weise darauf hin, daß die §§ 138 und 242 BGB und auch das AGB-Gesetz bereits heute sozial diskriminierende Gebührenregelungen der Banken ausschließen. Ich kann hier also keinen unmittelbaren Handlungsbedarf erkennen.Was die Einrichtung eines Verbraucherschutzgremiums, das paritätisch besetzt ist, angeht, kann ich mich nur dem anschließen, was Herr Kleinert gesagt hat. Das ist der übliche sozialdemokratische Gremienunsinn nach dem Motto: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründe ich einen Arbeitskreis.
Von der Verbandsklage, über die wir hier mehrfach ordnungspolitisch diskutiert haben, halten wir natürlich auch nichts. Jeder einzelne Verbraucher kann seine Interessen bei uns selber wahrnehmen, und Verbraucherschutzverbände können ihm dabei zur Seite stehen. Ein unmittelbares prozessuales Beteiligungsrecht würde nur zu einer völlig ausufernden Belastung unserer Gerichte führen und nichts bringen.
Positiv beurteilen wir die Überlegungen in dem Antrag der SPD, daß die Banken immer aktuelle Fassungen der AGB vorlegen und aktuelle Gebührentabellen zur Verfügung halten müssen. Positiv beurteilen wir auch Überlegungen, wonach dies bei einer Änderung des Dispositionsrahmens vorher in einem bestimmten zeitlichen Rahmen angekündigt werden muß.Für überlegenswert halten wir Pfändungsschutzregelungen auch im Bereich der Arbeitseinkommen, die auf Konten überwiesen werden. Überlegenswert ist natürlich auch ein Verbot einer Haftungsabwälzung bei technischen Risiken, die ausschließlich im Bereich der Banken liegen. Wie gesagt, diese Anträge enthalten Aspekte, die durchaus überlegenswert sind,
wenn auch der größte Teil davon aus unserer Sicht nur wenig brauchbar ist.Wir schlagen deshalb vor, daß wir über die hier aufgeworfenen Fragen gemeinsam im Rechtsausschuß und in den anderen zuständigen Ausschüssen
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Klaus-Heiner Lehnenoch einmal sprechen. Wir werden dann sehen, was dabei herauskommt.Vielen herzlichen Dank.
Nun spricht der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Blunck, Ihr Antrag ist natürlich insoweit begründet, als ein Girokonto heute in der Tat mit zu dem normalen Lebenszuschnitt gehört, wie vieles andere im Dienstleistungsbereich auch. Ob Ihr Antrag allerdings auch ein solch umfängliches Gesetz, wie Sie es offensichtlich vorsehen, hinreichend zu begründen vermag, wage ich zu bezweifeln. Immerhin sehen Sie ja einen ganz entschiedenen Eingriff in die Vertragsfreiheit vor, Frau Blunck.
Die Vertragsfreiheit ist aber eine ganz entscheidende Säule unseres Bürgerlichen Gesetzbuches.
Insofern war Ihr Vergleich mit dem Bürger, der sich dem Staat gegenübersieht, völlig falsch. Hier geht es ja um Privatrecht. Das dürfen Sie nicht mit dem öffentlichen Recht verwechseln. Insoweit geht Ihr Vergleich also fehl. Wir wollen die Vertragsfreiheit erhalten.
Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß eine Reihe von Regelungen ja schon längst bestehen. Die Kollegen Kleinert und Lehne haben zu Recht auf die AGB-Bestimmungen hingewiesen. Man könnte im übrigen auch auf das Kreditwesengesetz hinweisen. Aber, nebenbei gesagt, jeder Bürger hat bereits das Recht, ein Girokonto zu führen; denn in § 8 des Gesetzes über das Postwesen ist ausdrücklich geregelt, Herr Kollege Lehne, daß jedermann Anspruch auf Eröffnung eines Postgirokontos hat. Es bedarf der Regelungen, die Sie hier vorsehen, also gar nicht.
Sie machen eine ganze Reihe von Vorschlägen hinsichtlich des Datenschutzes. Auch diesbezüglich meine ich, daß es in unserem Datenschutzgesetz hinsichtlich des Datenschutzes ausreichende Bestimmungen gibt, genauso wie auch in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen hinreichende Regelungen gesehen werden können. Das gilt genauso für das Verbraucherkreditgesetz. Dabei handelt es sich im übrigen um ein Gesetz, an dem Sie, Frau Kollegin, ja auch mitgewirkt haben; daran kann ich mich sehr gut erinnern.
Auch Maßnahmen zur Erhöhung der Gebührentransparenz sind meines Erachtens nicht notwendig. Gehen Sie doch einmal in eine Bank und gucken Sie sich einmal die Tafeln an!
— Frau Kollegin, Sie wissen ja, daß ich aus dem
Bankbereich komme und diese Tafeln sehr genau
kenne. Von daher weiß ich natürlich auch, wie diese Tafeln zu gestalten sind.
Hinsichtlich der normalen Kosten, die auf den Verbraucher zukommen, besteht hinreichend Transparenz. Der Kollege Kleinert hat ja zu Recht darauf hingewiesen: All das aufzuschreiben, was im Zusammenhang mit der Kontenführung einmal passieren könnte, alle möglichen Strafzinsen aufzulisten und das in die möglicherweise entstehenden Belastungen mit aufzunehmen, halte ich bei weitem für übertrieben. Wir sollten uns an dem Kunden orientieren, der sein Privatgirokonto ordentlich führt oder einen Kredit in Anspruch nimmt.
Ich glaube auch nicht, daß wir hinsichtlich der Kreditkarten einen zusätzlichen Bedarf haben.
— Die Banken sind natürlich Konkurrenten dieser Institute. Sie reden Ihnen natürlich nach dem Munde; das ist doch ganz klar. — Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, Frau Blunck, dann würden wir — das ist für mich der entscheidende Faktor — wiederum ganz erheblich in die Vertragsfreiheit eingreifen. Ich weiß, daß Sie als Sozialdemokratin es mit der Vertragsfreiheit nicht ganz so ernst nehmen wie Liberale und Christdemokraten,
aber die Vertragsfreiheit ist für uns so wichtig, daß wir hier zur Zeit keinen Handlungsbedarf sehen.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
Damit sind wir am Ende der Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1110 und 12/1223 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun Punkt 17 der Tagesordnung auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel Hanewinckel, Margot von Renesse, Lisa Seuster, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDBundeseinheitliche Altenpflegeausbildung — Drucksache 12/1982 —Überweisungsvorschlag :Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitAusschuß für Bildung und Wissenschaftb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur sozialstaatlichen Gewährleistung von Betreuung, Begleitung, Assistenz,
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Vizepräsidentin Renate SchmidtHilfe und/oder Pflege
— Drucksache 12/1628 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie und Senioren RechtsausschußAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für GesundheitHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOc) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Petra Bläss und der Gruppe der PDS/Linke ListeZur Situation behinderter und älterer pflegebedürftiger Menschen in der Bundesrepublik Deutschland— Drucksachen 12/2375, 12/3253 —Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste eine Redezeit von zehn Minuten erhalten soll. Besteht damit Einverständnis? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat die Kollegin Lisa Seuster das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Rönsch ist der Meinung, sie habe in der Sozialpolitik, insbesondere in der Seniorenpolitik, „schon ganz Erhebliches geleistet"; wir, die SPD, hätten dem nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. So ihre Äußerung anläßlich der Einbringung des Haushalts vor wenigen Wochen.Ich vertrete vielmehr die Auffassung, daß es sich bei diesen Leistungen lediglich um viele schöne Worte und Versprechungen handelt, deren Umsetzung aber fehlt,
z. B. in bezug auf eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung.Deshalb haben wir mit unserem Antrag vom Januar 1992 die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur Altenpflegeausbildung vorzulegen. Wir haben gehofft, durch diesen Antrag den Ehrgeiz der Ministerin zu wecken. Wir haben erwartet, daß sie alles daransetzen würde, bis zur Behandlung unseres Antrags im Plenum einen eigenen Gesetzestext vorlegen zu können.Obwohl es sich bei der heutigen Beratung um eine verbundene Debatte handelt, habe ich einen Gesetzentwurf der Regierung bzw. der Koalitionsfraktionen zu diesem Thema auf der Tagesordung vergeblich gesucht.
Dies darf ich wohl zu Recht als ein eindeutiges Zeichen sehen: Entgegen der Dringlichkeit dieses Problems ist es der Ministerin innerhalb der Koalition auch nach Monaten nicht gelungen, endlich einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorzulegen.Dabei ist die Regelung der Altenpflegeausbildung nach mehrfachen eigenen Aussagen der Ministerin im Ausschuß für Familie und Senioren ein bedeutender Arbeitsschwerpunkt ihres Ministeriums. Auf unsere Nachfrage hin hieß es immer, der Gesetzentwurf habe Kabinettsreife erreicht — was immer das auch sein mag — und werde im Kabinett auch bald beraten. Daß dies bisher nicht der Fall ist, zeigt: Frau Rönsch hat sich in der Regierung nicht durchsetzen können. Sie ist mit diesem Vorhaben gescheitert.Ein Trost bleibt ihr: Sie befindet sich damit in der Gesellschaft ihrer Vorgängerin, Frau Lehr, die ebenfalls vergeblich die Regelung der bundeseinheitlichen Ausbildung angekündigt hatte.Frau Lehr war jedoch einen Schritt weiter, da sie zumindest einen Entwurf vorlegen konnte, allerdings erst kurz vor Ende der Legislaturperiode, zu einem Zeitpunkt also, als sichergestellt war, daß dieser Entwurf niemals mehr Gesetz werden konnte.
Zum Gesetzentwurf von Frau Lehr hat 1990 eine große Anhörung stattgefunden, zu der die Verbände eingehende schriftliche Stellungnahmen abgegeben haben. Damals wurde den Beteiligten versichert, daß die Anhörung und die schriftlichen Stellungnahmen in der neuen Legislaturperiode als Arbeitsgrundlage für die weiteren Beratungen zum Altenpflegegesetz dienen würden, um dann möglichst schnell ein Gesetz verabschieden zu können. Die Hälfte dieser Legislaturperiode ist nun verstrichen, aber nichts dergleichen ist geschehen.Bei ihrem ersten Besuch in unserem Ausschuß hat Frau Rönsch ausdrücklich hervorgehoben, daß diese Regierung dem Bereich Familie und Senioren „hohe Priorität" beimesse. Dieses neue Minsterium sei demzufolge „die politische Antwort" auf „die Herausforderung unserer Tage, die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft".
Daß dieses neue Ministerium trotz der angeblich immensen Bedeutung nur innerhalb weniger Bereiche über die Federführung bei Gesetzesvorhaben verfügt, ist uns allen bekannt. Es ist jedoch schlichtweg traurig, wenn diese wenigen Zuständigkeiten dann nicht einmal ernsthaft durchgesetzt werden.
Zu Recht fragen wir, die SPD-Fraktion: Was soll dieses Ministerium?Eine bundeseinheitliche Ausbildungsregelung, meine Damen und Herren, wie sie in anderen Gesundheitsberufen, z. B. bei den Ärzten und dem Krankenpflegepersonal, längst selbstverständlich ist, ist bei den Altenpflegeberufen ebenso notwendig.
Ein weiteres Hinauszögern einer Regelung ist in Anbetracht der demographischen Entwicklung und des bereits herrschenden Personalnotstandes unverantwortlich.
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Lisa SeusterWir haben heute fast mehr als 2 Millionen pflegebedürftige Menschen. Daß der größte Teil dieser Menschen trotz ihrer Pflegebedürftigkeit in gewohnter Umgebung leben möchte, ist nur allzu verständlich. Um ambulant die notwendige Hilfe gewährleisten zu können, brauchen wir hier bestens qualifiziertes Pflegepersonal ebenso wie in den stationären Einrichtungen.
Unter den gegebenen Umständen ist es jedoch weder möglich, ausreichendes Personal zu gewinnen, geschweige denn, es auf Dauer zu halten. Dazu trägt nicht zuletzt die Tatsache bei, daß gegenwärtig die Regelungen über die Altenpflegeausbildung von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich festgelegt sind. Das gilt für die Zugangsvoraussetzungen genausogut wie für die Ausbildungsdauer, die Art der Ausbildungsstätten, die Ausbildungs- und Prüfungsordnung, ja, sogar für den Aspekt der Ausbildungsfinanzierung. Das hießt, einerseits wird eine Ausbildungsvergütung gezahlt, andererseits gar nichts oder lediglich ein Praktikumsgeld. Daß es dabei bundesweit zu starken Ungleichbehandlungen kommt, ist offensichtlich.Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es bis zum Ende dieses Jahres eine befristete Regelung zur Finanzierung der Ausbildungsvergütung. In Nordrhein-Westfalen hat man sich darauf verlassen, daß spätestens 1993 ein Bundesgesetz in Kraft treten würde. Da dies nun nicht der Fall sein wird, wird Nordrhein-Westfalen gezwungenermaßen dazu verdonnert, die Ausbildungsregelung für das Jahr 1993 zu verlängern; dann wird es zu einer gesetzlichen Regelung der Ausbildungsvergütung auf Landesebene kommen.Ich muß Sie, meine Damen und Herren, ja nicht ausdrücklich darauf hinweisen, wie sehr das Zustandekommen einer bundeseinheitlichen Regelung erschwert wird, wenn sich in den Ländern eigene Ausbildungsstrukturen verfestigt haben. Je mehr Zeit vertan wird, desto unwahrscheinlicher wird eine gemeinsame Lösung.Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben vor diesem Hintergrund die Bundesregierung aufgefordert, unverzüglich die verfassungsrechtlichen Meinungsverschiedenheiten mit den Ländern über die Gesetzgebungskompetenzen beizulegen. Sie muß endlich einen Gesetzentwurf zur Altenpflegeausbildung vorlegen, der eine ganzheitliche qualifizierte Berufsausbildung sicherstellt.Die sich hieraus ergebenden Auswirkungen auf Vergütung, Aufstiegschancen und Qualifikation der Ausbilder sind nach unserer Meinung im Sinne einer Anerkennung und Aufwertung des Berufs notwendig und wünschenswert.
Nur so kann qualifiziertes Pflegepersonal gewonnenund gehalten werden; nur so kann eine weitereAusbreitung des Pflegenotstands vermieden werden.
Als nächster hat nun die Kollegin Erika Reinhardt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf die zwei vor uns liegenden Anträge, nämlich den zur bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung der SPD und das Pflegeassistenzgesetz der PDS, eingehe, lassen Sie mich ein paar grundsätzliche Anmerkungen machen.Älterwerden ist heute in vieler Hinsicht etwas anderes, als es noch zu Zeiten unserer Eltern oder unserer Großeltern gewesen ist. Wer heute in den Ruhestand tritt, hat noch ein Viertel seines Lebens vor sich — eine Zeit, die die Menschen früher überhaupt nicht in ihre Lebensplanung einbezogen haben. Während um die Jahrhundertwende nur 5 % der Bevölkerung über 60 Jahre waren, sind es heute 21 %, und um die Jahrtausendwende werden es — mit steigender Tendenz — 26 % sein.Das heißt, die Politik muß rechtzeitig die Rahmenbedingungen für umfassende Hilfsangebote schaffen. Pflege braucht ein sicheres Fundament. Dies muß eine Versorgungsstruktur im ambulanten, stationären, und teilstationären Pflegebereich zum Inhalt haben
— das gehört dazu —, eine finanzielle Absicherung der Pflege sowie die Anerkennung von Pflegejahren in der Rente bei häuslicher Pflege und eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung.Alt sein, meine Damen und Herren, wird oft gleichgesetzt mit hilflos, krank, arm und pflegebedürftig. Dieses Bild ist nicht nur falsch, sondern irreführend.
Denn die große Mehrheit unserer älteren Mitbürger ist rüstig, selbstbewußt und mobil. Die meisten der 60-bis 70jährigen, nämlich 98 %, erledigten ihre alltäglichen Arbeiten alleine. Von den über 90jährigen sind es immerhin noch 59 %. Experten haben errechnet — auch das ist interessant —, daß Deutschlands über 60jährige in den nächsten zehn Jahren zu ihren Renten und Pensionen etwa 300 Milliarden DM zusätzliches Einkommen haben werden.Das heißt, Alter bedeutet nicht unbedingt, krank, hilflos und arm zu sein, sondern durchaus Bewahrung von Selbständigkeit und Aktivität.All dies darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß es auch alte, pflegebedürftige Menschen gibt, die in Heimen wohnen oder ambulant betreut werden und auf unsere Hilfe angewiesen sind. Die CDU/CSU hat Maßnahmen und Verbesserungen eingeleitet und zum Teil bereits umgesetzt; man denke an die Leistungen bei der Schwerstpflegebedürftigkeit, daran, daß die zu Hause Pflegenden eine Entlastung erfahren, oder an die Anerkennung von Pflegejahren in den Renten.
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Erika ReinhardtVon den rund 1,65 Millionen Pflegebedürftigen werden ca. 1,2 Millionen zu Hause versorgt. Die Zahl derjenigen, die zu Hause von Familienangehörigen und Freunden gepflegt werden, liegt also sehr viel höher als die Zahl der in Heimen Lebenden. Die häusliche Pflege bedeutet für die Pflegepersonen vielfach Verzicht auf Privatleben und auf eigene Aktivitäten.
Das zeigt uns aber auch — und darüber bin ich sehr froh und dankbar —, daß es in unserer Gesellschaft noch Nächstenliebe, Fürsorge und Verantwortung gibt.Pflege darf nicht nur Versorgung bedeuten, sondern muß auch Fürsorge beinhalten, und für diese Fürsorge danken wir allen im Pflegebereich Tätigen.
