Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Ich gebe zunächst bekannt, daß der Abgeordnete Bernd Henn mit Schreiben vom 21. Oktober 1991 mitgeteilt hat, daß er aus der Gruppe der PDS/Linke Liste ausgetreten ist. Er wird dem Deutschen Bundestag als fraktionsloser Abgeordneter weiterhin angehören.Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:a) Abgabe einer Erklärung der BundesregierungGipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der NATO in Rom sowie EG-Konferenz in Maastrichtb) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu den Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat— Drucksache 11/8265 —Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß Auswärtiger Ausschuß 1. mb Rechtsausschußc) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zur Wirtschafts- und Währungsunion— Drucksache 11/8266 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß EG-Ausschuß 1. mbAuswärtiger AusschußAusschuß für WirtschaftHaushaltsausschußd) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zum Zusammenhalt im Wirtschafts- und Währungsbereich— Drucksache 11/8268 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Finanzausschuß 1. mb Auswärtiger AusschußEG-Ausschuß Haushaltsausschuße) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu dem Verfahren der Zustimmung:Praxis, Verfahrensablauf und Ausblick in die Zukunft— Drucksache 11/8491 —Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß Auswärtiger Ausschuß 1. mbf) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu den Regierungskonferenzen im Rahmen der Strategie des Europäischen Parlaments im Hinblick auf die Europäische Union— Drucksache 11/8539 —Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß Auswärtiger Ausschuß 1. mb RechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Frauen und Jugendg) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu der Einberufung der Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion und über die Politische Union— Drucksache 11/8540 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß EG-Ausschuß 1. mbAuswärtiger AusschußRechtsausschußAusschuß für Wirtschafth) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
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4364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthEntschließung zur Wirtschafts- und Währungsunion im Rahmen der Regierungskonferenz— Drucksache 12/946 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Finanzausschuß 1. mb Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und SozialordnungEG-AusschußHaushaltsausschußi) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDZu den Verhandlungen der Bundesregierung in den EG-Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion— Drucksache 12/1434 —Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß Auswärtiger AusschußFinanzausschußHaushaltsausschußj) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu den verfassungsmäßigen Grundlagen der Europäischen Union— Drucksache 12/45 —Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß Auswärtiger Ausschuß 1. mb RechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnungk) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungStärkung der Rechte und Befugnisse des Europäischen Parlaments — Januar bis Dezember 1990 —— Drucksache 12/75 —Überweisungsvorschlag:EG-Ausschuß
Auswärtiger Ausschuß 1. mbAusschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungRechtsausschuß1) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu den Perspektiven für eine europäische Sicherheitspolitik: Die Bedeutung einer europäischen Sicherheitspolitik und ihre Auswirkungen für die Europäische Politische Union— Drucksache 12/940 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß EG-AusschußVerteidigungsausschuß m) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zur Unionsbürgerschaft— Drucksache 12/949 —Überweisungsvorschlag :EG-AusschußInnenausschuß Auswärtiger Ausschußn) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu einem allgemeinen Schema für Assoziierungsabkommen mit den Ländern in Mittel- und Osteuropa— Drucksache 12/600 —Überweisungsvorschlag :Auswärtiger Ausschuß EG-AusschußAusschuß für Wirtschafto) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zur Vollendung des Binnenmarktes: Annäherung der indirekten Steuern in der Gemeinschaft bis 1993 und danach— Drucksache 12/943 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß Ausschuß für WirtschaftEG-Ausschußp) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Versammlung der Westeuropäischen Unionüber die Tagung der Versammlung vom 3. bis 6. Juni 1991 in Paris— Drucksache 12/1082 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschußq) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über die Tätigkeit der Westeuropäischen Union für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1991— Drucksache 12/1084 —Überweisungsvorschlag :Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschußr) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung48. Bericht der Bundesregierung über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäischen Gemeinschaften
— Drucksache 12/1201 —Überweisungsvorschlag :EG-AusschußAusschuß für Wirtschaft
Auswärtiger AusschußRechtsausschuß FinanzausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4365
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitAusschuß für FremdenverkehrAusschuß für Post und Telekommunikation HaushaltsausschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache nach der Regierungserklärung drei Stunden vorgesehen. — Damit sind Sie einverstanden.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen in diesem Herbst vor zwei Gipfelbegegnungen, deren Beschlüsse für Deutschland und Europa von weit in die Zukunft weisender Bedeutung sein werden: dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der NATO am 7. und 8. November in Rom und dem Europäischen Rat am 9. und 10. Dezember in Maastricht.Wir wollen in diesen Tagen in Rom einlösen, was wir uns beim letzten NATO-Gipfel in London vorgenommen haben: die Anpassung des Bündnisses an die grundlegenden Veränderungen der letzten Jahre und die umfassende Neugestaltung seiner Politik und seiner Strategie.Das Bündnis hat sich als Garant von Frieden und Freiheit in ganz Europa erwiesen. Kein Geringerer als Präsident Vaclav Havel hat dies in seiner Rede vor dem NATO-Rat am 21. März 1991 zum Ausdruck gebracht, in der er das Bündnis als „eine durch und durch demokratische Verteidigungsgemeinschaft" charakterisierte, „die wesentlich dazu beigetragen hat, daß dieser Kontinent seit fast einem halben Jahrhundert von Krieg verschont geblieben ist und ein großer Teil Europas vor dem Totalitarismus bewahrt wurde " .Jetzt geht es darum, die politische Rolle des Bündnisses noch stärker zu entwickeln. Der bevorstehende NATO-Gipfel in Rom wird dem in einem zukunftsweisenden Konzept gemeinsamer transatlantischer Politik Rechnung tragen.Gewiß — jeder weiß es — : Die alte Bedrohung ist gewichen. Aber neue Risiken und Unwägbarkeiten sind an ihre Stelle getreten. Vorausschauende Sicherheitspolitik ist daher nicht überflüssig geworden. Es wäre leichtfertig, wenn wir die zentrale Aufgabe des Bündnisses aus dem Auge verlieren würden, die da heißt: Krisenbewältigung und Kriegsverhütung. Allein das Bündnis kann letztlich Gefährdungen für unsere Sicherheit, die auch für die Zukunft nicht völlig ausgeschlossen werden können, wirksam begegnen und das wichtige strategische Gleichgewicht in Europa wahren.Das Bündnis ist und bleibt zugleich das wesentliche Forum für Konsultationen und für die Vereinbarung von politischen Maßnahmen, die sich auf die Sicherheits- und Verteidigungsverpflichtungen seiner Mitgliedstaaten im Rahmen des Nordatlantikvertrages auswirken. Diese grundlegenden Funktionen wollen wir in der Gipfelerklärung ausdrücklich bekräftigen.Zugleich wollen wir deutlich herausstellen: Erstens. Das Bündnis bleibt das unverzichtbare Fundament für ein stabiles sicherheitspolitisches Umfeld in Europa.Zweitens. Die amerikanische Präsenz in Europa ist nicht nur aus militärischen Gründen, sondern auch als Garant politischer Stabilität unerläßlich.
Wir wollen in Rom auch das neue strategische Konzept der Allianz verabschieden, das die grundlegenden politischen Veränderungen in Europa berücksichtigt. Dabei geht es nicht nur um die militärische Komponente der Sicherheit, sondern auch um ihre politische, wirtschaftliche, soziale und nicht zuletzt ihre ökologische Dimension. Die Umsetzung dieser neuen Strategie wird zu einer deutlichen Reduzierung sowohl unserer als auch der verbündeten Streitkräfte in Europa führen. Unser Land, Deutschland, hat mit der Festlegung des Umfangs der Bundeswehr auf 370 000 Mann seinen Beitrag hierzu schon geleistet.Die Fähigkeit zur gemeinsamen integrierten Verteidigung wird ein ganz wesentliches Element auch der neuen Strategie bleiben. Auf die Entwicklung multinationaler Einheiten wird verstärkt Nachdruck gelegt werden.Die Rolle der Nuklearwaffen erfährt eine einschneidende Veränderung. Zwar wird die Allianz auch in Zukunft nicht auf nukleare Waffen verzichten können, jedoch wird — dies ist eine positive Entwicklung — ihre Struktur geändert und vor allem ihre Zahl ganz erheblich reduziert. Insgesamt wird der Bestand an Nuklearwaffen in Europa um etwa 80 % verringert.
Auf deutschem Boden wird es künftig keine landgestützten Nuklearwaffen mehr geben.Diese drastische Abrüstung ist ein eindeutiger Erfolg unserer Politik, deren Ziel bleibt: Frieden schaffen mit weniger Waffen.
In diesen Tagen werden wir in Rom auch darüber zu sprechen haben, wie das Bündnis dem Sicherheitsbedürfnis der neuen Demokratien in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Rechnung tragen kann. Die Antwort hierauf ist die Weiterentwicklung des sogenannten Liaison-Konzepts — bis hin zu institutionellen Schritten, wie sie jüngst der Bundesaußenminister HansDietrich Genscher und sein amerikanischer Kollege Jim Baker vorgeschlagen haben.In Rom wollen wir ferner unterstreichen, wie wichtig es ist, die KSZE-Strukturen weiterzuentwickeln, damit sie wirksamer als bisher für Krisensteuerung, Streitbeilegung und Konfliktverhütung genutzt werden können. Gemeinsam mit unseren Bündnispartnern werden wir uns für eine frühzeitige Ratifizierung und Anwendung des KSE-Vertrages einsetzen.Wir werden zugleich auf Fortschritte in den lauf enden Verhandlungen über Personalreduzierungen und weitere vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen drängen. Beide Verhandlungsforen müssen bis zum Helsinki-Folgetreffen im Frühjahr 1992 erfolg-
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4366 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlreich abgeschlossen werden. Im übrigen wollen wir die Verhandlungen über die Kontrolle der konventionellen Rüstungen in einem neuen Rahmen unter Einschluß aller europäischen Staaten fortführen.Die jüngste Abrüstungsinitiative von Präsident Bush und die positive Antwort von Präsident Gorbatschow haben die Chancen für weitere Abrüstung, vor allem im Kernwaffenbereich, nachhaltig verbessert.In diesem Zusammenhang — ich denke, das ist im Interesse des ganzen Hauses — ist es von entscheidender Bedeutung, wer in Zukunft die Kontrolle über die sowjetischen Kernwaffen ausüben wird. Es darf hier auf gar keinen Fall neue Unsicherheit entstehen. Wir vertrauen auf die Zusicherung von Präsident Gorbatschow, daß die sowjetischen Kernwaffen auch künftig unter zentraler Kontrolle bleiben. Aber ich denke, es ist wichtig, daß wir — Bundesregierung und Bundestag — heute auch zum Ausdruck bringen, daß dies ein gemeinsamer Wunsch Deutschlands ist, daß die Garantien wirklich dauerhaft gegeben werden.
Auf dem NATO-Gipfel wird auch die sicherheitspolitische Rolle Europas ein wichtiges Thema sein. Niemand stellt in diesem Zusammenhang in Frage, daß das Atlantische Bündnis auch in Zukunft von existentieller Bedeutung für Europa bleibt. Das entbindet uns Europäer allerdings überhaupt nicht von der Aufgabe, darüber nachzudenken, welchen spezifischen — vor allem auch politischen — Beitrag wir leisten können, um den neuen Herausforderungen und Risiken zu begegnen. Ich brauche nur das Stichwort Jugoslawien zu nennen und an die Heimsuchungen zu erinnern, die die Menschen dort täglich erleben.Wir kommen ganz einfach um die Frage nicht herum, welches Instrumentarium Europa benötigt, um mit derartigen Konflikten fertigzuwerden oder besser noch: ihnen vorbeugend begegnen zu können. Eine Antwort zumindest steht für mich fest: Ohne den Durchbruch zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik werden wir auch künftig vergleichbaren Entwicklungen nur unzureichend begegnen können.
Zur Recht hat Präsident Mitterrand vor kurzer Zeit in seiner Rede in Berlin vor den schwarzen Schatten der vergangenen Jahrhunderte gewarnt, die sich wieder auf Europa legen würden, wenn jedes Land in das traditionelle Denken in Einflußsphären zurückfiele. Die jüngste deutsch-französische Initiative hat daher vor allem zum Ziel, in dem für das europäische Schicksal entscheidenden Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik zu einem möglichst engen Schulterschluß zu kommen.Für mich ist klar — das will ich unterstreichen — : Ein vereinigtes Europa ist auf Dauer ohne gemeinsame europäische Verteidigung nicht denkbar.
Dies ist weder Ausdruck des Zweifels an der Beständigkeit des Atlantischen Bündnisses noch ein Versuch, konkurrierende Zuständigkeiten zu schaffen. Es geht einfach darum, daß die Europäer — übrigensauch im Sinne einer Lastenteilung — stärker zu ihrer eigenen Verantwortung stehen und den europäischen Pfeiler ausbauen, so wie es auch unsere transatlantischen Partner seit langem fordern.Es ist erstaunlich, welche Kritik dieser Vorschlag jenseits des Atlantiks gefunden hat, auch von manchen, die zum Teil seit Jahrzehnten die Europäer und die Deutschen mahnen, endlich selbst die Dinge in die Hand zu nehmen. Ich finde, das, was wir jetzt versuchen, entspricht der Linie einer Politik, die uns seit langem auch unsere amerikanischen Freunde empfehlen.Bereits in der gemeinsamen Botschaft vom 6. Dezember 1990 hatten Präsident Mitterrand und ich betont, daß wir zur Umsetzung der europäischen Sicherheitspolitik ein operatives Instrument brauchen und hierfür die WEU vorschlagen.
Die jüngste Initiative konkretisiert diesen Ansatz. Das Hauptgewicht liegt dabei auf der politischen Ausgestaltung der WEU. Es geht vor allem um eine regelmäßige Abstimmung der WEU-Mitgliedstaaten innerhalb der Allianz mit dem Ziel einer gemeinsamen Haltung in allen wesentlichen Fragen sowie um eine engere, auch personelle Zusammenarbeit zwischen Allianz und WEU einerseits und zwischen EG und WEU andererseits.Durch die Verlegung des WEU-Generalsekretariats nach Brüssel wird verdeutlicht, daß wir zusammenführen und nicht abkoppeln wollen.Parallel zur Verstärkung der politischen Rolle der WEU wollen wir ihre militärischen Strukturen in enger Zusammenarbeit mit der Allianz und in deren Ergänzung insbesondere durch folgende Maßnahmen entwickeln: Schaffung eines militärischen Planungs- und Koordinierungsstabes; Verstärkung der militärischen Zusammenarbeit insbesondere in den Bereichen Logistik, Transport, Ausbildung und Aufklärung; verstärkte Rüstungskooperation mit dem Ziel, eine europäische Rüstungsagentur zu schaffen.Dazu gehört schließlich auch die Möglichkeit, daß militärische Einheiten unter bestimmten Umständen — und in enger Abstimmung mit der NATO — der WEU zugeordnet werden.Gleichzeitig wollen wir die deutsch-französische militärische Zusammenarbeit über die bestehende Brigade hinaus verstärken. Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, daß sowohl Präsident Mitterrand wie auch ich uns sehr wohl vorstellen können, daß auch andere Länder in Europa einer solchen speziellen Initiative beitreten können und wahrscheinlich sogar wollen.Ich will dabei klarstellen, daß deutsche Einheiten, die hierfür vorgesehen werden, nicht ihrer NATO-Verpflichtung entzogen werden.
Vielmehr handelt es sich darum, ihnen eine zusätzliche Aufgabe zuzuweisen. Ich bin ganz sicher, daß wir mit diesen Vorschlägen die europäische Sicherheitspolitik einen ganz wesentlichen und entscheidenden Schritt voranbringen werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4367
Bundeskanzler Dr. Helmut KohlMeine Damen und Herren, ein weiteres wichtiges Thema des NATO-Gipfels — das ursprünglich nicht auf der Tagesordnung stand, aber durch die Entwicklung auf die Tagesordnung gekommen ist — wird Jugoslawien sein. Dem Blutvergießen in Jugoslawien, das immer mehr Menschenleben fordert, muß ein Ende gesetzt werden, und zwar so schnell wie möglich.
Die brutalen militärischen Aktionen zerstören jeden Tag mehr die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben. Gerade wir, die Deutschen, wissen, was Krieg im eigenen Land mit all seinen schrecklichen Folgen für die Menschen bedeutet.Ich begrüße, daß die EG-Außenminister am 4. November 1991 wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen beschlossen haben. Dabei geht es vor allem darum, das serbische Lager von der Aussichtslosigkeit seiner Gewaltpolitik zu überzeugen. Dieser Beschluß ist nicht zuletzt auf Grund unserer beharrlichen Überzeugungsarbeit, auch gegenüber unseren EG-Partnern, zustande gekommen. Ich erwarte, daß dieser Beschluß am Freitag in Kraft gesetzt wird.
Die Bundesregierung wird sich auch weiter dafür einsetzen, daß die völkerrechtliche Anerkennung derjenigen Republiken, die dies wünschen, nicht auf die lange Bank geschoben wird.
Im Hinblick auf Sanktionsmaßnahmen erwarte ich, daß weitere Sanktionen, wie von uns vorgeschlagen, folgen werden. In der Frage der Anerkennung bleibt es unser Ziel, daß wir gemeinsam mit den Partnern in der EG vorgehen, und zwar nicht zuletzt — ich sage das auch im Hinblick auf die Diskussion im eigenen Land — im Interesse der dort nach Selbständigkeit strebenden Republiken. Ich halte es für wichtig, dies hier auszusprechen.Zu den wichtigsten Aufgaben, die vor uns liegen, gehört es, die beiden Regierungskonferenzen über die Politische Union sowie die Wirtschafts- und Währungsunion beim Europäischen Rat in Maastricht zum Erfolg zu führen. Ich bin mir über die Schwierigkeit dieser Aufgabe sehr wohl im klaren. Ich weiß auch, daß unser Handeln auf dem Weg nach Europa mit viel Skepsis begleitet wird. Aber die Erfolge der letzten Jahre und Jahrzehnte sollten uns dazu bewegen, die Schwierigkeiten zu meistern und mit Mut und Entschiedenheit für unsere Meinung einzutreten.Zwischen diesen beiden Konferenzen besteht für uns Deutsche ein unauflöslicher Zusammenhang. Man kann dies nicht oft genug sagen. Die Politische Union ist das unerläßliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion.
Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur dieDeutschlands, lehrt uns, daß die Vorstellung, mankönne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist.
Wir haben in den letzten zwei Jahren, vor allem im letzten Jahr, oft genug darauf hingewiesen, daß die Vollendung der deutschen Einheit nur ein Teil jenes historischen Auftrags ist, den schon die Männer und Frauen im Parlamentarischen Rat bei der Formulierung unseres Grundgesetzes verspürt haben. Die deutsche Einheit und die europäische Einigung sind für uns die zwei Seiten derselben Medaille. Das muß jetzt deutlich werden.
Dieser Vertrag ist der Testfall für die Bereitschaft der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, ihr Schicksal unwiderruflich miteinander zu verknüpfen. Die Politische Union muß zunächst klare Grundlagen für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schaffen. Hierzu gehört auch der Einstieg in außenpolitische Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit, insbesondere da, wo es um die Frage der Durchführung solcher Entscheidungen geht.Wir streben zugleich an, daß die Außenpolitik stärker in den gemeinschaftlichen Institutionen verankert wird. Dabei muß nach unserer Überzeugung auch die Kommission einbezogen werden. Nur wenn es uns nach den schwierigen Anfangszeiten gelingt, in der Außenpolitik in Europa mit einer Stimme zu sprechen und gemeinsam zu handeln, werden wir auch weltweit unserer politischen Verantwortung gerecht.
Meine Damen und Herren, das künftige Zusammenleben in einem Europa ohne Binnengrenzen erfordert auch, daß wir uns mit unseren Partnern auf gemeinschaftliches Handeln in Kernbereichen der Innen- und Justizpolitik verständigen. Wir brauchen unbedingt — auch wenn es bei uns in der Bundesrepublik noch nicht alle glauben — eine mittelfristig mit grenzübergreifenden Befugnissen ausgestattete europäische Polizei, um vor allem im Kampf gegen die Drogenmafia und das organisierte Verbrechen bestehen zu können.
Wir brauchen ebenso dringend eine in ihren wesentlichen Elementen einheitliche europäische Politik in bezug auf Einwanderungs- und Asylfragen. Wir haben zu beiden Themen Vorschläge gemacht und der Regierungskonferenz Impulse gegeben. Es wird jetzt, wie immer in solchen Sachen, streitig diskutiert. Wir werden unsere Position nachdrücklich vertreten. Dabei ist mir sehr wohl bewußt, daß wir damit schwieriges europäisches Neuland betreten.Angesichts der dramatischen Entwicklung müssen wir aber jetzt das Notwendige tun und über den bisherigen Rahmen der rein zwischenstaatlichen Zusammenarbeit hinausgehen.Im Zusammenhang mit der Politischen Union wird sich die Bundesregierung mit allem Nachdruck für die
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4368 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Bundeskanzler Dr. Helmut KohlVerstärkung der Rechte des Europäischen Parlaments einsetzen.
Ich muß Ihnen ehrlich gestehen: Als wir vor einem Jahr bei der ersten EG-Konferenz zu diesem Thema in Rom zusammenkamen — die zweite war dann im Dezember — , hätte ich nicht damit gerechnet, daß wir in der Frage der Verstärkung der Rechte des Europäischen Parlaments auf solche Schwierigkeiten stoßen würden. Mir ist es letztlich auch unverständlich, wie man in dieser Frage so zögerlich sein kann. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß wir im Juni 1994 die Wähler in EG-Europa wieder zur Wahlurne rufen, um in freier, geheimer und direkter Wahl ein Parlament zu wählen, das die wirklichen Parlamentsrechte nicht besitzt. Ich halte das für unmöglich.
Ich verstehe letztlich auch nicht, warum einige unserer Partner Probleme damit haben, dem Parlament die Möglichkeiten zu geben, die Kommission zu wählen — damit nehmen wir anderen ja keine Rechte weg — , ihm das Recht zur Mitentscheidung bei den legislativen Akten der Gemeinschaft zu geben. Man könnte die Liste noch erweitern.Wenn ich dies sage, bin ich sicher, daß wir alle gemeinsam wissen, daß unser Ziel nicht ein bürokratisches, sondern ein demokratisch verfaßtes Europa ist. Wir wollen kein zentralistisches, sondern ein förderales und bürgernahes Europa, das sich dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet weiß. Das heißt, wir wollen, daß in der zukünftigen Zentrale — ich nenne einmal Brüssel — eben nur solche Entscheidungen getroffen werden, die auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht wirksam getroffen werden können.
Wir wollen auch, daß in diesem künftigen Europa die Regionen ihre legitimen Interessen in die Gemeinschaft einbringen können. Die Erfahrungen in Deutschland, nicht zuletzt an den Westgrenzen unseres Landes, in den letzten 30 bis 40 Jahren in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit benachbarter Regionen sind so positiv, daß ich nur hoffen kann, daß sich jetzt ähnliches in Ostdeutschland, an der Grenze zu unseren östlichen Nachbarn, vollziehen wird.
Wenn Sie die Diskussion in den alten, klassischen Zentralstaaten — ich nenne beispielsweise Frankreich — verfolgen, sehen Sie, daß überall eine starke Tendenz zu verspüren ist — für uns eine besonders sympathische Tendenz — , auch durch eine Dezentralisation der Machtbefugnisse Entscheidungen möglichst nahe bei den Bürgern zu treffen. Diese Erfahrung darf in Europa nicht verlorengehen.
In diesem Sinne haben wir in Übereinstimmung mit den Bundesländern der Regierungskonferenz die Bildung eines Regionalgremiums mit beratender Stimme vorgeschlagen. Ich mache kein Hehl daraus, daß es noch viel, viel Arbeit kosten wird, um diese Idee und diese Überzeugung unseren Partnern nahezubringen.Bei den Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion entwickelt sich — auch das ist eine Erfahrung positiver Art aus dem letzten Jahr — sehr viel schneller ein breiter Konsens über die Grundpositionen, die wir vertreten. Erstens. In der Zwischenstufe ab 1994 verbleibt die Zuständigkeit für die Geldpolitik und die Verantwortung für die Geldwertstabilität in den Mitgliedstaaten uneingeschränkt bei den nationalen Zentralbanken. Es wird keine „Grauzone" in dieser Vorbereitungsphase geben.Zweitens. Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion setzt eine marktwirtschaftliche und stabilitätsgerechte Wirtschafts- und Finanzpolitik voraus, die die unabdingbare Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung der Mitgliedstaaten schafft.Drittens. In der Endstufe wird ein unabhängiges europäisches Zentralbanksystem geschaffen, das allein für die einheitliche Geldpolitik zuständig und vorrangig der Geldwertstabilität verpflichtet ist.Die Wirtschafts- und Finanzminister der Europäischen Gemeinschaft sind sich in ihren Beratungen einig, daß alle Mitgliedstaaten die Entscheidung über den Übergang zur Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion gemeinsam treffen sollen. Dabei gelten drei Grundsätze, über die sich der Europäische Rat bereits im Juni in Luxemburg verständigt hatte.Erstens. Kein Mitgliedstaat darf den Übergang einer Mehrheit von Mitgliedsländern in die dritte Stufe verhindern. Ich denke, jeder versteht, daß in diesem einfachen Satz sehr viel politischer Sprengstoff enthalten ist.Zweitens. Kein Mitgliedstaat wird gegen seinen Willen zur Mitgliedschaft in der Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion gezwungen.Drittens. Kein Mitgliedstaat kann von der Endstufe ausgeschlossen werden, wenn er die wirtschaftlichen und institutionellen Voraussetzungen erfüllt.Meine Damen und Herren, die vergangenen Wochen und Monate haben gezeigt, daß sich diese Verhandlungen keineswegs — das war auch nicht anders zu erwarten — einfach gestalten. Das sollte angesichts der Zahl und der Vielschichtigkeit der Themen auch niemanden überraschen. Aber ich bin sicher, daß sich alle Partner der einmaligen Herausforderung und auch der einmaligen Chance dieser Regierungskonferenzen bewußt sind und den Erfolg wollen.Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich der niederländischen Präsidentschaft und insbesondere dem Ministerpräsidenten Lubbers für die Mühe danken und versichern, daß wir alles daransetzen wollen, sie bei ihrer sehr schwierigen Aufgabe zu unterstützen.
Eine weitere wichtige Etappe auf dem Weg zur Europäischen Union wird die Vollendung des Euro-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4369
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlpäischen Binnenmarktes zum 31. Dezember 1992 sein. Zu diesem Zeitpunkt sollen in Europa aber nicht nur für die Bürger der Europäischen Gemeinschaft die Binnengrenzen fallen. Seit dem Durchbruch vom 22. Oktober 1991 können wir davon ausgehen, daß dann zugleich der noch größere Europäische Wirtschaftsraum — für insgesamt 380 Millionen Bürger — Wirklichkeit wird. Dies ist eine Entwicklung von einer ungeheuren politischen Bedeutung.Ich bin sicher, daß die Zustimmung zum EWR-Vertrag für die meisten unserer EFTA-Nachbarn nur ein erster Schritt auf dem Weg zum EG-Beitritt sein wird. Wir hoffen, daß diejenigen, die diese Diskussion jetzt führen, sie bald zu Ende bringen.Wir begrüßen, daß beispielsweise in Schweden die Diskussion an einem Punkt angelangt ist, der es zuläßt zu sagen: Wir rechnen damit, daß Schweden 1995 der Gemeinschaft beitritt und Österreich ähnliches tun wird. Ich bin ganz sicher, daß das schwedische Beispiel nicht ohne Eindruck und Wirkung auf die Nachbarn in Nordeuropa, auf Norwegen und Finnland, sein wird.In Erinnerung an eine Debatte, die wir im Zusammenhang mit dem Beitritt von Spanien und Portugal hatten, will ich jetzt doch sagen, daß es richtig war, den Beitritt Spaniens und Portugals zu forcieren, obwohl damals mancher — auch in Deutschland — der Meinung war, der Beitritt werde dazu führen, daß die EG, wie man sagte, südlastig werde. Damals ist die Befürchtung geäußert worden, daß Nordeuropa, ein entscheidender Bestandteil Europas, den Weg in die EG nicht finden werde. Wir begrüßen die Diskussionen und die Entscheidungen, die dort getroffen werden. Wir wünschen, daß die Zeitpläne, über die man jetzt diskutiert, auch eingehalten werden. Die Bundesrepublik Deutschland wird jedenfalls jede Unterstützung dabei geben.
Eine weitere ganz wichtige, zentrale Aufgabe europäischer Politik bleibt es, den jungen Demokratien in Mittel-, Ost- und Südosteuropa beim Umbau ihrer Wirtschaft und Gesellschaft tatkräftig zu helfen. Wir sollten daher alles daransetzen, die Assoziierungsverträge der Europäischen Gemeinschaft mit Ungarn, mit Polen und der CSFR noch in diesem Jahr unter Dach und Fach zu bringen.
Ferner sollten wir die baltischen Staaten bei der Festigung ihrer politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit unterstützen.Ich denke, auch im Blick auf spätere Entwicklungen der Europäischen Gemeinschaft ist es wichtig, daß die eben genannten Länder wissen, daß wir ihnen auf ihrem Weg nach Europa helfen wollen.
Das Zeitmaß, das hier in Frage kommt, wird sicherlich ein anderes sein als das bei den vorher genannten Ländern wie Schweden und Österreich. Es ist aber ein großer Unterschied, ob man in Warschau, in Prag oder in Budapest weiß, daß man erwünscht ist, oder ob wirdiesen Ländern mit einer quasi neutralen Distanz begegnen.
Ich kann mir sehr wohl vorstellen, daß man über die jetzt abzuschließenden Assoziierungsverträge zu einer Art von Beratungsmechanismus kommt, der schon in dieser Zwischenzeit deutlich macht, daß diese Länder ihren Weg in die Gemeinschaft finden werden. Ich glaube, das liegt im allgemeinen Interesse und ist nützlich.
Eine ganz besondere Herausforderung, und zwar nicht nur für die Europäische Gemeinschaft, sondern auch für die anderen Partner in der G 7, stellt die dramatische Wirtschaftsentwicklung in der Sowjetunion dar. Wir wollen — darüber wird gesprochen und wird in den nächsten Wochen noch zu sprechen sein — in diesem Winter dazu beitragen, daß die Versorgung der Menschen dort mit einem Mindestmaß an Gütern des täglichen Bedarfs durch Nahrungsmittelhilfe sichergestellt wird.Auch hierzu möchte ich gerne eine darüber hinausgehende Bemerkung machen: Es kann nicht angehen, daß im Rahmen der G 7, der sieben großen Industrienationen der Welt, diese Frage bei nicht wenigen weitgehend unter dem Gesichtspunkt gesehen wird, dies sei vor allem eine deutsche Verantwortung. Es ist zwar eine besondere deutsche Verantwortung; denn wenn die Sowjetunion und die Republiken zu einer neuen Struktur finden, sind wir als Nachbarn ganz unmittelbar betroffen. Wir sind auch deshalb in einer besonderen Weise betroffen, weil noch viele sowjetische Soldaten auf deutschem Territorium stehen und weil die Abmachungen über den vollständigen Truppenrückzug eingehalten werden müssen. Aber es dient dem Frieden der Welt, nicht nur dem Frieden Europas, wenn in der Sowjetunion und in den jetzt entstehenden Republiken Friede, Freiheit, Soziale Marktwirtschaft und rechtsstaatliche Ordnung einkehren und dauerhaft verankert werden.Wenn man bedenkt, was wir in der Vergangenheit — während und auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges — an finanziellen Ressourcen mobilisieren mußten, um der damaligen Lage gerecht zu werden, müßte es auch möglich sein, jetzt in einer gemeinsamen großen Kraftanstrengung hier die notwendige Hilfe zu geben. Es ist wichtig, jetzt für den kommenden Winter Nahrungsmittelhilfe zu mobilisieren. Aber das ist nur eine Übergangshilfe; das kann kein dauerhafter Zustand sein. Jetzt sind alle westlichen Demokratien gefordert, die Chance der Demokratie in diesem Teil der Welt wahrzunehmen.
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4370 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Abschluß noch ein paar kurze Bemerkungen zu meiner jüngsten Reise nach Chile und Brasilien. Dieser Besuch hat mir die großen Hoffnungen deutlich gemacht, die die Staaten Lateinamerikas mit dem Wandel in Deutschland und in Europa, mit der deutschen Einheit und mit der europäischen Einigung verbinden. Auch sie haben mit dem Wegfall des Ost-WestGegensatzes und mit der Überwindung des Blockdenkens ihren Standort in der Weltpolitik neu bestimmt oder noch neu zu bestimmen. Die meisten von ihnen bekennen sich inzwischen zur pluralistischen Demokratie, zum Rechtsstaat und zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Völker Lateinamerikas erbringen damit alle Voraussetzungen für ein noch engeres Zusammengehen mit uns Europäern. Das gilt sowohl für die bilaterale als auch für die regionale Politik.In meinen Gesprächen in Chile und Brasilien spielte der Wunsch nach einer radikalen Öffnung der europäischen Märkte für die Waren dieser Länder eine entscheidende Rolle. Ich habe zugesagt, mich persönlich wie auch mit der ganzen Kraft der Bundesregierung dafür einzusetzen, daß die laufende UruguayRunde des GATT bald und erfolgreich abgeschlossen wird. Ich bin durchaus der Meinung, daß wir auf diesem schwierigen Feld in der jüngsten Zeit beachtliche Fortschritte erreicht haben. Die Bundesrepublik Deutschland hat ein elementares Interesse an einem positiven Abschluß der Uruguay-Runde des GATT.
Ich habe in meinen Gesprächen meine Gesprächspartner zugleich ermutigt, ihre Bemühungen um die Schaffung von Freihandelszonen und um die wirtschaftliche Integration, aber auch um Zusammenschlüsse in Teilen Lateinamerikas voranzutreiben.Ich habe in Chile und Brasilien volle Zustimmung dafür gefunden, daß Industrie- und Entwicklungsländer in der Frage des weltweiten Umweltschutzes eine gemeinsame Verantwortung tragen, der sie nur durch partnerschaftliche Zusammenarbeit gerecht werden können. Dabei mußte ich weit über das hinaus, was ich vorher gewußt habe — lassen Sie mich das hier bekennen — , feststellen, wie groß die psychologischen Schwierigkeiten vor allem in wichtigen Teilen Brasiliens sind. Das Schlagwort von der Einmischung der Ausländer in innerbrasilianische Angelegenheiten sollten wir ernst nehmen. Ob wir es als richtig anerkennen oder nicht, es ist noch eine erhebliche psychologische Vorbereitungsarbeit auf diesem Feld notwendig, und zwar nicht nur durch die Deutschen, sondern durch alle, die am Erhalt der Schöpfung interessiert sind, und das müßten ja wir alle sein.Ich habe die brasilianische Regierung nachdrücklich in ihren Bemühungen bestärkt, der Zerstörung der tropischen Regenwälder Einhalt zu gebieten. Zugleich habe ich unser eigenes Engagement noch einmal unterstrichen. Als Beitrag zum „Pilotprogramm Brasilien" haben wir 250 Millionen DM bereitgestellt. Ich will die Gelegenheit hier nutzen, um zu sagen, daß ich erwarte, daß sich auch die anderen Industrieländer an diesen Programmen beteiligen.
In diesen Tagen gehen ja Meldungen um die Welt, wieviel Hartholz einzelne Industrieländer pro Jahr verbrauchen. Dabei kann man feststellen, daß es darunter G-7-Länder gibt, die allein soviel Holz verbrauchen wie die gesamte EG.
Deswegen, finde ich, müßte es eigentlich auch möglich sein, daß diejenigen, die in einem besonderen Maße tropische Hölzer verbrauchen, Mittel bereitstellen, zumal sie dazu wirtschaftlich in der Lage sind.
Ich selbst habe die Absicht, um Juni kommenden Jahres an der in Rio de Janeiro stattfindenden UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung teilzunehmen. Meine Damen und Herren, auf dieser Konferenz wird es entscheidend darauf ankommen, daß wir nicht nur reden, sondern die Industrie- und die Entwicklungsländer zu gemeinsamem Handeln zusammenführen. In diese Partnerschaft muß jeder seinen ihm möglichen und auch zumutbaren Teil zur Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen einbringen. Wir wollen als Bundesregierung das Notwendige und für uns Mögliche tun. Aber wir müssen auch die Zeit nutzen, um unsere Partner davon zu überzeugen, daß dies eine weltweite Verantwortung ist und daß dies vor allem auch eine Verantwortung der Industrienationen ist.Meine Damen und Herren, die Wiedererlangung der staatlichen Einheit bringt für uns Deutsche neue Verantwortung, neue Herausforderungen und neue Pflichten mit sich. Zu allen wichtigen Fragen der internationalen Politik und der Weltwirtschaft werden heute mehr denn je unsere Mitwirkung, unsere Bei-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4371
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlträge und unser Engagement erwartet. Dies gilt ungeachtet unserer nationalen Aufgabe, gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland herzustellen und die Menschen in Ost und West unseres Vaterlandes zusammenzuführen.Wir dürfen den Blick — bei aller Wichtigkeit dieser Aufgaben — jedoch nicht nur nach innen lenken. Zahlreiche und große Herausforderungen außerhalb der deutschen Grenzen erfordern ebenfalls unseren Einsatz: der Aufbau des vereinten Europa, die Weiterentwicklung und Festigung des Bündnisses in der Beziehung zu Nordamerika, die Stabilisierung der Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas, die friedliche Beilegung von Konflikten insbesondere in unserer Nachbarschaft, die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt.Zusammen mit unseren Partnern und Freunden wollen wir so an einer neuen Weltordnung des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit mitwirken. Wir wollen dabei die Aufgaben zu Hause nicht vernachlässigen, aber wir würden als wiedervereinigtes Deutschland vor der Geschichte versagen, wenn wir uns nur unseren eigenen Problemen zuwenden würden und die Verantwortung, die in der Welt auf uns zukommt, vernachlässigen würden. Meine Bitte ist, daß wir diese Verantwortung gemeinsam tragen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Gansel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, wir alle können uns vorstellen, daß Sie in diesen Stunden mit Ihren Gedanken mehr in Monza als in Rom sind. Wir möchten Ihnen sagen, daß wir mit Ihnen und mit Ihrer Familie fühlen, und wir wünschen Ihrem Sohn baldige gute Besserung.
Meine Damen und Herren, durch die Vereinigung ist das Gewicht, aber auch die Last der Bundesrepublik gewachsen. Die Bevölkerungszahl, die wirtschaftliche Stärke, die geographische Lage und unsere Geschichte — das, was wir anderen Völkern und uns selbst zugefügt haben, und auch das, was wir daraus zu lernen versucht haben — beanspruchen uns in besonderer Weise. Neue Hoffnungen, aber auch altes Mißtrauen werden uns entgegengebracht — und, was bisweilen schlimmer ist, alte Hoffnungen und neues Mißtrauen.Nirgendwo ist das so deutlich wie im Verhältnis der jugoslawischen Republiken zur Bundesrepublik. Deshalb und weil in mittelbarer Nachbarschaft Krieg ist, möchte ich auch einige Bemerkungen zu Jugoslawien an den Anfang meiner Rede stellen.Daß es in Kroatien auch Kräfte gibt, die aus der Bundesrepublik unter Berufung auf das Verhältnis zwischen Hitler-Deutschland und dem faschistischen Ustascha-Regime militärische Hilfe wünschen, macht mir Sorge. Daß das noch mehr Sorgen unter Serben auslöst, kann ich verstehen. Wofür ich aber kein Verständnis haben kann, ist die Art und Weise, wie eine staatlich gelenkte serbische Propaganda versucht, die Bundesrepublik mit jenem Deutschland gleichzustellen, mit dem wir nichts mehr gemeinsam haben außer unserer Geschichte.
Vor solchen böswilligen und haltlosen Unterstellungen nehme ich auch die Bundesregierung ausdrücklich in Schutz.Das gilt nicht für die Äußerungen, die Bundesinnenminister Schäuble am Sonntag auf dem Deutschlandtag der Jungen Union gemacht hat.
Ich zitiere: „Wir helfen nur, wenn die Aggressoren überzeugt werden, daß andere bereit sind, notfalls mit militärischen Mitteln die Aggression zu beenden. " — Das hat Schäuble gesagt, und er hat dabei auch eine deutsche Beteiligung befürwortet.
So hilft man nur der serbischen Kriegspropaganda, Herr Schäuble, dem Frieden schadet man damit.
Ein militärisches Eingreifen wäre völkerrechtswidrig, es würde das Blutvergießen nur vergrößern, und eine deutsche Beteiligung wäre verfassungswidrig. Der Bundesinnenminister, der sich gelegentlich auch als Verfassungsminister bezeichnet, müßte das eigentlich wissen.
Die Bundesregierung hat in der Jugoslawienkrise wie die meisten europäischen Regierungen lange versagt. Sie hat zu lange auf den jugoslawischen Zentralstaat und sein postkommunistisches Regime gesetzt. Wir wollten Völkern, die das erste Mal in ihrer Geschichte über ihr Schicksal frei bestimmen können, das Recht auf Selbstbestimmung nicht verwehren. Die SPD hat deshalb schon im Mai gefordert, den Weg Sloweniens durch die völkerrechtliche Anerkennung der Staatengemeinschaft zu ebnen und die Anerkennung der kroatischen Unabhängigkeit von der Respektierung der serbischen Minderheitenrechte abhängig zu machen. Seit Monaten verlangen wir wirtschaftliche Sanktionen der EG, die die jugoslawische Bundesarmee treffen müssen. Seit Monaten unterstützen wir die Forderung Kroatiens nach Blauhelmen der UNO, die allerdings nur mit Zustimmung der serbischen Seite einen Waffenstillstand garantieren könnten.Unser inzwischen gemeinsames Engagement in der jugoslawischen Krise beruht auf unserer europäischen Verantwortung und wohl auch auf unserer geographischen und menschlichen Nähe. 600 000 jugoslawische Arbeitnehmer und ihre Familien — das war 1% der Bevölkerung der alten Bundesrepublik — leben und arbeiten bei uns. Fast jede deutsche Familie ist schon einmal in Jugoslawien auf Urlaub gewesen. Jugoslawien war für Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg ein schwieriges Territorium. Aber in den
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Norbert Ganselvielen Jahren ist Freundschaft durch Begegnung gewachsen, und deshalb fühlen wir eine besondere Verantwortung.
Sie nicht auf Sonderwegen, sondern innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und der KSZE zur Geltung zu bringen, das ist der richtige Weg. Vor deutschen Alleingängen, wie sie in den Unionsparteien immer wieder gefordert werden, sei gewarnt.
Wir hoffen, daß solche Forderungen keine Anzeichen eines veränderten deutschen Selbstverständnisses sind. Daß die Bundesrepublik ihr Gewicht in den internationalen Organisationen und zu ihrer Stärkung nutzt, war eine gemeinsame Überzeugung in diesem Hause. Das muß erst recht für das gewachsene Gewicht des vereinigten Deutschlands gelten. Wenn die Bundesrepublik durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag nun völkerrechtlich souverän geworden ist, dann müssen wir erst recht unter Beweis stellen, daß wir bereit sind, Souveränitätsrechte an supranationale Organisationen abzugeben.
Darum geht es auf dem Gipfeltreffen der Europäischen Gemeinschaft in Maastricht, wo eine umfassende Änderung der Römischen Verträge beschlossen werden soll, jener Verträge, durch die die EG — damals noch die EWG — 1957 begründet wurde. Weil damit weitere Souveränitätsrechte auf die Gemeinschaft übertragen werden, müssen die Parlamente der Mitgliedstaaten — also auch der Deutsche Bundestag — diese Änderungen 1992 ratifizieren, wenn alles gutgeht. Wir hoffen, daß alles gutgeht, denn durch dieses Vertragswerk soll die Europäische Gemeinschaft zu einer Wirtschafts- und Währungsunion und zu einer Politischen Union weiterentwickelt werden.Wir sind also auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa, die die deutsche Sozialdemokratie 1925 in ihrem Heidelberger Programm als erste europäische Partei gefordert hat. Was so fernab in den Höhen eines Gipfeltreffens verhandelt wird, wird tief in die Lebensbedingungen und Lebensgefühle bei uns allen einschneiden, wird unsere Wirtschaft und unsere Umwelt verändern, wird unsere Bürgerrechte und unsere Währung bestimmen und über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft entscheiden. Zur Politischen Union — dabei geht es z. B. um die Befugnisse des Europäischen Parlaments — wird meine Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul sprechen, zur Wirtschafts- und Währungsunion — dabei geht es letztlich um die Stabilität unseres Geldes — mein Kollege Norbert Wieczorek.Ich will etwas zur gemeinsamen Sicherheitspolitik sagen. Dabei geht es z. B. um Soldaten. Die SPD hat auf ihrem Bremer Parteitag im Mai beschlossen:Die Westeuropäische Union soll schrittweise an die Politische Union herangeführt und die Arbeit der WEU an den zu fassenden Grundsatzbeschlüssen des Europäischen Rates zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik orientiert werden.Soweit sich die sogenannte Botschaft von Helmut Kohl und François Mitterrand zur gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik vom 16. Oktober mit diesem Vorschlag deckt, findet sie natürlich unsere Zustimmung.
Aber der in der Botschaft enthaltene Vertragstext weist einige Unklarheiten und Lücken auf. Herr Bundeskanzler, das war heute überhaupt das Problem mit Ihrer Regierungserklärung. Wir haben ja zum Teil geklatscht, auch ich; denn was Sie gesagt haben, war im großen und ganzen in Ordnung.
Das Problem war das, was Sie nicht gesagt haben.
Aber dazu gibt es ja parlamentarische Debatten.Deshalb sage ich: Unklar bei Ihrer Botschaft ist, ob der WEU-Vertrag so verändert werden soll, daß auch militärische Aktionen out of area zulässig werden sollen. Dem würden wir uns entschieden widersetzen.
Auch die FDP müßte das eigentlich machen, Herr Genscher.Unklar sind die Vorstellungen zur Rüstungskooperation und zur Kontrolle des Rüstungsexports. Die vorgeschlagene europäische Rüstungsagentur darf jedenfalls nicht zu einer Rüstungsexportagentur werden.
Es fehlt überhaupt jeder Vorschlag, die Überkapazitäten der westeuropäischen Rüstungsindustrie sozialverträglich und ökonomisch produktiv umzustellen. „Konversion" und „Friedensdividende" sind die Stichworte. Und es fehlt jede Vorstellung von einer parlamentarischen Kontrolle der europäischen Sicherheitspolitik.
— Ja, das hat auch der Kanzler gesagt. Daß er sich Mitterrand gegenüber nicht durchsetzen konnte, bedauern wir sehr.Wir Sozialdemokraten sind uns darüber im klaren, daß zu den Vereinigten Staaten von Europa schließlich auch gemeinsame Streitkräfte gehören müssen.
Es hieße jedoch, eine politische Entwicklung auf den Kopf zu stellen, wollte man das militärische Element im europäischen Prozeß als Katalysator benutzen und mit gemeinsamen Streitkräften beginnen.
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Norbert GanselEs ist deshalb verwunderlich, daß die sogenannte Botschaft auch ein Postscriptum enthält, mit dem die Bildung eines deutsch-französischen Armeekorps von 50 000 Soldaten als Kern einer europäischen Streitmacht vorgeschlagen wird.
Dieser Vorschlag hat bei den europäischen Partnern nicht nur Kopfschütteln und spöttische Bemerkungen, sondern auch Feindseligkeiten hervorgerufen. Man entspricht den Warnungen vor deutschen Alleingängen eben nur zur Hälfte, wenn man deutsch-französische Doppelgänge versucht.
Wir haben uns für die Mitgliedschaft auch des vereinigten Deutschlands in der NATO und für die militärische Integration der Bundeswehr nicht deshalb ausgesprochen, um jetzt gewissermaßen eine Binationalisierung deutscher Streitkräfte außerhalb der NATO zuzulassen.
Der Bundeskanzler hat dazu heute eine Klarstellung versucht, aber es bleiben Unklarkeiten über das künftige Übungs- und Einsatzgebiet dieses Armeekorps,
über seine Zusammensetzung in Anbetracht unserer NATO-Verpflichtungen, über seinen militärischen Auftrag und über seine Kommandostruktur.Bei deutsch-französischen Einheiten muß jedenfalls der Grundsatz gelten: gleiche Pflichten, gleiche Rechte, auch gleiche Stationierung. Es wäre keine Lösung, wenn 25 000 französische Soldaten auf deutschem Boden blieben und nur ein paar deutsche Stabsoffiziere in Straßburg tagen könnten. So nicht!
Inzwischen befindet sich die Bundesregierung aber auf dem Rückzug. Es ist überhaupt eine erstaunliche Armee, deren Geschichte mit einem Rückzug beginnt. Minister Stoltenberg spricht nur noch von einer Anregung. Man habe eigentlich nur die operative Zusammenarbeit auf Stabsebene im Sinn gehabt. Minister Genscher versuchte sogar, die Verbündeten zu beruhigen, indem er betonte — ich zitiere — , die deutschfranzösische Initiative sei keine Bedrohung der NATO.
Dabei soll es doch sogar NATO-Stäbe geben, die für ihre Existenzberechtigung mühsam nach einer Bedrohung suchen.
Tatsächlich hat sich die sogenannte Bedrohungslage für die NATO fundamental verändert. Der Sieg der Demokratie in Mittel- und Osteuropa, die deutsche Vereinigung, die Auflösung des Warschauer Paktes, die Rückkehr der Roten Armee in die Sowjetunion, der erfolglose Putsch in Moskau, der Zerfall der alten Sowjetunion und die Erosion ihrer Streitkräfte, der Beginn einer wirklichen nuklearen Abrüstung durch die Initiativen von Bush und Gorbatschow, all das hat das Gesicht unserer Welt verändert, und dieVokabel „Bedrohung" ist sogar aus den Kommuniqués der NATO-Verteidigungsminister getilgt worden.Jetzt muß die Gipfelkonferenz der NATO in Rom ein Signal dafür sein, daß das Bündnis bereit und in der Lage ist, nicht nur veraltete Begriffe, sondern auch veraltete Strategien über Bord zu werfen.
Die NATO hat sich in der Vergangenheit gegenüber der Bedrohung durch die Truppen und Atomwaffen des Warschauer Paktes und der Sowjetunion durch ein annäherndes konventionelles Gleichgewicht und die Strategie der atomaren Abschreckung zu schützen versucht. Es lohnt sich heute nicht mehr, darüber zu streiten, was daran richtig oder falsch war. Wenn es aber für den atomaren Ersteinsatz durch die NATO je eine Begründung gab, so ist sie nunmehr zusammengebrochen. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, sich auf dem NATO-Gipfel dafür einzusetzen, daß durch eine offizielle Erklärung auf die Androhung des atomaren Ersteinsatzes verzichtet wird.
