Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Die Lage im Irak und die Situation der irakischen Flüchtlinge, insbesondere der Kurden
Dazu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie des Abgeordneten Konrad Weiß , ein Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste und zwei Entschließungsanträge der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Die Welt ist Zeuge unermeßlichen Leids im Irak. Während wir hier im Deutschen Bundestag über die Lage im Irak beraten, werden dort Menschen getötet, verfolgt und vertrieben. In den Bergen verhungern und erfrieren Menschen; Kinder sterben in den Armen ihrer Eltern.Diese Tragödie wühlt die Herzen in Deutschland und überall in der Welt auf. Das schreckliche Schicksal der kurdischen Bevölkerung des Iraks, aber nicht nur dieser irakischen Staatsangehörigen, sondern auch die Verfolgung der schiitischen Gruppen im Süden des Landes rufen unsere Empörung und unser Mitgefühl hervor. Diese Tragödie geht uns alle an. Kurden und andere Gruppen im Irak sind von Vernichtung und Untergang bedroht. Dazu darf die Staatengemeinschaft nicht schweigen.Saddam Hussein hat auf die Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte mit brutaler Gewalt reagiert. Hunderttausende kurdischer und schiitischer Männer, Frauen und Kinder wurden vertrieben und zur Flucht gezwungen. Saddam Hussein hat den Iran überfallen, er hat Kuwait besetzt und annektiert; er führte nicht nur Krieg gegen die Staatengemeinschaft, er führt auch Krieg gegen das eigene Volk.Was im Irak geschieht, ist nicht mehr eine innere Angelegenheit dieses Landes, es ist versuchter Völkermord. Die Aufgabe, vor die das unsägliche Flüchtlingselend die Völkergemeinschaft stellt, sprengt alle bisher gekannten Dimensionen. Das Gebot der Stunde ist, Hilfe zum Überleben zu geben. Es geht um die nackte Existenz von Hunderttausenden.Mehr als 600 000 Flüchtlinge aus dem Irak haben in der Türkei Zuflucht gesucht, mehr als 900 000 im Iran. Eine gleich große Zahl von Menschen ist noch auf der Flucht. Die beiden von den Flüchtlingsströmen hauptbetroffenen Nachbarländer Türkei und Iran haben Anspruch auf unsere volle Unterstützung bei der Hilfe für diese Menschen.Wir erwarten, daß diese Staaten die Aufnahme und Betreuung der Flüchtlinge erleichtern, nicht erschweren. Die iranische Regierung hat das zugesagt. Ich habe die türkische Regierung gebeten, den Flüchtlingen zu gestatten, klimatisch verträglichere Regionen in den Tälern aufzusuchen, und der Herstellung wetterfester Unterkünfte zuzustimmen. Ich habe diese dringliche Bitte der Bundesregierung gegenüber dem türkischen Außenminister noch einmal in einem Telefongespräch am 13. April wiederholt.Die türkische Regierung hat inzwischen eine solche Entscheidung getroffen. Das muß aber auch bedeuten, daß a 11 e Flüchtlinge aus den Bergen in die Täler herabkommen können, nicht nur bestimmte Gruppen.
Dies erleichtert auch die Betreuung und Versorgung durch die vor Ort tätigen Hilfsorganisationen. Am kommenden Freitag werde ich zu einem Arbeitsbesuch in die Türkei fliegen und mich vor Ort von der Zweckmäßigkeit und Effektivität unserer Hilfsmaßnahmen überzeugen.In wenigen Wochen konnte die Staatengemeinschaft 500 000 Soldaten mit Waffen und Gerät in die Golfregion transportieren. Jetzt muß die Staatengemeinschaft in der Lage sein, eine Luftbrücke der Menschlichkeit zu errichten, um wenigstens das
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1256 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Bundesminister Hans-Dietrich GenscherÜberleben der Flüchtlinge in den Grenzregionen der Türkei und des Iran zu sichern.
Die Bundesregierung hat sofort umfassende Hilfsmaßnahmen eingeleitet. Zunächst konzentrierte sich diese Hilfe auf die Türkei. Bisher erfolgten 22 Transall-Flüge der Bundeswehr mit insgesamt über 200 Tonnen an Hilfsgütern. Zusätzlich wurden in diesem Zeitraum von der Bundesregierung Großraumflugzeuge gechartert, die noch einmal fast 300 Tonnen Hilfsgüter transportiert haben. Es wurde außerdem durch Lufttransporte ein komplettes Feldlazarett für den Einsatz im türkischen Grenzgebiet in die Türkei gebracht. Drei medizinische Teams des Deutschen Roten Kreuzes, Helfer der Bergwacht und Personal für Trinkwasseraufbereitung befinden sich bereits im Grenzgebiet. Bis zum 18. April ist die Verstärkung dieses Personals beabsichtigt.Der Bundesminister der Verteidigung hat Soldaten, Transportraum sowie Ausrüstung und Verpflegung aus dem Bestand der Bundeswehr schnell und in großem Umfange zur Verfügung gestellt. Im südostanatolischen Batman wird ein Luftumschlagplatz eingerichtet. Dort sind am 14. April 1991 sechs schwere Transporthubschrauber zur Endverteilung der Hilfsgüter in der Flüchtlingsregion, vor allem den entlegenen Tälern und Bergen, eingetroffen. Sie haben am 15. April ihre Versorgungsflüge begonnen.Über 100 deutsche Soldaten organisieren die Umladung und Verteilung der Hilfsgüter. Insgesamt ist in der Türkei der Einsatz von 20 Hubschraubern bis zum 20. April beabsichtigt. Seit dem 15. April ist außerdem eine Luftbrücke nach Batman mit täglich zunächst zwei Transall-Flügen eingerichtet.Die Bundesregierung hat der iranischen Regierung zugesichert, im Iran einen Schwerpunkt deutscher Hilfe für die irakischen Flüchtlinge zu bilden. Die Hilfe für die Flüchtlinge im Iran soll entsprechend der Zahl der Flüchtlinge dort erweitert werden. Auch die Europäische Gemeinschaft wird auf unseren Antrag hin die Schwerpunkte ihrer Hilfe entsprechend ausrichten.Eine deutsche Expertendelegation ist auf Grund einer Vereinbarung, die ich am 14. April mit dem iranischen Außenminister getroffen habe, gestern in den Iran gereist, um sicherzustellen, daß die vorgesehene deutsche Hilfe den Flüchtlingen rasch und unmittelbar zugute kommt. Staatspräsident Rafsanjani hat dem Bundeskanzler zugesichert, daß er sich persönlich dafür einsetzen wird, daß diese Mission Erfolg hat. Auch in den Iran werde ich in Kürze reisen.Bisher gab es schon umfangreiche private Charterflüge. In der Woche vom 8. bis 13. April wurden insgesamt 135 Tonnen Hilfsgüter in den Iran gebracht. In dieser Woche werden weitere 90 Tonnen transportiert. Zusätzlich wird ein Großraumflugzeug 200 Tonnen in den Iran bringen.Das Deutsche Rote Kreuz hatte schon im Februar dieses Jahres, d. h. noch während der Golfkrise, begonnen, mit deutschen Mitteln im Iran an der Grenze zum Irak ein Lager für insgesamt 30 000 Flüchtlinge zu errichten. Zur Zeit befinden sich in diesem Lager 20 000 Flüchtlinge. Hier werden vor allem schiitische Flüchtlinge aufgenommen.Mit erheblichen deutschen Mitteln erstellt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz derzeit im Nordwestiran Unterkunftsmöglichkeiten für über 100 000 Personen.Wir unterstützen die Bemühungen des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen bei der weiteren Errichtung von Flüchtlingslagern.Wir erbitten und erwarten die Zustimmung der iranischen Regierung zur Einleitung folgender Maßnahmen: erstens kurzfristige Einrichtung einer Luftbrücke mit täglich drei Transall-Flügen von Deutschland in den Nordiran, zweitens Einsatz von 20 Hubschraubern, darunter zwölf Transporthubschraubern, zur Versorgung der Flüchtlinge, wie dies bereits in der Südosttürkei angelaufen ist, und schließlich Aufbau einer Operationsbasis der Bundeswehr im iranischen Krisengebiet sowie die Einrichtung vorgeschobener Hubschrauberlandepunkte, wie es sie auch schon in der Türkei gibt.Die Bundesregierung ist auch bereit, in deutschen Krankenhäusern medizinische Hilfe für Opfer der menschenverachtenden Vernichtungswaffen zu leisten, die gegen die Flüchtlinge im Irak eingesetzt wurden. Wir wollen, daß diese Menschen mit den zurückfliegenden Maschinen hierhergebracht werden können.
Die Bundesregierung dankt dem Deutschen Roten Kreuz und den anderen deutschen Hilfsorganisationen für ihren Einsatz für die Flüchtlinge aus dem Irak. Wir danken den Soldaten der Bundeswehr für ihren Einsatz. Sie stellen sich mit Pflichterfüllung und Engagement in den Dienst der Menschlichkeit.
Das entspricht dem Auftrag unserer Bundeswehr, Freiheit und Frieden zu sichern.Angesichts des anhaltenden und sich ausweitenden Flüchtlingsstroms sind die bisher bereitgestellten Hilfsmittel nicht ausreichend. Die von der Bundesregierung am 8. April bereitgestellten ca. 29 Millionen DM wurden schon innerhalb einer Woche ausgegeben. Die Bundesregierung hat deshalb heute entschieden, weitere Finanzmittel in Höhe von 415 Millionen DM als humanitäre Soforthilfe zur Verfügung zu stellen.
Dieser Betrag dient vor allem der Versorgung mit Nahrungsmitteln, der medizinischen Betreuung, der Unterbringung und dem Transport. In den 415-Millionen-DM-Betrag sind 60 Millionen DM eingeschlossen, die der Bundeskanzler bei dem europäischen Sondergipfel für die Gemeinschaftshilfe zugesagt hat. Schon am 8. April hatte ja der Europäische Rat auf Vorschlag des Bundeskanzlers eine Hilfe in Höhe von etwas über 300 Millionen DM beschlossen. Bei der Sitzung des allgemeinen Rates am 15. April habe ich an die EG-Partner appelliert, in Anbetracht der dramatischen Entwicklungen so wie die Bundesrepublik
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1257
Bundesminister Hans-Dietrich GenscherDeutschland ihre nationalen Anstrengungen deutlich zu erhöhen.Bei allen Anstrengungen, die die Staatengemeinschaft unternimmt, um in dieser Situation humanitär zu helfen, darf doch kein Zweifel daran bestehen, daß das Schicksal der Kurden und der anderen Bevölkerungsgruppen im Irak auf Dauer nur politisch gelöst werden kann.
Hauptziel aller politischen Bemühungen muß sein, daß die Flüchtlinge unter internationaler Aufsicht in ihre Heimat zurückkehren können. Der Irak muß die Voraussetzungen für Vertrauen und friedliches Zusammenleben schaffen.Ich habe in meinen Schreiben vom 2., 3. und 5. April 1991 an die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates auf diese Notwendigkeit und auf die Gefährdung des Friedens und der Stabilität in der ganzen Region hingewiesen. Diese Gefährdungen gehen von den erschreckenden Menschenrechtsverletzungen im Irak aus. Die Vereinten Nationen haben nach Auffassung der Bundesregierung die Pflicht und die Verantwortung, die neugewonnene Autorität, die ihr die Zurückweisung der Aggression gegen Kuwait verliehen hat, jetzt einzusetzen, um die schreckliche Verfolgung der Kurden und anderer Bevölkerungsgruppen zu beenden und die sichere Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Wohngebiete zu ermöglichen.Auf Grund deutscher und französischer Initiativen hat der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 688 eine klare Position eingenommen. Er hat die irakische Unterdrückung verurteilt, ihre umgehende Beendigung verlangt und die Bedrohung des Friedens in der Region als Folge dieser Repressionspolitik bezeichnet. Er hat die irakische Führung aufgefordert, die Menschenrechte und die politischen Rechte der Bevölkerung zu achten und humanitären Hiflsorganisationen sofortigen Zugang zu allen Hilfsbedürftigen zu gewähren. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat, worum auch der Sicherheitsrat ihn ersucht hatte, seine intensiven humanitären Bemühungen um die irakischen Flüchtlinge fortgesetzt. Er hat in diesen Tagen seinen Sonderbeauftragten zu Gesprächen nach Bagdad entsandt. Auch der persönliche Vertreter des UN-Generalsekretärs für die irakischen Flüchtlinge ist am 14. April in Bagdad eingetroffen und führt dort intensive Gespräche.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Resolution 688 hat historische Bedeutung. Sie hat erstmals in der Geschichte der Vereinten Nationen in dieser Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, daß die Mißachtung der Menschenrechte den internationalen Frieden und die Sicherheit bedroht. Sie kann nicht mehr nur als innere Angelegenheit eines Staates behandelt werden. Das ist eine wichtige Fortentwicklung des Völkerrechts.
Künftig kann sich keine Regierung, die Völkerrecht und Menschenrechte mit Füßen tritt, die die Bürger ihres Landes unterdrückt und zur Flucht zwingt, darauf berufen, daß solche Vorgänge eine innere Angelegenheit sind, die der Mitsprache der Völkergemeinschaft und der Vereinten Nationen entzogen sind.Die Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft haben sich auf dem Sondergipfel in Luxemburg am 8. April in diesem Sinne eindeutig erklärt. Sie haben auf deutschen Vorschlag insbesondere beschlossen, die Sanktionen gegenüber dem Irak so lange nicht aufzuheben, wie nicht die Rechte der Kurden und anderer Gruppen im Irak sichergestellt sind. Nur die Aufrechterhaltung dieser Sanktionen kann Saddam Hussein zum Einlenken zwingen.
Die drei im Sicherheitsrat vertretenen Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft werden diese gemeinsame europäische Haltung auch im Sicherheitsrat vertreten, der über die Aufhebung des Wirtschaftsembargos zu entscheiden hat.Unsere Forderungen und die Forderungen der Gemeinschaft sind: Anerkennung der Minderheitenrechte der Kurden und der Menschenrechte auch der anderen Bevölkerungsgruppen, Verwirklichung des Rechts auf Rückkehr in die Wohngebiete ohne die Gefahr von Repressalien und Bestrafungen sowie die Öffnung der Grenzen für humanitäre Hilfe in diesen Wohngebieten. Dies alles muß unter Beobachtung und Betreuung der Vereinten Nationen geschehen.Der Europäische Rat verlangt zusätzlich, Schutzzonen im Irak einzurichten, in denen die Menschen vor Verfolgung sicher sind. Von hier aus könnte sich dann die Rückkehr der geflüchteten Menschen in ihre Siedlungsgebiete unter internationaler Aufsicht vollziehen.Die Bundesregierung begrüßt die Absicht des amerikanischen Präsidenten, im Norden des Irak Lager einzurichten und den Schutz dieser Lager auch militärisch zu garantieren. Wir appellieren an die Mitgliedstaaten des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, diese Maßnahme der Vereinigten Staaten zu unterstützen. Niemand will die Integrität des irakischen Staates antasten; niemand hat Interesse daran, daß der Irak zersplittert und noch mehr in innere Konflikte gestürzt wird; niemand hegt feindselige Gefühle gegenüber dem irakischen Volk. Wir wissen um die Leiden des irakischen Volkes, die es als Folge der Politik seiner Regierung zu tragen hat.Die Europäische Gemeinschaft hält es aber für notwendig, daß sich der Sicherheitsrat erneut mit der Entwicklung im Irak befaßt, wenn Saddam Hussein nicht bereit ist, die Sicherheitsratsresolution 688 zu erfüllen. Diese Sicherheitsratsresolution fordert insbesondere auch einen offenen Dialog der irakischen Regierung mit ihrer Bevölkerung, der sicherstellt — ich zitiere — , „daß die Menschenrechte und politischen Rechte aller irakischen Bürger respektiert werden. " Nur echte Autonomie, die zwischen Bagdad und kurdischen Organisationen 1970 vereinbart, von der irakischen Regierung aber von Anfang an nicht eingehalten wurde, nur Pluralismus und die Achtung der Menschenrechte eröffnen dafür den Weg. Nur so werden Frieden und Stabilität im Irak und an den Grenzen dieses Landes einkehren. Nur so ist eine dauerhafte Friedensordnung in der Region möglich.
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1258 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Bundesminister Hans-Dietrich GenscherDie Vereinten Nationen sind aufgefordert, alle Möglichkeiten wahrzunehmen, die die Kuwaitkrise und das erfolgreiche Zusammenwirken der Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen für die Wahrung von Frieden und Stabilität eröffnen. Die Staatengemeinschaft ist aufgerufen, auf die Tragödie der Kurden und der anderen irakischen Gruppen mit der gleichen Anteilnahme und Entschlossenheit zu reagieren, die sie bei dem Überfall auf Kuwait zeigte. Die Staatengemeinschaft darf Unterdrückung, darf das militärische Vorgehen gegen wehrlose Menschen nicht hinnehmen.Auf Grund des Beschlusses der Außenminister der Europäischen Gemeinschaft vom 15. April 1991 hat der amtierende EG-Präsident, der Außenminister Luxemburgs, Jacques Poos, in einem Schreiben vom 16. April an den Generalsekretär der Vereinten Nationen festgestellt, daß die Brutalität der Verfolgung und das noch nie dagewesene Ausmaß der Flüchtlingswelle von uns erfordern, es bei der Verurteilung des irakischen Regimes nicht bei Erklärungen zu belassen. Der Ratspräsident ersuchte den Generalsekretär der Vereinten Nationen, die Frage der persönlichen Verantwortung der irakischen Führung, insbesondere im Hinblick auf die Konvention gegen Völkermord, und die Möglichkeit, die Verantwortlichen vor ein internationales Gericht zu stellen, zu überprüfen.Die Bundesregierung dankt in dieser Stunde den Bürgern unseres Landes für ihre Anteilnahme an den Vorgängen im Irak. Deutschland wird sich auch in Zukunft mit allem Nachdruck für umfassende humanitäre Hilfsmaßnahmen einsetzen. Wir appellieren an die Staatengemeinschaft und insbesondere an die Mitglieder des Weltsicherheitsrates, alle politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen, um über die humanitäre Hilfe hinaus durch die politischen Lösungen die Rechte der kurdischen Minderheit und der anderen Gruppen dauerhaft zu sichern. Die Staatengemeinschaft, meine Damen und Herren, steht auf dem Prüfstand.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Freimut Duve.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, selten ist das, was wir hier miteinander diskutieren, so von den Menschen in unserem Lande getragen worden, die Abend für Abend die Bilder sehen und die Abend für Abend diese Bilder fast nicht mehr aushalten können. Sie erwarten von uns, sie erwarten von der Bundesregierung, daß wir das, was wir können und was wir dürfen, auch wirklich tun.Alexander Dubček hat heute morgen bei uns im Auswärtigen Ausschuß zum Schluß sehr eindrucksvoll auf den Zusammenhang von Krieg und Vertreibung hingewiesen. Er hat die Sudetendeutschen genannt und gesagt: Es gibt hier einen unauflöslichen Zusammenhang; denn nach dem Krieg hat es Vertreibung gegeben. Wir haben auch in dieser Lage einenZusammenhang zwischen Krieg und Vertreibung. Wir müssen ihn auch ansprechen.Um Völkerrecht durchzusetzen, sind eine halbe Million Soldaten über die halbe Welt geflogen worden. Um Völkerrecht in Kuwait wieder herzustellen, sind viele Milliarden eingesetzt worden. Um Völkerrecht durchzusetzen, ist eine ökologische Katastrophe riskiert worden.Um Völkermord zu verhindern, hat es jetzt die bemerkenswerte UNO-Resolution 688 gegeben. Seit heute nacht wissen wir, daß es auch zu einer Aktion kommen wird — die Vereinigten Staaten haben ihre Haltung hier geändert — , zu einer Aktion, die den Diktator daran hindert, Menschen seines Machtbereichs umzubringen oder sie Bedingungen auszusetzen, in denen sie umkommen müssen, wenn ihnen andere Staaten nicht zu Hilfe kommen. Aus der Golfkrise ist die Kurdenkatastrophe geworden.Was sind die Tatsachen? Etwa 2 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Wir kennen nicht genau die Art und Weise, in der die irakischen Soldaten mit den Menschen dort umgehen. Wir haben relativ wenige konkrete Berichte. Tatsache ist, daß die Menschen nach wie vor Todesangst haben und daß sie die großen Risiken der Flucht ins Gebirge dem Bleiben in der tödlich gewordenen Heimat vorziehen. Der Iran hat seine Grenzen geöffnet. Die Türkei hat jetzt die Öffnung ihrer Grenzen angekündigt. Wir werden in den nächsten Tagen hoffentlich erleben, daß wirklich alle Menschen in die Täler können.Der wichtigste Aspekt dieser Debatte: Es muß den Flüchtlingen geholfen werden — da hat die Bundesregierung die volle Unterstützung der Opposition —, und es muß politisch und, wenn nötig, auch militärisch garantiert werden können, daß die irakischen Kurden ohne Todesfurcht umkehren können. Dieser Forderung der EG hat sich jetzt die amerikanische Regierung mit dem Vorschlag von heute nacht angeschlossen. Wie danken allen, die sich dafür einsetzen.Der Völkermordversuch hat 1988 mit dem Giftgaseinsatz gegen die Kurden begonnen. Damals haben wir unsere Beziehungen nicht abgebrochen. Es sind damals Zehntausende aus Angst vor Giftgas in die Türkei geflohen, und wir haben relativ schwach reagiert.Meine Damen und Herren, nach Kambodscha, nach Neu-Guinea sind vielen von uns, glaube ich, die Maßstäbe abhanden gekommen, die nach Auschwitz Bestandteil des Völkerrechts geworden waren. Seit 1948 gibt es die Konvention, die feststellt: Die Souveränität eines Staates umfaßt nicht die Souveränität von Massenmördern, ihre eigenen Leute umzubringen.
Die Souveränität des Staates endet dort, wo sich Regierungen anschicken, Massenmord zu begehen. Massenvertreibung in dieser Form, in der Form eines elenden Menschentrecks, ist versuchter Massenmord.Im wichtigsten Punkt sind wir mit der Erklärung der Vereinigten Staaten von heute morgen jetzt weiter:
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1259
Freimut DuveDer Massenflucht kann, wenn die Maßnahmen anlaufen, durch den Einsatz der UNO Einhalt geboten werden. Wir alle kennen die Risiken, die auch damit verbunden sind. Wir alle wissen, daß schon die Resolution 688 ein wichtiger neuer Schritt ist, auch für das Völkerrecht.Wenn nicht jetzt gehandelt wird, wann je können wir dem Mittel der Vertreibung Einhalt gebieten? Vertreibung darf kein Mittel der Politik bleiben. Es war es in den letzten 40 Jahren weiß Gott schon zu häufig, ohne daß die Völkergemeinschaft reagiert hat.
Die Menschen müssen also aus dem Iran zurückkehren können, sie müssen aus der Türkei zurückkehren können; sonst hätte Saddam sein Ziel erreicht. Denn wenn seine Entvölkerungspolitik Erfolg hätte, dann gäbe es drei Konsequenzen: Erstens. Die Massen der kurdischen Flüchtlinge im Iran und in der Türkei werden immer die Quelle neuer Konflikte in ihren Gastländern und zwischen den drei betroffenen Staaten bleiben. Zweitens. Die Völkergemeinschaft sieht sich wieder einmal gezwungen, den Zufluchtsstaat kritischer zu beurteilen als den Vertreiberstaat. Drittens. Für viele andere Konfliktparteien und Staaten mit schwierigen Minderheiten wäre dies das Signal: Man kommt ungestraft davon, wenn man sich auf diese Weise nicht nur eines Problems, sondern auch der Menschen selbst entledigt.
Ich fordere uns alle auf, die Konvention gegen den Völkermord zu erweitern und auf eine neue Konvention, eine Konvention zum Schutz der Menschen vor Vertreibung, hinzuarbeiten.Meine Damen und Herren, die Türkei empfängt mehr Entwicklungshilfe und mehr Militärhilfe von uns als irgendein anderes Land der Welt. Wir können von ihr nicht verlangen, stellvertretend für uns alle Millionen Flüchtlinge aufzunehmen und allein dafür verantwortlich zu sein. Aber wir möchten darum bitten — auch Sie, Herr Bundesaußenminister, möchten wir darum bitten — , daß die Bilder, die wir von der Grenze und von dem Einsatz türkischer Soldaten gesehen haben, die mit Gewehrkolben gegen Frauen und Kinder vorgegangen sind, ein Ende haben.
Die Türkei ist zwar unser Bündnispartner, aber es ist für uns unmöglich, einen solchen Bündnispartner dann nicht zu kritisieren.Wir können erwarten, daß nicht geschossen wird, wo geholfen werden müßte. Die Menschen, die dort kommen, haben keine Waffen. Sie haben ihre Waffen abgegeben. Also muß man auch nicht mit Gewehren auf sie losgehen.Keiner von uns übt diese Kritik an der türkischen Situation in moralischer Überheblichkeit. Wir alle waren nicht in der Lage, polnische Touristen wirkungsvoll gegen Angriffe von Rechtsradikalen zu schützen. Ich weiß nicht, wie es an unseren Grenzen und hier imParlament aussähe, wenn Millionen von Menschen aus einem anderen Land in panischer Flucht in unser Land drängen würden. Der erhobene Zeigefinger gegen die Türkei ist sicher angebracht bei der Behandlung der kurdischen Minderheit im eigenen Land. Angesichts des Ausmaßes dieses Elends wäre er jetzt fehl am Platze, es sei denn, wir wären bereit, auch bei uns Hunderttausende von Kurden aufzunehmen. Wir erwarten allerdings, daß die Türkei den irakischen Flüchtlingen — auch denen von 1988 — endlich die Möglichkeit der Betreuung und Registrierung durch den Hohen Kommissar ermöglicht.Angesichts der Kurdenfrage sitzt, glaube ich, niemand von uns mit ganz reinem Gewissen auf einem hohen moralischen Thron. Wir alle haben das Thema nicht ernst genug genommen. Ich möchte hier im Deutschen Bundestag ausdrücklich der Gesellschaft für bedrohte Völker und ihrem Vorsitzenden Tilman Zülch dafür danken, daß sie seit 15 Jahren immer wieder auf das Schicksal der Kurden hinweist.