Was den Antrag zur bundeseinheitlichen Pflegeausbildung betrifft, besteht ein dringender Handlungsbedarf; denn die demographische Entwicklung zeigt, daß wir langfristig mit mehr Pflegefällen rechnen müssen. Eine bundeseinheitliche Pflegeausbildung ist auch aus diesem Grunde dringend erforderlich.Liebe Kollegin Seuster, wenn Sie so sehr klagen, daß diese Regierung noch nichts auf dem Tisch hat, so sage ich: Jedes Land hätte wirklich die Möglichkeit gehabt, dem Vorbild des Landes Baden-Württemberg, das eine dreijährige Ausbildung, eine Qualifzierung, eine Fortbildung, eine diesbezügliche Vergütung hat, zu folgen. Aber ich kann mich nicht erinnern, daß es ein SPD-regiertes Land gibt, das dies getan hätte.
— Aber keine drei Jahre!
Der Pflegeberuf muß attraktiver werden. Das ist gar keine Frage. Ein solcher Beruf ist keine Beschäftigung auf Zeit, sondern eine verantwortungsvolle und schwere Tätigkeit, die hohe psychische und physische Belastbarkeit erfordert.Wir halten eine dreijährige Ausbildung, die auch praxisbezogen sein muß sowie eine Fortbildung und Weiterbildung ermöglicht, für unabdingbar. Wir brauchen qualifiziertes Personal. Da gebe ich Ihnen völlig recht.Sie sehen, wir sind uns in vielen Punkten einig. Einen Punkt in Ihrem Antrag betrachte ich allerdings als problematisch: Sie wollen keine verkürzte Ausbildung zu Altenpflegehilfsberufen. Dies kann — und darüber muß man sich auch im klaren sein — unter Umständen einer Reihe von praktisch begabten und geeigneten Menschen den Zugang zur Altenpflege verwehren. Deshalb müssen wir darüber noch reden.Wir begrüßen es, daß sich die Bundesregierung seit längerem bemüht, einen Entwurf zu einer einheitlichen Pflegeausbildung einzubringen. Ich hoffe, daß im Rahmen der Beratung der notwendige Konsensgefunden und damit ein bundeseinheitliches Gesetz verabschiedet werden kann.
Meine Damen und Herren! Wir alle werden älter, und wir wissen nicht, ob wir nicht pflegebedürftig werden. Wir haben aber die Chance, zweierlei zu erreichen: Zum einen müssen wir das Altern als natürlichen Prozeß ansehen, ältere Menschen teilhaben lassen an unserem Leben und Selbständigkeit im Alter fördern. Zum anderen müssen wir denen, die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, alle erdenkliche Hilfe zukommen lassen. Dies ist unsere Aufgabe und unser Ziel. Wir wollen aber keine sozialistische Gleichmacherei, sondern Hilfe und Betreuung gezielt dort, wo sie gebraucht werden.
— Ja, meine Damen und Herren, das richtet sich jetzt auf den Antrag der PDS; denn Sie, meine Damen und Herren von der PDS, haben die alten und pflegebedürftigen Menschen ausgesondert, indem Sie sie von der Familie getrennt haben.
In Ihrem Antrag sprechen Sie von Inhumanität bei der Unterbringung. Damit meinen Sie wohl — so muß ich das verstehen — die Zustände der damaligen DDR, eines Regimes, dem Sie zum Teil angehört haben.
Sie haben recht, da haben alte Menschen keine Rolle gespielt, man hat sie abgeschoben, so wie Sie es in Ihrem Antrag bezeichnen, in unwürdige Heime, wenn sie pflegebedürftig waren. Ich habe solche Heime besucht, und ich kann Ihnen nur sagen, ich war erschüttert, erschüttert von dem, was ich dort gesehen und erlebt habe!
— O ja, in sehr vielen, und ich nehme Sie gern einmal mit! Solche Zustände haben wir Gott sei Dank nicht, und zwar deshalb nicht, weil wir hier eine engagierte Sozialpolitik betrieben haben.
Sie wollen einen Sozialstaat und meinen damit einen sozialistischen! Wir wollen keine RundumVersicherung, keine Bestimmung des Staates, sondern die Erhaltung der Selbständigkeit und Selbstbestimmung auch für pflegebedürftige Personen. Unser Ziel ist klar: Die menschenwürdige Pflege im Alter ist Teil einer Politik für die Menschen.Meine Damen und Herren! Wir lassen die alten Menschen nicht allein!Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren! Ich erteile nunmehr unserem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Liebe junge Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Besuchertribüne, da Sie die meisten sind, freue ich mich, daß Sie sich diesem wichtigen Thema zuwenden.
— Wir sind leider nicht so viele wie Sie!„Freitag nach eins macht jeder Sein's", sagt der Volksmund. Heute debattieren wir um diese Zeit über nichts Geringeres als darüber, ob der Sozialstaat ausgebaut oder eine Pflegeversicherung eingeführt werden soll. Es geht darum, ob die Bedürfnisse der Menschen, die auf Pflege, Betreuung, Begleitung oder anders helfende Assistenz angewiesen sind, zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen gemacht werden oder nicht.Ich sage hier im Namen der PDS klipp und klar: Für uns stehen die betroffenen Menschen in jedem Fall vor den sogenannten Sachzwängen der Finanzwirtschaft. In diesem Ausgangspunkt weiß ich mich — inhaltlich jedenfalls — einig nicht nur mit etlichen Mitgliedern dieses Hohen Hauses, sondern ich weiß mich vor allem eins mit denjenigen Betroffenen und ihren Organisationen, die die Würde und das Selbstbestimmungsrecht für jeden Menschen auch dann für unantastbar halten, wenn sie oder er nicht, noch nicht oder nicht mehr in der Lage ist, alle Anforderungen des Tagesablaufs ohne fremde Unterstützung zu bewältigen.Wer so herangeht, erkennt an, daß das Angewiesensein auf pflegende Assistenz, auf assistierende Pflege kein individuelles Risiko ist, gegen das man sich irgendwie versichern könnte oder müßte, sondern daß es selbstverständlicher Bestandteil menschlichen Lebens ist. Dort, wo die oder der einzelne in überdurchschnittlichem Maße, unter Umständen also lebenslang, auf assistierende Pflege angewiesen ist, läßt sich das nicht bequem als individueller Schicksalsschlag abtun, sondern hier offenbart sich eine gesellschaftliche Aufgabe, nämlich die Gewährleistung gleicher Lebensbedingungen, wenn Sie so wollen, die Schaffung von Chancengleichheit. Das ist, wenn man die Menschenrechte als unteilbar ernst nimmt, eine der vornehmsten Pflichten der Gesellschaft. Als wichtigstes Instrument zur Einlösung dieser Pflicht steht der Gesellschaft der Staat zur Verfügung. Damit bin ich wieder bei dem Punkt: Sozialstaat oder Versicherungsgesellschaft?Wir wollen eine überschaubare Regelung. Deshalb haben wir den Gordischen Knoten der verschiedenen Pflegestufen durchgehauen und schlagen vor, schlicht und einfach die Anzahl von Stunden zu bezahlen, für die jemand assistierende Pflege oder Begleitung braucht, um menschenwürdig und weitgehend selbstbestimmt zu leben.Damit lösen wir auch die Frage der ganzheitlichen Betrachtung jedes Menschen auf sehr natürliche Weise, und wir schlagen vor, den Betroffenen die direkte Verfügungsgewalt über die Mittel zu geben, die zur Organisierung dieser selbstbestimmten Menschenwürde erforderlich sind.Niemand darf von Sozialhilfe abhängig werden oder bleiben, nur weil sie oder er auf assistierende Pflege angewiesen ist, und niemand darf von Sozialhilfe abhängig werden, nur weil sie — in den meisten Fällen betrifft das ja Frauen — assistierend pflegt. Deshalb gehört zu den erforderlichen Mitteln selbstverständlich auch der Arbeitgeberanteil für die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung.Unser Pflege-Assistenz-Gesetz macht, wenn es in Kraft tritt, mit dem allseits postulierten Anspruch ernst, häusliche, ambulante und stationäre Pflege mindestens als gleichberechtigt zu behandeln. Häufig wird sogar der häuslichen und ambulanten Pflege verbal der Vorrang eingeräumt. Wenn es ans Bezahlen geht, sollen aber immer nur die Heimkosten in vollem Umfange getragen werden. Nach unserem Modell fallen derartige Ungerechtigkeiten weg, denn eine Stunde im Heim ist nicht länger als eine Stunde zu Hause.Wenn wir, meine Damen und Herren, eine sozialstaatliche Lösung der gesellschaftlichen Aufgabe assistierende Pflege als Hilfe zur Selbsthilfe vorschlagen, fordern wir nichts, was nicht innerhalb dieser marktwirtschaftlichen oder — bitte schön — kapitalistischen Gesellschaft nötig wäre. Ja, im Grunde genommen fordern wir nichts, was es nicht schon gäbe, allerdings bisher nur für ausgewählte Gruppen: für Beamte, für Kriegsopfer, für Unfallopfer.Wir wollen im Grunde genommen nur, daß die Leistungen, die diesen Menschen seit den 50er Jahren — und auch damals war die CDU/CSU an der Regierung — von Staats wegen gewährt werden, allen zur Verfügung stehen, die .sie brauchen. Wir sehen die Menschen so, wie sie im Augenblick sind, nicht so, wie sie einmal waren, und wir fragen nicht danach, welches Ereignis sie in eine nachteilige Position brachte. Wir schlagen eine erhebliche Vereinfachung des Verfahrens vor, wenn die Pflegestufen wegfallen.Nicht zuletzt will ich auf die wirtschaftliche Seite unseres Vorschlages eingehen. Unser Pflege-Assistenz-Gesetz macht, nach seiner Einführung, Schluß mit massenhaft unbezahlter Arbeit. Niemand wird behaupten, daß assistierende Pflege keine gesellschaftlich notwendige Arbeit ist. Warum also wird sie nicht leistungsgerecht entlohnt? Der Dank an die Frauen, die ihre Familienmitglieder zu Hause aufopferungsvoll pflegen, in allen Ehren, liebe Frau Kollegin. Aber warum entlohnen Sie diese Frauen nicht ordentlich?Unser Pflege-Assistenz-Gesetz ist auch ein großes Arbeitsbeschaffungsprogramm. Hunderttausende erwerben eigenes Einkommen, zahlen Steuern und Versicherungen, gewinnen an Selbstwertgefühl und an Kaufkraft. Damit bin ich wieder beim Ausgangspunkt. Assistierende Pflege im Sinne unseres Gesetzes wäre eine Weiterentwicklung des Sozialstaates.Wir fordern in diesem Zusammenhang eine Neuordnung der Zuständigkeit der Bundesregierung. Im Anschluß daran werden wir hier dann darum streiten, welcher der federführende Ausschuß sein soll; dann werden wir wieder zur Tagesordnung übergehen.
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Dr. Ilja SeifertMan kann es fast schon als Ausrede werten, wenn die Bundesregierung in der umfangreichen Antwort auf unsere Große Anfrage — für die ich übrigens danke, in weiten Teilen ist sie ja durchaus informativ — ständig auf ihre Nichtzuständigkeit verweist. Diese Zuständigkeiten wurden in einer Zeit fixiert, in der das Problem der Pflege so noch nicht im öffentlichen Bewußtsein war. Viele Regelungen zum Behindertenrecht sowie des Lebens im Alter sind später entstanden und nach der damals gegebenen Zuständigkeit eingeordnet worden.Die Zeit ist reif, daß die Interessen der älteren Bürgerinnen und Bürger und der Menschen mit Behinderungen eindeutig in der Verfassung verankert und so der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag neue Zuständigkeiten zugeordnet werden.Der Gesetzentwurf der PDS/Linke Liste will keine Detaillösung im Sinne einer Kostenreduzierung der Sozialhilfe oder auch der Krankenkassen. Wir streben eine Lösung an, die den Menschen nicht einfach als biologisches Wesen betrachtet, sondern wir unternehmen den Versuch — und wir laden Sie ein, daran mitzutun —, allen Betroffenen, also auch den sogenannten Schwer- und Schwerstpflegebedürftigen, auch den Menschen mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten, ein Leben in Menschenwürde, ein Leben in Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte zu ermöglichen.Es ist eine Lösung, in der die Familienpflege als gesellschaftlich anerkannte, nützliche und entsprechend bezahlte Erwerbsarbeit betrachtet wird. Wenn Frau Süssmuth fordert, daß die Hausfrauenarbeit als bezahlte Arbeit akzeptiert werden muß, sind wir offenbar nicht furchtbar weit voneinander entfernt.Die PDS/Linke Liste setzt sich vehement für ein steuerfinanziertes Pflege-Assistenz-Gesetz ein, weil das der Weg einer wirklich umfassenden solidarischen — nicht sozialistischen — Lösung ist. Alle Bürgerinnen und Bürger, alle Einkommen und Vermögen sind damit angemessen an der Finanzierung beteiligt. Als einen Skandal betrachten wir die Äußerung der Regierung, die Wirtschaft von den Belastungen in Form zusätzlicher Kosten für die Pflege Behinderter und älterer Bürgerinnen und Bürger zu entlasten. Für mich erhebt sich die Frage, wie denn die Menschen entlastet werden können. Was ist solidarisch daran, daß die Regierung darüber nachdenkt, für eine Seite der Tarifpartner Entlastungen einzuführen?Es ist Freitag und lange nach eins, und trotzdem macht nicht jeder nur Seins: Assistierende Pflege ist unser aller Aufgabe. Wir brauchen einen Sozialstaat, wir brauchen auch ein soziales Europa, und wir brauchen eine Welt, in der die sozialen und die Menschenrechte Ausgangs- und Zielpunkt jeglichen politischen Handelns werden. Ein steuerfinanziertes Pflege-Assistenz-Gesetz wäre ein Schritt auf diesem Wege.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Es wäre gut, wenn Sie auch mal klatschen würden. Ich weiß, Sie dürfen es nicht tun.
Wir lassen das mal als Gespräch außerhalb der Tagesordnung.
Nunmehr erteile ich unserer Frau Kollegin Dr. Eva Pohl das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist mir ein besonderes Anliegen, heute in dieser verbundenen Debatte über ein Thema zu reden, das uns alle angeht. Wer weiß, ob nicht wir selbst eines Tages eine Behinderung erleiden oder im Alter in Siechtum und Krankheit verfallen und daher dringend auf Fürsorge und Pflege von seiten Dritter angewiesen sein werden. Heute uns darüber Gedanken zu machen, dazu verpflichtet der Generationenvertrag. Ältere und behinderte Menschen appellieren da an unser besonderes, auch gesetzgeberisches, Verantwortungsgefühl.Es gilt sowohl auf seiten der betroffenen alten Menschen als auch auf seiten des Pflegepersonals, in Anbetracht des ständig zunehmenden Bedarfs an Pflegeleistungen die Voraussetzungen zu schaffen, die sozialstaatlich akzeptable und menschenwürdige Lösungen zur Sicherung der stationären und ambulanten Pflege gewährleisten.In diesem Zusammenhang begrüße ich den Antrag der SPD-Fraktion, die Bundesregierung aufzufordern, einen Gesetzentwurf zur bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung zu erstellen.Ein leises Befremden ist mit dieser Oppositionsinitiative auch verbunden, und ich muß die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion fragen, wie ernst es ihnen mit diesem Antrag ist. Bereits einmal ist die SPD in der vergangenen Legislaturperiode im Bundestag und in der Öffentlichkeit für eine bundesgesetzliche Regelung eingetreten. Widersprüchliches Verhalten war es aber, daß diese Regelung dann von fünf SPD-regierten Ländern im Bundesrat mehrheitlich abgelehnt wurde, weil dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für die Altenpflegeausbildung fehle.Der heutige Antrag der SPD zeigt, daß sie diese Meinung nicht mehr teilt. Auch das ist gut so. Auch die F.D.P. ist der Ansicht, daß der Föderalismus mit einem bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildungsgesetz nicht tangiert wird. Die Länder bleiben ja für die Organisation und Finanzierung des theoretischen Teils der Ausbildung zuständig.Der Bund hingegen hat — wie im Fall des Krankenpflegegesetzes — hier die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 Nr. 19 Grundgesetz, denn er kann gewisse berufsspezifische Mindestvoraussetzungen in der Fachschulausbildung, einschließlich der praktischen Ausbildung der Heilberufe, festlegen, so wie wir es mit dem Altenpflegeausbildungsgesetz anstreben. Die bisher fehlende bundeseinheitliche Ausbildungsregelung wirkt sich als Hemmnis für den Zugang zum Altenpflegeberuf aus. Das darf nicht sein. Wir müssen ein Gesetz erarbeiten, das Ausbildungsvoraussetzung, Ausbildungsverhältnis und Ausbildungsinhalte regelt sowie einen
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Dr. Eva PohlAnspruch auf eine angemessene Ausbildungsvergütung vorsieht.Altenpflege besteht nicht aus einfachen Handgriffen. Qualifikation und gute Vorbereitung auf diesen Beruf sind erforderlich und machen ihn für junge Menschen attraktiv. Das sind wir auch unseren älteren Mitbürgern schuldig.Der Entwurf der Bundesregierung aus der elften Legislaturperiode bringt da gute Ansätze, den zum Teil dramatischen Mangel an qualifizierten Pflegekräften zu beseitigen. Unser Ziel ist es, die Bedingungen der Ausbildung in der Altenpflege denjenigen in der Krankenpflege anzugleichen und dadurch das Ansehen dieses Berufes zu heben.Die Ausbildung zum Altenpfleger soll drei Jahre dauern, und sie soll keine finanziellen Opfer derjenigen erfordern, die diesen schweren und wichtigen Beruf ergreifen. Da mit dem Alter vielfach Senilität und immer häufiger auch geistige Behinderung einhergehen, muß die Ausbildung auch Kenntnisse und Erfahrungen im geriatrischen und gerontopsychiatrischen Bereich umfassen.Der SPD-Antrag ist ein richtiger Schritt, um die bestehende personelle Not im Altenpflegebereich zu lindern, wenn nicht gar zu beseitigen. Ich fordere Sie daher auf, diesen Antrag zu unterstützen. Meine vorangegangenen Ausführungen haben deutlich gemacht, daß sich jeder Politiker in die Pflicht genommen sehen muß, durch gesetzgeberische Maßnahmen in sozialstaatlicher Verantwortung Vorsorge dafür zu treffen, daß die Lebensqualität auch im Alter gewährleistet bleibt. Eine Gesellschaft mit humanitärem Gesicht kann auf die Erfahrung des Alters für die Gestaltung der Zukunft einer Gesellschaft nicht verzichten. Die Zusammenarbeit von Jung und Alt, eine Solidarität der Generationen, ist auch im Pflegebereich unabdingbar.In diesem Zusammenhang eine kurze Bemerkung zum Entwurf der PDS für ein Pflege-Assistenz-Gesetz. Es verwundert mich doch ein wenig, daß die Gruppe PDS/Linke Liste eine Große Anfrage an die Bundesregierung zur Pflegesituation in der Bundesrepublik Deutschland richtet und dann den entsprechenden Gesetzentwurf, der die Thematik der Anfrage umfaßt, schon vor dem Erhalt einer Antwort durch die Bundesregierung dem Plenum vorlegt.