Tatsache ist: Die NATO steht nicht länger einem Gegner gegenüber, von dem behauptet werden kann, er sei an Zahl von Soldaten und Waffen überlegen. Über den Rahmen des KSE-Vertrages hinaus ist viel Raum für konventionelle Abrüstung. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich auf dem NATO-Gipfel dafür einzusetzen, daß für den konventionellen Abrüstungsprozeß neue Kriterien entwickelt werden, wie durch Umstrukturierung und drastische Reduzierung der Streitkräfte strukturelle Angriffsunfähigkeit in ganz Europa erzielt werden kann, und noch haben Sie die Chance: Fangen Sie mit der Streichung des Jäger 90 an!
Bisher haben sich die Verteidigungsminister der NATO in eine andere Richtung bewegt, und Herr Stoltenberg ist mitgelaufen. Man hat die Aufstellung von sogenannten schnellen Reaktionsstreitkräften beschlossen, um 80 000 Soldaten eine zwar unklare, aber neue Funktion zu geben. Da diese Truppe weiträumig mobil sein soll, braucht sie auch neue Ausrüstung, Waffen und Transportmittel. Die Rüstungsindustrie bleibt beschäftigt, die Steuerzahler tragen die Kosten; das kann doch wohl nicht Sinn der Sache sein.
Manche meinen, die eigentliche Aufgabe der schnellen Reaktionsstreitkräfte liege außerhalb des Bündnisbereiches, z. B. am Golf. Das wäre mit dem NATO-Vertrag und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar. Deshalb, Herr Bundeskanzler, bitte ich Sie, klipp und klar zu sagen, daß ein Einsatz dieser Truppe nur im Bündnis, also nur im Verteidigungsfall, in Frage kommt.
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Norbert GanselTatsache ist: Die konventionelle Bedrohung der NATO ist weg. Tatsache ist auch: Die führenden Politiker im Osten wie im Westen haben endlich erkannt, daß von der atomaren Hochrüstung nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Gefahr ausgeht. Die SPD-Fraktion begrüßt deshalb die Entscheidung von Präsident Bush und Präsident Gorbatschow, die Alarmstufen bei den strategischen Atombombern und einem Teil der strategischen Atomraketen aufzuheben und ihre Kontrolle zu straffen. Damit ist die Gefahr eines Atomkrieges aus Versehen, jene schreckliche Gefahr, verringert worden; gebannt ist sie nicht. Der Schock der Erkenntnis dieser Gefahr scheint beiden Präsidenten in die Knochen gefahren zu sein, als niemand eine zuverlässige Antwort auf die Frage geben konnte: Wer hat die sowjetischen Nukleararsenale während des Putsches unter sicherer Kontrolle gehabt?Bei den taktischen Atomwaffen, deren Kontrolle besonders schwierig und gefährdet ist, haben sich die Präsidenten ohne die bisher üblichen jahrelangen Expertengespräche selbst zu einseitigen drastischen Abrüstungsschritten entschieden. Der NATO-Gipfel muß sich dafür entscheiden, einen Prozeß einseitiger und wechselseitiger Abrüstungsschritte zu unterstützen, der nur noch Verhandlungen über die Verifikation notwendig macht. Es darf bei der nuklearen Abrüstung keinen Stillstand geben. Deshalb fordern wir:Erstens. Nachdem dank der Bush-Initiative aus Europa und insbesondere aus Deutschland jetzt endlich die taktischen landgestützten Atomraketen, die nukleare Artillerie und atomare Landminen verschwinden werden
— wir haben zum Schluß, Herr Dregger, in einer Koalition mit Ihnen zusammen dafür gekämpft, erstaunlicherweise mit Ihnen zusammen;
vielleicht hat es ja geholfen — , müssen jetzt endlich auch die luftgestützten Atomwaffen, die Atombomben, die z. B. durch Tornado-Bomber eingesetzt werden können, abgezogen und vernichtet werden.
Nach den jetzigen Vorstellungen der NATO sollen über 700 Atombomben in Westeuropa und vor allen Dingen in der Bundesrepublik stationiert bleiben. Wovor sollen sie uns schützen, und wen sollen sie bedrohen?Was mich manchmal wundert, ist die Passivität, mit der der Bundesverteidigungsminister das alles begleitet. Man hat das Gefühl, er setzt sich nur mit müdem Pflichtgefühl für eine Stationierung von Atomwaffen ein. Aber leider beackert er auch das Feld der nuklearen Abrüstung nur mit einem müden Pflichtgefühl, doch dabei handelt es sich um Atombomben und nicht um landwirtschaftliche Geräte.
Zweitens. Wir verlangen von der Bundesregierung, daß sie hier und heute klipp und klar dazu Stellung nimmt, ob sie sich weiter an den Überlegungen der NATO beteiligen will, 1995 — nach einer Bundestagswahl — neue luftgestützte taktische Atomwaffen mit einer Reichweite von fast 500 km in der Bundesrepublik zu stationieren.
Drittens. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich gegenüber Frankreich und Großbritannien dafür einzusetzen, daß diese ihre Atomwaffen in den Abrüstungsprozeß einbringen, statt sie zu modernisieren.
Viertens. Darüber hinaus sind folgende Schritte vordringlich: ein umfassender Atomteststopp, um die Weiterentwicklung von Nuklearwaffen zu verhindern; ein vollständiger Produktionsstopp für Atomwaffen und atomwaffenfähiges spaltbares Material; gemeinsame Schritte der Atommächte zur international kontrollierten und gesicherten Lagerung aller taktischen Atomsprengköpfe; ein Programm der NATO zur Erforschung und Durchführung einer auch für die Umwelt gefahrlosen Vernichtung der zigtausend Atomsprengköpfe in Ost und West — die Sowjetunion wird es ohne unsere Hilfe nicht schaffen —; scharfe Exportkontrollen bei Technologien und Materialien, die zur Entwicklung und Produktion von Atomwaffen geeignet sind.Wenn wir diese Aufgaben nicht in absehbarer Zeit bewältigen und wenn der NATO-Gipfel dafür kein Signal gibt, dann werden uns die Kraft, die Zeit und das Geld fehlen, um mit den wirklichen Krisen, mit den wirklichen Risiken unserer Gegenwart fertig zu werden, die eher nicht-militärischer Natur sind.
Ich erinnere an die globalen Risiken, an jenen Teufelskreis aus Armut und fortschreitender Umweltzerstörung, Vergiftung und Ausbeutung von Wasser, Boden und Luft, Drogen und Seuchen, organisierter Kriminalität. Ich erinnere an die größte Gefahr — Sie haben sie angesprochen, Herr Bundeskanzler —, nämlich die Klimakatastrophe.Es war gut, daß Sie den Brasilianern Unbequemes gesagt haben, die ihren, unseren tropischen Regenwald vernichten. Aber diesen Mut zur Unbequemheit erwarten wir auch in der Bundesrepublik; denn auch den deutschen Wald werden wir nicht retten können, wenn es beispielsweise kein Tempolimit auf den deutschen Autobahnen gibt.
Unsere Glaubwürdigkeit, anderen zu predigen, hängt davon ab, was wir selber zu tun bereit sind. Auch das haben Sie erkennen können, meine ich.
Regionale Risiken, die uns bedrohen, sind wirtschaftliche Zusammenbrüche im Osten unseres Kontinents. Wenn Gorbatschow gestern erklärt hat, die So-
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Norbert Ganselwjetunion stünde am Rande des Abgrunds, dann müssen wir uns heute klar machen, daß Teile Europas mit hineingerissen werden können.
Soziale Unruhen und ökologische Katastrophen können gewaltige Wanderungsbewegungen nach Westen auslösen. Die Kinder von Tschernobyl, die wir in unseren Krankenhäusern behandeln, die arbeitsuchenden Asylbewerber, die vor dem Elend flüchten, sind nur Vorboten dessen, was auf uns zukommt, was unsere Gesellschaft erschüttern kann, wenn es keine wirtschaftliche und ökologische Stabilisierung im Osten geben wird. Und, Herr Schäuble, dagegen hilft keine Änderung des deutschen Grundgesetzes.
Menschenrechte und Minderheiten sind durch neue Diktaturen und ein Wiederaufleben des Nationalismus gefährdet. Nationalitätenkriege und zwischenstaatliche Konflikte, eine Jugoslawisierung der Sowjetunion sind Gefahren, vor denen uns keine NATO schützen kann. Denn wir werden nicht angegriffen; wir sind nur betroffen.Nur politische, wirtschaftliche und ökologische Zusammenarbeit, das Bewußtsein gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Verantwortung, Konfliktregelungsmechanismen und Krisenmanagement und schließlich ein System der kollektiven Sicherheit, das in einer ganzen Region nicht nur vor Angriffen von außen, sondern auch vor Friedensstörung im Innern schützt, können die regionalen Risiken bannen.Das muß im geographischen Rahmen, das kann im organisatorischen Rahmen der KSZE geschehen, die damit Aufgaben im Sinne des Kapitels VIII der UNO-Charta übernähme.Seit der Schlußakte von Helsinki im Jahre 1975 hat die KSZE als regelmäßig tagende Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa die USA, Kanada, die Sowjetunion und fast alle europäischen Staaten an einen Tisch gebracht. Ihr gehören jetzt 38 Staaten an. Ihre Ergebnisse im Bereich der Sicherheit, vor allem aber auch im Bereich der persönlichen Freiheiten haben die Tür zur Überwindung der Teilung Europas zunächst nur einen Spalt breit, schließlich aber immer weiter öffnen geholfen.Mit der Charta von Paris ist die KSZE in eine neue Phase eingetreten. Jetzt müssen die ökonomische und die ökologische Dimension gestärkt werden. Jetzt müssen die ökonomischen und die ökologischen Risiken gebannt werden. Es gilt auf dieser Basis der EuroAtlantischen Zusammenarbeit von Vancouver bis Wladiwostok aufzubauen.Wir erwarten vom NATO-Gipfel in Rom, daß, wie in der Baker-Genscher-Initiative angekündigt, die Einladung für einen Euro-Atlantischen Kooperationsrat beschlossen wird. Regelmäßige Treffen auf Minister- und Botschafterebene mit den Staaten des einstigen Warschauer Pakts und der Republiken der Sowjetunion müssen sich mit allen regionalen Risiken beschäftigen. Aus dieser Zusammenarbeit wird sich wie aus dem Liaison-Konzept der NATO, das wir nachdrücklich unterstützen, auch für die neuen mittel- undosteuropäischen Demokratien ein neues Bewußtsein von Sicherheit ergeben, das aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl kommt und zuerst Selbstsicherheit vermittelt.Die NATO bleibt auf absehbare Zeit die wichtigste Verbindung zwischen Europa und den USA und die zentrale Stütze europäischer Sicherheitspolitik. Aber ihre Garantiewirkung — das liegt in der Natur des NATO-Vertrags — bleibt auf ihre Mitglieder beschränkt. Sie schützt dabei — auch das ergibt sich aus dem Vertrag — nur vor dem äußeren Aggressor und nicht vor Gewalt zwischen ihren Mitgliedsstaaten; ich erinnere an die Zypern-Krise, als die Türkei und Griechenland, zwei NATO-Staaten, gegeneinander standen. Sicherheit vor allen denkbaren zwischenstaatlichen Konflikten im Osten Europas kann die NATO deshalb nicht gewähren, auch wenn sie sich allen beitrittsinteressierten Staaten öffnen würde.Wir stellen uns aber eine NATO vor, die sich KSZE-kompatibel entwickelt, die ihren Charakter und ihre Aufgabenstellung in dem Maße ändern oder aufheben kann, wie sich die KSZE unter Beteiligung der USA, Kanadas, der Europäischen Union und der Sowjetunion bzw. ihrer Nachfolgestaaten und aller anderen europäischen Staaten zu einem System kollektiver Sicherheit entwickelt, das Angriffe von außen abwehren sowie Krieg und Bürgerkrieg verhindern kann.Vieles ist noch in Bewegung. Wir liefern Ihnen deshalb keine Blaupause für eine euro-atlantische Architektur. Aber ein Entwurf ist es schon. Konrad Adenauer, der für den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO verantwortlich ist, war daran beteiligt, und Willy Brandt, der heute wieder gesund unter uns ist,
der den KSZE-Prozeß begonnen hat, und Helmut Schmidt. Und die FDP war natürlich immer dabei.
Wir könnten also die Urheberrechte teilen, und wenn es ein Erfolg werden soll, dann sind ja bekanntlich viele Mütter und Väter erforderlich.
Als nächster hat das Wort unser Kollege Karl-Heinz Hornhues.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gansel, wenn man Ihnen aufmerksam zuhörte, mußte man erkennen, daß Sie das Wichtigste am Anfang Ihrer Rede gesagt haben, als Sie im Grunde genaugenommen bekundet haben, daß die SPD zur Politik des Bundeskanzlers und zu seiner Regierungserklärung substantiell keine Alternative hat, und das finden wir gut und schön so.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl zum NATO-Gipfel und zum Europäischen Rat in Maastricht mit allem Nachdruck. Was denn sonst hätten Sie von uns erwarten können!
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4376 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Dr. Karl-Heinz HornhuesWir begrüßen, meine sehr geehrten Damen und Herren, vor allen Dingen aber auch jene Passage, die auf der Tagesordnung von Rom nicht stand, mit der man sich in Rom jedoch leider beschäftigen muß, nämlich seine Ausführungen zum Thema Jugoslawien. Ich glaube, wir haben hier hohe Gemeinsamkeit, wenn wir uns gewünscht haben und hätten, daß früher, als es jetzt geschieht, und intensiver, als es in der Vergangenheit geschehen ist, die Europäische Gemeinschaft sich handlungsfähiger gezeigt hätte.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie Sie wissen, habe ich mich jahrelang mit dem Thema Südafrika beschäftigt. Dort galt immer der Satz, was die Reform angeht, da käme zu wenig zu spät. Ich hoffe im Umkehrschluß mit Blick auf das Schicksal der Menschen in Jugoslawien, daß das, was sich jetzt endlich an Konsequenz in der Europäischen Gemeinschaft anbahnt, nicht auch unter die gleiche Überschrift „zu wenig und zu spät" gesetzt werden muß.Wir sind nicht böse darum, wenn es der Bundesregierung gelingt, innerhalb der EG kräftigere Tonarten, deutlichere Sprache und klareres Handeln zum Tragen zu bringen. Jedenfalls wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesregierung dabei voll und nachhaltig unterstützen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dem Bundeskanzler sind wir der Auffassung, daß die vor uns stehenden Gipfel von Rom, aber vor allen Dingen von Maastricht, Meilensteine bei der Schaffung kooperativer europäischer Sicherheitsstrukturen und einer neuen europäischen Friedensordnung werden können. Bei dem Treffen in Rom, das jetzt beginnt, werden die Staats- und Regierungschefs der Allianz das Bündnis an die neue Lage in Europa, eine Lage mit unglaublichen Chancen, allerdings auch mit einigen Risiken, anpassen. Rom wird — davon sind wir fest überzeugt — deutlich machen, daß die NATO das Rückgrat der Sicherheitsstruktur für das gesamte Europa ist mit einer amerikanischen Präsenz in Europa, die, wie es der Bundeskanzler soeben formuliert hat, auch als Garant politischer Stabilität auf absehbare Zeit unverzichtbar ist. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen dies mit aller Kraft. Im einzelnen wird auf diese Aspekte der Kollege Wilz später noch eingehen.Beim Europäischen Rat in Maastricht sollen die Zwillingskonferenzen zur Politischen Union sowie zur Wirtschafts- und Währungsunion ihren Abschluß finden. Im Erfolgsfalle, den wir wollen, den der Bundeskanzler will und worin wir ihn wie immer unterstützen, werden entscheidende Wegmarken in Richtung Europäische Union gesetzt sein. Zusammen mit der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes 1992 werden damit — so unsere Auffassung — im Erfolgsfall die Grundsteine für die Vereinigten Staaten von Europa gelegt sein. Für die CDU und CSU war dies über die ganze Nachkriegszeit ein unverrückbares Ziel, die deutsche Einheit anzustreben, aber eben auch durch die europäische Integration entscheidende Lehren aus der Geschichte zu ziehen.Wir stellen heute fest: Ohne die Westbindung — nebenbei bemerkt: gegen den Widerstand der SPDdurchgesetzt — hätten wir in den 50er und 60er Jahren die Freiheit nicht bewahrt,
und ohne unser Modell der Sozialen Marktwirtschaft hätten wir den Aufbau Deutschlands nicht geschafft.Ohne die Solidarität des Bündnisses im Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses — wiederum gegen die SPD, meine sehr geehrten Damen und Herren — hätte es die Politik des neuen Denkens — das ist unsere tiefe Überzeugung — in der Sowjetunion nicht gegeben.
Ohne die Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO — wiederum gegen den Willen führender Sozialdemokraten durchgesetzt — wäre die Stabilität in Europa nicht gewahrt worden, die Stabilität, die heute die Voraussetzung für seine Neuordnung ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Geschichte Europas und vor allem auch Deutschlands war nicht nur eine Geschichte von glanzvollen kulturellen Leistungen, sondern auch eine Geschichte von zerstörerischen Kriegen. Diese Erfahrung gibt uns den Auftrag, die europäischen Länder und Völker in Frieden und Freiheit zu integrieren. Das ist die Konsequenz, die wir aus der Geschichte ziehen.Während Westeuropa diese Chance nach 1945 hatte — ich glaube sagen zu können: Wir haben sie unter der Führung vor allen Dingen der CDU/CSU und von ihr gestellter Regierungen genutzt —, konnte der große Teil Europas hinter Mauer und Stacheldraht sein Recht auf friedliches Miteinander mit uns in Demokratie, Frieden und Sicherheit unter Wahrung der Menschenrechte nicht verwirklichen.In einem Europa, das sich grundlegend gewandelt hat und noch immer wandelt, bietet die Konferenz von Maastricht eine doppelte Chance, eine Chance, wie sie vielleicht nie wiederkommen wird: zum einen— im aufgezeigten Sinne — den entscheidenden Schritt zur europäischen Integration zu tun, zu einer Integration, die von der Bereitschaft der Mitgliedstaaten getragen ist, ihr Schicksal unwiderruflich — wie der Kanzler es formuliert hat — miteinander zu verbinden; zum anderen aber auch die Türen offenzuhalten oder zu öffnen für die, die als junge Demokratien jetzt erstmals die Chance haben, in freier Selbstbestimmung zum freien Europa zu gehören, zu einem— unserem — Europa der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte, der Sozialen Marktwirtschaft.Natürlich haben wir in Deutschland — das ist in der Regierungserklärung soeben auch deutlich geworden — als östlichster Teil des bisherigen westlichen Europas ein besonderes Interesse daran, daß der instabile östliche Teil — neben dem stabilen westlichen Teil — in dieser Lage möglichst bald ebenfalls ein stabiler, verläßlicher, demokratisch strukturierter Teil Europas mit uns sein kann.
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Dr. Karl-Heinz HornhuesAber dieses Interesse — so sehr es in besonderer Weise unser Interesse ist — muß auch — das ist unser Appell an unsere Freunde in der Gemeinschaft und darüber hinaus — , damit das Ganze gelingen und die Chance genutzt werden kann, das Interesse aller sein: in der Europäischen Gemeinschaft, unter den Staaten dieser Erde, die das Leben ihrer Bürger bisher haben in Freiheit gestalten können, d. h. inklusive aller Staaten der NATO und Japans, das der Bundeskanzler zunehmend nicht mehr zu erwähnen vergißt; also will auch ich das nicht tun.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa: demokratisch und föderalistisch, mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, mit einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik, einer verantwortungsvollen Umweltpolitik und einem möglichst hohen sozialen Standard.Der Stand der Verhandlungen zur Wirtschafts- und Währungsunion ist hier erfreulich positiv entwickelt. Ich stehe nicht an, dem Bundesfinanzminister — soeben war er noch da; vielleicht sagt es ihm jemand —
in besonderer Weise dafür Dank zu sagen, daß dies erreicht worden ist. Wir sind aber der Auffassung, daß die Wirtschafts- und Währungsunion nur erfolgreich sein kann, wenn zugleich ein erheblicher qualitativer Fortschritt auf dem Weg zur Politischen Union erreicht wird.Angesichts der laufenden Verhandlungen und mit Blick auf Maastricht im Dezember möchte ich deutlich machen:Erstens. Wir unterstützen unsere Regierung nachdrücklich und bitten alle Kolleginnen und Kollegen in anderen Parlamenten, im Druck auf ihre Regierungen Gleiches zu tun, damit Rechte und Verantwortlichkeiten des Europäischen Parlaments gestärkt werden.
Es ist richtig, wenn wir feststellen: In Europa darf keine zunehmende Grauzone entstehen, die parlamentarisch nicht kontrolliert wird. Deswegen fordern wir mehr Rechte und Verantwortlichkeiten ein. Dies bedeutet: Wir sind für eine gleichberechtigte Mitentscheidung an der Gesetzgebung, z. B. im Verhältnis zum Rat. Wir setzen uns für Initiativrecht und Zustimmungsrecht des Europäischen Parlaments in Fragen internationaler Abkommen, der Wahl des Präsidenten der EG-Kommission und der EG-Kommissare ein, um nur einige wichtige Punkte zu nennen.Wir unterstützen auch mit Nachdruck den Beschluß des Europäischen Parlaments im Hinblick auf eine angemessene Repräsentanz Deutschlands nach seiner Vereinigung und der neuen Bundesländer. Wir sind froh, daß das Europäische Parlament diesen Beschluß gefaßt hat.Zweitens. Das Europa der Zukunft muß unserer Auffassung nach föderal und nicht zentralistisch verfaßt sein. Deswegen begrüßen wir in besonderer Weise, daß sich die Bundesregierung bemüht, darauf hinzuwirken, daß der Grundsatz der Subsidiarität imVertragstext präzise verankert wird. Daß die bayerischen Freunde, so vermute ich, dabei besondere Bedeutung auf diesen Teil legen werden, wird in den weiteren Ausführungen sicherlich gleich noch deutlich werden.Drittens. Wir sind der Auffassung, daß die Schaffung und Realisierung des Binnenmarktes, der Wegfall der Grenzkontrollen Konsequenzen haben muß, und unterstützen von daher in besonderer Weise das, was der Bundeskanzler eben mit Blick auf die Kontrollen an den Außengrenzen, hinsichtlich Einwanderung und Asyl, hinsichtlich der Drogenproblematik und der organisierten Kriminalität gesagt hat.Viertens — und vor allem — gehört zu dem Ziel der Europäischen Politischen Union, der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten von Europa und den drei Schritten dahin eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die auch die Perspektive einer gemeinsamen europäischen Verteidigung einschließen muß. Die Gemeinschaft trägt große Verantwortung für die künftige Entwicklung in ganz Europa.Spätestens Jugoslawien — wenn man es vorher noch nicht gemerkt hat — und manches mehr um uns herum macht uns deutlich, daß die Europäische Gemeinschaft der entscheidende Faktor in Europa ist, wenn es darum geht, Gestalt und Verantwortung zu tragen. Um so wichtiger und dringlicher ist es unserer Auffassung nach, daß die Europäische Gemeinschaft darum auch auf dem Gebiet der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Kompetenzen und Instrumente bekommt, damit die Ziele der Außen- und Sicherheitspolitik Europas in besonderer Weise zum Tragen kommen können.Meine sehr geehrten Damen und Herren, es wird notwendig sein, daß gemeinsame Kompetenzen geschaffen werden: zur Wahrung der gemeinsamen Werte der Union, zur Erhaltung des Friedens und zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit nach den Grundsätzen der UN-Charta, den Prinzipien der KSZE-Schlußakte und der Charta von Paris für ein neues Europa, für den Ausbau und die Festigung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten. Dies werden die großen Ziele einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik sein müssen, und sie werden letztlich auch den Rahmen für die Sicherheitsüberlegungen bestimmen können.Die Bemühungen der Europäischen Gemeinschaft um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik waren im Vorfeld von Maastricht ins Stocken geraten. Wir begrüßen deshalb in besonderer Weise die Initiative von Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand vom 14. Oktober 1991, die entscheidend geholfen hat, aus der Sackgasse herauszuführen. Herr Kollege Gansel, die Erbsen, die Sie dabei gezählt haben, werden sich als wirkliche Erbsen erweisen. Es wird am Ende — da sind wir sicher — ein Erfolg stehen.
Die Notwendigkeit einer gemeinsamen und eigenständigen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union wird heute von niemandem mehr ernsthaft bestritten. Den Rahmen dafür bildet die Westeuropäische Union. Es entspricht deshalb der Haltung
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4378 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Dr. Karl-Heinz Hornhuesder Unionsfraktionen, daß die WEU schrittweise zur Verteidigungskomponente der Politischen Union entwickelt wird. Auch die Bildung militärischer Einheiten, die der WEU zugeordnet sind, dient diesem Ziel.Im Zusammenhang mit der Diskussion um eine eigene Sicherheits- und Verteidigungsidentität ist wiederholt die Frage angeschnitten worden, ob ein solcher Ausbau der WEU ein Gegensatz zur NATO sei. Ich möchte hier mit aller Deutlichkeit feststellen: WEU und NATO sind keine Gegensätze. Im Gegenteil, unsere Bemühungen um eine gemeinsame europäische Sicherheit und Verteidigung werden die transatlantischen Bindungen stärken, nicht schwächen. Wir haben die Aufforderung der Vereinigten Staaten an uns immer so verstanden, den europäischen Beitrag in der Allianz besser zu konturieren. Dies ist unser stärker konturierter eigener Beitrag innerhalb der NATO-Allianz mit dem Ziel ihrer Stärkung.All diese Probleme, die vor uns liegen, werden wir nur dann schaffen können, unseren Beitrag nur dann hinreichend zum Tragen bringen können, wenn wir für Deutschland keine Sonderrolle in Anspruch nehmen.Meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, wir werden die Europäische Politische Union, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten von Europa nur schaffen, wenn wir in diesem Konzert wie jeder andere sind — nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Dies berührt auch die Frage der Bereitschaft, für Frieden in Europa, um Europa und in der Welt Verantwortung zu tragen.Ich gehe davon aus, daß Herr Kollege Lamers gleich auf diesen Punkt noch näher eingehen wird.
Ich will nur dies sagen: Wer Europa will, wer den Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa will, darf für Deutschland keine Sonderposition reklamieren. Wer dies tut — ich beziehe dies konkret auch auf die Frage, ob wir außerhalb unserer Grenzen bereit sind, in der Gemeinschaft in Gemeinschaft mit anderen friedenstiftend zu wirken, zur Not auch mit Soldaten — , der beschädigt das Ziel und ist in Wahrheit letztlich nicht in voller Konsequenz für den Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa.
Kollege Hornhues, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Wieczorek-Zeul?
Frau Präsidentin, ich bin knapp vor Ende meiner Redezeit.
Es wird Ihnen nicht angerechnet.
Danke schön, aber das ist nicht mein Problem.
Also nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Abschluß möchte ich folgendes sagen: Wir wissen sehr genau, wie schwer im Grundsatz, aber auch im Detail der Weg hin zu einem Erfolg von Maastricht sein wird. Wir wissen, daß sich manche in unserem Land, aber auch viele außerhalb unseres Landes, fragen, ob das eigentlich alles sein muß. Ich glaube aber, gerade wir müssen deutlich machen, daß wir nicht wollen, daß es zu dieser europäischen Integration ernsthaft eine Alternative geben kann, weil uns die Geschichte lehrt, daß wir miteinander die Zukunft gestalten müssen und uns jedweder Gefahr entgegenstellen müssen, auseinanderzugehen.
Manche Sorgen und Besorgnisse haben sich im Zusammenhang mit der deutschen Einheit auf Deutschland gerichtet. An diejenigen gewandt, die sie geäußert oder gedacht haben, möchte ich sagen: Bitte gehen Sie mit uns den Weg zu diesem gemeinsamen Europa. Wir wollen in Europa mit Europa als Europäer Politik machen. Wenn Sie wegen der Deutschen, um der Deutschen willen Sorgen haben: Je näher wir mit Ihnen zusammen sind, um so weniger Sorgen brauchen Sie zu haben.
Der Bundesregierung und dem Bundeskanzler wünschen wir viel Erfolg. Wir wissen, daß die Bundesregierung diese guten Wünsche durchaus gebrauchen kann; denn noch sind die Probleme groß. Wir sind aber sicher, daß, vor allen Dingen aus unserem deutschen Interesse heraus, in besonderer Weise der Bundeskanzler derjenige sein wird, der Garant dafür ist, daß die vor uns stehenden Gipfel aus unserer Sicht, nicht nur für uns, sondern auch für die Menschen in unserem Land und für Europa, ein großer und durchschlagender Erfolg werden, der uns am Ende als diejenigen dastehen läßt — gestatten Sie mir, wenn ich dies vor der Geschichte so sage —, die die große Jahrhundertchance in Europa für Europa nicht verpaßt haben.
Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Helmut Haussmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit ist reif, das europäische Haus neu zu gestalten. Erstens: Unsere bisherigen westeuropäischen Freunde warten auf eine weitere und ehrliche Vertiefung. Aber auch sie wissen, daß die EG nicht das gesamte Europa umfaßt, und die Staaten in Osteuropa erwarten, daß es nicht zu einer erweiterten Freihandelszone kommt, sondern zu einer echten Politischen Union.Zweitens: Die Mittel- und Osteuropäer benötigen eine europäische Perspektive. Sie wollen heim nach Europa. Ich finde es wichtig, daß der Bundeskanzler zum Ausdruck gebracht hat, daß es zwar einer längeren Zeitperspektive bedarf, daß aber schon jetzt die Erweiterungsverhandlungen, die Zwischenschritte der Assoziierung so anzulegen sind, daß die Länder in
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Dr. Helmut HaussmannMittel- und Osteuropa eine echte Beitrittsperspektive haben.
Sie sollen nicht den Eindruck haben, wir wollten auf halbem Weg stehenbleiben und unterstützten aus rein ökonomischen Gründen die weitere Vertiefung seitens der reichen Länder.Drittens: Das europäische Haus ist neu zu gestalten, um den Menschen in unseren neuen Bundesländern eine wirkliche europäische Chance zu geben. In dem Maße, wie sich Westeuropa um Mittel- und Osteuropa erweitert, wird den neuen Bundesländern eine ganz entscheidende Rolle an der Schnittstelle zwischen früherer EG und früherem RGW zukommen. Das wird ihr Selbstbewußtsein, ihre Bedeutung in Gesamteuropa erhöhen.
Viertens: Die Weltwirtschaft orientiert sich kontinental; die Verhandlungen zwischen Mexiko, den USA und Kanada sind sehr viel weiter fortgeschritten, als wir es hier verfolgen. Japan und die pazifischen Staaten ordnen sich zumindest finanziell, auch was die Währungs- und die Handelspolitik angeht, neu. Europa wird nur als großes Europa wahrgenommen, sei es bei den GATT-Verhandlungen, sei es in der Wirtschaftspolitik oder sei es auf dem Weg zu einer zweiten Leitwährung, nämlich einer europäischen Währung. Insofern gibt es auch weltökonomische Gründe dafür, daß sich die EG sowohl vertieft als auch erweitert.Meine Damen und Herren, die Vorschläge für die Regierungskonferenzen liegen auf dem Tisch. Aus der Sicht der liberalen Fraktion weisen sie in die richtige Richtung. Sie entsprechen aber in vielen Punkten noch nicht den Anforderungen, die wir an eine substantielle Fortentwicklung der EG zu einer Politischen Union und zu einer Wirtschafts- und Währungsunion stellen. Wir begrüßen daher die heutige Debatte.In meinem Beitrag möchte ich drei wichtige Schwerpunkte bilden, die in bezug auf den Bereich der Verteidigungs- und Außenpolitik später noch von meinem Kollegen Hoyer ergänzt werden. Der erste Punkt ist der Aspekt der Vertiefung und der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Wir brauchen endlich eine durchgehende und entschlossene institutionelle Vertiefung, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden.
Ich wiederhole: Die Menschen in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Polen und überall dort, wo sie sich aus den bisherigen Fesseln der staatlichen Bevormundung und Bewirtschaftung zu lösen beginnen, erwarten von uns, daß wir am Aufbau demokratischer, freiheitlich-liberaler, aber auch marktwirtschaftlicher Strukturen aktiv beteiligt sind. Natürlich müssen wir dabei helfen; wir wissen aber, daß die Länder selbst bereit sein müssen, sich für demokratische und marktwirtschaftliche Formen zu öffnen. Wir wissen, daß derProzeß des demokratischen und wirtschaftlichen Neuaufbaus noch länger dauern wird. Wir müssen ihnen Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Ich begrüße, daß die Europäische Gemeinschaft in ihrem Phare-Programm vor allem die Hilfe im institutionellen Bereich, beim Aufbau von Banken, von Preis- und Steuersystemen, in den Vordergrund stellt. Mit Währungskrediten allein, meine Damen und Herren, kann die Marktwirtschaft in Mittel- und Osteuropa nicht eingeführt werden.
Der zweite aus unserer Sicht entscheidende Punkt ist aber die Stärkung der demokratischen Legitimität der Gemeinschaft. Wir, die liberale Fraktion, sind bereit, der Europäischen Gemeinschaft mehr Rechte und Kompetenzen zu übertragen, auch wenn dies mit einer spürbaren Einschränkung unserer nationalen Souveränität verbunden ist. Der Verlust an nationaler Souveränität und parlamentarischer Kontrolle hier darf jedoch nicht zu einer weiteren Vergrößerung des ohnehin bestehenden Demokratiedefizits der Gemeinschaft führen.
Ganz im Gegenteil: Wir finden, das Europäische Parlament muß endlich in die Lage versetzt werden, in entscheidendem Umfang an der europäischen Gesetzgebung mitzuwirken und die parlamentarischen Aufgaben wahrzunehmen, wie sie bei uns, im nationalen Rahmen, längst üblich sind.
Eine gleichberechtigte Mitentscheidung des Europäischen Parlaments bei der Gesetzgebung, die Zustimmung des Parlaments zur Ernennung des Präsidenten der Kommission und ihrer Mitglieder sowie zu wichtigen internationalen Verträgen, die Einräumung eines eigenen Initiativrechts in dem Fall, daß die Kommission der Gemeinschaft trotz Aufforderung durch das Parlament nicht initiativ wird, sind aus unserer Sicht die geeigneten Schritte, die demokratische Legitimation der Gemeinschaft entscheidend zu stärken.
Wir werden daher den Erfolg der Regierungskonferenzen vor allem daran messen, inwieweit es den Regierungen gelingt, diese Vorstellungen über die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments wirklich zu realisieren.Der entscheidende Punkt aus meiner Sicht ist und bleibt jedoch die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Erst wenn zu freien Grenzen und zu einem europäischen Paß eine wirklich europäische Währung hinzutritt, fühlen sich die Bürger europäisch.
Es ist auch im Interesse der Staaten — Amerika und Japan — , daß sich die Wirtschaft und die Währung in Europa einigen und daß dem amerikanischen Dollar und dem Yen eine wirklich europäische Leitwährung gegenübertritt. Dies ist nicht zuletzt auch im Interesse
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Dr. Helmut Haussmannvon Entwicklungsländern, die bei ihren Rohstoffverkäufen bisher zu sehr von den Schwankungen des amerikanischen Dollars abhängig sind. Insofern hat diese Währungsunion auch eine entscheidende Dimension für arme Länder.Diese Wirtschafts- und Währungsunion wird jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn wichtige Rahmenbedingungen gegeben sind. Ich möchte einige aus unserer Sicht hervorheben.Erstens. Wir brauchen einen gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne Binnengrenzen, der nach außen hin offen ist und in dem Marktwirtschafts- und Wettbewerbsordnung entscheidend sind. Nach außen offen heißt: Es darf zu keiner Festung Europa kommen. Es ist auch im Sinne der europäischen Verbraucher, daß bessere japanische Güter oder wettbewerbsfähigere amerikanische Technologie in Europa zur Verfügung stehen.
Nach außen offen heißt auch, daß wir die Bundesregierung entscheidend darin unterstützen, daß die Uruguay-Runde im Rahmen des GATT-Systems zum Erfolg geführt wird. Das ist der Testfall für viele nichteuropäische Länder, ob sich die Europäer nach innen öffnen und ob sie gleichzeitig bereit sind, auch den anderen Ländern eine Chance zu geben, an diesem größten Wirtschaftsraum der Welt teilzunehmen.
Zweitens. Wir brauchen eine wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Konvergenz auf der Grundlage von Preisstabilität und einer stabilitätsorientierten Finanzpolitik.Drittens. Wir brauchen eine gemeinschaftliche Geldordnung in der alleinigen Vertretung einer wirklich unabhängigen Notenbank. Hier sehe ich in dem Antrag der Sozialdemokraten eine Verwässerung unseres Antrags. Man ist zwar für eine unabhängige europäische Notenbank, schränkt das aber sehr stark ein, indem man sagt: Diese Notenbank ist vor allem auch gesamtwirtschaftlichen Zielen verantwortlich.
Die entscheidende Voraussetzung ist, daß die Währungs- und Preisstabilität eine enorme sozialpolitische Aufgabe ist und daß sie per se ein gesamtwirtschaftliches Ziel darstellt. Die anderen Ziele des Wirtschafts- und Stabilitätspaktes sind jedoch von der jeweiligen Regierung, auch von der Europäischen Gemeinschaft, wahrzunehmen. Die Europäische Notenbank muß ausschließlich auf die Währungsstabilität ausgerichtet sein.
Ein zweiter Unterschied, den ich im Vergleich zwischen unserem Antrag und dem, was Sozialdemokraten hier vorlegen, sehe, besteht in der Frage, wer unter welchen Kriterien letztlich darüber entscheidet, wer in die Wirtschafts- und Währungsunion eintritt. Wir sind der Meinung, daß die Wirtschafts- und Finanzminister diese Entscheidung treffen müssen. Wir sind ferner der Meinung, daß sich der Deutsche Bundestag damit befassen muß, bevor in die dritte Stufe eingetreten wird. Ich hoffe, daß wir unsere christdemokratischen Kollegen davon noch überzeugen können. In dem Antrag ist das noch nicht verwirklicht.
Wir sind aber nicht der Meinung, meine Damen und Herren — das ist im SPD-Antrag nebulös formuliert —, daß neben den Konvergenz- und Stabilitätskriterien auch eine — ich zitiere — „politische Wertung" notwendig ist, um darzustellen, wer in die dritte Stufe kommt. Nein, die D-Mark ist zu wichtig. Die europäische Währung muß sich an der jeweils stabilsten Währung orientieren, was im Moment leider nicht die D-Mark ist. Aber ich hoffe, wir sind auf dem Weg zur Nummer eins in Europa. Die europäische Währungs- und Notenbank muß wirklich unabhängig bleiben und ihren Standort dort finden, wo die D-Mark zu Hause ist, nämlich in Frankfurt am Main.
Ich möchte schließen, indem ich mich für die FDP-Fraktion zu den drei Prinzipien bekenne:Erstens. Kein Mitgliedstaat darf den Prozeß blockieren.Zweitens. Kein Mitgliedstaat darf willkürlich von der Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion ausgeschlossen werden.Drittens. Kein Mitgliedstaat darf zur Teilnahme gezwungen werden.Dies bestimmt die Kriterien meiner Fraktion. Ich möchte nochmals darauf hinweisen, daß wir es aus demokratischem und parlamentarischem Selbstverständnis für richtig halten, daß sich vor dem Eintritt in die dritte Stufe der Deutsche Bundestag damit bef assen muß.Vielen Dank.
Als nächste hat die Kollegin Andrea Lederer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die alten Ost-WestGegensätze sind verschwunden, und neue Gräben tun sich auf. In Westeuropa erleben wir im Prinzip einen Prozeß der fortschreitenden Integration, in Osteuropa und in der Sowjetunion Desintegration und Zerfall nicht nur der bisherigen Ordnungen, sondern auch der bestehenden Grenzen.Dem starken wirtschaftlichen West-Ost-Gefälle verdankt die Europäische Gemeinschaft ihre große Anziehungskraft. Viele — Slowenen, Kroaten, die baltischen Republiken und andere werden noch folgen — streben nicht nur aus nationalen Motiven nach Unabhängigkeit, sondern verbinden damit die Hoffnung, möglichst schnell in jenen Teil des europäischen Hauses zu gelangen, der relativ komfortabel eingerichtet ist und dessen Eigentümer finanziell einigermaßen ausgestattet sind.
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Andrea LedererAus dem politischen wie wirtschaftlichen Gefälle zwischen Ost und West resultieren Migrationsbewegungen. Viele Menschen wollen sich nicht darauf vertrösten lassen, daß sie erst in einigen Jahren, Jahrzehnten oder Generationen so leben können wie die meisten Menschen in Westeuropa. Diesem Problem begegnet der westliche Teil des Kontinents mit der Errichtung menschenverachtender neuer Mauern.
Mit der Politik der Europäischen Gemeinschaft erfolgt freilich Vertiefung der Westintegration statt Öffnung und Erweiterung. Die Politische Union steht für die Abschottung Europas gegen den Rest der Welt. Bester Beleg sind dafür die Vereinbarungen polizeistaatlicher Mittel gegen Flüchtlinge aus aller Welt auf der Konferenz in Berlin letzte Woche.Bundeskanzler Kohl hat seine Absicht bekundet, der deutschen Einheit die westeuropäische Einigung folgen zu lassen. Deutsche Sonderwege solle es nicht mehr geben, sondern das neue Deutschland müsse in die EG eingebettet bleiben. Diese Einbindung kommt freilich den Interessen der westeuropäischen Nachbarn entgegen. Immerhin sehen sich diese mit einem wirtschaftlich mächtigen Deutschland konfrontiert, vor dem sie sich in diesem Jahrhundert mehr als einmal fürchten mußten. Vor diesem Hintergrund ist die Bundesregierung bereit, ihre innen- und außenpolitische Souveränität zugunsten supranationaler Strukturen in der EG zu teilen.Was das Ganze aber praktisch heißen kann, bewies der Jugoslawien-Konflikt. Es waren die Deutschen, die auf schnellstmögliche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens drangen und von der großen Mehrheit der EG-Staaten zurückgepfiffen wurden, ausgerechnet jene Deutschen, die während des Zweiten Weltkrieges eine höchst unrühmliche Rolle in Jugoslawien spielten und denen es eben aus diesen historischen Gründen besser angestanden hätte, ihren Mund zu halten und sich für eine friedliche Lösung zu engagieren.
Die historisch bedingte Bereitschaft der Bundesrepublik zur Einordnung in europäische Strukturen ist allerdings nicht ohne Preis für die anderen. Die Bundesrepublik stellt Bedingungen: Wirtschafts- und Währungsunion ja, aber nur bei einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.Daß hier gerade die Bundesregierung so energisch vorprescht, beruht vor allem auf ihrer wirtschaftlichen und zunehmend auch politischen Stärke. Vieles kann mit, aber fast nichts gegen Bonn entschieden werden.Im Falle der Währungsunion wird es ein Westeuropa der zwei Geschwindigkeiten geben. Wie es aussieht, müssen Portugal, Griechenland und vielleicht auch Italien, gemessen an bundesdeutschen Stabilitätskriterien, ins zweite Glied rücken. Mehr noch: Wer sich in der Haushaltspolitik, bei den Inflationsraten und den wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben übernimmt, dem drohen Sanktionen. Die Bundesregierung war es,die sich strikt weigerte, im Zuge der Währungsunion die schwächeren Länder zu unterstützen, wie von Spanien und anderen gefordert. Nicht nur Griechenland, sondern auch Italien und Portugal stehen wirtschaftspolitische Roßkuren nach IWF-Muster bevor — als Preis dafür, in der EG mit in der ersten Reihe zu sitzen.Ich komme zum Junktim des Kanzlers und damit zu der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Hinsichtlich der gemeinsamen Außenpolitik über die Europäische Politische Zusammenarbeit hinaus wird sich die EG-Außenpolitik auf Grund der unterschiedlichen nationalen Interessen der Mitgliedsländer im Konkreten immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigen können. Dies ist sowohl im Falle des Golfkrieges als auch im Fall Jugoslawien oft beklagt worden. Tatsächlich sind die unterschiedlichen nationalen außenpolitischen Interessen das größte Hindernis für die EG, eine größere Rolle als Weltmacht spielen zu können, aus unserer Sicht durchaus mehr Vorzug denn Nachteil.Wesentlich relevanter und gefährlicher ist allerdings der bereits erzielte Konsens der neun WEU-Staaten, den Wirkungsradius der eigenen Streitkräfte über das NATO-Vertragsgebiet hinaus auszudehnen. Die weltpolitischen Ambitionen der EG sollen auch militärisch fundiert werden. Eben darin dürfte gerade das besondere Interesse der Bundesregierung an der gemeinsamen Sicherheitspolitik begründet sein. Die Bundesregierung will ihre Vormachtstellung auch militärisch untermauern und ein normaler Staat werden. Dazu gehört auch der Versuch, mit Frankreich zusammen den Kern einer europäischen Armee zu schaffen. Die Bundesregierung scheint hier an einer möglichst eigenständigen Lösung interessiert zu sein, nicht zuletzt wohl, um das „out of area"-Problem in ihrem Sinne zu lösen.Diesen militärpolitischen Ambitionen im Rahmen der EG, die Herr Lamers als — ich zitiere — „Ausweis der Verläßlichkeit" bezeichnet und die schlicht nichts anderes bedeuten als die Teilnahme deutscher Soldaten an Kriegen in aller Welt, wird die PDS/Linke Liste keine Absolution erteilen, sondern gemeinsam mit anderen Widerstand organisieren und entgegensetzen.Auf dem NATO-Gipfel in Rom soll nun eine politische Erklärung verabschiedet werden, die die bisherige NATO-Strategie und -Doktrin den politisch-militärischen Veränderungen anpassen soll. Die Botschaft der Regierungserklärung von heute morgen lautet allerdings — auf eine kurze Formel gebracht — , die militärischen Anstrengungen der NATO müßten weiter aufrechterhalten werden, denn es gebe neue Risikozonen — wie es jetzt statt des früheren Begriffs der Bedrohung heißt.Neben der Sowjetunion und den Nationalitätenkonflikten in Osteuropa müssen jetzt der Süden und der Islam zur Begründung für die bekannten alten Prämissen der NATO-Strategie herhalten: für die Strategie der Abschreckung und den Ersteinsatz von Atomwaffen, die besonderen Anstrengungen zur Formierung hochmobiler und hochtechnisierter Eingreifverbände, für das Ausbleiben der Friedensdividende und für neue Rüstungsausgaben.
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Andrea LedererAls großen Erfolg und als einzigen Beweis dafür, daß die NATO veränderungsbereit und veränderungsfähig sei, wird die Bush-Initiative gefeiert. Im wesentlichen aber orientiert sich diese auf den Abbau jener Potentiale, die ohnehin nicht mehr gebraucht werden bzw. für die beim besten Willen keine Mittel mehr aufzubringen sind. Tatsächlich wird im Gegenteil die qualitative Rüstung den angeblich neuen Erfordernissen angepaßt. Das heißt, real wird aufgerüstet. Die NATO scheut davor zurück, substantielle und einseitige Abrüstungsschritte zu unternehmen.Seit dem Ende des alten Ost-West-Konfliktes und dem Wegfall des alten Gegners fehlt der NATO ihre liebgewordene und gewohnte Bedrohung. Die Vereinigten Staaten entdecken den Feind Droge und rechtfertigen damit den der UNO-Charta widersprechenden Überfall auf Panama. Gerade rechtzeitig kam das Böse in der Gestalt Saddam Husseins wieder auf die Bühne der Weltpolitik. Die selbsternannten Weltpolizisten ließen sich den zweiten Golfkrieg finanzieren. Der Süden und vor allem die islamische Kultur werden als neue Feindbilder aufgebaut, die auf den Sofas dessen, was sich Zivilisation nennt, für wohliges Gruseln sorgen sollen. In den Planungsstäben werden die Ökokriege der Zukunft diskutiert und vorbereitet, während der Krieg gegen die Umwelt bei uns auch zu Lasten der armen Länder bereits geführt wird.Die NATO soll das internationale Unrechts- und Ausbeutungsregime aufrechterhalten und militärisch absichern. Ohne die disziplinierende Funktion des Ost-West-Konflikts kann sie sich endlich zusätzlich nach Süden wenden. Dieser Prozeß, die Wendung nach Süden, ist so neu nicht. Ich erinnere hier an die Direktorenstudie Anfang der achtziger Jahre, als eine neue Arbeitsteilung in der NATO diskutiert wurde und in der Bundesrepublik vom damals noch sozialdemokratischen Verteidigungsminister in Form des Wartime-Host-Nation-Support-Abkommens mit den Vereinigten Staaten unterzeichnet wurde. Der Golfkrieg wäre ohne die im NATO-Rahmen eingeübte Logistik und Infrastruktur nicht führbar gewesen.Die Neuentwicklung der NATO-Strategie und die Militarisierung Europas weisen in die falsche Richtung. Die NATO ist — meiner Ansicht nach nicht erst heute — überflüssig und gefährlich. Wir fordern ihre Auflösung.