Die Kurden brauchen den Minderheitenstatus, der ihnen nach geltenden Konventionen, denen die fünf betroffenen Staaten beigetreten sind, schon heute zusteht. Das ist das mindeste, was sie brauchen. Sie brauchen darüber hinaus Perspektiven, die sie nicht immer wieder zum Spielball von zwischenstaatlichen Konflikten werden lassen. Es ist übrigens erstaunlich, daß zur Zeit keine Kurden aus dem Irak nach Syrien fliehen. Da will wohl niemand hin.Wir können hier aus Europa keinen Kurdenplan entwickeln. Aber wir können dabei helfen, daß das Schicksal der Kurden in den fünf Staaten wichtiger Tagesordnungspunkt im Friedensprozeß des Nahen Ostens wird. Dazu können und dazu wollen wir beitragen.Mit unserem Antrag bitten wir die Bundesregierung, das Handeln der UNO voranzutreiben. Mit dem Antrag rufen drei Fraktionen — es ist schade, daß Bündnis 90/GRÜNE zum Schluß doch nicht mitmachen konnten — in Erinnerung, daß es Instrumente gegen den Völkermord gibt, auch gegen den versuchten Völkermord.Heinrich Böll hat das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Flüchtlinge genannt. Welche Konsequenzen die UNO, welche Konsequenzen wir aus der Kurdenkatastrophe dieser Wochen ziehen, davon wird das Gesicht des nächsten Jahrhunderts mitgeprägt. Werden die Kämpfe um knappes Wasser und knappe Nahrung, werden die neuen Religionskriege, die ethnischen Konflikte und neue Nationalismen mit den zahllosen ungelösten Minderheitenproblemen immer wieder zur Vertreibung führen, als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln? Vor dieser Frage steht die Weltgemeinschaft. Eine Teilantwort gibt sie jetzt mit der Art, wie sie auf Saddam Husseins Vertreibungspolitik reagiert.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Blüm.
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1260 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte dem Deutschen Bundestag berichten, was ich am vergangenen Wochenende im irakisch-türkischen Grenzgebiet gesehen und erlebt habe. Hunderttausende von geflüchteten Kurden lagern und kauern an den Berghängen. Sie schützen sich vor Kälte und Regen mit nichts anderem als dem, was sie am Leibe tragen oder mitschleppen konnten. Von Napalm- und Phosphorbomben Verletzte liegen auf nacktem Zeltboden.Ich habe ein Lager mit 80 000 Flüchtlingen in 1 500 Metern Höhe gesehen: ohne Wasserquelle. 80 000 Flüchtlinge ohne Wasser! Sie stillen ihren Durst, indem sie den Schnee schmelzen. Aber der Schnee wird bald geschmolzen sein. Sie backen ihr Fladenbrot mit dem Holz, das sie geschlagen haben. Aber es wird bald kein Holz mehr da sein.Viele sterben. Viele, viele Kinder sterben.Unter den Plastikplanen und unter regendurchlässigen Decken, die ein Zeltdach ersetzen sollen, findet das leise Sterben des kurdischen Volkes statt.Das ist Völkermord.Mehr als Worte bleibt mir das Bild eines jungen Vaters im Gedächtnis, der sein sterbenskrankes Kind, das er auf dem Arm trug, einem Arzt hilfesuchend entgegenhielt. Auf das resignierende Kopfschütteln des Arztes hatte er, sich abwendend, nur noch den Satz übrig: „Aber ich habe heute schon eines meiner Kinder beerdigt. "Es müßte ein Mensch aus Stein sein, der kein Mitleid hätte. Aber Mitleid ohne Folgen verändert die Welt nicht. Unsere erste Forderung geht an die türkische Regierung: Laßt all e Flüchtlinge ins Tal.
Das ist ein unaufschiebbares Gebot der Lebensrettung. Es reicht nicht, nur die Kranken ins Tal zu lassen. Die nicht krank sind, sind noch nicht krank. Der Uhrzeiger des Todes läuft. Hunderte, Tausende werden sterben, wenn sie oben bleiben müssen.Die Verletzten müssen in Hospitäler gebracht werden. Auch unsere Krankenhäuser in der Bundesrepublik werden Schwerverletzte aufnehmen.Ich bitte auch die Sozialversicherungsträger, die Solidarität hier in der Bundesrepublik nicht national zu begrenzen. Einige haben sich gestern bereits zur Aufnahme in Kliniken bereiterklärt.Die humanitäre Soforthilfe ist die eine Seite, die politische Lösung die andere. Die Ursachen von Flucht, Vertreibung und Mord können nur politisch beseitigt werden. Ihr Heimatrecht werden die Kurden nur in Anspruch nehmen — und sie wollen zurück in die Heimat — , wenn ihre Dörfer und Wohngebiete vor Überfällen und Massakern geschützt werden. Den Zusagen des Saddam Hussein glauben die Kurden kein Wort.Deshalb brauchen sie eine waffengeschützte Sicherheitszone. Die Sicherheitszone für die Kurden muß international geschützt werden, notfalls durch UN-Truppen. Resolutionen genügen nicht.Diese Sicherheitszone ist aber nur eine Seite des völkerrechtlichen Schutzes. Ich glaube, wir brauchen eine neue, größere Übereinkunft zum Schutz von Flüchtlingen. Staatliche Grenzen dürfen internationale humanitäre Hilfe nicht behindern. Wenn die Vereinten Nationen für ein Gebiet den Flüchtlingsnotstand erklären, muß grenzenlos geholfen werden können. Staatliche Grenzen dürfen nicht eine Grenze für solche lebensrettenden Aktionen sein. Die Souveränität des Staates muß vor der Lebensrettung zurücktreten.So wie die Welt noch immer eingerichtet ist, werden Flüchtlingsströme sie weiter belasten. Helfen und arbeiten für eine Welt ohne Flüchtlinge! Hilfe und Arbeit für eine Welt, in der alle ihre Heimat haben! In diesem Ziel sollten wir über alle Parteigrenzen übereinstimmen.Die Welt ist gespalten. Fortschritt und Rückschritt begleiten ihre Entwicklung. Wir in Deutschland haben ein Jahr hinter uns, in dem wir das Glück von Freiheit und Einheit erleben konnten. Vielleicht ist eine Form des Dankes für diesen Fortschritt, daß wir mithelfen, Rückschritt und Barbarei in der Welt zurückzudrängen.Auch unsere Bundeswehr leistet einen Beitrag im Rahmen einer internationalen Hilfstruppe im Kampf gegen Not. Not bedroht den Frieden. Die Bundeswehr als Teil einer internationalen Notwehr, das macht eine neue Seite eines friedenssichernden Dienstes deutlich.Am Wochenende habe ich in der Türkei viele Bundeswehrsoldaten erlebt, die sich mit großem Engagement an humanitären Aktionen beteiligen. Dafür möchte ich der Bundeswehr und allen Mitbürgern, die dort helfen, unseren großen Respekt und unsere Bewunderung zum Ausdruck bringen.
Laßt uns über das Helfen nicht die Ursache und die Verursacher des Flüchtlingselends vergessen. Die Massaker an den Kurden sind nicht die Privatangelegenheit des Saddam Hussein und nicht die innere Angelegenheit des Irak. Die Massaker sind eine Schande der Menschheit und eine innere Angelegenheit der ganzen Welt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen von der zivilisierten Welt geahndet werden. Das Embargo gegen den Irak kann so lange nicht aufgehoben werden, solange Saddam Hussein die Kurden bedroht.Grenzen und Staaten sind wichtige Ordnungselemente der Weltzivilisation. Noch wichtiger als Grenzen und Staaten ist die Würde des Menschen und sein Lebensrecht. Menschenrechte kennen keine Grenzen. Dies zu verkünden, bedarf es weder einer Ideologie noch komplizierter gedanklicher Anstrengungen, sondern der einfachen Fähigkeit, sich in die Lage von Menschen zu versetzen, die um ihr Leben zittern. Sie haben Anspruch auf unseren Beistand und auf unsere Einmischung.Im Lager der Kurden haben mir viele Briefe zugesteckt. Stellvertretend lese ich einen vor:Wir haben alles, was wir hatten, im Irak zurück-gelassen und konnten nur unser nacktes Lebenretten. Wir haben alles verloren, unsere Zukunft,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1261
Dr. Norbert Blümunsere Hoffnung, unsere Träume, unsere Ausbildung, unsere Häuser. Einige von unseren Angehörigen sind tot. Deshalb hoffen wir zu Gott, daß Sie uns helfen und uns eine Zukunft geben können.Dieser Hilferuf darf nicht ungehört verhallen; lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten!
Das Wort hat die Abgeordnete Cornelia Schmalz-Jacobsen.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir sind alle entsetzt und tief berührt und aufgewühlt von dem unermeßlichen Leid des kurdischen Volkes. Endlich haben jetzt wirksame Hilfsmaßnahmen für die vom Völkermord bedrohten Menschen begonnen. Aber ich muß sagen: Es lief bedrückend langsam an, wenn man das einmal im Vergleich dazu sieht, wie rasch und wie reibungslos die Ausrüstung der Armee mit Waffen gelaufen ist.
Meine Damen und Herren, die vorgesehenen Lager werden Hunderttausenden von Kurden das Überleben möglich machen und ihnen Schutz vor ihren Verfolgern gewähren. Die FDP dankt den USA und Großbritannien für ihr entschlossenes Handeln.Der Bitte der Bundesregierung an die Türkei, den kurdischen Flüchtlingen den lebensrettenden Abstieg in die Täler zu erlauben, ist gottlob stattgegeben worden. Die Voraussetzungen für die deutsche Hilfe, für den Aufbau der erforderlichen Infrastruktur durch die Bundeswehr haben sich spürbar verbessert.Ich möchte hier für meine Fraktion der Bundeswehr und den Hilfsorganisationen danken, die so tatkräftig bei der Sache sind.Wir begrüßen es, daß die Opfer von Napalm in unseren Krankenhäusern, in denen der Bundeswehr und anderen Krankenhäusern, Aufnahme finden können, damit ihr Leiden wenigstens gelindert wird.Von besonderem Gewicht sind die Ergebnisse des Außenministertreffens der Europäischen Gemeinschaft in Luxemburg und des Sonderministertreffens der WEU. Die FDP begrüßt die Aufstockung der Hilfe durch die Europäische Gemeinschaft auf 300 Millionen DM und den Beschluß des Sonderministertreffens der WEU, logistische Unterstützung für den Transport der Hilfsgüter nach der Türkei und dem Iran zu leisten.In den nächsten Stunden und Tagen muß alles Menschenmögliche getan werden, um zu verhindern, daß unter den kranken, erschöpften, hungernden und verwundeten Menschen Seuchen ausbrechen und daß weiterhin täglich mehr als 1 000 kurdische Kinder sterben.Meine Damen und Herren, viele in unserer Bevölkerung erinnern sich doch. Ich denke, daß auch in diesem Haus viele sitzen, die sich erinnern, was das bedeutet, Kind zu sein bei Krieg und Vertreibung, und was es heißt, Kälte, Hunger, Erschöpfung und Todesangst zu erleiden. Wie entsetzlich ist es für eine Mutter, deren Kind Durst hat, zu entscheiden, ob sie es verdursten läßt oder ob sie ihm Wasser zu trinken gibt, das wahrscheinlich verseucht ist!Es waren unerträgliche Bilder zu sehen, wie mit Gewehrkolben auf Kinder, auf Frauen, auf alte Menschen, auf erschöpfte Menschen losgegangen wurde. Herr Kollege Duve hat das geschildert. Auch wenn wir wissen, daß Gewaltanwendung manchmal Ausdruck von Hilflosigkeit sein kann, darf das so nicht hingenommen werden; das geht nicht.
Soforthilfe allein wird jedoch der schwierigen Lage nicht gerecht. Wir sind hier ja an einer Schnittstelle von humanitärer Hilfe und politischer Entscheidung. Nur durch eine politische Lösung der Kurdenfrage kann die Wiederholung der krassen und systematischen Menschenrechtsverletzung durch das Regime Saddam Husseins verhindert werden. Die Kurden sind die direkten Opfer des Hasses des geschlagenen irakischen Aggressors. Die Wut über seine gescheiterten Großmachtpläne am Golf läßt er jetzt mit unverminderter Grausamkeit und Menschenverachtung an seinen Landsleuten aus.Das schreckliche Ausmaß des Völkermords an den Kurden schreit nach Verurteilung und Strafe. Der Vergleich mit den Nürnberger Prozessen drängt sich hier auf. Hussein muß vor einen internationalen Gerichtshof gestellt werden. Die FDP begrüßt es deshalb, daß die zwölf EG-Außenminister Saddam Hussein persönlich für den Völkermord verantwortlich machen. Wir Freien Demokraten — das darf ich hier sagen — sind dankbar und stolz, daß die Initiative unseres Außenministers Hans-Dietrich Genscher so schnell auf europäischer Ebene aufgegriffen worden ist.Weiterhin muß das Ziel aller internationalen Bemühungen ein dauerhafter Autonomiestatus für das kurdische Volk bleiben. Autonomie für die Kurden ist ohne Saddam Hussein sicher leichter zu verwirklichen. Trotzdem ist Husseins Terrorherrschaft nicht das einzige Hindernis, wie wir wissen. Die Kurden müssen dauerhaft zufriedenstellende Autonomieregelungen auch mit den Regierungen von Ankara, Teheran, Damaskus und Moskau festschreiben. Bisher sind sie ja nur von der einen oder der anderen Seite als Machtinstrument zur Durchsetzung staatlicher Interessen mißbraucht worden. Die für uns entscheidende Frage ist deshalb, was jetzt getan wird, um eine staatenübergreifende Sicherung der kurdischen Minderheitenrechte zu gewährleisten.Wieviel Unrecht ist dem kurdischen Volk in diesem Jahrhundert schon angetan worden! Ich erinnere mich, daß ich vor 25 Jahren eine Sendung über die Kurden gemacht habe. Das Wissen war damals sehr gering. Wichtig, unausbleiblich wichtig ist, daß diese Menschen bei sich zu Hause leben können und daß sie nicht irgendwohin geschoben werden. Das nützt doch nichts!
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat hier mit der Resolution 688 einen ersten wichtigen Schritt
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1262 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Cornelia Schmalz-Jacobsengetan, indem er die Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der Menschenrechte erstmals auf die inneren Angelegenheiten eines Staates ausgedehnt hat. Dieser völkerrechtlich so wichtige Schritt mit seiner Bedeutung und Tragweite sollte von allen Staaten begrüßt und unterstützt werden.Angesichts der katastrophalen Lage der Kurden und der Schiiten im Irak und des fortgesetzten Wütens der Revolutionären Garden Saddams ist der wichtigste Passus der letzte Abschnitt der uns vorliegenden Resolution. Darin wird festgelegt, daß sich der Sicherheitsrat weiter mit den Entwicklungen im Irak beschäftigt. Sollten die Verfolgungen nicht sofort eingestellt werden, muß diese Ankündigung auch bedeuten, daß die Vereinten Nationen den Mörder Saddam Hussein mit Gewalt daran hindern, seinen Vernichtungskrieg gegen Teile der eigenen Bevölkerung fortzusetzen.Die Vereinten Nationen sind zum Handeln aufgerufen, meine Damen und Herren. Die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der UN muß und wird ihre internationale Verantwortung wahrnehmen.
Wir können und wir werden uns nicht drücken. Und, meine Damen und Herren — lassen Sie mich das zum Schluß sagen — , die letzten Wochen und Monate haben — ungeachtet der geübten Kritik und des großen Zwiespalts bei uns selber — eines deutlich gemacht: Die Deutschen sind Lichtjahre davon entfernt, eine eigensüchtige, eine nationalistische oder gar militaristische Nation sein zu wollen. In einem ist sich dieses zusammenwachsende Deutschland einig: Wir wollen den Frieden, wir wollen für die Menschenrechte eintreten, wo immer sie mit Füßen getreten werden. Die rasche Hilfe und das tatkräftige Zupacken in unserer Bevölkerung sollten uns nicht Anlaß für Entschuldidungen, sondern für Erleichterung und auch für Selbstbewußtsein sein.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Andrea Lederer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Golfkrieg hat kein Problem gelöst, sondern vielmehr neue und schwierigere Probleme geschaffen. Der Nahe und Mittlere Osten sind heute weiter denn je davon entfernt, zu einer friedlichen und gleichberechtigten Region der Völkergemeinschaft zu werden. Und wenn es noch eines Beweises bedurfte, daß Krieg kein Mittel zur Bewältigung politischer und wirtschaftlicher Interessenkonflikte ist, so ist dieser Beweis mit den Ereignissen im Irak und in den umliegenden Ländern auch nach Ende des Krieges hinreichend erbracht.Die Welt und wir alle hier reagieren mit Recht erschüttert und entsetzt auf die Bilder aus dem Nordirak. Immer größer wird der Kreis derjenigen, die auf die eine oder andere Weise versuchen, das Leid der Flüchtlinge zu mildern. Es ist gut und auch notwendig, daß die Hilfe mit Medikamenten, Lebensmitteln, Dekken und Kleidung endlich in Gang gekommen ist. Sie muß verstärkt und so wirksam wie möglich organisiert werden. Sie muß vor allem schneller, unbürokratischer und sicherer bei den Betroffenen ankommen. Dazu ist es notwendig, daß internationale Hilfsorganisationen im türkischen, iranischen und irakischen Krisengebiet grundsätzlich und ohne Ausnahme ungehindert arbeiten können und der Verbleib der Hilfsgüter kontrolliert wird.Wir regen an — das gilt insbesondere nach der Rede und dem Bericht des Herrn Ministers hier —, daß sich eine Gruppe bundesdeutscher Parlamentarier — meine Kollegin Fischer, für die ich hier heute einspringe, denkt da insbesondere an die Mediziner unter den Abgeordneten des Deutschen Bundestages — vor Ort begibt, um sich ein Bild — über die Mediendarstellung hinausgehend — von der Lage zu machen und unter diesen Eindrücken hier politisch tätig zu werden. Denn wir gehen davon aus, daß die unmittelbare Kenntnis dieser Situation noch zu einer weiteren Verstärkung der Hilfe führen könnte.Zu den unumgänglichen Hilfsmaßnahmen gehört es aber auch, verletzte Flüchtlinge zur medizinischen Behandlung in die Bundesrepublik zu überführen. Wir begrüßen es, wenn dies nun beginnen soll. Es gehört weiter dazu, Angehörigen von in der Bundesrepublik lebenden Kurden, die sich in den Flüchtlingslagern befinden, die Einreise zu ermöglichen, den Bedrohten großzügig Asyl zu gewähren sowie den in einigen Bundesländern bereits verfügten Abschiebestopp für kurdische Asylsuchende auf das gesamte Bundesgebiet auszudehnen. Warum sollten eigentliche nicht Tausende von kurdischen Flüchtlingen in der Bundesrepublik aufgenommen werden? Wir meinen, es ist richtig, die Öffnung der türkischen Grenzen zu fordern: Warum soll in diesem Land nicht ähnliches geschehen?
Es kann allerdings — trotz der mittlerweile erreichten Zugeständnisse auch der türkischen Regierung in diesem Punkt — nicht beruhigen, wenn sich diese wegen manifester Menschenrechtsverletzungen mehrfach angeprangerte türkische Regierung jetzt als Überbringer humanitärer Hilfe des Westens für Flüchtlinge eines Volkes produzieren darf, für das im eigenen Land die Menschenrechte teilweise außer Kraft gesetzt worden sind. Hier müssen sich sämtliche Regierungen, sämtliche Staaten dafür einsetzen, daß die Grenzen vollständig geöffnet werden und es mit der entsprechenden Unterstützung zu einer Milderung des Leids der kurdischen Flüchtlinge kommt.Wir müssen es allerdings als einen Ausdruck von Zynismus zur Kenntnis nehmen, wenn die verzweifelte Lage der Flüchtlinge und die immensen Probleme, die im Nachgang des Golfkrieges entstanden sind, zum Anlaß genommen werden, wiederum über die Erweiterung von Einsatzmöglichkeiten nationaler Streitkräfte nachzudenken. Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht nicht um eine Kritik an humanitärer Hilfe, sondern es geht darum, daß hier wiederum eine Diskussion in Gang kommt, die letztlich dazu führen soll, das, was ohnehin in der Debatte ist — Erweiterung des Handlungsspielraums der Bundeswehr auch in militärischer Hinsicht — , zu nutzen.
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Andrea LedererWer sich für einen solchen Einsatz aussprechen sollte, redet der Festschreibung militärischer und politischer Konfliktpotentiale in der Region das Wort.Die Schaffung der sogenannten Schutzzonen ist eine Zwischenlösung. Allerdings — darauf müssen wir noch einmal hinweisen; das kommt im Antrag des Bündnisses 90 zum Ausdruck — liegen diese in einer Region, wo im Grunde genommen eine menschenwürdige Unterbringung nicht möglich ist.
Frau Abgeordnete Lederer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?
Gerne.
Frau Kollegin, durch welche Maßnahmen könnte man jemanden wie Saddam Hussein daran hindern, die Flüchtigen weiter zu verfolgen? Wie könnte man ihnen mit nichtmilitärischen Maßnahmen die Todesangst nehmen? Ich sehe in einer solchen Lage wirklich nur militärische Maßnahmen, jedenfalls den Einsatz von Truppen.
Herr Kollege Duve, ich muß zurückfragen: Sehen Sie in einer solchen Situation tatsächlich nur militärische Lösungsmöglichkeiten, wenn doch beispielsweise auch Ihre Fraktion festgestellt hat, daß die politischen Verhandlungsmöglichkeiten, bevor der Golfkrieg am 16. Januar 1991 begonnen wurde, nicht ausgeschöpft wurden,
also offensichtlich nicht genug darüber nachgedacht wurde, welche politischen Lösungsmöglichkeiten bestehen. Aus meiner Sicht ist auf den Diktator Saddam Hussein, dessen Absetzung durch das irakische und kurdische Volk wir durchaus begrüßen würden, beispielsweise auch von den Bündnispartnern der Türkei etc. nach wie vor nicht genug Druck ausgeübt worden, um zu einer Lösung dieses Problems zu kommen. Das ist meine Auffassung.
Ich darf meine Ausführungen beenden. Wir wehren uns gegen die Ansicht, daß die Erste Welt wiederum autorisiert sein soll, die Probleme anderer Völker zu lösen. Es ist eine Angelegenheit der Kurden selbst. Das, was die Weltöffentlichkeit zu schaffen hat, ist, eine friedliche, demokratische und gerechte Lösung durch eine Unterstützung des kurdischen Volkes zu ermöglichen. Wie diese Lösung im einzelnen gestaltet wird, wird auch von den jeweiligen nationalen Gegebenheiten der Länder abhängen, in denen die Kurden leben. Der einzig gangbare Weg sind Verhandlungen, an denen alle betroffenen Seiten, also auch die jeweiligen Vertreter der Kurdinnen und Kurden beteiligt werden.
Die Bundesregierung muß sich neben der erforderlichen humanitären Hilfe dafür einsetzen, daß das Kurdenproblem im Rahmen einer anstehenden Nahostfriedenskonferenz explizit gelöst wird und/ oder eine internationale Konferenz zur Lage der Kurden und über die mögliche Lösung der Kurdenfrage zwischen den Ländern der Region unter Beteiligung der legitimen Vertreter der Kurdinnen und Kurden einberufen wird.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich Lummer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Dramatik der Situation und zur Unermeßlichkeit des Leides ist mit Worten das gesagt worden, was mit Worten zu sagen ist. Wer könnte es besser schildern als Norbert Blüm?Dies ist natürlich auch eine Herausforderung für den Deutschen Bundestag. Insofern ist es geboten, daß wir uns mit dem Thema beschäftigen und eine ebenso eindeutige wie präzise Stellungnahme abgeben.Die einheitliche Bewertung und die gemeinsamen Forderungen des Bundestages, die in der Resolution niedergelegt worden sind, sprechen, so denke ich, für sich und sollten bei allen Betroffenen als Ausdruck der Entschlossenheit gewertet werden, Vertreibung und Völkermord zu verhindern.Mitleid ohne Folgen, so haben wir gehört, ist kein Mitleid.
Wenn selbst der Kollege Duve die Alternativlosigkeit an der Stelle sieht und sagen muß: Notfalls muß eben militärisch gehandelt werden, dann wird, glaube ich, deutlich, in welcher Situation wir uns hier befinden.Niemand, so denke ich, darf sich künftig hinter der Formel von der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten verstecken, wenn es um die Durchsetzung von Menschenrechten geht. Menschenrechte — das ist ein großes Wort.Wir haben viel von der Hilfe für die Flüchtlinge geredet. Dies ist notwendig. Sie erfolgt, so meine ich, in einem beachtlich großen und auch großzügigen Ausmaß. Dies gilt nicht zuletzt für die Leistungen der Bundesrepublik. Der Dank ist ausgesprochen worden, wohlerwogen und überzeugend. Die Bundesregierung, die Bundeswehr und alle, die unter widrigen Umständen dort beteiligt sind und sich engagieren, haben unseren Dank verdient.Sicher, meine Damen und Herren, erwarten wir alle vom Iran und von der Türkei, daß sie Flüchtlinge — zumindest vorübergehend aufnehmen. Wir sehen darin sicher eine Verpflichtung. Gleichwohl ist es im Hinblick auf die besondere Lage dieser Länder keine Selbstverständlichkeit. Ob wir nun bitten oder fordern: Wir sollten die besonderen Bedingungen dieser Länder nicht aus dem Auge verlieren und uns selber deutlich machen, daß wir zur Mithilfe und zur Unterstützung bereit sein müssen. Wir können diese beiden Länder nicht allein lassen.Meine Damen und Herren, wir bestehen in der Resolution auf dem Rückkehrrecht der Kurden, auf der Einrichtung von Sicherheitszonen und auf die Fortführung der Embargomaßnahmen bis zur Gewährleistung von Minderheitenrechten.
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Heinrich LummerIch denke, jede Resolution, die hinter diesen Forderungen zurückbliebe, würde dem Thema nicht gerecht. Dem nach allgemeiner Meinung gewonnenen Krieg darf nun nicht ein verlorener Frieden folgen. Ein Versagen jetzt würde nicht nur den Erfolg des Krieges oder den Prestigegewinn, den manche Politiker erzielt haben, in Frage stellen, sondern Fragen nach der Glaubwürdigkeit, der Rechtfertigung und der Legitimation des gesamten Golfeinsatzes aufwerfen.