Neben diesem rein formalen Aspekt gibt es aber auch inhaltliche Kritikpunkte. Das Lebensrisiko der Pflegebedürftigkeit darf wie jedes andere Lebensrisiko — ich denke hierbei an Krankheit und Arbeitslosigkeit — nicht zum Bestandteil eines Leistungsgesetzes werden, wie es die PDS mit ihrem PflegeAssistenz-Gesetz fordert. Lebensrisiken kann man nicht einfach sozialisieren, d. h. auf die Gemeinschaft der Steuerzahler abwälzen, noch darf man sie schlicht auf die einzelnen Betroffenen abschieben.Die F.D.P. steht seit jeher auf dem Standpunkt, Risiken des Lebens durch Versicherungen aufzufangen. Sie kann sich in dieser Hinsicht auf eine breiteMehrheit innerhalb der Koalition stützen, nicht nur im speziellen Fall der Pflegeversicherung.
Frau Kollegin Dr. Pohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ja, bitte. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.
Frau Kollegin, halten Sie die Situation, daß man von Pflegebetreuung, von Begleitung usw. abhängig ist, für ein Risiko oder für eine Situation, in der man nicht in der Lage ist, alle Menschenrechte wahrnehmen zu können?
Herr Kollege Seifert, ich wollte bereits eingangs sagen,
daß wir alle betroffenen Bürger gut betreuen. Ich frage mich, ob Sie in der ehemaligen DDR nicht die Fernsehsendungen gesehen haben
— das sollten wir schon noch einmal sagen —, in der das Pflegeheim in Halle und weitere Heime für behinderte und psychisch kranke Kinder gezeigt wurden. Es wurde geschildert, in der Bundesrepublik lebten nur auserwählte Personenkreise unter Superbedingungen in den Pflegeheimen. Sie dürften es am besten wissen, daß es Feierabend- und Pflegeplätze in der ehemaligen DDR auch für ausgesuchte Personen und Personengruppen gab. In der ehemaligen DDR mußte die assistierende Pflege von den Familien erbracht werden. Diese assistierende Pflege war dort nicht so abgesichert, wie Sie es jetzt in der Bundesrepublik Deutschland fordern.
Frau Kollegin Pohl, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Bitte.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, da Sie meine Frage leider nicht beantwortet haben, möchte ich jetzt andersherum fragen. Ich sage ja nicht, daß es in der DDR so war, wie ich es gerne haben möchte. Meine Frage ist: Geht es um die Menschenwürde oder um ein Versicherungsrisiko? Das ist der entscheidende Punkt, nicht die Frage, wie es einmal in der DDR war — das fand ich gar nicht so gut —; entscheidend ist, wie es in der Zukunft sein soll.
Herr Kollege Seifert, es geht um die Menschenwürde. Ich glaube, in diesem Hohen Hause ist es bei jeder Thematik immer um die Menschenwürde gegangen. Es geht um die Frage, wie man die Gewährleistung der Menschenwürde absichern kann.
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Dr. Eva PohlIch fordere hier nochmals dazu auf — das richtet sich auch an den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung —, daß das Gesetz zur Pflegeversicherung, das uns fristgemäß am 1. Oktober hätte vorliegen müssen, bald kommt.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Dr. Fuchs, „verdammt noch mal" ist zwar ein allgemeiner Ausdruck, aber kein parlamentarischer Ausdruck. Das wollte ich Ihnen noch sagen.
Nun erteile ich das Wort unserer Frau Kollegin Ortrun Schätzle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ältere Menschen haben doch eine Lobby, auch wenn in der Öffentlichkeit oft das Gegenteil behauptet wird. Die vorliegende Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der PDS/Linke Liste zur „Situation behinderter und älterer pflegebedürftiger Menschen in der Bundesrepublik Deutschland" vermittelt diesen Eindruck. Herr Seifert hat vorhin der Bundesregierung für diese Antwort gedankt.
Das seit dieser Legislaturperiode eingerichtete Ministerium für Familie und Senioren betreibt eine sehr gezielte Politik zur Verbesserung der Lebensverhältnisse und Zukunftsperspektiven älterer, auch älterer behinderter oder pflegebedürftiger Menschen sowohl in Ost als auch in West. Es ist eine Politik, die sich an den vielschichtigen Wünschen und Vorstellungen der Senioren in unserer Gesellschaft orientiert. Es ist keine Politik, die sich nur auf Pflegebedürftige verengt, sondern es ist eine Politik für die neue ältere Generation, die sich — das ist vorhin schon gesagt worden — vital und selbstbewußt zeigt, die wohlhabend ist und geistig aufgeschlossen, die ihre Lebensführung selbst bestimmen möchte, die möglichst lange ihre Eigenständigkeit zu erhalten versucht, die in soziale Kontakte vernetzt bleiben will und die für Zeiten von Alterskrankheit und Pflegebedürftigkeit ein differenziertes Angebot von Dienstleistungen und Hilfen erwartet.
Die Bundesregierung hat mit zahlreichen gesetzgeberischen Maßnahmen — ich denke hier an die Renten- und Gesundheitsreform, ich denke an das Heimgesetz, an die Heimmindestpersonalverordnung —, mit vielen Richtlinien, Forschungsvorhaben und Modellprojekten den vielfältigen Lebensansprüchen der älteren Menschen entsprochen.
Es ist auch zu begrüßen, daß der Bundesaltenplan als neues Förderinstrument weitere Maßnahmen zur gesellschaftlichen Beteiligung älterer Menschen, auch für ehrenamtliche oder nachberufliche Tätigkeitsfelder oder für die Freizeitgestaltung und Weiterbildung, anregt, aber auch Impulse für die Weiterentwicklung von Diensten und Einrichtungen für Hilfsund Pflegebedürftige gibt. Die neu konzipierten Seniorenbüros werden sich als Schaltzentralen koordinierter Bildungs-, Beziehungs- und Hilfsnetze erweisen.
Im Falle von Behinderung und Pflegebedürftigkeit darf keine Ausgrenzung der Betroffenen aus der Gesellschaft erfolgen.
Ich glaube, in dieser Frage sind wir uns in diesem Hause einig.
Der abgeschobene, verwaltete, überversorgte oder isolierte Mensch verliert an Würde und Lebensqualität. Unser Leitbild vom Menschen gesteht Individualität und Selbstbestimmung bis ins hohe Alter zu, ungeachtet der sich eventuell verändernden geistigen, körperlichen oder sozialen Kräfte. Prävention und Rehabilitation müssen deshalb die vorhandenen Kräfte und Fähigkeiten stärken und aktivieren. Sie müssen Behinderungen und Pflegebedürftigkeit abwenden, mindern oder abbauen. Gesundheitsbewußte Lebensführung, Sport und Bewegung sollen Lebenkräfte und Mobilität erhalten, Leistungswillen und Selbstbewußtsein stärken und zum Wohlbefinden beitragen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ja, gem.
Bitte, Kollege Seifert.
Frau Kollegin, Sie sprachen gerade von Prävention und Rehabilitation. Ich möchte in diesem Zusammenhang einmal nachfragen, weil ich es für sehr interessant halte, was Sie gesagt haben. Sind Sie für lebenslange Rehabilitation, also auch weit in das Rentenalter hinein? Ja oder nein?
Ich würde gem meine Ausführungen über Prävention und Rehabilitation zu Ende führen. Vielleicht erübrigt sich dann Ihre Frage.
Frau Kollegin Schätzle, wir werden so verfahren. Herr Kollege Seifert wird sich gegebenenfalls wieder melden.
Erfolgreiche Rehabilitationsmaßnahmen ermöglichen die Rückkehr oder den Verbleib im eigenen häuslichen Bereich. Wir wissen aus holländischen Alten- und Pflegeheimen, daß 30 % der Heimbewohner nach gezielten Rehabilitationsmaßnahmen in ihr früheres Zuhause zurückkehren, in der Bundesrepublik dagegen praktisch niemand. Wir benötigen deshalb hier bei uns dringend eine höhere Zahl von Rehabilitationseinrichtungen, auch eine Angebotsvemetzung zwischen den häuslichen, den ambulanten, den teilstationären und den stationären Bereichen. Wir benötigen „Rehabilitation nach Maß", d. h. eine auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten abgestimmte ganzheitliche Rehabilitation durch qualifizierte Fachkräfte im
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Ortrun SchätzleZusammenwirken von ärztlichen, therapeutischen und psychologischen Hilfen.
Entsprechende Hilfen müssen natürlich auch für die Pflege gelten, ungeachtet des Alters des Pflegebedürftigen. Häusliche und Heimpflege verlangen qualifizierte Hilfe und Betreuung. Sie müssen ebenso „Pflege nach Maß" sein, d. h. darauf abgestimmt sein, was für den kranken Menschen notwendig ist, aber auch abgegrenzt sein gegenüber den Tätigkeiten, die der Hilfesuchende selbst übernehmen kann.Hier erhebt sich die Frage, ob es nicht mehr Aufgabenfelder auch in unseren Heimen gäbe, die von den Heimbewohnern wahrgenommen werden könnten. Bei der Heimpflege überwiegt noch ein vereinheitlichtes Pflege- und Betreuungsmuster. Unter Berücksichtigung des heutigen Selbstverständnisses älterer, auch insgesamt kranker Menschen müßte es überdacht werden. Ich denke, daß die neue Broschüre des Bundesministeriums für Familie und Senioren „Daheim im Heim" Anregungen sowohl für Heimleitungen wie auch für die Heimbewohner gibt, Vorurteile abzubauen, verfestigte Strukturen aufzubrechen und Neues zu wagen.Die häusliche Pflege, für deren Beibehaltung sich der größte Teil der älteren Menschen ausspricht, kann aber nur gewährleistet werden, wenn durch ergänzende ambulante Dienste, Tages- und Kurzzeit-Pflegeangebote Ergänzung geschieht.
Frau Kollegin Schätzle, nun möchte der Kollege Dr. Seifert noch einmal fragen.
Ja, bitte.
Bitte, Kollege Seifert!
Vielen Dank, Herr Präsident. — Ich fand Ihre Ausführungen zur Rehabilitation, wie gesagt, sehr interessant. Sagen Sie bitte klipp und klar: Sind Sie für lebenslange Rehabilitation, oder sind Sie für eine Altersgrenze, wo man sagt: Von jetzt an lohnt es sich nicht mehr zu rehabilitieren?
Wir wissen, daß Rehabilitation heute ungemein erfolgreich sein kann, in einer Weise, wie wir es in früheren Jahren nie erwartet hatten. Aus diesem Grund muß Rehabilitation ungeachtet der Altersstufe einbezogen werden.
— Wie wir das in Holland so erfolgreich gesehen haben.
Ich meine, daß die dringend erwartete Einführung der Pflegeversicherung — es ist vorhin schon von meinen Vorrednern betont worden, wie dringend sie ist — die derzeitigen Regelungen von Sach- und Geldleistungen ablösen wird und die finanzielle Situation der Pflegebedürftigen und der Pflegenden entscheidend verbessern kann.
Die Grundsätze „Rehabilitation vor Pflege" und „Pflege nach Maß" sollen vor allen Dingen beim Aufbau neuer Hilfsnetze und Einrichtungen für ältere Menschen und Behinderte in den neuen Bundesländern nicht außer acht gelassen werden. Selbstverständlich orientiert sich der Aufbau von Alten- und Behinderteneinrichtungen primär am Mangel an Heimplätzen, am katastrophalen Standard der vorhandenen Einrichtungen. Ältere und Behinderte gehörten in der ehemaligen DDR zu den besonders benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Und heute? Mehr als 16 000 erwachsene Behinderte unter 60 Jahren und ca. 1 500 Kinder und Jugendliche mit Schwerstbehinderungen leben noch in Altenpflegeheimen, wo sie kaum angemessen betreut und gefördert werden können.
Dazu kennzeichnen bauliche Mängel, Überbelegung der Zimmer und zum Teil — wir haben es selbst gesehen — katastrophale hygienische Verhältnisse die Situation. Nach der im Westen geltenden Heimmindestbauverordnung müßten 40 % der Heime sofort abgerissen werden und 30 % dringend saniert werden. Nur 20 % sind kurzfristig zu sanieren. Der Rest von 10 % entspricht dem Mindeststandard.
Eine erste Soforthilfe von 200 Millionen DM im Jahre 1990 unseres Bundesministeriums für Familie und Senioren hat die Verhältnisse ebensowenig verbessert wie das kommunale Investitionsprogramm des Gemeinschaftswerks „Aufschwung Ost". Eine gemeinsame Kraftanstrengung in Form eines Gesamtsanierungsprogramms von Bund, Ländern und Gemeinden muß deshalb folgen, um die Sanierungsaufgaben voranzutreiben
und bis zum Jahre 2000 abschließen zu können. Vorschläge zielen auch darauf ab, die Bildung einer Bund-Länder-Stiftung in die Überlegungen über Finanzierungsmuster einzubeziehen.
Ich glaube, ich kann für meine ganze Fraktion sagen, daß alle politischen Maßnahmen, um die Angleichung der Lebensverhältnisse für Ältere, Behinderte und Pflegebedürftige in Ost und West zu erreichen, weiterhin von uns vorangetrieben werden.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Gerd Andres das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben schon bemerkt: Diese Diskussion schafft die Möglichkeit, die Lebenssituation Pflegebedürftiger aus den unter-
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Gerd Andresschiedlichsten Gesichtswinkeln zu beleuchten. Frau Schätzle, die Kolleginnen und Kollegen der SPD haben während Ihrer Rede gesagt: Diese Frau bringt viele vernünftige Sachen, denen wir zustimmen können. Aber wir stellen uns die Frage: Was folgt daraus für die Koalition und für die Bundesregierung?
Offensichtlich an vielen Stellen nichts. Ich komme auf einen ganz zentralen Punkt zu sprechen.An Hand der drei Vorlagen ist es möglich, konzeptionelle Diskussionen über die Absicherung des Pflegerisikos, die in den letzten Jahren eine Rolle gespielt haben und die nach wie vor eine politische Lösung fordern, hier erneut anzuschneiden. Ich will mich in meinem Redebeitrag im wesentlichen mit dem gegenwärtigen Stand der Diskussion um die Einführung einer Pflegeversicherung bzw. dem vorliegenden Leistungsgesetz befassen.Die PDS/Linke Liste hat ein sogenanntes PflegeAssistenz-Gesetz vorgelegt. Dieses Pflege-AssistenzGesetz war auch Gegenstand der öffentlichen Anhörungen, die im Mai und Juni dieses Jahres vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung in Berlin und in Bonn durchgeführt wurden
— ich komme gleich darauf zurück, Herr Kollege Seifert — und deren Gegenstand der seit September des vergangenen Jahres vorliegende SPD-Gesetzentwurf zur Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung war. Ihr Entwurf war einbezogen. Er war ganz häufig bei der Fragestellung einbezogen, ob man sich eine Absicherung des Pflegerisikos über ein Bundesleistungsgesetz vorstellen könne. Dazu haben sehr viele Sachverständige Position bezogen. Auf diesen Tatbestand komme ich gleich zurück.Die politische und die Fachdiskussion hat sich in den letzten Jahren — auch vor dem Hintergrund der deutschen Einheit — eindeutig für die Einführung einer Pflegeversicherung als Sozialversicherungsmodell ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund — das stelle ich hier fest — hat die hier vorliegende Gesetzesinitiative keine Chance. Sie ist auch nach meiner Bewertung und Einschätzung vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Problemlage, die wir haben, nicht real.
Auch in den Anhörungsverfahren vom Mai und Juni waren die Fürsprecher einer sozi alversicherungsrechtlichen Regelung in der eindeutigen Mehrheit. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, der DGB, die Kriegsopferverbände, die gesetzlichen Krankenkassen, die Ärzteverbände, die evangelische und die katholische Kirche, der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge und andere Organisationen sprachen sich eindeutig für die Schaffung einer Sozialversicherungsregelung aus.Befaßt man sich mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf der Gruppe PDS/Linke Liste näher, stellt manfest, daß er bei einer außerordentlich grob geschätzten Finanzkalkulation auf ein Volumen von 103 Milliarden DM zur Finanzierung des sogenannten Pflegefonds und der sozialen Absicherung der Pflegerinnen und Pfleger kommt. Auch wenn in der Einleitung der Begründung davor gewarnt wird, die Sicherung der Pflege auf finanzielle Fragestellungen einzuengen, muß doch die Frage gestellt werden, wie ein solches Finanzvolumen angesichts der gewaltigen Finanzprobleme, vor denen unser Staat und unsere Gesellschaft unbestreitbar stehen, zu bewältigen ist.