Die WEU und andere europäische Institutionen sind nicht besser. Deshalb fordern wir ihre Abschaffung.Die reichen Länder sollen heute mit der Abrüstung anfangen; dann sehen sich die armen nicht zur Rüstung gedrängt.Das zweite Junktim aus dem Kanzleramt betrifft die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments. Tatsächlich ist es so, daß die westeuropäische Einigung in feudal-absolutistischer Weise vorangebracht wurde. Nationale Regierungen, EG-Ministerräte und EG-Kommission verabschieden Richtlinien und treffen Entscheidungen über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg, die für die einzelnen Menschen nicht nachvollziehbar sind. Die Demokratiedefizite sind evident.Die Vorschläge des Bundeskanzlers, die Rechte des Europäischen Parlaments durch mehr Mitentscheidungsbefugnisse bei der Verabschiedung von Gesetzen zu stärken, reichen aber erstens nicht aus und lösen zweitens auch nicht das Problem mangelnder Transparenz. Erforderlich wäre ein ganz anderes Modell der Demokratiesierung, ein Modell von unten. Dazu gehört erstens, daß die nationalen Parlamente in EG-Gesetzgebungsverfahren von vornherein beteiligt und nicht mehr zu reinen Vollzugsgehilfen degradiert werden. Dazu gehört zweitens die Möglichkeit der direkten Mitwirkung der zwölf nationalen Parlamente an EG-weiten Gesetzesinitiativen, die kein Privileg der EG-Bürokratie bleiben dürfen. Allein die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments löst nämlich nicht das Problem der separaten parlamentarischen Strukturen, die genau dazu geführt haben, daß das Europäische Parlament faktisch ein Schattendasein fristet.Ich komme zur Frage der gesamteuropäischen Strukturen. Auf der einen Seite haben sich die sieben Staaten der EFTA erst kürzlich im Warteraum der EG eingerichtet. Sie haben die Bedingungen der gesetzten EG-Standards akzeptiert bzw. akzeptieren müssen. Österreich und Schweden haben bereits ihr Eintrittsticket beantragt und werden in wenigen Jahren die EG auf 14 Länder erweitern. Zweifellos wird dies das Nord-Süd-Gefälle in der EG noch erhöhen.Osteuropa und der Sowjetunion droht hingegen auf Dauer ein Status, der mit dem Gefälle zwischen Nord- und Südamerika vergleichbar ist. Schon jetzt werden sie, läßt man die schnöden Versprechungen aus der EG einmal beiseite, wie Dritte-Welt-Staaten behandelt. Kredite gibt es nur, wenn die marktwirtschaftlichen Hausaufgaben erfüllt werden. Es wird noch Jahre und Jahrzehnte dauern, bis sich überhaupt vergleichbare marktwirtschaftliche Strukturen durchgesetzt haben. Doch vielerorts bestehen in osteuropäischen Staaten primitivere Formen der Marktwirtschaft ohne Kapitalisten. Woher sollten sie auch so schnell kommen?Damit verbunden ist das Problem, daß diese Staaten auch ihre Konstitution als bürgerliche Nationalstaaten nachholen müssen und wollen. Daß sich dies nicht gerade demokratisch und friedlich vollziehen muß, sondern gewaltsam, größtenteils diktatorisch-autoritär und begleitet von ethnischen Konflikten vollziehen kann, läßt sich an den Verhältnissen in Jugoslawien und der Russischen Republik ebenso ablesen wie an denen in Georgien und den baltischen Staaten.Das noch lange Zeit bestehende Ost-West-Gefälle wird sich nicht aufheben lassen. Im Weltkapitalismus gibt es kein Nullsummenspiel gleich starker und gleichberechtigter Nationen. Vielmehr ist und bleibt die wirtschaftliche Stärke der einen immer die Schwäche der anderen, wie uns das Diktat der Zahlungsbilanzen alljährlich zeigt.Ich danke.
Das Wort hat der Minister des Auswärtigen, Herr Hans-Dietrich Genscher.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4383
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es kann in diesen Tagen weder eine außenpolitische Debatte geführt noch über die Europäische Gemeinschaft debattiert werden, ohne daß über die Lage in Jugoslawien gesprochen wird. Ich möchte diese Gelegenheit wahrnehmen, die deutsche Jugoslawien-Politik auch im Blick auf die Entscheidungen, die am Freitag zu treffen sind, darzulegen.
Die Bundesregierung hat die innerjugoslawischen Verhandlungen unterstützt, solange sich Kroatien und Slowenien daran beteiligt haben. Die Bundesregierung hat die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens gefordert, nachdem zuerst durch den Einsatz der jugoslawischen Volksarmee in Slowenien und später in Kroatien durch militärische Aggression die Voraussetzungen für eine friedliche Lösung im innerjugoslawischen Verhandlungsprozeß zerstört worden sind.
Im Juni 1991 haben die 35 Außenminister der KSZE-Außenministerkonferenz in Berlin unter meinem Vorsitz festgestellt, daß es allein Sache der Völker Jugoslawiens ist, über ihre Zukunft zu entscheiden. Das war das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht. Daraus ziehen wir die Konsequenzen.
Ich denke, daß es in einer solchen Lage wichtig ist, sich als Deutsche der Grundlagen unseres Verhältnisses zu den Völkern Jugoslawiens zu erinnern. Wir vergessen dabei nicht die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und das Unrecht, das damals den Völkern Jugoslawiens in deutschem Namen angetan wurde. Die deutsche Außenpolitik hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Konsequenzen daraus gezogen und sich in einem beharrlichen Verhandlungsprozeß bemüht, ein zunehmend besseres und ein freundschaftliches Verhältnis zu Jugoslawien zu entwickeln.
Heute leben 700 000 Angehörige der Völker Jugoslawiens als geachtete Mitbürger hier in Deutschland unter uns, und Millionen von Deutschen haben Jugoslawien in den letzten Jahrzehnten besucht. Wie die Menschen in Jugoslawien das von vielen — vor allen Dingen in Belgrad — verleumdete Deutschland beurteilen, ergibt sich daraus, daß in den Schrecken des Krieges, der jetzt tobt, für diejenigen Menschen, die Jugoslawien aus Angst verlassen, Deutschland das Hauptzufluchtsland geworden ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Weiß ?
Ich würde meine Ausführungen gern zu Ende führen. Ich stehe Ihnen dann zur Verfügung, Herr Kollege.Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren mit besonderem Nachdruck für die Entwicklung der Beziehungen der Europäischen Gemeinschaft zu Jugoslawien eingesetzt, und Deutschland war es, das die Rolle Jugoslawiens in der Bewegung der Blockfreien immer wieder unterstützt und als verdienstvoll anerkannt hat. Aber Deutschland ist auch das Land, das aus seiner Geschichte und aus der Verpflichtung seiner Verfassung die einzige nur mögliche Konsequenzzieht, nämlich überall in der Welt — und deshalb auch in Jugoslawien — für das Recht auf Selbstbestimmung, für Menschenrechte und für die Achtung und den Schutz der Minderheitenrechte einzutreten.
Wir nehmen in dem Krieg, der in Jugoslawien tobt und der jeden Tag neue Menschenleben fordert, nicht Partei für das eine oder andere Volk in Jugoslawien, aber wir nehmen Partei für die Grundwerte unserer Verfassung und die Grundwerte, die in der Charta von Paris für das Zusammenleben in Europa vereinbart worden sind.
Von dieser Grundlage aus gestalten wir unsere Politik.Am 28. Oktober dieses Jahres haben die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft beschlossen, daß im Falle einer weiteren Verweigerung Serbiens für den Friedensprozeß eine politische Lösung mit den kooperationsbereiten Republiken ohne Serbien gesucht wird, und zwar im Hinblick auf die Anerkennung der Unabhängigkeit derjenigen Republiken, die das wünschen. Das, meine Damen und Herren, muß jetzt das Ziel sein. Wir dürfen es nicht erlauben, daß Serbien durch seine Verweigerungspolitik den Friedensprozeß weiter stört und aufhält, sondern wir erwarten, daß die Konferenz ohne Serbien mit den friedensbereiten Parteien jetzt zu Ende geführt wird und daß die Unabhängigkeit und Selbständigkeit anerkannt werden, und zwar auf der Grundlage der Anerkennung der bestehenden und nicht der durch Eroberung verschobenen Grenzen
und unter Achtung und Schutz des Rechts der Minderheiten.
Wir erwarten, daß am Freitag das Paket von Sanktionen, das am Montag vereinbart wurde, in Kraft gesetzt wird. Wir erwarten, daß alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, die bekanntlich am Montag alle zugestimmt haben, am Freitag mit uns dieses Paket in Kraft treten lassen. Ich möchte nicht verschweigen, daß bei einem anderen Verhalten eine schwerwiegende Krise in der Europäischen Gemeinschaft entstehen würde.Wir erwarten aber auch, daß über diese Maßnahmen hinaus nunmehr auch die anderen Staaten den Vorschlägen zustimmen, die die Bundesregierung schon im letzten Monat und zuletzt am letzten Montag vorgelegt hat, nämlich gegen diejenigen, die sich dem Friedensprozeß verweigern, ein umfassendes Handelsembargo einschließlich eines Ölembargos und eines Embargos für Kohle und Stahl zu verhängen. Wir müssen der jugoslawischen Volksarmee vor allen Dingen durch die Unterbrechung der Ölversorgung die Möglichkeit nehmen, weiter Luftangriffe gegen
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4384 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Bundesminister Hans-Dietrich GenscherStädte und andere zivile Ziele zu fliegen und ihre Panzer rollen zu lassen.
Wir erwarten weiter, daß, unter Koordinierung der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, durch Zusammenwirken unserer Staaten der Kapital- und Zahlungsverkehr für diejenigen Republiken blockiert wird, die den Friedensprozeß verweigern. Wir erwarten, daß keine Exportlizenzen mehr für sensitive Güter und Technologien gegeben werden. Wir erwarten die Suspendierung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit. Wir erwarten die Suspendierung der bilateralen Abkommen, die sich mit dem Verkehr auf der Straße, zu Wasser und in der Luft befassen. Nur wenn eindeutige wirtschaftliche Signale gesetzt werden, besteht noch eine Chance, diejenigen zur Besinnung zu bringen, die glauben, mit den Mitteln militärischer Macht schwerwiegende politische Probleme im Herzen Europas im Jahre 1991 lösen zu können.
Meine Damen und Herren, täuschen wir uns nicht! Wir haben es in Jugoslawien mit einer schweren, auch wechselvollen Geschichte der Völker Jugoslawiens zu tun. Niemand soll hier glauben, daß die einfachen Lösungen immer die richtigen wären. Aber wir haben es auch mit der Ironie der Geschichte zu tun, daß ausgerechnet in dem Land, das sich als erstes aus dem Würgegriff Stalins befreit hatte, heute die letzten Relikte der alten politischen Klasse in der Lage sind, dem Volk einen Krieg aufzuzwingen, den niemand will und der sich nur zum Nachteil der einfachen Menschen in Jugoslawien auswirken kann.
Herr Minister, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?
Ich spreche auch die Erwartung aus, daß der Weltsicherheitsrat seine Verantwortung wahrnimmt. Denn alle Entscheidungen, die ich dargelegt habe, kann die Europäische Gemeinschaft nur mit Wirkung für sich selbst verhängen. Der Weltsicherheitsrat allein ist in der Lage, Sanktionen mandatorisch, d. h. verpflichtend für die gesamte Staatengemeinschaft, zu erlassen.
Meine Damen und Herren, zur deutschen Jugoslawienpolitik gehört auch, daß wir, gerade weil wir das Selbstbestimmungsrecht der Völker achten, nicht wollen, daß sich aus der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts eine Renationalisierung der Politik in Europa ergibt und zu einer Balkanisierung in Europa und auch in Jugoslawien selbst beiträgt. Deshalb ist es erforderlich, daß denjenigen Republiken, die jetzt ihre Unabhängigkeit suchen, aber auch denjenigen, die zusammenbleiben wollen, in der Europäischen Gemeinschaft durch Assoziierungsverträge ein Anker der Stabilität geboten wird, mit der Perspektive des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft. Nur wenn wir die Stabilitätszone Europäische Gemeinschaft auch auf diesen Teil Europas ausdehnen, können wir verhindern, daß dieses Gebiet Europas wiederum zu einem Krisenherd für unseren ganzen Kontinent wird.
Ich denke, daß es auch wichtig ist, die KSZE-Strukturen zu öffnen: für diejenigen, die zusammenbleiben wollen, und für diejenigen, die unabängig werden wollen — als Mitglieder des KSZE-Prozesses.
Es ist uns als dem Land, das den Vorsitz im Krisenmechanismus der KSZE innehat, gelungen, bisher für alle Schritte und Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaft die Unterstützung der zunächst 35, jetzt 38 Mitgliedgliedstaaten zu erreichen. Unter unserem Vorsitz hat die Westeurpäische Union beschlossen, daß für den Fall, daß alle Konfliktbeteiligten dies wünschen und die Europäische Gemeinschaft das entscheidet, auch Streitkräfte der Westeuropäischen Union als Friedenstruppen zur Verfügung stehen.
— Ja, Streitkräfte sind Soldaten, und Friedenstruppen sind Soldaten. Das ist nun einmal so. Wir werden diese Friedenstruppen sicher nicht aus der Feuerwehr zusammenstellen, sondern aus den Streitkräften der Mitgliedstaaten der Westeuropäischen Union.
Deshalb ist es notwendig, das zu tun.
Aber weil Sie gerade das Wort durch Ihren Zwischenruf genommen haben, Herr Kollege Gansel, will ich Ihnen sagen: Sie haben sich sicher selbst davon überzeugt, daß die von Ihnen ironisierte Bemerkung, ich hätte gesagt, durch die Westeuropäische Union erwachse keine Bedrohung für die NATO, durch den Text nicht belegt wird, sondern in dem schriftlichen Interview mit einer niederländischen Zeitung habe ich dem Sinne nach gesagt, daß das, was wir für die Westeuropäische Union wollen, kein Widerspruch zu dem ist, was die NATO will. Sie haben die Überschrift zitiert.
Sie haben als Politiker selbst die Erfahrung gemacht, daß es falsch ist, Überschriften über Interviews zum Inhalt des Interviews selbst zu machen.
Herr Bundesminister Genscher, es gibt zwei Zwischenfragewünsche, den ersten von Herrn Konrad Weiß, der sich noch auf Jugoslawien bezieht, und den zweiten von Herrn Gansel. Würden Sie die erfüllen?
Aber selbstverständlich.
Herr Weiß.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4385
Herr Bundesminister, teilen Sie mit mir die Auffassung, daß es deutsche Außenpolitik unglaubwürdig macht, wenn zur selben Stunde, da der Bundesaußenminister, der Bundeskanzler und der Oppositionssprecher Norbert Gansel hier im Hause den Kriegszustand in Jugoslawien beklagen, ein jugoslawischer Bürger in dieses Kriegsgebiet abgeschoben wird? Der Bürger Islam Abbas ist zur Zeit in der Luft. Ich habe die Information. Alle meine Bemühungen beim nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten und beim Innenminister, das zu verhindern — die Mutter von Abbas hat gestern den ganzen Tag weinend bei mir im Büro gesessen — , hatten keinen Erfolg. Der Mann wird heute nachmittag in eine Uniform der jugoslawischen Volksarmee gesteckt und gegen Kroatien eingesetzt werden. Ist das glaubwürdige Außenpolitik und Innenpolitik?
Ich glaube nicht, daß das eine außenpolitische Frage ist. Aber wenn Sie meine Meinung zu dem Vorfall, wenn er sich so abgespielt hat, wie Sie es darlegen, hören wollen: Ich würde in einem solchen Fall nicht die Verantwortung für eine Abschiebung übernehmen wollen.
Und nun die Zwischenfrage von Herrn Gansel.
Nach dieser Frage kommt mir unsere Kontroverse fast deplaciert vor.
Ich habe nicht die Überschrift zitiert, sondern den ersten Satz der „dpa"-Meldung.
Meine Damen und Herren, das ändert nichts daran, daß ich den Eindruck habe, daß heute zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers sowohl in bezug auf den bevorstehenden Europäischen Rat in Maastricht wie in bezug auf den NATO-Gipfel im Haus eine weitgehende Übereinstimmung besteht, auch wenn sich die Sprecherin der PDS hier in vielen Fragen abweichend geäußert hat.
Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitten, daß Sie — und damit komme ich zu dem mich wirklich bewegenden Thema Jugoslawien zurück — Ihre Möglichkeiten in Ihren Parteifamilien nutzen, um auch in den anderen europäischen Ländern für diese Position zu werben, wie ich sie hier vorgetragen habe und wie sie, glaube ich, eine breite Unterstützung im Deutschen Bundestag findet.
Ich muß Ihnen sagen: Mich hat es bedrückt, feststellen zu müssen, daß bei der Beratung des Themas Jugoslawien im Europäischen Parlament, für dessen verstärkte Rechte wir uns alle aus Überzeugung einsetzen, nur etwa 20 % der Mitglieder anwesend waren und dort nicht einmal eine Entschließung zustande kommen konnte, mit der man sich für das Selbstbestimmungsrecht und die Anerkennung unter Berücksichtigung der Minderheitenrechte ausgesprochen hätte. Ich wünschte mir, daß dort, wo Mehrheitsentscheidungen in der EG möglich sind, wenigstens die Mehrheiten für die richtige Politik zustande kommen.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Bemerkung machen, liebe Kolleginnen und Kollegen, in bezug auf die Europäische Gemeinschaft. Aus dem, was ich hier vorgetragen habe, ist deutlich geworden, daß die Bundesregierung sich manche Entscheidung in der Europäischen Gemeinschaft schneller und auch in unserem Sinne deutlicher gewünscht hätte. Aber ich sehe darin keinen Grund, die Europäische Gemeinschaft so unter Kritik zu stellen, wie ich das auch in öffentlichen Äußerungen aus dem politischen Raum in den letzten Wochen und Monaten erlebt habe.
Ich denke, die Mängel im Entscheidungsverfahren, Probleme im Entscheidungsverfahren in der Europäischen Gemeinschaft, gerade im Fall Jugoslawien, sind nicht ein Argument gegen diese Europäische Gemeinschaft, sondern ein zusätzliches Argument, um endlich eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik herbeizuführen.
Als nächster hat das Wort unser Kollege Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der erste Schritt zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wurde zu einer Zeit gegangen, als der zum früheren Sowjetimperium zählende Teil Europas sich schon mitten in einer Umwälzung befand, deren Konsequenzen in vollem Umfang von vielen erst heute erkannt werden. Der Krieg in Jugoslawien, die den Völkern der ehemaligen Sowjetunion drohenden Katastrophen, aber auch die drastische Zunahme nationalistischer und rassistischer Vorurteile und Ausschreitungen sollten uns dazu veranlassen, das bisher entwickelte Selbstverständnis der EG zu analysieren, eine Zwischenbilanz zu ziehen und gegebenenfalls neue Prioritäten zu setzen, die sich vor allem auf das Ziel einer gesamteuropäischen Integration beziehen müssen.Wenn im Westen früher das Wort „Europa" fiel, so war politisch und wirtschaftlich gesehen damit meistens Westeuropa gemeint. Dieser Sprachgebrauch hat uns, die wir hinter der Mauer von jenem Europa abgeschnitten lebten, irritiert und betroffen gemacht. Ebenso empfanden viele unserer Freunde in den östlichen Nachbarländern. Wir wollten unseren gemeinsamen Traum von Europa nicht aufgeben, und der bezog sich nun einmal nicht nur auf unsere jeweiligen historischen Wurzeln und kulturellen Identitäten. Dieser im Westen mitunter gedankenlos, aber sicher nicht bewußt gegen uns gewendete Europabegriff hatte natürlich mit der Teilung seit Jalta zu tun; er war ein zur politischen Alltagssprache gewordener Ausdruck der Nachkriegsrealität, die zur Entstehung und Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft führte, die bis
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Gerd Poppeheute eine ausschließlich westeuropäische geblieben ist.Das betrifft auch ihre gegenwärtig diskutierten Zielvorstellungen. Da geht es u. a. um die Harmonisierung unterschiedlich entwickelter und strukturierter Marktwirtschaften und ihrer legislativen und exekutiven Interessenvertretungen, um unbehinderten Zugang zu den nationalen Märkten, um die Abstimmung währungspolitischer Maßnahmen, um die Regulierung von Markteinflüssen außerwesteuropäischer Produzenten, um die koordinierte Einflußnahme auf außerwesteuropäische Entwicklungen und um den tendenziellen Abbau nationaler Souveränität zugunsten internationaler Koordinierung.Inzwischen gibt es eine weitgehende Übereinstimmung darin, daß die EG einer Demokratisierung ihrer Entscheidungsstrukturen bedarf. Wir meinen aber, daß darüber hinaus auch die bisherigen Ziele einer Reform bedürfen. Die im wesentlichen an den Interessen der Kernländer orientierte Marktintegration ist bisher keineswegs allen beteiligten Ländern und gesellschaftlichen Schichten zugute gekommen.Der einseitige Vorrang der Wirtschaftsintegration muß beendet werden. Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und interregionaler Ausgleich müssen zu gleichrangigen Zielen erhoben werden. Insbesondere muß die reiche EG ihrer Verantwortung für die armen Länder des Südens gerecht werden. Für diese bieten alle bisherigen EG-Konzepte kaum Anlaß zur Hoffnung.Ich will mich jedoch heute auf die Konsequenzen beschränken, die sich aus den Veränderungen im Osten ergeben. Die Möglichkeit eines neuen, eines Gesamteuropas sollte für die EG Anlaß sein, ihre Form und ihr Konzept der Wirtschafts- und Währungsunion in Frage zu stellen. Zur EG als Kern auch einer gesamteuropäischen Integration gibt es offenbar keine Alternative. Jedoch ist die EG nicht automatisch das Modell für die Einigung ganz Europas. Eine gesamteuropäische Gemeinschaft muß in der Lage sein, in nicht diskriminierender Weise weit unterschiedlichere Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme zu integrieren, als dies die EG bisher vermochte.Die Annäherung der Lebensbedingungen muß Ziel, nicht Voraussetzung der Integration sein. Die demokratische Teilhabe an den ganz Europa betreffenden Entscheidungen darf nicht nur davon abhängig gemacht werden, ob ein Land wirtschaftlich weit genug entwickelt ist, um mit den Standards des westeuropäischen Binnenmarkts mithalten zu können.Die gesamteuropäische Wirtschaftsordnung erfordert die Schaffung neuer und den Ausbau bzw. die verbesserte Nutzung bereits bestehender Institutionen. Dazu könnte die Schaffung eines europäischen Entwicklungsfonds zur ökonomischen und ökologischen Rekonstruktion Osteuropas gehören, der allen beteiligten Geber- und Nehmerländern vergleichbare Rechte und Pflichten aufgibt.Sinnvoll erscheint es auch, die Währungen der ehemaligen Ostblockländer mit Hilfe eines europäischen Währungsfonds zu stützen, der nicht wie die vorgesehene Zentralbank auf die Stabilität eines ausschließlich westeuropäischen Währungssystems verpflichtet wird.Wichtige Aufgaben könnten auch von Institutionen zur Förderung gemeinsamer Umweltpolitik, zur Fusionskontrolle und zur Arbeitsmarktpolitik übernommen werden.Neue Ideen sind auch im sicherheitspolitischen Bereich gefragt. Das Ende der Blockkonfrontation macht das westeuropäische bzw. nordatlantische Sicherheitsbündnis gegen die sogenannte Gefahr aus dem Osten überflüssig. Statt dessen geht es jetzt darum, die Risiken infolge des Zerfalls und latenter Konfrontationen innerhalb des bisherigen sowjetischen Blocks zu minimieren. Ein gesamteuropäisches Sicherheitskonzept, in das die mittel- und osteuropäischen Staaten einschließlich der Erben der Sowjetunion integriert sind, ist erforderlich. Deshalb kann die Vorstellung von der Belebung der WEU, also eines rein westeuropäischen Bündnisses unter Ausschluß nicht nur der USA, sondern auch der Sowjetunion und ihrer früheren Satelliten, nur kontraproduktiv sein.Ein der neuen Situation angemessenes Sicherheitskonzept sollte den Rahmen der KSZE-Staaten längerfristig nicht unterschreiten, auch dann nicht, wenn die NATO zum Ausgangspunkt militärischer Integration erklärt wird.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, an Hand zweier Beispiele illustrieren, welche Probleme durch solch ein neues Sicherheitskonzept gelöst werden müßten. Beide stammen aus Berichten von Teilnehmern eines Diskussionsforums, das wir letzte Woche zur Situation in der Sowjetunion veranstaltet haben.Eine georgische Oppositionelle schilderte, wie in letzter Zeit die Konflikte zwischen dem Diktator Gamsachurdia und seinen Gegnern zunehmend mit Waffen ausgetragen werden. Soldaten der zerfallenden sowjetischen Armee verkaufen ihre Waffen an Oppositionelle, aber z. B. auch an die durch die gewalttätigen Auseinandersetzungen verunsicherten Bauern. Sie bessern ihren Sold auf, indem sie Gewehre, Granaten, ja selbst Panzer verkaufen. Da müssen doch die traditionellen Kategorien unseres Sicherheitsdenkens ins Wanken geraten, wenn wir von solchen Zuständen hören. Von den in der Ukraine befindlichen Atomwaffen will ich gar nicht erst reden.Ein Tagungsteilnehmer aus Moldawien — von seiner Herkunft Russe und Jude — sprach von der Angst der russischen Minderheit: Angst vor dem Anschluß an Rumänien, Angst davor, sowohl in Rußland als auch in der Ukraine als Fremdlinge behandelt zu werden. „Niemand will uns", sagt er. Und er fragt sogleich: „Wollen Sie denn, daß wir alle nach Deutschland kommen?"Meine Damen und Herren, wir wissen, daß das nicht die Lösung ist, aber wir haben auch keine befriedigenden Antworten auf seine Frage. Wir wissen aber, daß die herkömmliche westliche Diplomatie in diesen Fällen versagt und mit der Zeitdauer unseres Zögerns immer unzureichender wird.Ganz sicher wissen wir, daß keines dieser Probleme mit militärischen Mitteln gelöst werden kann. Weder
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Gerd Poppedie Minderheit noch die Mehrheit in Georgien oder Moldawien taugt als neues Feindbild für den Westen. Wir brauchen keine neuen Bedrohungsszenarien, um die alten Waffen und die alten Strukturen zu legitimieren, sondern aktive menschliche Einmischung — Einmischung, die zugleich Hilfe ist.Ich komme noch einmal auf die osteuropäische Wirtschaft zurück. Sie ist seit Jahrzehnten durch Mangel und Zerstörung geprägt. Wesentlichste Unterschiede gegenüber der Marktwirtschaft des Westens waren, daß es kein Geld gab, das diesen Namen verdiente, und keinerlei Mechanismen, die die Wirtschaft kalkulierbar hätten machen können. Alles gehörte dem Staat, über alles verfügten eine Partei und die von ihr eingesetzte Planungsinstanz. Grund und Boden hatten keinen ausdrückbaren Wert; für alle Waren wurden erfundene Preise festgesetzt. Selbst bei bestem Willen war es unmöglich, für irgendein Produkt die tatsächlichen Entstehungskosten festzustellen. Angebot und Nachfrage existierten als Kriterium nicht. Der Schwarzmarkt mit seinem eher zufälligen Angebot änderte daran nichts. Mit Beziehungen war eher etwas zu bekommen als mit Geld.Das ganze Ausmaß des wirtschaftlichen Chaos ist für viele Menschen im Westen immer noch unvorstellbar. Sein Ergebnis sind nicht nur der zwangsläufige Zusammenbruch des Systems, sondern auch die bis heute anhaltende Unkenntnis marktwirtschaftlicher Kategorien und eines entsprechenden ökonomischen Denkens.Nur sehr langsam entwickelt sich die Kenntnis der wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten wieder, die ja nicht abgeschafft, sondern nur geleugnet werden konnten, und vorerst kommen diejenigen am besten damit zurecht, die sich seit langem illegaler Praktiken und mafioser Strukturen bedienen. Das letzte ist gerade in der Sowjetunion ein riesiges Problem.Das alles rufe ich hier noch einmal in Erinnerung, um zu verdeutlichen, warum die osteuropäischen Staaten auf ihrem Weg in die EG nicht mit den Staaten der westeuropäischen Peripherie vergleichbar sind, die zwar einen geringeren Wohlstand aufzuweisen haben als die Bundesrepublik, aber immer eine Marktwirtschaft hatten.Die desolate wirtschaftliche Situation wird lange anhalten. Noch Jahre nach dem Neubeginn werden sich die Folgen realsozialistischer Planwirtschaft hemmend und krisenfördernd auswirken. Es ist kaum zu übersehen, welcher Aufwand erforderlich ist, um die Wirtschaft zu reformieren, die ökologische Zerstörung aufzuhalten, die Infrastruktur zu entwickeln und die notwendige Sanierung vorzunehmen.Die Umgestaltung wird vorhandene Versorgungsengpässe nicht sofort beseitigen, wird sie teilweise sogar zunächst verschlimmern. Arbeitslosigkeit in großem Umfang und z. T. sogar zunehmende Verelendung sind zu erwarten. Die sozialen Spannungen und die nationalistischen Tendenzen in weiten Teilen Osteuropas enthalten die Gefahr gewaltsamer Konfrontationen. Während einer langen Zeit wird vielen Osteuropäern eine ungewisse Existenz im Westen allemal attraktiver erscheinen als das Leben in ihrer Heimat.Wer keine neue Mauer gegen den Osten Europas aufbauen will, muß sich also schnellstmöglich den Aufgaben zuwenden, die die Überwindung der europäischen Teilung aufgibt. Und dies bedeutet nicht zuletzt, den Staaten Mittel- und Osteuropas den Weg in die EG zu ebnen. Die Menschen brauchen eine Lebensperspektive, die sie nicht den Westen als Paradies auf Erden verklären läßt, sondern ihnen Chancen in ihrer Heimat eröffnet.Die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa haben natürlich ein starkes Interesse an der europäischen Integration, das ihnen mitunter den Blick auf ihre unmittelbaren Nachbarn verstellt. Der Aufbau neuer mittel- und osteuropäischer Handelsbeziehungen könnte jedoch von erheblicher Bedeutung für die Konsolidierung der dortigen Wirtschaften sein. Im Übergang zu einer konkurrenzfähigen Produktion sind diese Länder auf den gegenseitigen Austausch von im Westen nicht absetzbaren Gütern angewiesen. Dieser Anspekt sollte von den Westeuropäern berücksichtigt werden.Daneben ist es notwendig, den westeuropäischen Markt für osteuropäische Produkte zu öffnen, die exportfähig sind. Das erfordert den Abbau von Protektionismus, und zwar in einem Zeitraum, der für die west- und die osteuropäische Wirtschaft verträglich ist. Ebenso sinnvoll wäre ein zeitlich begrenzter Schutz des osteuropäischen Marktes vor konkurrierenden westeuropäischen Produkten, soweit diese eine Gefährdung der dortigen wirtschaftlichen Existenzen bedeuten.Ein weiteres Instrument zur Förderung der Entwicklung lebensfähiger Volkswirtschaften in Osteuropa ist die Verringerung derjenigen Staatsschulden, die zum Erbe der alten Mißwirtschaften gehören und ohne jede nachweisbar marktwirtschaftlich sinnvolle Zweckbestimmung verwendet wurden. Jede demokratische Regierung, die dieses Erbe antreten müßte, wäre zum Scheitern verurteilt, noch ehe sie eine reale Chance der Umgestaltung hätte.Die unterschiedliche Entwicklung der osteuropäischen Länder verlangt ein differenziertes Vorgehen. Ungarn beispielsweise läßt sich natürlich weitaus schneller und reibungsloser in den Gemeinsamen Markt und in gemeinsame politische Entscheidungen einbeziehen als die ehemalige Sowjetunion, für die bislang noch unklar ist, welche staatlichen Partner dort überhaupt für einen solchen Integrationsprozeß in Frage kommen.Meine Damen und Herren, wir begrüßen jede Stärkung der europäischen Legislative. Wenn aber die grundsätzliche Frage nach Vertiefung oder Erweiterung der Strukturen der EG gestellt wird, so beantworten wir sie mit dem Vorrang der Erweiterung. Das gegenteilige Konzept der Wirtschafts- und Währungsunion würde die Aufnahme weiterer Länder, insbesondere der mittel- und osteuropäischen Reformstaaten dagegen eher bremsen. Wichtig ist es deswegen, diesen Staaten zunächst eine politische Perspektive des Beitritts zur EG zu eröffnen, Regelungen zu finden, die eine Annäherung der zukünftigen Beitrittsländer an die EG ermöglichen. Die EG sollte bald ein Konzpet für die Einbeziehung Ungarns, Polens und der Tschechoslowakei entwickeln. Die Vollmitglied-
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Gerd Poppeschaft dieser Länder bis zum Jahre 2000 wäre ein lohnendes Ziel und zugleich der Nachweis, daß die Europäische Gemeinschaft auf die Herausforderungen unserer Zeit angemessen zu reagieren in der Lage ist.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten des Freistaates Bayern, Herr Dr. Thomas Goppel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Fast traut man sich nicht, in dieser Runde der Außenpolitiker andere europapolitische Themen anzusprechen; aber vielleicht ist Europapolitik so, wie sie die Länder — auch von ihrer Zuständigkeit her — vorrangig zu interessieren hat, nun doch schon auf dem Wege zur Innenpolitik. So bin ich denn auch dankbar, daß Sie einem Vertreter der Länder Gelegenheit geben, an dieser Speerspitzenstelle zu dieser Thematik Stellung zu nehmen.
Ich bedanke mich darüber hinaus auch bei dem Herrn Bundesaußenminister für die Betonung der Unabhängigkeit der Republiken, die das wünschen, in Jugoslawien, für die Festsetzung, daß wir für Menschenrechte eintreten, und ich bin ihm außerordentlich dankbar dafür, daß das, was aus bayerischer Sicht und näherer Nachbarschaft zu Jugoslawien, vor allem zu Kroatien und Slowenien, frühzeitig gesagt werden konnte — auch aus der Zusammenarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Alpen-Adria — , nun unsere gemeinschaftliche Meinung ist. Daß wir gemeinsam an einem Strang ziehen, darüber bin ich glücklich, weil es den Kroaten und Slowenen und am Ende, um es ganz ehrlich zu sagen, auch den Serben dienen wird. Denn der Friede ist ja für alle Teilbereiche gleichermaßen wichtig. Herzlichen Dank also für das deutliche Wort! Das läßt den Frust im Bauch ob mancher Erklärung ob unserer Unfähigkeit, die aus den Reihen der FDP in Bayern gelegentlich kommt, dann auch ein wenig verstummen.
— Ich habe grundsätzlich Probleme, Herr Hornhues, sonst bräuchte ich ja nicht zu reden.Im dämmernden Abend — um das Bild zu gebrauchen — darf der Luftzug an der Tür die Kerzen nicht verlöschen lassen. Deswegen ist mir daran gelegen, daß wir die anderen Themen in der Diskussion nicht zu kurz kommen lassen und daß ich mit Ihnen gemeinsam deutlich machen darf, daß Bundestag, Bundesregierung und der Bundesrat gemeinschaftlich einer Überzeugung sind, nämlich der, daß beide Regierungskonferenzen, die der Politischen Union und die der Wirtschafts- und Währungsunion dringlich einemguten Ende zuzuführen sind. Und beide, die Europäische Politische und die Wirtschafts- und Währungsunion, müssen gleichermaßen vorankommen. Bundestag und Bundesregierung sollen dabei wissen, daß die Länder im Bundesrat sämtlich und einhellig auf ihrer Seite stehen. Wir würden uns dabei allerdings, Frau Präsidentin, wünschen, daß diese Geschlossenheit immer auch nach außen dokumentiert würde, wenn wir außerhalb der deutschen Grenzen miteinander auftreten und wenn dabei der Bundesrat dann auch ein Bestandteil der deutschen Gemeinschaft in politischen Äußerungen ist.Die Wirtschafts- und Währungsunion braucht, um zum Erfolg verurteilt zu sein, ein stabiles Fundament, bei dem man auch — um das meinem Vorredner zu sagen — die Wirtschafts- und Währungsunion nicht zurückstellen und in Frage stellen darf, bei der sie ein Betandteil der gemeinsamen Verhandlungen ist. Ein stabiles Fundament ist sie nur, wenn erstens der Binnenmarkt in Kraft tritt und zweitens die Europäische Politische Union gleichermaßen ihr zweites Standbein wird.
Letztere, die Europäische Politische Union, ist seit dem 30. September, dem Tag der Ablehnung der Vorlage der Niederlande, in Frage gestellt. Wenn sie in Frage gestellt bleibt, dann ist auch die Wirtschafts- und Währungsunion in der Gefahr zu kippen, sei es gleich, sei es später; das ist dabei offen. Die Europäische Politische Union braucht Stabilität, damit das Europäische Parlament gestärkt werden kann. Denn ich kann das Parlament und die Demokratie nur stärken,
wenn ich zuvor die Politische Union erreicht habe. Nur die Staaten, die das Parlament stärken, sind wirklich an einem demokratischen Europa interessiert. Das muß man manchem unserer Nachbarn und manchem Mitglied im Zwölferklub noch einmal sagen.Souveränitätsvorbehalte in der Außen-, Sicherheits-, Innen- und Justizpolitik belegen nichts anderes als mangelnde Integrationsbereitschaft bzw. das noch nicht genügend ausgebildete Verständnis für den Begriff der Integration und für das, was damit verbunden ist. Die sicherheitspolitischen Vorschläge von Großbritannien und Italien auf der einen und Deutschlands und Frankreichs auf der anderen Seite belegen, daß der Gemeinschaftswille trotz Golf und Jugoslawien noch nicht genügend tragfähig ausgebildet ist.Daß die Außen- und Verteidigungsministerkonferenz der WEU am 29. Oktober, also vor wenigen Tagen, ohne Ergebnis zu Ende ging, ist auch ein bedauernswertes Signal. Herr Bundesaußenminister, da haben Sie sicher noch eine Menge zu tun; Sie haben es auch selbst unterstrichen.Außen-, Innen- und Justizpolitik scheinen in Maastricht im Augenblick nicht einigungsfähig zu sein. Da ist der Golfkrieg mit seinen Spätfolgen, da ist Jugoslawien mit seinen gegenwärtig noch offenen Fragen, da ist die Europapolitik mit ihren noch ungeklärten
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Staatsminister Dr. Thomas Goppel
Problemen. Und schließlich ist die Frage des Asylrechts und einer einheitlichen europäischen Handhabung wichtig, weil auch sie die Voraussetzungen bzw. Bedingungen für einen einheitlichen Binnenmarkt in Frage stellen könnte.Wenn wir uns an der Frage der Grenzöffnung scheiden, wenn wir uns hier nicht einvernehmlich äußern und die Regelungen des Asylrechts in Europa nicht einvernehmlich für alle Zwölf finden, dann ist der Binnenmarkt nicht zu sichern.
Damit ist dann eine weitere Voraussetzung für die Einigung über eine Europäische Politische Union nicht mehr gegeben.
— Das ist richtig, Frau Hellwig. Der Herr Vizepräsident sieht das auch so und wird es Ihnen, so nehme ich an, heute nachmittag bestätigen.Die Initiative des Kanzleramts, die jetzt extra zum Ausgleich all dieser offenen Fragen, sozusagen zur Stützung der Aktivitäten des Auswärtigen Amtes, ergriffen worden ist, ist zu begrüßen. Selbst wenn Länderanliegen wie das Regionalorgan, die Subsidiarität, das Selbsteintrittsrecht auf den Weg gebracht werden, so reicht das mit Blick auf kurz-, mittel- und langfristige Zugeständnisse bei der Wirtschafts- und Währungsunion nicht. Es wäre auch uns Ländern zu billig, lediglich unsere Anliegen durchgesetzt zu sehen, ohne daß gleichzeitig auch die Frage nach der Wirtschafts- und Währungsunion konsequent weiter- bzw. zu Ende gedacht wäre. Nur eine einheitliche Vertragsstruktur für ein föderatives Bündnis kann Voraussetzung für ein solches deutsches Zugeständnis schaffen.Wir müssen gemeinsam fragen: Glauben die Skeptiker — manchen von ihnen hat man vorhin reden gehört, ohne daß er die Schlußfolgerung gezogen hat, die ich ziehen möchte — denn noch an die Europäische Union? Sind die Voraussetzungen dafür wirklich überschaubar?Alle im Osten und Südosten Europas haben gesagt: Sozialismus — nein danke! Das hat funktioniert, das ist auf den Weg gebracht. Demokratie — ja bitte! haben auch alle gesagt. Aber sie sagen es unterschiedlich und unterschiedlich aktiv. Manche von ihnen haben von den amerikanischen Nichtbeteiligungsquoten bei Wahlen schon kräftig gelernt.
Sie scheinen die einschlägige Berichterstattung viel zu häufig gesehen zu haben, wenn ich z. B. an die Polen denke.Marktwirtschaft — ja bitte! Das sagen zwar auch alle, aber es geht unterschiedlich schnell voran. Manchem von uns geht es zu langsam, anderen wiederum geht es zu unkoordiniert voran. Wir haben Schwierigkeiten, die entsprechenden Kenntnisse dafür überzubringen. Es ist also eine unterschiedlich zusammengesetzte Karawane, von der wir noch längst nicht wissen,wann sie an der Oase der Marktwirtschaft ankommt.Beim Zusammenhalt gibt es von „Jein" bis „Nein", von „Ja, auch" bis „Ja, wenn" alles. Dabei verringert sich die Durchsetzungskraft, neue Wege einzuschlagen, gehen die frühere Intensität und Bereitschaft sich einzusetzen zurück, wenn ich an die Regierung Antall in Ungarn denke, deren Stern ja nicht gerade im Steigen begriffen ist.Die Hilfe, die andere Europäer leisten, ist mäßig; ich denke dabei an Italien und den Nachbarn Albanien, ich denke daran, wie zögerlich im Konzert der Zwölf die andere, vorhin so häufig beschworene Frage behandelt worden ist.Unter diesen Vorgaben ist das Qualitätsjunktim unseres Bundeskanzlers — heute früh wiederholt geäußert — besonders notwendig. Wir können in Maastricht nur dann einen Gesamtvertrag akzeptieren — auch als Länder — , wenn die Wirtschafts- und Währungsunion und die Europäische Politische Union gemeinsam auf den Weg gebracht werden. Wir können beide nur dann akzeptieren, wenn gleichzeitig die Demokratisierung in Europa einen guten Schritt vorankommt. Das Europäische Parlament muß in die Fortentwicklung einbezogen sein. Wir können diese Fortentwicklung nur akzeptieren, wenn die föderative Struktur Europas ein Stück Festigung erfährt.Die Wirtschafts- und Währungsunion kann nur in dem Umfang wachsen, wie gleichermaßen die Politische Union in all ihren Bestandteilen vorankommt. Auch muß die Demokratie nicht nur in der Mitte — also bei Ihnen —, sondern auch oben und unten ein Stück ihrer Festigung erfahren, also auch in Europa, in Straßburg, und auch bei den Regionen sowie im Zusammenwirken aller.An einem Tag wie heute kann geltend gemacht werden, daß stützende Aktionen und unterstützende Äußerungen der Länder dem Bundestag nichts anderes signalisieren als die Tatsache, daß das, was wir gemeinsam vorhaben, die Unterschrift aller trägt, auch der 16 Länder. Auf der Grundlage dessen, was wir heute vormittag gehört haben, ist die Einigkeit gesichert.
Unsere Hauptaufgabe ist nicht zu jammern, sondern zu werben.
Herr Staatsminister, ich kann mit Ihnen leider nicht in eine Diskussion über die Zusammensetzung von Delegationen des Bundestages unter Beteiligung des Bundesrates eintreten. Ich werde das gerne zu gegebener Zeit nachholen.
Jetzt hören wir Frau Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der bevorstehende EG-Gipfel am 9. und 10. Dezember in Maastricht, der also in gut fünf Wochen stattfinden wird, hat Fragen von größter Tragweite, die heute morgen angesprochen worden sind, zur Konsequenz. Die Völker Europas dürfen da-
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Heidemarie Wieczorek-Zeulbei aber keine Zaungäste bleiben, und die Diskussionen über die Europäische Politische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion dürfen nicht im Stil der Geheimdiplomatie früherer Jahrhunderte behandelt werden, sondern wie die Verfassung in einer modernen Demokratie.In der Bundesrepublik gibt es mehr Diskussion und Information über den in der Sowjetunion geplanten Unionsvertrag als über den Unionsvertrag, der für alle Bürger und Bürgerinnen in der Europäischen Gemeinschaft künftig praktische Auswirkungen haben wird. Daß dies so ist, hängt auch mit der Art der Erarbeitung dieser Verträge zusammen; sie werden nämlich unter Ausschluß der Öffentlichkeit in den Regierungskonferenzen erstellt.Kaum einer weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen — ich hätte mich gefreut, wenn es heute einer der dort Verhandelnden hier gesagt hätte — , daß ein Teil dieser Europäischen Politischen Union die Annahme der Europäischen Staatsbürgerschaft sein wird. Das heißt, nach Maastricht werden wir ein Kommunalwahlrecht für EG-Ausländer und -Ausländerinnen in allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft — auch hier in der Bundesrepublik — haben. Das wäre, wenn es ein Regierungsmitglied, der Bundeskanzler oder der Außenminister gesagt hätte, ein Signal der Solidarität an die Ausländer und Ausländerinnen bei uns in der Bundesrepublik gewesen; es wäre auch eine klare Stellungnahme gegen die Agitationen, die hier von rechts gegen solche Ziele laufen.
— Wenn es so selbstverständlich wäre, Herr Bundesaußenminister, wäre es gut, wenn es auch in einer solchen Debatte gesagt werden würde. Ich bin nämlich ganz sicher, daß die Kenntnis darüber in der Bundesrepublik nicht weit verbreitet ist.
Vielleicht hängt es auch ein bißchen damit zusammen, daß u. a. das Bundesland, dessen Vertreter hier vor mir gesprochen hat, in dieser Frage in der christdemokratischen Riege der Bundesländer seine Zweifel hat. Deshalb wollte man wahrscheinlich die scheinbare Einigkeit nicht stören.
Frau WieczorekZeul, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer? Sie wird Ihnen nicht angerechnet.
Ich gestatte sie nur dann, wenn sie nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Frau Kollegin, Sie sprechen von europäischer Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft. Darin folge ich Ihnen. Finden Sie es dann aber logisch, das europäische Wahlrecht für diese Staatsbürger auf das Kommunalwahlrecht zu beschränken?
Also, ich fände es wie Sie, Herr Kollege Irmer, ganz konsequent, wenn es nicht beschränkt würde. Aber Sie wissen so gut wie ich, daß u. a. ihr Koalitionspartner in weitergehenden Vorschlägen nicht mitmachen würde.
Ja, wenn Sie es wollen, können Sie es doch sagen.
Deshalb diskutieren Sie lieber mit diesem Koalitionspartner als mit mir.
Die Bundesregierung scheint im übrigen eine öffentliche Diskussion über ihre wirkliche Verhandlungsstrategie in den Regierungskonferenzen, die zu Maastricht führen, auch zu scheuen. Denn nicht anders kann man es erklären, daß auch heute morgen in der Diskussion alle Punkte — NATO-Gipfel, Regierungskonferenzen — miteinander vermischt wurden. Nicht anders kann man es erklären, daß die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und FDP im Europaausschuß eine gemeinsame Abstimmung über eine Festlegung des Deutschen Bundestages im Vorfeld von Maastricht verweigert haben. Nicht anders kann man es erklären, daß hier nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers und auch nach dem, was Außenminister Genscher hier gesagt hat, immer noch große Lücken, Löcher, gefährliche Unklarheiten geblieben sind. Denn in der Tat hat der Kollege Gansel recht: Was Herr Kohl nicht gesagt hat, war doch das Interessante.
Nun hat Herr Lamers, der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU, die ganze Zeit verkündet: Wir wollen über die Europäische Politische Union den Einsatz der Bundeswehr außerhalb der NATO, außerhalb der Politischen Union verwirklichen. Innenminister Schäuble unterstützt solche Forderungen: Wir hätten angesichts dieser verfassungswidrigen Forderungen eine klare Absage von Bundeskanzler Kohl erwartet.
Wenn er dies nicht tut, dann bleibt die Position der Bundesregierung in dieser wichtigen Verfassungsfrage im Zwielicht.
Wir fordern Sie auf, diese Position im Vorfeld von Maastricht klarzumachen.Herr Außenminister Genscher, Sie haben hier unter Bezug auf Jugoslawien gesagt: Wir beziehen Partei für unsere Verfassung. Beziehen Sie mit uns, mit der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, Partei für unsere Verfassung, nämlich darin, daß bei Verwirklichung der Europäischen Politischen Union der grundgesetzliche Auftrag für die Fortgeltung des Bundeswehrauftrags gilt, nämlich Einsatz nur zur Verteidigung und nicht außerhalb des NATO-Gebietes.
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Heidemarie Wieczorek-ZeulMancher, so ist mein Eindruck, will aber mit der Unkenntnis in den Entscheidungen der Regierungskonferenzen ein innenpolitisches Geschäft machen. Das ist schlimm für die Europäische Gemeinschaft.
Mein Eindruck ist, daß mancher im stillen Kämmerlein der Regierungskonferenzen Positionen verankern wall, zu denen er keine Mehrheitschance im Deutschen Bundestag sieht. Dann möchte er nach Hause kommen — meistens handelt es sich um „er" — und sagen, Europa macht es aber notwendig.
Insofern ist es gut, daß Innenminister Schäuble mit seinem Trick, die EG beim Asyl vorzuschieben, vorgestern in Brüssel aufgelaufen ist.
Zehn von zwölf EG-Mitgliedern haben ihm die Asylformulierung verweigert, die er für den heimischen Gebrauch gegen die SPD in der Europäischen Gemeinschaft durchsetzen wollte.
Diese Situation bestätigt uns erneut in unserer Position als SPD. Eine wirkliche europäische Lösung setzt auf Harmonisierung, statt über die abstrakte und gefährliche Diskussion den Grundgesetzsartikel 16 ändern zu wollen.
Genauso versuchen eine Reihe von CDU/CSU-Politikern, die EG als Schutzschild für ihre unakzeptablen Pläne zu nutzen, die Bundeswehr weltweit in den Kampf zu schicken.
Diese Roßtäuscherei wird nicht gelingen. Gleichzeitig mit der Ratifizierung der Vertragsänderungen im Deutschen Bundestag, die im Deutschen Bundestag nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können, müssen auch die Verfassungsänderungen beschlossen werden, die in der deutschen Verfassung notwendig sind.Deshalb muß die Bundesregierung vor Maastricht sagen, wo sie auf Grund der Verträge Verfasserungsänderungen für notwendig hält. Dann weiß sie auch vor Maastricht, ob sie eine Mehrheit für diese Verfassungsänderungen im Deutschen Bundestag hat.Das Auswärtige Amt hat jedenfalls im Europaausschuß bisher angekündigt, daß es diese Notwendigkeit im Bereich des Kommunalwahlrechts für Ausländer, das in den Verträgen verankert werden soll, sowie bezüglich einer zu schaffenden europäischen Zentralbank sieht. Damit akzeptiert die Bundesregierung selbst, daß in substantiellen Bereichen, in denen durch die EG-Verträge die deutsche Verfassung tangiert ist, der Bezug auf Art. 24 des Grundgesetzes nicht ausreicht. In Art. 24 ist festgelegt, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Institutionen mit einfacher Mehrheit möglich ist.Wenn die EG-Verträge in solchen Fragen wie dem kommunalen Wahlrecht für Ausländer und der europäischen Zentralbank aber Verfassungsänderungen in der Bundesrepublik notwendig machen, dann kann ja wohl in einer so zentralen Frage wie dem Einsatz der Bundeswehr die deutsche Verfassung, Herr Lamers, nicht automatisch durch EG-Vertrag außer Kraft gesetzt werden.
Im übrigen sollten die Herren — in diesem Bereich der CDU/CSU handelt es sich ja nur um Herren — doch endlich einmal mannhafte deutsche Tapferkeit zeigen. Sie sollten eine Verfassungsdebatte mit offenem Visier führen, und zwar hier in der Bundesrepublik, statt sich hinter der Europäischen Gemeinschaft zu verstecken. Mehr Mut!