Das dürfen und wollen wir uns, denke ich, nicht leisten. Jedenfalls hat schon jetzt das, was man Sieg nannte, einen verdammt faden Beigeschmack bekommen.Wir stellen, meine Damen und Herren, in der Resolution fest: Die Erhebung der Kurden und der Schiiten gegen die Diktatur Saddam Husseins ist gescheitert. Es ist derzeit schwer auszumachen, auf welcher Seite wie große Fehleinschätzungen oder falsche Hoffnungen vorhanden waren.Kurden und Schiiten mögen ebenso wie andere gemeint haben, die Zeit für eine Beseitigung des Diktators sei gekommen. Sie haben es versucht. Mit ihrer gewollten Begrenzung der Kriegsziele war die Politik der Alliierten jedenfalls in einer schwierigen Situation. Die Bewahrung der staatlichen Identität des Irak bedeutet heute in der Praxis ganz offenbar die Erhaltung des Diktators. Die Kräfte im Inneren reichten bisher offenbar nicht aus, sich vom Diktator zu befreien. Andererseits hätte die Befreiung vom Diktator möglicherweise eine Auflösung des Irak zur Folge. Das Dilemma ist offenkundig. Die Frage bleibt: Kann man denn beides haben: die Erhaltung des Irak als eines regionalen Ordnungsfaktors, aber das ohne Saddam Hussein?Ich denke, das ist möglich. Aber zur Zeit sehen wir jedenfalls nicht die Möglichkeiten, dieses Ziel unmittelbar zu erreichen.Meine Damen und Herren, mit Befriedigung können wir feststellen, daß verbrieftes und geltendes Recht nun in einem größeren Umfang praktisch durchgesetzt wird. In der Resolution 688 des Sicherheitsrates wird eindeutig festgestellt, daß die Unterdrückung und Vertreibung irakischer Kurden eine Gefährdung des internationalen Friedens und der Sicherheit in der Region darstellt. Das ist begrifflich jenes, was die Charta der Vereinten Nationen im VII. Kapitel als Voraussetzung für den Eingriff der Vereinten Nationen ansieht. Dies ist diesmal nicht auf Grenzen bezogen — wie wir gehört haben — , sondern auf Menschenrechte.Auch in der Resolution 678 werden die Mitgliedstaaten ermächtigt, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um den Frieden und die Sicherheit in dem Gebiet wiederherzustellen.Ich denke jedenfalls, die Vereinten Nationen haben insgesamt eine Möglichkeit geschaffen, unbeschadet der Formel von der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten tätig zu werden, wenn ein Land etwa die Menschenrechtspakte oder die Völkermordkonvention verletzt. Dies ist ein nennenswerter Fortschritt bei der Durchsetzung von Menschenrechten. Dies sollten wir beachten und zukünftig nicht mehr aus dem Auge verlieren.Dies sollten aber insbesondere die Machthaber im Irak bedenken, wenn sie z. B. die Frage zu prüfen haben, ob sie die Einrichtung von Sicherheitszonen gestatten oder nicht. Noch ist nicht endgültig darüber entschieden, ob sie dieses zulassen. Klar ist aber: Dies ist eine Einschränkung der staatlichen Souveränität des Irak. Sie ist nach unserem Dafürhalten unvermeidbar; sie ist auch legitimiert. Zur Rückkehr der Kurden in ihre Heimat bei Beachtung der Minderheitenrechte sollte es keine Alternative geben.Wir sollten aber auch sagen: Wenn der Staat diese Minderheitenrechte beachtet, sollten auch die Kurden bereit sein, bei der Durchsetzung weitergehender Forderungen auf Gewalt zu verzichten.Notwendig ist dort der Dialog zwischen den Gruppen. Von unserer Seite aus ist es heute notwendig, die Voraussetzungen dafür zu schaffen.Ein Staat, so meine ich jedenfalls, der diese Rechte beachtet, wird auch einen höheren Grad innerer Stabilität gewinnen. So hat es sich immer wieder erwiesen, daß Gesellschaften, die zum Dialog fähig sind, ein höheres Maß an Stabilität aufweisen als solche, wo Minderheiten unterdrückt werden. Dies müßten auch Menschen, die einigermaßen Vernunft haben, im Irak begreifen. Dies gilt jedenfalls für den Irak, aber auch für andere Staaten, und wir werden uns mit diesem Thema in der Zukunft öfter zu beschäftigen haben.Eine neue Weltordnung, von der hier oft die Rede war, wird jedenfalls letztendlich nur dann kommen und nur dann Bestand haben, wenn sie auf der Anerkennung des Völkerrechts inklusive der Menschenrechte basiert. Dies, meine ich, ist eine wichtige Erkenntnis.Was bleibt uns? Paul Claudel hat einmal in dem „Seidenen Schuh" angesichts eines Kranken die Frage gestellt: Wer tut mehr für den Kranken, der Arzt, der Nahestehende, der dem Kranken im Fieber die Hand hält und ihm hilft, soweit ihm das persönlich möglich ist, oder der Weltenbummler, der irgendwo in China die China-Wurzel entdeckt und generell in der Lage ist, das Fieber zu senken?Wir haben hier keine Alternative. Wir müssen beides tun: Wir müssen den Flüchtlingen unmittelbar helfen, und wir müssen dafür sorgen, daß dieses Symptom in der Zukunft nicht wieder auftritt, indem wir das Völkerrecht, insbesondere die Menschenrechte durchsetzen.Ich denke, wir sind hier trotz all der Not, die hinreichend beschrieben worden ist, bei der Durchsetzung einen Schritt weitergekommen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der von den Fraktio-
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Gerd Poppenen der CDU/CSU, SPD und FDP vorgelegte Entschließungsantrag enthält eine ganze Reihe von Formulierungen, denen das Bündnis 90/DIE GRÜNEN zustimmen. Jedoch hat der Antrag auch einen erheblichen Mangel: Politische Wege, die zu einer gerechten und friedlichen Lösung für das kurdische Volk führen können, zeigt er nicht oder nur andeutungsweise auf. In wesentlichen Fragen beschränkt er sich auf verbale Bekundungen, die eher zu unserer Beruhigung dienen, als daß sie tatsächlich Hoffnungen bei dem vom Genozid bedrohten Volk erwecken können.Deshalb haben wir zwei eigene Entschließungsanträge gestellt. Zum einen geht es um die Verbesserung der Hilfsaktionen. Wir begrüßen ausdrücklich die Aufstockung der Mittel auf über 400 Millionen DM. Was aber nützt die großzügigste Hilfe, wenn sie bei den Betroffenen nicht oder zu spät ankommt?Es dürfte allgemein bekannt sein, daß weder die türkische noch die iranische Regierung Freunde der Kurden sind. Während der Bundesaußenminister telefonisch Appelle an beide Regierungen richtet, sterben weiter Flüchtlinge an Hunger, Kälte oder Erschöpfung. Schnellere und effektivere Hilfeleistungen sind dringend erforderlich. Eine Koordinierung und Kontrolle seitens der UNO wäre erstrebenswert. Solange dies nicht geschieht, ist ein sofortiges unbürokratisches und unkonventionelles Handeln erforderlich.Zur Verteilung der Hilfsmittel sollten alle denkbaren Wege beschritten werden, insbesondere auch unter Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen, die zum Teil längst mit Hilfskomitees und Menschenrechtsvereinen vor Ort zusammenarbeiten. Das würde die Hilfsaktionen beschleunigen und sicherstellen, daß die Lieferungen auch zu den Flüchtlingen gelangen.Diesem Ziel könnten auch wir als Abgeordnete dienen: 662mal könnten Hilfsaktionen der Bundesrepublik oder der EG bis zur Auslieferung der bereitgestellten Mittel begleitet werden, wenn jede und jeder von uns dazu einmal bereit ist.Es geht aber nicht nur um die direkte humanitäre Hilfe, sondern gleichzeitig und mit gleicher Intensität um die Suche nach einem erfolgversprechenden politischen Weg. Die EG fordert die Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen den Irak mit dem Ziel der Durchsetzung von Schutzzonen für die Flüchtlinge und von Minderheitenrechten. Doch welche Schutzzonen sind das? Es handelt sich überwiegend um jene auf Betreiben vom Saddam Hussein entvölkerten Gebiete, in denen es keine Dörfer mehr gibt und in denen sogar die Brunnen zubetoniert wurden. Es handelt sich um felsige Gebirgsgegenden in einer Höhe von 2 000 bis 3 800 m.Und um welche Minderheit geht es eigentlich? Es geht um ein Volk von über 20 Millionen Menschen, das drittgrößte Volk im Nahen Osten, ein Volk, das wie jedes andere das Recht auf Selbstbestimmung hat und letztlich nur selbst entscheiden kann, ob es dieses Recht im Rahmen von autonomen Regionen oder innerhalb einer Föderation oder auf andere Weise wahrnimmt.Wenn Europäer und Amerikaner das nicht anerkennen, werden sie wie bisher immer nur dann reagieren, wenn die Katastrophe wieder einmal über das kurdische Volk hereingebrochen ist, und ansonsten auf die bekannte Weise schweigen: ohne Katastrophe kein Kurdenproblem, also kein Handlungsbedarf.Wir sind für die Aufrechterhaltung des Embargos. Es sollte so lange bestehenbleiben, bis ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge in die von ihnen beanspruchten Wohngebiete im Irak unter dem Schutz von UNOFriedenstruppen mit friedlichen und diplomatischen Mitteln durchgesetzt worden ist.
Vor allem aber müssen die Kurden selbst von ihrer Rückkehrmöglichkeit überzeugt sein. Dazu genügt es nicht, Minderheitenrechte und kulturelle Autonomie für sie zu fordern. Es genügt auch nicht, über die Kurden zu sprechen, wie das alle Regierungen zur Zeit tun, sondern es ist vor allem nötig, mit ihnen zu sprechen. Nur wenn wir mit ihnen sprechen, können wir auch glaubhaft über und für sie sprechen.Die Bundesregierung könnte solche Gespräche anbieten, z. B. darüber, welche Garantien für die Rückkehr und welche Selbstverwaltungsstrukturen auf welche Weise aufgebaut und unterstützt und auf welchem Wege Schritte zur kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Selbstbestimmung gegangen werden könnten.Die Bundesregierung sollte sich auch dafür einsetzen, daß Vertreterinnen und Vertreter des kurdischen Volkes ihre Forderungen bei der UNO stellen und begründen können und daß schnellstmöglich eine Nahost-Friedenskonferenz auch mit kurdischer Beteiligung zustande kommt.So entscheidend die humanitäre Hilfe in der akuten Situation ist, so wichtig ist es auch, den Völkermord durch geeignete politische Initiativen für alle Zeiten zu verhindern. Das ist Einmischung in eigene Angelegenheiten, und wir sollten uns durch niemanden davon abhalten lassen.
Das Wort hat abschließend die Abgeordnete Katrin Fuchs.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Eine Ihrer Forderungen, Frau Kollegin Lederer, ist bereits erfüllt: Die Obleute der SPD, der CDU/CSU und FDP im Auswärtigen Ausschuß haben heute vormittag beschlossen, daß eine Delegation des Unterausschusses für Menschenrechte in den Irak, in den Iran und in die Türkei fahren wird. Ich denke, das begrüßen wir alle inständig.
Die Debatte hat gezeigt, Kollegen und Kolleginnen, daß alle in diesem Hause mit Entsetzen das brutale und menschenverachtende Vorgehen des Regimes von Saddam Hussein verurteilen, das er gegenüber dem kurdischen Volk gezeigt hat.Wir sind uns auch völlig darüber einig, daß mit einem solchen Vorgehen der Tatbestand des Völker-
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Katrin Fuchs
mordes erfüllt ist und daß das nie und nimmer die Angelegenheit eines Volkes allein sein kann. Völkermord muß jede verantwortungsbewußte Regierung und die Weltgemeinschaft auf den Plan rufen. Gerade wir Deutschen wissen dies aus eigener Geschichte.Das Dringendste ist jetzt rasche Hilfe — das ist richtig — für die halbe Million Menschen, die im Gebirge frieren und hungern. Immer noch läßt die türkische Regierung kaum Flüchtlinge in die Täler hinunter. Hilfsmaßnahmen werden eher behindert als gefördert. Dabei sterben täglich nahezu 1 000 Menschen in den Bergen.Ich unterstreiche das, was der Kollege Duve gesagt hat: Wir müssen unseren Bündnispartner Türkei dringend auffordern, endlich zu tun, was ständig versprochen wird, nämlich die Menschen in die Täler zu lassen, wo internationale Hilfe sie erreichen kann und wo sie eine Überlebenschance haben.Natürlich müssen wir die Türkei dabei rasch und wirkungsvoll unterstützen. Es ist gut und in Ordnung, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre Hilfsmittel um mehr als 250 Millionen DM aufstockt, allerdings erst jetzt, wo täglich Hunderte umkommen.
— Auch wenn es 415 Millionen DM sind, Herr Außenminister,
werden dennoch die Menschen in den Bergen an den türkischen und iranischen Grenzen fragen, warum die Deutschen und andere für den Krieg, der Leben und Natur zerstört, so schnell so viel mobilisieren konnten, warum sie aber für die Rettung von Menschenleben und für das Verhindern dieses entsetzlichen Elends nur einen Bruchteil dieser Milliarden aufbringen.
Heute hören wir, daß die Mitglieder der Allianz gegen den Irak Auffanglager für Flüchtlinge im Nordirak errichten wollen. Das ist gut. Noch besser fände ich es, wenn entsprechend dem Vorschlag der EG Schutzzonen im Irak eingerichtet würden, in denen den Kurden ein Leben in Sicherheit garantiert wird. Diese Garantie müssen die Vereinten Nationen übernehmen.Alle Bereitschaft zur Hilfe kann nicht vergessen machen, daß Auslöser für die jetzige Katastrophe des kurdischen Volkes der Krieg am Golf war.
Nach dem Willen der Alliierten sollte der Krieg Kuwait befreien. Kuwait ist befreit. Aber das Land ist eine ökologische Wüste; von 500 brennenden Ölquellen ist nur eine einzige gelöscht. Der Irak ist geschlagen, und Präsident Bush rief das irakische Volk auf, den Diktator zu stürzen. Doch diejenigen, die seinem Aufruf folgten, sind jetzt auf der Flucht und begraben ihre verhungerten Kinder in den Bergen.Meine Fraktion war gegen den Krieg am Golf. Wir wollten die Befreiung Kuwaits mit Sanktionen erreichen. Der geringste Vorwurf, den wir dafür einstekken mußten, war der weltfremder Blauäugigkeit.Auf einmal ist man bereit, der Wirksamkeit von Sanktionen zu vertrauen. „Eine Aufhebung der Embargomaßnahmen gegenüber dem Irak muß so lange ausgesetzt werden," — so heißt es in unserem fast gemeinsamen Antrag — „bis die Sicherheit der verfolgten Minderheiten im Irak gewährleistet ist. "Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich halte diese Position für richtig; ich plädiere nicht für einen neuen Militäreinsatz.
Aber diese Position war auch schon vorher richtig, und ihre Anwendung hätte nicht zuletzt vielen Tausenden Kurden das Leben gerettet.
Nach wie vor finde ich es mehr als befremdlich, daß die Waffenstillstandsresolution der Vereinten Nationen die Kurden mit keinem Wort erwähnt. Die Resolution 688 stellt umfangreiche Forderungen an den Irak, darunter die, keine Akte des internationalen Terrors zu begehen oder zu unterstützen. Daß aber in diesem Zusammenhang der völkerrechtswidrige innere Terror völlig ausgespart wird, ist schon fast zynisch. Dabei wäre das die Gelegenheit gewesen, Garantien für ein Überleben der Kurden im Irak und unter der Aufsicht der UNO zu erwirken. Diese Chance ist nun verspielt. Diejenigen, die dafür verantwortlich sind, müssen sich die Frage nach der doppelten Moral gefallen lassen.
Fragen können der Weltgemeinschaft als Ganzer nicht erspart bleiben. Der Sicherheitsrat konnte sich erst spät zu einer Resolution durchringen, die den Irak gerade einmal auffordert, die Unterdrückung zu beenden, und die die Hoffnung auf einen — man glaubt es kaum — offenen Dialog ausdrückt.
Ich weiß nicht, was Kurden bei einem solchen Satz empfinden müssen, in dem sie aufgefordert werden, einen offenen Dialog mit ihrem Henker zu führen.
Inhalt und Sprache der UN-Resolutionen im Falle Kuwaits waren völlig anders. „Alle notwendigen Mittel" wurden damals freigegeben.Kollegen und Kolleginnen, die westlichen Gesellschaften halten sich auf ihr Prinzip der universellen Gültigkeit der Menschenrechte viel zugute. Darauf will der amerikanische Präsident nun eine neue Weltordnung errichten. Die Befreiung Kuwaits sollte der erste Schritt sein. Statt dessen herrscht Chaos in der Region, und Menschenrechte werden mit Füßen getreten.Kriege sind — im weitesten Sinne — zu teuer geworden, als daß die Menschheit sie sich weiter leisten
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Katrin Fuchs
könnte. Wir brauchen unsere knappen Mittel für den Frieden,
der auch den Kurden die Rückkehr in ihre Wohngebiete und die Perspektive eines dauerhaften friedlichen Lebens, einer dauerhaften friedlichen Existenz garantiert. Wir brauchen einen Frieden, der die Minderheitenrechte aller ethnischen und religiösen Gruppen in der Region in vollem Umfang wahrt. Diese Fragen gehören auch auf die anzustrebende NahostFriedenskonferenz. Wer dauerhaften Frieden für die Region will, muß in diesem Zusammenhang auch über das israelisch-palästinensische Problem, über den Libanon, die Abrüstung, die Wasser- und ökologischen Fragen und das Wohlstandsgefälle reden.
Ich bin sehr dafür, daß an dieser Konferenz alle betroffenen Gruppen, auch die Kurden, beteiligt werden.Eines möchte ich bei dieser Gelegenheit uns und anderen Industrienationen ins Stammbuch schreib en, und das ist etwas, was wir tun können: Einen solchen Frieden werden wir nur erreichen, wenn wir mit der jahrzehntelangen Praxis brechen, die Staaten in der Region bis an die Zähne aufzurüsten, um damit unsere Interessen durchzusetzen.
Ich bin dafür, daß Saddam Hussein für seine Kriegsverbrechen und den Völkermord vor ein internationales Gericht gestellt wird, wie das der Außenminister vorgeschlagen hat. Ich bin allerdings auch dafür, daß die deutsche Giftgasindustrie, die Waffenlieferanten, die Profiteure des Todes, ohne die diese Verbrechen überhaupt nicht möglich gewesen wären, auf die Anklagebank kommen.
Nur der geringste Teil der Waffenexporte in die Region war illegal, der größte Teil war hochoffiziell genehmigt, ja sogar gefördert. Über 80 % davon gehen auf das Konto der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates. Auch daran müßte man sich einmal erinnern.
Die Bundesrepublik Deutschland nimmt auf dieser Rangliste den „stolzen" sechsten Platz ein. Wenn wir Frieden wollen, muß mit diesem ewigen Kreislauf Schluß sein, in dem wir die von uns aufgerüsteten Partner von gestern, die heute unsere Feinde sind, durch Krieg abrüsten, während sich ein neuer Waffenstrom zu unseren heutigen Verbündeten ergießt, Verbündeten, die vielleicht schon morgen wieder unsere Feinde sind.
Es ist Wahnsinn, daß die Vereinigten Staaten jetzterneut Waffen für 18 Milliarden Dollar in den NahenOsten schicken. Das ist die Ausrüstung für den nächsten Krieg, und ich fürchte, wir Deutschen haben auch da wieder keine weiße Weste.
Waffenexporte in diese Region müssen endgültig aufhören. Keine Nahostpolitik kommt an dieser banalen Erkenntnis vorbei. Genauso, wie die Vereinten Nationen über das Völkerrecht zu wachen haben, muß es in Zukunft ihre Aufgabe sein — das wäre mein Wunsch — , Rüstungsexporte zu unterbinden. Bis dahin hindert uns heute nichts, hier als Bundesrepublik Deutschland voranzugehen und von uns aus alle Rüstungsexporte in Gebiete außerhalb des Bündnisses zu verbieten.
Damit würden wir unserem Anspruch gerecht, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgeht.Der erste Schritt zu diesem Frieden für die Völker in der Region des Nahen Ostens ist uneingeschränkt das, was uns heute zusammenbringt: unverzügliche, umfassende, konkrete Hilfe für die geschundenen Kurden diesseits und jenseits der irakischen Grenzen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie des Abgeordneten Konrad Weiß auf Drucksache 12/375 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist bei Enthaltung der PDS/ Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE angenommen.
Wer stimmt dem Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/372 zu? — G egen-probe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist unter Zustimmung der Abgeordneten der PDS/ Linke Liste und bei Enthaltungen einiger Abgeordneter der SPD und des Bündnisses 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/374? —
— Bitte, Herr Kollege Duve.
Ist es möglich, zu unserem Abstimmungsverhalten eine Bemerkung zu machen?
Bitte sehr.
Ich glaube, die Kollegen haben einen Anspruch darauf, daß wir unser Abstimmungs-
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Freimut Duveverhalten bei einem Antrag zur humanitären Hilfe begründen.
In dem zweiten Punkt des Entschließungsantrages geht es darum, daß Bundestagsabgeordnete die Hilfsflugzeuge begleiten. Wir halten das für keinen guten Gedanken. Wir haben hier vor Ort andere Aufgaben. Deshalb wollen wir dem nicht zustimmen.Der erste Punkt ist von Minister Blüm zugesagt worden.
Noch einmal: Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/374? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist bei Enthaltungen der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Antragsteller und einiger Stimmen von PDS/Linke Liste abgelehnt.
Der Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/373 soll an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf: Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat mitgeteilt, daß sich das Kabinett u. a. mit dem Gesetzentwurf über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern sowie mit dem Bericht der Bundesregierung zur Frage weiterer Maßnahmen der Frauenförderung in Beruf, Familie und anderen Bereichen befaßt hat.
Ich darf Sie daran erinnern, daß nach unseren Regeln im Anschluß an diese Thematik auch Fragen zu anderen Bereichen gestellt werden können.
Die Bundesregierung hat außerdem mitgeteilt, daß der Bundesminister des Innern berichten wird. Das Wort hat Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat heute den Entwurf des Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetzes 1991 beschlossen.Mit diesem Gesetzentwurf soll das Ergebnis der Tarifverhandlungen vom 16. März 1991 mit demselben Erhöhungssatz von 6,0 % für Beamte, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger übernommen werden. Gleichzeitig sollen eine Reihe von im Tarifbereich vereinbarten zusätzlichen strukturellen Verbesserungen möglichst gleichwertig im Besoldungsbereich übernommen werden; möglichst gleichwertig deswegen, weil sich die Bezahlungsstrukturen im Tarifbereich nicht völlig mit den Besoldungsstrukturen vergleichen lassen, also nicht völlig deckungsgleich sind.Der Gesetzentwurf enthält dazu vor allem Regelungen über die Verbesserung der Beförderungsmöglichkeiten für Beamte des einfachen Dienstes durch Erweiterung des höchstzulässigen Anteiles der Planstellen im Spitzenamt A 5 plus Amtszulage, ferner Bezahlungsverbesserungen für Beamte des mittleren technischen und des gehobenen technischen Dienstes durch Festsetzung günstigerer Stellenobergrenzen, die Schaffung günstigerer Stellen und damit Bef örderungsverhältnisse für beamtete Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sowie die Einführung allgemeiner Wechselschichtzulagen und Schichtzulagen.Der Gesetzentwurf sieht vor, die Erhöhungen für Beamte, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger zwei Monate später, als es der Tarifabschluß für Arbeiter und Angestellte vorsieht, in Kraft treten zu lassen, also nicht zum 1. Januar 1991, sondern zum 1. März 1991. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, daß Arbeiter und Angestellte durch die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bei gleichzeitiger Senkung des Rentenversicherungsbeitrags in ihrem Nettoeinkommen im Gegensatz zu Beamten, Richtern, Soldaten und Versorgungsempfängern betroffen sind. Die zwei Monate spätere Inkraftsetzung der Erhöhung soll ausgleichen, daß die Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags ja nicht nur für das Jahr 1991, sondern darüber hinaus die Nettoeinkommen von Angestellten und Arbeitern belastet. Sie ist insoweit ein adäquates Äquivalent für die Verringerung der Nettoeinkommen der Arbeiter und Angestellten.Wir haben intensiv über die Frage diskutiert, ob wir diese Verschiebung auch für die Versorgungsempfänger im Gesetzentwurf vorschlagen sollen. Dafür spricht zunächst einmal § 70 des Beamtenversorgungsgesetzes, der davon ausgeht, daß bei allgemeiner Erhöhung der Dienstbezüge die Versorgungsbezüge von demselben Zeitpunkt an entsprechend zu regeln sind, von dem wir also abweichen müßten, wenn wir für Versorungsempfänger einen anderen Zeitpunkt wählen wollten. Dagegen spricht insbesondere das Argument, daß die Bezieher von Renten durch die Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge im Jahre 1991 nicht, wohl aber durch die Nettoformel der Rentenanpassung ab 1992 betroffen sind.Bei den Versorgungsempfängern hat die Bundesregierung ferner vor allen Dingen erwogen, diskutiert und dazu auch einen Vorschlag gemacht, den ich vortragen möchte, daß wir strukturelle Verbesserungen in der Beamtenbesoldung auf die Versorgungsempfänger so nicht übertragen können. Diesem Problem hatte der Anpassungszuschlag für Versorgungsempfänger bis 1984 Rechnung getragen, der 1984 abgeschafft worden ist.Die Bundesregierung hat heute beschlossen, dem Parlament, dem Gesetzgeber, vorzuschlagen, den Anpassungszuschlag mit Wirkung ab 1993 wieder einzuführen. Sie hat zugleich beschlossen, dem Gesetzgeber vorzuschlagen, als Vorgriff auf die Wiedereinführung des Anpassungszuschlages für Versorgungsempfänger generell im Laufe der Gesetzgebung zum Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz 1991 die strukturellen Verbesserungen in der Besoldungsanpassung 1990 mit 0,4 % als einem ersten Schritt zum Anpassungszuschlag, in diese Gesetzgebung einzubeziehen. Wir werden dem Bundestag während der Gesetzesberatungen entsprechende Formulierungsvorschläge vorlegen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1269
Bundesminister Dr. Wolfgang SchäubleAlso noch einmal: Wir schlagen vor, den Anpassungszuschlag ab 1993 generell wieder einzuführen und im Vorgriff auf die generelle Wiedereinführung bereits jetzt im Rahmen der Besoldungs- und Versorgungsanpassung 1991 einen begrenzten Schritt mit einem Anpassungszuschlag zu tun, der den strukturellen Teil der Besoldungsrunde 1990 mit 0,4 To zugunsten der Versorgungsempfänger ausgleichen soll.Ich denke, daß mit diesem Wiedereinstieg in das strukturelle Problem der Versorgungsbezüge von der Bundesregierung die richtige Maßnahme beschlossen worden ist, um den generellen Gleichklang zwischen aktiven Beamten, Richtern, Soldaten und Versorgungsempfängern in der Entwicklung der Bezüge sicherzustellen. Ich wäre dem Hohen Hause dankbar, wenn der Gesetzentwurf mit dieser Ergänzung von ihm zügig beschlossen werden könnte, so daß er zeitnah in Kraft gesetzt werden kann.