Herr Kollege Andres, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Wenn Sie die Uhr anhalten, Herr Präsident, gerne.
Bitte sehr, das mache ich.
Herr Kollege, jetzt bin ich schon wieder dabei, eine zweite Frage stellen zu wollen. — Ich möchte auf die Anhörung und die von Ihnen genannten Verbände zurückkommen. Sind Sie bereit, zuzugeben, daß viele dieser Verbände gesagt haben, sie seien, obwohl sie eigentlich die steuerfinanzierte Variante bevorzugen, für die Sozialversicherungsvariante, weil sie nicht glauben, daß die steuerfinanzierte Variante unter den gegenwärtigen Verhältnissen machbar ist? Inhaltlich sind sie aber durchaus der Meinung, das wäre eigentlich die richtigere Lösung.
Herr Seifert, ich will Sie nur darauf hinweisen, daß das exakt der Tatbestand ist, den ich gerade vorgetragen habe.
Ich sage mir: Wenn ich es anders regeln könnte, dann könnte ich mir vorstellen, daß ein Leistungsgesetz sehr sinnvoll ist. Ich muß Ihnen wahrscheinlich nicht darlegen, daß in unserer Partei die leistungsgesetzliche Regelung über zwanzig Jahre diskutiert worden ist. Nur ist vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanzsituation eine Sozialversicherungslösung das, was momentan machbar und politisch angemessen ist. Deswegen treten wir dafür ein.
In der Diskussion um die Einführung einer Sozialversicherungslösung gehen gegenwärtig sowohl die SPD als auch die Union davon aus, daß wir zur Absicherung des gegenwärtig bestehenden Pflegerisikos 25 bis 26 Milliarden DM jährlich benötigen, also knapp ein Viertel der Summe, die als grobe Kalkulation dem PDS/Linke Liste-Entwurf zugrunde gelegt ist. Wer weiß, welcher politischen Kraftanstrengung es bedurfte und sicher auch noch bedarf, die Pflegeversicherung durchzusetzen, dem muß klar sein, wie irreal der gesetzliche Vorschlag, der hier auf dem Tisch liegt, ist. Unabhängig davon muß man konstatieren, daß im Angebot weiterer umfassender ambulanter Hilfen ein künftiger Schwerpunkt der Versorgung des Pflegefallrisikos liegen muß und hierbei auch neueren Hilfsformen wie beispielsweise dem
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Gerd AndresAssistenzkonzept zur individuellen Betreuung von Behinderten wachsende Bedeutung zukommen wird.
Festzuhalten bleibt für den Deutschen Bundestag, daß seit dem Sommer bzw. Herbst des letzten Jahres ein kompletter Gesetzentwurf der SPD zur Einführung einer Pflegeversicherung sowohl im Bundesrat als auch im Bundestag vorliegt. Festzuhalten bleibt ebenfalls, daß sich andere Gruppierungen dieses Hauses mit eigenen Gesetzentwürfen in die Diskussion eingebracht haben. Gerade ist ein Beispiel bewertet worden. Daran schließt sich die Frage an, wo die gesetzliche Lösung derjenigen ist, die seit Jahr und Tag mit der sozialversicherungsrechtlichen Lösung des Pflegerisikos hausieren gehen.
Ich kann mich Frau Pohl nur anschließen, Herr Kraus: Wo ist Ihr Gesetzentwurf? Wann macht der Bundesarbeitsminister endlich seine Schulaufgaben?
Für die SPD-Bundestagsfraktion kann ich feststellen, daß der Bundesarbeitsminister erneut Wortbruch begangen hat. Schon der Termin 1. Juni 1992 wurde von ihm aufgegeben. Großspurig legte die Regierungskoalition am 30. Juni 1992 ein neues Datum fest. Ich zitiere die Koalitionsvereinbarung:Der Bundesarbeitsminister wird beauftragt, bis zum 1. Oktober 1992 auf der Grundlage dieses Beschlusses einen Gesetzentwurf vorzulegen.Noch einmal die Frage, Herr Bundesarbeitsminister: Wo ist der Gesetzentwurf? Ich sage Ihnen dazu: Offensichtlich ist es so, daß der Bundesarbeitsminister bisher nicht in der Lage war, den gordischen Knoten, zu dem die Koalitionsabsprache verschlungen wurde, zu lösen. Besonders das Problem der Kompensation beschäftigt ihn nach wie vor.Wir bestreiten ganz eindeutig, daß für die Einführung einer Pflegeversicherung Kompensation überhaupt notwendig ist.
Die Frage der Pflegeversicherung wird hier mit völlig sachfremden Zusammenhängen befrachtet. Es ist wohl offensichtlich nur den inneren Zuständen der Koalition zu verdanken, daß über Seiten hinweg als Anlage zur Koalitionsvereinbarung verschlungene Rechnungen dargestellt werden, wie und mit welchen Mitteln die durch die Pflegeversicherung entstehenen Kosten für die Arbeitgeber aufgefangen werden können. In einem eigenen Text mit dem Titel „Pflegeversicherung und Kompensation" werden seitenweise Luftbuchungen vorgenommen. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Kapitel III, in dem aufgeführt wird, was den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung in der vergangenen Sitzungswoche, in dieser Sitzungswoche und in der nächsten Sitzungswoche ganzmassiv beschäftigt, nämlich die geplanten Änderungen des Arbeitsförderungsgesetzes.
Penibel werden hier Tatbestände wie die Aussiedlerförderung und die Nachfolgeregelung zu § 128 AFG mit zusammen 3,7 Milliarden DM als Kompensation für die Einführung der Pflegeversicherung aufgeführt.Wer die Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung in der vergangenen Woche miterlebt hat, konnte sehen, wie vernichtend die Kritik der Sachverständigen hinsichtlich der Beschneidung arbeitsmarktpolitischer Instrumente gewesen ist. Offensichtlich scheint es so zu sein, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß der Bundesarbeitsminister wegen der Pflegeversicherung bereit ist, auch in anderen wichtigen Gesetzeswerken alle sozialstaatlichen Verpflichtungen zum Teufel gehen zu lassen.
— Es ist leider wahr. Herr Scharrenborich, auch wenn Sie weiter schreien: Es ist so, und es wird Ihnen noch weiter um die Ohren gehauen werden. Verlassen Sie sich darauf.
Real führen die Einsparungen beim AFG nicht zu einer Entlastung der Beitragszahler, sondern real führen sie dazu, daß gegenwärtig der Bundesfinanzminister entlastet wird.Aus dem Text könnten weitere Luftbuchungen aufgeführt werden. Ich will es damit aber an dieser Stelle bewenden lassen.Zu zwei anderen Bereichen meine sehr verehrten Damen und Herren, muß man sich im Zusammenhang mit Kompensation aber noch äußern. In einer Pressekonferenz erklärte Graf Lambsdorff, auf welche Essentials sich die Koalition im Sommer verständigt hatte. Dabei waren die Formulierungen schon ein Genuß. Er erklärte das Umlageverfahren sei okay, aber dadurch entstehende Lohnnebenkostensteigerungen müßten verläßlich und stabil, verfassungsrechtlich und tarifvertraglich wasserdicht kompensiert werden. Schon diese Formulierungen machten deutlich, wohin der Hase lief. Wen wundert es da, daß just dieser Graf Lambsdorff in genüßlichen Pressekonferenzen im Sommer über den Vorschlag der Einführung von Karenztagen lästerlich herzog, weil er ja wußte, daß der Karenztag-Vorschlag nicht zu realisieren wäre.In einer weiteren Anlage wurde alternativ geprüft, ob man durch die Abschaffung eines gesetzlichen Feiertags oder durch Veränderungen der Entgeltfortzahlung an Feiertagen die Kompensationsleistung erbringen kann. Auch hier sind die Stellungnahmen eindeutig. Zwar ließ der Bundesarbeitsminister — in Anlehnung an ein volkstümliches Sprichwort — die feiertagspolitische Sau durchs Dorf jagen, aber offensichtlich ist, daß er bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt den gordischen Knoten Kompensation nicht gelöst hat
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Gerd Andresund damit die Pflegeversicherung weiter vor sich hin schlummert. Dieser Tatbestand ist der eigentliche sozialpolitische Skandal, mit dem man sich bei dieser Debatte befassen muß.
Herr Kollege Andres, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharrenbroich?
Ja.
Herr Kollege Andres, sind Sie bereit, Ihre Rede noch einmal zu publizieren, wenn wir in dieser Legislaturperiode die Pflegeversicherung ohne Karenztage verwirklicht haben?
Sie haben die Schamlosigkeit besessen, in Ihre Essentials nicht nur hinein zuschreiben, daß Sie eine Kompensationsregelung anstreben. Darüber hinaus haben Sie sogar angegeben, daß Sie die Pflegeversicherung erst zum 1. Januar 1996 einführen wollen. Was Sie realisieren wollen, werden wir bei den Beratungen dieses Hauses erst einmal abwarten. Zu welchen Ergebnissen man dann kommt und wie die Öffentlichkeit diese aufnimmt, wird die weitere Debatte erbringen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Scharrenbroich?
Ja.
Da Sie meine Frage überhaupt nicht beantwortet haben, möchte ich eine zweite Frage stellen.
Lieber Herr Kollege Andres, Sie wissen ganz genau, daß wir die Pflegeversicherung mit einer Kompensation realisieren wollen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in der Koalition Einigkeit darüber besteht, daß selbstverständlich auch eine andere Kompensation möglich ist? Wären Sie auch so freundlich, meine erste Frage mit Ja oder Nein zu beantworten.
Wir sind der Auffassung, daß die Einführung einer Pflegeversicherung keine Kompensation notwendig macht. Bei all den Luftbuchungen und den Papieren, die Sie Ihrer Koalitionsvereinbarung beigefügt haben, bin ich gespannt, wann der Bundesarbeitsminister endlich mit dem zugesagten Gesetzentwurf über den Tisch kommt. Was darin dann als Maßnahmen vorgesehen sind, werden wir gemeinsam bewerten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist der Bundesarbeitsminister nicht in der Lage, den gordischen Knoten zu lösen
und die Kompensation zu erbringen. Die stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat zu den Kompensationsvorschlägen folgendes gesagt: Sosehr wir uns immer eingesetzt haben für eine Pflegeversicherung unter dem Dach der Sozialversicherung, so sehr sehen wir das als eine Kriegserklärung an, wenn die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle derart aufgeweicht werden soll.
Dieses Zitat macht klar, welche Zustimmung der Bundesarbeitsminister bei den Sozialpartnern finden wird. Wenn er der erstaunten Öffentlichkeit erklärt, er habe ein Sozialversicherungsmodell mit Umlageverfahren und hälftigem Beitrag durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, gleichzeitig aber darüber nachdenkt, wie die Arbeitnehmer den Arbeitgeberbeitrag auch noch übernehmen können, täuscht er die Öffentlichkeit. Ein solches Modell hat mit Sozialversicherung nichts mehr zu tun. Mit einer Verwirklichung der Koalitionsbeschlüsse wird das angeforderte und notwendige solidarische Umlageverfahren zur Finanzierung nur vorgetäuscht. Die Arbeitnehmer müssen dann alleine die Zeche zahlen. Einerseits werden sie über Beiträge beteiligt, andererseits müssen sie durch die Einführung von Karenztagen bei Krankheit oder den Verlust von Urlaubstagen oder das Streichen von Feiertagen oder sonstige Vorschläge, auf die Sie kommen werden, praktisch auch noch den Arbeitgeberanteil tragen. Ich kann nur sagen: Dies ist die Pervertierung von Sozialversicherung.
Bei einigen Positionen der Großen Anfrage und der Antwort darauf wird man feststellen, daß auch die Bundesregierung darauf setzt, daß die Lage Pflegebedürftiger, insbesondere im privaten und ambulanten Bereich, durch die Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung wesentlich verbessert wird. Das ist der Anfrage deutlich zu entnehmen.
Lassen Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert zu? Sie haben dann noch eine Minute Redezeit.
Bitte sehr. Hier werden aber noch zwei Minuten Redezeit für mich angezeigt.
Nein, das ist schon im Minus.
Herr Kollege, da Sie gerade so eindringlich von der Gerechtigkeit bei der Finanzierung spreche: i, möchte ich Sie fragen, ob es nicht wesentlich gerechter wäre, dies über Steuern zu finanzieren, weil dann diejenigen, die viel verdienen und viele Steuern zahlen müssen, einen höheren Beitrag leisten als die, die wenig haben.
Dazu kann ich nur wiederholen, was ich schon auf Ihre Zwischenfrage von vorhin geantwortet habe. Auch wenn Sie die Frage dreimal stellen, wird meine Antwort die gleiche bleiben. Da ich sie Ihnen eben schon gegeben habe, muß ich sie jetzt nicht noch einmal wiederholen.
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9512 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992
Gerd AndresIch wollte noch einen zweiten Punkt in der Beantwortung der Großen Anfrage ansprechen.
Es war sehr interessant, daß die Bundesregierung festgestellt hat, daß für Pflegeleistungen nach dem Gesundheits-Reformgesetz ganze 2 Milliarden DM aufgewandt wurden. Ich will daran erinnern, daß diese Pflegeleistungen damals durch Selbstbeteiligung und Leistungseinschränkung bei Patienten, bei chronisch Kranken abkassiert wurden, um sie dann über die Krankenversicherung den Pflegebedürftigen zur Verfügung zu stellen. Bei den damaligen Beratungen zum GRG — ich war dabei — wurde davon ausgegangen, daß dafür wesentlich mehr aufgewandt werden würde als die 2 Milliarden DM, die jetzt an Leistungen herausgekommen sind.Ein dritter Punkt: Wer sich die Beantwortung anschaut, wird feststellen, daß bei der Auflistung der Einrichtungen, der Plätze und ähnlicher Dinge Äpfel mit Birnen verglichen wurden. Wer bei den Ländernrecherchiert und nach Kurzzeiteinrichtungen und Sozialstationen fragt, wird erkennen, daß hier Dinge aufgelistet wurden, die absolut nicht vergleichbar sind. Die Statistiken, die Sie in die Beantwortung der Großen Anfrage aufgenommen haben, müßte man zunächst einmal unter Zugrundelegung der gleichen Kriterien Land für Land überprüfen. Ich weiß, daß auch der Bundesrat und Bundesratsgremien mit der Zusammenstellung dieser Daten befaßt waren.Summa summarum ist folgendes zu sagen: Wir wissen, daß die gesellschaftliche Lage vieler Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen katastrophal ist. Wir wissen, daß es dringend notwendig ist, hier durch die verschiedensten Maßnahmen Abhilfe zu schaffen, z. B. durch die Einführung einer Pflegeversicherung, durch den Ausbau von Einrichtungen für die ambulante und stationäre Versorgung. Dazu ist es notwendig, relativ schnell eine gesetzliche Pflegeversicherung auf den Weg zu bringen, weil in beiden Konzeptionen — sowohl in der, die der Bundesarbeitsminister immer vorträgt, als auch in unserer — die Stärkung der Pflegekraft in der Familie, im privaten und im ambulanten Bereich einen ganz, ganz wichtigen Stellenwert hat. Die Einführung einer solchen Pflegeversicherung würde dazu beitragen, die Situation der Menschen in diesen Lebensbereichen nachdrücklich zu verbessern. Also: Nicht viele Reden halten, sondern etwas tun!
Sie haben die Mehrheit dazu. Bringen Sie es endlich auf den Weg.
Herr Kollege Andres, Sie haben die Redezeit um drei Minuten überschritten. Das wollte ich Ihnen nur mitteilen.
Nun hat die Frau Ministerin für Familie und Senioren, Hannelore Rönsch, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin gerne bereit, die drei Minuten überzogene Redezeit bei mir als Plus hinzunehmen, denn 13 Minuten wären mir auch lieber. Ich könnte trotzdem nicht in 13 Minuten eine Bilanz der Arbeit des Seniorenministeriums ziehen.Liebe Frau Kollegin Seuster, Sie arbeiten doch sehr aktiv im Ausschuß mit. Ich bin ganz erstaunt, daß Ihnen vollkommen entgangen ist, was dieses Ministerium und die Ausschußmitglieder gerade für die ältere Generation in den letzen zwei Jahren geleistet haben. Ich wünsche mir und Ihnen, daß Sie einmal mit den Wohlfahrtsverbänden, mit den Organisationen, die sich mit alten Menschen befassen, diskutierten, denn da ist die Akzeptanz ganz anders als bei der Opposition. Ich bin mit der Arbeit eigentlich sehr zufrieden, und wir werden auch in der nächsten Woche Gelegenheit haben, ein wenig Bilanz zu ziehen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Diskussion über die Lebenssituation älterer Menschen und Behinderter wird, wie es heute hier auch geschehen ist, sehr oft nur auf die Absicherung des finanziellen Risikos von Pflegebedürftigkeit oder auf den Notstand der Pflegeberufe reduziert. Ich bedauere das. Die Opposition ist auch dazu aufgefordert, kreativ mitzuarbeiten, mitzudenken und darüber nachzudenken, wie etwas umgesetzt werden kann.
Ich bin sehr froh, daß wir das Pflegerisiko absichern und die Pflegeversicherung einführen werden. Wir werden noch über Eckpunkte diskutieren müssen. Selbstverständlich sind wir alle aufgefordert, über die Kompensation in anderen Bereichen unserer Gesellschaft nachzudenken.