Dann werden Sie nämlich eines sehen: Es gibt im Deutschen Bundestag und in der Bundesrepublik keine Mehrheit für die Grundgesetzänderung zum Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Gebiets der NATO oder im Rahmen von gemeinsamen Aktionen der UNO-Kampftruppen.
Die Bundesregierung sollte dies den EG-Partnern besser vor Maastricht sagen; sonst müßte sie sich der politischen Hochstapelei zeihen lassen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ja. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Lamers.
Frau Kollegin, stimmen Sie mir zu, daß bei der Formulierung des Vertrages über die Politische Union alle unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft von einem Verteidigungsbegriff ausgehen, wie er in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist, und nicht von dem engeren, der angeblich, wie ich unterstreiche, dem deutschen Grundgesetz zugrunde liegt? Welche Konsequenzen muß die deutsche Politik Ihrer Meinung nach aus dieser Tatsache ziehen?
Herr Kollege Lamers, ich verstärke meinen Appell an Sie, mehr Mut zu zeigen und sich in solchen Fragen nicht auf die Europäische Gemeinschaft zu beziehen. Ich möchte darauf verweisen, daß die deutsche Bundesregierung selbst bezüglich der deutsch-französischen Verteidigungsinitiative in ihrem Vorschlag akzeptiert hat, daß es nationale Besonderheiten der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt, die zu berücksichtigen sind. Ich empfehle Ihnen Lektüre der deutsch-französischen Sicherheitsinitiative.
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4392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Heidemarie Wieczorek-ZeulIm übrigen muß es Aufgabe deutscher Politik sein, die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft zur friedlichen Konfliktlösung durch eine gemeinsame Außenpolitik und durch die gemeinschaftliche Wahrnehmung der Entwicklungspolitik zu stärken und damit die Europäische Gemeinschaft auch zu einer europäischen Friedensmacht in der Welt zu machen. Was wir brauchen, ist diese europäische Friedensmacht und keine militärische Großmacht Europa. Denn es geht in der Welt um Probleme wie die Bekämpfung des Hungers und die Bekämpfung der Umweltverschmutzung, die mit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Entwicklungspolitik angepackt werden sollten.Aus meiner Sicht und aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion sollte die Bundesregierung in der Europäischen Politischen Union ganz andere Schwerpunkte setzen. Die zentrale und vorrangige Frage ist, ob das Europäische Parlament künftig die Zuständigkeiten erhält, die in einer modernen Demokratie einem direkt gewählten Parlament zukommen. Hier sind die Schwerpunkte leider auch von seiten der Bundesregierung nicht so gesetzt worden, daß das Ziel in Maastricht eine Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments wäre. Das ist aber für Bürger und Bürgerinnen in der Bundesrepublik von entscheidender Bedeutung. Schon heute wird in Brüssel über die Frage der Außenhandelspolitik, über das Reinheitsgebot für Lebensmittel, über den Katalysator, ja über alle wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen des Binnenmarkts entschieden.Nun soll die Europäische Gemeinschaft darüber hinaus für die Außen- und Sicherheitspolitik, für die Wirtschafts- und Währungspolitik, für die Energiepolitik und für die Entwicklungspolitik zuständig werden. Mit Rechtsverordnungen von Regierungen sind diese neuen Aufgaben demokratisch nicht zu bewältigen. Deshalb muß die Europäische Gemeinschaft spätestens jetzt wirklich demokratisiert werden.
Deshalb sind folgende Punkte dringend notwendig, um einen echten demokratischen Zuschnitt der EG zu gewährleisten: Es darf in Zukunft kein europäisches Gesetz gegen den Willen des Europäischen Parlaments geben. Anzustreben ist zwischen Ministerrat und Europäischem Parlament ein Verhältnis, wie es in den USA zwischen den beiden Kammern besteht, daß nämlich beide Kammern einem Gesetz zustimmen müssen.Das Europäische Parlament muß in allen Bereichen des Haushalts das letzte Wort haben. Es muß das Recht haben, den Kommissionspräsidenten zu wählen. Wir müssen doch bei der Politischen Union mit der Politik beginnen und nicht mit all den Fragen, die den Politikern — insbesondere den Männern — immer einfallen, wenn ihnen sonst nichts mehr einfällt, nämlich mit dem Militär. Wir müssen also mit der Politik beginnen, mit der gemeinsamen Regierung und dem Parlament.
— Herr Lamers, ich freue mich, wenn Sie anschließend zeigen, wo Sie die friedensstiftende Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft stärken wollen.Ich komme noch einmal darauf zurück: Neue Kompetenzen können auf EG-Ebene nur in dem Maße übertragen werden, wie sie beim Europäischen Parlament ankommen. Wir sind für die Übertragung von Rechten auch des Deutschen Bundestages, aber, bitte schön, auf ein direkt gewähltes Parlament und nicht auf einen Ministerrat, der nichtöffentlich tagt und der seine zentrale Entscheidungsfähigkeit in wichtigen Fragen bisher noch nicht ausreichend unter Beweis gestellt hat.
Das heißt: Mehrheitsentscheidungen im Rat können nur da akzeptiert werden, wo das Europäische Parlament vergleichsweise Rechte der Mitentscheidung erhält.Das heißt auch, daß Mehrheitsentscheidungen, z. B. in der Sicherheitspolitik, nur akzeptiert werden können, wenn gleichzeitig das Europäische Parlament entsprechende Entscheidungsrechte erhält. Erfolgt dies nicht, dann bleibt der Sachverhalt, daß alle sicherheitspolitischen Entscheidungen unter die Kontrolle und Entscheidung des Deutschen Bundestages fallen und dort verbleiben müssen.Im Vorschlag Kohl/Mitterrand spielen parlamentarische Kontrolle und Entscheidung überhaupt keine Rolle. Es kann doch wohl nicht wahr sein: In Osteuropa werden Militär- und Sicherheitspolitik immer mehr unter parlamentarische Kontrolle gestellt, während sie in Westeuropa der parlamentarischen Kontrolle entzogen würden. Alle Staatsgewalt geht auch in der neuen Europäischen Politischen Union vom Volk aus. Das muß durch fortgesetzte nationale und europäische parlamentarische Entscheidungen in diesen Fragen gewährleistet sein und bleiben.
Die Bundesregierung muß wissen: Ohne substantielle Veränderungen des vorliegenden luxemburgischen Entwurfs in bezug auf die Rechte des Europäischen Parlaments, ohne substantielle Veränderungen mit dem Ziel — Herr Goppel hat es vorhin angesprochen — der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, um den Ländern und Gemeinden politische Gestaltungsspielräume zu sichern, kann es keine Zustimmung des Deutschen Bundestages und — ich denke, ich interpretiere die Beschlüsse der Ministerpräsidenten von letzter Woche richtig; Herr Goppel nickt — des Bundesrates zu den Ergebnissen von Maastricht geben.Die Bundesregierung sollte auch in einem anderen Bereich in den Regierungskonferenzen andere Schwerpunkte setzen. Sie sollte sich nämlich dafür engagieren, daß die Forderung des Europäischen Parlaments in die Vertragsverhandlungen aufgenommen wird, daß die fünf neuen Länder künftig durch 18 neu gewählte Mitglieder im Europäischen Parlament vertreten sein können. Das ist eine Frage der Konsequenz der deutschen Vereinigung. Es ist eine Verpflichtung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in den fünf
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4393
Heidemarie Wieczorek-Zeulneuen Ländern, daß sie auch im Europäischen Parlament angemessen repräsentiert sind. Ich hätte es schön gefunden, wenn in solchen Fragen eine deutsch-französische Initiative angestrebt worden wäre
oder wenn mit einer anderen Regierung eine solche Initiative unternommen würde.Aus unserer Sicht — das ist ein weiterer Punkt — sollte sich die Bundesregierung besonders engagieren, damit die Sozialpolitik in der Europäischen Politischen Union gleichgewichtig neben der Wirtschaftspolitik verankert wird. Beim Europäischen Binnenmarkt sind 75 % aller von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen verwirklicht. Aber bei der Sozialpolitik herrscht absolute Ebbe. Der letzte Sozialministerrat war ein absoluter Flop. Deshalb ist es zwingend, daß bei Entscheidungen des Europäischen Parlaments Mehrheitsentscheidungen in der Sozialpolitik im Vertrag für diesen Bereich verankert werden;
denn damit würde verhindert, daß Großbritannien oder ein anderes EG-Mitgliedsland in den wichtigen Fragen der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen weiter sozialen Fortschritt blockieren kann.Wir brauchen nicht nur große Unternehmen in der Europäischen Gemeinschaft und in der Europäischen Politischen Union. Wir brauchen gerade bei wichtigen Strukturveränderungen der Wirtschaft auch europäische Betriebsräte, Arbeitnehmervertretungen und die Verankerung sozialer Grundrechte in der Europäischen Politischen Union.
Wir verlangen von der Bundesregierung im Vorfeld von Maastricht deutliche Klarstellungen. Ich greife das auf, was ich in der Diskussion als Punkt mehrfach angesprochen habe, und zwar vor der Unterzeichnung in Maastricht. Es muß garantiert bleiben, daß der Deutsche Bundestag über jedweden Einsatz der Bundeswehr nach den Bestimmungen des Grundgesetzes entscheidet. Das heißt, Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets wird es auch im Rahmen einer gemeinsamen EG-Sicherheitspolitik nicht geben, genausowenig wie den Einsatz im Rahmen von UNO-Kampftruppen.Wir fordern die Bundesregierung auf, bei den Vertragsverhandlungen sicherzustellen, daß im Rahmen der gemeinsamen Sicherheitspolitik keine europäischen Eingreiftruppen zum Einsatz außerhalb des Gebiets der Politischen Union geschaffen werden.Wir fordern die Bundesregierung ferner auf, wirklich Lehren aus dem Golfkrieg zu ziehen, sich nämlich bei den Vertragsverhandlungen für eine restriktive Waffenexportpolitik zu engagieren. Wir wollen, daß sie — vor dem Gipfeltreffen in Maastricht — vor dem Bundestag erklärt, daß nationale Waffenexportkontrollen erst aufgeben werden, wenn gemeinschaftlich ebenso restriktive Regelungen verankert sind.
Ohne Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag bei den wichtigen Verfassungsänderungen kann die Ratifizierung der Vertragsänderungen nicht erfolgen. Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Position zu respektieren.
Wir fordern sie auf, auch die Position der Bundesländer zu berücksichtigen. Ohne eine Zustimmung des Deutschen Bundestages kann die Ratifizierung der Vertragsänderungen nicht verwirklicht werden.Wir wollen, daß Maastricht ein Erfolg wird. Das heißt aber, daß die Bundesregierung solche Verhandlungen nicht zur Privatsache machen kann, sondern daß sie sich der Unterstützung aller Parteien im Deutschen Bundestag sicher wissen muß.
Nach Maastricht muß sich die Europäische Gemeinschaft zu einer Gemeinschaft entwickeln, die die EFTA- und die mittel- und osteuropäischen Staaten umfaßt. Integration ist die beste Abwehr gegenüber neu wuchernden Nationalismen.Die alten Entscheidungsmechanismen in der EG haben in einer neuen EG von z. B. 24 Ländern keinen Platz. Gefragt ist deshalb, schneller als gedacht, eine neue Verhandlungsrunde für eine neue demokratische europäische Verfassung. Dies darf dann nicht erneut den Regierungen allein überlassen bleiben.Notwendig ist nach Maastricht ein europäischer Verfassungsrat, in dem gewählte europäische Abgeordnete sowie Vertreter und Vertreterinnen der Regierungen unter den Augen der Öffentlichkeit in Kenntnis der Wünsche der Bürgerinnen und Bürger das Kleid für die künftigen Vereinigten Staaten von Europa schneidern.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Das Wort hat der Kollege Bernd Wilz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst darf ich Ihnen, Herrn Außenminister Genscher, herzlich für die klarstellenden Worte zur Jugoslawien-Krise danken. Sie dürfen sicher sein, daß wir Sie auf diesem Wege unterstützen werden.
Freiheit, Einheit und die Einigung Europas, das waren immer die großen Ziele deutscher Politik. So wie Konrad Adenauer die Grundlagen zur Freiheit gelegt hat, so sind wir, diese Bundesregierung und diese Koalition, es gewesen, die mit dem Stationierungsbeschluß diese Freiheit abgesichert und den großartigen Prozeß in der Sowjetunion und in Osteu-
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Bernd Wilzropa eingeleitet haben. Das ist der Erfolg unserer glaubwürdigen Politik.
Lassen Sie mich weiter feststellen, daß es vor allen Dingen der Erfolg von Helmut Kohl gewesen ist, die Einheit Deutschlands vollenden zu können. Ich bin heute überzeugt, daß diese Bundesregierung und unsere Koalition nicht nur den Willen, sondern auch die Kraft haben, die notwendigen Schritte auf dem Weg zur Einheit Europas nunmehr gestalten zu können.Wenn wir am Vorabend des NATO-Gipfels in Rom hier miteinander debattieren, so darf ich, weil das bei einigen offensichtlich in Vergessenheit geraten ist, noch einmal die Bedeutung der NATO würdigen. Das ist eine Geschichte eines einzigartigen Erfolges. Die NATO hat uns über 40 Jahre Frieden in Freiheit gesichert. Wir haben mit der NATO Abrüstung und Rüstungskontrolle eingeleitet und durchgeführt. Wir haben damit Wort halten können, was der Bundeskanzler immer wieder gesagt hat: Frieden schaffen mit weniger Waffen. Wir haben es mit der NATO erreicht, die Spaltung Europas und Deutschlands zu überwinden. Es ist sogar gelungen, die Einheit Deutschlands unter NATO-Dach zu vollenden. Ich muß hier ganz offen sagen: Wären wir den Empfehlungen von manchen zur Neutralität gefolgt, dann wäre der Weg in die Isolation, aber nicht in die Einheit Deutschlands gegangen.
Deshalb werden wir unsere erfolgreiche Außen- und Sicherheitspolitik so fortsetzen, wie wir sie bisher gestaltet haben.Zweitens. Lassen Sie mich etwas zur Rolle der NATO sagen: Wir wollen, daß die NATO der sichere Anker in Europa bleibt und das Rückgrat auch einer künftigen europäischen Sicherheitsstruktur sein wird. Es mag zwar sein, daß die KSZE das Dach für eine neue Sicherheitsstruktur bildet. Dennoch glauben wir, daß die NATO der Garant für Stabilität und Sicherheit in Europa ist und bleibt. Wir wollen, daß Nordamerika über die NATO in Europa eingebunden bleibt und mit uns gemeinsam für unsere Werteordnung eintritt.Natürlich wird die NATO im Rahmen des sich vollziehenden Wandlungsprozesses auch eigene Veränderungen vorzunehmen haben. Wir wollen, daß die politische Gewichtung der NATO weiter ausgebaut wird. Wir wollen natürlich, daß Militärisches reformiert wird. Wir brauchen eine neue Strategie. Wir brauchen neue Kommandostrukturen. Wir brauchen neue Ausrüstung. Aber wir wollen auch, daß die NATO weiter mithilft, als Koordinator für Abrüstung und Rüstungskontrolle maßgeblich einzutreten.Lassen Sie mich auch sagen: Die NATO hat mitgeholfen, daß wir im europäischen Prozeß so weit gekommen sind. Ich habe heute, nachdem die eigentliche Bedrohung aus dem Ostblock verschwunden ist, manchmal die Sorge, daß einige Länder in Westeuropa jetzt offensichtlich nicht mehr im bisherigen Umfang am europäischen Einigungsprozeß interessiert sind. Ich bin überzeugt, daß die NATO weiter eine wichtige Hilfe für diesen Prozeß sein kann.Ich begrüße außerordentlich die Initiative, die die Herren Genscher und Baker entwickelt haben, wonach wir versuchen wollen, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, aber auch den Republiken auf sowjetischem Gebiet nun eine Möglichkeit der Sicherheitsanbindung zu verschaffen. Ich glaube, daß das Instrument des Koordinierungsrates ein richtiger Schritt auf dem richtigen Weg ist. Wir sollten diesen Weg wirklich mit Kreativität fortsetzen.
Lassen Sie mich drittens ein Wort zum Verhältnis von NATO, Politischer Union und Westeuropäischer Union sagen. Es ist völlig klar: Wir brauchen eine eigene europäische Sicherheitsidentität. Dies ist gewollt, dies ist erwünscht. Aber wir wollen nicht Strukturen im Gegeneinander, sondern wir wollen Strukturen, die sich gegenseitig ergänzen. Wir wollen vor allen Dingen Lösungen im Miteinander mit den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada. Das sind die entscheidenden Forderungen, die wir stellen.
Lassen Sie mich auch feststellen: Die Initiative von Helmut Kohl und François Mitterrand zu einem gemeinsamen Korps ist nicht, wie die Medien dargestellt haben, eine Verengung auf die deutsch-französische Situation, sondern das Angebot an alle Partner zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.Lassen Sie mich viertens ein Wort zu dem sagen, was in Rom und in Maastricht im Verhältnis zu den Auswirkungen auf die Bundeswehr zu erwarten ist. Ich stelle hier zunächst einmal fest: Der Auftrag der Bundeswehr bleibt, wie er immer war: Friedenssicherung durch Verteidigungsfähigkeit. Aber natürlich wird der Sicherheitsbegriff erweitert werden müssen, und wir werden neue Aufgaben zu definieren haben. Diese Aufgaben sollten sich in der Tat erstens an der eigenen Verteidigungsfähigkeit für unser Land orientieren, zweitens an der Bündnisfähigkeit im NATO-Rahmen, drittens an der Verantwortung im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme — natürlich wird Deutschland in der Zukunft seine Beiträge in der UNO und in der Westeuropäischen Union leisten — und viertens an der Verantwortung für Leben und Natur. Dabei — dies ist auch eine Forderung an uns, an die Bundesregierung — werden wir festzulegen haben, welche Teile der Bundeswehr wir nationaler Führung unterstellen, welche multinational im Rahmen der NATO zu führen sind und wo wir im multinationalen Verbund der Westeuropäischen Union auch einen Eingreifverband aufbauen werden. Ich sage hier sehr klar für uns: Kein Land sollte das andere dominieren, sondern wir sollten gleichberechtigte Partner sein. Wenn es um Kommandostrukturen geht, sage ich ganz offen: Mir wäre das Rotationsverfahren am liebsten und nicht das Festlegen auf die eigene Nation oder auf bestimmte Nationen.Es ist klar, daß das, was in Rom und Maastricht beschlossen wird, auch bei uns Auswirkungen auf die Aufgaben der Teilstreitkräfte, auf die neuen Strukturen, auf die Bundeswehrplanung und letztendlich auch auf den Haushalt haben wird. Was wir vor allem benötigen, ist Planungssicherheit. Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß in der Folge dieser Planungssi-
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Bernd Wilzcherheit, zumal wenn die Ergebnisse vorliegen, endlich das Spekulieren und Philosophieren über den Umfang deutscher Streitkräfte und über das Wehrpflichtsystem aufhören wird. Ich glaube, daß die im Kaukasus verabredete Zahl von 370 000 klug gewählt ist. Wir werden heute und morgen an diesem Umfang von 370 000 festhalten und festhalten müssen.Ich füge hinzu: Das Wehrpflichtprinzip hat sich in Deutschland bewährt, auch im internationalen Vergleich. Wir wollen auch zukünftig die Bundeswehr in Gesellschaft und Volk eingebunden wissen. Deshalb sage ich all denen, die heute leichtfertig von einer Berufsarmee sprechen: Es wird so mancher darunter sein, der nur auf eine Berufsarmee wartet, um sie dann fallenzulassen wie eine heiße Kartoffel. Dies werden wir nicht mitmachen. Wir werden am Wehrpflichtprinzip festhalten.
Lassen Sie mich zum Abschluß hier feststellen, daß Deutschland auch in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gleiche Rechte und gleiche Pflichten hat. Frau Wieczorek-Zeul, das, was die SPD in Teilen will und glaubt, nämlich daß wir zwar gleiche Rechte, aber mindere Pflichten hätten oder daß wir vielleicht für den Handel und die anderen für die Verteidigung zuständig seien, kann nicht der richtige Weg sein. Das werden die anderen nicht mitmachen. Das würde uns in die Isolation treiben. Deshalb lehnen wir diesen Weg ab.
Ich glaube, es ist bitter notwendig, daß das souveräne , wiedervereinigte Deutschland, nachdem wir uns in Westdeutschland 50 Jahre in Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geübt haben, den Weg zur Normalität findet. Es mag zwar der eine oder andere fragen, ob die Deutschen in ihrer Geschichte jemals normal waren.
Aber ich glaube, wir haben heute die Chance, daß Deutschland wirklich zur Normalität in der Völkergemeinschaft zurückfindet.Lassen Sie mich zum Schluß sagen — —
Herr Abgeordneter, wenngleich Sie zum Schluß kommen wollen, wird dennoch die Bitte nach einer Zwischenfrage geäußert.
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Frau Wieczorek-Zeul.
Herr Kollege, würden Sie nicht mit mir gemeinsam der Ansicht sein, daß sich Souveränität als allererstes auch auf unserem eigenen Grund und Boden, in der Bundesrepublik, zeigen sollte und daß der erste Schritt zur Souveränität eigentlich der sein sollte, daß es fürderhin z. B. keine Vorrechte alliierter Streitkräfte auf deutschem Boden geben darf, wenn wir die Souveränität bei uns zu Hause wirklich ernst nehmen?
Verehrte Frau Kollegin, selbstverständlich müssen wir Souveränität zu Hause zeigen. Wir reden ja im Moment auch mit unseren Partnern über das NATO-Truppenstatut und das Zusatzabkommen. Aber Souveränität muß auch im internationalen Vergleich, in der Völkergemeinschaft der UNO und in der WEU, mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten gelten.
Ich füge hinzu: Meine Damen und Herren, nutzen wir die Chance! Unsere Freunde, die Vereinigten Staaten von Amerika, haben uns angeboten, Partner in Führerschaft zu sein. Die mittel- und osteuropäischen Staaten Ungarn, Tschechoslowakei und Polen haben eine hohe Erwartungshaltung an die Verantwortung Deutschlands. Werden wir dieser Verantwortung gerecht! Greifen wir dies auf! Wir, die Koalition, sind dazu bereit.
Herzlichen Dank.
Herr Abgeordneter Lowack, entschuldigen Sie, daß ich Ihre Gespräche unterbrechen muß, aber Sie sind jetzt dran. Ich erteile Ihnen das Wort. —
Herr Abgeordneter, entschuldigen Sie, daß ich Sie störe, aber es läßt sich nicht vermeiden.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat seine Rede heute Wort für Wort und Satz für Satz abgelesen. Ich bedaure das etwas, weil er ja Parlamentarier ist. Die Geschäftsordnung sieht eigentlich vor, daß man in freier Rede vortragen sollte.
Die Kollegen haben in den letzten Tagen die alten Geschäftsordnungen zugeschickt bekommen und vielleicht festgestellt, daß das noch auf eine alte Regelung zurückzuführen ist, in der stand, daß ein Manuskript nur dann abgelesen werden dürfe, wenn der Redner der deutschen Sprache nicht mächtig sei.
Wir haben heute sehr viele schöne Worte gehört, aber im Grunde genommen verdecken sie doch eines — ich glaube, viele, die heute dazu sprechen wollten, werden das wohl innerlich bestätigen — : Es ist tatsächlich ein Jahr der außenpolitischen Versäumnisse und Pleiten, die wir mit sehr viel Steuergeldern auszugleichen versuchen. Mit der Adenauerschen Politik, auf die sich der Bundeskanzler so oft beruft, hat dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, nichts zu tun. Es war die große Leistung eines Adenauer, die deutschen Interessen zu den westlichen Interessen insgesamt zu machen und abzuwehren, daß sich per-
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Ortwin Lowackmanent etwas entwickeln kann, was wir heute erleben, nämlich daß man, wenn man an die Deutschen denkt, nicht an ihre kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen denkt, sondern daran, wie man die Hand aufhalten kann, wie man sich Politik von ihnen am besten bezahlen läßt.Das ist auch ein Ergebnis einer gewissen Sprunghaftigkeit, ich möchte auch sagen: Ideenlosigkeit und Sprachlosigkeit unserer offiziellen Politik, die leider — das sage ich noch einmal als Herausforderung an dieses Parlament — immer mehr zu einer Art Privatvergnügen von zwei Leuten an der Spitze geworden ist.Ich werde nie den 17. Januar vergessen, als wir den Bundeskanzler in seinem Amt zu bestätigen hatten. Gerade an diesem Morgen hatten die Streitkräfte der Vereinten Nationen unter Führung der Amerikaner angesetzt, Kuwait zu befreien. Als ich an dem Herrn Bundeskanzler vorbeiging, hörte ich nur ein Wort: Graf Lambsdorff, kommen Sie doch mal her! Waigel, komm doch mal her! Was soll ich denn jetzt eigentlich machen? Da wird so viel Druck auf mich ausgeübt. Ich weiß nicht, was ich machen soll.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben bis heute die Sprachlosigkeit der offiziellen deutschen Politik nicht aufgearbeitet. Wo sind denn die Entscheidungen, wann deutsche Streitkräfte eingesetzt werden können: im Rahmen der Vereinten Nationen, im Rahmen der Westeuropäischen Union, im Rahmen der NATO? Das sind doch keine Fragen, Herr Außenminister, die morgen oder übermorgen auf dem NATO-Gipfel erörtert werden, sondern das sind Fragen, die wir intern entscheiden müssen. Wer hat denn die Debatte, die damals — im April dieses Jahres — darüber im Parlament stattfinden sollte, wieder von der Tagesordnung abgesetzt? Warum ist denn da bisher keine deutsche Entscheidung erfolgt?Meine sehr verehrten Damen und Herren, vorhin ist Kroatien, Jugoslawien angesprochen worden. Das ist doch kein Krieg in Jugoslawien, sondern es ist der Krieg gegen Kroaten, die seit über tausend Jahren um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Es ist ein europäisches Volk, das nach Europa will, das den serbischen Kommunismus oder Erzkommunismus überwinden wollte, das ausgebeutet und ausgeräubert wurde mit der Technik Serbiens, das die Gelddruckmaschine in Lauf brachte, um damit — mit den Folgen einer Inflation — die eigene Armee, die später dem ganzen Unternehmen gedient hat, entsprechend auszustatten.Ich darf daran erinnern, daß die christlich-soziale Union — lieber Christian Schmidt, das ist vielleicht auch für dich interessant — die Bundesregierung am 5. Februar zu einer politischen Initiative mit folgenden Worten aufgefordert hat:Die martialischen Drohungen Serbiens, das ganze Land, insbesondere aber die ihr Selbstbestimmungsrecht beanspruchenden Slowenen und Kroaten, mit einem blutigen Krieg zu überziehen, müssen eine klare Antwort von deutscher Seite erhalten. Wenn ein fürchterlicher Bürgerkrieg, der gravierende Einflüsse auf die gesamte europäische Entwicklung haben müßte, vermieden werden soll, darf nicht zugewartet werden.Die Bundesregierung sollte umgehend die Europäische Politische Zusammenarbeit oder auch die KSZE zu einer Erörterung der Lage in Jugoslawien bewegen und eine Entscheidung herbeiführen, die Serbien rechtzeitig in die Schranken weist, bevor es zu spät ist.Wo war damals eine politische Äußerung, eine Stellungnahme des Bundeskanzlers? Es gab sie monatelang überhaupt nicht.
— Es gab Sprechblasen, lieber Kollege Kittelmann, ja.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa, der Glaube an die Freiheit, an unsere Werte ist heute schon lächerlich gemacht worden. Das Morden geht weiter. Wir werden uns wahrscheinlich in einigen Wochen immer noch damit abfinden müssen, daß mitten in Europa weiterhin Menschen sinnlos getötet werden.Dann kam in den letzten Tagen der Flop mit dem deutsch-französischen Korps, völlig unabgestimmt innerhalb des Bündnisses — ich habe gelesen, daß auch der Verteidigungsminister nichts davon wußte — , ein Schnellschuß, ein typischer Schuß aus der Hüfte des Bundeskanzlers.
— Lieber Kollege von Stetten, ich befasse mich gerne mit dem Unfug aus Ihrem Mund, aber nicht unbedingt in diesem Augenblick.Gehen wir doch einmal in die Sache rein! Es gibt die deutsch-französische Brigade. Jeder hier, der sich mit Verteidigungsfragen befaßt hat, weiß, daß das Ganze nicht funktioniert, daß man überhaupt nicht weiß, in welche Befehlsstruktur das überhaupt eingeordnet ist. Der französische Kommandeur kann den deutschen Soldaten nur Befehle erteilen, weil sich der deutsche stellvertretende Kommandeur bereit erklärt, die Befehle des französischen Kommandeurs als seine Befehle anzusehen, sich aber das Recht auf jederzeitigen Widerspruch gegen derartige Entscheidungen vorbehält. Niemand weiß, welches Papier verwendet werden darf. Wenn „NATO" oben steht, akzeptieren es die Franzosen nicht.
Niemand weiß, wie das insgesamt in das System eingebaut ist. Die Fachleute lachen darüber, daß man daraus heute ein Korps machen möchte, noch dazu, weil niemand weiß, wie die zusätzlichen Aufgaben, die der Herr Bundeskanzler heute früh angesprochen hat, verteilt werden sollen. Wer von den in die NATO integrierten Verbänden soll noch zusätzliche Aufgaben übernehmen?Wir brauchen einen Ausbau und eine Stärkung der Strukturen der NATO und keine heimliche Schwächung. Es hilft gar nichts, wenn der Bundeskanzler hier von dem einen spricht, aber in Wirklichkeit das andere macht und im Grunde genommen das Vertei-
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Ortwin Lowackdigungsbündnis, das wie kein anderes erfolgreich war, in Frage stellt.Die osteuropäischen Staaten: Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es gab doch eine Gruppe der Fraktion, die in diesem Jahr nach Ungarn und die Tschechoslowakei geschickt wurde, um mit denen darüber zu sprechen, wie man sich der NATO annähern kann, ob eventuell eine Mitarbeiter in den parlamentarischen Gremien möglich ist. Dann gab es den Fraktionsvorsitzenden, der eben das bei seiner „historischen" Begegnung mit dem Marschall Achromejew in Moskau ausgeschlossen hat. Auch das ist nicht ausgetragen worden. Auch hier ist bis heute keine Entscheidung erfolgt.Zur Europäischen Gemeinschaft — um kurz noch Maastricht anzusprechen — : Wo sind eigentlich die deutschen Ziele, die Grundsätze und Perspektiven mit ihren Konsequenzen angesprochen? Wer spricht darüber, daß sich die Probleme, die wir heute mit den GATT-Verhandlungen haben, nur über eine klare partielle Renationalisierung der Entscheidungsprozesse in der Agrarpolitik lösen lassen? Wer spricht davon, wie es den Leuten draußen geht, welche Konsequenzen auf sie zukommen und welche Befürchtungen unsere Wirtschaft hat?Der Bundeskanzler hat zahlreiche Versprechungen gemacht. Er hat vieles gesagt, mit dem man sich verbal identifizieren kann. Aber wir sind Weltmeister in Reden, die wir später nicht einhalten. Eine Politik, die Beständigkeit durch Aktionismus, klare Grundsätze durch Opportunismus — ich darf es kurz sagen: Klasse durch Masse — ersetzt, dient den Menschen in Deutschland nicht. Sie hat unserem Ansehen längst geschadet, und sie ist für uns untragbar teuer geworden.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Werner Hoyer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Normalerweise bemühe ich mich immer, auf die Vorredner einzugehen. Ich werde das auch heute im wesentlichen versuchen. Aber hier habe ich etwas Schwierigkeiten. Dem Kollegen scheinen die Vorlagen der sich mit mir zwar nicht immer in derselben Meinung befindenden, aber meistens recht guten Referenten der CSU zu fehlen, insbesondere was die Wertung einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers angeht. Das ist schließlich kein Debattenbeitrag, den man so fröhlich aus dem Ärmel hätte ziehen können. Hier war eine sehr präzise Vorbereitung und Formulierung angebracht und angemessen.
Der heutigen Debatte liegen eine wichtige Regierungserklärung sowie eine Fülle verschiedener Unterrichtungen durch das Europäische Parlament und durch die Bundesregierung zugrunde, des weiteren ein Fraktionsantrag, eine Unterrichtung durch die deutsche Delegation der Versammlung der WEU. Als würden diese achtzehn Beratungsgrundlagen noch nicht ausreichen, haben wir auch noch Entschließungsanträge zu behandeln. All dem werden wir sicherlich in der Vielfalt und Differenziertheit nicht gerecht werden können. Ich muß mich angesichts der knappen Zeit deshalb auf einen Aspekt beschränken, nämlich auf den der Sicherheitspolitik, genauer gesagt, den der äußeren Sicherheit. Dabei weiß ich nur zu gut, daß es auch im Hinblick auf die innere Sicherheit, insbesondere im Zusammenhang mit dem Schengener Abkommen, dringend zu diskutieren gälte. Aber ich denke — und ich möchte dazu auffordern —, daß wir das recht bald in gesonderter Debatte auch tun.Die revolutionären Veränderungen, die Europa in den letzten Jahren gekennzeichnet haben, sind der Entwicklung der Sicherheitspolitik auf unserem Kontinent und diese wiederum ist, meine ich, der Verteidigungspolitik im engeren Sinne in unserem Lande weit vorausgeeilt.Der morgen beginnende NATO-Gipfel in Rom, auf den wir als auf eine dringend erforderliche Orientierungshilfe seit mehr als einem Jahr hingearbeitet haben, sollte deshalb Anlaß sein, eine grundsätzliche, vorbehaltlose und auch tabufreie Bestandsaufnahme und Positionsbestimmung für die Sicherheitspolitik vorzunehmen und, daraus abgeleitet, die Diskussion der Grundlagen zukünftiger Verteidigungspolitik unseres Landes anzumahnen; denn ich denke, es muß Schluß sein damit, daß wir ohne eine hinreichende, fundierte Analyse und sicherheitspolitische Grundlage und auch, wie ich meine, ohne den hinreichenden Versuch eines sicherheitspolitischen Grundkonsenses in diesem Hause ständig Ad-hoc-Entscheidungen treffen, die teilweise erhebliche Haushaltsauswirkungen haben, die insbesondere für unsere Streitkräfte erhebliche strukturelle Festlegungen mit enormen Motivationswirkungen und sozialen Folgeproblemen bedeuten.
Nutzen wir also jetzt die Gelegenheit, die Verteidigungspolitik in Deutschland vom Kopf auf die Füße zu stellen und ihr eine solidere, seriösere konzeptionelle Grundlage zu verschaffen, als dies bisher der Fall sein konnte. Dies ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung.Manche Diskussion über die Möglichkeit einer Reduzierung der Bundeswehr auf unter 370 000 Mann, manche Diskussion über Möglichkeit, Sinnhaftigkeit und Akzeptanz von Wehrpflicht, manche Diskussion über konkrete milliardenschwere Waffensysteme, manche Diskussion über folgenschwere Entscheidungen über die Stationierung unserer Streitkräfte hätten wohl eine bessere und verläßlichere Grundlage, könnten wir uns denn auf einen präzisen konzeptionellen Rahmen verlassen.
Aber mit den Konzeptionen ist das so eine Sache. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, daß wir nach wie vor viel zukleistern. Eine präzise Analyse der sicherheitspolitischen ebenso wie übrigens der währungspolitischen Diskussion der letzten drei bis vier Jahrzehnte würde nach meiner Auffassung ergeben, daß wir nach wie vor entlang denselben Konfliktlinien argumentieren — übrigens Konfliktlinien, die durch
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Dr. Werner Hoyerdie Parteien gehen und nicht entlang von klassischen Parteilinien.Sind es in der währungspolitischen Diskussion die alten, wenn man es militärisch ausdrücken will: Scharmützel zwischen Monetaristen und Ökonomisten aus der Zeit des Werner-Plans, so erinnert die aktuelle Diskussion über die Sicherheitspolitik und insbesondere über die nach wie vor unbefriedigende konzeptionelle Verzahnung zwischen den jeweils für sich genommen sehr erfolgreichen Ebenen NATO, KSZE, EG, WEU an den Uraltstreit zwischen Atlantikern und Gaullisten.Wann aber hatten wir je eine größere Chance, Sicherheitspolitik von Grund auf neu zu konzipieren, als heute, zumal wir doch endlich die Ressourcen freisetzen wollen, die am Ende dieses Jahrhunderts gebraucht werden und im Vordergrund aller Bemühungen stehen müßten, wenn wir darangehen, die Bewahrung der Schöpfung und die Integration der Länder des Südens zu bewerkstelligen?Sicherheitspolitik wird endlich als Teil von Weltinnenpolitik verstanden, innerhalb deren, zumindest für Europa, die militärische Sicherheitsvorsorge deutlich an Bedeutung verliert — Gott sei Dank. Zu Recht ergänzen wir deshalb die ebenso klassischen wie erfolgreichen Dimensionen des Harmel-Berichts, nämlich Dialog und Verteidigungsfähigkeit, um die Dimension der Kooperation.
Ich weiß nicht, ob alle unsere Partner und auch alle bei uns selbst schon begriffen haben, daß die aktive Zusammenarbeit mit den Ländern Ost- und Mitteleuropas, die sich auf dem Weg zu Demokratie, Freiheit, Menschenrechten und Marktwirtschaft befinden, sowie eine Einbeziehung der Länder der Dritten Welt in Dialog, Kooperation und Austausch die beste Sicherheitspolitik sind. Aber all dies heißt nicht, daß der ewige Frieden ausgebrochen wäre, und hieraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen ist offenbar ziemlich unbequem, insbesondere natürlich für Politiker.Dabei entspricht es meiner Ansicht nach völlig altem Denken, wenn Verteidigungsanstrengungen grundsätzlich und im Konkreten vernachlässigt oder gar abschätzig beschieden werden, weil man nicht mehr genau angeben könne, wogegen es denn eigentlich gehe, gegen wen man sich vorbereite.Neues Denken bedeutet, Verteidigungsanstrengungen in aktives Bemühen um kooperative Sicherheitsstrukturen einzubringen und statt des Wogegen die Frage zu konkretisieren nach dem Was, Wieviel und vor allen Dingen Wofür.
Das aber erfordert einen intellektuell etwas anspruchsvolleren Ansatz und einen höheren Anspruch an positive Politikformulierung, und es erfordert einen Ansatz, der, bezogen auf die Verteidigungspolitik im engeren Sinne, die Langzeitwirkungen jetzt zu treffender Entscheidungen im Auge hat. Wir müssen in der Verteidigungspolitik Entscheidungen treffen, deren Wirkung nach 5, 10 oder 15 Jahren eintritt. DieseEntscheidungen zu verantworten heißt, eine grobe Vorstellung davon zu haben, welchen Risiken wir in diesen jeweiligen Zeiträumen ausgesetzt sein könnten.
Von daher bedingen sie ein hohes Maß an Verantwortung.Ich fürchte, daß wir diesem Anspruch bisher noch nicht voll gerecht werden können, denn es ist ja so viel einfacher, zu sagen, was man nicht will, als zu sagen, was auch in Zukunft noch erforderlich sein mag, und dazu dann aber bitte auch zu stehen.
Ich vermute, daß der NATO-Gipfel hier sehr viel weiter sein wird, als wir es in der nationalen Diskussion derzeit sind. Denn erfreulicherweise kommt das Bündnis in der Nukleardebatte ebenso weiter wie in der Diskussion über weitere Abrüstung, über konventionelle Sicherheit und vor allem über kooperative Strukturen und Zusammenarbeit mit den neuen Demokratien des Ostens. Aber dies alles sollte für uns auch Anlaß sein, endlich den Auftrag für unsere eigenen Streitkräfte neu zu formulieren und dabei die klassische Dreiteilung des Auftrages, an die wir uns so bequem gewöhnt haben, Auftrag in Frieden, Krise und Krieg, zu überwinden und um die Dimensionen Beitrag zur Konfliktlösung bzw. Konfliktentschärfung im internationalen Zusammenhang zu ergänzen. Ich denke, daß wir diese Diskussion auch im Hinblick auf das, was in diesem Kontext verfassungsrechtlich zu tun ist, sehr verantwortungsbewußt in den nächsten Monaten werden führen müssen.Damit könnten wir dann insgesamt in einem konzeptionellen Rahmen endlich unseren Streitkräften die Vorgaben geben, aus denen Strukturierung, personelle Ausstattung und Bewaffnung der Bundeswehr fundiert abzuleiten wären. Gegenwärtig habe ich den Eindruck, wir haben die Reihenfolge genau vertauscht.
Dabei scheint es mir so zu sein — der Bundeskanzler hat dies mit seinen Anmerkungen zum Atlantischen Bündnis und zur sicherheitspolitischen Dimension der Europäischen Union zum Ausdruck gebracht, der Außenminister hat es mehrfach bestätigt — , daß Verteidigungspolitik in Deutschland nie mehr als nationalstaatliche Verteidigungspolitik gesehen werden darf, sondern daß wir jeder Renationalisierung der Sicherheits- und speziell der Verteidigungspolitik in Deutschland entgegenwirken wollen. Wollen wir dies aber und wollen wir die überaus erfolgreiche Versicherungspolice, wie sie in den recht weitsichtigen Verträgen für NATO und EG zum Ausdruck kommt, wirksam bewahren, so heißt dies, daß Deutschland auf Bündnisfähigkeit setzen muß, und das wiederum bedeutet, daß wir der modisch gewordenen Verkürzung der Legitimation von Verteidigungsanstrengungen auf die Verteidigung des eigenen Territoriums entgegentreten müssen.
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Dr. Werner Hoyer— Entschuldigen Sie, wir sind in der Diskussion zu dem Thema Territorialverteidigung mittlerweile so weit, daß wir noch nicht einmal die Verpflichtungen im eigenen Bündnis voll im Bewußtsein der Menschen, die darüber diskutieren, haben. Das ist das Problem.
Überwindung der Grenzen in den Köpfen und Herzen darf nicht einhergehen mit einer Rückbesinnung auf eine Wagenburgmentalität oder Territorialverteidigungsromantik.
Über dieses Thema werden wir auch ernsthaft diskutieren müssen, wenn es um die Zukunft der Wehrpflicht geht.
Nutzen wir also die Chancen, die mit dem zu erhoffenden Erfolg in Rom verbunden sind. Nutzen wir sie auch im Hinblick auf eine aktive, mutige, Gestaltungskraft dokumentierende Sicherheits- und auch Verteidigungspolitik. Gestalten wir auf erheblich niedrigerem Niveau die noch verbleibenden Verteidigungsanstrengungen. Sagen wir denjenigen, die bisher engagiert mit ihrem Dienst in den Streitkräften zur erfolgreichen Außenpolitik unseres Landes beigetragen haben, daß wir ihren Beitrag zu schätzen wissen.Sagen wir schließlich denjenigen, die wir auch für den verringerten Umfang unserer Streitkräfte in Zukunft brauchen werden und um die wir uns werden bemühen müssen, daß sie einen faszinierenden Beitrag leisten können zur Gestaltung von dem Frieden verpflichteten Streitkräften. Diese Streitkräfte gilt es weiterhin als integralen Bestandteil unserer Gesellschaft zu verankern, mit neuem Auftrag auszustatten, effizient zu strukturieren und motivierend zu führen.
Wenn wir uns die hierfür meines Erachtens dringend erforderliche Denkpause — ich meine: Pause zum und nicht vom Denken — leisten, werden wir es auch verschmerzen können, wenn der morgige NATO-Gipfel nicht, wie wir es vor den großen Veränderungen und vor dem Putsch in der Sowjetunion vielleicht erwartet hatten, der Endpunkt einer Strategierevision, wohl aber ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu kooperativen Sicherheitsstrukturen in ganz Europa ist.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wieczorek.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über dem ganzen Streit über eine Verteidigungsunion und eine PolitischeUnion kommt die Wirtschafts- und Währungsunion wohl ein bißchen zu kurz. Sie wird wohl nur noch als Technokratie verstanden.
— Ich habe es bemerkt, daß er kurz dazu gesprochen hat. Deswegen möchte ich ein bißchen dazu Stellung nehmen. Ich will an einer Stelle auch auf den Kollegen Haussmann eingehen.Es geht dabei nicht nur um die Frage, wie das Ganze funktioniert, sondern es geht darum, daß die Integration der Geld- und Finanzmärkte eine neue politische Dimension mit sich bringt. Das heißt nichts anderes, als daß die Mitgliedsländer auf die eigenständige Hoheit in ihrer Geld- und Währungspolitik verzichten und daß eine drastische Einschränkung ihrer Haushaltshoheit erfolgt.Gerade für die Bundesrepublik ist dieser Einschnitt von besonderer Bedeutung, denn es ist unsere erfolgreiche Währungs- und Geldpolitik, die die Grundlage unserer Wirtschaftsentwicklung ist. Das ist auch Teil unseres politischen und wirtschaftlichen Selbstverständnisses. Die D-Mark ist auch nicht durch Zufall zum Anker für das europäische Währungssystem geworden, und die Bundesbank ist die Zentralbank, die tatsächlich Hoheit abzugeben hat; bei einigen anderen Zentralbanken ist dies ja nur ein Rechtsvorgang.
Wir sollten keine Illusionen haben, daß dieser Verzicht für uns schmerzlos sein wird. Wir haben noch die Aufgabe vor uns, der deutschen Bevölkerung klarzumachen, daß der europäische Einigungsprozeß zur Folge hat, daß es die geliebte D-Mark dann nicht mehr gibt. Dies wird zu Recht viele Anstrengungen erfordern, denn wir machen einen deutlichen Schritt zu einer neuen Europäischen Gemeinschaft von anderer Qualität. Es gibt dabei keine Rückfahrkarte. Ist die D-Mark aufgegeben, so können wir sie nicht zurückholen.Wir können zwar auf einige wirtschaftliche Vorteile verweisen: Der Tourist muß an den Grenzen nicht mehr tauschen. Aber das war es dann schon. Und für die deutschen Unternehmen, die ja weithin in D-Mark faktorieren, gibt es ein bißchen Ersparnisse bei den Zahlungsverkehrskosten und bei den Prämien für die Währungsabsicherung. Für Unternehmen unserer Partnerländer ist das wichtiger. Insofern profitieren davon auch wir.Aber das Wesentliche ist doch, daß diese ganzen Möglichkeiten auch mit einem reformierten und fortentwickelten europäischen Währungssystem hätten erreicht werden können. Dazu brauchten wir nicht unbedingt die Währungsunion.Da bleibt ein wesentlicher Vorteil nur noch für unsere Geldmengensteuerung bei der Bundesbank übrig. Dadurch, daß wir jetzt die zweitstärkste Reservewährung haben, ist es natürlich angenehmer, das auf breitere Schultern zu verteilen als nur auf die Bundesrepublik Deutschland. Das ist besonders dann wich-
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Dr. Norbert Wieczorekfig, wenn die ost- und die mitteleuropäischen Länder zunehmend eine westeuropäische Währung als Grundlage auch ihrer Zahlungstransaktionen nehmen.Aber all diesen Erfahrungen steht ein wesentlicher Nachteil gegenüber. Zum einen können wir nicht unterstellen, daß die anderen europäischen Länder die gleiche Verinnerlichung der Geld- und Preisstabilität wie wir in der Bundesrepublik auf Grund unserer geschichtlichen Position haben. Sie können es zum Teil auch gar nicht so verwirklichen, weil ihre strukturellen Voraussetzungen so sind, daß das nicht einfach zu machen ist. Es ist nicht nur böser Wille in Griechenland; es liegt zum Teil an den Voraussetzungen, unter denen sie arbeiten. Weil das so ist, bin ich sehr dafür, daß wir die Zentralbank nach Frankfurt holen, damit das in einem Klima geschieht, wo dieses Bewußtsein vorhanden ist.
Es gibt noch einen zweiten Nachteil. Über den reden wir tatsächlich sehr wenig. Fakt ist: Dadurch, daß die D-Mark die stärkste Währung ist und einige unserer Partnerländer in ihrem Stabilitätsbemühen darauf verzichtet haben, fällige Aufwertungen der D-Mark oder Abwertungen ihrer Währung vorzunehmen, um Inflationsdifferenzen und Produktivitätsdifferenzen auszugleichen, haben uns diese Partnerländer einen Wettbewerbsvorteil im Europäischen Markt geschenkt. Diese Exportförderungswirkung der starken D-Mark wird bei der neuen Währung wegfallen. Das wird zumindest im Übergang auch Auswirkungen auf Auftragslage und Beschäftigung haben.
— Ach, Herr Kollege, mit Unternehmensteuer hat das wenig zu tun. Wollen Sie diese Vorteile durch einen Steuersenkungswettbewerb ausgleichen und dann keine Infrastruktur mehr haben? Wenn Sie bei der Steuerdebatte dabeigewesen wären, wüßten Sie doch, daß die Briten sich darüber beschweren, daß sie keine Infrastruktur haben, die ihnen erlaubt, produktiv zu arbeiten. Das ist doch gerade unser Vorteil beim Produktivitätsfortschritt. Als ehemaliger Wirtschaftsminister müßten Sie das eigentlich wissen, Kollege Haussmann.
Deshalb ist es übrigens richtig — weil das die Ausgangsposition war — , daß die deutschen Positionen für die Verhandlungen zur Grundlage gemacht wurden. Der holländische Entwurf nimmt weitgehend darauf Rücksicht. Deswegen will ich jetzt nicht auf alle technischen Details eingehen. Der Entwurf ist ganz ordentlich. Aber es gibt noch ein. paar Punkte, über die wir heute reden müssen, weil wir keine Gelegenheit mehr haben, das vor Maastricht zu tun.Es besteht Übereinstimmung darin, daß das neue europäische Währungsinstitut — darauf möchte ich zuerst zu sprechen kommen — keine Grauzone entstehen lassen darf zwischen dem Währungsinstitut und dem, was die nationalen Zentralbanken noch in voller Verantwortung machen.