Vielen Dank, Herr Bundesminister.
Ich bitte, zunächst Fragen zu diesem Themenbereich zu stellen.
Im Vorfeld der Diskussion um Abgaben wurde ja von einem „Sonderopfer der Beamten" gesprochen. Durch die heute erfolgte Verabschiedung des Besoldungsanpassungsgesetzes haben Sie nunmehr klargestellt, wie der Beitrag der Beamten aussehen soll. Ich frage mich allerdings unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit — dazu habe ich nichts gehört — , wie die anderen Gruppen — ich nenne nur einmal die Freiberufler — in dieser Situation eigentlich erfaßt werden sollen. Wie sieht eigentlich deren Opfer, das aufzubringen wäre, aus? Darauf hätte ich gerne eine Antwort.
Herr Bundesminister.
Herr Präsident! Herr Kollege Graf, es liegt in der Natur eines Gesetzentwurfes zur Besoldungs- und Versorgungsanpassung, daß sich dieser Gesetzentwurf eben nur mit Beamten, Richtern, Soldaten und Versorgungsempfängern, also nicht mit gewerblichen Arbeitnehmern, nicht mit Landwirten, nicht mit Hausfrauen, auch nicht mit Angehörigen freier Berufe beschäftigen kann. Insofern kann der Gesetzentwurf auf Ihre Frage keine Antwort geben.
Aber ich denke, daß die Bundesregierung mit den Maßnahmen die sie — insbesondere im Bereich steuerpolitischer Maßnahmen — insgesamt beschlossen hat, die Finanzierungslasten, die sich uns durch den Golfkrieg, durch unsere Hilfe im humanitären Bereich, durch unsere Hilfe für Ost- und Südosteuropa, aber auch im Zusammenhang mit der Vollendung der Deutschen Einheit, der Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse stellen, insgesamt ausgewogen auf alle Bevölkerungsgruppen verteilt hat.
Bei diesem Gesetzentwurf ging es um eine vergleichbare Berücksichtigung aller Statusgruppen im öffentlichen Dienst, also Arbeiter, Angestellte, Beamte, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger.
Herr Kollege Hirsch.
Herr Minister, es ist vielleicht nur ein kleiner Unterschied, aber ist es nicht so, daß die Frage des Kollegen Graf deswegen an dem eigentlichen Problem vorbeigeht, weil es hier nicht um Opfer, sondern darum geht, die Entwicklung der Beamtengehälter der allgemeinen Nettoeinkommensentwicklung anzupassen und daß insofern — bezogen auf die Tarifabschläge — bestimmte Veränderungen notwendig sind? Dabei bedaure ich persönlich, daß Sie eine zeitliche Verzögerung auch bei Versorgungsempfängern vorschlagen. Aber der Punkt ist doch, daß es sich nicht um ein Opfer, sondern darum handelt, die Entwicklung der Beamtengehälter der allgemeinen Entwicklung der Nettoeinkommen anzupassen.
Herr Bundesminister.
Herr Kollege Hirsch, wir haben uns ja im deutschen Sprachgebrauch in den letzten Jahren zu mancherlei Höhepunkten durchgerungen. In der Tat, ich finde, daß eine Besoldungserhöhung von 6 % den Begriff „Opfer" etwas strapaziert. Aber wenn es ein Beitrag ist, um die Opferbereitschaft aller Kreise der Bevölkerung auf diese Weise weiter zu ermuntern, habe ich gar nichts dagegen, wenn man auch dies noch als „Opfer" erfaßt.
Ich will aber doch noch einmal — zu Ihrem Bedauern, Herr Kollege Hirsch — sagen: Ich glaube, daß bei der Wahl zwischen den beiden Alternativen, die uns zur Verfügung standen, nämlich für Versorgungsempfänger — im Gegensatz zu den aktiven Beamten — die Erhöhung zum 1. Januar in Kraft zu setzen oder über die Wiedereinführung des Anpassungszuschlags die strukturelle Auseinanderentwicklung der Versorgungsbezüge und der Bezüge der aktiven Beamten in Angriff zu nehmen, die Alternative, für die sich die Bundesregierung auf meinen Vorschlag ent- schieden hat, die richtige ist. Ich halte sie, auch wenn sie auf meinen Vorschlag hin gewählt worden ist, für die richtige. Ich hoffe insoweit auch auf Ihre Zustimmung und Unterstützung.
Eine weitere Frage, Frau Kollegin Schmidt.
Herr Bundesinnenminister, bei dieser Besoldungserhöhung werden eine Reihe von begrüßenswerten Verbesserungen im technischen Dienst bei Post und Bundesbahn vorgenommen. Diese Verbesserungen wären beim nichttechnischen Dienst mindestens genauso notwendig. Sie sollen aber dort nicht wirksam werden. Damit werden in meinen Augen die unteren und mittleren Einkommensgruppen dort zweimal getroffen, einmal durch die Verschiebung, wie sie gerade geäußert worden ist, und dann durch das Ausbleiben der notwendigen strukturellen Verbesserungen. Was ist der Grund dafür?
Zunächst einmal, Frau Kollegin Schmidt, gibt es auch
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1270 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäublefür die Angehörigen des nichttechnischen Dienstes Verbesserungen. Ich habe die verbesserten Beförderungsmöglichkeiten im einfachen Dienst durch Erweiterung des Anteils der Planstellen im Spitzenamt A 5 m. Z. erwähnt. Ich habe die Wechselschicht- und Schichtzulagen angesprochen, die keineswegs auf den technischen Dienst beschränkt sind, und auch von den günstigeren Stellen- und Beförderungsverhältnissen für beamtete Sozialarbeiter und Sozialpädagogen gesprochen. Auch die gehören nicht zum technischen Dienst.Generell halten wir uns mit dem Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz 1991 im wesentlichen an die Vorgabe des Tarifabschlusses. Bei den Tarifverhandlungen, die am 16. März abgeschlossen worden sind, überwogen die linearen Verbesserungen — 6,0 To ist wirklich eine erhebliche lineare Steigerung — gegenüber dem Anteil an strukturellen Verbesserungen. Denn in diesen Tarifverhandlungen ist von seiten der Vertreter der Arbeitnehmer die Priorität stark auf die lineare Erhöhung gelegt worden. Ich hätte mir in den Verhandlungen einen größeren Anteil an strukturellen Verbesserungen und dafür eine etwas geringere lineare Erhöhung sehr wohl vorstellen können. Aber ein Abschluß in dieser Richtung war nicht zu erzielen. Das ist der Grund, warum die Regelungen in diesem Gesetzentwurf so sind, wie ich sie vorhin vorgetragen habe.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Schmidt.
Ich verstehe es jetzt vielleicht nicht ganz. Ich habe mich weniger nach Sozialpädagogen erkundigt, sondern mehr nach dem nichttechnischen Dienst bei Bundesbahn und Bundespost. Das, was ich hier einbringe, ist eine Forderung der Gewerkschaften, die an den Verhandlungen beteiligt gewesen sind. Insoweit kann ich mir Hinderungsgründe, die strukturellen Verbesserungen auf den nichttechnischen Bereich auszudehnen, im Moment nicht ganz vorstellen. Ich hätte gerne gewußt, wo in Ihren Augen diese Hinderungsgründe liegen.
Ich bitte um Nachsicht. Ich hatte in Ihrer ersten Intervention die Beschränkung auf Bahn und Post nicht gehört. Deswegen war meine Antwort etwas anders. Ich habe vom nichttechnischen Dienst allgemein gesprochen.
Generell ist es so — ich wiederhole das — daß wir außerhalb des Bereichs der Wechseldienst- und Schichtzulagen, die gerade auch für Bahn und Post relevant sind, für strukturelle Verbesserungen, die über das im Tarifvertrag Vereinbarte hinausgehen, in dieser Besoldungsrunde keinen Raum sehen. Deswegen haben wir uns auf die Maßnahmen wie vorgetragen beschränkt.
Gibt es zu diesem Themenbereich weitere Fragen? — Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zum nächsten Thema der Kabinettsitzung.
Ich bin von der SPD-Fraktion gebeten worden, von mir aus zu berichten, um einige Fragen vorwegzunehmen.Das Kabinett hat heute einen Bericht zur Frage der Frauenförderung in Beruf, Familie und anderen Bereichen beschlossen. Dieser Bericht wurde auf Beschluß des Deutschen Bundestages vom Sommer vorigen Jahres angefertigt. In diesem Beschluß des Bundestages war nach zehn verschiedenen Punkten zur Frauenförderung gefragt. Ich werde zu den wichtigsten Themen Stellung nehmen.Am 25. September des letzten Jahres wurde die Frauenförderung mit einer Richtlinie zur Frauenförderung in der Bundesverwaltung wesentlich verbessert. Darin werden z. B. die Personalverwaltungen verpflichtet, Personalstatistiken über den jeweiligen Anteil von Männern und Frauen zu führen, auch bei Neueinstellungen. Sie werden aufgefordert, erhebliche Unterschiede zwischen den Anteilen jährlich mitzuteilen und zu begründen. Außerdem werden durch diese Richtlinie die obersten Dienstbehörden verpflichtet, Frauenbeauftragte zu bestellen. Diese Richtlinie enthält auch wesentliche Verbesserungen bei der Teilzeitarbeit.Alle diese Richtlinien werden im Rahmen des Gleichberechtigungsgesetzes, das auf Grund eines Auftrages aus den Koalitionsvereinbarungen an das Ministerium für Frauen und Jugend zu erstellen ist, eine gesetzliche Grundlage finden. Darüber werden wir in den nächsten Monaten zu debattieren haben. Die Bundesregierung unterstreicht das auch in ihrem Bericht, und sie weist darauf hin, daß sie damit auch dem Auftrag aus Art. 31 des Einigungsvertrages, die gesetzlichen Grundlagen für die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Berufsleben zu verbessern, nachkommen wird.Verbesserungen der Möglichkeiten der Teilzeitarbeit werden, wie gesagt, ebenfalls Inhalt dieses Gesetzes sein. Nichtsdestotrotz wird schon in dem Bericht darauf hingewiesen, daß der öffentliche Dienst mit 18 % aller Beschäftigten eine Vorreiterrolle bei der Teilzeitarbeit einnimmt und damit auch die Erfahrung gemacht hat, daß Teilzeitarbeit ein sinnvoller Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt.Ein weiterer Auftrag in dem Beschluß des Bundestages war es, zu den Möglichkeiten der Kinderbetreuung Stellung zu nehmen. Hier wird noch einmal darauf verwiesen, daß die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durch Veränderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes schaffen will. Sie weist auch darauf hin, daß bereits jetzt im Steuerrecht notwendige Regelungen enthalten sind, die es ermöglichen, daß Aufwendungen für betriebseigene Sozialeinrichtungen geltend gemacht werden können.Die Absicherung des Pflegerisikos wird in einem Gesetz verbessert werden, das bis zum 1. Juni 1992 vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vorzulegen sein wird. Darüber können zur Zeit keine weitergehenden Aussagen gemacht werden.Es geht dann noch um die Frage steuerrechtlicher Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeiten. Hier wird darauf hingewiesen, daß auf Grund des Vereinsförde-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1271
Bundesministerin Dr. Angela Merkelrungsgesetzes von 1989 das Einkommensteuergesetz so erweitert worden ist, daß Aufwandsentschädigungen für die nebenberufliche Pflege alter, kranker oder behinderter Menschen bis zur Höhe von insgesamt 2 400 DM im Jahr steuerfrei bleiben.Die Bundesregierung weist in ihrem Bericht darauf hin, daß es vielfältige Anstrengungen gibt, die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern zu fördern, und daß diese durch gesetzliche Vorhaben — neben diesem Bericht, der mehr eine Analyse darstellt — in dieser Legislaturperiode vervollkommnet werden sollen. — Soweit mein Bericht.
Frau Bundesministerin, erlauben Sie mir einen kleinen Hinweis: Der Sinn dieser Regierungsbefragung ist, dem Parlament Gelegenheit zu geben, sich über die Kabinettsitzung des Mittwoch zu informieren. Zu diesem Zweck trägt ein Kabinettsmitglied zu Beginn vor, und im übrigen werden Fragen beantwortet. Vielleicht könnten Sie einen Hinweis an Ihr Parlamentsreferat geben, daß es unüblich ist, daß die Minister von sich aus dies hier zu einer Darstellung benutzen. Auf der anderen Seite, Frau Kollegin, haben Sie natürlich heute den Kolleginnen und Kollegen auch einen Gefallen erwiesen, weil sie auf das Thema gar nicht so recht vorbereitet waren und durch Ihren Bericht jetzt die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen.
Wenn ich es richtig sehe, ist der Kollege Penner der erste, der das tun will.
Also, ich tue das ja ungern.
Dann laß es.
Nein, ich tue es ungern, zumal bei dir, Jonny. Aber: Herr Vizepräsident irren in diesem Punkt.
In diesem Teil der Regierungsbefragung ist es Usance, daß die Bundesregierung zu dem Thema, daß sie anmeldet, jeweils kurz vorträgt. Als ein langjähriger, nicht langjähriger, aber als ein langzeitiger Besucher dieser Regierungsbefragung, weiß ich, daß sich so etwas wie eine eingeschliffene Praxis ergeben hat. Das heißt also, Frau Ministerin hat es völlig richtig gemacht — ebenso wie Herr Minister Schäuble —, und Herr Vizepräsident haben geirrt.
Als langjähriger Besucher dieser Veranstaltungen, Herr Kollege Penner, sollten Sie wissen, daß die Amtsführung des Präsidenten keiner Interpretation bedarf. Ich habe mich im übrigen an den Wortlaut unserer uns selbst gegebenen Regeln gehalten und habe mir erlaubt, die Frau Kollegin, die in dem Geschäft neu ist, darauf hinzuweisen. Ich möchte auch nicht, daß sich diese Usance einbürgert, denn das ist nicht der Sinn der Regierungsbefragung. Aber wir wollen bitte, Frau Kollegin, das nicht weiter vertiefen.
Ich stelle die Frage, ob zu diesem Bereich noch weitere Wortmeldungen sind.
Ich wollte nur die Schuld auf mich nehmen, Herr Präsident und die Frau Ministerin daraus entlassen. Sie haben zu Recht festgestellt, daß ich es war, die mit ihr verhandelt hat, was ich vielleicht nicht gedurft hätte.
Ohne daß wir jetzt vielleicht ein Selbstgespräch führen wollen: Ich finde es sehr angenehm, daß wir eine solche Geschäftsordnungsfrage in aller Ruhe, Freundschaft und mit allem gegenseitigen Verständnis miteinander besprechen, aber wir wollen das auch nicht ausdehnen.
Zur Sache, bitte sehr.
Ich bedanke mich ausdrücklich für den Bericht der Frau Ministerin. Ich denke, so etwas ist nötig, damit wir auch Bescheid wissen, wie es in der Bundestagsverwaltung und in den Bundesbehörden aussieht. Ich denke aber, wir müssen als Gesetzgeber auch darauf achten, daß wir, soweit es möglich ist, auch in die freie Wirtschaft hinein wirken. Darum habe ich eine ganz konkrete Frage, wo Sie das Gleichberechtigungsgesetz erwähnt haben, das Sie immer ankündigen: Beabsichtigen Sie in Ihrem Gleichberechtigungsgesetz auch eine Passage einzuführen, daß Bundesbehörden insbesondere jenen Unternehmen öffentliche Aufträge geben werden, die in ihren Unternehmen speziell Frauenförderung machen, vorausgesetzt Qualität des Angebotes?Vorausgesetzt, das Angebot von Unternehmen ist gleich, und ein Unternehmen macht gute Frauenförderung, das andere macht keine Frauenförderung: Wird in Ihrem Gleichberechtigungsgesetz eine Passage sein, daß dieses frauenfördernde Unternehmen dann mit Aufträgen bevorzugt bedacht wird?Die zweite Frage, Frau Ministerin, bezieht sich auf Ihren Besuch bei der Bundesanstalt für Arbeit, den Sie gestern gemacht haben. Da bin ich ein wenig irritiert, da ich sehr intensiv Ihr Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost gelesen habe und nun erfahre, was Sie verlautbaren lassen. Ich habe das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost so verstanden, daß es die wesentliche Zukunftsaufgabe der Bundesregierung ist, den Aufbau im Osten zu vollziehen. Da haben wir moniert, daß Sie dort die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Gemeinschaftswerk Ost insbesondere auf den sozialen Bereich bezogen haben. Ansonsten steht über Frauen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nichts drin. Nun sagen Sie nach Ihrem Besuch bei der Bundesanstalt für Arbeit, es soll nicht nur auf den sozialen Bereich beschränkt bleiben.Meine konkrete Frage: Wird das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost dann auch so erweitert? Schließlich wird es in alle Lande versetzt, und das, was Sie beabsichtigen mußten, soll auch fixiert werden, damit es umgesetzt werden kann.Das zweite ist: Im Moment sind 39, 1 % der Frauen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die Arbeitslosigkeit liegt bei 55 % im Osten. Sie haben in den Koalitionsvereinbarungen die Quotierung — so nenne ich es mal — gemäß dem Anteil der Frauen an der Zahl der Erwerbslosen für Arbeitsbeschaffungs- und Fortbildungsmaßnahmen vorgesehen. Sie sind dort noch sehr weit davon entfernt. Wird nun, nachdem Sie wohl
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1272 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Dr. Edith Niehuiseine Vereinbarung zwischen Bundesanstalt für Arbeit und Bundesregierung getroffen haben, das Gemeinschaftswerk Ost so verändert, daß diese Quotierung auch dort aufgenommen wird? Ich sehe nur dann die Chance, daß das auch wirklich umgesetzt wird, denn Ihr Arm reicht von Bonn nicht so weit, daß Sie nur durch eine Presseerklärung in die neuen Bundesländer hineinwirken können.Dritte Frage — —
Verzeihung, Frau Kollegin. Ich will hier nicht kleinlich erscheinen. In der Regierungsbefragung gibt es eine Frage und eine Zusatzfrage. Sie haben bereits zwei Fragen gestellt und diese zu einem, was die Länge anbetrifft, bedeutenden Debattenbeitrag ausgeweitet.
Ich bitte um Verständnis, daß jetzt erst mal die Bundesministerin Gelegenheit zu antworten haben muß. Bitte, Frau Bundesministerin.
Ich denke, über das Gleichberechtigungsgesetz werden wir hier dann ausführlich diskutieren, wenn der Gesetzentwurf vorliegt. Die Materialsammlung in unserem Hause ist schon im Gange. Der von Ihnen angeschnittene Punkt ist bisher nicht berücksichtigt.
Ich weiß nicht, ob das ein zentraler Punkt des Gleichberechtigungsgesetzes sein sollte; ich glaube, daß es in der Wirtschaft darauf ankommt, daß die Betriebe selber und freiwillig Frauenförderpläne anbieten. Das geschieht zum Teil auch. Ich glaube, die Bundesbehörden sollten durch Regelungen in ihrem eigenen Umfeld dafür sorgen, daß sie Vorbild für die Wirtschaft sind und dadurch die Wirtschaft heranziehen. Ich sehe in solchen Auftragsbevorzugungen kein geeignetes Mittel, die Frauenförderung besonders voranzubringen. Ich denke, im Detail werden wir darüber noch sprechen.
Zweitens zum Besuch der Bundesanstalt für Arbeit: Die Bundesregierung hat durch das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung mit der Bundesanstalt für Arbeit zur Umsetzung des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost eine Verwaltungsvereinbarung getroffen. Darin ist der Beschluß, der auch in der Koalitionsvereinbarung steht, enthalten, daß Frauen an den AB-Maßnahmen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit beteiligt werden sollen. Insofern wäre mein Besuch bei der Bundesanstalt für Arbeit nicht nötig gewesen, weil das vom Rahmen her fixiert ist.
Nur, weil die von Ihnen genannten Zahlen — 39,1 % Beteiligung der Frauen an den AB-Maßnahmen — auch nach meiner Ansicht nicht befriedigend sind, müssen wir alle Möglichkeiten suchen, um unsere Absicht in die Tat umzusezen.
Hierzu gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit ist die Beeinflussung durch die Arbeitsämter. Die zweite Möglichkeit ist die Beeinflussung dieser Zahlen durch die Aufbaustäbe, die sich in den Kommunen bilden und dieses Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost durchsetzen. Die dritte Möglichkeit ist die Mitwirkung der Bundesregierung.
Um diese Möglichkeiten beizeiten zu nutzen, habe ich zusätzlich diesen Besuch unternommen.
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind für Frauen selbstverständlich nicht auf den sozialen Bereich beschränkt. Ich habe z. B. mit dem Verkehrsminister, dem Kollegen Krause, besprochen, daß man bei Straßenbauprojekten für Verwaltungsaufgaben vorzugsweise Frauen einsetzen sollte. Ich denke, die Öffnung auch für den sozialen Bereich gibt uns eine neue Chance, Frauen bevorzugt in ABM-Arbeitsplätzen zu beschäftigen.
Zu der dritten Frage kam es nicht mehr.
Liebwerte Frau Kollegin, Sie haben keine Zusatzfrage mehr, weil Sie schon zwei Fragen gestellt haben.
Ich darf fragen, ob es zu diesem Komplex weitere Wortmeldungen gibt. — Frau Barbe, Sie haben das Wort.
Ich habe die Frage an die Ministerin: Welche Schlußfolgerung zieht die Bundesregierung aus ihrer Beurteilung der Wirkung von Erziehungsgeld auf Frauen, die dieses Erziehungsgeld sowie Erziehungsurlaub genommen haben und dadurch Nachteile auf dem Arbeitsmarkt erleiden? Das war der Teil A der Frage.
Der Teil B der Frage: Welche Schlußfolgerung zieht die Bundesregierung bzw. Ihr Ministerium daraus, Männer mehr in diese Möglichkeit des Nehmens von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld einzubeziehen, und zwar unter Berücksichtigung des Umstands, daß bei diesem geringen Betrag von 600 DM sehr wenige Männer bereit sind, diesen Erziehungsurlaub zu nehmen?
Frau Ministerin.
Die Bundesregierung geht in diesem Bericht nur darauf ein, welche Schlußfolgerungen sich für Frauen in obersten Bundesbehörden ergeben, wenn sie wegen Kinderbetreuung mehrere Jahre nicht im Berufsleben stehen. Dazu wird gesagt, daß sowohl im Besoldungsrecht als auch für die Einstellung im späteren Berufsleben und den Beförderungsgang Regelungen gefunden sind, die einen solchen Nachteil zumindest in einer beschränkten Zeit nicht haben. Für andere Zweige sind hier keine Aussagen getroffen.Zu Ihrem zweiten Punkt, dem Erziehungsgeld. Ich glaube, das Problem ist weniger, daß die 600 DM für den Mann nicht ausreichend sind, sondern daß im allgemeinen der Verdienst der Väter höher als der Verdienst der Mütter ist. Insofern ist das keine Frage der Höhe des Erziehungsgeldes, sondern eine Frage der Angleichung des Lohnniveaus. Genau hierin sehe
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1273
Bundesministerin Dr. Angela Merkelauch ich ein großes Problem. Da sind wir, glaube ich, einig. Aber das hängt mit einer gewissen Sicht der Gesellschaft auf bestimmte Berufsgruppen zusammen. Es wird eines längeren Weges bedürfen, dies zu verbessern. Meinen Beistand haben Sie. Wir werden dafür gemeinsam kämpfen. Aber das wird seine Zeit brauchen. Das ist keine Frage dieses aktuellen Berichts.
Frau Kollegin Mascher.
Frau Ministerin, Sie haben davon gesprochen, daß Sie auch Regelungen zur Teilzeitarbeit in dieses Gleichstellungsgesetz aufnehmen wollen, und haben den öffentlichen Arbeitgeber als Vorreiter bezeichnet, der einen sinnvollen Beitrag zur Vereinbarung von Beruf und Familie leistet. Gibt es in Ihrem Ministerium Überlegungen, was geschehen kann, damit Teilzeitarbeit nicht zum beruflichen Nachteil von Frauen bei der beruflichen Entwicklung ausschlägt? Derzeit werden Berufsjahre, die in Teilzeitarbeit geleistet werden, ja nur halb angerechnet. Das führt dazu, daß Frauen beim Aufstieg sehr benachteiligt sind.
Die zweite Frage. Heute morgen hat der Präsident der Bundesanstalt auf Fragen angesichts von 55 % Arbeitslosigkeit und nur 39 % Frauen in Arbeitsförderungsmaßnahmen erstaunlicherweise erklärt, das sei sehr zufriedenstellend und gleichwertig. Ich kann mir diese Diskrepanz nicht erklären. Vielleicht haben Sie nach dem gestrigen Besuch eine Erklärung dafür. Ich bitte Sie, etwas auch dazu zu sagen, ob es gezielte Maßnahmen für Frauen bei Fort- und Weiterbildung gibt, z. B. auch Angebote, das in Teilzeit zu realisieren; viele Frauen können wegen des Abbaus von Kinderbetreuungseinrichtungen in den neuen Bundesländern Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen ja nicht wahrnehmen.
Frau Ministerin.
Die Verbesserung von Teilzeitarbeit wird Gegenstand des Gesetzes sein. Der öffentliche Dienst ist mit 18 % bereits der Zweig, der am meisten Teilzeitbeschäftigte hat.
Über die Anrechnungszeiten, die Sie jetzt genannt haben, werden wir im Zusammenhang mit der Diskussion über das Gleichberechtigungsgesetz noch sprechen müssen. Dazu kann und will ich mich heute nicht äußern.
Zu der Stellungnahme des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit: Hier kann ich nur darauf verweisen, daß wir gestern darüber gesprochen haben, daß es unzureichend ist, daß nur 39 % der Frauen in ABMaßnahmen tätig sind. Wir haben auch über die Möglichkeit der Teilzeitarbeit in ABM und bei Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen gesprochen. Hier waren wir uns einig, daß so etwas angeboten werden soll. Und es wird ja auch schon angeboten, gerade bei ABM.