Wenn Sie sich dieser Verantwortung entziehen, lieber Herr Kollege Andres, dann spricht das natürlich auch für Ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Sachverstand. Ich fordere Sie ganz einfach auf, mit darüber nachzudenken, wie wir unsere Gesellschaft auch in Zukunft sozial ausgestalten können. Dafür brauchen wir alle: Wirtschaft und Arbeitnehmer. Sie kommen bisher nur mit Forderungen. Das ist natürlich auch für eine Opposition zuwenig.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stellen uns diesen Herausforderungen. Ich darf Ihnen versichern, daß es mir vordringlich darum geht, daß der ältere Mensch in seiner eigenen Umgebung eigenverantwortlich leben und wohnen kann. Dieses ist eines meiner Schwerpunktthemen in meinem Ministerium.Mir geht es darum, die Fähigkeiten zur selbständigen Lebensführung weiter auszubauen, sie zu erhalten oder durch Rehabilitation wiederzugewinnen. Es entspricht nämlich den Wünschen der meisten älteren Menschen, solange wie möglich zu Hause, in der häuslichen sozialen Umgebung, zu leben. Wir dürfen natürlich nicht vergessen, daß bei den ca. 1,6 Millionen Menschen, die gepflegt werden, über 80 % zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992 9513
Bundesministerin Hannelore RönschIch freue mich, Herr Kollege Seifert, daß es Ihnen gelungen ist, doch noch einige Mitglieder des PDS jetzt in den Saal zu rufen; denn gerade an Sie will ich mich wenden.
— Sie waren aber vorher nicht da. Sie sind erst gerade zur Diskussion gekommen.
Ich hätte mir gewünscht, daß Sie diesem Thema doch ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Ihr Kollege Dr. Seifert hat das nämlich vorhin eingefordert.
Ich wende mich deshalb mit allem Nachdruck, meine sehr geehrten Damen und Herren, gerade an Sie, weil es heute um alte und behinderte Menschen geht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesem Thema, da Sie anwesend sind, wirklich Aufmerksamkeit schenken würden.
Es geht um alte und behinderte Menschen. Es geht um diejenigen, die in der ehemaligen DDR-Gesellschaft die Ausgegrenzten waren.Sie kommen heute mit einer Forderung, die 100 Milliarden DM ausmacht, für die persönliche Assistenz behinderter und pflegebedürftiger Menschen einzusetzen. Selbstverständlich wäre das ausgesprochen wünschenswert, es wird auch in den verschiedensten Behindertenorganisationen schon diskutiert. Selbstverständlich wäre es schön, wenn jeder pflegebedürftige und jeder behinderte Mensch einen persönlichen Assistenten hätte, der ihm in seiner schwierigen Lebenssituation hilft.Mir, meine sehr geehrten Damen und Herren, geht es aber momentan vordringlich darum, 1 500 Kinder und Jugendliche, die in Altenpflegeeinrichtungen in den neuen Bundesländern untergebracht sind, erst einmal einer sinnvollen und einer ihren Leistungen, Fähigkeiten, Möglichkeiten und ihren Neigungen gerechten Ausbildung und Weiterbildung zuzuführen und sie aus dem bedrückenden Zustand der Unterbringung in Altenpflegeeinrichtungen herauszunehmen.Wo waren Sie die letzten 40 Jahre, daß Sie dies nicht erkannt und nicht gesehen haben?
Wie kommen Sie dazu, heute eine solche Forderung aufzustellen? Helfen Sie erst einmal mit, daß diese 1 500 Kinder und Jugendlichen endlich menschenwürdig leben können, daß wir ihnen helfen, ihr Leben normal gestalten zu können, da sie eingebettet sind in einer Gemeinschaft und nicht in Pflegeheime abgeschoben werden!
Würden Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ja. Herr Dr. Seifert, bitte schön.
Bitte, Herr Kollege Seifert.
Vielen Dank. Erstens. Auf Ihre Frage kann ich Ihnen sagen: Ich war 40 Jahre in der DDR; aber das ist jetzt vielleicht nicht der Gegenstand.
Zweitens. Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht bemerkt haben, daß unser Gesetzentwurf darauf abzielt, für Gesamtdeutschland eine wesentliche Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen und im Alter zu erreichen und nicht den Zustand der DDR in Gesamtdeutschland einzuführen.
Ich werde erst Ihre Frage beantworten und werde dann, Herr Kollege, zu Ihnen kommen.
Selbstverständlich habe ich das bemerkt und habe deshalb gesagt, daß ich es eigentlich als abenteuerlich empfinde, wenn von Ihnen die Forderung gestellt wird, 100 Milliarden DM für etwas wirklich Wünschenswertes, aber momentan nicht Finanzierbares auszugeben, weil wir wegen der 40 Jahre SED-Hinterlassenschaft auch noch andere Lebensbereiche finanzieren und ausgestalten müssen.
Selbstverständlich wäre das wünschenswert. Aber ich bitte Sie, gemeinsam mit uns endlich dafür zu sorgen, daß diese 1 500 Kinder ein wirklich würdiges Zuhause finden und entsprechend ihrem Alter und ihrer Behinderung gefördert werden. Das müßte unser erstes Ziel sein. Aufmerksam machen muß ich auf ein weiteres: Es sind nicht nur die 1 500 geistig und körperlich behinderten Kinder. Es sind noch weitere 16 000 behinderte Menschen, die in Altenpflegeeinrichtungen leben. Darauf denke ich, sollten wir uns im Moment gemeinsam konzentrieren.
Frau Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Keller?
Aber selbstverständlich.
Bitte.
Frau Minister,
würden Sie mir zustimmen, daß Ihr Argument mit den 40 Jahren nicht sehr stark ist, wenn Sie sich z. B. die ersten drei Reihen anschauen und Abgeordnetinnen sehen, die bei weitem noch nicht einmal 40 Jahre alt sind? Ich glaube also, wenn Sie argumentieren wollten, sollten Sie nach zwei Jahren von den 40 Jahren langsam weggehen und wirklich zu den Fragen kommen, die anstehen.
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9514 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992
Ich gestehe Ihnen durchaus ein, daß Argumente in diesem Bereich nicht die stärksten sind. Mich erfüllt es einfach — das merken Sie vielleicht — mit ungeheurer Bitternis, wenn ich sehe, daß Sie auch noch heute darüber hinweggehen und nicht das zur Kenntnis nehmen wollen, was das SED-Regime Menschen angetan hat. Ich hätte von Ihnen dazu ein Wort erwartet, auch heute hier im Parlament.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will noch einmal darauf eingehen, was wir für die älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und gerade auch für die Behinderten tun wollen. Wir wollen ihnen die selbständige Lebensführung so weit wie möglich erhalten. Wir wollen durch ambulante Versorgung sicherstellen, daß alte, pflegebedürftige Menschen entsprechend versorgt werden. Auch da will ich Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von der PDS, sehr deutlich sagen: Ich war sehr froh, daß ich gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden im Sommer letzten Jahres die Bilanz von 900 Sozialstationen verkünden konnte. Dieses bedeutet ein flächendekkendes Netz, vergleichbar den alten Bundesländern. Hier kümmern sich Schwestern und Helferinnen um die alten Menschen, die pflegebedürftig sind und nicht in ein Altenpflegeheim wollen oder dort keinen Platz bekommen.
Ich selbst habe in diesem Sommer drei Tage in einer Sozialstation gearbeitet. Ich würde jedem von Ihnen — gerade von Ihnen — diese Erfahrung wünschen,
damit Sie die persönliche Lebenssituation von den in der DDR-Gesellschaft Ausgegrenzten einmal unmittelbar spüren und kennenlernen. Dann, denke ich, würden auch Sie sich sicher wesentlich realistischeren Vorschlägen zuwenden.
— Sehen Sie, das mache ich ja nun dauernd.
Ich würde mir wünschen, daß Sie einfach einmal dieselben Erfahrungen machen und dieselben Informationen haben. Sie leben doch in den neuen Bundesländern. Ich weiß nicht, wieso Sie mit einer solchen Gelassenheit über die Probleme alter, behinderter Menschen hinweggehen können.
Frau Minister, einen Moment. — Meine sehr verehrten Damen und Herren, Zwischenrufe sind gestattet — das wissen wir alles —, aber nicht eine permanente Störung. Deswegen bitte ich, darauf zu achten, daß wir unsere Regeln hier einhalten.
Fahren Sie bitte fort, Frau Minister.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will an dieser Stelle eine Gruppe begrüßen,die oben auf der Zuschauertribüne sitzt. Sie, Frau Seuster, haben gefragt: Was macht dieses Ministerium eigentlich? Dort oben sitzen Männer und Frauen aus Staaten Ost- und Südosteuropas: aus Litauen, aus Kasachstan, aus Turkmenien und aus der Mongolei. Diese Männer und Frauen sind hier in der Bundesrepublik auf Einladung und durch Finanzierung unseres Ministeriums, um zu lernen und den Wissenstransfer weiterzugeben, wie Sozial- und Seniorenpolitik hier in der Bundesrepublik Deutschland ausgestaltet wird.
Es gab schon großes Erstaunen, was alleine für die älteren Generationen getan wird. Ich denke, man sollte dies an dieser Stelle einfach einmal sagen.
— So einfach ist das nun nicht.
Wenn die Sozialdemokraten Wissenstransfer geben wollen, dann, denke ich, sollte das die Sozialdemokratische Partei bezahlen. Aber hier wird die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland weitergegeben.
Ich denke, daß das ganz sinnvoll ist.Ich habe nur noch eine Minute und möchte noch etwas zum Altenpflegegesetz sagen. Da haben Sie, Frau Kollegin, natürlich einen ganz wunden Punkt angesprochen. Wir konnten dieses Gesetz in der letzten Legislaturperiode nicht auf den Weg bringen. Frau Kollegin Dr. Pohl hat dargelegt, warum es in der letzten Legislaturperiode gescheitert ist, nämlich weil u. a. auch sozialdemokratisch regierte Bundesländer die Kompetenz des Bundes bestritten haben.Momentan ist es immer noch so, daß Bundesländer die Kompetenz der Bundesregierung für die allgemeine Ausbildung im Altenpflegeberuf bestreiten. Ich bedauere das nachdrücklich. Ich fordere diese Bundesländer auf, diese Rangelei um Kompetenzen endlich aufzugeben; denn sie schadet der Ausbildung und natürlich auch denjenigen Männern und Frauen, die sich in diesem Beruf ausbilden lassen wollen.
Wenn wir keine bundeseinheitliche Regelung haben, werden wir auch keine EG-weite Anerkennung bekommen, und das ist, glaube ich, das Bitterste an dieser Stelle. Da die Fluktuation in diesem Beruf momentan bei fünf Jahren liegt, brauchen wir Männer und Frauen, die in der Altenpflege qualifiziert ausgebildet werden und dort eine Berufsperspektive für sich sehen.Ich werbe auch von dieser Stelle aus dafür, daß die Bundesländer, die momentan noch bremsen und blokkieren, ihre Blockadepolitik aufgeben. Sie tun mit dieser Politik den alten Menschen keinen Gefallen, und sie tun damit den Männern und Frauen, die in diesem Beruf arbeiten wollen, die eine wirklich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992 9515
Bundesministerin Hannelore Rönschschwere Arbeit auf sich nehmen, schon gar keinen Gefallen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden in der nächsten Woche, glaube ich, hier noch sehr umfänglich Gelegenheit haben, über Seniorenpolitik zu diskutieren; ich tue es immer wieder gern. Trotzdem darf ich den einen oder anderen einfach einmal auffordern, sich bei den Senioren zu informieren; die haben Ziele und Meinungen; Sie, Frau Seuster, werden Ihre Meinung nicht bestätigt finden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1982 und 12/2628 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung bei der Beratung des Gesetzentwurfs der PDS/Linke Liste — Pflege-Assistenz-Gesetz — soll beim Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung liegen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Aktuelle Stunde
Wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland / Praktiken der Treuhand am Beispiel der Vorgänge um die Märkische Faser AG in Premnitz
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat diese Aktuelle Stunde beantragt.
Bevor ich Frau Dr. Enkelmann in der Aussprache das Wort erteile, möchte ich Sie, meine Damen und Herren, noch auf folgendes aufmerksam machen:
Erstens. In unserer Geschäftsordnung steht, daß in der Aktuellen Stunde die Redebeiträge bis zu fünf Minuten dauern, also nicht über fünf Minuten hinausgehen. Danach müssen wir uns richten.
Zweitens. Ich bitte Sie alle, sich hier nicht gegenseitig die Präsenz zu bescheinigen oder abzusprechen. Das führt zu nichts. Die Gruppe PDS/Linke Liste war in der Diskussion zuvor prozentual die stärkste. Nun können wir das auf alle Fraktionen ausdehnen, oder wir lassen es von vornherein; denn jeder weiß, daß die Kollegen, die jetzt nicht hier sind, nicht irgendwo schlafen oder herumsitzen, sondern arbeiten.
Nun hat Frau Dr. Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich darüber, daß an dieser Debatte auch Kolleginnen und Kollegen aus Premnitz teilnehmen. Ich bitte Sie deshalb, möglichst vorsichtig zu sein mit Zwischenrufen wie „40 Jahre SED" oder „40 Jahre Mißwirtschaft".Meine Damen und Herren, würden Sie ein Pferd kaufen wollen, wenn Sie lediglich das Geld für die Hufeisen aufbringen könnten und nicht einmal Ahnung vom Reiten hätten? — Sicherlich nicht!Ähnliches aber passiert vielerorts in Deutschland-Wildost; nur geht es hier nicht um Pferde, sondern um Betriebe, um deren Belegschaften, um Familien, ja, es geht um ganze Regionen. Und als Roßhändler tritt in diesen Fällen die Treuhand auf.Was bringt die Premnitzer Chemiefaserwerker so auf die Palme? — Ihr Unternehmen, immerhin der drittgrößte Chemiefaserhersteller Europas, der 1989 ein Gesamtbetriebsvermögen von 3 Milliarden Mark der DDR ausweisen konnte. Sollte in einem unglaublichen oder, so wäre besser zu sagen, kriminellen Handstreich an ein, wie es heißt, mittelständisches Schweizer Unternehmen verkauft werden. Bei näherem Hinsehen, und zwar nachdem der Kaufvertrag abgeschlossen war, ergab sich, daß die Märkische Faser AG mit ehemals 6 000, jetzt 2 155 Beschäftigten von einer Firma übernommen wurde, die keine 20 Beschäftigten hat, mit 60 000 Schweizer Franken im Handelsregister eingetragen ist und über nur sehr mangelhafte Branchenkenntnisse verfügt.Im guten Glauben an einen angeblichen Investor aus Fernost und sonstwoher, d. h. ohne nachzuprüfen, ob es jenen überhaupt gibt, entschied die Treuhand zugunsten der Alcor-Chemie AG. Dieses Unternehmen sei, so mußte nun auch der Unterhändler der Treuhand, Dr. Klaus Schucht, eingestehen, nicht einmal in der Lage, die 68 Millionen DM Strafe für Nichtgewährleistung der Arbeitsplatzgarantie sowie die 50 Millionen DM für nicht getätigte Investitionen aufzubringen.Der oberste Dienstherr der Treuhand, Finanzminister Waigel, sprach von einem Beispiel entschlossener Sanierung mit Hilfe der Treuhand. — Welch ein Hohn! Oder meint Herr Waigel mit „entschlossener Sanierung" etwa das gezielte Plattwalzen von ganzen Industrieregionen in den neuen Bundesländern? Will er im Osten vielleicht doch sizilianische Verhältnisse?Lukrativ war das Geschäft in Premnitz allemal; denn neben dem Betrieb erhielt die Alcor-Chemie AG sozusagen als zusätzliches Bonbon Grund und Boden, auf dem 900 Wohnungen stehen, von denen nicht ganz 100 an das Unternehmen verkauft worden sind; über den Rest streiten sich nach wie vor die Geister. Inzwischen wurde ein Teil davon durch die Treuhand wieder zurückgenommen. Darüber hinaus übernahm die Alcor ein ganz ansehnliches Ferienobjekt in Marktgrafenheide an der Ostsee.Die inzwischen auf Grund des Drucks der Belegschaft ausgehandelte Finanzspritze von 25 Millionen DM stellt letztlich nur eine geringe Verlängerung der Abwicklungsfrist dar, wenn dem keine Regelungen zur Sicherung des Fortbestandes des Werkes folgen.Seit dem 24. September hält die Belegschaft den Betrieb besetzt. Die Beschäftigten fordern u. a. ein klares Wirtschaftskonzept für die Zukunftssicherung des Unternehmens als Faserhersteller, eine baldige Zusage für Hermes-Bürgschaften zur Deckung der Lieferungen in die GUS-Staaten, wirksame Maßnahmen zur Industrieneuansiedlung sowie Investitionsförderung für neue Faserprodukte. — In einem Brief werde ich mich an alle Abgeordneten des Bundestages mit der Bitte wenden, sich mit diesen Forderungen solidarisch zu erklären.
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9516 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992
Dr. Dagmar EnkelmannEin Wort am Schluß. — Die Vorgänge um das Chemiefaserwerk Premnitz sind keine leidige Ausnahme, die sozusagen im Eifer des Gefechts halt mal passieren kann. Ähnliche Skandalgeschichten ließen sich schreiben zu solchen Betrieben wie Finsterwalder Schraubenfabrik, Gießerei Lauchhammer, EKO-Stahl GmbH Eisenhüttenstadt, Walzwerk Eberswalde, Kranbau Eberswalde, Gewerbegebiete Wriezen, Bernau und andere, Elektro- und Gerätebau Teltow usw. usf. — Leider ist meine Redezeit nun abgelaufen. Ich würde mindestens noch fünf Minuten brauchen, um alle die Unternehmen aufzuzählen, bei denen es schiefgelaufen ist.Die Luft brennt. Es ist allerhöchste Zeit, daß sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß des Bundestages mit den kriminellen Machenschaften der Treuhand beschäftigt und ihnen endlich einen Riegel vorschiebt. Es muß u. a. die Frage beantwortet werden: Wessen Interessen stehen z. B. hinter den Vorgängen in Premnitz? — Zum Beispiel Interessen der Bayer, der Hypo-Bank München oder der RhonePoulenc.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Michael Wonneberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße auch die hier anwesenden Belegschaftsmitglieder der Märkischen Faser AG aus Premnitz auf der Besuchertribüne.