Es darf keinen währungspolitischen Mischmasch geben. Wenn das nicht ganz sauber gestaltet wird, besteht allerdings die Gefahr, daß gerade die Klausel, die jetzt im Vertragsentwurf steht und nach der kein Land gezwungen werden kann, beizutreten, natürlich für die, die in der ersten Runde bei Phase 3 nicht dabeisein können, die Verführung sein kann, daran zu denken, es dann, wenn es eine Vermischung gibt, bei diesem Provisorium bleiben zu lassen. Diese Gefahr ist dadurch größer geworden, nicht geringer.Deswegen zu den Punkten, die noch zu klären sind. Zum einen ist es die Frage: Welchen Apparat wird dieses europäische Währungsinstitut haben? Streitig ist auch, ob es einen eigenen Präsidenten und Vizepräsidenten gibt. Dabei geht es nicht um Symbolik, sondern um die Eigendynamik eines solchen Apparates.Der zweite Teil ist der: Wenn das neue Währungsinstitut den bestehenden Ecu fördern soll, ist das sicher richtig. Aber es darf nicht zu einer Parallelwährung kommen. Vor allem darf dann, wenn man sich zu Recht um das bisher von privaten Banken gestaltete Abrechnungssystem, das Clearingsystem — das mit über 40 Milliarden Ecu Zahlungsvolumen pro Tag an allen Ecken kracht — , kümmert, nicht eine Hintertür für eigene währungspolitische Zuständigkeiten dieses europäischen Währungsinstituts geöffnet werden.
Der dritte Konfliktbereich ist Art. 5 des Statuts des Währungsinstituts mit den Beratungsfunktionen für die nationale Gesetzgebung im Bereich der Finanzmärkte und der Kapitalmärkte. Hier schließt sich der Kreis zu der Frage: Welche Eigendynamik hat der Apparat? Auch hier wäre es angebracht, noch Klärung zu betreiben.Es bleibt insgesamt sowieso abzuwarten, wie sich die Phase 2 entwickelt und ob alle EG-Länder ihre Verpflichtungen daraus erfüllen.Wir fordern daher, daß der Deutsche Bundestag vor dem endgültigen Eintritt in die Phase 3 — das sage ich noch einmal ausdrücklich; in der Aktuellen Stunde habe ich es schon einmal gesagt — , voraussichtlich also 1996/97, erneut eine Entscheidung darüber trifft, ob im Lichte der tatsächlichen Entwicklung in Phase 2 die Aufgabe unserer Währungshoheit mit dem Eintritt in die Phase 3 vertretbar ist. Einen Automatismus darf es in dieser Frage nicht geben.
Herr Kollege Haussmann, dies ist die notwendige politische Bewertung dessen, was dann anfällt. Es geht nicht nur um die formale Erfüllung von Kriterien, die interpretierbar sein müssen. Sonst bekämen Sie Belgien nie hinein; die schaffen es niemals in vier Jahren, ihre Verschuldung, die weit mehr als 100 % des Sozialprodukts beträgt, auf 60 % zu verringern. Reden wir doch offen und ehrlich darüber! Also kommt es dann darauf an, zu sehen, was tatsächlich passiert ist.Das führt mich auch zu dem jetzt vorliegenden Entwurf zu der Phase 3, insbesondere Art. 109 Nr. 2. Hier wird gesagt — jenseits der Frage des grundsätzlichen
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Dr. Norbert WieczorekWechselkursregimes und der Tagesinterventionen —, daß der Ministerrat der Zentralbank Richtlinien für die Währungspolitik geben kann. Da kann es doch um nichts anderes gehen als um Wechselkurszielzonen, wie wir das beim Louvre-Abkommen und PlazaAbkommen zwar in verklausulierter Form, aber doch in etwa gehabt haben. Nur, da waren die Zentralbanken dabei. Hier werden sie nur konsultiert. Hier ist das große Einfallstor dafür, daß die währungs- und geldpolitische Hoheit und Autonomie der neuen Zentralbank durch den Ministerrat ausgehöhlt werden könnte.Die Verführung wird groß sein, unabhängig davon, ob wir GATT schaffen oder nicht — da sind ja manche Zweifel angebracht; aber hoffen wir, daß wir es schaffen; es wird trotzdem einen asiatischen Yenraum und einen amerikanischen Dollarraum geben — , über die Außenwirkung und den Außenkurs der neuen Währung, die wir bekommen, sozusagen Wettbewerbspolitik auf Grund politischer Entscheidungen zu machen. Ich halte das für einen großen Webfehler im entstehenden Vertragsentwurf.Der zweite Punkt, der von entscheidender Bedeutung ist, ist die gesamte Rolle, die der Ministerrat bzw. der künftige Rat der Finanzminister und Wirtschaftsminister spielen wird. Der Rat muß bei der Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik allein schon deshalb eine starke Stellung erhalten, damit das politische Gleichgewicht zwischen der in Fragen der Geld- und Währungspolitik autonomen europäischen Zentralbank und den politischen Institutionen gewährleistet wird. Erfolgreiche Geld- und Währungspolitik bedarf einer verantwortlichen Fiskal- und Wirtschaftspolitik, und umgekehrt gilt dies ebenso. Der Vertragsentwurf sieht daher an Hand von Kriterien zu Recht vor, daß der Rat künftig Beschlüsse fassen kann, die die Haushaltshoheit der Mitgliedstaaten unmittelbar beeinflussen.Es geht hierbei aber nicht nur um die Frage, wer reif für den Beitritt in die Stufe 3 ist, sondern es geht auch und gerade darum, wie die einzelnen Mitgliedstaaten, wenn sie beigetreten sind, ihre gesamten Haushalte unter Einschluß nicht nur der zentralstaatlichen Budgets, sondern auch der Länder, Herr Goppel, Regionen, Gemeinden und der Sozialversicherungen gestalten. Wir können uns das zwar so vorstellen wie hier in der Bundesrepublik mit den Bundesländern; aber das zeigt auch, daß es eben eine Einschränkung der Haushaltshoheit gibt.Mit anderen Worten: mit dem Eintritt in die Phase 3 verzichten die nationalen Parlamente auf einen wesentlichen Teil des wichtigsten Parlamentsrechtes, nämlich der Haushaltshoheit. Und auf der europäischen Ebene wird nach dem jetzigen Entwurf der Ministerrat gerade dann, wenn er mit Mehrheit entscheiden kann, parlamentarisch nicht mehr kontrolliert. Es gilt also nicht wie bei uns in der Bundesrepublik das Verhältnis Bundesrat zu Bundesregierung, sondern es geht darum, daß es für diesen Ministerrat nach dem heutigen Stand keine ordnungsgemäße parlamentarische Kontrolle gibt.Das ist der strategische Dreh- und Angelpunkt für die Forderung nach Verknüpfung der Politischen Union mit der Wirtschafts- und Währungsunion. DieAufgabe von Haushaltsrechten durch die nationalen Parlamente kann nur dann akzeptiert werden, wenn der Ministerrat künftig vom Europaparlament einer demokratischen Kontrolle unterzogen wird. Das, Herr Kollege Haussmann, gehört für mich allerdings auch zu der politischen Bewertung 1996/1997. Dies ist die politische Bewertung und nicht das, was Sie vorhin gesagt haben.Zu bewerten ist: Was ist geschehen, ist die Konvergenz erreicht? Das zweite ist: Ist der Stand so, daß wir die Aufgabe dieser Hoheitsrechte vertreten können, weil ein anderes Parlament, das ordentlich gewählt ist, diese Funktion übernimmt? Wenn nicht, reiten wir in eine Situation hinein, die unerträglich ist.
— Wenn wir da einer Meinung sind, würde ich mich ja freuen, wenn Sie unseren Forderungen zustimmten. Ich habe neulich von Ihnen gelesen, daß Sie das übernehmen wollen. Ich hoffe, daß die CDU/CSU das in diesem Punkt auch macht, d. h. daß wir gemeinsam den Parlamentsvorbehalt machen.Wenn wir uns darüber einig sind, können wir nämlich bei der künftigen Entscheidung über den Beitrag zur gemeinsamen Währung prüfen, ob die Vollmachten des Parlaments so ausgestattet sind, daß die demokratischen Prinzipien der Kontrolle der Regierungsinstitutionen — und das sind Kommission und Rat — durch ein frei gewähltes Parlament gewährleistet sind oder nicht. Mit anderen Worten: Die Wirtschafts- und Währungsunion ist nicht nur eine technokratische Veranstaltung, ein Spiel der Ökonomen, sondern ihre Verwirklichung hat grundlegende Auswirkungen auf unsere demokratischen Rechte und Pflichten. Sie müssen gewahrt bleiben und auf Dauer gesichert werden, gerade auch dann, wenn wir die EG erweitern wollen, wenn die Politische Union in den anderen Bereichen, die viel strittiger sind, zum Erfolg geführt werden soll.Danke sehr.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die beiden vor uns liegenden wichtigen Konferenzen zum Ende dieses Jahres reichen in ihrer historischen Bedeutung weit in die Zukunft hinein. Sie sind logische und notwendige Ergänzungen der dramatischen Umwälzungen der letzten Jahre. Die zu verabschiedenden Beschlüsse des NATO-Gipfels in Rom und des EG-Gipfels in Maastricht werden sich nicht nur mit der zukünftigen Sicherheitsstruktur, sondern auch mit der Einbindung der mittel- und osteuropäischen Staaten, die diese Einbindung wünschen, auseinanderzusetzen haben.Nicht automatisch und nicht für jeden sind die Verhältnisse mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Machtblocks einfacher geworden. Insbesondere die vom Kommunismus befreiten Länder wie Po-
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Christian Schmidt
len, CSFR, Ungarn oder auch die baltischen Staaten dürfen von der NATO in ihrem fundamentalen Sicherheitsbedürfnis nicht allein gelassen werden. Diese Staaten fühlen sich, um mit den Worten der baltischen Außenminister zu sprechen, nach Europa heimgekehrt. Heimkehr nach Europa heißt auch Heimkehr zu den Werten individueller Freiheit, Menschenwürde und Demokratie.Das sind die Werte, die die NATO zu schützen angetreten ist. Schon allein diese Tatsache und das hohe Maß an Wertschätzung, das die in ihrer Politik so überaus erfolgreiche NATO geprägt hat, sind Argumente für eine Fortexistenz des Bündnisses. Wer die NATO mittelfristig zu einer „Europolizei" umfunktionieren will — solche Stimmen sind ja erst vor kurzem wieder aus der SPD zu hören gewesen — , würde der europäischen Sicherheitsstruktur den entscheidenden Stabilitätsanker entziehen. Die NATO wird nach wie vor gebraucht, auch von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, für die sich im Dialog mit den und gegebenenfalls durch die Krisenmoderation der NATO-Staaten Stabilisierungschancen ergeben.Die Änderung der Bedrohungslage muß dabei natürlich auch Auswirkungen auf die militärische Struktur haben. Immer mehr zeigt sich die Notwendigkeit multinationaler Verbände, die Aufgaben übernehmen können, zu denen die NATO als Allianz selbst nicht berufen ist. Die NATO wird mit dem Prinzip „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" auch und gerade ihr Atompotential erheblich reduzieren können und müssen. Die kriegsverhindernde Funktion von Nuklearwaffen besteht auch mit einer weit geringeren Zahl solcher Waffen fort.Die Abrüstungsvorschläge von Präsident Bush und Präsident Gorbatschow wie auch die Initiativen der NATO sind deswegen ausdrücklich zu begrüßen. Ein gänzlicher Verzicht wird den Sicherheitsbedürfnissen der NATO auch im Hinblick auf Risiken außerhalb des Vertragsgebietes zum jetzigen Zeitpunkt wohl nicht gerecht. Aber im übrigen wäre es gut, wenn vom NATO-Gipfel die Botschaft an die Republiken der Sowjetunion ausginge, sich als eigene Rechtspersönlichkeit dem Nichtverbreitungsvertrag verbindlich zu unterwerfen.Die deutsch-französische Initiative vom 14. Oktober 1991 zeigt den Weg auf, wie der europäische Pfeiler innerhalb der Atlantischen Allianz ohne eine Schwächung dieser Allianz verstärkt und besser fundiert werden kann. Das deutsch-französische Korps als Kern multinationaler europäischer Streitkräfte fügt sich in diese Vorgaben ein. Dem Bundeskanzler kann zu dem diplomatischen Erfolg, die amerikanische und französische Position miteinander verknüpft zu haben, wirklich nur gratuliert werden.Ich glaube, daß es völlig außerhalb der wirklichen Zielsetzungen dieser deutsch-französischen Initiative und auch außerhalb der Tendenz des deutsch-französischen Korps ist, wenn unterstellt würde, es handele sich um etwas, was völlig außerhalb und neben der NATO her laufen solle. Gerade die Initiative vom 14. Oktober 1991 macht deutlich — wir begrüßen das sehr — , daß eine Verknüpfung von NATO-Strukturen, also von Strukturen der Allianz, mit Strukturender WEU und der deutsch-französischen Initiative vorgenommen werden soll.CDU und CSU sagen zu einer deutlichen amerikanischen Präsenz in Europa mittel- und langfristig ja. Das Nordatlantische Bündnis wird auch im politischen Bereich — neben dem militärischen — neue Themen und Aufgaben erörtern müssen: von Fragen wirtschaftlicher und sozialer Struktur bis hin zur Frage der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen auf unserer Welt. Dieses politische Gesprächsforum hat nur dann Bestand, wenn an der militärischen Sicherheitspartnerschaft zwischen Nordamerika und Europa nicht gerüttelt wird.Eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist elementare Voraussetzung dafür, daß es zu einer wirklichen Politischen Union kommen kann. Im zu Ende gehenden Jahr haben wir — das wurde heute des öfteren angesprochen — mehrfach in schmerzlicher Weise erfahren müssen, wie ohnmächtig — im wahrsten Sinne des Wortes: ohnmächtig — die EG internationalen Krisen gegenübersteht und wie weit sie noch davon entfernt ist, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu formulieren und solidarisch zu praktizieren. Es ist bedrückend, zu beobachten, wie macht- und ratlos wir angesichts der krisenhaften Entwicklungen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft sind. Der Golfkrieg und der Krieg in Jugoslawien unterstreichen nur den dringenden Bedarf für eine gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik. Ich möchte das noch einmal betonen.Herr Außenminister, es geht natürlich darum, die richtigen Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Sie lauten selbstverständlich: mehr gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und keine Politische Union ohne Außen- und Sicherheitspolitik. Es wird keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ohne eine Politische Union geben. Es wird aber auch keine erfolgreiche Politische Union geben können, die diesen Politikbereich nicht einbezieht. Deswegen ziehe ich die Schlußfolgerung für eine offensive Politische Union, für eine Diskussion, die diesen Themenbereich einbezieht. Keineswegs kann man daraus eine Absage an die europäische Integration ableiten.In diesem Sinne ist es übrigens auch völlig richtig, daß Bundeskanzler Kohl und Finanzminister Waigel eine Verknüpfung zwischen der Verabschiedung der Vertragsentwürfe zur Politischen Union und zur Währungsunion hergestellt haben.Noch weitere Fälle, in denen wie in der Jugoslawien-Krise laviert wird, wird die EG ohne Beschädigung ihres Ansehens nicht ertragen. Zwischenzeitlich ist das Dutzend der Waffenstillstände voll, und immer noch sterben Menschen.Mancher in Europa — nicht nur bei uns — hat wohl die verheerenden Auswirkungen auf die zukünftige Handlungsfähigkeit und auch auf die Akzeptanz der Europäischen Gemeinschaft noch nicht erkannt. Leider hatte die EG ein notwendiges Instrumentarium zur Krisenbewältigung — nicht einmal ansatzweise — bisher nicht zur Verfügung. Dies soll und muß sich, wie gesagt, mit der Europäischen Politischen Union ändern.
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Christian Schmidt
Allerdings muß dann auch die Bereitschaft zum Handeln auf Grund gemeinsamen europäischen Interesses bestehen. Europäische Institutionen allein sind noch kein Garant für gemeinsame Politik. Europa darf sich deswegen seine zukünftigen politischen Interessen nicht von nationalen Vorlieben dominieren lassen.Im übrigen bleibt festzuhalten, daß es Bereiche der Politik gibt, die natürlich auf anderer als der europäischen Ebene verbleiben müssen. Voraussetzung für eine leistungsfähige Politische Union ist die Verteilung von Zuständigkeiten und Aufgaben in der Art, daß sie den Mitgliedstaaten und den Regionen die eigenen Gestaltungsspielräume beläßt. Kollege Goppel hat ja sehr ausführlich zu dieser Frage Stellung genommen. Ich unterstreiche das voll inhaltlich.Ausfluß dieses dargelegten föderalistischen Prinzips müssen die Einrichtung eines Regionalausschusses und eine nachhaltige Mitwirkungsmöglichkeit der Länder auf Ratsebene sein. Dem Bundeskanzler und auch dem Außenminister ist zu danken, daß sie in der heutigen Debatte deutlich gemacht haben, daß sie diese Frage sehr ernst nehmen und Subsidiarität und Föderalismus bei der bevorstehenden EG-Gipfelkonferenz auch umsetzen und in die Diskussion einbringen wollen. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, daß unsere EG-Partner hier ein Stück des Weges noch gehen und unsere Vorstellungen, die aus einer langen föderalistischen Tradition heraus geboren sind, auch unterstützen.Unsere deutsche Diskussion über diese Frage ist noch ein Fall für sich. Ich meine, die Frage der deutschen Beteiligung darf nicht nur unter dem Gesichtspunkt des föderalistischen Prinzips, sondern muß auch unter Berücksichtigung aller Pflichten und Rechte, die das vereinte Europa mit sich bringt, gesehen werden.Erfreulicherweise besteht weitgehend Einigkeit darin, daß — um zu dem Beispiel Jugoslawien zurückzukehren — endlich die überfällige Anerkennung Kroatiens und Sloweniens zu erfolgen hat.Auch in der Frage der Sanktionen besteht Einigkeit. Im übrigen bin ich entschieden der Ansicht, daß diese Sanktionen im höchstmöglichen und nachhaltigen Umfang sofort in Kraft gesetzt werden müssen, soweit dies noch nicht geschehen ist. Ich kann jedenfalls den besorgten und betroffenen Bürgern nicht mehr nachvollziehbar erklären, wieso sich die Europäische Gemeinschaft nach fast einem halben Jahr des Konflikts in dieser Frage immer noch nicht auf ihre vollständigen Handlungsmöglichkeiten besinnt.Ich unterstreiche ausdrücklich die nachhaltigen Darlegungen des Bundeskanzlers und auch des Außenministers von heute. Ich freue mich, daß in dieser Frage offensichtlich ein breiter Konsens zustande kommt, der aber letztendlich heute, morgen und in den nächsten Tagen auch zu Konsequenzen und Taten führen muß. Ansonsten stellt sich nicht nur für die EG, sondern auch für uns die Frage politischer Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit.Meine Damen und Herren, es wäre noch eine Reihe von Dingen zu sagen, insbesondere zur Frage der Beteiligung der Bundesrepublik im Rahmen der WEUan multinationalen Streitkräften und zu der falschen Position, auch der falschen Verfassungsauslegung, die wir von seiten der SPD hören. Aber das rote Licht leuchtet auf.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Lamers das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin WieczorekZeul, es wird Sie nicht überraschen, wenn ich zunächst den Disput, den wir eben durch meine Intervention begonnen hatten, gerne fortsetzen möchte.
Es geht, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, im Kern überhaupt nicht um eine militärische, auch nicht um eine sicherheitspolitische, sondern um eine eminente politische Frage, über die wir diskutieren, nämlich darum, ob das wiedervereinte Deutschland, d. h. das Deutschland, das nicht länger bedroht und auch nicht mehr abhängiger ist als alle seine westlichen Nachbarn, in einer solch zentralen Frage wie der von Krieg und Frieden — welche Frage könnte eigentlich zentraler sein? — eine grundsätzlich andere Position einnehmen kann als nicht nur alle seine Alliierten, sondern auch als alle seine Partner, insbesondere die, mit denen es sich nunmehr zu einer Politischen Union, zu einer politischen Einheit zusammenschließen will. Da sage ich Ihnen mit Bestimmtheit: Das kann dieses Deutschland nicht, und das darf es auch nicht. Genau das aber wollen Sie.
— Nein.
Der Hinweis auf Frankreich, den Sie eben wahrscheinlich im Auge hatten, ist natürlich absolut unzutreffend. Im übrigen stellen wir gottlob fest, daß sich Frankreich, das bislang eine besondere Stellung eingenommen hat, der Position, die wir in dieser Frage haben, annähert.
Natürlich bleibe ich bei meiner Feststellung — der Sie ja auch nicht widersprochen haben, weil Sie es natürlich nicht können — , daß der Verteidigungsbegriff in dem Vertrag über die Politische Union der Begriff ist, der völkerrechtlich allgemein anerkannt ist. Es ist doch ohnehin etwas abwegig, sich vorzustellen, daß ausgerechnet die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die von nichts so sehr wie von dem Wunsch beseelt waren, wieder in absoluter Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu leben, in dieser zentralen Frage dem Grundgesetz einen anderen Begriff zugrunde gelegt hätten als eben den, der schon in der Charta der Vereinten Nationen definiert war.
Dies veranlaßt natürlich die Kollegin zu einer Zwischenfrage. Wollen Sie sie beantworten, Herr Abgeordneter Lamers? — Bitte.
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4404 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Ich möchte von Ihnen gerne wissen, wie Sie die Umsetzung dieses Vertrages und dieser Position dann sehen? Meine Position, die ich für unsere Fraktion dargestellt habe, ist, daß der Vertrag nur insoweit gültig ist, als er in diesen Fragen eine Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestages möglich macht. Ich möchte wissen, ob Sie hier einen Automatismus unterstellen.
Nein, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, so etwas habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, mit der Verabschiedung dieses Vertrages ist diese Frage politisch, faktisch entschieden. Das ist sie selbstverständlich. Ich weiß sehr gut — ich hoffe, Sie wissen es auch — , daß es viele Kollegen in Ihren Reihen gibt — und nicht wenige prominente — , die das auch genau wissen.
Es ist doch vollkommen ausgeschlossen, daß wir in der Frage des Einsatzes von Streitkräften dieser Politischen Union gewissermaßen nur auf dem Katzenbänkchen sitzen — so habe ich Sie eben verstanden —, daß wir sagen: Wir nehmen zwar teil, aber nur an einer ganz eingeschränkten Anzahl von militärischen Aktionen, und zwar an den Blauhelm-Aktionen. Das ist eine vollkommen unmögliche Position.
Ich will jetzt niemanden ansehen in Ihrer Fraktion — es sind auch nicht genug da — , um ihn zu einem Kopfnicken zu bewegen. Sie wissen es anscheinend wirklich nicht. Sie glauben offensichtlich das, was Sie sagen. Ich glaube Ihnen das. Aber viele in Ihrer Fraktion wissen ganz genau, daß diese Position unhaltbar ist. Sie machen sich europaunfähig, und damit machen Sie sich regierungsunfähig.
Letzteres könnte zwar in unserem Interesse sein, aber ich will Sie doch der Fairneß halber darauf hinweisen.
Eine weitere Zwischenfrage? — Bitte.
Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, daß der Luxemburger Vertragsentwurf die Möglichkeit eines „Opting-out" für jeden einzelnen Mitgliedstaat selbstverständlich offenhält.
Sie wissen, daß es sich um einen völlig anderen Sachverhalt handelt.
Nein, dies wird für alle Möglichkeiten der gemeinsamen Sicherheitspolitik offengehalten, und das gilt dann für jedes einzelne Mitgliedsland dieser Europäischen Politischen Union. Im übrigen, Herr Kollege Lamers: Wenn die Abstimmung ansteht, wird sich die SPD-Fraktion so verhalten, wie ich das hier skizziert habe. Vermutungen über Einzelpositionen sollen vielleicht zur Verunsicherung beitragen, werden aber nicht den Erfolg haben, den Sie wünschen.
Diese Kurzintervention schließen wir jetzt einmal ab, und der Redner kann fortfahren.
Wenn ich Sie zurückfragen dürfte, hätte ich Sie gefragt, ob das heißen soll, daß die SPD-Fraktion dem Vertrag über die Politische Union gegebenenfalls nicht zustimmen wird, wenn sie zu der Einsicht kommt, daß meine Einstellung doch die richtige ist.
— Nein, das hätten wir gar nicht gern. Da stelle ich nun doch die Interessen unseres Landes über parteitaktische Überlegungen. Selbstverständlich, Frau Kollegin Wieczorek, sind wir daran interessiert, daß die Europapolitik vom ganzen Haus getragen wird, nicht nur von der jeweiligen Regierungskoalition.Lassen Sie mich zu einem zweiten Punkt kommen, den auch der Kollege Schmidt angesprochen hat und den der Bundeskanzler heute morgen auch erwähnt hat. Es geht um das Verhältnis zwischen der Politischen Union mit einer Verteidigungsidentität und der NATO. Da wird nun wirklich viel
— nicht nur spekuliert, sondern auch viel Unsinn geredet, und zwar zum Teil auch auf allerhöchster europäischer Ebene. Die Behauptung beispielsweise, daß das mit der NATO unvereinbar sei — mehr oder minder deutlich sagt das manch Prominenter in Europa —, ist schlichtweg unsinnig und durch nichts zu belegen. Die Duplizierung der Streitkräfte und Kommandostrukturen ist, wie jedermann weiß, vermeidbar. Auch heute schon — ich möchte das uns allen doch noch einmal in Erinnerung rufen — dienen britische und französische Streitkräfte, nämlich die französischen Streitkräfte in Deutschland, und vor allen Dingen auch amerikanische Streitkräfte mehreren Zwecken, wie wir es ja auch am Golf gesehen haben. Was dieses Gerede soll, weiß ich also nicht. Ich befürchte, offen gesagt, daß manche dieses Argument in Wirklichkeit nutzen, weil sie die politische Union nicht wollen. Wenn man die Politische Union nicht will, kann man in der Tat auch nicht für eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein.Ich möchte vor allen Dingen an Großbritannien, an John Major appellieren und dafür die Worte wählen, die die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" kürzlich gebraucht hat, als sie ihn daran erinnert hat, daß er hier in Bonn gesagt hat, Großbritannien wolle im Herzen des europäischen Einigungsprozesses stehen.— Nun, dann muß er seinem Herzen einen Stoß geben, und zwar einen ziemlich kräftigen Stoß. Ich hoffe, daß Großbritannien nicht die Rolle des Bremsers, sondern die sehr viel ehrenvollere Rolle eines aktiven Förderers des europäischen Einigungsprozesses spielt. Sonst bleibt ihm nur das übrig, was es bislang immer getan hat, nämlich auf den schon ziemlich weit vorangefahrenen Zug aufzuspringen. Das ist meiner Meinung nicht die Position, die Großbritanniens würdig ist.Eine dritte Bemerkung zu dem Verhältnis von Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft: Ich möchte uns, meine verehrten Kolleginnen und Kol-
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Karl Lamerslegen, zunächst auch dazu auffordern, realistisch zu sein. Wir sollten nichts versprechen, was wir nicht halten können. Ich erinnere mich sehr gut an das, was der von uns allen sicher sehr geschätzte bisherige polnische Senator Szczypiorski in Bonn gesagt hat: Mein Land ist lange noch nicht reif für die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft. — Er meinte das nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht.Selbstverständlich ist es unsere dringlichste Aufgabe, den Ländern im anderen Teil unseres Kontinents zu helfen, die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft zu erfüllen. Aber ich bleibe dabei — das ist durch den Terminkalender faktisch ohnehin gar nicht anders möglich — : Die Vertiefung hat insofern Priorität gegenüber der Erweiterung, als sie erst die Voraussetzungen dafür schafft, diese Erweiterungen wirklich vornehmen zu können. Im Augenblick würde sich die Gemeinschaft mit einer Erweiterung übernehmen. Sie würde mit Sicherheit nicht das werden, was wir alle wollen, nämlich eine wirklich handlungsfähige politische Einheit. In diesem Sinne, nicht im Sinne von „höherrangig", ist die Vertiefung vorrangig. Das sollten wir deutlich sagen.Eine abschließende Bemerkung: Hier ist heute bezeichnenderweise und richtigerweise von allen Seiten, obwohl wir doch über die Reform der westlichen Institutionen reden, immer — ich habe das gerade auch getan — von der Situation im anderen Teil unseres Kontinents gesprochen worden, weil die westlichen Institutionen, weil vor allen Dingen die NATO und noch mehr die Europäische Gemeinschaft natürlich eine Funktion für die neuen Demokratien im östlichen Teil unseres Kontinents haben.Wenn wir diese Aufgabe wirklich ernst nehmen, wenn wir beispielsweise die Ursachen der Flüchtlingsströme wirklich an den Entstehungsherden bekämpfen wollen, d. h. wenn wir wirklich helfen wollen, wird das sehr, sehr viel Geld kosten. Ich fordere uns alle auf, einmal darüber nachzudenken, ob die deutsche Politik deswegen in Zukunft nicht andere Prioritäten, genauer gesagt: andere verteilungspolitische Prioritäten, setzen muß. Denn es ist doch ganz offenkundig: Das, was wir hier tun, ist ja nicht klassische Außenpolitik, sondern Wirtschafts- und Sozialpolitik im kontinentalen und zunehmend im globalen Maßstab. Da müssen wir uns überlegen, ob wir in Zukunft nicht auch auf die eine oder andere zusätzliche soziale Annehmlichkeit verzichten müssen, weil es sozialpolitische Probleme in unserem Kontinent gibt, die dringender als diejenigen sind, die wir in unserem Lande zu lösen haben.Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Abgeordneten Müller das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Lassen Sie mich in wenigen Zügen nochmals die Situation und die Einstellung der Union zur Währungsunion insgesamt darstellen, bevor wir zur Abstimmung kommen dürfen.Der Ihnen vorliegende Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zu den Gipfeltreffen der EG-Staats- und Regierungschefs in Maastricht sowie der NATO-Regierungschefs in Rom zeigt, daß nach den politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa bei uns keineswegs ein Stillstand eingetreten ist. Im Gegenteil: Die Dynamik der inneren Integration im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion und auch der Politischen Union hat offensichtlich die Zahl der Länder, die an einer EG-Mitgliedschaft interessiert sind, nochmals ansteigen lassen, und dies, obwohl gelegentlich behauptet wird, daß die Geschwindigkeit des Zusammenwachsens der Gemeinschaft die Hürden für einen Beitritt angehoben hätte.Den Gegenbeweis können wir, die Bundesrepublik Deutschland, selbst liefern, und zwar deshalb, weil wir mit Dankbarkeit und gelegentlichem Staunen feststellen durften, wie rasch und nahezu reibungslos die Erweiterung der EG um die fünf neuen Bundesländer durch die EG-Behörden bewältigt wurde.Was jetzt im praktischen Teil in der stufenweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion voranzutreiben ist, muß am Ende eine unabhängige Zentralbank sein, deren oberstes Gebot die Geldwertstabilität ist. Wir wissen sehr wohl, daß es in einigen Ländern Einwände gibt, wonach es unvertretbar sei, daß sich eine Einrichtung, die Staatsaufgaben wahrnehme, der demokratischen Weisung entziehen könne. Denn, so wird behauptet, ein unabhängiges Zentralbanksystem könne sich ja unter Umständen zu einer Art Nebenregierung entwickeln.Dies ist ein sicherlich falscher Einwand. Denn die Gesetze, mit denen das Notenbanksystem ausgestattet wird, werden durch demokratisch legitimierte Instanzen beschlossen.Unsere Entschließung — Herr Kollege Haussmann, Sie haben den letzten Entwurf wohl nicht zur Hand gehabt — sieht ja ausdrücklich vor, daß auch der Deutsche Bundestag vor einer endgültigen Verabschiedung nochmals damit befaßt wird — der Bundeskanzler hat heute morgen erneut den Terminplan genannt — , also noch vor 1994.
Meine Damen und Herren, gerade wir wissen um die besondere Verantwortung einer stabilen Währung, nicht nur aus den Erfahrungen zweier Währungsumstellungen, sondern auch in dem Wissen, daß unsere Wirtschaftserfolge Erfolge unserer weltweiten Exporttätigkeit sind und diese wiederum auf einer stabilen D-Mark, also einer harten nationalen Währung, fußen.Gerade weil wir unsere eigenen Erfolge nicht gefährden wollen und dürfen — denn daran orientieren sich die Länder Mittel- und Osteuropas in ganz besonderer Weise — , erfordert es von uns den allergrößten Mut, den gemeinsamen Schritt zu einer Wirtschafts- und Währungsunion zu gehen.
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4406 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Elmar Müller
Unser Ziel ist es, die Grundsätze, die wir in dem gemeinsamen Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zur Wirtschafts- und Währungsunion einbringen, in einem Sonderstatus für ein europäisches Zentralbanksystem umzusetzen. Diese Grundsätze müssen dann allerdings für alle Nationalstaaten, die sich dieser Währungsunion anschließen wollen — keiner wird dazu gezwungen — , nicht mehr verhandelbare Ausgangsnotwendigkeiten darstellen. Es darf darüber im Falle eines weiteren Beitritts dieser „Schlange" also nicht mehr in der Substanz verhandelt werden.Deshalb wäre es gut und erfreulich, wenn der Deutsche Bundestag diese Ausgangsnotwendigkeiten in möglichst breiter Front auf den Weg geben könnte; denn alles hängt davon ab, ob sich die künftige Währung mit einem einzigen Sprung von heute auf morgen gegen den amerikanischen Dollar und den japanischen Yen behaupten kann.
Auch hier können wir denjenigen, die zögern, ein unabhängiges Zentralbanksystem einzurichten, sagen: Unsere Deutsche Bundesbank wurde zu einer Zeit eingerichtet, in der es geradezu heldenhaften Mut erfordert hat, das Recht, Prioritäten der Geldpolitik zu bestimmen, von Regierung und Parlament zur Bundesbank abzugeben.
Es ging uns damals wirklich nicht gut, und die Probleme waren auf keinen Fall geringer, als sie heute sind; dies als ein Hinweis für einige noch zögernde Nachbarstaaten.Deshalb erwarten wir schon heute — also sozusagen als Vorausleistung zur anstehenden Währungsunion — , daß die künftigen Partnerländer in diesem Geleitzug, in dieser „Schlange", möglichst schon heute damit beginnen, ihre eigenen Notenbanken in die Unabhängigkeit zu entlassen.Für unabdingbar halten wir es außerdem, daß wir Präsidien in dieser Notenbank erhalten, die für einen möglichst langen Zeitraum gewählt werden, weil zum Zwecke der fachlichen Unabhängigkeit auch gewährleistet sein muß, daß eine solide, d. h. kontinuierliche Geldpolitik möglichst von den gleichen Leuten gemacht werden kann.Wir haben jetzt die Chance, faire und für alle geltenden Kriterien einzubringen und festzulegen. Jeder der Partner in der Gemeinschaft kann auf diese Regeln eingehen. Keiner muß sich daran beteiligen. Umgekehrt darf aber keiner daran gehindert werden, teilzunehmen, der die Voraussetzungen für diese Währungsunion mitbringt und erfüllt. Unser Interesse ist es, daß ein solcher Währungsverbund stark und mit einer größtmöglichen Zahl von Ländern beginnen kann, damit er seine Bewährungsproben bestehen kann.Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal betonen: Wir haben im Hinblick auf die Erwartungen der osteuropäischen Staaten mehr als andere Länder eine große Verantwortung für das Zustandekommen einer erfolgreichen Wirtschafts- und Währungsunion und der damit verbundenen Politischen Union insbesondere als Perspektive für die jungen Demokratien Osteuropas.Die Wirtschafts- und Währungsunion muß in diesem Jahr in Maastricht vereinbart werden. Das vorliegende Entschließungspapier ist für uns eine unverzichtbare Voraussetzung und Zielvorgabe zur Einrichtung und Wahrnehmung eines unabhängigen Zentralbanksystems, das sich an einer strikten Stabilitätspolitik orientiert. Wir erkennen sicherlich an, daß sich das nahtlos auf die solide Politik unserer Bundesbank stützt; denn wir wissen, daß dies die Voraussetzung für allgemeinen Wohlstand und soziale Gerechtigkeit ist. Insofern wollen wir unserer Regierung viel Erfolg bei den anstehenden Verhandlungen wünschen.
Wir kommen nunmehr zu den Überweisungen. Bevor wir sie im einzelnen abhandeln, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir eine etwas veränderte neue Verfahrensweise für diese EG-Angelegenheiten vorgesehen haben. Da ich nicht hundertprozentig sicher bin, ob Sie alle die Mitteilung des Ältestenrates gelesen haben, darf ich darauf aufmerksam machen, daß ein 1. mitberatender Ausschuß benannt wird. Dieser Ausschuß wird in der Tagesordnung jeweils gesondert ausgewiesen. Damit dieses Verfahren formvollendet ist, bitte ich um Ihre Zustimmung. — Da sich kein Widerspruch erhebt, ist das so beschlossen. Wir können somit nach diesem Verfahren abstimmen.
Zunächst kommen wir zu den Überweisungsvorschlägen, bei denen der Ältestenrat Einvernehmen erzielt hat. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 2 b bis 21 und 2n bis 2 q an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Die Vorlage zu Tagesordnungspunkt 2i soll zusätzlich an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. — Frau Wieczorek-Zeul, bitte sehr.
Unsere Fraktion beantragt zu Punkt 2 h die Überweisung an den EG-Ausschuß und an den Finanzausschuß als 1. mitberatenden Ausschuß. Wenn ich mir die Anmerkung gestatten darf: Selbst in der Logik der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion wäre die Überweisung, die hier vorgesehen ist, nämlich federführend an den Wirtschaftsausschuß, auf Grund all dessen, was dort in der Konferenz verhandelt wird, das Unsinnigste, was man tun könnte. Wir möchten also entgegen dem Vorschlag des Ältestenrates bei Punkt 2 h Überweisung an den EG-Ausschuß.
Da ich gerade das Wort habe, würde ich gerne ergänzen, daß wir beim Punkt 21 ebenfalls Überweisung an den EG-Ausschuß sowie an den Auswärtigen Ausschuß als 1. mitberatenden Ausschuß vorschlagen. Ansonsten gibt es bei uns Einverständnis. Über die anderen Punkte, die noch strittig sind, stimmen wir ja extra ab.
Ja, über die anderen Punkte wird kontrovers abgestimmt. —
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4407
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergDas haben wir zunächst einmal zur Kenntnis genommen. Nun hat sich der Abgeordnete Dr. Werner Hoyer gemeldet.
Herr Präsident, ich bin etwas irritiert. Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es um den Punkt 2 h, Wirtschafts- und Währungsunion, wo jetzt von Frau Wieczorek-Zeul beantragt worden ist, daß die Vorlage federführend an den Europa-Ausschuß überwiesen werden soll. Wir hatten aber keineswegs den Antrag gestellt, federführend den Wirtschaftsausschuß zu beauftragen, sondern hatten einvernehmlich zwischen den drei Fraktionen im Ältestenrat beschlossen, die Federführung an den Finanzausschuß zu geben.
— Dann ist hier ein Fehler im Ausdruck geschehen; denn auch nach der Geschäftsverteilung der Bundesregierung ist eindeutig, daß hier die Zuständigkeit des Finanzministeriums und damit auch des Finanzausschusses gegeben ist. Wir waren uns allerdings einig, daß der 1. mitberatende Ausschuß dann natürlich der Europa-Ausschuß ist.
Damit ist die Einmütigkeit, die im Ältestenrat inhaltlich vorhanden war, für den Punkt 2h — wenn ich Sie richtig verstanden habe, Frau Abgeordnete Wieczorek-Zeul — hergestellt.
Ich darf nur darauf hinweisen, wie wichtig dieser Fall ist. Es geht um die Behandlung und die Zuständigkeit des Parlaments auch für die Ratifizierung im Zusammenhang mit der Entschließung zur Wirtschafts- und Währungsunion im Rahmen der Regierungskonferenz.
Jetzt wäre dieser Punkt beinahe aus Versehen in den Wirtschaftsausschuß überwiesen worden, weil das falsch ausgedruckt worden ist.
Wir bestehen nach wie vor darauf — dafür haben wir den Europa-Ausschuß eingerichtet — , daß diese Vorlage auch an den Europa-Ausschuß überwiesen wird.
— „Auch" heißt für uns: federführend an den Europa-Ausschuß.
Notfalls muß ich darüber abstimmen lassen. Aber ich meine, da im Ältestenrat ursprünglich Übereinstimmung erzielt worden ist und das Mißverständnis nur durch den
Druckfehler entstanden ist, wollen wir die Sache korrigieren.
— Dann ist es gut, und wir werden es so machen. Ich muß jetzt also aus den Punkten 2 b bis 21 und 2 n bis 2 q die Punkte 2 h und 2 i herausnehmen. Ist das richtig?
— Okay, 2 h und 21. Dann stelle ich zunächst einmal fest, daß die Vorlagen unter den Punkten 2 b bis 2 k
— außer 2 h — sowie 2n bis 2 q an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden, die Vorlage zu 2 i, wie erwähnt, auch noch an den Haushaltsausschuß.
Dann stimmen wir über den Punkt 2 h ab. Da beantragen Sie, Frau Wieczorek-Zeul, die Überweisung an welche Ausschüsse?
— Wer damit einverstanden ist, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen?
— Damit ist dieser Antrag abgelehnt.
Dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt 21. Dort wünschen Sie welche Überweisungen?
Zur Geschäftsordnung meldet sich Dr. Werner Hoyer. — Bitte.
Herr Präsident, ich wäre dankbar, wenn wir die Abstimmung über diesen Punkt drei Minuten zurückstellen könnten. Denn es ist nach den Verabredungen im Ältestenrat, die einstimmig waren, glaube ich, ziemlich schwierig, jetzt mal eben die Sache zu ändern und zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Ich glaube, daß wir das durchaus einvernehmlich regeln können, aber nicht jetzt mit einer Überfallaktion.
Ich glaube, daß das eine sinnvolle Anregung ist. Aber wir führen jetzt den weiteren Abstimmungsprozeß mit Ausnahme der Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 21 durch und stellen dann fest, wie wir mit der Vorlage zu Punkt 21 verfahren.Ich komme dann zu Tagesordnungspunkt 2 m. Die Vorlage, also die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unionsbürgerschaft auf der Drucksache 12/949, soll nach den Vorschlägen der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zur federführenden Beratung an den EG-Ausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß und den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Dabei soll der Innenausschuß 1. mitberatender Ausschuß sein. Die FDP wünscht demgegenüber die Federführung beim Innenausschuß.
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4408 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergIch lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag der CDU/CSU und der SPD abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist dieser Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen worden. Insoweit erübrigt es sich, über den Überweisungsvorschlag der FDP gesondert abstimmen zu lassen.Zu Tagesordnungspunkt 2 r wird von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD vorgeschlagen, den 48. Bericht der Bundesregierung über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäischen Gemeinschaften zur federführenden Beratung an den EG-Ausschuß, zur Mitberatung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuß für Post und Telekommunikation zu überweisen. Dabei soll der Ausschuß für Wirtschaft 1. mitberatender Ausschuß sein.Wer diesem Überweisungsvorschlag der CDU/CSU und der SPD zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dieser Vorschlag ist bei einzelnen Gegenstimmen aus der FDP-Fraktion mit Mehrheit angenommen. Damit erübrigt sich eine Abstimmung über den gesonderten Antrag der FDP-Fraktion.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 12/1476. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP gegen den Rest des Hauses angenommen.Wir stimmen nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1471 ab. Wer für diesen Entschließungsantrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt gegen diesen Antrag? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der Drucksache 12/1484. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Entschließungsantrag auf Drucksache 12/1484 mit Mehrheit bei Enthaltung der SPD-Fraktion und einiger Abgeordneter aus den Gruppen angenommen worden.Damit haben wir über alle Entschließungsanträge und Überweisungsvorschläge bis auf den strittigen Fall des Tagesordnungspunktes 21 abgestimmt. Hat es darüber eine Einigung gegeben?Herr Dr. Hoyer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Ich kann die Unklarheiten zumindest insofern beseitigen, als der in der Tagesordnung erfolgte Ausdruck in der Tat das widerspiegelt, was im Ältestenrat besprochen worden ist.
Bei dem kritischen Punkt, nämlich Punkt 2 h der Tagesordnung — „Entschließung zur Wirtschafts- und Währungsunion im Rahmen der Regierungskonferenz"; Drucksache 12/946 —, ist es, was auf den ersten Blick überraschend erscheinen mag, in der Tat zutreffend, daß nach den uns damals gegebenen Informationen der Finanzausschuß die Beratung im Wirtschaftsausschuß für sinnvoller gehalten hat.
— Das ist zumindest Grundlage der Beratungen im Ältestenrat gewesen. Der Ältestenrat hat so beschlossen, wie es hier steht.
Im Zweifel müssen wir kontrovers darüber abstimmen. Aber das, was hier steht, entspricht der Beschlußlage des Ältestenrates.
Dann bitte ich noch einmal um Präzisierung. Sind die Fraktionen damit einverstanden, daß ich jetzt darüber abstimmen lasse? — Ja.
Ich lasse daher über die Überweisungsvorschläge zu Punkt 21 der Tagesordnung abstimmen. Wer für den Überweisungsvorschlag des Ältestenrates ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Überweisungsvorschlag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Damit kann ich die Beratung zu Punkt 2 der Tagesordnung schließen.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/1447 —
Meine Damen und Herren, wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Verfügung.
Ich rufe Frage 1 des Abgeordneten Harries auf:
Bestätigt die Bundesregierung die Aussage des Hamburger Umweltsenators, wonach die Verschmutzung der Elbe alarmierend durch Schadstoffeintrag aus Betrieben in den neuen Ländern von Quecksilber, Blei und chloriertem Kohlenwasserstoff wieder zugenommen hat?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Herr Kollege Harries, wenn Sie gestatten, würde ich Ihre zwei Fragen gern im Verbund beantworten, wie es von Ihnen eigentlich auch beabsichtigt war.
Der Abgeordnete ist einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich rufe auch die Frage 2 des Abgeordneten Harries auf:Wenn ja, was kann bzw. wird die Bundesregierung tun, um dieser erneuten Verschlechterung kurzfristig und wirksam zu begegnen?Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Danke, Herr Präsident.Die Aussage des Hamburger Umweltsenators, die Belastung der Elbe habe bei einigen Schadstoffen wie beispielsweise Quecksilber, Blei und chlorierten
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4409
Parl. Staatssekretär Dr. Bertram WieczorekKohlenwasserstoffen wieder alarmierend zugenommen, basiert auf Gewässergütemessungen der Arbeitsgemeinschaft Elbe in den Monaten April und Mai dieses Jahres. Die dabei erhobenen Meßwerte wurden auf das gesamte Jahr 1991 hochgerechnet und sind somit nur eine vorläufige Schätzung der Jahresfrachten für 1991 auf der Basis von zwei Monaten. Aussagekräftiges Zahlenmaterial, das eine Zunahme der Belastung, bezogen auf einen längeren Zeitraum, belegen könnte, kann erst nach Auswertung der Meßwerte des Jahres 1991 vorgelegt werden.Zu Ihrer Frage 2: Die Bundesregierung hat im Rahmen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung Ost" ein Umweltschutzsofortprogramm aufgelegt, das für 1991 und 1992 jeweils ein Finanzvolumen von 400 Millionen DM umfaßt, wobei allein 170 Millionen DM dem Kläranlagen- und Kanalisationsbau im Einzugsgebiet der Elbe zugute kommen. So stellt der Bund z. B. für die Wiederinbetriebnahme und den Ausbau der Kläranlage Dresden-Kaditz in der ersten und zweiten Ausbaustufe bereits 42 Millionen DM zur Verfügung.Die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe erarbeitet derzeit ein erstes Aktionsprogramm zur Reduzierung der Schadstofffrachten kommunaler Kläranlagen, industrieller Direkteinleiter und prioritärer Stoffe als Teil eines langfristigen Aktionsprogramms für die Elbe bis zum Jahre 2000. Mit der Realisierung des Sofortprogramms werden bis 1995 bereits wesentliche Senkungen der in die Gewässer im Einzugsgebiet der Elbe eingeleiteten Abwasserlasten erreicht.
Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter Harries.
Herr Staatssekretär, wir waren alle sehr froh über die Meldung, die noch im Sommer gekommen ist, daß sich der Qualitätszustand der Elbe sehr gebessert hat. Kennt man die Verursacher der erneuten dramatischen Verschmutzung, und handelt es sich dabei um neu angesiedelte Firmen oder um Firmen, die im Zuge der früheren Praxis weiterarbeiten?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Bei einigen Schadstofffrachten haben wir eine Halbierung erreicht, was allerdings noch kein Grund ist, zu entwarnen. Das Nachlassen der Schadstofffrachten in der Elbe ist im wesentlichen auf Betriebsstillegungen zurückzuführen. Neue Unternehmen — die keine Genehmigung erhalten würden, wenn entsprechende Einleitungen stattfänden — sind noch nicht angesiedelt worden.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich darf nachfragen, Herr Staatssekretär: Kennt man die Einleiter, die Verursacher für die erneuten Verschmutzungen?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Die Einleiter und die Ursachen sind der Bundesrepublik noch nicht bekannt. Es gibt allerdings eine erste Interpretation des Umweltministers des Bundeslandes Sachsen-Anhalt.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Feige.
Herr Staatssekretär, werden die Belastungen, die uns aus der CSFR erreichen, genauso kontrolliert? Gibt es in diesem Zusammenhang Veränderungen?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich möchte Sie auf das Aktionsprogramm der Elbe-Schutz-Kommission hinweisen. Ein erster Punkt war der Start eines kontinuierlichen Meßprogramms im Bereich der Elbe. Über das genaue Nachlassen von Schadstofffrachten aus der CSFR kann ich Ihnen jetzt keine Angaben machen. Ich bin aber gern bereit, Ihnen darüber Informationen zukommen zu lassen.
Bitte sehr, eine zusätzliche Frage.
Herr Staatssekretär, eines der größten Probleme bei der Elbverschmutzung sind die Ablagerungen in den Sedimenten. Gibt es Hinweise darüber, ob diese zugenommen haben? Denn gerade der Abtrag dieser Sedimente hat häufig die Frachterhöhung in Hamburg mit ausgelöst.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Sie sprechen jetzt die erste versuchte Interpretation des Bundeslandes Sachsen-Anhalt an. Dort wurde auf Grund von Hochwasser in den Monaten April und Mai, in denen gemessen wurde, angenommen, daß Ablagerungen gerade von Quecksilber und Blei in den Sedimenten zu einer erneuten Erhöhung der Schadstofffracht geführt haben.
Sie haben keine zusätzliche Frage?
Ich habe gefragt, ob es Erkenntnisse darüber gibt, daß die Ablagerungen in den Sedimenten angestiegen sind?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Nein, darüber gibt es keine Erkenntnisse.