Das Problem ist, daß sich im Falle von „Frauenbetrieben", z. B. in der Leichtindustrie, AB-Maßnahmen für die ganze Belegschaft nicht so leicht anbieten, wie das für Betriebe mit vorwiegend männlichen Arbeitnehmern oft der Fall ist, die dann sozusagen Abbauoder Aufräumungsarbeiten vornehmen. Deshalb können wir dieses Ziel nur mit Hilfe der Kommunen erreichen. Über die Gleichstellungsbeauftragten, die wir in den neuen Bundesländern in allen Kommunen haben, werde ich versuchen, diese Maßnahmen umzusetzen.
Erfreulich ist — das möchte ich an dieser Stelle noch einmal sagen — , daß die Beteiligung von Frauen an Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern genau ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit entspricht. Das ist eine erfreuliche Tatsache und deutet darauf hin, daß die Frauen willig sind, sich in dem wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß zu bewähren und an diesem Prozeß teilzunehmen.
Vizepräsidentin Renate Schmidt Als nächste Wortmeldung liegt mir die von Frau Wolf vor.
Frau Ministerin, Ihre letzte Auskunft — Sie sagten, die Frauen seien zu 35 % an den Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen beteiligt
— zu 55 % — führt zu folgender Frage von mir: Werden sie auch wirklich in den erlernten Berufen weiter- und fortgebildet? Bleiben sie in den Berufen, und wird ihre Qualifikation dort erhöht? Oder sieht das manchmal auch so aus, daß sie auf ganz andere Berufe, auch minderqualifizierte, umgeschult werden? Wie wäre dann das Verhältnis: Wieviel Frauen bleiben in ihrer qualifizierten Ausbildung und werden weitergebildet, und wieviel werden auf Berufe umgeschult, die nur eine mindere Qualifikation erfordern und auch eine Einkommensverringerung zur Folge haben?
Frau Ministerin.
Ich glaube, wir können nicht erwarten, daß die Frauen in ihren Berufen bleiben. Denn wir haben es mit einem deutlichen wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß zu tun, der ganze Beschäftigungsbereiche schrumpfen und andere sich erweitern läßt. Wir haben heute 12 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft, darunter sehr viele Frauen. Wir wissen, daß in der Bundesrepublik ungefähr 2,5 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig sein werden. Das heißt also: Ein nicht unwesentlicher Prozentsatz wird auf Dauer in ganz neue Berufszweige gehen müssen.Also ist die Schlußfolgerung — dasselbe gilt für die Leichtindustrie, weil in den neuen Bundesländern ganze Technisierungswellen nicht mitgemacht wurden — , daß wir die Frauen so qualifizieren müssen, daß sie in zukunftsträchtigen Berufszweigen tätig sind. Das geschieht in demselben Maße, in dem das bei Männern geschieht.Heute ist das Problem, daß nicht in jedem Falle vorausgesagt werden kann, in welcher Region welche Berufe gebraucht werden. Dazu sind vergleichende Analysen mit Partner- oder Vergleichsstädten in der
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1274 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Bundesministerin Dr. Angela MerkelAlt-Bundesrepublik notwendig. Genau über diesen Punkt haben wir gestern auch mit Herrn Franke gesprochen. Das wird von den Arbeitsämtern in den neuen Bundesländern zum Teil auch schon vorgenommen. Ich sehe in dieser Frage keinen Unterschied zwischen der Qualifizierung von Männern und Frauen.
Jetzt hat zur letzten Frage — damit ist die Regierungsbefragung dann zu Ende — Frau Kollegin Höll das Wort.
Frau Ministerin, ich habe eine Frage zu zwei spezifischen Altersgruppen von Frauen, die meines Erachtens von den Veränderungen in der ehemaligen DDR momentan besonders betroffen sind.
Erstens. Was gedenkt die Regierung an konkreten Maßnahmen zu tun, um zu gewährleisten, daß insbesondere Mädchen gleichberechtigt an der Berufsausbildung beteiligt werden, die wahrscheinlich sowieso nicht ausreichend sein wird?
Zweitens. Was gedenkt die Regierung konkret zu tun, damit Frauen jenseits der 40 eine Möglichkeit erhalten, weiter berufstätig zu sein?
Frau Ministerin.
Auch über den Punkt Ausbildungsplätze für Mädchen haben wir gestern gesprochen. Ich sehe auch da bestimmte Entwicklungen mit Sorge. Wir haben die Bestimmungen des arbeitsrechtlichen EGAnpassungsgesetzes, und diese müssen befolgt werden. Wir waren uns mit dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit darüber einig, daß das Arbeitsamt bei seinen Kontakten mit den ausbildenden Betrieben auf die Vermeidung von Benachteiligungen auf Grund des Geschlechts hinweist. Dieser Hinweis scheint mir in den neuen Bundesländern allerdings auch nötig zu sein.
Bei Frauen in höherem Alter — ich sage einmal: 40 ist vielleicht noch unproblematischer als 50 — kommt es vor allen Dingen darauf an, die Bereitschaft für Qualifizierung zu wecken. Ich habe jetzt bei meinen Besuchen in den neuen Bundesländern Gespräche mit Frauen geführt, die z. B. 20 Jahre lang körperliche Arbeit gemacht haben und denen es schwerfällt, sich nun plötzlich in EDV- oder anderen technischen Bereichen zurechtzufinden.
Wir haben außerdem besprochen, daß es in den sogenannten operativen Abteilungen der Arbeitsämter Frauenbeauftragte gibt, die ihre spezifische Aufgabe auch darin sehen, Frauen zu beraten und zu ermuntern, bestimmte Berufe anzunehmen. Mehr kann die Bundesregierung aus meiner Sicht zur Zeit schwerlich tun.
Wir sind damit am Ende der Regierungsbefragung.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 12/351 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten Achim Großmann sind zur schriftlichen Beantwortung vorgesehen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit kommen wir bereits zum zweiten Geschäftsbereich, nämlich dem des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Gerhard Reddemann auf. Er befindet sich meines Wissens nicht im Saal. Damit wird so verfahren, wie es in der Geschäftsordnung vorgesehen ist.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Johannes Singer auf:
Was hat die Bundesregierung bisher veranlaßt, um eine Strafbarkeit der Geldwäsche gesetzlich zu begründen?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Singer, die Bundesregierung hat bereits in der Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates zur Bekämpfung der illegalen Rauschgiftkriminalität und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität einen Vorschlag für eine neue Strafvorschrift gegen Geldwäscherei im vergangenen Jahr dem Bundestag unterbreitet. Eine ergänzte, mit den beteiligten Bundesressorts zwischenzeitlich abgestimmte Fassung soll in das Ausführungsgesetz zu dem Vertragsgesetz zur Wiener Drogenkonvention von 1988 eingestellt werden. Dieses Ausführungsgesetz einschließlich des neuen Straftatbestandes der Geldwäscherei soll jedenfalls noch in diesem Jahr verabschiedet werden.
Unabhängig hiervon hat der Unterausschuß des Rechtsausschusses des Bundesrates, der ja zur Zeit erneut mit dem erwähnten Gesetzentwurf, der im Bundesrat wieder eingebracht worden ist, befaßt ist, vor exakt drei Wochen empfohlen, einen modifizierten Tatbestand der Geldwäscherei in diesen Entwurf aufzunehmen, der in seiner Ausgestaltung weitgehend den Vorschlägen der Bundesregierung entspricht. Damit ist sichergestellt, daß die Pönalisierung der Geldwäscherei auch im Rahmen der Gesetzgebung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität weiter verfolgt wird.
Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, können Sie mir mitteilen, wieviel europäische Staaten inzwischen die Geldwäsche unter Strafe gestellt haben und wieviel Staaten außer der Bundesrepublik Deutschland eine Strafbarkeit bisher noch nicht vorsehen?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das kann ich Ihnen im Augenblick nicht mitteilen. Wir sind im Rahmen unserer Umsetzung der Wiener Drogenkonvention entschlossen, deshalb auch hier im Bundestag den Vorschlag mit einzubringen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1275
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege?
Herr Staatssekretär, trifft mein Eindruck zu, daß sich die Bundesregierung seit der Verkündung des nationalen Drogenbekämpfungsplans im Frühsommer des vergangenen Jahres darauf verlassen hat, daß der Bundesrat in dieser Sache aktiv wird und deshalb selber nichts unternommen hat?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege, dieser Eindruck trifft überhaupt nicht zu. Wir haben in dreifacher Weise sichergestellt, daß eine Behandlung hier im Bundestag und eine Verabschiedung des Gesetzes möglich ist. Daß der Gesetzentwurf im vergangenen Herbst hier im Bundestag nicht mehr verabschiedet werden konnte, hat nicht die Bundesregierung zu vertreten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Meyer.
Herr Staatssekretär, beabsichtigt die Bundesregierung, bei der Einführung der Strafbarkeit der Geldwäscherei auch ausländische Erfahrungen, z. B. in den Vereinigten Staaten von Amerika, zu berücksichtigen und deshalb die Strafbarkeit auch in den Fahrlässigkeitsbereich zu erstrecken?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der Formulierungsvorschlag der Bundesregierung berücksichtigt die ausländischen Erfahrungen in bezug auf die Strafbarkeit der Geldwäscherei. Die Vorstellungen zur Ausgestaltung und zur Erfassung der verschiedenen Straftaten gehen zwischen dem Vorschlag der Bundesregierung, wie wir ihn im Rahmen des Umsetzungsgesetzes der Wiener Drogenkonvention einbringen werden, und dem Vorschlag des Bundesrates allerdings noch im Detail auseinander.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage liegen mir nicht vor.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Die Fragen 5 und 6 des Kollegen Peter Conradi sind zurückgezogen worden.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation. Die Frage 10 des Kollegen Peter Paterna ist zur schriftlichen Beantwortung vorgesehen. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Bezüglich dieses Geschäftsbereichs liegen die Fragen 11 und 12 des Kollegen Siegmar Mosdorf vor. Der Kollege ist nicht im Saal. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Hier liegt die Frage 31 der Kollegin Gabriele Iwersen vor:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die nach dem Gesundheits-Reformgesetz ab 1. Januar 1991 vorgesehene Pflegegeldleistung für die Mehrzahl der pflegenden Angehörigen von Behinderten keine zusätzliche Hilfe von 400 DM, wie versprochen, darstellt, sondern daß lediglich eine Verlagerung der Belastung von den Sozialämtern auf die Krankenkassen stattgefunden hat?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatsskretär Horst Günther zur Verfügung. Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Kollegin Iwersen! Der Bundesregierung ist bekannt, daß über den Umfang der Anrechnung der Geldleistungen der Krankenversicherung nach § 57 des Sozialgesetzbuchs V auf das Pflegegeld nach § 69 des Bundessozialhilfegesetzes in der Praxis zur Zeit unterschiedliche Vorstellungen bestehen und daß dies auch unterschiedlich gehandhabt wird.Die maßgebliche Anrechnungsbestimmung des Bundessozialhilfegesetzes sieht vor, daß Pflegegeld nicht gewährt wird, soweit der Pflegebedürftige gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhält. Der Sozialhilfeträger hat bei der Wertung zweier Leistungen, die als gleichwertig zu betrachten sind, einen Beurteilungsspielraum. Hierbei kommt es in der Praxis zu einer unterschiedlichen Handhabung. Ein Teil der Sozialhilfeträger folgt z. B. der Empfehlung des Deutschen Vereins und rechnet lediglich 50 % der Geldleistungen der Kassen an. Andere rechnen davon abweichende Beträge oder den Gesamtbetrag an. Wieder andere rechnen überhaupt nicht an.Ich denke aber, daß in vielen Fällen, nämlich bei all denen, die bisher ohne die Hilfe der Sozialämter ausgekommen sind oder deren Sozialhilfeträger die Geldleistungen nicht in vollem Umfang anrechnen, eine spürbare Verbesserung eingetreten ist oder eintreten wird.Mir ist bekannt, daß z. B. die Sozialhilfeträger in Baden-Württemberg einheitlich der Empfehlung des Deutschen Vereins folgen. Allerdings ist die Zahl der Empfänger von Krankenkassenpflegegeld, die kein Pflegegeld nach § 69 des Bundessozialhilfegesetzes beziehen oder bei denen eine teilweise oder volle Anrechnung auf das Pflegegeld erfolgt, nicht bekannt und läßt sich auch nicht abschätzen.Gleichwohl sieht auch die Bundesregierung das Problem, das in dieser ungleichen Anrechnung liegt. Ich möchte allerdings mit aller Deutlichkeit darauf hinweisen, daß die Entscheidung im Einzelfall der Sozialhilfeträger trifft, da für den Vollzug des Bundessozialhilfegesetzes verfassungsrechtlich die Behörden in den Ländern zuständig sind.Die Bundesregierung hält die unterschiedliche Handhabung der Anrechnungsbestimmung durch die Sozialhilfeträger für unbefriedigend. Sowohl aus der Interessenlage der Pflegebedürftigen heraus, die von der Anrechnungsregelung des Bundessozialhilfegesetzes betroffen sind, wie auch beim Gesetzesvollzug führt eine unterschiedliche Handhabung dieser Bestimmung natürlich zu Problemen.Wenn eine einheitliche Praxis der Sozialhilfeträger nicht durchgesetzt werden kann, muß geprüft werden, ob eine gesetzliche Klarstellung erreichbar ist. Für die Beurteilung einer derartigen Initiative spielen
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1276 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Parl. Staatssekretär Horst Güntherinsbesondere Präzedenzwirkungen, Gleichbehandlungsgesichtspunkte und Kostenfolgen eine Rolle.Die jetzt bestehende Anrechnungsproblematik unterstreicht auch die Notwendigkeit, möglichst bald auf gesetzgeberischem Wege außerhalb der Sozialhilfe zu einer durchgreifenden Verbesserung der Situation der Pflegebedürftigen zu kommen. Im Zusammenhang damit muß auch die Konkurrenz der Leistungen der neuen Pflegeversicherung zu denen anderer Leistungssysteme, auch der Sozialhilfe, geregelt werden.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Ich möchte mich für diese umfassende Antwort bedanken und fragen, ob ich es richtig verstanden habe, daß Sie im Augenblick eine bundeseinheitliche Regelung nicht anstreben.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Das haben Sie richtig verstanden. Wir streben sie allerdings mit der neuen Pflegeversicherung an. Der Auftrag in der Koalitionsvereinbarung lautet ja, bis zum 30. Juni 1992 ein Gesetz vorzulegen.
Gibt es weitere Zusatzfragen? — Herr Dr. Seifert.
Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie im Zusammenhang mit dem Gesetz, daß Sie ausarbeiten wollen, von Pflegeversicherung sprachen, oder ist es noch offen: Versicherung oder Pflegesicherung?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Das ist meines Erachtens eine Frage des Sprachgebrauchs: Auch eine Pflegesicherung kann eine Versicherung einschließen.
Jetzt werden zu dieser Frage keine weiteren Zusatzfragen gewünscht.
Dann kommt die Frage 32 vom Kollegen Dr. Ilja Seifert:
Was tut die Bundesregierung dafür, daß Bürgerinnen und Bürger im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR, die mit dem Handicap einer Behinderung(en) leben, entsprechend dem Schwerbehindertengesetz der Bundesrepublik Deutschland allen anderen Menschen mit Behinderungen gleichgestellt werden, zumal der Parlamentarische Staatssekretär Seehofer in seiner Antwort vom 11. Dezember 1990 betonte, daß der besondere Kündigungsschutz Schwerbehinderter dabei ohne Änderungen übernommen worden ist (Drucksache 11/8546, S. 26)?
Herr Staatssekretär.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Seifert, auch Schwerbehinderte, die im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR beschäftigt wurden, werden nach dem Schwerbehindertengesetz, das mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 übergeleitet worden ist, geschützt und gefördert.
Danach bedürfen Kündigungen unbefristigter Arbeitsverhältnisse Schwerbehinderter durch Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung der Hauptfürsorgestelle. Das sind Behörden der Länder, die auch im Beitrittsgebiet seit Oktober 1990 errichtet worden sind. Arbeitsverhältnisse, die nicht durch Kündigung beendet werden, also z. B. die automatische Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zu einem bestimmten Endtermin, unterliegen dem besonderen Schutz nicht.
Durch den Einigungsvertrag ist ein besonderer Beendigungstatbestand für Arbeitnehmer geschaffen worden, deren Arbeitsverhältnis zunächst ruht und dann nach Ablauf der Wartefrist endet. Soweit dieser Beendigungstatbestand gegeben ist, greift der besondere Kündigungsschutz nach dem Schwerbehindertengesetz zunächst also nicht ein. Handelt es sich hingegen um unbefristete Arbeitsverhältnisse, die zur Beendigung einer Kündigung bedürfen, gelten grundsätzlich die allgemeinen Regelungen, mithin auch der besondere Kündigungsschutz nach dem Schwerbehindertengesetz.
Zwar stellt sich die Rechtslage auch für Schwerbehinderte anders dar, wenn Kündigungen auf dem besonderen Tatbestand zu Art. 20 Abs. 1 des Einigungsvertrags gestützt werden. Der Bundesminister des Innern hat aber in seinem Rundschreiben vom 6. März 1991 gebeten, auch in diesen Fällen die kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes anzuwenden.
Diese Regelung ist den neuen Bundesländern mitgeteilt worden. Ich will zusammenfassend feststellen: Wenn danach gehandelt wird, gibt es keine unterschiedliche Behandlung der Schwerbehinderten.
Haben Sie nun Zusatzfragen, Herr Kollege Seifert?
Ja. — Wenn ich Sie richtig verstanden habe, bleibt es dabei, daß Warteschleife und „schwerbehindert" heißt, daß man außen vor ist. Gibt es Pläne der Bundesrepublik — wenn ja, wie sehen sie aus? — , diesen Menschen, die es natürlich besonders schwer haben, neue Arbeitsplätze zu finden, Erleichterungen anzubieten, damit sie neue Arbeit finden? Ich frage nicht danach, ob sie irgendwie abgefunden werden können, sondern danach, ob sie neue Arbeitsplätze finden können; denn Arbeit ist mehr als nur Broterwerb.Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Seifert, ich hatte eben schon ausgeführt, daß, wenn die Länder so handeln, wie in dem Rundbrief des Bundesinnenministers vorgeschlagen wird, die Schwerbehinderten in den neuen Bundesländern nicht außen vorbleiben, sondern ebenso behandelt werden wie die in den alten Bundesländern.Gleichwohl ergibt sich bei Schwerbehinderten immer das Erfordernis — so habe ich Sie im wesentlichen verstanden — , nach Maßnahmen, Wegen und Möglichkeiten zu suchen, sie schneller in den Arbeitsprozeß einzugliedern. Dies ist eine ständige Aufgabe, deren Erfüllung die Bundesregierung stets fordert, und zwar durch Appelle an die Unternehmen und mit den Maßnahmen nach dem Schwerbehindertengesetz, wenn die entsprechenden Quoten nicht erfüllt werden. Auch das gilt für die neuen Bundesländer.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1277
Weitere Zusatzfrage?
Diese Bitte des Innenministers ist etwas Schönes, aber ich frage etwas anderes, weil das eben Gesagte etwas Unverbindliches ist. Wie lange — das ist eine Ergänzung zu der eigentlichen Frage — braucht das zuständige Ministerium, um den Betroffenen, die sich beispielsweise an das Ministerium oder den Petitionsausschuß oder wen auch immer wenden, zu antworten? Bis jetzt ist mir bekannt, daß es nur unverbindliche Zwischenbescheide und keine so klare und deutliche Antwort gibt, wie sie hier gegeben wurde, nämlich daß die Menschen im Grunde nicht damit rechnen können, Hilfe von der Bundesregierung zu erhalten.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Seifert, wenn Ihnen Einzelfälle bekannt sind, in denen die Bundesregierung nicht schnell genug oder überhaupt nicht geantwortet hat, bitte ich Sie, diese zu übermitteln. Ich werde mich sofort darum kümmern. Wir sind ständig bemüht, alle Anfragen ordnungsgemäß zu beantworten. Das kann ich für die Bundesregierung erklären. Ich gehe davon aus, daß dies auch in den fünf neuen Bundesländern der Fall sein wird.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Horst Waffenschmidt zur Verfügung.
Die Fragen 18 und 19 des Abgeordneten Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zu den Fragen 20 und 21 des Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, der im Moment nicht im Saal ist. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Wir kommen damit zur Frage 22 des Kollegen Johannes Singer:
Was hat die Bundesregierung bisher zur Umsetzung des nationalen Drogenbekämpfungsplans unternommen?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Singer, ich habe auf Ihre Frage nach dem nationalen Drogenbekämpfungsplan hin einen Zwischenbericht ausarbeiten lassen, der in der Zusammenfassung vier Schreibmaschinenseiten umfaßt. Ich werde ihn gleich übergeben.
Ich will daraus, damit die Öffentlichkeit es erfährt, das Wesentliche vortragen.
Im Bereich der Prävention sind auf Bundesebene zahlreiche Aktivitäten durchgeführt worden. Insbesondere ist hier auf die Arbeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu verweisen, die sich derzeit schwerpunktmäßig auf Multiplikatorenarbeit, so z. B. auf Messen und auf Film und Fernsehprogramme, bezieht.
An den gesetzgeberischen Maßnahmen — das hat der Kollege Göhner eben auch schon angesprochen — wird im Zusammenhang mit der Drogengefahr intensiv gearbeitet. Sie betreffen u. a. Regelungen über die Kontrolle von Chemikalien, die für die unerlaubte Drogenherstellung abgezweigt werden, Regelungen über die Geldwäscherei und die Rahmenbedingungen für die Vergabe von Methadon an Drogenabhängige in ärztlich begründeten Einzelfällen.
Ich möchte darauf verweisen, daß wir im Bereich der Exekutive eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen haben. Beispielhaft will ich hier nennen: Im Bereich des Zolls ist zur Intensivierung der Kontrollen an den Außengrenzen, die verstärkt notwendig werden, eine Personalverstärkung um insgesamt 261 Beamte vorgesehen. Davon entfallen 221 Stellen auf den mittleren Dienst und 40 Stellen auf den gehobenen Dienst. Die Dienstposten des mittleren Dienstes sind inzwischen weitgehend besetzt worden. Um die restliche Besetzung sind wir intensiv bemüht.
Ich erwähne weiter: Zum Zwecke der Rauschgiftdetektion werden neben Rauschgiftspürhunden jetzt verstärkt technische Hilfsmittel eingesetzt. Für die Flughäfen und für die großen Grenzübergänge wurden inzwischen 13 stationäre und fünf mobile Großröntgenanlagen in Betrieb genommen.
Für den Seeverkehr ist die Errichtung einer Containerröntgenanlage in Hamburg vorgesehen. Für das Haushaltsjahr 1991 ist die Beschaffung weiterer Röntgenanlagen vorgesehen, um Rauschgifthandel auf die Spur zu kommen.
Die Oberfinanzdirektionen werden mit Erlaß aufgefordert, auf allen internationalen Flughäfen, soweit noch nicht vorhanden, Überwachungsgruppen einzurichten bzw. zu verstärken. Hierfür wurden insgesamt 106 Planstellen zur Verfügung gestellt.
Für die Verstärkung der Suchtrupps und die Erweiterung der Containergruppen wurden insgesamt 95 Planstellen bereitgestellt. Sie mögen aus diesen Beispielen ersehen, daß wir in umfangreicher Weise die Kontrollmaßnahmen ausgedehnt und weiter aufgebaut haben.
Darüber hinaus wurde der Zollfahndungsdienst im Rauschgiftbereich um insgesamt 60 Beamte verstärkt. Die Einrichtung von weiteren fünf Observationsgruppen ist inzwischen mit Erlaß angeordnet worden.
Auf dem Flughafen Frankfurt am Main ist eine Koordinierungsstelle des Brüsseler Zollrats für den Nachrichtenaustausch im gesamten Luftfrachtbereich eingerichtet worden, an dem sich bisher 18 europäische Staaten beteiligen.
Dies sind einige Schwerpunkte der schon bisher eingeleiteten Maßnahmen. Den zusammengefaßten Zwischenbericht will ich Ihnen gerne gleich überreichen. Sie mögen daraus ersehen, daß die Bundesregierung inzwischen versucht hat, an der Umsetzung intensiv zu arbeiten.
Eine Zusatzfrage.
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1278 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Herr Staatssekretär, trifft dann auch mein Eindruck zu, daß sich die Bundesregierung bisher schwerpunktmäßig auf den repressiven Bereich, also auf die Stellenvermehrungen beim Zoll und bei der Polizei, und weniger auf den Bereich der Aufklärung und Prävention konzentriert hat? Teilen Sie meinen Eindruck, daß Kampagnen gegen den Drogenmißbrauch, die vergleichbar der Anti-AidsKampagne, öffentlich hätten wirksam werden können, bisher nicht zu bemerken sind?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich kann diesen Eindruck nicht unterstreichen und kann Ihrer Feststellung nicht zustimmen. Sie werden aus dem, was ich Ihnen noch mitteilen darf, ersehen, daß wir über die Medien und über weitere Aktionen an der Aufklärung und an der Information intensiv arbeiten. Ich kann Ihnen zusätzlich sagen, daß wir gerade Erfahrungen aus dem internationalen Bereich, den Sie ansprechen, auswerten. Der Kollege Lintner war vor kurzem in den Vereinigten Staaten und hat dazu weitere Beispiele mitgebracht. Wir werden also auch im gesamten Bereich der Prävention intensiv tätig und werden diese Tätigkeit noch weiter verstärken.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem die Bundesregierung in ihren Berichten über die Verurteilungsstatistik in Rauschmittelstrafsachen und die Entwicklung des Drogenmißbrauchs eingeräumt hat, daß der Grundsatz „Hilfe statt Strafe" durch die Novellierung des Betäubungsmittelgesetzes bisher nur unzureichend abgedeckt worden ist, frage ich: Was hat die Bundesregierung hinsichtlich zukünftiger Novellierungen des BtMG vor, um diesem Grundsatz „Hilfe statt Strafe" endlich Rechnung zu tragen?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen gesagt, daß die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen, von denen auch schon der zuständige Kollege aus dem Justizministerium gesprochen hat, angelaufen sind. Ich kann Ihnen hier gerne zusagen, Ihnen einen Zwischenbericht über die jetzt vorgesehenen gesetzgeberischen Maßnahmen zu geben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Meyer.