Zur Vorgeschichte der Tragödie — anders kann man es nicht nennen — um die Märkische Faser AG:
Am 1. Januar 1992 übernahm die Alcor-Chemie AG mit Sitz in der Schweiz die MFAG zum Preis von 5 Millionen DM. Zugleich mit dem größten Synthesefaserhersteller der ehemaligen DDR wurden weitere Immobilien wie ganze Geschäftsstraßen in Premnitz, Villen in Seelage und ein Ferienobjekt im Ostseebad Markgrafenheide eingekauft, die zur Sicherung der Bonität der vorgesehenen Investitionsmaßnahmen eingesetzt werden sollten.
Die Alcor selbst, ausgestattet mit einem Grundkapital von 60 000 Schweizer Franken und zehn Mitarbeitern, hat bisher jedoch keinerlei Eigenmittel in das Unternehmen eingebracht. Statt dessen wurden wertvolle Immobilien der MFAG in die Alcor-Chemie AG übertragen. Nachdem das ohnehin nur auf osteuropäische Märkte abgestellte Unternehmenskonzept der Erwerberfirma gescheitert war, wollte diese bei der Treuhand Ende August 1992 eine Rücknahme des Unternehmens erreichen. Der Gesamtvorstand der Treuhand lehnte dies ab, auch im Hinblick auf die Forderungen des Investors, z. B. Zurückerstattung des Kaufpreises, Freistellung aus der gesamten Haftung für die MFAG sowie Einbehaltung der der MFAG entnommenen werthaltigen Immobilien bzw. Rückerstattung der Kaufpreise. Ich glaube, die ablehnende Haltung der Treuhand dazu muß man sicherlich akzeptieren.
Daraufhin kündigt das Unternehmen die Stillegung und der Betriebsrat die Besetzung der MFAG an. Seitdem nehmen die gegenseitigen Schuldzuweisungen kein Ende. Die Landesregierung von Brandenburg macht eine Liquiditätshilfe zur Aufstockung der Produktion in Höhe von 12,5 Millionen DM davon abhängig, daß vom Unternehmen Immobilien zurückgegeben werden, was dank der Schweizer Transaktionen nicht so einfach sein dürfte.
Die Treuhandanstalt wiederum will nochmals den gleichen Betrag nur einbringen, wenn die Landesregierung eine Art Schirmherrschaft übernimmt. Immerhin hat Ministerpräsident Stolpe am 4. Juli 1992 im Premnitzer Rathaus erklärt: „Die Märkische Faser AG ist der Prüfstein für die Brandenburger Verfassung. "
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mich beschäftigt jedoch eine ganz andere, eine grundsätzliche Frage: Was ist das für ein Vertrag, der es dem bisher einzigen Nutznießer, der Alcor Chemie AG, gestattet, sich so aus der Affäre zu ziehen? Nicht genug damit, daß man der Treuhand die Übernahme von 320 Millionen DM Altschulden überließ, nein, man kaufte für 5 Millionen DM eine halbe Stadt und brachte lediglich Konzepte ein, die sich nicht erst seit heute als wenig tauglich erweisen.
Es ist an der Zeit, endlich auch einmal das Kleingedruckte im Vertrag zwischen Treuhandanstalt und Alcor Chemie AG, nämlich die vereinbarte Vertragsstrafe von 118 Millionen DM, ins Gespräch zu bringen. Geschieht das nicht, werde ich das Gefühl nicht los, daß ein sich selbst überschätzender Vertragspartner lediglich dazu benützt werden sollte, lästige Konkurrenz aus dem Chemiefasermarkt zu verdrängen.
Vor Wochenfrist wurde im ARD-Wirtschaftsmagazin „Plusminus" bereits ein ähnlicher Verdacht zum Fall der Chemiefabrik Wolfen geäußert. Auch hierfür zeichnet der Unternehmensbereich U 6 unter Leitung von Professor Schraufstädter von der Bayer AG verantwortlich. Ein dort ebenso angestellter Mitarbeiter ist Mitglied des Aufsichtsrates der MFAG und nimmt die Interessen der Treuhandanstalt wahr. Derselbe Mitarbeiter soll sich unlängst noch vor dem Treuhandkabinett geäußert haben, daß in nächster Zeit existentielle Probleme in der MFAG nicht anstünden.
Dies alles bestärkt mich in meiner Meinung, daß es im Interesse vor allem der betroffenen Beschäftigten und der weiteren Glaubwürdigkeit der Treuhand dringend notwendig ist, den Unterausschuß Treuhandanstalt des Haushaltsausschusses des Bundestages baldmöglichst mit diesem Thema zu befassen.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, Zwischenfragen in der Aktuellen Stunde sind nicht zulässig.Nun hat unser Kollege Dr. Hans-Hinrich Knaape das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992 9517
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte beginnen mit einem Zitat unseres verehrten Bundeskanzlers aus seiner Rede „Priorität für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern" vom 30. September 1992 in Leipzig:
Die Bürger in den neuen Bundesländern spüren sehr wohl, daß sich ihre persönliche Situation schrittweise verbessert. Eines ist sicher: Mit Schwarzmalerei und Krisengerede wird niemandem geholfen. Damit werden weder Investoren geworben noch Arbeitsplätze geschaffen. Was wir brauchen, ist Realitätssinn, Augenmaß und ein Gespür für das Machbare.
Die auf der Zuschauertribüne sitzenden Kollegen der Märkischen Faser AG aus Premnitz im Land Brandenburg werden den Hinweis auf Realitätssinn, Augenmaß und das Gespür für das Machbare als Verhöhnung empfinden; denn ihre nackte Existenz ist bedroht.
In einer Stadt von 11 000 Einwohnern arbeiteten vor der Wende rund 6 900 in dem größten Synthetikfasererzeuger der ehemaligen DDR. Die SED, aus der die Nachfolgeorganisation PDS hervorgegangen ist, die sich heute in der Aktuellen Stunde als Anwalt der verschaukelten Premnitzer darstellen möchte, hat es unterlassen, außer dem Chemiekombinat weitere Industriezweige in Premnitz anzusiedeln. Das Ergebnis war, daß auf Grund der Marktstruktur und des Unternehmenskonzeptes das Chemiefaserwerk Premnitz — jetzt als Märkische Faser AG — vom Leitungsausschuß des Bundesfinanzministeriums im Herbst 1990 als nicht sanierungsfähig eingestuft wurde und die Stillegung bis spätestens zum 1. Juli 1992 erfolgen sollte.
Aber anstatt aus dieser Erkenntnis heraus strukturpolitische Konsequenzen für die Region Premnitz zu ziehen und die Voraussetzungen für die Gewerbeansiedlung in dieser strukturschwachen Region zu schaffen, verscheuerte — anders kann man es nicht bezeichnen — die Treuhandanstalt trotz der Kenntnis, daß sich eine Produktkombination von Acryl, Polyester und Viskose auf Grund der im wesentlichen veralteten Installation, verbunden mit Überkapazitäten im westeuropäischen und internationalen Marktgebiet in seiner Gesamtheit als nicht sanierungsfähig erweise und eine Aufspaltung in die einzelnen Produktsegmente des Unternehmens notwendig wäre, das Gesamtunternehmen an die Alcor Chemie AG aus der Schweiz.
Diese ließ sich nicht in die Karten schauen. Durch Vorbehaltsklauseln gedeckt, sollten erst nach dem Vertragsabschluß die Wirtschaftspartner genannt werden. Aber das ist nur das eine.
Zuerst wurden von den 6 900 Arbeitnehmern 4 700 nach Hause geschickt. Neben dem Verlust der Arbeitsplätze erhielt die Märkische Faser AG noch 170 Hektar Betriebsfläche außerhalb des Werkzaunes dazu, die entsprechend dem Kommunalvermögensgesetz der Stadt Premnitz hätten übertragen werden müssen.
Der Vertrag sah eine einvernehmliche Regelung zwischen der Märkischen Faser AG bzw. der Alcor Chemie und der Stadt Premnitz voraus. Zu dieser kam
es jedoch nicht, da sinnigerweise der Treuhandvorstand einem Vertrag zugestimmt hatte, in dem die Beschlußformel steht, daß „die Prüfung und Feststellung der Rechtmäßigkeit von Ansprüchen durch die Käuferin erfolgt".
Diese tat sich selbstverständlich schwer, prüfte, verzögerte und überführte werthaltige Anteile an die Alcor Chemie in einem Umfang, der den Aufwendungen an Liquiditätseinschuß durch die Alcor Chemie entsprach, so daß die Treuhandanstalt jetzt feststellt, daß der Erwerber, also die Alcor Chemie, keinerlei Eigenmittel in das Unternehmen eingebracht hat.
Der Bundesfinanzminister läßt hingegen in einer Hochglanzbroschüre mit dem Titel „Mehr Markt — Weniger Staat" verbreiten: Beispiel entschlossener Sanierung mit Hilfe der Treuhandanstalt: Märkische Faser AG, November 1991. Der Betrieb ist pleite. Die Arbeiter stehen auf der Straße.
Was wird erfolgen? Inzwischen verhandelt das Land Brandenburg darüber — und so, wie sich heute nachmittag in Potsdam in der Staatskanzlei zeigte, mit einigem Erfolg —, daß dieser Industriestandort mit großer Sicherheit gerettet werden kann, ein Lösungsweg gefunden worden ist, der zu einem positiven Ergebnis führt.
Bleibt zu hoffen, daß es auch in der Folge so weitergeht, wie es der Bundeskanzler in der anfangs erwähnten Rede gesagt hat:
Wir müssen einen vernünftigen Konsens in Grundfragen der Wirtschafts-, Finanz- und Lohnpolitik finden, und es bleibt dabei: Alles, was wir in diesem Bereich tun, muß unter der Überschrift stehen: Aufschwung Ost hat Vorfahrt in Deutschland!
Schön wäre es, wenn Wort und Tat des Kanzlers immer übereinstimmen würden!
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Werner Zywietz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Treuhand — das wissen wir — hat ohnehin eine schwierige Aufgabe zu leisten bei der Umwandlung der sozialistischen Überlassenschaften, um sie in marktfähige Unternehmen, in marktfähige Produkte zu überführen. Aber ich gebe zu, soweit ich mich hier mit diesem Sachverhalt auseinandersetzen konnte: Dies scheint unter verschiedenen Gesichtspunkten ein besonders schwieriger Fall in diesem ohnehin schon schwierigen Arbeitsbereich zu sein.Nur, ich frage ein bißchen ernster — wenn ich hier hinüberschaue —, wer hier eigentlich zum Kläger, zum politischen Ankläger taugt und wer hier schnellere Richtersprüche macht für das, was im Sinne des Betriebes, der Bevölkerung, der Stadt, der Region richtig wäre. Nach meinem Kenntnisstand ist es nicht so einfach, wie ich das hier einleitend gehört habe. Diese Situation mit diesen Produkten, mit der unzureichenden Qualität, mit den schwierigen Absatzmärkten, ist nicht eine Situation, die von der Koalition
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9518 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Oktober 1992
Werner Zywietzoder den „ Wessis " — wie immer man es nennen will — gemacht worden ist, sondern es ist leider eine Situation, die wir vorgefunden haben und die wir zu verbessern versuchen.
— Sie haben doch den ganzen Schrott hinterlassen!
Das ist doch das Faktum.Ich gebe zu, nach den Erfahrungen, die wir gemacht haben: Sie können in der Hotellerie, Sie können im Leistungsbereich eher privatisieren und sanieren, weil eine Gaststätte im Südharz vielleicht mit einer Gaststätte in Goslar im Wettbewerb steht. Aber bei der Industrieproduktion ist es besonders schlimm, weil man nicht nur den abgeschotteten alten Markt mit den vorhandenen Qualitäten und Kosten hat, innerhalb dessen nur in die Sowjetunion geliefert wurde, sondern auch mit Bayer Leverkusen, mit der englischen Chemie, mit der französischen Chemie, mit der amerikanischen Chemie konkurrieren muß. Übrig bleibt dann ein nicht wettbewerbsfähiges Unternehmen. Das war die Ausgangsposition. Das ist durch die Treuhand auch so festgestellt worden.Von Anfang an ist demzufolge den Hauptbeteiligten klar gewesen, daß die Sachlage äußerst schwierig ist. Man wußte, daß diese Probleme äußerst schwierig zu lösen sein werden. Man hat guten Willen gezeigt, und sich darangemacht, diese äußerst schwierige Situation zu verbessern.Ich sage nicht: Es ist gelungen! Es ist leider bislang nicht gelungen. Aber es kann auch niemand behaupten, er wisse genau, wo es langgeht. Wer vorgibt, zu wissen, wo es langgeht, der will sich nur den Schweiß anderer zunutze machen, will beispielsweise Steuergelder in Anspruch nehmen, ohne daß eine Zielperspektive vorliegt, die zeigt, mit welchem Aufwand bei wem etwas verbessert werden kann. Das ist die Situation!
Bisher galt folgendes: Keiner wollte das Unternehmen haben. Es gab Überkapazitäten; die Qualität war unzureichend. Bisher war es weder national noch international möglich, einen privaten Investor zu finden. Das Leitungsgremium der Treuhand ging deshalb angesichts dieser Tatsache davon aus, daß man es wohl stillegen müsse. Das hat man dann jedoch nicht gemacht, weil nach entsprechenden Verhandlungen ein Übernahmeabschluß zustande kam. — Einzelheiten kann ich wegen der Kürze der Zeit jetzt nicht nennen. — Dabei ist man dem Interessenten entgegengekommen. — Sie haben das ein Bonbon genannt —, um die schwierige Situation zu meistern. Ob der Erwerber von Anfang an guten Willens war, lasse ich offen. Ich bin nicht der Staatsanwalt, ich kann das nicht hinreichend überprüfen.
— Sie sind der schlechteste Berater und Lehrmeister in dieser ganzen Angelegenheit; das muß ich Ihnen wirklich einmal sagen!
Ihnen, Frau Dr. Enkelmann, fehlt es an jeglicher Ernsthaftigkeit. Sie wollen hier nur polemische Schlagworte verbreiten und Stimmung machen.
Lösungsansätze sind bei Ihnen nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Sie sind die Bankrotteure und eignen sich nicht als Berater fürs Bessermachen.
In der jetzigen schwierigen Situation sind verschiedene Lösungsansätze denkbar. Der Erwerber, der bisher nicht die beste Figur gemacht hat — weder im fachlichen Management, noch in seinen übrigen Anstrengungen —, muß anders auftreten. Er müßte sowohl in der Leitung als auch in seinem ganzen Engagement mehr bieten.
Ist er dazu nicht in der Lage, so gibt es — aus der Sicht des Unternehmens, der Region und der Mitarbeiter — nur zwei anständige Wege: Die Treuhand könnte — das wäre jedoch nicht üblich — eine Rücknahme des Unternehmens ins Auge fassen; darüber könnte nachgedacht werden. Nimmt die Treuhand es jedoch zurück, dann muß sie es in Gänze zurücknehmen; sie darf es nicht gefleddert und ausgeschlachtet zurücknehmen. Es darf nicht so sein, daß die Treuhand den Schrott erhält, während der ursprüngliche Erwerber mit den brauchbaren Unternehmensteilen über den Deister geht.
Die Devise muß lauten: ganz oder gar nicht. Der freiwillige Weg der Rücknahme wäre — wenn auch kein ganz angenehmer — ein guter Lösungsweg. Aber, wie gesagt, dann bitte ganz: nicht ausgeschlachtet, nicht gefleddert, ohne Gewinnmitnahme.
Dann können wir darüber reden und einen neuen Ansatz suchen.Der andere Weg wäre die Liquidation. Ich kann verstehen, wenn man sagt: „Liquidation" ist ein schlimmes Wort. Ich kann verstehen, wenn man damit die Vorstellung verbindet, daß dann alles ganz schlecht wird.
Herr Kollege Zywietz, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen. Sie müssen zum Schluß kommen.
Man kann aber auch sagen: Liquidation ist unter bestimmten Umständen positiv; sie muß nur richtig gehandhabt werden. Man benötigt dazu eine begleitende Auffanggesellschaft, an der sich andere beteiligen müssen, z. B. das Land Brandenburg. Die Mitarbeiter müssen eine Chance bekommen. Eine begleitende Auffanggesellschaft
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Werner Zywietzmuß das Personal, die Maschinen und die Flächen für ein neues Konzept koordinieren. Ich halte einen solchen Weg unter ökonomischen Gesichtspunkten sogar für den sinnvollsten.
Herr Kollege Zywietz, Ihre Redezeit ist weit überschritten. Ich muß Sie bitten, aufzuhören.
Eine Konkursauffanggesellschaft wäre der Weg, den ich empfehle. Auf diesem Weg werden wir die Region und die Mitarbeiter unterstützend begleiten.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Herr Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, unser Kollege Dr. Joachim Grünewald.