Damit sind wir mit diesem Geschäftsbereich fertig. Ich bedanke mich, Herr Staatssekretär.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation auf. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Wilhelm Rawe zur Verfügung.Zunächst rufe ich die Frage 3 der Abgeordneten Dr. Wetzel auf:Trifft es zu, daß die Deutsche Bundespost POSTDIENST Provisionszahlungen von Stempelherstellern und von jenen Firmen erhält, die sämtliche Frankiermaschinen in der Bundesrepublik Deutschland umrüsten müssen, weil mit dem Inkrafttreten der Allgemeinen Geschäftsbedingungen im POSTDIENST die Freimachungsvermerke „Entgelt bezahlt" und „Entgelt geprüft" eingeführt und die bisherigen Vermerke „Gebühr bezahlt" und „Gebühr geprüft" ab 1. Juli 1992 nicht mehr verwendet werden?Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
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4410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Dr. Wetzel, es ist nach Auskunft der Deutschen Bundespost Postdienst nicht zutreffend, daß sie von den Herstellerfirmen für Freistempelmaschinen oder von anderer Seite für die Umrüstung von Einsatzstücken der Freistempelmaschinen Provisionszahlungen erhält. Der Freimachungsvermerk „Entgelt bezahlt" ist von Firmen zu verwenden, die seit Inkrafttreten der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Deutschen Bundespost am 1. Juli 1991 erstmals am Freistempelverfahren teilnehmen. Für alle anderen Benutzer von Freistempelmaschinen gilt eine Übergangsregelung, die die weitere Verwendung des Stempeleinsatzes mit dem bisherigen Vermerk „Gebühr bezahlt" zuläßt. Diese Übergangsregelung ist nicht befristet.
Frau Dr. Wetzel, Zusatzfrage, bitte schön.
Eine kleine Zusatzfrage: Werden diese Firmen, die von der Übergangsregelung betroffen werden, auch entsprechend informiert?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Das ist ja mit der Bekanntgabe der Allgemeinen Geschäftsbedingungen gemacht worden. Das steht in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Die kann sich jede Firma auch beschaffen. Infolgedessen wissen die das auch.
Noch eine Zusatzfrage, Frau Enkelmann.
Noch eine Zusatzfrage: Erhält die Telekom eventuell Provision für die Verteilung von Werbematerial, wie es mir mit meiner Fernmelderechnung zugegangen ist?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Gnädige Frau, seien Sie mir nicht böse, aber wir haben hier gerade eine Frage behandelt, die die Firma Deutsche Bundespost Postdienst betrifft und nicht die Telekom. Ich sehe also deswegen keinen sachlichen Zusammenhang. Aber wenn der Herr Präsident gestattet, daß ich die Frage beantworte, will ich Ihnen das später gerne nachliefern. Im Moment kann ich es nicht.
Ihre Bemerkung ist ebenso richtig wie sicher ist, daß es der Präsident gestattet. Bitte.
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, ich hatte schon angeboten, der Sache nachzugehen und das der Frau Kollegin dann mitzuteilen.
Einverstanden. Damit ist das erledigt.
Dann rufe ich die Frage 4 des Abgeordneten Otto auf:
Welche Stellungnahme hat die Bundesregierung in der Sitzung des Postministerrates am 4. November 1991 zu dem Richtlinienentwurf der EG-Kommission hinsichtlich der Einführung der D2-Mac-Fernsehnorm abgegeben?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, in diesem Fall bitte ich um Nachsicht. Es handelt sich um eine etwas längere Darstellung, die wir in Brüssel gegeben haben. Aber ich will mich wirklich bemühen,
sie so kurz zu fassen wie eben möglich, wie es der Fragestunde entspricht.
Wir werden das Bemühen anzuerkennen wissen. Bitte schön.Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Otto, die Kommission hat mit Datum vom 9. Juli 1991 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Annahme von Normen für die Satellitenausstrahlung von Fernsehsignalen vorgelegt. Die Bundesregierung begrüßt dies sehr. Dieser Entwurf stellt eine Revision und Erweiterung der noch bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Richtlinie des Rates vom 3. November 1986 dar.Diese Richtlinie legte die Gemeinschaft auf die Nutzung der Normen der MAC-Paket-Familie für die TV-Ausstrahlung von direktstrahlenden Rundfunksatelliten sowie deren Weiterverteilung in Kabelnetzen fest.Es geht jetzt um Kontinuität in der Sache und um verläßliche Orientierungen für Verbraucher, Programmanbieter und Industrie für die Zukunft. Deshalb wird eine Folgerichtlinie notwendig, die die alten Ziele zwar weiterverfolgt, aber neue Entwicklungen einbezieht und in Europa eine Technologie des hochauflösenden Fernsehens — HDTV — normt und durchsetzt. Der erste Schritt ist die Einführung der Übertragungsnorm D2-MAC, der später mit Einführung von HDTV eine dazu kompatible Übertragungsnorm HD-MAC folgen wird.Die entscheidenden Orientierungen über den zukünftigen Weg werden vom Recht der Europäischen Gemeinschaft kommen. Dieses Recht muß so gestaltet werden, daß die existentiellen Ziele aller wirtschaftlich Beteiligten berücksichtigt werden.Für die Bundesrepublik sind deshalb vier Punkte von wesentlicher Bedeutung.a) Die neue Richtlinie muß auf Konsens aufbauen. Von Anfang an hat der Bundesminister für Post und Telekommunikation deshalb ein duales Vorgehen mit einer Richtlinie und einem Memorandum Understanding gefordert.b) Das bestehende Ungleichgewicht muß beseitigt und gegebenenfalls neues Ungleichgewicht von vornherein vermieden werden. Dies ist nur möglich, wenn die Programmanbieter eine entsprechende Reichweite erhalten und neue Programme von Anfang an möglichst viele Zuschauer erreichen können. Dies wird durch Simulcast erreicht werden, d. h. einer gleichzeitigen Ausstrahlung der Satellitenprogramme neben D2-MAC auch in PAL und SECAM. Diese Simulcast-Ausstrahlung müßte natürlich — das ist der Wunsch vieler Teilnehmer — von der EG finanziell unterstützt werden. Ob das möglich sein wird, läßt sich im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht übersehen.Des weiteren müssen alle Satellitensysteme gleichbehandelt werden, d. h. sowohl die sogenannten Rundfunksatelliten als auch die sogenannten Fernmeldesatelliten müssen D2-MAC und können für Simulcast PAL und SECAM abstrahlen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4411
Parl. Staatssekretär Wilhelm Rawec) Die Kunden müssen auf dem Markt zu akzeptablen Preisen ein Geräteangebot vorfinden, das den Übergang zum HDTV über den Zwischenschritt D2-MAC unterstützt. Dazu gehören Satellitenreceiver, TV-Geräte und Rekorder, die mit Empfangsausrüstung für D2-MAC-Signale ausgestattet sind.d) Die Richtlinie muß eine Möglichkeit eröffnen, während ihrer Laufzeit technologische und technische Weiterentwicklungen aufzunehmen und insofern Anpassungen vorzunehmen.Wie Sie wissen, erfüllt die Richtlinie in der gegenwärtigen Fassung die vorgenannten Punkte nicht, und deswegen muß nach Auffassung der Bundesregierung unbedingt eine Anpassung erfolgen.
Eine Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter Otto.
Herr Staatssekretär, ich habe Sie also richtig verstanden, daß in der Sitzung des Postministerrates vorgestern noch keinerlei Beschlüsse gefaßt worden sind. Ich darf Sie deshalb fragen: Wann ist denn nach der Einschätzung der Bundesregierung damit zu rechnen, daß der Richtlinienentwurf verabschiedet wird?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Sie dürfen mich in der Tat so interpretieren, denn es ist zu keinem Ergebnis gekommen. Ich will mal versuchen, das Ergebnis kurz zusammenzufassen. Es sieht so aus: Es hat keinen Konsens zu diesem Vorschlag vom Juli gegeben, es hat aber in der Diskussion den grundsätzlichen Willen gegeben, eine Richtlinie herzustellen. Man hat sich weitgehend darauf verständigen können, ein transparentes Paket zu schaffen, nämlich die Richtlinie, Memorandum of Understanding und Finanzierungsvorschlag.
Zu den Terminplänen: Die EG-Kommission will für den 5. Dezember eine neue Stellungnahme vorlegen, und das basiert darauf, daß sich das Europäische Parlament im gegenwärtigen Zeitpunkt ebenfalls mit der Frage befaßt, aber eine Stellungnahme meines Wissens erst am 26. November abgibt. Daher der Termin 4. Dezember.
Eine weitere Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Abgeordneter Otto.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß die in Art. 4 des Richtlinienentwurfes enthaltene Regelung, wonach ab 1993 größere Fernsehgeräte nur noch mit einem rund 300 DM teuren D2-MAC-Decoder verkauft werden dürfen, einen protektionistischen und dirigistischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Verbraucher darstellt?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, wir würden hier den Beratungen am 4. Dezember vorgreifen; das möchte ich nicht tun. Sie wissen, daß über den jetzt vorliegenden Entwurf — insofern könnte ich mit Ihnen übereinstimmen — keine Einigkeit erzielt worden ist. Wir warten wirklich den Vorschlag der Kommission am 4. Dezember ab. Es
würde wenig Zweck haben, dem jetzt vorgreifen zu wollen.
Ich habe nach dem Bericht über die Verhandlungen den Eindruck gewonnen, daß dort mit wesentlich liberaleren Auffassungen an die Sache herangegangen worden ist als bisher.
Dann bedanken wir uns bei Ihnen, Herr Staatssekretär.
Den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie brauche ich nicht aufzurufen, weil die Abgeordnete Frau Iwersen um schriftliche Beantwortung ihrer Fragen gebeten hat. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Um schriftliche Beantwortung hat ebenfalls der Abgeordnete Dr. Päselt für die Fragen 6 und 7 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung gebeten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zum Bereich des Bundesministers für Gesundheit. Hier steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 13 der Abgeordneten Frau Steen auf:
Was ist nach Auffassung der Bundesregierung an organisatorischen und rechtlichen Maßnahmen erforderlich, um das Bundesgesundheitsamt so zu stärken, daß es wirksam und rechtzeitig auf Meldungen über gesundheitsgefährdende Nebenwirkungen von Arzneimitteln reagieren kann?
Frau Kollegin Steen, die Erfassung und Bewertung der Meldung von Risiken, die in erster Linie eigenverantwortlich von den pharmazeutischen Unternehmern zu erheben, auszuwerten, umzusetzen und mitzuteilen sind, konnten im Bundesgesundheitsamt in den letzten Jahren laufend verbessert werden. Das Bundesgesundheitsamt hat auf die Mitteilung gesundheitsgefährdender Nebenwirkungen durchgängig angemessen reagiert. Durch neue Erfassungsprogramme und durch entsprechende apparative und personelle Ausstattung des Arzneimittelinstituts werden auch die zur Zeit rund 20 000 eingehenden Meldungen pro Jahr bearbeitet werden können. Auf jeden Fall wird die medizinische Bewertung eingehender Einzelfallberichte aktuell nach Eingang durchgeführt, so daß Rückstände in der Bewertung der Einzelfälle auf der Basis der jeweils vorliegenden Informationen praktisch nicht vorkommen. Im übrigen werden organisatorische Verbesserungen, insbesondere im Bereich der Infrastruktur und Datenverarbeitung, im Zusammenhang mit der Erörterung des Gutachtens einer Unternehmensberatungsfirma geprüft. Das Bundesgesundheitsamt wird auf diese Weise noch besser in die Lage versetzt, unverzüglich bei Meldungen über gesundheitsgefährdende Nebenwirkungen zu reagieren.
Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, könnte wegen dieser, wie Sie sagen, strukturellen Engpässe im Bundesgesundheitsamt in der Fachwelt
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4412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Antje-Marie Steender Eindruck entstehen, daß das Bundesgesundheitsamt auf Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz des Verbrauchers, wie dies von einer Gesundheitsbehörde verlangt wird, verzichtet und damit den pharmazeutischen Unternehmungen das Handeln überläßt?
Frau Kollegin, das ist nicht so. Wir können hier auch nicht von strukturellen Engpässen reden, sondern ich habe von einem strukturellen Verbesserungsbedarf gesprochen. Ich habe auch versucht, in meiner Antwort aufzuführen, daß Rückstände nicht vorhanden sind.
Keine weitere Zusatzfrage von seiten der Fragestellerin. Dann eine Frage der Frau Abgeordneten Augustin.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, ist es richtig, daß das Bundesgesundheitsamt in seiner Abteilung Risikoabwehr über ein hervorragendes Datensystem verfügt und daß keine derartigen Fehler zu beanstanden sind, sondern daß bis jetzt alle Aufgaben termingerecht erfüllt werden konnten?
Frau Kollegin Augustin, ich betrachte die in Ihrer Frage enthaltenen Aussagen als folgerichtig.
Herr Abgeordneter Schmidbauer.
Frau Staatssekretärin, ich habe die Frage: Wenn dieses Datensystem, wie Sie gerade bestätigt haben, zur Verfügung steht, welches sind dann aus Ihrer Sicht die organisatorischen Notwendigkeiten, um beispielsweise den Anwendern, also den Ärzten, Apothekern und Krankenhäusern, die Informationen so zur Verfügung zu stellen, daß diese Informationsproblematik nicht auftritt, die ständig reklamiert wird, daß die Fachwelt davon spricht, daß es einen Input von 40 000 Meldungen über Nebenwirkungen gibt, während als Output wenig zu erfahren ist?
Herr Kollege, der aus den Meldungen über Arzneimittelwirkungen zusammengesetzte Datenbestand beim Bundesgesundheitsamt enthält verwaltungstechnische und personenbezogene Daten, die sich für einen Zugang durch die Öffentlichkeit vor allem aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht eignen. Es wird zur Zeit in Erwägung gezogen, eine gemeinsame Datenbank von Bundesgesundheitsamt und Bundesärztekammer neben dem Datenbestand des Bundesgesundheitsamts einzuführen. Damit könnten Informationen beider Stellen zusammengeführt werden.
Danke schön. Weitere Fragen liegen nicht vor.
Dann rufe ich die Frage 14 des Abgeordneten Schmidbauer auf:
Durch welche Maßnahmen der Bundesregierung bzw. des Bundesgesundheitsamtes kann den Betroffenen, die durch Einnahme von L-Tryptophan-haltigen Medikamenten z. T. schwere und irreversible gesundheitliche Schäden erlitten haben, medizinisch und bei der Durchsetzung ihrer Rechtsansprüche geholfen werden?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Schmidbauer, das Bundesgesundheitsamt beantwortet Fragen Betroffener zu Arzneimittelrisiken auf der Basis der dort vorliegenden Informationen. Zusätzlich gibt das Bundesgesundheitsamt zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche Informationen über die dafür zuständigen Gremien und Wege. Die zivilrechtlichen Ansprüche richten sich entweder nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch — z. B. nach § 823 BGB — oder nach § 84 ff. des Arzneimittelgesetzes, die eine verschuldensunabhängige Haftung vorsehen.
Im Zusammenhang mit der EMS-Erkrankung und Tryptophan-Einnahme empfiehlt das Bundesgesundheitsamt eine weitergehende ärztliche Behandlung, die eine symptomatische Behandlung der Beschwerden darstellt, weil eine kausale Therapie bisher nicht bekannt ist.
Patienten, die eine EMS-Erkrankung bei sich feststellen oder vermuten, müssen durch eingehende ärztliche Untersuchung klären lassen, welche Erkrankung vorliegt. Einzelne Symptome der EMS-Erkrankung treten auch im Verlauf anderer Erkrankungen und ohne Arzneimitteleinnahme auf.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Präsident, ich habe nicht gefragt, welche Ratschläge man den Menschen gibt und wie die rechtlichen Positionen sind, sondern meine Frage war, durch welche Maßnahmen die Bundesregierung den Betroffenen konkret helfen kann. Ich bitte darum, die Frage konkret zu beantworten.
Herr Abgeordneter, wenn die Parlamentarische Staatssekretärin der Meinung ist, daß durch solche Ratschläge den Betroffenen geholfen werden kann, dann mögen Sie das bewerten, wie Sie wollen. Aber ich kann die Parlamentarische Staatssekretärin nicht zwingen, eine Ihnen genehmere Antwort zu geben. Deswegen bitte ich Sie, Ihre nächste Zusatzfrage zu stellen.
Dann möchte ich meine zweite Frage stellen: Kann die Bundesregierung Angaben darüber machen, wie viele Fälle von Betroffenen in der Bundesrepublik bekannt sind — es ist ja erst durch die öffentliche Diskussion klargeworden, wie viele Menschen davon betroffen sind; Informationen fehlen —, und liegen dem Bundesgesundheitsamt oder dem Ministerium dazu konkrete Zahlen vor?
Es liegen bisher 141 Verdachtsmeldungen vor.
Weitere Zusatzfragen zu der Frage 14 liegen nicht vor.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4413
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergHerr Abgeordneter Schmidbauer, Sie haben ja noch Ihre Frage 15. Wenn Sie auf die Beantwortung verzichten, rufe ich die Frage 16 auf.
Wenn die Antwort auf meine Frage 15 besser ausfällt als die Antwort auf meine Frage 14, verzichte ich natürlich nicht auf die Beantwortung.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Schmidbauer auf:
Bedeutet das vom Bundesgesundheitsamt eingeleitete Stufenplanverfahren für alle oralen L-Tryptophan-haltigen Arzneimittel, daß nichtorale L-Tryptophan-haltige Arzneimittel noch im Einsatz sind bzw. dafür noch kein Stufenplanverfahren eingeleitet ist?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Schmidbauer, das Bundesgesundheitsamt hat auch für nicht-oral anzuwendende L-Tryptophan-haltige Arzneimittel ein Stufenplanverfahren eingeleitet, Maßnahmen aber noch nicht getroffen. Es handelt sich bei diesen Arzneimitteln um solche mit vitalen Indikationen, wie z. B. vollständige künstliche Ernährung. Dabei stellt L-Tryptophan einen lebensnotwendigen Baustein für die körpereigene EiweißBiosynthese dar. Für diese Anwendung sind therapeutische Alternativen nicht vorhanden. Berichte über Risiken im Zusammenhang mit dieser Anwendung sind weltweit bisher nicht bekanntgeworden.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Augustin.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, ist es richtig, daß es sich bei L-Tryptophan um eine lebensnotwendige Aminosäure handelt und daß sich bei L-Tryptophan-Mangel eine ernstzunehmende Avitaminose einstellt, deren Folgen, beispielsweise Dermatitis, Verdauungsstörungen, Durchfall bis hin zur Epilepsie, zu psychischen Störungen und Verblödungen führen können?
Frau Abgeordnete, wenn Sie schon eine so komplizierte Frage stellen, die, mit Verlaub zu sagen, weder der Präsident noch andere wirklich verstehen können, dann nehmen Sie die Antwort wenigstens stehend in Empfang.
Bitte sehr, Frau Staatssekretärin.
Das ist richtig. Dieses L-Tryptophan ist ein lebensnotwendiges Medikament, das in niedriger Dosierung z. B. bei Maldigestionszuständen angewendet werden muß.
Es wird eine weitere Zusatzfrage gewünscht.
Wir haben gerade gehört, wie notwendig L-Tryptophan ist. Aber, Frau Staatssekretärin, die Erkrankungen und Unfälle, ja
Todesfälle sind im Zusammenhang mit gentechnisch hergestelltem L-Tryptophan aufgetreten. Dazu frage ich Sie, ob Sie dessen Wirksamkeit, Wirkung und Unschädlichkeit genauso positiv beurteilen wie die des in der Natur vorkommenden, z. T. im Körper produzierten Stoffs?
Erstens bitte ich Sie, stehen zu bleiben, wenn geantwortet wird.
Zweitens möchte ich feststellen, daß kein direkter Zusammenhang mit der Frage besteht, die sich auf die Einleitung eines Stufenplanverfahrens bezieht. Wenn die Staatssekretärin trotzdem antworten will, habe ich nichts dagegen.
Ihre Feststellung ist richtig, Herr Präsident. Da ich bei einer späteren Frage darauf eingehen werde, möchte ich Ihre Zusatzfrage, Frau Schaich-Walch, jetzt gern nicht beantworten.
Das ist Ihr gutes Recht.
Ich rufe die Frage 16 der Abgeordneten SchmidtZadel auf:
Wieso hat das Bundesgesundheitsamt trotz Meldungen insbesondere aus den USA über epidemieartige Erkrankungen und Todesfälle, die ursächlich auf die Einnahme von L-Tryptophanhaltigen Medikamenten zurückgeführt wurden, ohne wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse eine tägliche Höchstdosis von 1 Gramm als ungefährlich eingestuft?
Frau Kollegin Schmidt-Zadel, die Anfang Dezember 1989 vom Bundesgesundheitsamt angeordneten Maßnahmen, die die Rücknahme der Arzneimittel mit Tagesdosen über 1 Gramm für die Indikation „Depression" betrafen, waren durch die seinerzeit vorliegenden Informationen aus den USA sowie die aus der Bundesrepublik Deutschland gemeldeten Fälle begründet. Da mit der täglichen Nahrung bis zu 1 Gramm L-Tryptophan aufgenommen wird, konnte begründet davon ausgegangen werden, daß als mögliche Ursache die Einnahme von L-Tryptophan in sehr hoher unphysiologischer Dosierung in Frage kommt. Unmittelbar nach Bekanntwerden von EMS-Fällen aus den USA mit Dosen ab 150 Milligramm hat das Bundesgesundheitsamt Ende Dezember 1989 auch Monopräparate mit einer Dosis unter 1 Gramm vom Markt genommen.
Zusatzfrage? — Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, kann dies vielleicht auch daran liegen, daß die Kontakte bzw. der Informationsaustausch mit den entsprechenden Behörden in den USA, aber auch in anderen Ländern, ungenügend waren?
Frau Kollegin, das kann nicht sein. Das Bundesgesundheitsamt hat nach den eingehenden Informationen sofort gehandelt.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete? — Nein.
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4414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergDann rufe ich die Frage 17 der Abgeordneten Frau Schmidt-Zadel auf:Kann die Bundesregierung die im Zusammenhang mit dem Vorgang L-Tryptophan aufgekommene Information bestätigen, wonach bei einer Veränderung des Rohstoffes für ein Präparat nicht einmal eine Meldepflicht des Herstellers/Vertreibers an das Bundesgesundheitsamt besteht?
Frau Kollegin, vor Inkrafttreten des Vierten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, d. h. vor dem 20. April 1990, war eine Änderung des Herstellungsverfahrens für Arzneimittel dieser Art anzeigepflichtig, jedoch nicht genehmigungspflichtig. Mit der oben genannten Änderung wurden eine Zustimmungspflicht bei der Änderung gentechnologischer Herstellungsverfahren und eine Pflicht zur Beantragung einer Neuzulassung bei der Einführung gentechnologischer Herstellungsverfahren eingeführt. Nach hier vorliegenden Erkenntnissen lag die Änderung des Herstellungsverfahrens vor Inkrafttreten dieser Änderung des Arzneimittelgesetzes.
Zusatzfrage? — Nicht.
Dann rufe ich die Frage 18 der Abgeordneten Frau Schaich-Walch auf:
Welche personellen und strukturellen Konsequenzen sind im Zusammenhang mit den Vorgängen um L-Tryptophan-haltige Medikamente nach Auffassung der Bundesregierung notwendig, um die jährlich etwa 40 000 Meldungen über Nebenwirkungen von Medikamenten zeitgerecht zu erfassen, auszuwerten und über eine Informationsstelle oder Datenbank den Ärzten und Apotheken zur Verfügung zu stellen?
Frau Kollegin Schaich-Walch, im Zusammenhang mit den Vorgängen um L-Tryptophan-haltige Arzneimittel sind weder personelle noch strukturelle Konsequenzen angezeigt. Wie ich aber bereits in meiner Antwort auf die Frage der Abgeordneten Frau Steen ausgeführt habe, werden zur Zeit im Zusammenhang mit der Erörterung des Gutachtens einer Unternehmensberatungsfirma organisatorische Verbesserungen insbesondere im Bereich der Infrastruktur und der Datenverarbeitung geprüft. Die von Ihnen genannte Zahl von 40 000 Meldungen über Arzneimittelnebenwirkungen bezieht sich auf das Jahr 1987, in dem das Zweite Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes in Kraft getreten ist und die obligatorische Berichtspflicht für jeden einzelnen Verdachtsfall eingeführt wurde.
Für die Folgejahre sind die entsprechenden Fallzahlen für 1988 32 800, für 1989 27 648 und für 1990 23 642. Im Jahre 1990 ist durch das vierte Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes die Einzelfallmeldepflicht auf die für die Risikobewertung relevanten Ereignisse beschränkt worden. Daraus erklärt sich zum Teil der Rückgang der Fallzahlen. Die Möglichkeiten hinsichtlich Erfassung und Bewertung sind derzeit so angelegt, daß nach Einführung neuer Erfassungsprogramme und entsprechender apparativer Ausstattung sowie personeller Verstärkung jährlich 20 000 Berichte komplett bearbeitet werden können. Dies ergibt sich aus den Erfahrungen der letzten beiden Jahre.
Speziell zu L-Tryptophan-haltigen Arzneimitteln ist zu sagen, daß mit Einleitung des Stufenplanverfahrens eine prioritäre Erfassung und Bewertung der Meldungen erfolgte.
Die Einrichtung eines jederzeit durch jeden einzelnen Arzt oder Apotheker abfragbaren Informationssystems über Einzelfallberichte beim Bundesgesundheitsamt ist nicht vorgesehen. Es besteht aber die Absicht, eine gemeinsam von Bundesgesundheitsamt und Bundesärztekammer zu nutzende Datenbank einzurichten.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 19 der Abgeordneten Gudrun Schaich-Walch auf:
Kann die Bundesregierung Auskunft darüber geben, wieso das Bundesgesundheitsamt erst ein halbes Jahr, nachdem in einer eigenen Hausmitteilung über die Gefahr auch geringer Dosen von L-Tryptophan berichtet wurde, ein vorläufiges Vertriebsverbot auch für niedrig dosierte L-Tryptophan-haltige Präparate verfügt hat?
Die niedrig dosierten L-Tryptophan-haltigen Kombinationsarzneimittel zur oralen Anwendung waren auch nach Mitteilung eines Einzelfalles aus den USA über das Auftreten eines EMS nach geringer Dosis von den Maßnahmen ausgenommen, da sie zur Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen vorgesehen waren. Unter Berücksichtigung der Schwere dieser Erkrankungen — es handelt sich um Niereninsuffizienz, schwere Verdauungs- und Verwertungsstörungen des Magen-Darm-Traktes — überwog nach damaligem Erkenntnisstand der Nutzen der genannten Arzneimittel ihre möglichen Risiken. Dieses Verhältnis von Nutzen zu Risiko änderte sich im September 1990, als aus Frankreich EMS-Fälle im Zusammenhang mit einem auch in der Bundesrepublik Deutschland vertriebenen Kombinationsarzneimittel bekannt wurden. Das Bundesgesundheitsamt hat daraufhin die betroffenen Arzneimittel unmittelbar vom Markt genommen. In der Bundesrepublik Deutschland sind derartige Nebenwirkungsfälle nach niedriger Dosierung bislang nicht bekannt geworden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmidbauer. Bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, für mich stellt sich die Frage: Wieso konnte das Bundesgesundheitsamt laut seiner Pressemitteilung vom 12. Dezember 1989 weiterhin eine maximale Tagesdosis von 1 g empfehlen, obwohl dem Amt zumindest ein Fall einer schwerkranken Patientin mit EMS-verdächtigen Symptomen nachweislich bekannt war, die ein bis zwei Tabletten, also maximal 0,5 bis 1 g, eingenommen hatte?
Herr Abgeordneter, wenn Sie eine Antwort wünschen, würde ich mich freuen, wenn Sie sich an die Gepflogenheiten des Hauses halten würden.Frau Staatssekretärin.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4415
Herr Schmidbauer, ich habe bereits in meiner Antwort vorhin versucht, auf dieses Problem einzugehen. Die Anordnung des Ruhens der Zulassung für alle Monopräparate mit einer Tagesdosis von mehr als 1 g beruhte darauf, daß in den international bekannten EMS-Fällen höhere Dosen eingenommen worden waren.
Auch zum Nutzen-Risiko-Verhältnis habe ich bereits Stellung genommen.
Es tut mit leid, aber es steht Ihnen nur eine Zusatzfrage zu.
Nun hat noch die Frau Abgeordnete Augustin die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.
Ist es richtig, daß das Bundesgesundheitsamt — zwei Tage nachdem die Food and Drug Administration die Marktrücknahme aller Nahrungsmittelergänzungsmittel, die LTryptophan als alleinigen oder Hauptbestandteil enthielten, angekündigt hatte — reagiert hat, in das gesetzlich vorgeschriebene Stufenplanverfahren eingetreten ist und somit der notwendige Informationsaustausch mit den betroffenen pharmazeutischen Unternehmen umgehend stattgefunden hat, und ist es außerdem richtig, das Todesfälle nach der Einnahme von L-Tryptophan-haltigen Arzneimitteln in der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht bekanntgeworden sind?
Frau Kollegin, das ist richtig.
Nun bestehen keine weiteren Fragewünsche mehr.
Frau Staatssekretärin, ich möchte mich bedanken. Ich nehme an, daß viele im Haus nun zu Spezialisten für L-Tryptophan geworden sind.
Ich komme nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Gröbl zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 20 der Abgeordneten Frau Dr. Wetzel auf:
Mit welchen Maßnahmen und wie oft wird kontrolliert, ob die Besatzungsmitglieder, auf deren Namen Seefahrtsbücher ausgestellt sind, überhaupt lebende Personen sind, die sich tatsächlich persönlich an Bord des Schiffes aufhalten?
Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Dr. Wetzel, die schiffahrtspolizeilichen Kontrollen werden von den Wasserschutzpolizeien der Länder durchgeführt. Dabei wird auch ein Personenvergleich mit den vorgelegten Seefahrtsbüchern vorgenommen, wenn sich bei der üblichen Kontrolle der Schiffspapiere, u. a. des Schiffsbesatzungszeugnisses und der Crew-Listen, ein Verdachtsmoment ergibt.
Zusatzfrage? — Bitte schön, Frau Dr. Wetzel.
Mich würde in dem Zusammenhang interessieren, ob die Behörde, die für die Schiffsbesetzungsverordnung zuständig ist, auch wegen Verstößen gegen die Schiffsbesetzungsverordnung ermittelt und — wenn ja — in wie vielen Fällen das gemacht wurde.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Den ersten Teil der Frage beantworte ich mit Ja.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht, so kann ich Ihnen die Anzahl der Fälle jetzt nicht nennen. Ich bin aber gerne bereit, nachzuforschen und Ihnen das Ergebnis dann schriftlich mitzuteilen.
Weitere Zusatzfrage.
Ich darf eine kleine Ergänzungsfrage mit der Bitte um schriftliche Beantwortung anschließen: Mich würde interessieren, in wie vielen Fällen Reeder, die sich bei Verstößen gegen die Schiffsbesetzungsverordnung wohl strafbar gemacht haben, juristisch zur Rechenschaft gezogen worden sind.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Einigen wir uns auf schriftliche Beantwortung?
Ja.
Damit ist die Frage 20 erledigt.
Die Frage 21 wird auf Wunsch der Abgeordneten Frau Walz schriftlich beantwortet. Die Anwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe nun die Frage 22 des Abgeordneten Dr. Feige auf:
Ist es zutreffend, daß die Deutsche Bundesbahn zu Beginn des kommenden Jahres erneut die Tarife im Personenverkehr anheben will, und was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu unternehmen?
Herr Staatssekretär.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Deutsche Bundesbahn will — so ihre Auskunft —Tarife im Schienenpersonenverkehr zum 1. Januar 1992 anheben. Ein entsprechender Tarifantrag liegt allerdings beim Bundesminister für Verkehr noch nicht vor.
Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Dr. Feige.
Da damit zu rechnen ist, meine Zusatzfrage: Wie sieht es denn im Güterverkehr aus; wird dort zum Ausgleich mit einer Senkung der Tarife zu rechnen sein, oder ist auch dort eine Erhöhung zu erwarten?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Auch hierfür liegt uns kein Antrag vor. Sie wissen, die Bundesbahn muß, wenn sie eine Änderung vornehmen will, einen Tarifantrag beim Bundesverkehrsminister stellen. Derartige Anträge sind bei uns für Januar oder Februar nächsten Jahres nicht eingegangen.
Zusatzfrage?
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4416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Dazu erst einmal nicht.
Danke schön.
Ich rufe die Frage 23 des Abgeordneten Dr. Feige auf:
Inwieweit beeinflußt die vorgesehene Tariferhöhung der Deutschen Bundesbahn die bisherige Haltung der Bundesregierung bezüglich der Einführung eines Halbpreispasses nach Schweizer Vorbild, bzw. bis wann gedenkt die Bundesregierung einen solchen Halbpreispaß in der Bundesrepublik Deutschland einzuführen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die vorgesehene Tarifanhebung wird keinen Einfluß auf die Haltung der Bundesregierung bezüglich der Einführung eines Halbpreispasses nach dem Schweizer Modell haben. Auch für die Einführung eines Halbpreispasses liegt die Initiative bei der Deutschen Bundesbahn.
Zusatzfrage.
Nehmen wir einmal an, dies tritt dann nach dem entsprechenden Verfahren ein. Ich kann mir aber vorstellen, daß zusätzliche Anreize notwendig sind, um das vom Bundesverkehrsminister geplante Konzept einer Ausweitung des öffentlichen Personennahverkehrs zu erreichen. Sind in dieser Hinsicht von Ihnen, wenn vielleicht auch nicht dieser Anreiz, so doch weitere Anreize geplant?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ja, Herr Kollege. Da gibt es ein ganzes Bündel von Anreizen, das auch der Bundesverkehrsminister plant.
Herr Präsident, nach meiner Einschätzung würde eine Aufzählung dieses Bündels den Rahmen der Fragestunde allerdings sprengen. Aber ich kann das natürlich eine halbe Stunde lang versuchen.
Nachdem Sie ja offensichtlich bereit sind, die Dinge auch schriftlich klarzustellen, kann ich mir vorstellen, daß der Abgeordnete Dr. Feige mit diesem Verfahren einverstanden ist.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, diese Frage schriftlich zu beantworten, würde einen Schriftsatz von vielen Seiten erforderlich machen.
Eine Antwort von einigen Seiten, Herr Staatssekretär, wäre dem sicher nicht ganz schlecht ausgestatteten Haus schon möglich. Aber vielleicht können sich die Herren auf ein geeigneteres Verfahren verständigen, um den Wissensdurst des Abgeordneten Dr. Feige zu befriedigen. Ich könnte mir vorstellen, Herr Dr. Feige, daß es sicher nicht in Ihrem Interesse liegt, daß wir durch eine Diskussion über diesen Fragenkomplex jetzt die Fragestunde aufhalten. Bitte, Herr Dr. Feige.
Es ist richtig, ich will die Fragestunde nicht aufhalten. Ich möchte gern eine zweite Zusatzfrage zu einem anderen Bereich stellen.
Das ist Ihr gutes Recht.
Ich würde mich aber sehr freuen, wenn Sie in Ihrer schriftlichen Beantwortung wenigstens die Maßnahmen zusammenfassen könnten, die die Bürger erreichen und die sie unmittelbar in ihrer Tasche spüren.
Darüber können wir Einvernehmen feststellen.
Da es offensichtlich auch um eine Kostenminimierung bei der Reichsbahn und bei der Bundesbahn geht, meine Frage: Inwieweit sind dort Privatisierungen von Teilen des Bundesbahn- oder Reichsbahnvermögens geplant, um in dieser Hinsicht Anreiz zu bieten; ist da überhaupt etwas in Bewegung?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Da ist einiges in Bewegung. Das ist auch eine grundsätzliche Frage der Strukturreform beider Bahnen.
Wie Sie wissen, hat die Bundesregierung eine Regierungskommission „Bahn" einberufen, die entsprechende Entscheidungshilfen für die Bundesregierung und für das Parlament ausarbeitet. Diese Regierungskommission „Bahn" wird bis Ende dieses Jahres entsprechende Empfehlungen vorlegen. Dann werden wir, zunächst im Verkehrsausschuß und dann auch im Parlament, über die daraus zu ziehenden Folgerungen zu debattieren und zu entscheiden haben. Dabei ist es durchaus möglich und denkbar, daß eine Privatisierung entweder der Bahn insgesamt oder von Teilen der Bahn beschlossen wird. Aber ein Ergebnis dieser Diskussion vermag ich heute nicht vorwegzunehmen. Sonst wäre die Diskussion und auch die Arbeit der Regierungskommission zur Farce verurteilt.
Herr Dr. Feige, normalerweise hätten Sie jetzt keine Möglichkeit mehr zu einer Zusatzfrage. Sie hatten nur zwei Zusatzfragen. Aber da Sie das eben nicht ausgenutzt haben, lasse ich diese Zusatzfrage, wenn sie sehr bedeutsam ist, noch zu.
Meine Frage lautet: Sind denn bereits Teile der Bundesbahn privatisiert worden, ohne daß wir gemeinsam — wie Sie das eben so schön gesagt haben — darüber beraten haben?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es gibt in der Bundesrepublik eine Reihe von nichtstaatseigenen Bahnen, sowohl in der Personenbeförderung als auch in der Güterbeförderung. Außerdem werden Immobilien der Bundesbahn durch Verkauf privatisiert. Dies ist in der Vergangenheit passiert, und dies wird auch in Zukunft so sein.
Ich glaube, damit haben wir den Komplex abgehandelt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn es über den noch fehlenden Teil in bezug auf die Antwort noch zu einer Verständigung käme.Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich bemühe mich gerne, Herr Präsident.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4417
Danke schön.
Die Frage 24 wird auf Wunsch des Abgeordneten Schulz schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Schütz auf:
Worauf begründet sich die von der Wasserschiffahrtsdirektion Aurich im Planfeststellungsverfahren Emsvertiefung beantragte Ausbautiefe von 6,80 m angesichts der zwischen dem Land Niedersachsen und dem Bund vereinbarten Ausbautiefe von 6,30 m?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schütz, Grundlage des Planfeststellungsantrages für den Ausbau der Ems für 6,8 m tiefgehende Schiffe waren offizielle Anstöße des Hafens und der Werftindustrie Papenburgs.
Nach eingehenden Verhandlungen mit dem Land Niedersachsen wurde festgelegt, daß zunächst nur ein Teilplanfeststellungsbeschluß für das 1992 zu überführende 6,8 m tiefgehende Werftschiff „Zenith" erlassen wird. Der Beschluß ist am 3. Juli 1991 erlassen, inzwischen rechtskräftig und unanfechtbar geworden. Dieser Beschluß sieht außerdem die ständige Vorhaltung einer Flußtiefe für die Überführung von 6,3 m tiefgehenden Schiffen vor. Für laufend wiederholbare Überführungen von 6,8 m tiefgehenden Schiffen ist das Planfeststellungsverfahren noch anhängig.
Danke schön. — Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wer trägt für die Durchführung dieser Maßnahmen die Kosten?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Von welchen Maßnahmen sprechen Sie?
Von den Maßnahmen betreffend eine über 6,3 m hinausgehende Ausbautiefe, die jetzt im Planfeststellungsverfahren beantragt sind.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Dies ist eine Bundeswasserstraße. Hierfür hat der Bund die Kosten zu tragen.
Weitere Zusatzfrage? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 26 des Abgeordneten Schütz auf:
Wie stellt sich die Bundesregierung zu der von der MeyerWerft geforderten Ausbautiefe von 7,30 m auch unter dem Blickwinkel der Umweltverträglichkeit?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung, Herr Kollege, steht der Prüfung eines Ausbaus der Ems für 7,3 m tiefgehende Schiffe der Werftindustrie in Papenburg aufgeschlossen gegenüber. Die Prüfung wird auch Aufschluß über die noch zu untersuchende Umweltverträglichkeit geben.
Zusatzfrage? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Schütz.
Die erste Zusatzfrage: Gibt es nach Ihrer Einschätzung Grenzen des Ausbaus? Ich will diese Frage auch verdeutlichen: Es gibt durchaus Werften im Küstenbereich, die für die Kapazitäten ihres Schiffbaus bestimmte Tiefgänge als Grenze ansehen, z. B. die Werft in Oldenburg.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es wird sich zeigen, Herr Kollege Schütz, ob derartige Grenzen gegebenenfalls durch die Umweltverträglichkeitsprüfung aufgezeigt werden. Auch hier kann ich das Ergebnis nicht vorwegnehmen. Die Umweltverträglichkeitsprüfung muß diese Fragen an den Tag bringen.
Zweite Zusatzfrage.
Kennt die Bundesregierung andere Standortdiskussionen, die eine Vertiefung möglicherweise überflüssig machen, denn die Vertiefungen sind ja auf Grund von Akquisitionen erforderlich?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es ist eine Frage der Hilfe für diesen strukturschwachen Raum, die sowohl den Hafen als auch die Stadt Papenburg und wohl auch das Land Niedersachsen veranlaßt hat, zusammen mit der Bundesregierung nach einem Weg zu suchen, wie man die Arbeitsplätze an dieser betroffenen Werft erhalten kann.
Damit ist der ganze Bereich beendet, Herr Staatssekretär. Herzlichen Dank.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Lintner zur Verfügung.
Zunächst teile ich dem Haus mit, daß der Abgeordnete Günter Graf die schriftliche Beantwortung der Frage 35 beantragt hat. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 36 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf :
Wie hat sich die Zahl der unbegleitet in die Bundesrepublik Deutschland einreisenden Kinder seit Einführung des Visumzwanges für Personen unter 16 Jahren entwickelt?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Zunächst zur ersten Frage. Herr Kollege Hirsch. Seit dem Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes am 1. Januar 1991, nach dem grundsätzlich auch Ausländer unter 16 Jahren der Visumpflicht unterliegen, sind aus den Hauptherkunftsländern bis September 1991 insgesamt 210 unbegleitet eingereiste Personen dieser Altersgruppe registriert worden, und zwar 93 aus der Türkei, 47 aus Sri Lanka, je 23 aus dem Iran und aus Afghanistan, 10 aus Paidstan, 9 aus Äthiopien, 2 aus Indien, 1 aus dem Libanon und 2 unbekannter Herkunft. Die 93 jugendlichen türkischen Staatsangehörigen gehören zu dem Personenkreis, der nach § 2 der ebenfalls am 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz nach wie vor grundsätzlich von der Visumpflicht befreit ist.
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4418 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, ich kann mit dieser Antwort nicht sehr viel anfangen. Ich hatte gefragt, ob sich die Zahl vermehrt hat. Dies bezog sich, wie Sie aus der Frage ersehen, natürlich nicht auf Personen, die von der Visumpflicht befreit sind, sondern auch diejenigen, für die wir unter großem Getöse gerade eine Visumpflicht eingeführt haben.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hirsch, das kann ich gern ergänzend beantworten. Ein Vergleich mit den Jahren 1988 bis 1990 ergibt eine wesentlich höhere Zahl, nämlich 2 236 im Jahre 1988, 2 289 im Jahre 1989 und 450 im Jahre 1990.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Hirsch.
Sind diese unbegleiteten Kinder unter 16 Jahren mit oder ohne Visum eingereist?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Diese Frage kann ich Ihnen aus den Unterlagen nicht beantworten. Ich müßte Ihnen die Antwort schriftlich nachliefern.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Wartenberg.
Ist es denn immer noch so, daß diese unbegleiteten Kinder überwiegend über den Flughafen Frankfurt kommen, obwohl es dort, bezogen auf die Luftfahrtgesellschaften und die Visaerteilung, bestimmte Bedingungen gibt? Oder wo melden sie sich?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wartenberg, auch darüber gibt die Unterlage nichts her; aber ich gehe davon aus, daß es so ist.
Ich rufe die Frage 37 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
Von wem werden für diese Kinder Asylanträge gestellt, und auf Grund welcher tatsächlichen Angaben geschieht das?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Die Antwort lautet: Die Asylantragstellung erfolgt bei unbegleiteten Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren, die auch keine Verwandten im Bundesgebiet haben, durch den auf Antrag des Jugendamtes bestellten Vormund. Soweit es Alter und Verständnis des Kindes ermöglichen, beruht die Begründung des Asylantrags auf den Angaben des Kindes bzw. des Jugendlichen. Im übrigen trägt der Vormund den relevanten Sachverhalt zur Begründung des Asylantrags vor.
Zusatzfrage, bitte schön.
Auch das ist wieder eine Antwort, die eigentlich mehr verschleiert, als sie enthüllt. Sie haben ausgeführt, daß, soweit Alter und Verständnis des Kindes nicht ausreichen, der bestellte Pfleger — ein Vormund wird es ja wohl nicht sein — einen Antrag nach den Angaben — so haben Sie es,
glaube ich, formuliert — stellt. Ich möchte fragen, woher er über die Umstände Bescheid weiß. Der Sachverhalt ist doch folgender: Ein Kind unter 16 Jahren erscheint und sagt irgend etwas. Wenn das vernünftig klingt, kann man das aufnehmen. Aber woher nimmt denn dieser Pfleger einen plausiblen Asylantrag, wenn diese Mindestvoraussetzungen gar nicht vorliegen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hirsch, ich möchte Ihnen empfehlen, einmal unmittelbar mit einem Pfleger zu sprechen. Uns liegen darüber auch keine detaillierten Erkenntnisse vor. Ich könnte mir aber denken, daß man z. B. aus dem Herkunftsland des Kindes durchaus Schlüsse ziehen könnte.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, könnte es nicht vielmehr so sein, daß die z. B. von der Stadt Frankfurt bestellten Pfleger einen Asylantrag stellen, weil dann die Kosten von dem jeweiligen Land übernommen werden, so daß Kinder, die hier einreisen, einfach aus fiskalischen Gründen zu Asylbewerbern „ernannt" werden?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hirsch, für diesen Verdacht gibt es jedenfalls bei uns keine Anhaltspunkte.
Herr Abgeordneter Lüder.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, die Pflegeranträge daraufhin auswerten zu lassen, auf welche Sachkunde die Formulierungen in den Anträgen schließen lassen bzw. ob sie die Vermutung des Kollegen Hirsch stützen würden?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, es handelt sich um eine Materie, für die die Länderverwaltungen zuständig sind. Ob wir zu diesen Anträgen Zugang haben, kann ich aus dem Stegreif nicht beantworten. Sollten wir Zugang erhalten, bin ich gerne bereit, darüber dann Auskunft zu geben.
Danke
schön, Herr Abgeordneter Otto.
Herr Staatssekretär, ist mein verfassungsrechtliches Grundverständnis richtig, daß die Entscheidungen, die Sie erwähnt haben, nicht von den Ländern, sondern vom Bundesamt für ausländische Flüchtlinge getroffen werden?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Das ist richtig; aber welche Überlegungen die Pfleger angestellt haben, ist wohl nur aus den Unterlagen zu erschließen,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4419
Parl. Staatssekretär Eduard Lintnerdie beim Land vorhanden sind. Deshalb gehe ich davon aus, daß wir diese Unterlagen benötigen.
— Es hat den Antrag, aber welche Gedanken sich der einzelne Pfleger gemacht hat, wird wahrscheinlich bei dessen Akten zu finden sein. Wir können ja einmal nachsehen und werden dann hoffentlich die nötigen Auskünfte geben können.
Meine Damen und Herren, Sie haben jeweils nur eine Zusatzfrage. Sie können dann noch mit Zwischenrufen arbeiten. Auch das haben Sie weidlich ausgenutzt. Nun sind wir wirklich am Ende.
Wir kommen zur Frage 38 des Abgeordneten Welt:
Welche tatsächlichen und rechtlichen Vorbereitungen sind von der Bundesregierung getroffen worden, um die im Parteiengespräch vom 10. Oktober 1991 verabredete Zuständigkeitsverlagerung im Asylverwaltungsverfahren umzusetzen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Welt, die Antwort lautet: Bereits am 11. Oktober 1991 hat der Bundesminister des Innern die Vorsitzenden der Innenministerkonferenz und der Justizministerkonferenz gebeten, die Ergebnisse des Parteiengesprächs auf der gemeinsamen Sondersitzung der Innen- und Justizministerkonferenz vom 17. Oktober 1991 zu behandeln.
Die Innen- und Justizministerkonferenz hat eine gemeinsame Arbeitsgruppe beauftragt, eine Liste der Gesetzgebungsmaßnahmen des Bundes sowie der von den Ländern zu veranlassenden Maßnahmen vorzulegen. Diese gemeinsame Arbeitsgruppe hat am 25. Oktober 1991 in Potsdam getagt und einen Bericht erstellt. Dieser Bericht wurde auf der Sitzung der Justizministerkonferenz am 5. und 6. November 1991 und wird auf der Sitzung der Innenministerkonferenz am 7. und 8. November 1991 behandelt.
Mit Schreiben vom 14. Oktober 1991 sind die Ministerpräsidenten der Länder gebeten worden, die von den Ländern eingegangenen Verpflichtungen verbindlich zu bestätigen. Der Bundesminister des Innern hat mit dem Bundesminister der Finanzen eine Ergänzung zum Regierungsentwurf des Haushalts 1992 vorbereitet, die dem Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages für die Beratungen am 13. November 1991 zugeleitet wird.
Eine Arbeitsgruppe aus Vertretern des Bundesinnenministeriums, des Bundesjustizministeriums und des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge befaßt sich derzeit mit den notwendigen Arbeiten zur Änderung des Asylverfahrensrechts.
Die gesetzgeberische Umsetzung der Zielvorstellung erfordert tiefgreifende und umfassende Änderungen des Asylverfahrensrechts, die komplizierte und schwierige Fragen aufwerfen. Etwa 80 To der asylrechtlichen Regelungen sind von den Änderungen betroffen. Es bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung der Gesetzesänderungen. Gegebenenfalls kommt auch eine Neufassung des Asylverfahrensgesetzes in Betracht, wenn ein praxisgerechtes Ineinandergreifen
der asylrechtlichen Verfahren auf Feststellung der politischen Verfolgung und der ausländerrechtlichen Verfahren auf Aufenthaltsbeendigung und zudem eine reibungslose Zusammenarbeit von Bundes- und Landesbehörden gewährleistet werden und Mißbrauchsmöglichkeiten, die dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung zuwiderlaufen, im Rahmen des Möglichen ausgeschlossen werden sollen.
Zusatzfrage, bitte schon, Herr Abgeordneter Welt.
Herr Staatssekretär, welche zusätzlichen Maßnahmen hat denn die Bundesregierung nach dem genannten Gespräch vom 10. Oktober 1991 getroffen, um die überaus große Zahl von 200 000 unerledigten Fällen abzubauen und um die ca. 150 offenen Entscheiderstellen zu besetzen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Sie wissen, Herr Kollege, daß der Bund zunächst einmal in seinen Reihen sucht, ob zusätzliche Beamte dafür mobilisiert werden können. Das ist nicht von heute auf morgen zu entscheiden, weil die Beamten natürlich konsultiert werden müssen und weil auch die abgebenden Behörden dabei mitwirken müssen. Aber es gibt gewisse Reserven, die im Gespräch sind. Ich kann aber noch nicht sagen, wie groß die Zahl sein wird, die zur Verfügung gestellt werden kann. Wir können über Personal nicht einfach so verfügen, daß wir die Leute von heute auf morgen vor vollendete Tatsachen stellen.