Herr Staatssekretär, nachdem der Bundestag kürzlich bei der Novellierung des Außenwirtschaftsgesetzes für die Abschöpfung von Verbrechensgewinnen das Bruttoprinzip vorgesehen hat, frage ich Sie: Ist die Bundesregierung bereit, nun auch im Rahmen des Drogenbekämpfungsplans die Konsequenzen daraus zu ziehen, daß die anderen Europaratsstaaten die in diesem Plan vorgesehene Vermögensstrafe als rechtsstaatswidrig ablehnen, und nun künftig rechtsstaatlich einwandfreie Instrumente einzusetzen, bei denen auch Rechtshilfe erwartet werden kann?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Sowohl der Kollege Göhner als auch ich haben eben schon darauf hingewiesen, daß die Maßnahmen, die Sie ansprechen, in Vorbereitung sind. Ich bin gerne bereit, auch Ihnen zum Stand der Vorbereitung eine Information zu geben.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.Wir kommen zu Frage 23 von Frau Kollegin Claire Marienfeld:Wie viele Aussiedler sind bisher den neuen Bundesländern zugewiesen worden ?Herr Staatssekretär.Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Die Antwort lautet wie folgt: Im Einigungsvertrag ist vorgesehen, bis zur Festlegung eines neuen Verteilungsschlüssels durch den Bundesrat den neuen Ländern zusammen schrittweise einen Anteil von bis zu 20 der deutschen Aussiedler zuzuweisen, der dann im Verhältnis der Bevölkerungszahl dieser Länder aufzuteilen ist. Dementsprechend wurde im November vergangenen Jahres begonnen, Frau Kollegin, in Absprache mit den neuen Ländern Aussiedler nach dort zu verteilen.Im Jahre 1990 waren es 259 Personen. Damals lief die Aktion an. In den ersten drei Monaten dieses Jahres konnten auf die neuen Bundesländer bisher insgesamt 2 350 Aussiedler verteilt werden, und zwar im Januar 1991 416 Personen, im Februar 342 Personen und im März 1 592 Personen. Ich kann Ihnen gerne noch die Aufstellung geben, wie sich das auf die neuen Bundesländer verteilt.Mir liegt daran, diese Feststellungen durch folgende weitere zu ergänzen. Wir haben es inzwischen geschafft, daß jedes neue Bundesland eine zentrale Aufnahmestelle hat. Der Bund konnte dabei helfen, daß die Länder sie einrichten. Es hat hier auch im Hinblick auf die Vorbereitung des Personals eine sehr gute Kooperation gegeben. Ich muß hier auch ausdrücklich feststellen, daß sich die neuen Bundesländer dieser Aufgabe intensiv zugewandt haben. Das führt dazu, Frau Kollegin, daß der Anteil der Aussiedler, die jetzt in die neuen Bundesländer verteilt werden können, von Monat zu Monat zunimmt.Um dies in Relation zu der Gesamtzahl der deutschen Aussiedler, die zu uns kommen, zu stellen, möchte ich gern noch erwähnen, daß diese Zahl im Jahre 1991 bisher erheblich geringer ist als die Zahlen, die wir etwa Mitte des Jahres 1990 kannten. Ich nenne Ihnen die Zahlen, auf die dann die Verteilungszahlen in den neuen Bundesländern zu projizieren sind: Im Februar hatten wir 15 253 Aussiedler, im März 16 138 und im April bisher 7 185. Wenn man diese Zahlen mit der Zahl von rund 50 000 Aussiedlern pro Monat etwa Mitte vorigen Jahres vergleicht, dann sieht man, daß das neue Aussiedleraufnahmegesetz, aber auch Maßnahmen, die wir ergriffen haben, um die Attraktivität der heutigen Heimatbereiche für die Menschen zu vergrößern, dazu führten, daß die Zahl der Aussiedler inzwischen zurückgegangen ist und insgesamt ein Beruhigungs- und Verstetigungseffekt eingetreten ist. Im Rahmen dieser Gesamtzahlen wird der Prozentsatz von 20 %, der im Einigungsvertrag vorgesehen ist, sicherlich bald erreicht werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1279
Parl. Staatssekretär Dr. Horst WaffenschmidtWir haben gerade am Freitag der letzten Woche, Frau Kollegin, mit allen Aussiedlerbeauftragten der alten und neuen Bundesländer zusammengesessen. Es hat in einer guten Gemeinsamkeit die Überlegung gegeben, daß die neuen Bundesländer ihren Prozentsatz an Aussiedlern alsbald werden aufnehmen können.
Herr Staatssekretär, es freut mich, daß Sie diese einfache Frage zu einer so umfangreichen Antwort genutzt haben. An und für sich hatten wir hier vereinbart, auf kurze Fragen auch kurze Antworten zu geben.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Schwalbe.
Herr Staatssekretär, mich interessiert die Unterbringung der Aussiedler in den neuen Bundesländern. Sie haben in Ihrer Antwort gesagt, daß vorwiegend zunächst entsprechende Auffanglager eingerichtet wurden. Wie soll die Unterbringung der Aussiedler erfolgen, und dies auch in Anbetracht dessen, daß es in den neuen Bundesländern noch eine beträchtliche Anzahl von Wohnungssuchenden gibt? Ich sehe hier auch im Hinblick auf eine gewisse Ausländerproblematik noch gewisse Konfrontationspunkte, wenn man entsprechenden Wohnraum dafür vorrangig zur Verfügung stellt und sich die eigene Bevölkerung damit angeblich wieder zurückgestellt sieht.
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Frau Präsidentin, gemäß Ihrer guten Anregung will ich das kurz beantworten:
Erstens. Wir haben bei der Aufnahme der deutschen Aussiedler in den neuen Bundesländern bisher nicht irgendeine Form der Konfrontation mit der dort ansässigen Bevölkerung bemerken können. Das Klima ist hier gut.
Zweitens. Im Hinblick auf die Unterbringung nutzen die neuen Bundesländer und ihre Städte, Gemeinden und Kreise vielfältige Möglichkeiten von Liegenschaften, auch solche Liegenschaften, die sie etwa vom Bund übernehmen, und die gerade zur Verfügung gestellten Investitionsmittel. Ich nenne als Beispiel die 5 Milliarden DM Investitionspauschalen für die Kommunen, die auch dazu genutzt werden, solche Liegenschaften schnell herzurichten, damit Aussiedler aufgenommen werden können.
Im übrigen wird das Wohnungsmodernisierungsprogramm in Höhe von 10 Milliarden DM nach den bisherigen Verhandlungen auch noch dafür geöffnet, so daß zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten entstehen und der Engpaß, den Sie befürchten, wahrscheinlich vermieden werden kann.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Dann rufe ich die Frage 24 von Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann auf:
Was gedenkt die Bundesministerin für Gesundheit gegen die jetzige Regelung des BAT-Ost zu tun, wonach den Ärzten der neuen Bundesländer bei der Vergütung nicht die volle Dienstzeit angerechnet wird?
Herr Staatssekretär, bitte.
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Die Antwort auf Ihre Frage möchte ich wie folgt geben: Die Tarifvertragsparteien haben mit dem BAT-Ost die Grundvergütung in den einzelnen Vergütungsgruppen ebenso wie im BAT, wie wir ihn bisher schon kennen, nach Lebensaltersstufen und nicht nach Dienstzeit bemessen. Sie haben allerdings vereinbart, daß bei den vorhandenen Angestellten die erstmalige Zuordnung zu diesen Lebensaltersstufen wie bei einer Neueinstellung vollzogen wird.
Das bedeutet am Beispiel der Ärzte, daß die unter 35jährigen die ihrem Alter entsprechende Lebensaltersstufe erhalten. Bei den älteren Angestellten wird die Differenz zum 35. Lebensjahr zur Hälfte berücksichtigt. Nach dieser ersten Zuordnung im BAT erfolgen dann die weiteren Steigerungen in den Lebensaltersstufen alle zwei Jahre bis zum Erreichen der Endvergütung.
Die so vorgenommene Gleichstellung mit Neueinstellungen ist nach Meinung von Bund, Ländern, Gemeinden und Gewerkschaften, die dort verhandelt haben, folgerichtig, weil der betroffene Personenkreis erstmalig in das neue System der Vergütung nach dem BAT einbezogen wird. Auf Grund der bisher geltenden völlig unterschiedlichen Vergütungssysteme, in denen sich die Bediensteten aufhielten, konnten keine Bewährungs- oder Tätigkeitszeiten vor Inkrafttreten des Tarifvertrags berücksichtigt werden.
Hinsichtlich der Höhe der Vergütung ist sichergestellt, daß sie nach dem BAT-Ost mindestens die bisherige Vergütung erreicht. Es kann also in keinem Fall zu einer Schlechterstellung kommen.
Zusatzfrage? — Nicht. Auch sonst gibt es keine weiteren Zusatzfragen.
Dann rufe ich die Frage 25 von Frau Kollegin Monika Brudlewsky auf:
Welche Schritte hat die Bundesregierung zur Überprüfung und Offenlegung einer eventuellen Verflechtung der Funktion des Ersten Sekretärs des Bezirks Dresden in der Person des jetzigen PDS-Bundestagsabgeordneten Dr. Hans Modrow mit der Staatssicherheit der ehemaligen DDR unternommen, bzw. ist die Bundesregierung bereit, in Zukunft eine derartige Untersuchung einzuleiten?
Herr Staatssekretär.
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich bitte um Zustimmung, daß ich beide Fragen zusammengefaßt beantworten kann.
Dann rufe ich auch noch die Frage 26 der Frau Abgeordneten Monika Brudlewsky auf:Zu welchem Ergebnis hat eine etwaige bereits erfolgte Oberprüfung geführt?Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Die Position des ehemaligen SED-Bezirkssekretärs von Dresden, Dr. Hans Modrow, im Verhältnis zur Staatssicherheit der ehemaligen DDR ist im Rahmen des damals gegebenen Verhältnisses zwischen SED und Ministerium für Staatssicherheit der DDR zu beurteilen.Die Bundesregierung hat mehrfach in der Öffentlichkeit, z. B. bei der Beantwortung von Anfragen aus dem deutschen Bundestag, auf das Verhältnis von
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1280 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Parl. Staatssekretär Dr. Horst WaffenschmidtBezirkssekretären der SED zu Dienststellen des MfS hingewiesen. Die Bundesregierung hat dies z. B. am 2. April 1991 in der Antwort auf die schriftliche Frage des Abgeordneten Otto Hauser vom 20. März 1991 dargelegt. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR war „Schwert und Schild" der Staatspartei SED und arbeitete nach deren Weisungen. Die Bezirksleitung der SED hatte starken Einfluß auf die entsprechenden Stellen des Ministeriums für Staatssicherheit.Im Rahmen dieser Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten sind die einzelnen Verhaltensweisen des ehemaligen SED-Bezirkssekretärs und heutigen PDS-Abgeordneten Dr. Hans Modrow zu bewerten. Dies ist je nach Sachlage Aufgabe der politisch-parlamentarischen Auseinandersetzung oder der unabhängigen Justiz.Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß sich das Präsidium des Deutschen Bundestages nach den hier vereinbarten Regelungen mit dem gesamten Fragenkomplex beschäftigt.
Sie wünschen keine Zusatzfrage. — Eine Zusatzfrage von Frau Braband.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Ersten Sekretäre der ehemaligen SED gleichzeitig auch immer den Bezirkseinsatzleitungen, glaube ich, vorgestanden haben und daß diese Bezirkseinsatzleitungen, auf der bezirklichen Ebene arbeitend, nicht Abteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit waren?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung ist bekannt, Frau Kollegin, daß es einen sehr großen Einfluß der Ersten Sekretäre der SED in den jeweiligen Bezirken auf die Bezirksdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit gab. Es läßt sich an Hand von vielen offenbaren Tatsachen beweisen, daß dieser Einfluß intensiv und in vielen Bereichen sogar sehr intensiv war.
Weitere Zusatzfrage.
Entschuldigung, aber ich betrachte meine Frage nicht als beantwortet. Ich stelle diesen Zusammenhang in keiner Weise in Zweifel — im Gegenteil. Aber das ist eine andere Sache.
Der Vorwurf gegen Herrn Modrow lautet ja, Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung gewesen zu sein. Meine Frage ist, ob der Regierung bekannt ist, daß dies keine Abteilung der Staatssicherheit gewesen ist und damit die Mitglieder dieser Einsatzleitung auch nicht Mitarbeiter der Staatssicherheit waren.
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihrer Feststellung, die Sie im Augenblick hier treffen, aus meiner Kenntnis nicht zustimmen. Sie verlagern das Thema meines Erachtens auf organisatorische Einzelheiten. Bei dieser Fragestellung und bei weiteren Fragestellungen, die uns ständig aus dem Deutschen Bundestag vorgetragen werden, geht es mit Recht, so meine ich, um die starke politische Zusammenarbeit zwischen der Staatspartei SED und dem Ministerium für Staatssicherheit. Hier war eine intensive Verflechtung politischer Art, wie auch immer das im einzelnen organisatorisch gestaltet gewesen sein mag.
Gibt es weitere Zusatzfragen? — Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, darf ich in diesem Zusammenhang fragen, wie Sie, weil es sich um einen Abgeordneten handelt, die damalige Entscheidung der Volkskammer beurteilen, den Abgeordneten Modrow im Rahmen der 144 Abgeordneten in den Bundestag zu entsenden?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Was den politisch-parlamentarischen Bereich angeht, ist zu sagen: Nach den hier vereinbarten Verfahrensweisen ist das Präsidium des Deutschen Bundestages jetzt damit befaßt, sich mit diesem gesamten Fragenkomplex zu beschäftigen. Ich will dem nicht vorgreifen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers des Innern. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Verfügung steht der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Beckmann.
Wir kommen zur Frage 27 des Kollegen Ottmar Schreiner:
Trifft eine Meldung der Saarbrücker Zeitung zu, wonach die Bundesregierung beabsichtigt, die Kohleförderung der Saarbergwerke auf jährlich sieben Millionen Tonnen abzusenken?
Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Schreiner, die Meldung der „Saarbrücker Zeitung" trifft nicht zu. Jedes Unternehmen, auch die Saarbergwerke AG, hat in eigener Verantwortung über den Umfang seiner Förderung zu entscheiden. Der Vorstand der Saarbergwerke hat entsprechend seiner unternehmerischen Verantwortung für die Weiterentwicklung des Förderstandortes Saar ein Modell erarbeitet, das sich auf die Vorteile der kostengünstigen Anlagen bei Reduzierung der Nachteile aus den kostenintensiven Zechen stützt. Dieses Modell sieht eine Absenkung der Förderung auf 8,7 Millionen t vor.
Zusatzfrage, Herr Kollege Schreiner.
Herr Staatssekretär, nachdem die „Saarbrücker Zeitung", die Sie soeben erwähnt haben, heute in einer Fülle von Artikeln darüber berichtete, daß der Bundeswirtschaftsminister angeregt habe, Kostenüberlegungen bezogen auf eine Halbierung der Jahresförderung im Bereich der deutschen Steinkohle anzustellen, was, auf den Bereich der Förderung der Saarbergwerke übertragen,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1281
Ottmar Schreinereine Förderquote von etwa 4 bis 5 Millionen Jahrestonnen bedeuten würde, frage ich, ob diese vom Bundeswirtschaftsminister angeregte Kostenüberlegung mit weitergehenden Überlegungen verbunden ist, die Jahresfördermengen auf dieser Förderhöhe anzuvisieren.Ich frage zudem, ob das Bundeswirtschaftsministerium auch daran gedacht hat, neben den geforderten Kostenüberlegungen Überlegungen über die regionalwirtschaftlichen Auswirkungen einer solchen denkbaren — für mich jedenfalls undenkbaren — Reduzierung anzustellen, und ob von seiten des Bundeswirtschaftsministeriums ebenfalls Überlegungen bezogen auf die Humanauswirkungen angestellt werden. Denn jedermann ist bekannt, daß die Bergbauunternehmen bei einer solchen Reduzierung nicht mehr in der Lage wären, sozial verträglich abzuwikkeln, und daß zum erstenmal in der Geschichte der Saarbergwerke zum Instrument von Massenentlassungen gegriffen werden müßte.Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schreiner, der Bundeswirtschaftsminister hat in dem Pressegespräch, auf das sich auch die Meldungen in der heutigen Ausgabe der „Saarbrücker Zeitung" beziehen, ausdrücklich festgestellt, daß seine Forderung, die Sie soeben auch beziffert haben, keine Vorentscheidung für die zu treffenden kohlepolitischen Entscheidungen darstellen. Ganz im Gegenteil, er beabsichtigt, in Gesprächen mit den Revierländern, also Nordrhein-Westfalen und Saarland, mit den politischen Parteien, mit dem Gesamtverband des Deutschen Steinkohlenbergbaus und den anderen Unternehmensverbänden des Bergbaus und auch der IG Bergbau und Energie einen Rahmen aufzustellen, nach dem man zukünftig verfahren kann.Sie wissen, daß die Bundesregierung — hier: der Bundeswirtschaftsminister — beabsichtigt, im Herbst ein Gesamtkonzept zur Energiepolitik vorzulegen, das auch den Forderungen der Europäischen Gemeinschaft — hier: der Kommission — gerecht wird, das gleichzeitig aber für eine versorgungssichere Energiedarbietung sorgt, die zugleich auch den Anforderungen an Subventionsabbau und Finanzierbarkeit gerecht wird, wobei die regionalen und sozialen Belange durchaus berücksichtigt werden müssen.
Eine weitere Zusatzfrage, aber bitte eine und nicht anderthalb.
0,9. — Herr Staatssekretär, darf ich Sie zudem fragen, ob Sie hier für die Bundesregierung verbindlich erklären können, daß vor 1995 von seiten der Bundesregierung nicht an eine Absenkung der Kohleförderung gedacht ist, zumal der Bundeskanzler in zahlreichen Gesprächen mit den Ministerpräsidenten im Rahmen der Kohlerunde fest zugesagt hat, daß zumindest bis 1995 nicht an eine Reduzierung der Verstromungsmenge von rund 40 Millionen Jahrestonnen gedacht sei?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schreiner, ich denke, wir müssen hier zum einen die Fördermenge und zum anderen die Verstromungsmenge auseinanderhalten. Die Bundesregierung kann z. B. natürlich nicht den Absatz den in der Stahlerzeugung verbrauchten Kokskohle garantieren, weil sie keinen Einfluß darauf hat, in welchem Umfange sich die Stahlproduktion in den deutschen Unternehmen vollziehen wird und in welchem Umfang insofern auch Kokskohle abgenommen wird.
Was die Verstromungsmenge anbetrifft, so will ich nur noch einmal unterstreichen, daß für die Bundesregierung Grundlage ihrer Verhandlungen mit der europäischen Kommission nach wie vor die Vereinbarung ist, die der Bundeskanzler mit den Revierländern im Jahre 1988 getroffen hat, nämlich 40,9 Millionen t Steinkohle in die Verstromung einzubringen. Ich verhehle aber gleichwohl nicht, daß, was allgemein bekannt ist, die Kommission dieser Intention ausgesprochen kritisch gegenübersteht und von uns, von der Bundesregierung, und der deutschen Steinkohlewirtschaft ein Konzept erwartet, das einen deutlich niedrigeren Mengeneinsatz vorsieht.
Zu einer weiteren Zusatzfrage der Kollege Hans-Werner Müller .
Herr Staatssekretär, angesichts der Tatsache, daß die heutige Presseberichterstattung über die Ausführungen Bundesminister Möllemanns, ob sie jetzt richtig zitiert oder kommentiert worden sind oder nicht, die ja, wie die Zusatzfragen zeigen, zu Irritationen geführt haben, welche leider von dem Kollegen noch etwas verstärkt worden sind, darf ich Sie noch einmal ganz konkret fragen, ob die Bundesregierung beabsichtigt, Vorgaben hinsichtlich der Mengenreduzierung im Steinkohlebergbau zu machen, die über die Konzeption des sogenannten Mikat-Konzepts hinausgehen.Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die Vorschläge der Mikat-Kommission geben ja, wie Sie wissen, Herr Kollege Müller, einen sehr weiten Rahmen vor. Die Vorschläge bewegen sich zwischen 35 und 55 Millionen t; nach dem Mehrheitsvotum sollen es 55 Millionen t sein, nach dem Minderheitsvotum 35 Millionen t. Nun diente ja der Wunsch nach dem Optimierungskonzept des deutschen Steinkohlebergbaus eben der Klärung der Frage, bei welcher Fördermenge sich die Sache einpendeln könne. Dieser sogenannte Optimierungsvorschlag ist ja kürzlich — vor wenigen Wochen — vorgelegt worden. Er liegt in seiner Spitze bei rund 58 Millionen t und damit immer noch 3 Millionen t oberhalb des Maximums des Vorschlags der Mikat-Kommission und wird deswegen aus der Sicht des Bundeswirtschaftsministeriums den gestellten Anforderungen nicht gerecht. In den Gesprächen mit den Unternehmen des deutschen Steinkohlenbergbaus und den in diesen Fragen beteiligten und involvierten Ländern, Politikern und Gewerkschaften klären wir zur Zeit ab, inwieweit wir hier eine Annäherung finden können.Ich will gleichzeitig unterstreichen, daß es Ziel der Energiepolitik der Bundesregierung ist, hier wieder zu einem energiepolitischen Konsens zu kommen, den wir dringend benötigen, wenn wir den Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte hinsichtlich der Versorgungssicherheit einerseits und der Regionalverträglichkeit andererseits, aber auch hin-
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1282 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Parl. Staatssekretär Klaus Beckmannsichtlich der Umweltschutzaspekte gerecht werden wollen.
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Elke Ferner.
Inwieweit sind die Zahlen, die der Kollege Schreiner eben schon genannt hat und die heute in der „Saarbrücker Zeitung" standen, mit der Absicht des Bundesministers in Zusammenhang zu bringen, die Subventionen drastisch zurückzufahren, und wie würde sich z. B. eine Senkung der Steinkohleförderung auf 40 Millionen Jahrestonnen im Vergleich zu dem auswirken, was von den Bergwerken — nicht nur von den Saarbergwerken, sondern auch von der Ruhrkohle AG und anderen — an Verstromungsmengen vorgelegt worden ist?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: In der Tat ist es so, daß für den Haushalt 1992 ein Abbau der Kohlesubventionen vorgesehen ist. Wir haben darüber heute morgen im Ausschuß für Wirtschaft beraten. Für 1991 sind die Ziffern bereits festgeschrieben. Hier ist nichts mehr zu ändern.
In welchem Umfang die Subventionen herabgefahren werden können, ist im Augenblick noch nicht festzulegen, weil wir noch nicht genau wissen, zu welchen Kosten die deutschen Anlagen dann fördern werden, welche Anlagen fördern werden und in welchem Ausmaß die deutschen Steinkohleunternehmen in der Lage sein werden, ihre Förderkosten weiterhin zu optimieren. Um das herauszufinden und in einen gesamtenergiepolitischen Rahmen einzupassen, finden die Gespräche statt, von denen ich eben sprach, bei denen wir mit Hilfe aller Beteiligten — übrigens auch der Energieversorgungsunternehmen, die ich bisher noch nicht genannt habe — feststellen müssen, wie wir vor dem Hintergrund eines angestrebten Energiemix alle Primärenergien in die Energieversorgung der erweiterten Bundesrepublik Deutschland einbinden können.
Eines ist jedenfalls sicher: daß wir auch unter Berücksichtigung des europapolitischen Aspekts zu einer Fördermenge kommen müssen, die unter dem jetzigen Optimierungsvorschlag der Steinkohleunternehmen liegt.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen dann zur Frage 28 der Kollegin Jutta Braband:
Hält die Bundesregierung die Aussage des Leiters der Abteilung Energiewirtschaft der PREUSSENELEKTRA auf der Expertenanhörung des hessischen Landtages vom 20./21. Mai 1986 zu Fragen der künftigen Stromversorgung im hessischen Versorgungsgebiet der PREUSSENELEKTRA, „daß der Strom, der mit Wärme gekoppelt erzeugt wird, unschlagbar billig ist", für zutreffend, und hält die Bundesregierung diese Aussage auf die geplanten Atomkraftwerksneubauten durch die Elektrizitätswirtschaft in Stendal und Greifswald für übertragbar?
Herr Staatssekretär.
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Braband, generell gilt, daß eine Verbilligung der Stromerzeugung durch die Kraft-Wärme-Koppelung nur dann möglich ist, wenn die Erlöse aus dem Wärmeverkauf die Transport-, Verteilungs- und Abrechnungskosten sowie die im Kraftwerk durch die Wärmeauskoppelung verursachten Zusatzkosten übersteigen. Angesichts der gegenwärtigen Wettbewerbssituation im Wärmemarkt dürfte eine Verbilligung der Stromversorgung nur bei wenigen Wärmeversorgungen gegeben sein, insbesondere bei denen, die günstige Verhältnisse vorfinden.
Das gilt auch und ganz besonders für die neuen Bundesländer, wo es darum gehen muß, die Vorteile aus der Kraft-Wärme-Koppelung zur Erneuerung der sehr stark sanierungsbedürftigen und vielerorts gegenwärtig nicht wettbewerbsfähigen Fernwärmeversorgungen einzusetzen.
In den alten Bundesländern ist es anders als in der ehemaligen DDR seit langem Praxis der Elektroversorgungsindustrie, den Vorteil aus der Kraft-WärmeKoppelung der Fernwärme zuzurechnen, um deren Position am Wärmemarkt zu stärken. Ich sehe jedoch nicht, wie durch Kraft-Wärme-Koppelungs-Anlagen der Bau großer Kondensationskraftwerke überflüssig gemacht werden könnte. Das läßt sich auch aus dem Kontext der Stellungnahme des von Ihnen zitierten Vertreters der Elektrizitätswirtschaft entnehmen und gilt in ganz besonderen Maße angesichts der Verhältnisse in den neuen Bundesländern.
Zusatzfrage.
Hält es die Bundesregierung in diesem Zusammenhang für geboten, den § 4 Abs. 2 des Energiewirtschaftsgesetzes, das den wirtschaftlichsten Einsatz der Energiearten und die kostengünstigste Energieversorgung vorschreibt, dahin gehend auszulegen, daß gerade in den fünf neuen Bundesländern mit ihrem mehr als doppelt so hohen Fernwärmeanteil wie in Westdeutschland vorrangig Heiz- und Blockheizkraftwerke zu genehmigen sind?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Ich denke, daß die Frage, durch welche Energieerzeugungsanlagen die Energieversorgung in den neuen Bundesländern sichergestellt werden kann, von den zuständigen Energieversorgungsunternehmen bzw. den Kommunen, die sich hierum kümmern, gelöst werden muß. Das ist nicht eine Frage, in der die Bundesregierung Vorschriften zu machen hat. Gleichwohl empfiehlt sie natürlich sowohl den Gebietskörperschaften wie auch den Unternehmen, stets die wirtschaftlichste Lösung zu suchen.
Weitere Zusatzfrage dazu.