Herr Präsident! Werte Kollegen! Unter Würdigung der verständlicherweise sehr besorgten und sehr kritischen Diskussionsbeiträge will ich mich zunächst bemühen, die bisherige Entwicklung der Märkischen Faser AG ganz nüchtern und ganz objektiv nachzuzeichnen.Die Märkische Faser AG befand sich seit 1990 in einer krisenhaften Absatzsituation. 1991 arbeitete das Unternehmen mit einer Kapazitätsauslastung von nur rund 50 %. Der Leitungsausschuß bei der Treuhandanstalt — darauf hat Herr Dr. Knaape hingewiesen — hat dieses Unternehmen deshalb als nicht sanierungsfähig eingestuft und aus betriebswirtschaftlicher Sicht die Gesamtvollstreckung empfohlen.Diese Empfehlung wurde wie folgt begründet: Erstens. Die Markt- und Kostensituation des Unternehmens sind schwach und werden es bleiben. Zweitens. Das Unternehmen bewegt sich hauptsächlich auf stagnierenden bis schrumpfenden Märkten. Drittens. Die Produktqualität ist auf westlichen Märkten kaum zu vermarkten. Viertens. Der Marktzugang auf den europäischen Märkten ist kaum gelungen. Ein größerer Marktanteil wäre nur durch Verdrängungswettbewerb möglich.Im Ergebnis bedeutete dies, daß die Märkische Faser AG nur eine Überlebenschance hatte, wenn sich ein Übernahmepartner fand, der das Unternehmen weiterführt.Allein bis zum Zeitpunkt der Prüfung durch den Leitungsausschuß im August 1991 hatte die Treuhandanstalt rd. 422 Millionen DM Altkredite erlassen sowie Liquiditäts- und Investitionskredite gewährt.Bereits 1990 hat die Treuhandanstalt begonnen, mögliche Erwerbsinteressenten anzusprechen. Um auch auf internationaler Ebene Interessenten zu finden, hat sie eine Investmentbank eingeschaltet. Sämtliche Versuche der Investmentbank schlugen jedoch fehl. Es bestand kein Interesse, zusätzliche Produktionskapazitäten auf den durch Überkapazitäten gekennzeichneten westlichen Märkten zu erwerben.Auf Grund des im Frühsommer 1991 bekundeten Erwerbsinteresses der Alcor Chemie AG, Schweiz, hat die Treuhandanstalt eine andernfalls unumgängliche Stillegung bis Ende 1991 aufgeschoben, damit diese letzte Privatisierungschance für die Märkische Faser AG ausgelotet werden konnte.Im Interesse des strukturschwachen Standorts Premnitz strebte die Treuhandanstalt eine Privatisierung des Gesamtunternehmens an. Dies hat die Alcor Chemie als einziger Investor angeboten. Die Alcor Chemie legte der Treuhandanstalt ein schlüssiges Übernahmekonzept mit einer Sicherung von Absatzmärkten für die Gesamtproduktion der Märkischen Faser AG vor.Um die Bonität der vorgesehenen Investitionsmaßnahmen zu sichern, hat die Treuhandanstalt die Benennung der Wirtschaftspartner gefordert. — Sie hat also — anders als dies soeben gesagt wurde — geprüft. — Bei Nichtbenennung der Wirtschaftspartner war sogar vorgesehen, daß die Alcor Chemie eine Bürgschaft in Höhe von 100 Millionen DM zu stellen habe, um die Investitionsmittel abzusichern.Die Alcor Chemie ist aber der Forderung der Treuhandanstalt nachgekommen. Sie hat Wirtschaftspartner aus der damaligen Sowjetunion benannt, die den Absatz der Märkischen Faser AG durch einen Globalvertrag über den Zeitraum von fünf Jahren mit einer Verlägerungsklausel auf weitere fünf Jahre sicherten. Die Wirtschaftspartner waren staatliche Organisationen der vormaligen Sowjetunion. Ferner war vorgesehen, daß sich diese Wirtschaftspartner im Verlauf von fünf Jahren bis zu 50 % an der Märkischen Faser AG beteiligen würden.Darüber hinaus, Frau Kollegin Dr. Enkelmann, hat die Alcor Chemie eine ausreichende Bonitätsauskunft einer Schweizer Großbank vorgelegt. Sie hat sich also nicht, wie Sie meinten, wie ein Pferdehändler betätigt.Der Privatisierungsvertrag mit einer Arbeitsplatzzusage für rd. 2 000 Beschäftigte konnte also am 1. November 1991 wirksam werden. Der Verwaltungsrat der Treuhandanstalt hat diesen Vertrag nicht aus betriebswirtschaftlichen Gründen, sondern nur in Anerkennung der schwierigen arbeitsmarktpolitischen Situation in dieser strukturschwachen Region genehmigt.In dem Unternehmen war seit etwa Ende April 1992 bekannt, daß die beabsichtigte Beteiligung der Wirtschaftspartner sowie die zugesagte Absatzsicherung in den neu entstandenen GUS-Staaten kurzfristig nicht durchführbar war.Die Treuhandanstalt hatte dem Erwerber bereits zum Zeitpunkt des Eigentumsübergangs branchenkundige und markterfahrene Persönlichkeiten für das Management zur Verfügung gestellt, die kurzfristig ein den neuen Umtänden entsprechendes Unternehmenskonzept hätten entwickeln können. Das wurde von Alcor damals und auch in der Folgezeit leider abgelehnt.Anfang Mai 1992 hat die Treuhandanstalt ferner angeboten, die gesamten nicht betriebsnotwendigen Immobilien zum Verkehrswert zu erwerben, da die geplante Beleihung nicht realisiert werden konnte.
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim GrünewaldDabei mußte allerdings leider festgestellt werden, Herr Kollege Wonneberger, daß über werthaltige Grundstücke zugunsten der Alcor selbst teilweise schon verfügt worden war. Es ist leider bis heute nicht gelungen, die Alcor Chemie zur Rückgabe der an sie übertragenen Grundstücke und Immobilien zu bewegen.Nach mehreren Gesprächen der Treuhandanstalt mit dem Land Brandenburg haben beide eine gemeinschaftliche Aktion beschlossen. Dabei geht es darum, die heute noch in der Märkischen Faser vorhandenen nicht betriebsnotwendigen Grundstücke und Immobilien zum Verkehrswert zu erwerben. Ziel dieser Gemeinschaftsaktion ist es, kurzfristig Liquidität bis zu 25 Millionen DM in das Unternehmen einzubringen.Die Alcor Chemie hat dem geplanten Geländeverkauf an das Land Brandenburg und an die Treuhandanstalt inzwischen Gott sei Dank zugestimmt. Diese kurzfristige Liquiditätssicherung soll die Märkische Faser in die Lage versetzen, den fälligen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen und insbesondere ein alternatives Unternehmenskonzept zu erarbeiten. Um diese Maßnahmen nicht zu gefährden — das ist der alleinige Grund, Herr Kollege Wonneberger —, verzichtet die Treuhandanstalt vorläufig — ich betone: vorläufig — auf die ihr zustehenden Pönalen.Die Treuhandanstalt hat weit über den Zeitpunkt der Privatisierung der Märkischen Faser hinaus ihre fachliche Unterstützung angeboten. Dieses Angebot gilt auch weiterhin. Das ist gegenüber einem Privatunternehmen zweifellos ungewöhnlich, aber ich halte das in dieser besonderen Situation für uneingeschränkt richtig.Eine Lösung der Probleme am Standort Premnitz kann jedoch nur durch intensive Bemühungen aller für die Strukturpolitik Verantwortlichen gefunden werden. Die wiederholt geforderte Rücknahme des Unternehmens durch die Treuhandanstalt ist aus grundsätzlichen Überlegungen nicht möglich.Wichtig für die Zukunft der Märkischen Faser ist:Erstens. Die durch das Land Brandenburg und die Treuhandanstalt ermöglichte kurzfristige Liquiditätssicherung muß von dem Unternehmen für die Entwicklung eines neuen Unternehmenskonzeptes konsequent genutzt werden.Zweitens. Das Angebot der Treuhandanstalt, fachliche Managementerfahrung zur Verfügung zu stellen, muß endlich angenommen werden.Drittens. Die strukturpolitischen Möglichkeiten des Landes, z. B. in Form eines Industrie- und Gewerbeparks mit Neuansiedlung chemienaher und anderer Unternehmen, müssen voll ausgeschöpft werden. Dann — so hoffen wir alle — hat dieses Werk auch eine Zukunftschance.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, nunmehr hat unser Kollege Gunter Weißgerber das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist vorhin einiges in Richtung PDS gesagt worden. Ich gelte zwar nicht als Freund der PDS — das ist bekannt —, aber für die letzten zwei Jahre kann man sie wahrscheinlich doch nicht verantwortlich machen.An sich geht das heutige Thema verbal am Kern völlig vorbei. In Wahrheit steht doch nicht die Treuhand zur Debatte, sondern die Nichtwirtschaftspolitik der Bundesregierung, über die wir sprechen sollten. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum die gesamten Prügel — auch wenn teilweise berechtigt — immer nur der Treuhandanstalt verabreicht werden sollen. Erstens ist die Treuhandanstalt ein Instrument der Bundesregierung, und zweitens ist eine pauschale Kritik an dieser Anstalt und damit an ihren Mitarbeitern nicht zu vertreten.So frage ich die Bundesregierung, warum in Premnitz und anderswo keine Strukturpolitik gemacht wird.
Wie gedenkt die Bundesregierung privatisierte Betriebe zu begleiten bzw. gemachte Zusagen zu kontrollieren, um ein Fiasko künftig möglichst zu vermeiden?
Wie gedenkt die Bundesregierung mit den sich daraus ergebenden strafrechtlichen Belangen umzugehen? Die Katastrophe von Premnitz wäre jedenfalls mit Engagement zu lindern gewesen. Keinen einzigen Versuch einer Neuansiedlung hat es in den letzten zwei Jahren im dortigen Territorium gegeben. Das spricht für sich und für das mangelnde Verantwortungsgefühl der Bundesregierung. „Alleiner" kann man die Menschen nicht lassen! Die Akzeptanz von extremen politischen Verhaltensweisen wird zwangsläufig zunehmen.Ein weiteres Beispiel von Dilettantismus, Gleichgültigkeit oder „aktiver Sterbehilfe" für ostdeutsche Betriebe ist aus meinem Wahlkreis zu berichten. Die Robotron Anlagenbau GmbH Leipzig wurde mit Wirkung vom 2. September 1992 in den Bereich Abwicklung überführt. Der Zwang, von nun an in der Betriebsbezeichnung das Kürzel „i. L." tragen zu müssen, schlägt jeden ernsthaften Kunden in die Flucht. Hier liegen bereits genügend Erfahrungen vor. Das ist wie im Falle der Motorradwerke Zschopau eindeutig das Todesurteil für diesen Betrieb mit immerhin noch 670 Mitarbeitern. Und völlig unverständlich wird der Vorgang in Anbetracht der noch Begebenden Liquidität des Unternehmens.Allerdings verdient Erwähnung, daß die Einordnung in die Liquidation nach einer berechtigten Betriebsbesetzung durch die beunruhigte Belegschaft im August erfolgte. Zwar vermochte man dadurch die bis dato unter Treuhandaufsicht völlig untätige Geschäftsführung abzulösen, doch werden solche Art Sünden selbstverständlich sofort bestraft, und zwar durch Verleihung des Ehrentitels „i. L.". Die Moral von der Geschicht': Wer aufmuckt, bekommt eins auf
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Gunter Weißgerberdie Mütze. Genau das aber hatten wir im Herbst 1989 in der damaligen DDR abgeschafft.Für den Betrieb Robotron Leipzig ist die Aufhebung des Liquidationsbeschlusses unbedingt erforderlich. In Anbetracht der großen wirtschaftlichen, weltpolitischen und sozialen Chancen des Jahres 1990 für Deutschland muß ich sagen, daß mir angesichts der heutigen wirtschaftlichen Stümperei und der frevelhaften Eigentumsnarretei, gelinde gesagt, ziemlich übel wird.
— Es ist so, so stellt es sich mir dar. — Im übrigen brauchen wir eine neue Bundesregierung.
Frau Kollegin Susanne Jaffke, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß um diese Zeit immer noch ein paar Kollegen und Kolleginnen hier sind.
Die Märkische Faser AG war im Herbst 1990 vom Leitungsausschuß des Bundesfinanzministeriums als nicht sanierungsfähig eingestuft worden; das ist hier schon mehrfach betont worden. Die Gründe für die Gesamtvollstreckung lagen auf der Hand: Die vorhandenen Produkte waren in den westlichen Märkten nicht absetzbar, das Unternehmen hätte sich demzufolge ausschließlich auf stagnierenden bis schrumpfenden Märkten bewegt, und die Markt- und Kostensituation des Unternehmens wäre schwach geblieben.
Erst auf Grund des Angebotes der Alcor Chemie AG im Frühsommer wurde der Stillegungsbeschluß bis spätestens 1. Januar 1992 aufgeschoben. Nur mit einem privaten Investor hatte die Märkische Faser AG Überlebenschancen. Bereits während der ersten Verhandlungsrunden mit der Alcor Chemie hat die Treuhandanstalt darauf hingewiesen, daß auf Grund der Größe und Struktur der Märkischen Faser AG eine Privatisierung nur mit Partnern möglich sei, die zum einen den Absatz sichern könnten und zum anderen als Teilhaber oder Mitaktionär des Unternehmens für eine ausreichende Absicherung der notwendigen Investmittel Sorge tragen könnten. Der Unternehmenserwerbsvertrag wurde daraufhin mit einer Vorbehaltsklausel versehen, die vorsah, daß nach Vertragsabschluß die Wirtschaftspartner zu benennen seien, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Sicherung der Bonität der vorgesehenen Investitionsmaßnahmen. Bei einer Nichtbenennung war vorgesehen, daß der Erwerber eine Bürgschaft in Höhe von 100 Millionen DM zu stellen habe.
Die Alcor Chemie ist dieser Forderung nachgekommen und hat Wirtschaftspartner aus dem Raum der ehemaligen Sowjetunion benannt, die den Absatz ihrer Produkte über den Zeitraum von fünf Jahren mit einer Verlängerungsklausel über weitere fünf Jahre sicherten. Diese Wirtschaftspartner waren stattliche
Unternehmen der früheren Sowjetunion. Die Alcor hatte sich als Unternehmen dargestellt, das über Kontakte zu nachgewiesenermaßen 24 Unternehmen der ehemaligen Sowjetunion verfügte. — Man muß sich einmal die heutigen Verhältnisse in Rußland vorstellen, und man wird feststellen, daß sie zum Teil chaotisch sind, nicht zuletzt deshalb, weil sich dort heute kaum jemand an bestehende Verträge hält. Ich denke, daß kann man weder der Treuhand noch der Alcor Chemie zum Vorwurf machen. — Weiterhin hat die Alcor Chemie eine ausreichende Bonitätsauskunft einer Schweizer Großbank zur Verfügung gestellt.
Die Treuhandanstalt und das Land Brandenburg haben eine Stillegung verhindert und dem Unternehmen eine Finanzierungshilfe von 25 Millionen DM zugesagt. Dabei geht es darum, die heute noch in der Märkischen Faser AG vorhandenen und nicht betriebsnotwendigen Grundstücke und Immobilien zum Verkehrswert zurückzuerwerben.
Diese kurzfristige Liquiditätssicherung soll die Alcor Chemie in die Lage versetzen, den fälligen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen und ein alternatives Unternehmenskonzept zu erarbeiten. Ein neues Unternehmenskonzept ist wichtig; vier Sachverständige der Treuhandanstalt sind bestellt, um dabei mitzuhelfen. Die Alcor Chemie wird auch ein eigenes Umstrukturierungskonzept vorlegen müssen, das eine Umstellung auf westliche Märkte beinhaltet. Übrigens steht heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein lesenswerter Artikel, aus dem hervorgeht, daß die gesamte chemische Industrie in Deutschland in diesem Jahr mit erheblichen Gewinneinbußen von bis zu 30 % zu rechnen hat. Für einen Aufschwung in nächster Zeit gibt es keine Anhaltspunkte.
Das Auslaufen der Verträge mit den Staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie das Fehlen von offensichtlich eingeplanten Anschlußaufträgen bewirken unweigerlich den Zusammenbruch des Unternehmens. Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, sich für die notwendigen Hermes-Bürgschaften stark zu machen. Zwar würde die Annahme von Hermes-Bürgschaften lediglich die halbe Miete für den Erhalt der Märkischen Faser AG bedeuten, doch der damit verbundene Zeitgewinn könnte der erforderlichen Umstrukturierung zugute kommen.