Das zweite ist: Die Länder haben insbesondere die Verpflichtung übernommen, zusätzlich 500 Beamte zur Verfügung zu stellen. Die Erklärung, daß dies möglich sein wird, liegt, soviel ich weiß, noch nicht von allen Ländern vor.
Herr Welt, Sie haben noch eine Zusatzfrage. Die Abgeordneten Lüder und Wartenberg haben sich auch gemeldet. Ich mache allerdings darauf aufmerksam, daß das Thema auch Gegenstand der nachfolgenden Frage des Abgeordneten Wartenberg ist. Insofern gibt es Überschneidungen.
Herr Abgeordneter Welt.
Herr Staatssekretär, können Sie sagen, wie lange die erkennungsdienstlichen Unterlagen über Asylbewerber durchschnittlich beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und beim Bundeskriminalamt bleiben, bis sie zur Mitteilung der Ergebnisse an die Ausländerbehörden gelangen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Das kann ich Ihnen aus dem Stegreif nicht beantworten.
Ich muß Ihnen anbieten, die Dinge schriftlich aufzuklären.
Herr Abgeordneter Lüder.
Herr Staatssekretär, mich verwundert — darum die Frage — , daß hier 80 % aller
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4420 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Wolfgang LüderVorschriften tangiert seien. Was spricht dagegen, den vom FDP-Präsidium veröffentlichten Gesetzentwurf, gegen den es, soweit ich höre, aus dem Justizministerium keine Einsprüche geben soll, hier zugrunde zu legen und ihn sofort dem Gesetzgebungsorgan zugänglich zu machen?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, beispielsweise nehmen auch die Koordination und die Besprechungen insbesondere mit den jeweiligen Ländern, die hier mitwirken sollen, eine gewisse Zeit in Anspruch. Auch dieser Abstimmungsprozeß ist noch nicht erledigt, so daß es damit, daß jetzt Ihr Entwurf übernommen wird, leider nicht getan sein wird.
Herr Abgeordneter Wartenberg.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben gesagt, daß die Länder ihrer Verpflichtung, 500 Beamte zu stellen, noch nicht voll nachgekommen sind.
Hier war aber die Frage gestellt worden — ich wiederhole sie — : Was tut der Bund, um die über 100 nicht besetzten Stellen endlich zu besetzen? Ich glaube, erst wenn der Bund das getan hat, kann er auch erwarten, daß die Länder, die sich bemühen, 500 Beamte zur Verfügung zu stellen, dies schaffen. Dies ist kein Problem, das beim Bund vom Himmel gefallen ist. Wie stellen Sie sich dazu? Meinen Sie nicht, daß Sie den Ländern gerade Vorbild sein müßten?
Herr Wartenberg, Sie haben zu Recht festgestellt, daß Sie kaum eine Frage gestellt haben. Insofern erwarten Sie vielleicht auch keine Antwort. Aber der Parlemtarische Staatssekretär möchte trotzdem antworten. Bitte schön.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Wartenberg, bezüglich der seit längerer Zeit nicht besetzten Stellen bemüht sich der Bund ständig, jemanden zu finden, der in Betracht kommt. Leider ist der Arbeitsmarkt gerade in diesem Bereich so, daß Bewerber in dem Umfang, wie es nötig ist, nicht zur Verfügung stehen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um diese Stellen zu besetzen. Aber wir können natürlich niemanden zwingen, sich bei uns zu bewerben.
Herr Abgeordneter Hirsch hat eine Zusatzfrage.
Herr Staatsskretär, da es oft genug vorkommt, daß die Bundesregierung, die ich gar nicht angreifen will, Gesetzgebungsvorlagen macht, die nicht gerade, so sage ich einmal, Spitzenleistungen deutscher Gesetzgebungskunst sind und bei denen sie selber im Laufe des Beratungsverfahrens in hilfreicher Weise nachbessert, frage ich: Was hindert Sie in Gottes Namen daran, einen Gesetzentwurf wenigstens einmal einzubringen, damit das parlamentarische Verfahren für das Asylverfahrensgesetz beginnen kann, über dessen Dringlichkeit auf allen Seiten des Hauses völlige Übereinstimmung besteht?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hirsch, Sie selber stellen an die Solidität der Arbeiten des Hauses immer hohe Ansprüche. Dem wollen wir natürlich gerecht werden.
Deshalb brauchen wir eine gewisse Zeit, um die Dinge so zu formulieren, daß sie juristisch tatsächlich zu verantworten sind. Die Zeit dafür ist jedenfalls bisher nicht ausreichend gewesen. Ich kann Ihnen aber versichern, daß irgendwelche zeitlichen Versäumnisse von unserem Haus in jedem Fall vermieden werden sollen.
Im übrigen erlaube ich mir, den Abgeordneten Dr. Hirsch darauf hinzuweisen, daß die Gesetze nicht in Gottes Namen eingebracht werden, sondern im Namen der antragstellenden Abgeordneten.
Wir kommen nunmehr zur Beantwortung der Frage 39 des Abgeordneten Wartenberg:Was hat die Bundesregierung unternommen, um die im Parteiengespräch am 10. Oktober 1991 vereinbarten Zielvorstellungen zur Beschleunigung der Asylverfahren umzusetzen?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wartenberg. Meine Antwort auf Ihre Frage ist im wesentlichen identisch mit der auf die vorhergehende Frage. Aber ich muß das natürlich vortragen.Bereits am 11. Oktober 1991 hat der Bundesminister des Innern die Vorsitzenden der Innenministerkonferenz und der Justizministerkonferenz gebeten, die Ergebnisse des Parteiengesprächs aus der gemeinsamen Sondersitzung der Innen- und Justizministerkonferenz am 17. Oktober 1991 zu behandeln. Die Innen- und Justizministerkonferenz hat eine gemeinsame Arbeitsgruppe beauftragt, eine Liste der Gesetzgebungsmaßnahmen des Bundes sowie der von den Ländern zu veranlassenden Maßnahmen vorzulegen.Diese gemeinsame Arbeitsgruppe hat am 25. Oktober 1991 in Potsdam getagt und einen Bericht erstellt. Dieser Bericht wird auf der Sitzung der Justizministerkonferenz am 5. und 6. November 1991, also dieser Tage, und der Sitzung der Innenministerkonferenz am 7./8. November 1991 behandelt.Mit Schreiben vom 14. Oktober 1991 — auch das ist schon gesagt worden — sind die Ministerpräsidenten der Länder gebeten worden, die von den Ländern eingegangenen Verpflichtungen verbindlich zu bestätigen.Der Bundesminister des Innern hat mit dem Bundesminister der Finanzen die besagte und ebenfalls schon erwähnte Ergänzung des Haushalts 1992 vorbereitet. Der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau will noch in dieser Woche mit den Ländern Fragen einer Änderung baurechtlicher Regelungen — auch das ist nötig — erörtern. Eine Ar-
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Parl. Staatssekretär Eduard Lintnerbeitsgruppe aus Vertretern des Bundesinnenministeriums, des Bundesjustizministeriums und des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge befaßt sich derzeit auch mit den notwendigen Arbeiten zur Änderung des Asylverfahrensrechts.
Zusatzfrage, bitte schön, Herr Wartenberg.
Es ist schön, daß Sie das gleiche wie zu der vorigen Frage noch einmal vorlesen. Schwerhörig sind wir ja nicht. Wir bekommen das auch beim erstenmal mit.
Meinen Sie nicht, um an die Frage des Kollegen Hirsch anzuschließen, daß auf Grund der Festlegung im Kanzleramt, daß möglichst zum 1. Januar Gesetze in Kraft treten sollten, die Bundesregierung hätte in der Lage sein können, dem Parlament in dieser Woche oder vielleicht in der nächsten Woche Gesetzentwürfe vorzulegen, zumal es der Innenminister geschafft hat, innerhalb eines Tages einen Verfassungsänderungsentwurf vorzulegen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wartenberg, Sie wissen, daß beispielsweise die von Ihrer Partei regierten Bundesländer außerordentlichen Wert darauf legen, daß diese Dinge in enger Abstimmung zwischen Ländern und Bund geregelt und auch schon erarbeitet werden. Diesem Abstimmungswunsch kommt die Bundesregierung und der Bundesinnenminister selbstverständlich gerne nach. Das bedeutet aber auch, daß wir uns an die u. a. auch mit den Landesregierungen Ihrer Partei verabredeten Verfahren zu halten haben.
Herr Wartenberg, Sie haben noch eine Zusatzfrage. Aber weitere Zusatzfragen lasse ich nicht zu, weil wir die Zeit schon weit überschritten haben. — Bitte schön.
Meinen Sie denn nicht, daß es die Verpflichtung der Bundesregierung wäre, alles das, was Bundesgesetze angeht und was in Übereinstimmung mit den Ländern verabredet worden ist, nun einmal in Gesetzesform zu fassen? Es gibt viele Gesetzentwürfe der Bundesregierung, die wir in der parlamentarischen Verhandlung ändern. Wie häufig hat uns die Bundesregierung zu anderen Fragen Gesetze eingebracht, die dann von allen Seiten ergänzt, verändert oder vielleicht auch durch gemeinsame Anträge verbessert worden sind. Meinen Sie nicht, daß unter dem Zeitdruck, unter den wir uns alle gesetzt haben, die Bundesregierung nun endlich tätig werden muß?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wartenberg, dem kann ich deshalb nicht zustimmen, weil das Asylverfahrensrecht in weiten Bereichen die Mitwirkung der Länder voraussetzt bzw. Institutionen betrifft, die die Länder zu unterhalten haben. Deshalb gibt es diesen Bundesteil, den Sie klammerartig herausgezogen sehen wollen, in diesem Bereich nicht.
Im übrigen kann ich nur auf folgendes verweisen: Bisher haben noch nicht einmal alle Länder geantwortet, ob sie bereit sind, Sammelunterkünfte einzurichten, und in welchem Umfang solche Sammelunterkünfte dann in Einrichtungen untergebracht werden sollen, die beispielsweise der Bundesminister der Finanzen zur Verfügung stellen kann.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt auf: Aktuelle Stunde
Weisung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit an das Land Hessen: Aufhebung der Stillegungsverfügung für die Plutoniumverarbeitung in Hanau vor Fertigstellung der Schwachstellenanalyse
Die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN hat eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Zunächst einmal erteile ich dem Abgeordneten Dr. Feige das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 17. Juni dieses Jahres wurden mehrere Arbeiter im Siemens Brennelementewerk in Haunau radioaktiv verseucht.
Um weitere Schäden und Gefährdungen von Arbeitnehmern und Bevölkerung abzuwenden, hat der hessische Umweltminister in einer verantwortungsvollen Weise die Stillegung verfügt und gleichzeitig — ich glaube, das ist genauso nützlich — eine Schwachstellenanalyse in Auftrag gegeben, von der der weitere Betrieb dieser Anlage abhängt. — So weit, so gut.Mit einem kurzen Federstrich hat der Bundesumweltminister — oder auch Bundesreaktorsicherheitsminister in diesem Sinne — nunmehr gegen diese aus Umwelt- und Sicherheitsgründen einleuchtende und zwingende Verfahrensweise Front gemacht. Entgegen den Prinzipien des föderalen Staatsaufbaus versucht er per zentralistischem Weisungsrecht, den Fortbestand der Atomwirtschaft zu sichern. Diese Weisung richtet sich gegen die unmittelbar vor Ort Betroffenen und somit meines Erachtens auch gegen die Demokratie. Sie macht offensichtlich, daß die Nutzung der Atomenergie nur auf Kosten demokratischer Rechte machbar ist.Diesen Eindruck hatte ich übrigens auch während des 9. Atomrechtsymposiums im Juli in München, in dem Politiker und Juristen sehr deutlich darauf hinwiesen, wie sehr beschleunigend doch in Sachen Atomenergie ein Abbau der Länderkompetenzen wäre.Auch der Zeitpunkt der Weisung ist hochinteressant. Durch was, oder besser: durch wen hat sich der Bundesumweltminister Töpfer gezwungen gesehen, eine Woche vor Abschluß der Schwachstellenanalyse diese Weisung zu erlassen? Immerhin hat er die Stilllegung dieses Siemens Brennelementewerkes durch Hessens Umweltminister Fischer fast vier Monate geduldet. War diese eine Woche nicht mehr Zeit?
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Dr. Maus-Dieter FeigeAber offenbar fürchten Siemens und die Atomwirtschaft die Ergebnisse des Gutachtens des Darmstädter Ökoinstituts zu den Schwachstellen der Hanauer Brennelementewerke. Sie könnten schließlich zu einer sehr kritischen Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit führen, durch die letztlich die Wiederaufnahme des Betriebs in der Bevölkerung keinerlei Rückhalt mehr finden dürfte. Aus Sicht der Betreiber wie auch der Lobby der Atomwirtschaft kann ich diese Befürchtungen natürlich nachvollziehen. Aber was gehen den Bundesminister für Reaktorsicherheit die Interessen der Atomenergielobby an? Seine Aufgabe ist es doch wohl, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden und in Sachen Atomenergie für maximale Sicherheit zu sorgen. Es gehört aber nicht zu seinen Aufgaben, die Profite der Unternehmen zu vergößern.
Aber eigentlich müßte ich Herrn Töpfer ja sehr dankbar sein. Denn so hat die Bevölkerung unseres Landes und auch der neuen Bundesländer mal wieder eine wunderbare Gelegenheit, sich über die tatsächlichen Drahtzieher in diesem Lande kundig zu machen. So wird den Bürgerinnen und Bürgern hoffentlich sehr deutlich, daß der Reaktorsicherheitsminister und mit ihm die Bundesregierung den Interessen der Atomenergiewirtschaft wesentlich näher stehen als den grundlegenden Sicherheits- und Umweltbelangen der betroffenen Bevölkerung.
— Dies wird ja nun Tag für Tag praktiziert.Gerade im Hinblick auf die gravierenden Folgen der Atomenergienutzung müßte der Umweltminister eigentlich wie ein Fels in der Brandung gegen die ohnehin mächtigen Interessen von Industrie und Atomwirtschaft stehen. An diesem Ideal gemessen ähnelt die Tätigkeit des jetzigen Verantwortungsträgers aber eher einem Sandkörnchen, das von der kleinsten Welle fortgetragen wird.Die Weisung — machen wir uns doch nichts vor — ist nichts anderes als der Vorgriff auf die geplante Atomgesetznovelle. Ich erinnerte schon an das Atom-rechtssymposium.Sie wollen sich das Instrumentarium schaffen, um z. B. auch gegen den entschiedenen Widerstand der Einheimischen ein zentrales Zwischenlager der westdeutschen Atomwirtschaft in Greifswald durchzusetzen. Die Diskussion darüber ist ja gerade entbrannt. Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern werden jedoch von Tag zu Tag wacher.Sicher sind Ihnen auch ein paar Ereignisse aus der letzten Woche sehr deutlich in Erinnerung. Am vergangenen Mittwoch gründete sich in einer Region, nämlich in Greifswald, in der die Bewohner bisher sehr entschieden für die Atomwirtschaft waren, eine Bürgerinitiative gegen dieses bundesweite Zwischenlager. Dort erklärten sich sofort 500 Menschen zur Mitarbeit bereit.Am vergangenen Samstag demonstrierten 2 000 in einer Stadt, die bisher sehr deutlich für die Atomenergiewirtschaft war, wegen ihrer neuen Sorgen. Ich denke, es werden sehr bald 20 000 sein. Irgendwie erinnert mich diese demokratische Entwicklung sehr deutlich an den Herbst von vor zwei Jahren in derselben Region.Die Menschen in diesem Lande, nicht nur die in Mecklenburg-Vorpommern, fordern, daß sich ein Bundesumweltminister für die Entfaltung der Demokratie und für den Aufbau eines ökologischen Energiesystems einsetzen sollte. Statt sich in Weisungen zu ergehen, muß er den Mut aufbringen, endlich den Ausstieg aus der Atomenergie einzuleiten.
Dann braucht er keine Weisungen mehr, um dadurch den Weg zu dezentralen und damit effizienteren Energiestrukturen freizumachen. Ich denke, Ihr praktizierter Atommix ist sauergärig und ungenießbar vergiftet.
Das Wort hat der Abgeordnete Harries.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Feige, Sie haben heute versucht, vier Attacken zu reiten und sie in dieser Aktuellen Stunde, die Sie beantragt haben, zu verbinden. Alle vier Attacken sind gescheitert.Sie haben hier zum einen — ich möchte beinahe sagen — wider besseres Wissen behauptet, daß in Greifswald ein bundesweites Zwischenlager errichtet werde. Das ist nicht richtig.Sie haben weiter gesagt, daß der Bundesumweltminister nur mit Weisungen arbeite und damit seine Politik durchsetze. Ich darf Sie fragen: Wer hat denn Greifswald geschlossen? Wer hat denn Stendal geschlossen? Wer reist denn in die Sowjetunion, um dort auch Verantwortung über die Grenzen unseres Landes hinaus zu zeigen?
Ich bitte schon, das etwas zurechtzurücken und in den Gesamtzusammenhang zu stellen.Aber — ich komme auf die Aktuelle Stunde zurück, die Sie beantragt haben — auch diese Attacke, Herr Feige und meine Damen und Herren, geht fehl. Sie reiten hier ständig gegen die Kernenergiepolitik der Bundesregierung an, haben aber keinen Erfolg, weil Sie keinen Erfolg haben können. Im Grunde schlägt das, was Sie in jeder Aktuellen Stunde versuchen, auf die Opposition zurück. Die Schwächen der Opposition, auch der größten Oppositionspartei, verehrter Herr Schäfer, werden durch diese Attacken, durch die immer wieder vom Bündnis 90/GRÜNE beantragten Aktuellen Stunden, offengelegt und gezeigt.
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Klaus HarriesMeine Damen und Herren, es ist in der Tat ungewöhnlich, daß der Bundesumweltminister zur Durchsetzung von Bundespolitik ständig gezielt, vermehrt und ohne Unterlaß zwei Landesumweltminister durch Weisungen zur Räson und auf Kurs bringen muß.Meine Damen und Herren, Weisungen strapazieren unsere Verfassung und belasten das Verhältnis zwischen Bund und Ländern und damit die föderale Struktur Deutschlands. Die in Niedersachsen dringend anstehende, erforderliche Entsorgung, die in unser aller Interesse liegt, denn wir haben nun einmal Kernkraftwerke, und wir werden noch Jahre mit Kernkraftwerken leben — wir bekommen abgebrannte Brennstoffe aus England und Frankreich zurück; da muß etwas geschehen — wird durch die Politik der niedersächsischen Landesregierung verhindert, verzögert, blockiert. Der Bundesumweltminister muß durch seine Weisungen gemäß der Rechtslage, gemäß der Bundespolitik und des Bundesrechts die Wege immer wieder freimachen. Jetzt ist in Hessen wieder eine Weisung des Bundesumweltministers erforderlich, um den hessischen Landesumweltminister auch zu Räson — ich gebrauche dieses Wort — zu bringen.Die Belastung unserer Verfassung, von der ich sprach, beruht nun nicht auf den Weisungen des Bundesumweltministers, sondern sie beruht darauf, daß die Länder sich fehlverhalten. Unser föderatives System funktioniert nur und kann nur funktionieren, wenn Bund und Länder loyal, fair und unserer Verfassung gemäß zusammenarbeiten.
Die Länder haben sich bundestreu zu verhalten. Die Verfassungslage sieht vor und gebietet es, daß die Länder Bundesrecht auszuführen haben. Hieran fehlt es sichtbar seit längerer Zeit und immer wieder bei der Durchsetzung der Bundespolitik auf dem Gebiet der Kernenergie. Die SPD-regierten Länder — vor allen Dingen Niedersachsen und Hessen — versuchen, die Atompolitik des Bundes zu unterlaufen und zu verhindern. Das ist nicht verfassungsgemäß.Meine Damen und Herren, auch mir ist völlig klar, daß man im politischen Raum — wo leben wir denn? — unterschiedlicher Meinung sein kann und daß man für seine Meinung kämpfen und eintreten muß, aber an der richtigen Stelle, in den richtigen Organen und in den Gremien, die dafür geschaffen sind! Das kann nicht dadurch geschehen, daß ein Land blockiert und Bundesweisungen nicht durchführt. Die Politik ist vielmehr im Bundesrat und im Bundestag zu machen. Dort können Sie das durchzusetzen versuchen.Ich appelliere an die Länder, die es angeht, in diesem Fall an Hessen, endlich darüber nachzudenken und sich verfassungskonform zu verhalten. In dieses Nachdenken, verehrter Herr Minister Fischer — Herr Schäfer, ich darf Sie und Ihre Fraktion einschließen — , sollten Sie auch die Frage einbeziehen, warum wir Kernenergie brauchen, warum wir nicht aus der Kernernergie aussteigen können.
Dazu nun drei Bemerkungen. Denken sie über das nach, was der Club of Rome jetzt gesagt hat! Denken Sie bitte darüber nach, was die Katastrophe im Osten auch für unsere Möglichkeiten, Energie bereitzustellen, bedeuten wird!
Denken Sie bitte darüber nach, was es auch für den technischen Wissensstand einer Industrienation wie der unseren bedeutet, wenn durch eine falsche Politik ein richtiges Institut, eine richtige technische, physikalische Einrichtung nach der anderen kaputtgemacht wird!Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Reuter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Harries, wenn Sie in Hanau leben würden und die Highlights der Zeitungen dort lesen würden, dann würden Sie feststellen, daß die Menschen in und um Hanau auf einem Pulverfaß sitzen. Dieser Industriestandort mit seinen unterschiedlichen Betrieben stellt ein hohes Gefährdungspotential für die Bevölkerung dar.Ich habe einmal einige Beispiele aus den letzten Monaten zusammengestellt. Im Januar 1989: Leckage im Tank der Atomfirma RBU; mindestens 5 0001 Salpetersäure traten aus. Im März 1990: Urantabletten gestohlen; Vorfall beim Siemens-Brennelementewerk. Das alles sind Dinge, die nicht vorkommen dürften. Im Dezember 1990: Explosion eines Sprühwasserwäschers bei Siemens. Die Zeitung schreibt: Schwerster Störfall in der Geschichte der Hanauer Atomindustrie; drei Arbeiter verstrahlt; 875 kg Uran ausgetreten.Juni 1991 weiterer Störfall in Hanau: Regenwasser im abgeschirmten Kontrollbereich, weil irgendwo im Kontrollbereich Löcher waren, wo eigentlich gar keine hätten sein dürfen.August 1991: Schwelbrand bei Siemens im Kontrollbereich der Uranverarbeitung. August 1991: Eine blaue Wolke ungeklärter Herkunft verletzt einige Waldarbeiter. Es gibt bis heute keinen Hinweis auf die Verursacher. Allerdings ist festgestellt worden, daß bei Siemens ungewöhnlich hohe Ammoniakemissionen vorhanden waren.
Im Oktober 1991: Explosionskatastrophe bei der Firma Heraeus mit einem Schaden von mehr als 100 Millionen DM, weil ein Wasserstofftank in die Luft geflogen ist. Nur der glückliche Umstand, daß es samstags morgens in der Frühe passierte, hat verhindert, daß dort mehr Menschen an Leib und Leben zu Schaden gekommen sind, und dazu geführt, daß im wesentlichen nur materielle Verluste eintraten. Im November 1991 steht in der Zeitung: 10 kg Uran strahlen in Gemäuer und Erdreich.
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4424 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Bernd ReuterJetzt haben wir in Hessen endlich eine rot-grüne Regierung, die willens und bereit ist, durch kritische Wissenschaftler eine Schwachstellenanalyse durchzuführen.
Was macht nun der Bundesumweltminister? Statt seinem hessischen Amtskollegen zu helfen und ihm zur Seite zu treten, erteilt er am 30. Oktober 1991 die Weisung, die Schließungsverfügung zurückzuziehen, noch bevor die Schwachstellenanalyse ausgewertet ist. Was sollen die Bürger von Ihren vollmundigen Erklärungen halten, Herr Töpfer,
daß bei der Nutzung der Atomenergie Sicherheit vor Wirtschaftlichkeit geht? Bei Ihrem Verhalten fällt immer wieder auf, daß Sie sich zum verlängerten Arm der Industrie machen. Er macht sich zum Sachwalter der Firmeninteressen in Hanau.Was die Eilbedürftigkeit betrifft, meine Damen und Herren, ist die Firma für die Verzögerungen selber verantwortlich. Sie hat wochenlang den von der hessischen Regierung berufenen Experten den Zugang zu den Betrieben verweigert. Erst der Verwaltungsgerichtshof mußte den Experten den Zugang per Gerichtsentscheid erzwingen.
Vor einer Entscheidung über die Wiederaufnahme der Plutoniumverarbeitung müssen die möglichen Sicherheitsdefizite, die sich aus den Schwachstellen ergeben können, geprüft und beseitigt werden.Im Namen der SPD-Bundestagsfraktion fordere ich deshalb den Bundesumweltminister auf, seine unverantwortliche Weisung vom 30. Oktober 1991 aufzuheben
und aktiv mitzuwirken, daß die dort vorhandenen Risiken festgestellt und die Gefahren beseitigt werden. Sollten Sie, Herr Töpfer, jedoch stur an dieser Forderung festhalten, übernehmen Sie auch die volle Verantwortung für diese falsche und die Sicherheit der Menschen in Hanau und Umgebung gefährdende Entscheidung. Gerade die Ereignisse um die Atomfirmen in Hanau bestätigen uns Sozialdemokraten in unserer Haltung, aus der Nutzung der Kernenergie und insbesondere der hochgefährlichen Plutoniumwirtschaft auszusteigen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerhart Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aufgeregtheiten müssen richtiggestellt werden. Aber ich will nicht beschwichtigen;ich will sagen, was ich weiß. Ich nehme an, daß der Sachverhalt wirklich wichtig ist.Es war der Bundesumweltminister, der mit Schreiben vom 18. Juni dieses Jahres die zuständige hessische Aufsichtsbehörde um Einstellung der betrieblichen Lagertätigkeiten gebeten hatte. Es war seine Initiative. Der Bundesumweltminister hat Untersuchungen des Ereignisses eingeleitet. Die Reaktorsicherheitskommission hat die Angelegenheit geprüft, ebenso der Sachverständige, der für Hessen zuständig ist. Das ist der TÜV Bayern, Herr Fischer. Die beiden haben das geprüft.
Mit Schreiben vom 30. Oktober 1991 hat der Bundesumweltminister die Ergebnisse der Untersuchungen der hessischen Aufsichtsbehörde mitgeteilt. Er hat eine Reihe von Forderungen aufgestellt, um Wiederholungen zu vermeiden. Er hat eben keine Weisung erteilt, Herr Kollege Reuter. Er hat seine Position mitgeteilt und hat um Erklärung bis zum 8. November gebeten. Das heißt also: Bund und Land treten jetzt, wenn das gewünscht wird, Herr Fischer, in einen Dialog ein, u. a. jetzt und hier; Sie werden ja hier reden. Erst dann stellt sich die Frage, ob eine Weisung erteilt wird oder nicht. Wir sind also mitten in einem Verfahren, das noch gar nicht abgeschlossen ist. Ich habe überhaupt keinen Anlaß, den Bundesumweltminister zu tadeln. Hier wird vom Bund auch nicht nach Belieben verfahren, sondern der Bund ist genauso wie das Land an Recht und Gesetz gebunden. Betreiber haben auch rechtliche Ansprüche darauf, daß das Gesetz angewandt wird.Ich meine also, das Verfahren ist in Ordnung. Wie es letztlich ausgeht, was daraus wird, ist eine Sache, die ich jetzt nicht beurteilen kann. Ich habe keine Ahnung, was die Schwachstellenanalyse bringt, Herr Fischer. Mir wurde nur gesagt, daß es sich ausschließlich um ein betriebsinternes Verfahren zur Gewährleistung der Arbeitssicherheit handelt. So sei wohl der Auftrag. Wenn die Reaktorsicherheitskommission und der TÜV Bayern hier tätig werden, halte ich das für einen sachverständigen Rat, der im Normalfall ausreicht.Vorkehrungen gegen Wiederholungen sind getroffen. Bei dem Sachstand, den ich habe, besteht kein Anlaß, daran zu zweifeln, daß die Position des Umweltministers des Bundes richtig ist.Dahinter steht natürlich etwas ganz anderes. Dahinter steht der mangelnde Konsens — das sage ich vor allen Dingen zur SPD hin — in Entsorgungs- und Energiefragen. Das ist eine schwierige Situation, Herr Schäfer.Wir haben damals in der sozialliberalen Koalition einen Entsorgungskonsens zwischen Bund und allen Ländern herbeigeführt. Der ist leider zerbrochen. Jetzt kommen wir immer wieder in solche Situationen, in denen nicht nur solche Vorkommnisse zur Debatte stehen, sondern hinter denen ein Angriff auf die Wiederaufarbeitung steht. Das ist doch ganz klar. Aber die Wiederaufarbeitung, Herr Schäfer, ist integraler Bestandteil unseres Entsorgungskonzepts. Die Belast-
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Gerhart Rudolf Baumbarkeit des Konzepts ist nur gegeben, wenn man die Wiederaufarbeitung akzeptiert.Meine Partei hat immer auch die direkte Endlagerung als Weg vorgesehen.
— Seit vielen Jahren.
— Doch, ich kann Ihnen meine Reden zeigen. Ich habe das hier auch immer wieder gesagt. Und wir sind auf dem Wege — wir haben eine Koalitionsvereinbarungen getroffen — , das Atomgesetz in diesem Sinne zu ändern. Jetzt stelle ich fest, daß auch die Konsequenzen von Ihnen nicht mitgetragen werden.Die Konsequenz ist eine Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben. Das tragen Sie nicht mit. Das ist aber die Konsequenz, wenn man auf den Weg zur direkten Endlagerung gehen will. Überhaupt haben Sie sich bei dem Endlager Gorleben aus dem Konsens verabschiedet.
Was wollen Sie denn ohne Endlager? Es wird doch nur erkundet. Wir haben noch nicht einmal eine endgültige Entscheidung getroffen.Eines, Herr Schäfer, finde ich, ist nicht in Ordnung: Wir sind alle der Meinung, auch Sie, daß Kernenergie hier noch — Sie sagen: „noch', wir sagen: „für eine Übergangszeit" — unverzichtbar ist.
Sie haben letztens in einer Presseerklärung — das habe ich mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen — sogar die Zeit relativiert. Sie haben gesagt: Über den Zeitpunkt des Ausstiegs lassen wir mit uns reden. — Selbst wenn Sie sofort abschalten, müssen Sie sich um Entsorgung kümmern.Ich kann nur fragen: Wo kommen wir hin, wenn wir nicht gemeinsam die Konsequenz aus der von uns gemeinsam in die Wege geleiteten Kernenergiepolitik ziehen, d. h. nicht zu einem vernünftigen Entsorgungskonsens kommen?
Man kann es nicht durch die Hintertür machen, indem man sagt: Wir greifen mal bei der MOX-Verarbeitung an, um die Wiederaufarbeitung zu treffen; wir greifen mal an, wenn ein Zwischenlager eingerichtet wird.Übrigens, Anerkennung für Nordrhein-Westfalen: Nordrhein-Westfalen zieht hier ordentlich mit.Ich plädiere dafür, die Diskussion wirklich ehrlich zu führen und nicht an jeder Stelle zu versuchen, die Grundentscheidungen erneut aufzuwerfen.Ich habe die Gelegenheit, noch einmal zu reden. Ich werde das dann fortsetzen.
— Ja.
Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Töpfer, ich kann Ihnen leider nicht ersparen, mit der üblichen Forderung nach dem sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie zu beginnen. Die Richtigkeit dieser Forderung beweist sich in jeder Atomdebatte, die wir hier im Bundestag führen, egal ob wir über Stade, Tschernobyl, Greifswald, Kozloduj oder eben über Hanau sprechen.Was Niedersachen recht ist, sollte Hessen billig sein, scheint das Motto von Herrn Töpfer zu sein. Böse Zungen nennen den Umweltminister gern „Ankündigungsminister".
Vielleicht wird es aber doch als Anweisungsminister in die Geschichte dieses Hauses eingehen. Anweisungen scheinen jetzt die Regel zu sein, um sich über berechtigte Bedenken von Länderbehörden und der betroffenen Bevölkerung hinwegzusetzen — so nun auch in Hanau.Die Problematik der Doppelrolle des BMU, gleichzeitig Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde zu sein, wurde von Juristen schon wiederholt dargestellt. Die Geschichte der Hanauer Nuklearbetriebe ist und bleibt die Geschichte von Skandalen, von Lügen und Verdrehungen über die angebliche Sicherheit von Atomanlagen. Mein Kollege Reuter hat bereits darauf hingewiesen.An den größten Skandal sei hier noch einmal erinnert, die Verschiebung von Atommüll in das belgische Mol im Jahre 1987, bei der mit Bestechung und Falschdeklaration gearbeitet wurde.
Schon dieser Skandal hätte reichen müssen, die Hanauer Betriebe stillzulegen und gänzlich aus der Plutoniumswirtschaft auszusteigen. An und für sich wäre dieser Ausstieg ebenso logisch wie der Ausstieg aus der Brütertechnologie oder aus der Wiederaufbereitung,
wären da nicht die Exportinteressen der Atomwirtschaft generell und der Firma Siemens im speziellen.So war der „Frankfurter Rundschau" vom 22. Oktober zu entnehmen, daß ein — ich zitiere — fetter Auftrag für plutoniumhaltige MOX-Brennelemente aus der Schweiz wegen des Auftragsstaus inzwischen an belgische Firmen weitergereicht worden ist und so der ALKEM entgangen ist. Hier soll also weiterhin das Geschäft mit dem Tod gemacht werden können. Es ist bekannt, daß plutoniumhaltige MOX-Brennelemente sehr viel gefährlicher sind als solche mit Natururan oder auch angereichertem Uran. Herr Töpfer muß sich fragen lassen, wessen Interesse er wohl hier vertritt.
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4426 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Dr. Dagmar EnkelmannEin weiteres Problem sei hier noch erwähnt, die Proliferation, d. h. der Griff nach der Atombombe oder, um es vornehmer auszudrücken, die militärische Option.
In dem oben erwähnten Skandal von 1987 konnte lediglich nicht bewiesen werden, daß waffenfähiges, spaltbares Material etwa nach Libyen oder Pakistan verschoben wurde.
Nein, meine Damen und Herren, die gesamte Plutoniumwirtschaft arbeitet seit Jahren am Rande der Legalität. Kollege Schäfer hat in seiner Presseerklärung vom 31. Oktober darauf hingewiesen. Doch was treibt Herrn Töpfer außer der Tatsache, daß die Hanauer Betriebe für die Ver- und Entsorgung bundesdeutscher Atomkraftwerke eine Schlüsselstellung einnehmen?Will er Boden gegenüber seinem Kabinettskollegen Möllemann gutmachen, dessen Amoklauf in der Kohlepolitik u. a. der leicht zu durchschauende Versuch ist, der Atomkraftenergieversorgung die Pfründe zu sichern? Es mutet doch merkwürdig an, wenn Herr Töpfer kurz vor dem 8. November, an dem das Ergebnis der Schwachstellenanalyse über die Hanauer Atomfabrik vorgestellt werden sollte, mit Weisung droht. Sind die Gründe, warum der Umweltminister so nervös ist, dieselben, aus denen Siemens zunächst keine unabhängigen Gutachterinnen und Gutachter ins Werk lassen wollte? Weniger merkwürdig kommt uns der Beschluß der Reaktorsicherheitskommission vor, der Anlage einen Persilschein auszustellen, wenn wir wissen, daß z. B. Herr Professor Nickel und natürlich auch andere ihrer Mitglieder zu strammen Atomkraftbefürwortern zählen.Ich denke, alle hier Anwesenden würden gern wissen, wie es wirklich in Hanau aussieht.
Wir sollten daher, einschließlich Herrn Töpfer, erst einmal abwarten, was die Analyse, die bereits seit Montag in Wiesbaden vorliegt und heute geprüft wird, erbringt.Besonders gern würden die Mitglieder des Hauses etwas über die Zustände im Brennelementebunker wissen. Bekanntlich wird dieser vom Bund und Siemens gemeinsam betrieben. Stimmen die Meldungen, daß der gesamte Bunker plutoniumverseucht ist? Fragen über Fragen, auf die wir gern eine Antwort hätten, Herr Töpfer. Eines scheint aber schon jetzt sicher zu sein: Ein weiteres schmutziges Kapitel der so sauberen Atomenergie wird offengelegt werden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Sothmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister fürUmwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit erwartet vom Hessischen Umweltminister die Aufhebung der Stillegungsverfügung für die Plutoniumverarbeitung in Hanau, und zwar vor Fertigstellung der Schwachstellenanalyse, d. h. umgehend. Darüber haben wir schon einiges gehört. Überprüfungen durch Sachverständige haben eindeutig ergeben, daß die beiden Vorfälle, die im Juni und im Juli 1991 zur Stillegungsverfügung durch den Hessischen Umweltminister in Hanau geführt haben, restlos aufgeklärt worden sind.Herr Kollege Feige, die Verseuchung der Mitarbeiter in Hanau lag unter den zulässigen Grenzwerten.
Es ist hier also kein Schaden in dem Sinne entstanden. Es wurden Schutzmaßnahmen ergriffen, die eine Wiederholung derartiger Vorfälle nach menschlichem Ermessen ausschließen. Dies stellte auch die Reaktorsicherheitskommission fest.Dem Hessischen Umweltminister ist das alles bekannt. Er will jedoch die Schwachstellenanalyse des von ihm beauftragten Öko-Instituts abwarten. Die Sachverständigen dieses Instituts sollen übrigens Kernenergiegegner sein.
Solche Sachverständigen halte ich für befangen. Die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE hat diese Aktuelle Stunde beantragt, und das, Herr Präsident, meine Damen und Herren, ist bezeichnend, denn damit fungiert diese Gruppe als Sprachrohr des grünen Hessischen Umweltministers, Herrn Joschka Fischer, der mit der Stillegungsverfügung einen Schlag gegen das bundesdeutsche integrierte Entsorgungskonzept führen will.Wir wissen, daß die Wiederverwertung abgebrannter Brennelemente in sogenannten Mischoxidbrennelementen, wie sie in Hanau hergestellt werden, unvereinbar mit der von SPD und GRÜNEN angestrebten direkten Endlagerung ist.
Die rot-grüne Landesregierung windet sich in der Frage einer vernünftigen, verantwortungsvollen Energiepolitik. Es steht außer Frage, daß die Sicherheitsaspekte bei der Nutzung der Kernenergie an erster Stelle stehen. Die Hinhaltetaktik, die Herr Minister Fischer verfolgt, können wir jedoch so nicht hinnehmen.Ich wiederhole noch einmal: Es sprechen nach heutigem Wissen keine sicherheitstechnischen Bedenken gegen die Wiederinbetriebnahme des MOX-Betriebsteils in Hanau. Die Schwachstellenanalyse steht in keinem Zusammenhang mit der Wiederaufnahme der MOX-Produktion. Im Gegenteil, durch die weitere Blockade können Sicherheitsprobleme entstehen, wenn auch in anderen Bereichen, z. B. bei der Lagerung des Plutoniums, das wegen der Stillegung nicht weiterverarbeitet werden kann.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4427
Bärbel SothmannVon zusätzlichen Kosten und der Gefährdung von Arbeitsplätzen will ich in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Sie können und dürfen kein Kriterium für den Sicherheitsstandard von kerntechnischen Anlagen sein. Dennoch sollten Geld und Arbeitsplätze nicht unnötig verschwendet und gefährdet werden.Herr Präsident, meine Damen und Herren, dies aber tut Minister Fischer. Die CDU/CSU-Arbeitsgruppe Umwelt ist zu der Auffassung gelangt, daß das BMU zu Recht die Aufhebung der Stillegungsverfügung anmahnt. Sollte jedoch Herr Minister Fischer andere gute Gründe vorbringen können, die eine weitere Stillegung rechtfertigen, wären wir sicherlich die letzten, die dies nicht akzeptierten; denn die Sicherheit kerntechnischer Anlagen geht in jedem Fall vor; das ist ganz klar.Die Tatsache, daß diese Aktuelle Stunde überhaupt einberufen wurde, obwohl es sich bei der Aufforderung des BMU um ein ganz normales Handeln in einem ganz normalen Verwaltungsverfahren handelt, spricht jedoch dagegen, daß gute Sachgründe für die Aufrechterhaltung der Stillegungsverfügung vorliegen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, bei der Sicherheit von kerntechnischen Anlagen ist nicht Stimmungsmache gefragt, sondern nüchterne Sachpolitik, die der Aufklärung und nicht der Durchsetzung parteipolitischer Interessen dient. Das Verhalten von Minister Fischer dient nach heutigem Wissen jedoch nicht der Abwendung unmittelbarer Gefahr, sondern eindeutig dem Ziel seiner Partei, den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie voranzutreiben, und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem wir uns das mangels Alternativen nicht leisten können.
Das Wort hat der Abgeordnete Kübler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich, Frau Sothmann, nur eines sagen: Das Öko-Institut in Darmstadt arbeitet sicherlich unabhängig — das will ich ausdrücklich sagen — und ist kein verlängerter Arm der SPD oder einer anderen Partei. Wir leben in unserer auf geklärten Demokratie ja wohl auch von unterschiedlichen Auffassungen. Ich weise also diesen Vorwurf zurück; das geht nicht persönlich an Sie.Herr Baum, wir alle sind daran interessiert, daß Sie diese von Ihnen gestellte Dialogfrage konkretisieren. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wäre dies eine neue Wendung. Wenn der Bundesumweltminister jetzt den Dialog eröffnet, dann wird wohl kaum jemand etwas dagegen haben. Nur muß man sich darüber klar sein, daß in diesen Dialog dann auch die Schwachstellenanalyse gehört.Herr Minister Töpfer, Sie sprechen ja nach mir. Ich hätte auf die Dialogfrage gern eine konkrete Antwort. Ich sage sehr deutlich: Ein Dialog wäre nur ein Etikettenschwindel — erlauben Sie mir diesen Begriff —, wenn die Schwachstellenanalyse in diesen Dialog nicht mit einbezogen würde.Es ist interessant, daß ein Gericht dem Öko-Institut den Zugang zu Siemens in Hanau verschafft hat. Man kann doch wohl annehmen, daß das Gericht diesen Untersuchungen eine Relevanz beimißt. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß dies für das weitere Verfahren nicht unerheblich sein kann.Lassen Sie mich noch zwei weitere Punkte ansprechen. Es ist schon richtig, wenn hier gesagt wurde, daß in der Kernenergiepolitik ein föderatives Verhalten an den Tag gelegt werden sollte. Bei allen Befugnissen, die der Bundesumweltminister hat und über die wir hier nicht diskutieren müssen, sollte ein föderatives Verhalten möglich sein. Ich gehe auch davon aus, daß bei diesem möglichen ersten Konflikt zwischen der Bundesregierung und der hessischen Landesregierung dieses föderative Element möglichst lange durchgehalten werden sollte.Ich komme deshalb noch einmal auf den Dialog zurück. Jemand sprach vorhin die Äußerungen von Herrn Schäfer an.
Wenn wir wirklich von Anfang an ernsthaft von beiden Seiten über eine Konsensussituation nachdenken wollen, dann passen solche Akte nicht in eine derartige Landschaft.
— Wir werden ja sehen.Herr Baum, Sie bringen mich Gott sei Dank noch auf ein Argument, das Sie gebracht haben. Ich habe vorhin nicht verstanden, inwiefern Sie die Entsorgungsproblematik in diesen Zusammenhang mit MOX brachten.
Das ist aber nur ein ganz kleiner Aspekt. Es wird so argumentiert. Mir ist die Argumentation bekannt, daß dies dazu beitragen soll, die Menge an Plutonium etwas zu vermindern. Aber man kann mit MOX hier die Entsorgungsdiskussion hier wohl nicht aufziehen, indem man sagt — ich erkläre das bewußt auch für die Öffentlichkeit — , die, die gegen MOX sind, seien gegen Entsorgungslösungen. Vielleicht können Sie auf diesen Punkt noch einmal eingehen. Das war ja vorhin ein massiver Vorwurf insbesondere an die SPD.Ich muß in der Tat sagen, daß hier, Frau Sothmann, eine Hinhaltetaktik der hessischen Landesregierung, speziell des Umweltministers des Landes Hessen, überhaupt nicht vorliegt.
Es ist das Natürlichste der Welt — und man muß jetzt auch so objektiv sein, das zuzugeben — : Die hessische Landesregierung hat die Sicherheitspolitik an die erste Stelle geschrieben, nicht das Ob der Kernenergiepolitik, wissend, wie die Zuständigkeiten sind.
Das heißt, dies läuft alles primär unter dem Aspekt der Sicherheitspolitik. Da sollten wir eigentlich einer Meinung sein. In einer solchen Diskussion — vielleicht kommen wir auch einmal in einer Plenardiskussion zu
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4428 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Dr. Klaus Küblereiner Art Konsens — sollte es das mindeste sein, daß der Bundesumweltminister und vielleicht auch die FDP sagen, sie treten in einen echten Dialog ein. Dazu gehört, die Schwachstellenanalyse abzuwarten und darüber echt wissenschaftlich-rational zu diskutieren.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Töpfer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind hier zu einer Aktuellen Stunde über das Thema einer Weisung des Bundesministers für Umwelt an das Land Hessen gerufen.Ich stelle schlicht fest: Diese Aktuelle Stunde ist gegenstandslos; denn es gibt keine Weisung des Bundesumweltministers gegenüber dem Land Hessen. Es gibt sie nicht.
Ich halte das zunächst nur einmal klar fest, weil hier mit großen Worten eine Weisung kritisiert worden ist, die es gar nicht gibt.
Zum Sachverhalt ist zu sagen: Ich habe mit Schreiben vom 30. Oktober 1991 an den hessischen Umweltminister zu den Schlußfolgerungen aus den Vorkommnissen im Siemens-Brennelementewerk Hanau, Betriebsteil MOX-Verarbeitung, keinerlei Weisung nach Art. 85 des Grundgesetzes ausgesprochen, sondern einen geschäftsmäßigen Vorgang im Rahmen der Rechts- und Zweckmäßigkeitsaufsicht des Bundes vorgenommen. Wir haben nichts anderes getan, als unsere Meinung nach Abschluß der Überprüfung durch die Reaktor-Sicherheitskommission mitzuteilen.Da man meist vergleichsweise wenig liest, lese ich die entsprechende Passage aus meinem Schreiben gleich vor. — Einen Vorteil hat diese Aktuelle Stunde ja sogar gehabt. Ich weiß jetzt, daß beim Kollegen Fischer die Schwachstellenanalyse schon seit Anfang der Woche vorliegt; und Herr Feige sagt, am 8. November liegt sie vor. Das ist doch großartig. Da habe ich wenigstens einmal etwas gelernt. Bei alldem, was der Herr Kollege Feige sonst gesagt hat, sollte er sich wirklich einmal eine Minute Zeit nehmen und in sich gehen, um sich zu fragen, welche Ungeheuerlichkeiten er jemandem sagt, der Greifswald zugemacht hat. Herr Feige, wir haben Greifswald zugemacht.
Und wenn Sie sich darüber einmal Gedanken machen, dann gehen Sie bitte davon aus, daß ich imGegensatz zu vielen anderen erhobenen Hauptesnach Greifswald gehen und dort mit dem Betriebsrat des Kernkraftwerks genauso wie mit jedem anderen Bürger dieser Stadt reden kann.
Ich sage das nur, um das einmal klargestellt zu haben, damit Sie sich demnächst einmal überlegen, was Sie hier sagen, Herr Kollege Feige.Ich zitiere jetzt aus meinem Schreiben:Ich bitte, mir bis zum 8. November 1991 den Entwurf Ihres Bescheides für die Aufhebung ihrer Verfügung vom 18. 6. 1991 und für die Wiederzulassung des Produktionsbetriebs mit den oben genannten Maßgaben zur Zustimmung vorzulegen. Sollten Sie— Fischer —zur Wiederzulassung des Betriebs eine abweichende Auffassung vertreten, bitte ich, mir diese umgehend mitzuteilen und mir innerhalb der genannten Frist Ihre Gründe dafür im einzelnen schriftlich darzulegen.Das ist ein ganz geschäftsmäßiger Vorgang.Was ist gemacht worden? Die Reaktor-Sicherheitskommission legt uns einen abschließenden Bericht vor. Diesem schließen wir uns nach Prüfung an; wir teilen das dem Kollegen mit und sagen, nach dieser Meinung ist wieder zuzulassen. Bist du anderer Meinung, bitte schön, bis zum 8. November teilst du mir das mit. Wie eigentlich, frage ich, sollen wir denn anders vorgehen?Dies ist der Hintergrund dieser Aktuellen Stunde.
Ich wäre sehr dankbar gewesen, wenn der Kollege Fischer, der ja ganz offenbar erhebliche Bedenken hat, nicht bis zum 8. November gewartet hätte. Das ist am Freitag. Wir haben heute Mittwoch und die Aktuelle Stunde. Es wäre der Reverenz gegenüber diesem Hohen Haus außerordentlich hilfreich gewesen, wenn ich die Antwort auf meine Frage vorher bekommen hätte.Wenn, Herr Kollege Reuter, das alles so auf der Hand liegt, was Sie sagen, wäre es doch ein Einfaches gewesen, mir das bis heute mitzuteilen. Dann hätten wir uns sicherlich viele wechselseitige Unterstellungen ersparen können.
Was spricht denn eigentlich dagegen, meine Damen und Herren? Das ist die Situation, und in dieser Situation habe ich doch an keiner Stelle irgendwo etwas unterbunden. Das Gegenteil ist der Fall.Ich lege natürlich schon Wert darauf festzuhalten, Herr Feige — und das werden wir Ihnen auch noch beibringen — , daß nicht ich — —
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4429
Bundesminister Dr. Klaus Töpfer— Ja, ja, lesen Sie das mal bitte durch, Herr Kollege Schäfer. Ich schicke Ihnen mal die Briefe,
die mich erreichen, mit den Drohungen, die mich betreffen, weil solche Leute sagen, wir seien Atomlobbyisten. Dies ist eine ganz andere Reaktion, und deswegen bin ich da schon einigermaßen empfindlich. Ich bitte wirklich, das einmal zur Kenntnis zu nehmen, daß auch andere Anspruch darauf haben, in dieser Form einigermaßen ernst genommen zu werden, meine Damen und Herren.