Ich bin schon ein bißchen erstaunt über diese Antwort, weil gerade in dem Zusammenhang mit den Stromverträgen, die über die gesamte Energiewirtschaft der ehemaligen DDR geschlossen wurden, den Kommunen durchaus nicht diese Rechte, die Sie ihnen jetzt eben zugesprochen haben, zugestanden worden sind. Wird es da eine Änderung geben?Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Ich habe den Kommunen, Frau Kollegin, ja keine Rechte in diesem Zusammenhang zugeschrieben oder zugestanden,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1283
Parl. Staatssekretär Klaus Beckmannsondern es ging mir darum, daß die Kommunen oder andere Gebietskörperschaften dort wo sie selbst als Energieerzeuger auftreten, natürlich die freie Wahl haben, die entsprechende Energieerzeugungsanlage auszuwählen. Dabei sollten sie sich natürlich nach § 4 des Energiewirtschaftsgesetzes richten, nämlich die wirtschaftlichste Art auszuwählen, wobei natürlich die Frage, was die wirtschaftlichste Energieerzeugungsanlage ist, eine ausgesprochen umstrittene ist. Auch wir streiten uns hier schon seit über 20 Jahren darüber.
Weitere Zusatzfragen liegen dazu nicht vor.
Ich rufe dann die Frage 29 der Kollegin Jutta Braband auf:
Stimmt die Bundesregierung der Einschätzung verschiedener Studien zu , daß die Beschäftigungswirkungen einer auf Energieeinsparung und dezentraler Energiebereitstellung ausgerichteten Energiepolitik deutlich höher anzusetzen sind als die zentralistischer Systeme, und hält die Bundesregierung diese Aussagen auf die geplanten Atomkraftwerksneubauten in Stendal und Greifswald für übertragbar?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, generell ist festzustellen, daß die Aussagefähigkeit von Studien über die Beschäftigungswirkungen einzelner Technologien, Investitionsmaßnahmen oder Instrumente nur begrenzt ist, da die komplexen volkswirtschaftlichen Wirkungszusammenhänge nur teilweise erfaßt werden können. Diese Problematik ist bei der Analyse langfristig wirkender Maßnahmen, wie sie ja gerade für den Energiebereich typisch sind, besonders ausgeprägt. Gerade die langfristig zum Tragen kommenden Anpassungsprozesse und Wechselwirkungen in der Volkswirtschaft lassen sich nicht mit hinreichender Genauigkeit prognostizieren.
Besonders problematisch ist es, wenn Beschäftigungswirkungen die Subventionierung unwirtschaftlicher Investitionen rechtfertigen sollen. In eine solche Betrachtung sind nämlich auch die Beschäftigungswirkungen der Subventionsfinanzierung einzubeziehen, d. h. die Beschäftigungseinbußen, die sich durch den Entzug der Subventionsmittel an anderer Stelle der Volkswirtschaft ergeben. Bei der Einbeziehung dieser Beschäftigungseffekte greifen fast alle Studien zu kurz. Derartige Studien können daher für unsere Energiepolitik nur begrenzt Orientierungen geben.
Die Energiepolitik der Bundesregierung ist an den Zielen einer sicheren, Wirtschaftlichen, umweltfreundlichen und ressourcenschonenden Energieversorgung orientiert. Dabei haben die Energieeinsparungen einen besonders hohen Stellenwert. Wir sind aber nicht der Auffassung, daß zentrale bzw. dezentrale Energiebereitstellung unter energiepolitischen oder beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten sinnvolle Zielgrößen der Energiepolitik sind. Wir sind daher mehr der Auffassung, daß die energie- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen durch eine marktwirtschaftliche Politik, d. h. unternehmerische Eigenverantwortung und staatliche Rahmensetzung, nicht jedoch durch planwirtschaftliche Vorgaben seitens des Staates verwirklicht werden sollten.
Zusatzfrage.
Auch wenn eine Hilfe durch Studien in dieser Hinsicht nach Ihrer Darstellung kaum möglich ist: Ist die Bundesregierung dennoch der Ansicht, daß der in der Präambel des Energiewirtschaftsgesetzes enthaltene Gemeinwohl-bezug dazu verpflichtet, der Beschäftigungssituation und dem überwiegenden Willen der Kommunen nach dezentralen Versorgungsstrukturen — ich meine die Kommunen in den fünf neuen Bundesländern — Rechnung zu tragen?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat ein hohes Interesse daran, daß der öffentliche Versorgungsauftrag erfüllt wird. Sie hat ja auch die entsprechenden Verträge flankiert, die hinsichtlich der Versorgung in den neuen Bundesländern abgeschlossen worden sind. Was sich jetzt im einzelnen entwickelt, werden wir sehen müssen. Die Bundesregierung vermeidet es auch hier, Vorgaben zu machen, an die sich irgendwelche Gebietskörperschaften oder Unternehmen halten müßten. Wir wissen, daß ein Teil der Kommunen zur Zeit versucht, neue Wege zu gehen, die allerdings nicht mit den rechtlichen Rahmenbedingungen übereinstimmen. Es ist ein Prozeß, der sich zur Zeit entwickelt, über den die Bundesregierung aber im Augenblick keine Auskunft geben kann, weil sie selbst nicht involviert ist und nicht Partner ist.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch fragen, wie hoch der prozentuale Anteil der Arbeitsleistungen an der Errichtung eines 1 300 Megawatt-Reaktors westdeutscher Bauart einzuschätzen ist, die durch die Kräfte aus der näheren Umgebung von Stendal und Greifswald — es ist in Rede, dort Atomkraftwerke zu bauen —, also direkt von Menschen, die in dieser Umgebung leben, erbracht werden können.
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, hierüber liegen mir an dieser Stelle keine Zahlen vor. Falls sie vorhanden sind, bin ich gerne bereit, Ihnen diese schriftlich nachzuliefern.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.Wir kommen zur Frage 30. Sie ist zur schriftlichen Beantwortung vorgesehen. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Willy Wimmer zur Verfügung.
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1284 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Vizepräsidentin Renate SchmidtDie Frage 33 des Kollegen Ortwin Lowack ist zur schriftlichen Beantwortung vorgesehen. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Wir kommen damit zur Frage 34 des Kollegen Dr. Eckhart Pick:Kann die Bundesregierung bestätigen, daß 24 Piloten u. a. des Marinegeschwaders 1 im Verdacht stehen, Düsenjets der Bundeswehr zum Transport von Lachs und Schnaps in die Bundesrepublik Deutschland bzw. nach Norwegen vielfach zweckentfremdet genutzt und damit gegen Zoll-und Strafvorschriften verstoßen zu haben?Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege, es ist richtig, daß deutsche Zollbehörden gegen Piloten der Bundesluftwaffe und der Marine wegen des Verdachts der Abgabenhinterziehung ermitteln. Es sind uns 21 Fälle bekannt.
Es ist auch zutreffend, daß diesen Ermittlungen der Verdacht zugrunde liegt, daß Luftfahrzeuge der Bundeswehr in diesen Fällen verbotenerweise für den Transport von Alkoholika nach Norwegen und von Lachs aus Norwegen benutzt worden sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Pick.
In Anbetracht dieser sehr intensiven Benutzung von Bundeswehrgerät — man könnte fast von einer Luftbrücke von und nach Norwegen sprechen — : Ist es der Bundesregierung oder den Vorgesetzten im Laufe der Jahre nicht aufgefallen, daß diese Art von Transport zum Nachteil der Bundesrepublik stattfindet?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nach dem, was uns bisher bekannt geworden ist — Sie wissen, daß die Ermittlungen auch disziplinarrechtlicher Art laufen — , sind die Mengen, die hier transportiert worden sind, so dimensioniert, daß bestimmte Tatbestände in Anbetracht der Mengen bereits ausfallen. Daher kann ich mir auch nur spekulativ eine Aussage zu Ihrer Überlegung nicht erlauben.
Weitere Zusatzfragen, Herr Kollege Pick?
In Anbetracht der in der Öffentlichkeit, in der Presse genannten Mengen — u. a. ist von 3 500 kg Lachs in geräuchertem und anderem Zustand die Rede — frage ich mich: Was ist mit diesem Lachs passiert? Er hätte ja zur Verbesserung der Verpflegung dienen können. Das ist zumindest denkbar.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, im Prinzip ja. So lautet die allgemein übliche Antwort auf eine solche Frage. Aber da es sich hier um einen Tatbestand handelt, der Gegenstand von staatsanwaltschaftlichen und sonstigen Ermittlungen ist oder sein könnte, werden Sie mir nachsehen, daß ich dazu keine weiteren Aussagen mache.
Gibt es Zusatzfragen? — Herr Kollege Meyer.
Herr Staatssekretär, treffen Informationen aus gelegentlich gut informierten Kreisen zu, daß die Bundesregierung erwägt, gutachtlich prüfen zu lassen, ob die Soldaten, die sich so tatkräftig selbst versorgt haben, nun ihren Kantinenzuschuß gestrichen bekommen sollten?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir haben leider keinen Zugang zu den von Ihnen angesprochenen normalerweise gut unterrichteten Kreisen.
Weitere Zusatzfragen zur Frage 34 liegen nicht vor.
Wir kommen dann zur Frage 35 des Kollegen Pick:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Rechtslage, falls die zuständigen Strafgerichte die Einziehung der Düsenjets als Corpora delicti verfügen würden, und wäre damit der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr gefährdet?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das gibt mir eine gute Gelegenheit, auf eine Bedeutung einer Bestimmung unseres Strafgesetzbuchs aufmerksam zu machen. Eine Einziehung der von Ihnen genannten Düsenjets als Tatmittel ist nicht zu befürchten. Für Gegenstände, die zur Begehung oder Vorbereitung der Tat gebraucht worden sind und die, wie die hier zitierten Düsenjets, dem Täter oder Teilnehmer nicht gehören, käme, da hier die Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 StGB nicht vorliegen, nur eine Einziehung nach § 74 a des Strafgesetzbuchs in Betracht. Die Einziehung wäre also nur dann möglich, wenn derjenige, dem sie gehören, bzw. hier derjenige, der als vertretungsberechtigtes Organ der Bundesrepublik Deutschland gehandelt hat — ich verweise auf § 75 Nr. 1 des Strafgesetzbuchs — wenigstens leichtfertig dazu beigetragen hätte, daß die Flugzeuge Mittel der Tat oder ihrer Vorbereitung gewesen sind.
Diese Voraussetzung ist bei dem vertretungsberechtigten Organ der Bundesrepublik Deutschland, also der Eigentümerin der Flugzeuge, hier: dem Bundesminister der Verteidigung, erkennbar nicht gegeben.
Im übrigen wird die Einziehung ohnehin nicht angeordnet, wenn sie zur Bedeutung der begangenen Tat und zum Vorwurf, der den von der Einziehung betroffenen Dritten treffen könnte, außer Verhältnis stände. Ich verweise insoweit auf den § 74 b Abs. 1 des Strafgesetzbuchs.
Zusatzfrage, Herr Kollege Pick.
Hat die Bundesregierung auch geprüft, ob hier der Tatbestand des § 74 Abs. 2 Nr. 2 StGB, den Sie, Herr Staatssekretär, ja erwähnt haben, eventuell anzuwenden wäre, wonach die Einziehung nur zulässig ist, wenn „die Gegenstände nach ihrer Art und den Umständen die Allgemeinheit gefährden oder die Gefahr besteht, daß sie der Begehung rechtswidriger Taten dienen werden" — was also eine Prognose ist —?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991 1285
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Kampfflugzeuge und die Flugzeuge und die Hubschrauber der Bundeswehr dienen dem verfassungsmäßigen Auftrag. Schon daraus ergibt sich, wie ich schon in der Antwort auf Ihre Frage ausgeführt habe, daß der hier herangezogene § 74 in der von Ihnen genannten Konfiguration außer Betracht bleibt.
Weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Pick.
Ist für die Zukunft gewährleistet, daß die entsprechenden Fluggeräte nur noch dem Zweck, für den sie eigentlich vorgesehen sind, dienen, und sind entsprechende Kontrollen oder andere Möglichkeiten hier schon angeordnet?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe schon in der Antwort auf Ihre erste Frage darauf aufmerksam gemacht, daß wir hier auch disziplinar prüfen, was zu tun ist. Ich glaube, von allen. die diese Flugzeuge und Hubschrauber und ähnliche Geräte bedienen, müssen wir erwarten, daß sie diese Gerätschaften nur im Rahmen des gesetzlich vorgegebenen Auftrags nutzen. Alles andere müßte disziplinar und sonstwie geahndet werden. Wir haben es hier mit einem Sachverhalt zu tun, der ich sage einmal: unangenehm ist.
Wortmeldungen zu weiteren Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Fragen 36 und 37 der Kollegin Antje-Marie Steen und 38 und 39 der Kollegin Dr. Rose Götte werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Verteidigung — Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär! — und am Ende der Fragestunde für heute angekommen. Die noch ausstehenden für heute vorgesehenen Geschäftsbereiche des Bundesministers für Verkehr und des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit werden mit den für morgen vorgesehenen übrigen Bereichen aufgerufen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen des vom Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen für die nächsten Jahre dargestellten Finanzbedarfs für die neuen Bundesländer im Zusammenhang mit den von der Bundesregierung geplanten Steuerabschaffungen und Steuersenkungen
Die Fraktion der SPD hat eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Tagen hat CDU-Ministerpräsident Biedenkopf erklärt, der Finanzbedarf der neuen Bundesländer sei so groß, daß die Finanzhilfe von rund 100 Milliarden DM nicht nur in diesem Jahr, sondern auch bis zum Jahr 2000 — Jahr für Jahr, immer wieder erneut — geleistet werden müsse. Vor diesem Hintergrund schloß er weitere drastische Steuererhöhungen nicht aus.Über diese beunruhigenden Aussagen des sächsischen Ministerpräsidenten muß die Bundesregierung dringend Klarheit schaffen. Die Menschen in den neuen wie in den alten Bundesländern haben Anspruch darauf, daß die Bundesregierung drei Fragen beantwortet:Erstens. Wie beurteilt die Bundesregierung den von Ministerpräsident Biedenkopf angemeldeten Finanzbedarf?Zweitens. Wird die von der Bundesregierung für 1993 beschlossene Mehrwertsteueranhebung 1, 2 oder 3 Prozentpunkte betragen?Drittens. Plant die Bundesregierung weitere Steuererhöhungen — zusätzlich zu dem bereits beschlossenen größten Steuer- und Abgabenpaket in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland?Zu den Aussagen des CDU-Ministerpräsidenten Biedenkopf stelle ich fest: Die neuen Länder und Gemeinden brauchen eine klare und verläßliche finanzpolitische Perspektive. Wir warnen aber davor, jetzt schon wieder von neuen Steuererhöhungen zu reden.
Wir haben doch gerade an einem Hearing teilgenommen, in dem die Fachleute Ihnen gesagt haben, daß Sie längst hätten einsparen und umschichten sollen, meine Damen und Herren von der CDU, so z. B. beim Verteidigungshaushalt,
beim Jäger 90; Herr Uldall, Sie geben mir das Stichwort.
Sie lachen heute. Aber Sie haben auch bei Wackersdorf gelacht, Sie haben beim Schnellen Brüter gelacht. Beide Projekte haben Sie eingestampft, und beim Jäger 90 werden Sie es genauso tun.
Wir fordern Sie auf: Lassen Sie die Finger von Ihrem Plan, die Vermögensteuer und die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen! Es kann doch nicht sein, daß Sie in den Reihen der CDU — siehe Biedenkopf — schon wieder über neue Steuererhöhungen diskutieren und daß die Bundesregierung trotzdem stur an ihrer Koalitionvereinbarung festhält, zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Steuern für Vermögensmillionäre und Großunternehmen zu beseitigen. Es kann doch nicht sein, daß durch die Abschaffung der Vermögensteuer 41 Vermögensmillionäre um durchschnittlich 3 Millionen DM im Jahr entlastet werden, jeder für sich allein. Um dieses Steuergeschenk für einen einzigen dieser Reichen zu bezahlen, müssen 10 000 Autofah-
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1286 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Ingrid Matthäus-Maierrer beim Tanken Jahr für Jahr 25 Pfennig mehr Mineralölsteuer pro Liter zahlen. Nein, hier sieht jeder: Ihre Steuerpolitik ist ein klarer Verstoß gegen die soziale Gerechtigkeit. Die Masse der Menschen muß zahlen, und die Großen werden entlastet. Das werden wir auf keinen Fall mitmachen, meine Damen und Herren!
Sie haben nun kalte Füße gekriegt. Mir wurde gerade auf den Tisch gelegt — Überschrift — , die FDP könne möglicherweise auf die Abschaffung der privaten Vermögensteuer verzichten. Die Arbeitnehmervertreter in der CDU sagen, auch sie wollten die Abschaffung dieser Steuer nicht. Und Herr Faltlhauser sagt, auch die CDU habe das eh nicht gewollt. Keiner will es gewesen sein, der die Vermögensteuerabschaffung gefordert hat, obwohl sie doch in Ihrer Koalitionsvereinbarung steht. Das Ganze kommt mir so vor, als ob Sie bei der Abschaffung der Vermögensteuer nach der Manier eines typischen miesen Vaterschaftsprozesses verfahren: Keiner will es gewesen sein. — Wenn es aber keiner gewesen sein will, dann fordern wir Sie auf: Lassen Sie endlich von Ihrem unsozialen Plan ab, die Gewerbekapitalsteuer und die Vermögensteuer abzuschaffen, meine Damen und Herren!
Wir sind zu einer vernünftigen, aufkommensneutralen Unternehmensteuerreform bereit, aber nicht zu solchen unsinnigen Steuersenkungen.Die Abschaffung der Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer würde dem Staat notwendige Finanzmittel in Höhe von 9 Milliarden DM entziehen. Sie wäre ein schwerwiegender Eingriff in die Finanzen von Ländern und Gemeinden. Allein das Land Nordrhein-Westfalen würde über die Vermögensteuerabschaffung 1,8 Milliarden DM verlieren. Damit könnten 22 500 Lehrer nicht mehr bezahlt werden. Entsprechende Zahlen gelten auch für das Land Rheinland-Pfalz.
Dadurch würden die kleinen Leute gleich zweimal zur Kasse gebeten: auf der einen Seite durch geringere öffentliche Leistungen der Länder und Gemeinden, weil die natürlich weniger Geld für Kindergärten und Sportvereine zur Verfügung haben, und auf der anderen Seite durch die Erhöhung der Mineralölsteuer, der Lohnsteuer, der Einkommensteuer, der Versicherungsteuer, der Telefonsteuer, der Tabaksteuer — übrigens alles Steueranhebungen, die Sie den Menschen vor der Wahl wohlweislich verschwiegen haben.Deswegen fordern wir Sie auf: Lassen Sie davon ab! Sie können sicher sein, mit uns wird es das nicht geben. Ich appelliere mit Blick auf die Arbeitsgruppen an Bundeskanzler Kohl: Verzichten Sie auf die von Ihnen geplante Abschaffung von Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer! Dann sind wir ein Stück weiter, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Schulhoff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Matthäus-Maier, Sie bleiben sich immer treu.
Sie bleiben immer bei Ihrem alten Strickmuster, ein Horrorgemälde zu malen und darüber hinwegzutäuschen, was Sie in der Vergangenheit gemacht haben.Aber ich muß Ihnen, ich muß der Sozialdemokratie in einem Punkt recht geben: Wären wir Ihnen im vorigen Jahr gefolgt, hätten wir die Probleme heute in der Tat nicht; denn wir hätten gar keine Wiedervereinigung.
Lafontaine wollte sie gar nicht. Sie haben alles getan — —
— Ja, darüber wollen Sie jetzt hinweggehen. — Sie haben das Klima so vorbereitet, daß heute in der Tat große Schwierigkeiten vorliegen.
Sie gehen diesen Weg auch konsequent weiter. Wenn nicht Altbundeskanzler Brandt gewesen wäre, wäre die SPD noch viel stärker ins Schlittern geraten.Aber heute machen Sie das etwas netter, viel diffiziler. Heute gehen Sie mit einer Doppelstrategie vor: Sie schicken Ihre Hilfstruppen nach drüben, die Demonstrationen initiieren, wie es heute noch Ihr Chefideologe und der größte Miesmacher der Nation tut. Herr Steinkühler wird ja drüben wieder auftreten und die Massen mobilisieren. Ich weiß nur nicht, mit welcher wirtschaftlichen Kompetenz der Mann den Menschen drüben etwas nahebringen will; denn er hat hier ja eine „sehr gute" Vergangenheit vorzuweisen: Er war einer derjenigen, die das größte deutsche Wohnungsunternehmen mit in den Bankrott getrieben hat. 10 Milliarden DM Steuergelder und Gelder deutscher Arbeitnehmer wurden in den Sand gesetzt.
Ich weiß nicht, was der Mann den Arbeitnehmern drüben überhaupt noch sagen soll.Aber zum Glück gibt es ja auch noch andere Stimmen — das versöhnt uns dann auch etwas mit den Sozialdemokraten — , z. B. die von Herr Rappe. Damit sind wir bei unserem Thema,
liebe Frau Matthäus-Maier: Miesmacherei. Herr Rappe, unser Kollege, sagt, noch so schöne Demonstrationen würden uns nicht weiterhelfen. Es gehe derzeit um anderes. Nachdem die Bundesregierung genügend Geld für eine Wende in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt in Ostdeutschland zur Verfügung gestellt habe, solle man damit aufhören.
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Wolfgang SchulhoffEs gibt noch weitere Stimmen dieser Art. Eine ist die des Ministerpräsidenten von Brandenburg, Herrn Stolpe, der ja nicht nachläßt, den Bundeskanzler zu loben. Er ist einer der wenigen Sozialdemokraten, der wirklich einsieht, was richtig ist.
Er riet, mit dem Spiel mit dem Feuer aufzuhören. Er riet den Gewerkschaften: Ich warne vor Verhetzung und Demagogie; die Menschen hier sind noch nicht geübt im Umgang mit dem Streik- und Demonstrationsrecht.Ich erwarte an sich von den Sozialdemokraten hier, daß sie sich einmal distanzieren. Wenn Sie schon Gemeinsamkeiten vorschlagen, dann handeln Sie so, wie Sie sprechen, damit wir auch einen Schritt weiterkommen. Hier geht es ja um Menschen.
— Entschuldigen Sie bitte, das müssen gerade Sie sagen, wo Sie noch in dieser Woche über den Standort Ihrer Partei nachzudenken haben.Was wir brauchen, sind keine Miesmacher. Vielmehr brauchen wir in dieser unglaublich schwierigen Phase, die kein Mensch verkennen will, Mutmacher.Die steuerpolitischen Vorschläge der SPD in der Vergangenheit zeichnen sich doch durch Irrtümer und Fehleinschätzungen aus. Frau Matthäus-Maier, die ganze Steuerreform haben Sie doch damit begleitet, daß Sie Horrorgemälde an die Wand gemalt haben: Die Gemeinden und die anderen Körperschaften würden ausbluten. Tatsächlich hat sich unsere Philosophie bewahrheitet: niedrigere Steuern, höhere Steuereinnahmen. Ganz einfach. Die Menschen wissen mit ihrem selbst verdienten Geld immer besser umzugehen als der Staat.Diese Philosophie haben wir in der Vergangenheit vertreten, und wir werden sie auch weiterhin vertreten und entsprechend handeln. Diese Philosophie werden wir auch im Interesse der Bürger in den neuen Ländern weiter konsequent vertreten. Wir lassen uns durch noch so viele Horrorgemälde, durch noch soviel Demagogie nicht von dem richtigen finanzpolitischen Weg abbringen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Werner Schulz.
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schulhoff, mich hätte viel mehr Ihre Stellungnahme zu dem wirklich überraschenden Gutachten Ihres Kollegen Biedenkopf interessiert als Ihre schwungvolle Rede.
Damit ist der Aufschwung nicht in Gang zu bringen.Optimismus wird allenthalben in den neuen Bundesländern gebraucht und erwartet. Doch ebenso wichtig und unverzichtbar für die Stärkung der Kräfte ist die schonungslose Offenlegung der Tatsachen, der Wahrheit an sich.Doch unbeirrt hält die Regierung daran fest, daß Ostdeutschland in absehbarer Zeit eine blühende Region sein wird. Auf Grund der erst jetzt in vollem Umfang erkannten Erblast und speziell des Umfangs dieser Erblast der so völlig unerwartet zusammengebrochenen Ostmärkte sei man allerdings ein bißchen auf Zeitverzug angelegt, bis die Initialzündung für den Aufschwung zustande kommt und zu wirken beginnt. In zwei, drei, vier, vielleicht auch fünf oder sechs Jahren — der Kanzler erweitert diese Zahl ja ständig nach oben; in Erfurt erst unlängst gehört — sei dann auch die soziale Einheit, die Einheit der Lebensverhältnisse, vollzogen. Aber so einfach scheint diese Rechnung nicht aufzugehen. Das zeigt zumindest Ihr Kollege Biedenkopf auf. Die Wahrheit kommt also scheibchenweise ans Licht.
Getäuscht sind oder waren offenbar alle die Bürger im Osten, die sich eine kurze Zeit in der Illusion wiegen durften, mit der D-Mark käme auch bald der in der alten Bundesrepublik herrschende Wohlstand in die Ex-DDR.
— Natürlich!
— Vielleicht haben Sie es noch nicht. Ich habe es. Ihre Äußerung zeigt, daß Sie es offenbar nicht gelesen haben.Die Bürger im Westen, die nur zu gern geglaubt haben, die deutsche Einheit ließe sich schmerzlos und ohne Einschnitte in ihren Besitzstand aus der Portokasse finanzieren — —
— Ja, auch das.Unklar ist, wen die Regierung getäuscht hat; die Bürger im Osten, die Bürger im Westen oder sich selbst. Es mag dahin gestellt bleiben. Tatsache ist, daß die Täuschung mit jedem Tag offenkundiger in sich zusammenfällt und daß die auf dieser Täuschung basierenden Absichten der Regierung, in den nächsten Jahren die Steuern für wohlhabende Unternehmer zu senken, hinfällig, ja absurd und dringend revisionsbedürftig sind.
Die vom Institut für Wirtschaft und Gesellschaft vorgelegte Studie über die wirtschaftliche Lage und dieAussichten Ostdeutschlands belegt das anschaulich.