Die Treuhandanstalt sollte an dem Schweizer Erwerber festhalten und ihn in die Pflicht nehmen. Der Kaufvertrag darf nicht zurückgenommen werden. Eine Rücknahme des Unternehmens würde nicht nur einen Präzedenzfall schaffen, sondern auch unweigerlich zur Stillegung des Unternehmens führen. Ich denke, das wird sich niemand hier im Saal wünschen.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Holger Bartsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der vergangen Woche hatten wir hier eine Aktuelle Stunde zur wirtschaftlichen und sozialen Situation im Industriestandort Chemnitz;
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Holger Bartschauch hatten wir schon Aktuelle Stunden zur Situation der ostdeutschen Werften und der Brandenburgischen Stahlstandorte. Ich brauche sicher kein Prophet zu sein, wenn ich behaupte: Die Sitzungstage und Sitzungswochen werden wahrscheinlich nicht ausreichen, wenn wir zu jeder Industrieregion und zu jedem akut gefährdeten Industriestandort im Osten Deutschlands Aktuelle Stunden durchführen wollen.Die Entindustrialisierung im Osten Deutschlands schreitet voran, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. So sank z. B. im Bereich der Investitionsgüterindustrie die Nettoproduktion im Durchschnitt des zweiten Quartals 1992 in den ostdeutschen Ländern auf rund 42 % gegenüber dem gleichen Zeitraum des Jahres 1990, und die Beschäftigtenzahl im gesamten produzierenden Gewerbe sank von August 1991 bis August 1992 von rund 1 800 000 auf rund 950 000, also auf etwa 50 %.Premnitz ist nur ein Beispiel von vielen, wenn auch ein besonders tragisches und in seinem Ablauf besonders exemplarisches. Aus meiner Heimatregion, der Lausitz, kann ich Ihnen zahlreiche ähnliche Beispiele nennen die deutlich machen, daß wichtige — oft strukturbestimmende — Industriebetriebe weggebrochen sind, daß eine Arbeitslosenquote von 30 % und mehr — ohne ABM, Kurzarbeit usw. — schon traurige Realität ist und daß der Prozeß der Entindustrialisierung in vollem Gange ist. Beispielhaft will ich hier nur die Textilregion Forst in Brandenburg oder die Region Zittau im Freistaat Sachsen nennen, wo es im industriellen Bereich heute kaum noch Arbeitsplätze gibt.Meine Damen und Herren, ich bin nicht so naiv, zu glauben, daß die Mehrzahl dieser industriellen Niedergänge nicht vorprogrammiert war: vorprogrammiert durch die Ineffizienz der alten DDR-Betriebe, vorprogrammiert dadurch, daß diese Betriebe mit der Wirtschafts- und Währungsunion urplötzlich Weltmarktbedingungen ausgesetzt wurden. Was mich aber empört und umtreibt, ist die Tatsache, daß die Bundesregierung dies nicht vorausgesehen hat oder nicht hat voraussehen wollen. Noch heute stellt sich der Bundeskanzler hin und begründet den industriellen Niedergang im Osten damit, daß niemand — ich betone: niemand — den Zusammenbruch der Ost- und Binnenmärkte für die ostdeutsche Industrie voraussehen konnte. Wer mit sehenden Augen in der ostdeutschen Industrie tätig war — ich war das — und wer seine Informationen nicht nur aus den verordneten Erfolgsmeldungen der von der SED gleichgeschalteten Medien bezog, der wußte, daß die DDR-Wirtschaft in großen Teilen marode und technisch veraltet war. Bei allem Respekt: Mir war im Juni 1990 klar, daß große Teile der DDR-Industrie und ihr abgeschotteter Osthandel unter Weltmarktbedingungen ohne massive Hilfe das ist meiner Meinung nach der Knackpunkt — zusammenbrechen mußten.
Zur Wirtschafts- und Währungsunion gab es damals politisch und auch praktisch keine Alternative, wohl aber gab es Alternativen, was das fast völlige Fehlen wirtschaftspolitischer Begleitinstrumente betrifft. Aber damals haben wir von der Bundesregierung und aus dem Haus Möllemann mehr oder weniger nur allgemeine Parolen gehört. Was ich der Bundesregierung und Ihnen, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, vorwerfe, ist, daß Sie sich solche Begleitinstrumente viel zu spät, viel zu zögerlich und letztlich auch viel zu unvollständig abgerungen haben.
Es war ein Fehler, daß die Treuhand — in sinngemäßer Übernahme der Konzeption des letzten SED-Kabinetts Modrow — stark zentralistisch angelegt wurde; es war ein schwerwiegender Fehler, daß die Treuhand fiskalpolitisch strukturiert und der parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen ist; es war ein kaum noch wiedergutzumachender Fehler, daß sich die Treuhand per Gesetz immer wieder auf den Vorrang des Privatisierungs- vor dem Sanierungsauftrag berufen und den so dringend erforderlichen strukturpolitischen Auftrag schlicht zurückweisen kann.Die Treuhand macht Strukturpolitik, aber sie bekennt sich nicht dazu, was regional verheerende Folgen hat; Premnitz ist hier expemplarisch. Einen Betrieb, der nach Angaben der Treuhandanstalt schon im Herbst 1990 durch den Leitungsausschuß des Finanzministeriums als nicht sanierungsfähig eingestuft worden war und der für die Stadt der einzige Arbeitgeber und größte Besitzer von potentiellen Gewerbeflächen ist, einem Unternehmen zu übereignen, welches kaum Fachkompetenz vermuten läßt — und das bei mehr als zweifelhaften Bürgschaften —, kann man eigentlich nur als grob fahrlässig bezeichnen. — Die Premnitzer müssen sich schon veralbert vorkommen, Herr Grünewald, wenn Ihr Haus diese wunderschöne Hochglanzbroschüre verteilt, in der die Premnitzer Faser AG als Beispiel entschlossener Sanierung mit Hilfe der Treuhandanstalt dargestellt wird. —
Nicht nur, daß nunmehr alle industriellen Arbeitsplätze für die Kommune wegzubrechen drohen, der Kommune ist bzw. war bisher auf Grund der fehlenden Gewerbeflächen auch jegliche Chance für Neuansiedlungen genommen. Dies, meine Damen und Herren, ist nach meiner Auffassung Strukturpolitik im negativen Sinne, und auch das hat die Bundesregierung mit ihrem verfehlten Auftrag an die Treuhandanstalt zu verantworten.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Adolf Herkenrath das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir diese Aktuelle Stunde hier angehört und muß sagen, Sie haben in keiner Weise Vorschläge gemacht, was Sie anders machen würden als das, was zur Zeit hinsichtlich der sicherlich für uns alle nicht
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Dr. h. c. Adolf Herkenrathangenehmen Situation in Premnitz eingeleitet worden ist.Ich selbst melde mich hier als Rheinländer zu Wort, als einer, der im alten Bundesland Nordrhein-Westfalen geboren und aufgewachsen ist. Aber ich kann diese Aktuelle Stunde benutzen, um Ihnen zu sagen, daß die Situation, die in Premnitz besteht, selbst im Rheinland Wellen schlägt. In meinem Wahlkreis liegt die Stadt Niederkassel. Niederkassel hat mit Premnitz eine kommunale Partnerschaft. So ist auch in Niederkassel das Schicksal derer, die in Premnitz jetzt um ihre Existenz besorgt sind, Grund zur Sorge. Die Niederkasseler sind z. B. an ihren Bundestagsabgeordneten herangetreten und haben gefragt: Was tust du für Premnitz?
Ich konnte antworten, daß ich mich um die Situation in Premnitz kümmere und darum bemühe, bei der Lösung der Probleme dort zu helfen.Hier Vorwürfe gegen die Bundesregierung, was ihre Strukturpolitik betrifft, zu richten, ist ungerechtfertigt. Vom Kollegen Wonneberger ist soeben schon richtig darauf hingewiesen worden: Strukturpolitik ist vorwiegend Sache der Länder und natürlich auch der Kommunen.
Wir erleben hier, wie gefährlich es ist, wenn eine Kommune von einem Arbeitgeber abhängig ist. So ist die Situation in Premnitz, und so ist wahrscheinlich auch die Situation in vielen anderen Kommunen der DDR. Das kann man nicht über Nacht ändern.Ich will den Sachverhalt jetzt gar nicht weiter vertiefen; wir haben ihn von verschiedenen Seiten und unter verschiedenen Aspekten beurteilt bekommen. Nur soviel: Ich bin in meiner Stadt Siegburg, die in der Nachbarschaft von Niederkassel liegt, 25 Jahre Bürgermeister gewesen, und genau vor 21 Jahren hat die Stadt Siegburg in der Marktwirtschaft der Bundesrepublik dasselbe erlebt. Es war zufällig auch eine Chemiefaserfabrik, die, von der BASF aufgekauft, damals über Nacht geschlossen wurde. Das war dann die Stunde der Kommunalpolitiker, der Landespolitiker und auch der Politiker des Bundes.Was die Situation in Premnitz angeht, so kann man sie, wie gesagt, nicht über Nacht verändern. Aber man kann erfreut feststellen, daß z. B. die Kommunalpolitiker in Premnitz in der kurzen Zeit schon viel gelernt haben. Ich muß ihnen ein Kompliment für das machen, was dort an Aktivitäten, Anregungen und Initiativen — durch den Landrat, den Bürgermeister und die Vertreter der Parteien im Rat — zustande gebracht worden ist. Ich kann sie nur ermuntern, mit gesundem Selbstbewußtsein sowohl gegenüber der Treuhand als auch gegenüber dem Konzern aufzutreten. Sie haben die Planungshoheit. Sie haben das Recht, für die Liegenschaften der Stadt, die hier zur Debatte stehen, ihre planerischen Konzeptionen zu entwikkeln, und sie können da einiges bewegen.Ich möchte den Premnitzer Kommunalpolitikern — auch als kommunalpolitischer Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion — anbieten, dabei mit Ratund Tat Hilfestellung zu geben. Mich haben Premnitzer schon besucht, und wir haben die Dinge durchgesprochen. Ich bin zuversichtlich, daß eine Lösung gefunden wird, die nur möglich ist, weil wir auch in neuen Bundesländern die Soziale Marktwirtschaft einführen werden.Danke schön.
Ich erteile dem Kollegen Hinrich Kuessner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema ist wieder einmal: Bei der Umstrukturierung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern darf die Bundesregierung nicht nur zuschauen. Die Gestaltungskraft dieser Regierung ist gefragt.Die Treuhandanstalt stellte im Herbst 1990 fest, daß die Märkische Faser AG nicht sanierungsfähig ist. Damals hätte Wirtschaftspolitik einsetzen und in der Region Alternativen entwickeln müssen. Man kann nicht eine ganze Stadt verkaufen und dann von der Kommune fordern, daß sie Wirtschaftspolitik betreibt. Das kann sie nicht. Zwei kostbare Jahre sind veschenkt worden.Das Bundesministerium der Finanzen muß folgende Fragen beantworten:Erstens. Wurde die Bonität des Käufers bei Vertragsgenehmigung genügend geprüft? Daß 1991 staatliche Organisationen aus der Sowjetunion als Wirtschaftspartner akzeptiert wurden, läßt für mich Fragen offen.Zweitens. Warum hat das Bundesministerium der Finanzen zugelassen, daß die Interessen der Kommune nicht berücksichtigt wurden?Drittens. Jetzt höre ich, daß das Bundesministerium der Finanzen einen Antrag für eine OsthandelsHermes-Bürgschaft aufhält. Wann wird das Bundesministerium der Finanzen grünes Licht geben?Diese Fragen sind heute nicht beantwortet worden. Ich werde sie erneut im Unterausschuß Treuhand stellen.
Das Beispiel Premnitz zeigt, daß diese Bundesregierung von sich aus nicht auf die Menschen in den neuen Ländern zugeht und Politik nicht mit ihnen zusammen macht. Die Antwort auf die Fragen nach dem Weg in die Zukunft wird fernab in Bonner Amtsstuben gesucht. Die Antwort muß aber zusammen mit den Menschen vor Ort gesucht werden.Unsere Forderungen an die Bundesregierung sind:Erstens. Machen Sie eine aktive regionale Strukturpolitik! Um Industriestandorte zu sichern, sind Schwerpunkte industrieller Entwicklung zu schaffen. Dabei ist die technologische und ökologische Modernisierung voranzutreiben. In der Übergangszeit muß sich die öffentliche Hand an ausgewählten sanierungswürdigen Unternehmen direkt beteiligen und vorwärtsgerichtete Investitionen finanzieren.
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Hinrich KuessnerZweitens. Geben Sie der Treuhandanstalt endlich einen offiziellen Sanierungsauftrag! Sanierung muß gleichwertig neben der Privatisierung betrieben werden. Nur so wird man eine Entindustrialisierung in den neuen Ländern verhindern können!Drittens. Schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, daß mehr Einheimische Eigentümer und Geschäftsführer werden können.Viertens. Bekennen Sie sich dazu, daß in den neuen Ländern Industriestandorte erhalten bleiben, und fördern Sie das politisch! Dazu gehört die Anhebung der Investitionszulage auf 20 % oder alternativ das Angebot besserer Abschreibungssätze. Dazu kann die Vergabe von öffentlichen Aufträgen an sich in den neuen Ländern gründende Firmen gehören, z. B. Aufträge für die vielen Infrastrukturmaßnahmen, die durch die öffentliche Hand finanziert werden. Dazu kann die Finanzierung eines degressiven Lohnzuschlags aus dem Geldtransfer von West nach Ost gehören.Wozu haben wir ein Wirtschaftsministerium? Ich bin immer davon ausgegangen, daß man dort der Situation angemessene Instrumente entwickelt, damit Absatzperspektiven für Unternehmen in den neuen Ländern geschaffen werden.Fünftens. Lassen Sie sich auf die Probleme der Menschen in den neuen Ländern ein und führen Sie sie durch sinnvolle Beteiligungen in neu gegründeten Unternehmen heraus aus dem Nichtstun, dem Nichtgebrauchtwerden!Sechstens. Machen Sie die Entscheidungen der Treuhandanstalt für Betriebsrat, Gewerkschaften und Geschäftsführung durchsichtig! Binden Sie die Arbeitnehmervertreter in die Privatisierungs- und Sanierungsvorhaben ein!Es ist keine Zeit mehr für lange Debatten in Bonn und für die Ausformulierung von schwer umsetzbaren Gesetzen. Im Zusammenwirken mit einer aktiven Strukturpolitik müssen pragmatische Lösungen für Einzelbetriebe am Ort gefunden werden. Dabei müssen die vorhandenen ostdeutschen Kräfte in die Lösungswege einbezogen werden. Die Ausgestaltung der inneren Einheit in Deutschland braucht das Mitwirken möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger. Dann hat sie eine Chance und kann finanziert werden.
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege Dr. Rainer Jork das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme mit meinem Vorredner darin überein, daß pragmatische Maßnahmen gefragt sind. Gestatten Sie mir, daß ich dazu einige Angaben mache. Ich tue dies aus dem Blickwinkel eines Ingenieurs aus Sachsen, der vor mehreren Jahren mit der Automatisierungstechnik im damaligen Chemiefaserwerk Friedrich Engels, Premnitz, befaßt war, und in Abstimmung mit der CDU/CSU in Brandenburg.Brandenburgs Wirtschaftsminister Hirche fordert von der Treuhandanstalt, die Märkische Faser AG zurückzunehmen und nach neuen Investoren zu suchen. Ich bin sehr für neue Investoren, bin jedoch dagegen, daß die Alcor-Chemie AG aus der Verantwortung entlassen wird und vielleicht sogar noch Spekulationsgewinne erzielt.In diesem Sinne schlage ich vor, daß sich die Revisionsabteilung der Treuhandanstalt damit befaßt. Ähnliche Anliegen hatten wir in Sachsen.Überzeugende Konzepte der Landesregierung Brandenburg zum Erhalt von Industriestandorten, bezogen auf die MFAG, fehlen. Bisher reagierte man nur auf Druck von der Straße. Ich erinnere nur an Brandenburg, Henningsdorf, Fürstenwalde, Eisenhüttenstadt, Lauchhammer und jetzt Premnitz.Was soll jetzt in Premnitz getan werden?Zur Sicherung und Stabilisierung des derzeitigen Produktionsbetriebs der MFAG ist erstens sofort und unbürokratisch eine Liquidationshilfe des Landes und der Treuhandanstalt in Höhe von 25 Millionen DM bereitzustellen.Zweitens ist sofort die Bewilligung der von der MFAG beantragten Landesbürgschaften für die Kredite zu bestandssichernden Investitionen im Faserbereich erforderlich.Drittens ist sofort eine Entscheidung über die Bewilligung der Hermesbürgschaften für den Export in die GUS-Staaten durch das Bundeswirtschaftsministerium erforderlich.Viertens sind sofort und dauerhaft der Landkreis, die Stadt Premnitz und das Arbeitsamt in die Verhandlungen über die Zukunft des Industriestandortes Premnitz einzubinden.Ähnliche Maßnahmen sollten insgesamt für die Sicherung des Standorts, nicht nur des Betriebs, getroffen werden. Aus Zeitgründen kann ich darauf jetzt nicht eingehen. Im Bedarfsfall stehe ich gerne zur Verfügung. Die CDU in Brandenburg hat entsprechende Vorschläge unterbreitet.Erlauben Sie mir den Hinweis: Die Landesregierung ist gefragt. In Sachsen bestehen Probleme wie in allen anderen neuen Bundesländern. In meinem Wahlkreis befindet sich das Edelstahlwerk Freital. In diesem Plenum haben wir wiederholt darüber gesprochen. Auch das Uhrenwerk Glashütte — ein kleinerer, aber für den Standort sehr wichtiger Betrieb — ist dort typisch. Es gehören Mut, Risikobereitschaft und Entschlußkraft auch der Landesregierung dazu, diese Probleme der Region zu lösen.
Ich bin davon überzeugt, daß die Möglichkeit besteht, bei der Landesregierung in Sachsen oder auch beim Ministerpräsidenten Biedenkopf nachzufragen, wie man das handhabt.
Ich möchte darauf hinweisen, daß das nicht ohne Risiko möglich ist. Risiken müssen Sie gegebenenfalls eingehen. Zittau ist in den Lösungsprozeß in Sachsen
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Dr.-Ing. Rainer Jorkeinbezogen. Ich würde mich freuen, wenn Sie in der Lage wären, alle Probleme auf einmal zu lösen. Aber die Landesregierung ist nicht einmal die Lösung eines einzigen Problems angegangen.
Ich möchte einen Hinweis wiederholen: Die Revisionsabteilung der Treuhandanstalt muß dann zur Verfügung stehen — das ist aus meiner Sicht dringend notwendig —, wenn bei der Abrechnung offensichtlich Betrügereien auftreten, wenn z. B. hier in Premnitz der Wiederverkauf eines Objektes zu dem Fünffachen des ursprünglichen Preises diskutiert wird. Das sollten Juristen und auch Kriminalisten in die Hand nehmen. Ich möchte Sie als Abgeordnete in diesen Kreisen — ich habe ähnliche Probleme — ermutigen, daß Sie dort gemeinsam mit der Landesregierung nachhaken. Wir können uns — hierin sind wir uns einig — Unregelmäßigkeiten und Betrug nicht gefallen lassen.Ich schlage vor: Lassen wir die Polemik weg, kommen wir zur Sache!Danke.
Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Wir sind am Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Mittwoch, den 14. Oktober 1992, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.