Wägen Sie Begriffe, die Sie nicht so verstehen, die aber andere — und dies ist eine öffentliche Darstellung — ganz anders werten, dann werden Sie sehen, daß ich darauf so reagieren mußte, wie ich das hier getan habe. Dies ist für meine Begriffe eine völlige Selbstverständlichkeit, auch der Achtung vor dem politischen Gegner.Ich habe Verständnis dafür, daß der Kollege Fischer anderer Meinung zur Kernenergie ist als ich, und ich habe Verständnis dafür, daß die SPD und daß die GRÜNEN anderer Meinung sind; aber ich habe auf der Grundlage eines Gesetzes zu handeln, das in diesem Hohen Hause mit Mehrheit verabschiedet worden ist. Ich würde mich strafbar machen, wenn ich dieses Gesetz nicht einhielte, meine Damen und Herren.
Wenn Sie der Meinung sind, das Gesetz sei nicht richtig, dann gibt es in unserer Demokratie einen Maren Weg — nämlich dadurch, daß Sie in diesem Hohen Hause Mehrheiten dafür haben —, das Gesetz zu ändern, statt durch einen ausstiegsorientierten Verwaltungsvollzug das zu erreichen zu versuchen; das ist das Vorgehen, meine Damen und Herren.
Deswegen ist jemand, der das Atomgesetz anwendet, nicht in irgendeinem Lobbyistentum, welcher Industrie auch immer, sondern er fühlt sich verpflichtet, einem in demokratischer Form zustande gekommenen Gesetz Rechnung zu tragen und es zu respektieren; das ist der Zusammenhang!
Ich habe mit Schreiben vom 18. Juni 1991 die zuständige hessische Aufsichtsbehörde um Einstellung der betrieblichen Lagertätigkeit gebeten. Daraufhin hat hier keiner eine Aktuelle Stunde beantragt, keiner, meine Damen und Herren; wir haben gebeten einzustellen.
Ich habe nichts zu beklagen; der Bitte ist der Herr Kollege nachgekommen.
Dann zu sagen, hier sei jemand, der irgendwelche Lobbytätigkeiten mache, das liegt, muß ich nun sagen, an der Spitze dessen, was man nun wirklich noch nachvollziehbar überdenken kann. Aber vielleicht wissen Sie das nicht. Dann erkundigen Sie sich, bevor Sie solche Behauptungen hier aufstellen. Deswegen werden wir das mit aller Klarheit und Deutlichkeit nachmachen. Ich werde mich von niemandem, Herr Kollege, in der Frage der Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen übertreffen lassen.
Das haben wir in der Vergangenheit so gehandhabt, und das werden wir in der Zukunft so machen. Aber ich werde auch nirgends zusehen, wie schlicht und einfach eine mit politischer Mehrheit nicht erarbeitete Rechtsgrundlage, die man will, praktisch durch den Verwaltungsvollzug ersetzt wird.
Dies sind die beiden Trennlinien, darauf muß man hinweisen.Deswegen warten wir voller Interesse auf die Stellungnahme am 8. November. Ich gehe davon aus, wir werden sie am 8. November bekommen. Dann werden wir uns mit ihr ohne irgendeine falsche Eile auseinandersetzen. Da werden wir, wenn wir Rückfragen haben, wie das üblich ist und wie uns das sogar das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat, das in einem bundesaufsichtlichen Gespräch mit dem Kollegen Fischer erörtern. Nach dem bundesaufsichtlichen Gespräch werden wir zu entscheiden haben, was die Sache erfordert, ob es dann zu einer Weisung kommen muß, was ich nicht möchte, oder ob wir uns über den Verfahrensgang, der notwendig ist, einigen können.Ich bin ganz sicher, wenn das alles stimmt, was hier gesagt worden ist, daß die Schwachstellenanalyse schon vorliegt oder zumindest bis zum 8. November hier ist, daß wir das Verfahren in Ruhe weiterführen. Ich konnte ja nach Aussage von Herrn Feige voller Unruhe die eine Woche nicht abwarten. Das hat natürlich überhaupt nichts damit zu tun; denn wir haben ja sogar Frist zur Stellungnahme bis zum 8. November, meine Damen und Herren. Wir werden dann also in Ruhe dieses Verfahren weiterführen. Da ich von der absoluten Überzeugung getragen werde, daß sich auch der Kollege Fischer in der Einhaltung von rechtlichen Grundlagen von niemandem übertreffen läßt, werden wir uns ganz sicher darüber einigen können, wie es auch mit dieser wichtigen Einrichtung der deutschen Ent- und Versorgung aussieht.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Nun erteile ich das Wort dem Minister für Umwelt, Energie und Bundesangelegenheiten des Landes Hessen, Joschka Fischer. Herr Minister, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie als ehemaliges Mitglied dieses Hauses die Regeln der Aktuellen Stunde beachten würden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich werde dies selbstverständlich tun, Herr Präsident.
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4430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Staatsminister Joseph Fischer
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man der Debatte hier zugehört hat, dann stellt man fest, daß hier, vor allen Dingen seitens der Koalition, offensichtlich doch sehr viel leeres Stroh gedroschen wird, jenseits der Realitäten, verehrte Frau Kollegin.
Als Hessin sollten Sie das eigentlich besser wissen.In Hanau handelt es sich um die einzige Plutoniumfabrik in Deutschland. Plutonium ist ein extrem gefährlicher Stoff.
— Der Umgang mit Plutonium war schon immer extrem gefährlich, verehrter Herr. Ich möchte Sie jetzt nicht weiter in die Tiefen der Erkenntnis führen, aber Plutonium ist in der Tat eines der gefährlichsten Metalle, mit denen Menschen umgehen. Es ist das zweitseltenste Metall, das in der Geologie vorkommt. Würde es in der Erdkruste in ganz anderen Größenordnungen vorkommen, dann hätten wir vermutlich Probleme gehabt, jemals die evolutionären Höhepunkte zu erreichen, deren herausragende Repräsentanten Sie in uns beiden sehen können.
Dann hätten wir nämlich Schwierigkeiten mit der Entwicklung organischen Lebens gehabt. So gefährlich ist Plutonium! Nicht umsonst, meine Damen und Herren, werden hier extreme Sicherheitserfordernisse aufgestellt.
Nur darum geht es. Es geht nicht um die Frage, welche Meinung wir in der Frage der Nutzung der Atomenergie haben: Wollen wir aussteigen, wollen wir drinbleiben, sehen wir die ganzen Dinge positiv oder negativ? Das ist eine politische Entscheidung.Die Rechtslage ist völlig klar: Der Bundestag hat die Entscheidungskompetenz.
Hier müssen andere Mehrheiten das Atomgesetz ändern — zu einem Atomausstiegsgesetz oder wie auch immer —,
wenn es nicht mehr vollzogen werden soll. Landesregierungen — das hat der Kollege Töpfer dankenswerterweise oder nicht dankenswerterweise mehrfach klargestellt bekommen — sind hier nachgeordnete Behörden des Bundes, mit eigenen Entscheidungsspielräumen, Entscheidungskompetenzen, sofern der Bund Entscheidungen nicht an sich zieht.Es geht in Hanau — deswegen können Sie sich die ganze Aufregung sparen — also allein darum, ob die Sicherheitserfordernisse vorhanden sind, die wir an den Umgang mit Plutonium stellen müssen — gezwungen durch das Atomgesetz —, und ob auf diesem Gebiet Recht und Gesetz durchgesetzt werden. Darüber müssen wir auch heute reden und streiten und nicht über die Frage des Atomausstiegs.Insofern stimme ich dem Kollegen Töpfer zu. Er hat mutig gehandelt, er hat nämlich angewiesen. Nach dem Störfall vom 17. Juni kam am 18. Juni ein Brief: Die Produktion in dem betroffenen Raum ist sofort stillzulegen. — Nun hätten Ihre Beamten Ihnen mitteilen können, daß im Betriebshandbuch steht, daß es dazu keiner Weisung des Bundesumweltministers bedarf, sondern daß dies selbstverständlich vom Betreiber sofort und unmittelbar zu veranlassen ist.
Das heißt: Ihrer Weisung — da sehen Sie unser bundesfreundliches Verhalten, Herr Kollege Töpfer — wurde bereits einen Tag, bevor sie ergangen ist, entsprochen.Wenn Sie den Kollegen Feige, gewissermaßen bei der politischen Motivationsforschung, hier in der Art und Weise anmachen, wie Sie es gerade getan haben, dann muß man sich natürlich schon die Frage stellen, was eine solche nachträgliche Weisung — eine Selbstverständlichkeit — soll. Aber bitte, ich habe mich darüber nicht beschwert. Es gab da ja ein hohes Maß an Konsens, meine Damen und Herren von der Union. Sie sollten die eigenen Protokolle einmal nachlesen. In dem Protokoll über die Sitzung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit dieses Hauses vom 19. Juni 1991 heißt es — ich zitiere Professor Dr. Töpfer — : Auf der Basis dieser Informationen habe er am 16. Juni 1991 morgens den verantwortlichen Minister des Landes Hessen, Herrn Fischer, angewiesen, den Spaltstoffbunker insgesamt zu schließen und nur noch die Dekontaminierungsarbeiten dort zuzulassen. Minister Fischer habe dies auch umgesetzt und gleichzeitig eine Ausweitung dieser Anweisung auf den gesamten Umgang mit diesen Stoffen vorgenommen. Die Firma Siemens — hört, hört — nehme derzeit eine Schwachstellenanalyse vor. Minister Fischer habe seine weitergehende Verfügung auf § 19 des Atomgesetzes gegründet. Er — Töpfer — habe keinen Anlaß, daran Kritik zu üben.
Es handele sich um eine richtige und sinnvolle Vorgehensweise, die das genau aufgegriffen habe, was er am Vortage durch schriftliche Mitteilung angewiesen habe. — Ende des Zitats.Also sparen Sie sich Ihre Beschimpfungen der hessischen Landesregierung und mir gegenüber. Bis zu diesem Punkt gibt es ein hohes Maß an Übereinstimmung.Die entscheidende Frage ist jetzt: Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Da, Kollege Töpfer, bin ich natürlich erstaunt, daß es sich hier nicht um eine Weisung handelt, sondern um einen geschäftsmäßigen Vorgang. Im Zusammenhang des Atomgesetzes können Sie es nennen, wie Sie wollen. Sie haben eine Fristsetzung und eine Erklärungsfrist. Sie haben eine Anforderung gemacht. Selbstverständlich — das ist Ihr gutes Recht. Nennen Sie es also, wie Sie wollen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4431
Staatsminister Joseph Fischer
Mich interessieren in diesem Zusammenhang vor allen Dingen die Konsequenzen, auf die Sie hinweisen, und die traumwandlerische Sicherheit, mit der Sie zu Behauptungen kommen, die ich Ihnen gleich noch zitieren werde. Mich interessiert, wie Sie von der rein sachlichen Bewertung der Ereignisse zu diesen Behauptungen kommen.Wir hatten am 17. Juni 1991 einen Störfall, bei dem bei einem Transport einer Plutoniumdose, in der das MOX-Pulver enthalten war, eine Plastikfolie gerissen ist. Dabei kam es zu einem Kontaminationsverdacht, zu einem Verdacht der Verseuchung von Mitarbeitern der Firma Siemens und einer internationalen Kontrollbehörde. Dieser Verdacht wurde in einem Fall bestätigt. Sie sagen: Dies war unterhalb des Grenzwertes, und deswegen sei nichts zu besorgen. Vor dieser Sorglosigkeit, die Sie hier der Öffentlichkeit gegenüber zeigen, kann ich nur warnen. Niemand kann hier die Verantwortung über die Konsequenzen, die Plutoniumpartikel auch unterhalb des Grenzwertes in der Lunge haben — ob sie tatsächlich Krebs auslösen, ob sie wirken oder nicht — übernehmen, und niemand von den Fachleuten wird diese Behauptung von Ihnen übernehmen.Worum es jetzt geht, ist, daß wir in dem Zusammenhang innerhalb von zwei Monaten, wenige Tage nach der Amtsübernahme, zweimal den identischen Vorgang hatten. Nach dem ersten Vorgang, Mitte April dieses Jahres, wurde der TÜV Bayern mit einer Analyse beauftragt. Er kam zu dem Ergebnis: Es ist nichts zu ändern. Kollege Baum, der TÜV Bayern ist im übrigen für Hessen nicht zuständig. Ich könnte auch, wenn es einen TÜV in Nowosibirsk gäbe und dieser die Fachbedingungen erfüllte, diesen genauso nehmen wie den TÜV Bayern.
Der TÜV Bayern ist ein Gutachter unter anderen. Im Verwaltungsrat des TÜV Bayern sitzt u. a. das für Hanau zuständige Vorstandsmitglied von Siemens, nämlich Herr Keller. Das sagt insofern alles über die Unabhängigkeit und über die Ausgewogenheit des TÜV Bayern.
— Frau Kollegin, trotzdem arbeiten wir weiterhin mit dem TÜV Bayern zusammen, weil wir von einem —
— Was ist denn? Ich bitte Sie, im Gegensatz zu Ihnen haben wir hier keine ideologischen Vorurteile gegen Gutachter, sondern wir haben ein Interesse an pluralistischen Positionen.
Die entscheidende Frage, vor der wir jetzt stehen, ist: Welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Da muß ich Ihnen sagen: Wenn Sie hier seitens der Union auf eine angebliche Befangenheit des Öko-Instituts zu sprechen kommen, so muß ich fragen, wieso Sie keinen Laut gegeben haben, als Siemens vor Gericht verloren hat. Die Schwachstellenanalyse wäre dann doch schon längst vorgelegt worden. Wir wären doch schonlängst mit der Abarbeitung beschäftigt und hätten Konsequenzen gezogen, wenn Siemens nicht versucht hätte, das Öko-Institut rechtlich herauszuhalten. Wo kommen wir denn hin, wenn die zuständige AtomAufsicht nachfragen muß: Welchen Gutachter dürfen wir denn nehmen? Welcher ist denn genehm? Welchen dürfen wir denn einstellen, meine Damen und Herren?
Herr Töpfer, Sie haben vorhin gefragt: Warum wurde die Stellungnahme nicht schneller herübergereicht? Dazu sage ich: Wir wollen hier sehr sorgfältig arbeiten,
damit wir nicht hinterher wieder den Vorwurf bekommen es werde geschludert.Nur möchte ich Sie in diesem Zusammenhang eines fragen: Warum können Sie die 14 Tage oder die eine Woche denn nicht warten? Warum müssen Sie denn jetzt zu Festlegungen kommen, die ich Ihnen, Herr Kollege Töpfer, einmal vorlesen möchte.
Das scheint mir der entscheidende Punkt zu sein, zu dem Sie hier geschwiegen haben. Zu der Festlegung heißt es in Ihrer Presseerklärung vom 30. Oktober 1991 — wörtliches Zitat — : „Die Sicherheitsfragen bei der MOX-Fertigung sind abschließend beantwortet. Einer Wiederzulassung der MOX-Verarbeitung steht daher nichts entgegen. " Dieser Satz wird Ihnen, verehrter Herr Kollege, vermutlich noch leid tun.Was, bitte schön, ist in einer Anlage unter Sicherheitsgesichtspunkten, von der Sie und Ihre Beamten so gut wissen wie ich, daß diese Anlage nicht dem Stand der Technik entspricht, abschließend beantwortet? Woher wissen Sie, daß diese Fragen abschließend geklärt sind? Was veranlaßt Sie zu einer solch frühzeitigen öffentlichen Festlegung, meine Damen und Herren? Diese Frage müssen Sie hier noch beantworten.Sie wissen so gut wie ich, daß die gegenwärtige Anlage in Hanau nach § 7 des Atomgesetzes nicht genehmigungsfähig ist. Sie wissen so gut wie ich, daß die gegenwärtige Anlage nicht dem Stand der Technik entspricht. Sie wissen so gut wie ich, daß wir hier erhebliche Sicherheitsdefizite haben.Trotzdem verkündet der zuständige Minister hier, die Sicherheitsfragen seien abschließend geregelt, und kann nicht einmal 14 Tage auf eine Schwachstellenanalyse bzw. deren Auswertung warten.
Meine Damen und Herren — ich komme sofort zum Schluß, Herr Präsident — , für uns stellt sich die entscheidende Frage: Was hat den BMU veranlaßt? Da können Sie es sich nicht so einfach machen und hierhin stellen und Herrn Feige beschimpfen, wenn er diese Frage nach der Druckempfindlichkeit des BMU stellt. Sie werden sich die Frage schon beantworten müssen: Gibt es einen Druck von Siemens? Bei der hessischen Landesregierung ist da einiges angekom-
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4432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Staatsminister Joseph Fischer
men. Sie werden auch die Frage beantworten müssen — selbstverständlich im politischen Raum — : Gibt es einen Druck unter dem Gesichtspunkt, daß die MOX-Brennelementeproduktion auf jeden Fall weitergehen muß, notfalls gegen Recht und Gesetz oder in freischöpfende Interpretation von Recht und Gesetz und Sicherheitsstandards? Kriegen Sie Probleme mit ihren Entsorgungsnachweisen? Fürchten Sie am Ende erfolgreiche Klagen, die AKW stillmachen, wenn die MOX-Brennelementeproduktion auch stilliegt.Die dritte Frage, Herr Kollege Töpfer: Was ist denn mit dem Bund? Wie sieht es aus mit der Entseuchung des Bundesbunkers? Was ist mit den dort lagernden Brennelementen? Was ist denn mit dem Brüterkern? Was ist denn mit dem MOX-Kern für Gundremmingen? Wie weit hat der Bund denn da seine Verantwortung wahrgenommen, in direkter Verantwortung? Dort hat das Land Hessen nicht einmal das Recht, irgend etwas zu unternehmen, sondern das liegt allein in Bundesverantwortung.Das sind alles Fragen, die Sie einmal beantworten sollten. Aber Sie erklären gleichzeitig, alles sei abschließend geregelt.Meine Damen und Herren, ich vermag hier unter dem Gesichtspunkt von Recht und Gesetz, ich vermag hier unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit nicht zu erkennen, warum der BMU jetzt zu dieser Eile drängt. Sehe ich die Interessen der Firma Siemens und sehe ich die Probleme, die es bei der Entsorgung geben könnte, vor Gericht, dann allerdings macht Ihr Verhalten einen Sinn, und damit macht auch Ihr Einknicken einen Sinn; denn anders kann ich diese Vorgehensweise nicht interpretieren. Zum Schluß lassen Sie mich noch eines sagen.
Herr Minister, Sie haben eine Zusage gemacht.
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Letzter Satz, Herr Präsident. Ich rede schnell, aber wenn ich den Satz noch sagen darf.
Ich
möchte Sie daran erinnern, ohne Art. 43 der Geschäftsordnung zu verletzten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Satz! — Selbstverständlich haben Sie nicht nur das Recht, sondern vermutlich auch die Pflicht, wenn Sie anderer Auffassung sind als die hessischen Fachbehörden, die Entscheidung an sich zu ziehen, zu entscheiden, anzuweisen. Damit übernehmen Sie aber auch die Verantwortung. Ich sage Ihnen, in Hanau übernehmen Sie die Verantwortung für einen Sicherheitsstandard, der nicht Stand der Technik ist, in den Ist-Anlagen. Sie übernehmen die Verantwortung für Genehmigungsverfahren, über die wir vermutlich in den kommenden Wochen und Monaten unter anderem auch hier diskutieren werden. Es sind recht merkwürdige Genehmigungsverfahren.
Ich kann Sie davor nur warnen. Nehmen Sie Ihren eigenen Standard ernst, den Sie hier gerade dekorativ verkündet haben, daß Sie auf Recht und Gesetz stehen! Dann werden wir keinen Dissens haben. Ich
glaube aber, wir werden gemeinsam einen großen Dissens mit der Firma Siemens bekommen.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
— Noch werden die Geschäfte, Herr Abgeordneter Schäfer, von hier oben geführt und nicht von da unten.
Das ist ja interessant, meine Damen und Herren, wir nehmen hier an einem eigentlich verwaltungsintern zu führenden Dialog zwischen zwei Exekutiven teil. Ich begrüße das. Aber ich habe mir eben gesagt: Herr Kollege Fischer: Ihre Meinung ist ja fertig. Sie wollen die Anlage nicht wieder in Betrieb gehen lassen.Sie haben mehrfach gesagt, das ist kein Stand der Technik und nicht genehmigungsfähig. Also ich habe daraus den Eindruck gewonnen, daß Ihr Urteil, obwohl Sie die Schwachstellenanalyse offenbar noch nicht ausgewertet haben, fertig ist und Sie nur darauf warten, daß Sie die Verantwortung auf den Bund abladen können. Es mag anders sein, aber dieser Eindruck ist da. Sie haben vorhin sehr nüchtern gesagt: Ich halte mich bei der Kernenergie an Recht und Gesetz, solange wir nicht die Mehrheit im Bund haben. Das macht zunächst einen für mich zufriedenstellenden Eindruck. Aber dann kamen doch Töne durch, wo ich dachte: mein Gott, der hat sein Urteil schon fertig, und er wird jetzt mit dem Bund in einen Konflikt treten.
— Ja, wir werden es sehen, Herr Kollege Reuter.Das erinnert mich, verdammt nochmal, an das Verhalten von Schleswig-Holstein. Da ging es auch nicht um die Erfüllung von Recht und Gesetz. Mit Verlaub gesagt: Die Firma Siemens hat einen Rechtsanspruch, wenn die Sache in Ordnung ist. Da darf man auch nicht zögern, diesen zu erfüllen. In Schleswig-Holstein ging es vielmehr um die Erfüllung eines Wahlprogramms. Dann hat man sich vom Bund zwingen lassen, und der Bund ist dann auch noch gerichtlich bestätigt worden. So können wir in einem föderativen Staat nicht miteinander umgehen. Es ist sicherlich kein Idealzustand, mit Anweisungen zu arbeiten. Ich kann mir vorstellen, daß das auch Ihnen nicht angenehm ist.
Im Grunde, Herr Dr. Kübler, ist das eine Folge davon, daß wir den Konsens verloren haben. In einem Europa, das zusammenwächst, macht mir so etwas Sorge. Wir erwarten jetzt in Europa eine Energiecharta. Mit der Einheit Deutschlands hat sich einiges geändert. Auch durch die Entwicklungen in Osteuropa hat sich einiges geändert. Wir leben nicht auf einer energie- und entsorgungspolitischen Insel. Deshalb freue ich mich, daß es in Bund und Ländern
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991 4433
Gerhart Rudolf BaumStaatssekretäre gibt — Ihrer ist ja wahrscheinlich auch beteiligt —, die überlegen, wie man wieder zueinanderkommt und in der Bundesrepublik Deutschland Dinge gemeinsam machen kann. Ich bin eigentlich auch sehr froh darüber, daß unser früherer Kollege Überhorst jetzt im Auftrag des Bundeswirtschafts- und Bundesumweltministers eine Kommission leitet, die die Perspektiven der Energiepolitik und der Entsorgungspolitik untersucht. Ich weiß, wie schwierig es ist, sich auf Veränderungen einzustellen, aber ich meine, daß dies hier geschehen sollte.Wenn Sie sich, Herr Fischer, ganz nüchtern an die Tatsache halten und nicht, wie ich jetzt den Eindruck habe, auf diese Weise Ihre Ablehnung der Kernenergie durchsetzen wollen, dann müssen Sie notfalls auch akzeptieren, daß die Sache weitergeht. Sie haben gesagt, Sie wüßten ganz genau, daß dies nach §'7 a nicht genehmigungsfähig sei und nicht dem Stand der Technik entspreche. Was wollen Sie damit sagen? Ist das die Absage?
— Ja, gut. Aber was wollen Sie damit sagen? Ist das Ihr vorgefaßtes Urteil — Schwachstellenanalyse hin, Schwachstellenanalyse her? In einer so schwierigen Angelegenheit — Herr Kollege Kübler, Sie haben das meines Erachtens zutreffend gesagt — wie der Reaktorsicherheit darf nicht der Eindruck entstehen, daß man über irgendwelche Sicherheitsbedenken hinweggeht. Deshalb sind beide Seiten gut beraten, diesen Dialog fortzuführen. Der Bund ist gut beraten, sich anzuhören, was das Land zu sagen hat, und das Land ist gut beraten, sich vor Augen zu führen, daß es hier eine Rechtslage gibt, die nicht durch ein einziges Land, durch eine einzige Partei geändert werden kann, sondern allenfalls durch andere Mehrheiten. Bisher bestehen diese nicht.Die Wiederaufarbeitung ist der gesetzliche Weg, den wir hier mit Mehrheit für die Entsorgung festgelegt haben. Die direkte Endlagerung sollte nach Ansicht meiner Partei dazukommen. Dazu gehört dann aber auch, Herr Kollege Reuter, daß man Zwischenlager, Konditionierungsanlagen und ein Endlager akzeptiert.
Warum können wir diese einfachen Schlußfolgerungen nicht gemeinsam wieder festlegen? Als wir den Konsens zwischen dem Bund und allen Ländern trafen, war ich Bundesinnenminister. Ich halte es für dringend geboten, daß die Deutschen in diesem zusammenwachsenden West- und Osteuropa versuchen, zwischen den Parteien, die in Bund und Ländern Verantwortung tragen, wieder einige gemeinsame Positionen zu finden.
Der Hessische Minister für Umwelt, Energie und Bundesangelegenheiten hat um das Wort gebeten. Ich werde es ihm erteilen, weil ich nach Artikel 43 Abs. 2 GG dazu verpflichtet bin. Ich mache das Haus darauf aufmerksam, daß die Debatte damit im Grunde genommen eröffnet ist und Herr Bundesminister Töpfer selbstverständlich die Möglichkeit hat, auf die Ausführungen noch einmal zu antworten, wenn er will. Andernfalls würde ich sehr gerne die Zustimmung des Hauses einholen, nach den Regeln der Aktuellen Stunde weiter fortfahren zu können. — Sie stimmen zu. Dafür bedanke ich mich.
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wirklich nur ein Satz. Herr Kollege Baum, Sie können unsere Situation nicht mit Schleswig-Holstein vergleichen. Wir haben es in Hanau mit einer völlig atypischen Situation zu tun, wie sie bei keiner anderen Atomanlage vorliegt. Die entscheidende Frage, der Sie sich stellen müssen, ist: Können Sie die Hanauer Atombetriebe, wie sie heute dort stehen, im Rahmen des laufenden Betriebs nach Recht und Gesetz tatsächlich genehmigungsfähig machen? Das ist die entscheidende Sicherheits- und Rechtsfrage. Ich habe hier keine Vorfestlegung getroffen. Sie müßten nur einmal in die Genehmigungen hineinschauen. Es gibt zwischen den heutigen Anlagen und den genehmigten Anlagen — es gibt in Hanau ja vorgegriffene Genehmigungen — gravierende Sicherheitsunterschiede und gravierende technische Unterschiede. Das ist keine Vorfestlegung, sondern der Kenntnisstand, wie er aus den Genehmigungsunterlagen hervorgeht.
Ich behaupte: Recht und Gesetz in Hanau durchzusetzen wird nicht unbedingt zu einem Konflikt mit dem Bund führen, wenn er tatsächlich gesetzestreu ist, sondern zu einem schweren Konflikt mit den Anlagenbetreibern.
Herr Minister, wenn Sie hinterher das Protokoll korrigieren, würde ich Ihnen empfehlen, entweder die Bemerkung mit dem einen Satz oder ein paar Punkte herauszustreichen; sonst kommen Sie in Teufels Küche.
— Ich will mit Ihnen jetzt keinen Dialog darüber eröffnen; aber das stimmte grammatikalisch.
Herr Dr. Friedrich hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin heute wirklich beeindruckt von diesen Bekenntnissen des hessischen Umweltministers Fischer zum Rechtsstaat. Das erschüttert mich wirklich. Sie haben gesagt — und das ist richtig — : Der Ausstieg muß über einen Gesetzgebungsbeschluß erfolgen. Momentan machen Sie Sicherheitsprüfung und Gesetzesvollzug.Ich gehe natürlich immer davon aus, Herr Minister Fischer, daß Sie möglicherweise Ihre wahren Motive hier nicht so offenlegen und daß auch bei einem Grünen Minister der Mut zur Offenheit und zur Wahrheit irgendwo begrenzt ist. So offen rechtswidrig aufzutre-
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Dr. Gerhard Friedrichten, das ist wohl auch für Sie schwierig. Wir werden das also weiter intensiv beobachten.
Ich habe nur einige Erkenntnisse. Ich bin ein bißchen der Frage nachgegangen, Herr Minister,
was Sie denn so in Sachen Sicherheit machen. Da habe ich festgestellt, daß Sie in Ihrem Ministerium einen Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit eingesetzt haben, der schon im Postwesen und im Haushaltswesen, aber noch nie in Sachen Kernenergie tätig war. Da frage ich mich, Herr Minister Fischer, warum Sie einen Minister einsetzen, der so wenig über Strahlenschutz weiß, obwohl Ihnen die Sicherheit so wichtig ist. Mit kommt natürlich schon der Verdacht, daß Sie einen politischen Berater für politisches Taktieren brauchen
und keinen Fachmann in Sachen Sicherheit der Kernenergie. Wir werden das also noch weiter beobachten. Ich habe auch hier noch keine abschließende Meinung.Es ist nicht richtig, was hier gesagt wurde: daß sich dieses Gutachten so lange verzögert hat, weil die Gutachter nicht in die Anlage hinein durften. Das stimmt zum Teil. Nach meinen Informationen geht es um drei Wochen. Der Auftrag dürfte ungefähr Anfang oder Mitte Juli erteilt worden sein. Jetzt sind Monate vergangen. Mit den drei Wochen können Sie nicht monatelanges Ausbleiben des Gutachtens rechtfertigen.
Herr Kollege Reuter, nachdem wir zusammen in einem Untersuchungsausschuß waren,
sollten Sie, zumal Sie aus der Gegend von Hanau kommen, mit Minister Fischer noch einmal die Genehmigungssituation in Hanau durchsprechen. Ich frage mich, weshalb ein hessischer Minister, der ja schon früher einmal in der hessischen Staasregierung Verantwortung getragen hat,
eine fehlende Genehmigung für eine Neuanlage, die jetzt übrigens da ist, beklagen kann, wenn er selber die Genehmigung früher nicht erteilt, sondern, im Gegenteil, verzögert hat.Es stimmt doch nicht, Herr Minister Fischer, daß hier die Firma Siemens hinauszögert, weil sie kein Interesse an einer neu genehmigten Anlage nach dem Stand der Technik hat.
Ich habe natürlich nicht viele Unterlagen dabei. Ich habe hier aber ein Zitat, wahrscheinlich aus einer Gerichtsentscheidung — es ist eine Seite 204; so dick sind meistens nur Urteile — , in dem die Firma Siemens zitiert wird. Danach hat sie am 21. Februar 1989 in irgendeinem Schreiben ausgeführt, daß sie ein unternehmerisches Interesse daran habe, baldmöglichst die neue Anlage auf neuer Rechtsgrundlage betreiben zu können. Nachdem Sie damals vorübergehend schon einmal in Hessen mitregiert haben und selber doch damals Verantwortung getragen haben, können Sie nicht beklagen, daß die neue Anlage so spät genehmigt wurde. Herr Minister Fischer, das geht nicht.Die Hanauer Geschichte ist gar nicht so interessant, wenn man sich damit genauer beschäftigt. Herr Kollege Reuter, wir haben uns im Untersuchungsausschuß mit den Hanauer Anlagen beschäftigt. Wenn an der Brennelementefertigung der damaligen AlkemAnlage irgend etwas Fürchterliches gewesen wäre, dann hätten Sie, Herr Reuter, doch darauf bestanden, daß die Dinge untersucht werden. Das haben Sie nicht!
— Sie wissen genau, daß wir die Hanauer Anlagen im Untersuchungsausschuß nicht genau untersucht haben, weil wir das für relativ uninteressant gehalten haben.
Sie haben in diesem Ausschuß — ich sage das, weil Sie jetzt so tun, als wäre da Fürchterliches passiert —, Herr Kollege Reuter, ab und zu vergeblich gegen Ihren Schlaf gekämpft. So aufregend kann das also nicht gewesen sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Kubatschka.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Position der SPD ist klar. Seit 1984 fordert meine Partei, die Technologie der Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente nicht weiter zu verfolgen. Statt Wiederaufbereitung wollen wir die direkte Endlagerung. Anscheinend will sie manchmal auch die FDP.Weltweit ist das Problem der Endlagerung überhaupt nicht gelöst. Ein enormer Forschungsbedarf besteht. Bisher hilft man sich weltweit nur mit Flickwerk weiter. Im Grunde genommen ist das eine unverantwortliche Politik gegenüber den nachfolgenden Generationen. Wir bürden ihnen die Verantwortung auf.Um die Verantwortung der kommenden Generationen zu verringern, haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Jänner 1987 ein Kernenergieabwicklungsgesetz vorgelegt. Darin sagen wir zum Problem Plutonium:Die Wiederaufbereitung sowie die Nutzung vonPlutonium und anderen waffentechnisch verwen-
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Horst Kubatschkadungsfähigen Kernbrennstoffen werden untersagt.Aber in unseren Atomkraftwerken wird immer mehr Plutonium erzeugt. Es steht den Betreibern bis zum Hals. Sie müssen von diesem gefährlichen Werk herunter. Es gibt bei uns bekanntlich das Zauberwort „Recycling". Dieses Wort meinen die Betreiber auch, wenn sie an MOX-Brennelemente denken.Mit Erstaunen, Herr Baum, habe ich gehört, daß Sie anscheinend auf denselben Zug springen wollen; denn Sie haben in Ihrem ersten Diskussionsbeitrag von Entsorgung und MOX gesprochen. Ich sehe da sehr wohl keinen Zusammenhang, weil es eine Scheinlösung ist.
Die Gefährlichkeit des Plutoniums ist unumstritten. Sie ist hoch. Sie ist sehr hoch. Wir sehen das auch daran, daß es nicht möglich ist, eine Dosisschwelle anzugeben, unterhalb deren eine Schädigung der Bevölkerung völlig ausgeschlossen werden kann.Dieses gefährliche Material wollen wir jetzt in den Kreislauf einführen, vor allem in Siedewasserreaktoren einsetzen. Die intensive Strahlung des Plutoniums belastet alte Siedewasserreaktoren weit stärker als herkömmliche Uranbrennstäbe. Herr Töpfer, wenn Sie so sehr auf Sicherheit setzen, dann wäre hier eine Möglichkeit einzugreifen. Der Stahl- und Betonmantel des Reaktors wird bedeutend schneller spröde. Auch das ist ein Sicherheitsproblem. Wegen der schlechteren Wärmeleitfähigkeit der MOX-Brennelemente sind lokale Überhitzungen möglich. Der Reaktor ist in kritischen Situationen kaum zu beherrschen. Das alles sind Sicherheitsprobleme, denen Sie unübertroffen nachgehen wollen. Trotzdem sind Sie bereit, das alles zu akzeptieren.In den Vereinigten Staaten hat man daraus Konsequenzen gezogen. Wir müßten eigentlich das gleiche tun.Der Einsatz von plutoniumhaltigen MischoxidBrennelementen in Kernkraftwerken ist unverantwortlich und steht außerdem im Widerspruch zum Atomgesetz, das ein Gefahrenminimierungsgebot verbindlich vorschreibt.
— Das Minimierungsgebot steht doch im Gesetz.In Hanau geschieht keine Minimierung. Da geschieht genau das Gegenteil: Das Gefahrenmoment wird maximiert. Das sind eigentlich Gründe genug, in Hanau die Herstellung von MOX-Brennelementen zu stoppen.Erlauben Sie mir einen kurzen Ausflug nach Bayern. Die Betreiber des Kernkraftwerkes Gundremmingen wollen MOX-Brennelemente einsetzen. Der Protest der Bevölkerung ist erheblich. Über 40 000 Einsprüche liegen vor. Der bayerische Umweltminister Gauweiler ist von diesem deutlichen Protest sicher überrascht worden. Er hat das Verfahren ausgesetzt, weil die Versorgung mit Brennelementen aus Hanau nicht gesichert ist. Er hätte eigentlich dieChance, dem MOX-Brennelemente-Einsatz eine Beerdigung zweiter Klasse zu bescheren.Herr Minister Töpfer, Sie stehen unter dem Druck der Betreiber, die unbedingt von ihrem hohen Plutoniumberg herunterkommen müssen. Aber auch die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung müssen berücksichtigt werden. Die MOX-Brennelemente sind kein Entsorgungspfad; denn sie führen uns in eine Sackgasse.Herr Minister Töpfer, Sie werden in der Presse als Ankündigungsminister bezeichnet. Das sind keine bösen Zungen; es sind inzwischen viele Zungen, die das sagen; man müßte ja bloß Zeitung lesen.
— Nein, nein, nicht viele böse Zungen. Der Herr Präsident müßte mir eine halbe Stunde zugestehen, um hier alle Ankündigungen von Herrn Töpfer aufzuführen.
Herr Abgeordneter, Sie können versichert sein, daß ich das nicht tue.
Dessen bin ich mir auch sicher. — Mit Ihren Ankündigungen erzeugen Sie eigentlich viel Wind. Jetzt laufen Sie in Gefahr, ein Weisungsminister zu werden. Sie werden Sturm dafür ernten.
Ich danke fürs Zuhören.
Nun spricht der Abgeordnete Lenzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte ist für jemanden, der das Vergnügen hat, diesem Hohen Hause schon einige Jahre anzugehören, nicht neu. Wir haben sie schon in allen Variationen geführt. Ich behaupte, es ist die alte, es ist dieselbe nukleare Kontroverse, mit der wir uns schon seit geraumer Zeit herumschlagen, und zwar genau seit dem Zeitpunkt— wie der Kollege Baum mit Recht formuliert hat —, als dieser Konsens, der innerhalb der demokratischen Fraktionen hier in diesem Hause bestand, zerbrach.
— Sie gehörten dem Hause damals noch nicht an; ich glaube, das haben Sie vergessen.
Wir haben heute wieder alle Beschimpfungen an die Bundesregierung gehört, von der militärischen Option — das Unsinnigste, was man sich vorstellen kann — bis hin zu „Knecht der Atomlobby". Da wundert es mich eigentlich nicht, daß jemand, der so apostrophiert wird, auch einmal gereizt reagiert und auf einen groben Klotz einen ebenso groben Keil setzt.
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Christian LenzerIch weiß nicht: Wo leben Sie eigentlich?
Es werden die „kritischen Wissenschaftler" bemüht, als ob es per definitionem unkritische Wissenschaftler gäbe. Wir wissen doch alle, daß auch die Wissenschaftler, und zwar von allen Seiten, ihre festgefügte Meinung haben. Wir wollen sie nur insofern gemeinsam in Verlegenheit bringen, als sie ihre Meinung begründen müssen und nicht einfach Ideologie an die Stelle von wissenschaftlich belastbaren Aussagen setzen können.Der Dissens in dieser Angelegenheit ist doch völlig normal. Aber ich bitte Sie wirklich inständig — ich sehe, daß der Kollege Schäfer, nachdem er einige Beschimpfungen losgeworden ist, das Lokal verlassen hat —
— er hat sich dabei hervorgetan — : Unterlassen Sie das persönliche Herabsetzen des politischen Gegners.Insofern stehe ich auch nicht an, dem hessischen Staatsminister Fischer durchaus zu attestieren, daß er das mit dem ihm eigenen Charme hier vorne vorgetragen hat. Aber, lieber Kollege Fischer, ich glaube — der Kollege Kubatschka hat es ja auf den Punkt gebracht — , hier geht es um mehr. Hier geht es doch nicht um diese Verwaltungsdiskussion quasi zwischen der Institution HMUEB und BMU, sondern es geht hier ganz einfach um die Ausstiegspläne der SPD. Es ist Ihr gutes Recht, der Auffassung zu sein: Ausstieg um jeden Preis. Da man die politische Mehrheit hier in diesem Hause nicht besitzt, versucht man das mit einer Politik der Nadelstiche im Verwaltungshandeln zu vollziehen. Man versucht, Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Es wird ein Gutachten nach dem anderen bestellt, nach dem Motto: Es werden so lange Gutachten bestellt, bis das richtige herauskommt. Da wundert es doch nicht, daß man in der Sache nicht weiterkommt.In der Sache wollen wir ja noch miteinander streiten. Sie setzen aber — das ist ganz deutlich — an strategisch wichtigen Punkten an, um die gesamte Kernenergie zu Fall zu bringen. Wenn Sie das so wollen, sagen Sie es offen; dann wollen wir uns in der angemessenen Weise darüber auseinandersetzen. Aber bitte verschweigen Sie doch nicht den wahren Sachverhalt, um den es geht!Diese Haltung hat sich in dem Verhalten etwa der nordrhein-westfälischen Landesregierung in Sachen Genehmigung des Schnellen Brüters SNR 300 dokumentiert. Der Kollege Seesing, der der zuständige Abgeordnete vor Ort ist, kann doch Romane darüber schreiben.Oder folgendes Beispiel: Ich habe mit Bedauern festgestellt: Der THTR 300, einmal unter SPD-Bundesministern auf den Weg gebracht, galt als freundlicher, sicherer Reaktor.
— inhärente Sicherheit; Sie liefern das Stichwort, Herr Kollege Reuter. Was ist passiert?
Der Prototyp THTR 300 mußte vom Netz genommen werden. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat mit allen ihr zu Gebote stehenden Möglichkeiten dafür gesorgt, daß er zu einer Milliardenruine wurde, nicht aus technischen Gründen, nicht aus Sicherheitsgründen, sondern weil er nicht in den ideologischen Kram der nordrhein-westfälischen Landesregierung hineingepaßt hat.Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, da die Energieversorgung, da die technologische Basis eines Landes für die internationale Wettbewerbsfähigkeit ganz besonders im Hinblick auf den herannahenden gemeinsamen europäischen Binnenmarkt und die ganze Energiesituation in der Welt wichtig ist, glaube ich, müssen wir alle Möglichkeiten nutzen — insofern unterstützen wir, die CDU/CSU-Fraktion, für die ich hier sprechen kann, die Haltung der Bundesregierung — , den Energiemix zu fördern, wobei wir, um das Risiko zu mindern, alle Primärenergieträger einsetzen wollen, nicht zuletzt aus Klimaschutzgründen und wobei wir uns auch zur friedlichen Nutzung der Kernenergie bekennen.Ich möchte zum Abschluß in aller Freundlichkeit und Höflichkeit, die mir in hohem Maße eigen sind, wie Sie wissen
— „für hessische Verhältnisse", sagten Sie; na ja, die Hessen sind weitaus besser als ihr Ruf — , sagen: Lassen Sie uns doch die Ideologie beiseite schieben. Über die Probleme der zukünftigen Energie- und Technologiepolitik kann man zwar in der milden Sonne der Toskana reflektieren; aber man kann sie so nicht lösen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Weis .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Ultimatum kann nie zum Bestandteil eines Konsenses werden. Zu einem Konsens gehört zunächst einmal eine dauernde Bereitschaft zum Gespräch. Ferner gehört dazu die Bereitschaft, die Einwände des anderen anzunehmen, und schließlich im Falle nicht überwindbarer Meinungsverschiedenheiten die Akzeptanz des Status quo, bis es möglicherweise im Verlauf weiterer Gespräche doch zu einer Einigung kommt. Das sind Bestandteile eine Konsensprinzips.Ich würde Ihnen, Herr Minister, gerne immer wieder die öffentlich verkündete Gesprächsbereitschaft gegenüber allen Seiten glauben, wenn Sie sich auch entsprechend verhielten. Statt dessen müssen wir feststellen, daß ihre Gesprächsbereitschaft lediglich
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Reinhard Weis
gegenüber der deutschen Atomindustrie sehr groß ist.
Wenn die ultimative Aufforderung an den hessischen Umweltminister, die Stillegungsverfügung für die Plutoniumverarbeitung im Hanauer Siemens-Werk aufzuheben, am gleichen Tag erfolgte, an dem hier in Bonn die Herbsttagung des Deutschen Atomforums zu Ende ging, können wir uns fragen, ob das Zufall war.Wenn Sie sich gegenüber dem Ausland, Herr Minister, immer wieder als harter Sicherheitswächter in Sachen Atomenergie darstellen — hier haben Sie unsere volle Unterstützung — , dann müssen Sie diese Maßstäbe aber auch im eigenen Land vertreten, selbst wenn das für manche unbequem werden könnte. Das dient Ihrer Glaubwürdigkeit.Die letzte faktische Weisungsandrohung ist nicht die erste. Ich befürchte, es wird auch nicht die letzte sein. Bei der Weisung zur Einlagerung in Gorleben haben Sie, Herr Minister, bereits über berechtigte Sicherheitsinteressen hinweg gehandelt. Im vorliegenden Fall tun Sie es wieder. Gehen die nächsten Weisungen an Ihre Parteifreunde in München, wenn Sie die Fortführung des Genehmigungsverfahrens für den Einsatz plutoniumhaltiger MOX-Brennelemente in Gundremmingen durchsetzen wollen, oder gehen sie ebenfalls an Ihre Parteifreunde in Magdeburg mit dem Ziel, entgegen der einstweiligen Anordnung des Bezirksgerichtes Magdeburg vom 25. Februar dieses Jahres zur Einstellung der Einlagerungen Morsleben doch zum Endlager zu machen?
Auch für das Endlager für radioaktive Abfälle in Morsleben liegt ja eine Studie der GRS vor, auf die Sie Ihre Forderung nach dem Weiterbetrieb stützen. Ich verweise auf Ihre Pressekonferenz am 8. März dieses Jahres. Dabei müßte Ihnen auch bekannt sein, daß gerade diese Studie mit den angelegten Sicherheitskriterien für ein Endlager unter Tage deutlich hinter die Kritierien zurückgewichen ist, die für die Bundesrepublik bisher Maßstab waren.
— Ich habe mich auf Ihre Pressekonferenz am 8. März bezogen.
— Ja, es ist zu. Aber es gibt die Aussage am 8. März auf der Basis der Studie der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, daß ein Weiterbetrieb des Endlagers Morsleben gerechtfertigt wäre.
— Das ist die Meinung gewesen, die er auf Grund dieser Studie vertreten hat.
— Der Weiterbetrieb von Morsleben ist ein Haushaltsposten. Die SPD-Fraktion hat einen haushaltswirksamen Antrag mit dem Ziel eingebracht, Forschungen zur Neuerschließung für Endlagerungen durchzuführen. Dieser Antrag ist mit den Stimmen Ihrer Fraktion abgelehnt worden.
Herr Minister Töpfer, stehen Sie, wenn nicht schon uns, der Opposition zuliebe, wenigstens um des Schutzes der Bevölkerung willen zu Ihren Sicherheitserklärungen, und ziehen Sie die richtigen Schlüsse daraus, auch wenn das für den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken bei uns keine rosigen Aussichten verheißt.
Zum Schluß dieser Aktuellen Stunde oder wieder Aktuellen Stunde hat der Abgeordnete Seesing das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede des Kollegen Weis hat nur bestätigt: Gründe für die Aktuelle Stunde am heutigen Tage hat es nicht gegeben.
Das Ganze ist ein weiteres Spiel in der Reihe der Inszenierungen, die wir seit Jahren in und um Hanau erleben. Nun bin ich sehr weit davon entfernt, alles das richtig zu nennen, was dort im Laufe der Jahre geschehen ist, im Gegenteil.
Die eigentlichen Probleme liegen aber nicht in den technischen Gegebenheiten, sie liegen doch — hier bin ich anderer Meinung als Herr Minister Fischer — in dem politischen Willen der einen oder anderen Gruppe dieses Hauses, jede nur denkbare Gelegenheit zu nutzen, um die Kernenergie in Deutschland zu treffen. Wenn die Sache nicht so ernst wäre, dann müßte man eigentlich über diese Bemühungen lachen, denn das schnelle Aus für die Kernenergie in Deutschland würde zu einem gewinnträchtigen Anstieg der Stromerzeugung aus Kernenergie in Frankreich führen. Ich gehe sogar davon aus, daß die nächsten Kraftwerke, die mit deutschem Kapital gebaut werden, Kernkraftwerke in Frankreich sein werden;
denn wir tun derzeit alles, um die Investitionsbereitschaft der deutschen Elektrizitätswirtschaft auf Null zu reduzieren. Das hat viele Gründe, die ich jetzt nicht alle nennen kann.Ein Grund ist der Irrglaube, mit Tausenden von Blockheizkraftwerken eine umweltfreundlichere und bürgernähere Energieversorgung aufbauen zu kön-
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4438 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1991
Heinrich Seesingnen. Die sogenannten Großen sollen dann für den Rest sorgen. So wird es aber nicht gehen. Es wird auf Dauer auch nicht gehen, die Kernenergie zu verteufeln, sie aber gleichzeitig zu nutzen.Im früheren Jahren ist in diesem Hause oft der Club of Rome zitiert worden, wenn er sich wieder einmal kritisch zur Lage der Erde und besonders kritisch zur Kernenergie geäußert hat. Jetzt wird er von der Seite des Bundestages, die ihn früher so gern als Zeugen benutzte, nicht mehr erwähnt, und Sie fragen vielleicht warum. Nun, in seinem Jahresbericht 1991 schreibt er — ich zitiere — :Heute jedoch räumen wir widerwillig ein, daß die Verbrennnung von Kohle und Öl auf Grund des dabei entstehenden Kohlendioxids für die Gesellschaft wahrscheinlich noch gefährlicher ist als die Atomkraft.
Der Club of Rome hofft — wie auch ich — , daß bis zum Jahre 2000 8 bis 10 % des Weltenergiebedarfs mit sogenannter sanfter Energie gedeckt werden können. Auf der Suche nach weiteren Alternativen kommt der Bericht dann zu der Erkenntnis, daß die Kernspaltung die einzige Möglichkeit ist, die Situation wenigstens teilweise zu entschärfen, denn andere Alternativen sieht er zur Zeit nicht. Er setzt jetzt auf Schnelle Brüter.Ich habe gelesen, daß in Hanau auch noch 130 Brennstäbe für den SNR 300 in Kalkar lagern. Dahätten wir den Schnellen Brüter gehabt, den der Club of Rome sich wünscht. Die Politik in Deutschland hat aber — wie bei anderen technischen Neuentwicklungen — das Aus des Schnellen Brüters beschlossen. Mehr als 7 Milliarden DM wurden in den Sand gesetzt, und jetzt scheint die Politik nicht in der Lage zu sein, der Stadt Kalkar die 15 oder 20 Millionen DM zu geben, um das Städtchen vor dem finanziellen Ruin zu retten. Das Verhalten der Politik gegenüber so von ihr betroffenen Menschen wäre sicherlich eher eine Aktuelle Stunde wert als die Frage nach Folienverletzungen und dem Bläheffekt an Spaltstoffgebinden in einem Spaltstofflager.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde und gleichzeitig auch am Schluß der Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 7. November 1991, 9 Uhr ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Rest des Tages.
Die Sitzung ist geschlossen.