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1288 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Werner Schulz
Danach werden auch bei größten Anstrengungen der ostdeutschen Bevölkerung und höchstmöglichen Zuwachsraten die neuen Länder noch viele Jahre am finanziellen Tropf der alten Bundesrepublik hängen. Wir haben wenig Hoffnung, daß die Grundaussagen dieser Studie zu pessimistisch ausgefallen sein könnten. Nein, wir müssen davon ausgehen, daß der Produktivitätsabstand zwischen Ost- und Westdeutschland enorm ist und daß der Aufschwung Ost in Kürze nicht zu haben ist. Der Weg aus der Krise ist offenbar ebenso lang wie der Weg in die Krise.Die Konsequenz: Bis zum Jahr 2000 und darüber hinaus werden Einkommentransfers in der Größenordnung von jährlich 100 Milliarden DM und mehr von West- nach Ostdeutschland erforderlich sein, um ein Ausbluten Ostdeutschlands zu verhindern und den Wohlstandsabstand in einigermaßen erträglichen Grenzen zu halten. Das bedeutet, daß die westdeutschen Bürger noch viel tiefer und länger in die Tasche greifen müssen, als dies die verantwortlichen Politiker ihnen gegenüber momentan zugeben. Die angebliche Einmaligkeit der finanziellen Kraftanstrengung, von der der Bundeskanzler spricht, wird auf lange Sicht zur Dauerleistung. Die eigentlich befristete Anhebung der Lohn- und Einkommensteuer muß im Prinzip bestehen bleiben. Wer anders rechnet, macht sich und anderen etwas vor.Auf diese Anforderungen muß sich die Witschafts- und Finanz-, die Sozial- und Haushaltspolitik für die kommenden Jahre einstellen. Die von der Bundesregierung vorgelegte Finanzplanung — dies sei hier schon vermerkt — wird diesen Herausforderungen nicht gerecht.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Gerhard Schüßler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Äußerungen des sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf sind für sich genommen eine Aktuelle Stunde nicht wert.
Sowohl die Äußerungen des Ministerpräsidenten als auch die Studie des GWI reihen sich in die Vielzahl von Gutachten und Prognosen über den Finanzbedarf der neuen Länder in den nächsten Jahren ein. Über Spekulationen können wir heute nicht hinaus. Im übrigen wird sich die FDP daran nicht beteiligen.Niemand ist in der Lage, den Finanzbedarf bis zum Jahr 2000 auch nur annähernd konkret abzuschätzen.
Eine seriöse Schätzung ist deswegen so schwierig,weil der Finanzbedarf der neuen Länder und Gemeinden davon abhängt, wie schnell und in welchemUmfang der wirtschaftliche Aufschwung kommt, wie die in der Summe gewaltigen Fördermaßnahmen greifen, wie also Wachstum und Beschäftigung und demgemäß auch die Steuereinnahmen in den neuen Ländern sich entwickeln werden.Ohne privates Kapital und ohne Unternehmensinvestitionen können und werden wir es nicht schaffen, die Lebensverhältnisse in West und Ost einander anzugleichen. Nur darum kann und muß es doch gehen: Wie schaffen wir die Herstellung einheitlicher Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse?Damit ist klar, daß die Frage nach den Kosten, nach dem Finanzbedarf der öffentlichen Hände, jetzt die falsche Frage ist. Gestellt werden muß die Frage nach dem besten Weg und nach dem besten Konzept für den Aufschwung Ost.
Angst- und Panikmache — wie Sie das zu tun pflegen, meine Damen und Herren von der SPD — sind genauso verfehlt wie das Feilschen darüber, welche öffentlichen Mittel von West nach Ost fließen müssen, ob es jetzt erst einmal reicht oder ob und wann noch einmal zugelegt werden muß.
Die Aktualität bekommt diese Debatte offensichtlich durch die bevorstehende Landtagswahl in Rheinland-Pfalz. Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD — das zeigt der Beitrag von Matthäus-Maier —, geht es doch offensichtlich nicht darum, mit der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde die Sorgen und Nöte der Menschen in den neuen Bundesländern aufzugreifen. Diese Debatte hätten Sie auch dann auf die Tagesordnung setzen lassen, wenn es den Aufhänger der Äußerungen von Herrn Biedenkopf nicht gegeben hätte.
— Ich bin ja dabei. — Ihnen geht es doch nur darum, die von Ihnen künstlich aufgezäumte Diskussion über die künftige Unternehmensteuerreform weiterzukochen.
Gemessen an den vorliegenden Steuergesetzentwürfen fehlt es insoweit an jeder Aktualität.
Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer in den alten Bundesländern steht derzeit nicht konkret zur Entscheidung an. Warten Sie doch erst einmal ab, was die Koalition und die Bundesregierung hierzu zu gegebener Zeit vorlegen werden.
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Gerhard SchüßlerFür die Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen gibt es noch viel Spielraum, was die Termine und auch die Inhalte betrifft. Warten Sie also erst einmal ab, bevor Sie sich hier in Spekulationen über ungelegte Eier ergehen.
Was jetzt ansteht, ist der Verzicht auf die Gewerbekapitalsteuer und die Vermögensteuer in den neuen Bundesländern. Nennenswerte Steuerausfälle sind dabei nicht festzustellen. Wir wissen alle, wie schlecht die Substanz in den neuen Bundesländern ist. Wollen Sie denn wirklich, daß ein Unternehmen, das jetzt mit Verlust in den neuen Bundesländern startet, mit Substanzsteuern — unabhängig von jeglichem Gewinn — belastet wird? Wollen Sie die noch nicht funktionierende Steuerverwaltung mit der völlig unergiebigen Feststellung von Einheitswerten belasten, anstatt deren Arbeit auf die Steuern zu konzentrieren, die wirklich etwas bringen? Den neuen Ländern und Gemeinden gingen Steuereinnahmen verloren, wenn wir nicht auf die Einführung der Substanzsteuern verzichten würden. Wir dürfen keine Wachstumshemmnisse aufbauen, weder in den neuen noch in den alten Bundesländern.Die FDP hält die Unternehmensteuerreform unverändert für ein vordringliches politisches Ziel.
Die Argumente — Wettbewerb der Steuersysteme international und vor allem im EG-Binnenmarkt, Attraktivität des Produktions- und Investitionsstandorts Bundesrepublik Deutschland, Förderung von privatwirtschaftlichem Risiko, von Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft — sind allseits bekannt.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Schluß: Mit Neid- und Verteilungspolitik lassen sich keine neuen Arbeitsplätze schaffen. Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer mit einem angemessenen Ausgleich für die Gemeinden und die Beseitigung insbesondere der betrieblichen Vermögensteuer werden die wirtschaftliche Dynamik beleben und letztlich zu höheren Steuereinnahmen führen.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Plan- und Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung im Jahrhundertprozeß der Überleitung der früheren DDR auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen des vereinigten Deutschlands und ihre furchtbaren Folgen werden allmählich voll sichtbar: heute bereits drei Millionen Arbeitslose, eine Million statistisch erfaßte und über zwei Millionen Kurzarbeiter, also verdeckte Arbeitslose. Und der große Kündigungstermin 30. Juni steht noch bevor!Die Bundesregierung läßt diese Entwicklung weiterlaufen, mit minimalen Gegenmaßnahmen. Das Ziel, die DDR als Wirtschafts- und Produktionsstandort und im Bewußtsein der Menschen auszulöschen, wird realisiert, und zwar um den Preis der Verarmung und Verelendung eines Großteils, wenn nicht der Mehrheit der Bevölkerung in der früheren DDR.
Eine Ohrfeige für die Menschen im Osten ist aber insbesondere die Vereinbarung zur Einsetzung von Arbeitsgruppen aus Koalitionsparteien und SPD mit Bündnis-90-Vertretern als Alibifiguren.
Diese Vereinbarung ist pure Kosmetik, ist übelste Hinhaltepolitik, ist Augenwischerei. Wir, die PDS, wir, die Linke Liste, sind sehr zufrieden damit, daß Sie uns nicht mit dabei haben wollen. Sie bestätigen uns unsere Rolle als konsequente linke Opposition und zudem als einzige Oppositionspartei.
Statt Arbeitsgruppen,
die kompetenzlos monatelang vor sich hinwerkeln sollen, hätten Sie ein Notprogramm ankündigen und binnen Tagen politisch organisieren sollen. Herr Ministerpräsident Biedenkopf hat nach der Memo-Gruppe und nach uns erneut einen Teil des Weges gewiesen. Die Größenordnung, die er und das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft an Mittelübertragungen aus dem Westen in den Osten fordern, ist richtig.
Zur Erinnerung: Die Memo-Gruppe, die Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik, hat für fünf Jahre ein 550-Milliarden-Programm, also für jedes Jahr 110 Milliarden, gefordert und hat auch präzise vorgerechnet, wie dieses Programm finanziert werden kann, nämlich durch Steuererhöhungen und Abgaben auf hohe Einkommen, durch Zwangsanleihen bei der überliquiden Wirtschaft, durch Investitionshilfeabgaben, wie nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD praktiziert, durch besseren Steuereinzug und Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität u. ä.Wir haben in Anlehnung an die Memo-Gruppe konkrete Vorschläge vorgelegt, wie mit einem fünfjährigen 500-Milliarden-Programm,
also jedes Jahr 100 Milliarden, gerade in ökologisch sinnvollen Bereichen in der DDR, z. B. bei der Modernisierung des Eisenbahnnetzes, z. B. beim Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs, z. B. bei der Sa-
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Dr. Ulrich Briefsnierung von Industriestandorten, Wasserreservoirs und Mülldeponien, z. B. beim Wiederaufbau und beim Ausbau des Sero-Systems, z. B. in der Alt- und Neubaumodernisierung, verbunden mit Wärmedämmung und Wohnumfeldverbesserung, z. B. im Aufbau einer dezentralisierten kommunalisierten Energieerzeugung, ökologisch und sozial sinnvolle Arbeitsplätze geschaffen werden können.Wir begrüßen es, daß Ministerpräsident Biedenkopf sich in die Reihe der Kritiker des Gekleckeres der Bundesregierung eingereiht hat. Wir begrüßen es, daß kleine Teile der Koalitionsparteien offensichtlich bereit sind, zu einem Wechsel der wirtschaftspolitischen Grundkonzeption beizutragen. Der Staat muß vorangehen und darf sich nicht zurückziehen. Der Staat muß klotzen, statt zu kleckern.
Die Wirtschaft muß einen Rahmen erhalten, in den sie hineinwachsen und hineininvestieren kann; wir, die PDS/Linke Liste, fügen hinzu: ökologisch und sozial verträglich hineininvestieren und hineinwachsen kann.Statt die Vermögenswerte in der DDR wie bei dem jüngsten Verkauf von DDR-Zeitungen weit unter Wert an Konzerne und eh schon reiche Bundesbürger zu verscherbeln, sollten Sie endlich und mit höchstem Druck einen sozialen und ökologischen Strukturentwicklungsplan als Vorgabe für die Bundesregierung und die Treuhandanstalt entwickeln.
Ihre Pflicht ist es, sich konventionelle oder unkonventionelle Maßnahmen zur Belebung der Betriebe in der DDR einfallen zu lassen. Warum erfolgt beispielsweise keine konsequente öffentliche Auftragsvergabe an DDR-Betriebe?
Warum greifen Sie nicht den Vorschlag des Vorsitzenden der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, Lorenz Schwegler, auf, dem Einzelhandel in der BRD Abnahmequoten für in der DDR hergestellte Produkte aufzuerlegen?
Warum erfolgt keine gezielte Regionalentwicklungspolitik in der DDR mit dem Ziel der Arbeitsplatzerhaltung? Warum geben Sie der Treuhand keine Organisationsform, die als oberstes Ziel die Diversifikation ermöglicht, d. h. die Erschließung von Märkten mit neuen Produkten?
Sehen Sie nicht, daß Sie mit Ihrem Nichtstun, mit Ihrem Hinhalten mit dem Feuer spielen, mit dem Feuer einer Entwicklung nach rechts, von dem womöglich die empörende Tötung eines jungen Farbi gen in Dresden durch Rechtsradikale nur ein Vorbote ist?
Nicht öffentliche, beschämend inhaltlose Seelenmassage wie in Erfurt, nicht flaue Arbeitsgruppen mit null Kompetenz, nicht eine weiterhin vor sich hin ruinierende Treuhandanstalt, sondern wirksame Sanierungsmaßnahmen tun not. Das ist das, was Herr Biedenkopf meint. Wenn Sie uns nicht folgen wollen, folgen Sie vielleicht ihm.Ich danke Ihnen, Frau Präsident.
Das Wort hat der Kollege Gunnar Uldall.
Frau Präsidentin! Meine Damen und meine Herren! Ich freue mich, daß sich alle Oppositionsparteien, die PDS, die SPD und das Bündnis 90/GRÜNE, auf das Gutachten berufen.
Frau Präsidentin, darf ich einmal stören? Vielleicht kann die Uhr gestoppt werden, damit sie nicht weiterläuft. Ich habe gerade mit dem Kollegen Schulhoff gesprochen. Er sagte, meine Redezeit könne ich bestimmt ausschöpfen. Jetzt fange ich an, und hier zeigt die Uhr nur vier Minuten an. Es sind aber fünf Minuten vereinbart.
Herr Kollege, das ist bei allen so, weil in dem Moment, wo die Uhr von fünf Minuten auf 4.59 Minuten umspringt — ich habe jetzt noch 4.32 Minuten, jetzt noch 4.31 —,
nur noch vier Minuten angezeigt werden. Ich würde Sie aber, nachdem Sie mich jetzt darauf angesprochen haben, erst bei 5.30 Minuten dringend ermahnen, zum Schluß zu kommen.
Nun sind Sie an der Reihe. Jetzt haben Sie nur noch 4.17 Minuten, und die Uhr läuft weiter.
Was ich zu sagen habe, ist ohnehin so gut, daß man es in wenigen Minuten sagen kann.
Ich freue mich, daß sich alle drei Oppositionsparteien auf Biedenkopf berufen.
Denn dieses Gutachten von Biedenkopf ist — das hätten Sie festgestellt, wenn es einer von Ihnen gelesen hätte — in zwei Punkten bemerkenswert. Es ist erstens eine außerordentlich interessante Analyse der wirtschaftlichen Situation. Zweitens ist es eine volle Bestätigung der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung.
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Gunnar UldallIch kann mir nicht vorstellen, daß Sie, liebe Frau Matthäus-Maier, dieses Gutachten aufgegriffen hätten, wenn Sie vorher die Zeit investiert und einmal einen Blick hineingeworfen hätten.
Meine Damen und Herren, es ist im übrigen kein einziges Wort von einer Steuererhöhung in diesem Gutachten enthalten, obwohl Frau Matthäus-Maier das herausgelesen hat.
Es muß eine Freudsche Fehlleistung sein, wenn Sie überall Steuererhöhungen herauslesen. Vielleicht tun Sie es deswegen, liebe Frau Matthäus-Maier, weil Sie das wollen.
Jetzt aber zunächst einmal zum Inhalt. Im Gutachten wird ausgeführt, daß ein Jahr vor der Wiedervereinigung in der damaligen DDR ein Bruttoinlandsprodukt erreicht wurde, das ein Drittel desjenigen betrug, das wir in der Bundesrepublik erzielt hatten. Diese Wirtschaftskraft, meine Damen und Herren, ist die Wirtschaftskraft einer Volkswirtschaft gewesen, die Oskar Lafontaine seinerzeit als die einer führenden Industrienation der Welt bezeichnet hatte. So schief haben damals die Sozialdemokraten in ihrer Analyse gelegen.
Es wird in diesem Gutachten weiter festgehalten, daß inzwischen das Bruttoinlandsprodukt in den neuen Bundesländern auf 25 % gesunken ist.
Aber mittlerweile wird auch durch Transferzahlungen aus dem Westen dort wieder eine Kaufkraft von 45 der westlichen erreicht. Also kann ich nur sagen: Dieses Gutachten zeigt in einer hervorragenden Weise, daß eine massive Hilfe für die neuen Bundesländer aus dem Westen zustande gekommen ist.Es wird festgestellt, daß die Wirtschaft nur dann wieder zu sanieren ist, wenn die Unternehmen freien Lauf bekommen. Auch das verwirklicht die Politik der Bundesregierung. Insofern kann ich nur sagen: Dieses Gutachten bestätigt voll die Maßnahmen, die wir eingeleitet haben.
Nun müßte ich noch einmal auf folgendes hinweisen: Meine Damen und Herren, es hat in der Finanzgeschichte noch nie in einer so kurzen Zeit eine so große Finanzverschiebung aus einer Region in eine andere Region gegeben, wie wir es jetzt zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland erleben.
Dies ist sogar eine Bewegung, die weit über dem liegt,was seinerzeit durch den Marshallplan erreichtwurde. Damals gab es 120 DM pro Kopf der Bevölkerung Westdeutschlands aus der Marshallplanhilfe.
— Umgerechnet ungefähr 120 DM pro Kopf. — Wenn ich umrechne, was wir allein in diesem Jahr für den Fonds Deutsche Einheit oder für das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost leisten, dann ist dies ein Wert von 2 850 DM pro Kopf. Das ist das 24fache dessen, was der Marshallplan damals beinhaltete.Wenn wir die Wirtschaft drüben in Gang setzen wollen, dann müssen wir auch steuerliche Anreize schaffen, damit die Betriebe eine entsprechende Chance haben, wettbewerbsfähig zu produzieren. Wenn wir auf die steuerlichen Anreize sehen, so muß als erstes die Substanzbesteuerung weg.
Substanzbesteuerung heißt, daß ein Betrieb Steuern zu zahlen hat, die er, wenn er nichts verdient, dann aus seiner Substanz nehmen muß. Die Betriebe in der DDR haben heute weitgehend keine Substanz mehr. Wenn Sie eine Substanzbesteuerung betreiben, bedeutet das, daß Sie den Betrieben das Geld wegnehmen, das sie heute noch über Wasser hält. Insofern müßten gerade die Gewerkschaften massiv dafür eintreten, daß die steuerlichen Änderungen erfolgen, die in unserem Steueränderungsgesetz enthalten sind.
Wenn Sie von der Zukunft der Steuern sprechen, dann kann ich nur sagen: Frau Matthäus-Maier, nehmen Sie jetzt endlich einmal zur Kenntnis
daß in der Koalitionsvereinbarung steht — ich habe es ihr schon mehrfach gesagt, aber sie will es nicht hören; das ist ja das Besondere — : Es gibt eine Änderung bei der Vermögensteuer nur unter der Bedingung, daß es eben auch eine Gegenfinanzierung gibt. Dies, liebe Frau Matthäus-Maier, sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Sie könnten dann Ihre Aufregung in großem Maße reduzieren.
Kommen Sie bitte zum Schluß, Herr Kollege Uldall.
Jawohl. Ich möchte eines zum Schluß sagen, Frau Präsidentin: Die Menschen in der DDR können sich auf unsere Finanzpolitik verlassen.
Wir werden die Finanzpolitik so betreiben, daß die Kraft besteht, die Menschen drüben zu halten. Die Sozialdemokraten wagen Experimente, gefährden unsere Wirtschaft hier und gefährden damit letztlich auch die finanzielle Zukunft der neuen Bundesländer.
Ich möchte noch etwas zu dem Zeitmesser auf dem Rednerpult sagen. Herr Kollege Uldall, Sie haben die Zeit sehr überzo-
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Vizepräsidentin Renate Schmidtgen, aber ich habe das auf Grund der Unklarheit noch einmal hingenommen. Die Uhr schaltet jeweils um, wenn die nächste Minute beginnt, d. h. bei 5 Minuten auf 4.59. Vielleicht könnten Sie sich bei den Aktuellen Stunden insgesamt ein bißchen besser als bisher an die Zeit halten. Es ist manchmal nicht erträglich, wie sie überzogen wird.Das Wort hat jetzt Herr Kollege Ludwig Eich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Uldall hat jetzt wieder einiges offenbart: Erstens. Er hat die Änderungen der Vermögensteuerregelungen bestätigt. Zweitens haben Sie bestätigt, daß Sie mit der Zeit nicht umgehen können. Drittens bestätigt die Art Ihrer Politik jeden Tag, daß Sie auch mit Geld nicht umgehen können.
Wenn wir die heutige politische Landschaft betrachten, dann fallen zwei Dinge sehr auf: Erstens. Die öffentliche Finanzwirtschaft unterliegt einer Belastung, wie wir sie in der Geschichte unseres Landes bisher nicht gekannt haben. Zweitens. Die politische Glaubwürdigkeit ist auf einen Tiefpunkt gesunken, wie es bisher nie der Fall war. Dies beides hat nicht nur mit der Steuerlüge oder mit dem Wahlbetrug zu tun, sondern ist insgesamt das Ergebnis Ihrer besonderen politischen Inkompetenz, meine Damen und Herren von Union und FDP.
Die deutsche Einheit ist ein großes Werk; nur wurden die ökonomische, aber auch die soziale Seite leider nicht gemeistert. Das ist das Fazit in der heutigen politischen Situation.Vor diesem Hintergrund bekommen die Äußerungen von Herrn Professor Biedenkopf ein ganz besonderes Gewicht. Er sagt, es wird alles viel schlimmer.
Er sagt, nicht nur in diesem Jahr, sondern in jedem Jahr bis zum Jahrtausendwechsel werden 100 Milliarden DM fällig.
Wenn es einen Grund für eine Aktuelle Stunde gibt, dann ist genau dieser Punkt ein wirklicher Grund, hier über die Politik und die aktuellen Sorgen zu diskutieren.Ich denke, daß angesichts dieser Tatsachen die Bundesregierung nun sagen muß, wie sie in Zukunft ihre Finanzpolitik gestalten will. Es muß festgestellt werden, daß diese Aussage nicht irgend jemand trifft, sondern der Ministerpräsident des Landes Sachsen. Seine ökonomische Kompetenz ist sicher unbestritten.Sie reicht natürlich nicht an die des Bundeskanzlers heran;
aber als Ministerpräsident des Landes Sachsen ist er sehr nahe an den Problemen und kann sie beurteilen.Meine Damen und Herren, was sagt die Bundesregierung zu den Perspektiven, die hier aufgezeigt sind? Teilt sie die Analyse von Professor Biedenkopf?
Wie soll das Geld aufgebracht werden? Wird es erneut Steuererhöhungen geben? Die Bundesregierung muß hier und heute entweder sagen, daß das, was Biedenkopf sagt, Unsinn ist, oder sie muß diese Fragen heute und hier beantworten.
Sie muß vor allen Dingen sagen, ob sie dabei bleibt, die Vermögensteuer und die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen.
Sie müssen in der Tat sagen — da ist Kollege Solms anderer Auffassung, wie man Presseberichten entnehmen kann — , ob Sie dabei bleiben wollen, den Reichsten dieses Landes 9 Milliarden DM in jedem Jahr zu schenken
und gleichzeitig den breiten Schichten dieses Volkes 43 Milliarden DM aufzuerlegen. Diese Antwort müssen Sie geben.Ich denke, daß Sie in der Sache bisher keine Begründung gegeben haben; es waren vielmehr fadenscheinige Argumente. Statt dessen verkünden die Bundesregierung und Sie, daß es darüber hinaus auch eine Mehrwertsteuererhöhung, also eine erneute Belastung der breiten Schichten, geben wird.Der Hinweis, daß nun Jahr für Jahr 100 Milliarden DM erforderlich sind, provoziert natürlich auch die Frage, wie das mit der Ergänzungsabgabe ist. Wird es dabei bleiben, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, daß sie für ein Jahr erhoben wird, oder ist es wahr, was die Zeitungen landauf, landab schreiben, daß eigentlich niemand mehr daran glaubt, daß dieses eine Jahr eingehalten wird? Ich könnte viele Zeitungen zitieren.
Ich möchte die Bundesregierung auffordern, hier klar zu sagen, wie es mit diesem Jahr ist und ob sie zu dieser Aussage steht.
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Ludwig EichDie Bundesregierung kann sich auf jeden Fall heute hier die Peinlichkeit ersparen, nach dieser Zeit wieder sagen zu müssen: Wir haben das alles nicht gewußt; wir konnten das nicht einschätzen. Ich finde, es wäre ganz wichtig, daß sie heute klar Schiff macht. Was bleibt, ist auf jeden Fall die Angst der Menschen in unserem Land, auch der Menschen von Rheinland-Pfalz — sie werden das am nächsten Sonntag spüren — , die Angst vor der unsozialen Politik der Bundesregierung.
Herr Kollege, ich darf Sie bitten, zum Ende zu kommen.
Ich komme zum Schluß, Frau Präsidentin. Ich wiederhole: Es sind 43 Milliarden DM, die Sie den breiten Schichten auferlegen, und Sie wollen den Reichsten unseres Landes 9 Milliarden DM schenken: eine schlechte, eine schlimme Politik.
Vielen Dank.
Als nächstes hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf hat mit seinen jüngsten Äußerungen wieder einmal für Verwirrung und Verärgerung in Sachen Finanzierung der deutschen Einheit gesorgt.
— Richtig. Ich sehe das allerdings so, wie ich es gesagt habe.Bereits im Bundestagswahlkampf war es Herr Biedenkopf, der,
wenig hilfreich für die Lösung der anstehenden Probleme, so wie es ihm gerade paßte, von Sonderopfern und Steuererhöhungen sprach, um sich dann am nächsten Tag von seinen vorangegangenen Forderungen zu distanzieren.Deshalb ist es für uns auch nicht verwunderlich, daß es jetzt wiederum der CDU-Ministerpräsident Sachsens ist, der nahezu täglich bei den verschiedensten Anlässen mit ständig neuen Forderungen und Vorstellungen an die Öffentlichkeit tritt. Schlagzeilen erzielen zu wollen ersetzt nicht die Politik, die die Bürger Sachsens von ihrem Ministerpräsidenten erwarten.Ich kann es der SPD auch nicht verübeln, daß sie dieses finanzpolitische Hickhack für die heutige Aktuelle Stunde aufgegriffen hat.
Manchmal habe ich das Gefühl, daß die lautstarkenForderungen des Herrn Biedenkopf lediglich dazudienen sollen, von der eigenen Unfähigkeit, die anstehenden Probleme in den neuen Bundesländern zu lösen, abzulenken.
Die fast täglich neuen Äußerungen erinnern fatal an das Schwarze-Peter-Spiel. Ob dies dem Ansehen der Bundesregierung bei den zugegebenermaßen schwierigen Problemlösungen dient, ist für mich mehr als fraglich.
Aber vielleicht ist es auch die Absicht von Herrn Biedenkopf, die eigene, von Bundeskanzler Helmut Kohl geführte Regierung zu beschädigen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben alles nur Erdenkliche dazu getan, mit der Sanierung der kaputten Wirtschaft in den neuen Bundesländern zu beginnen. Wir haben uns — ich sage das als Mitglied des Haushaltsausschusses; da wäre es auch gut, Frau Matthäus-Maier, wenn Sie zuhören könnten — bis an die Schmerzgrenze verschuldet, um die Dinge der heruntergewirtschafteten ehemaligen DDR in den Griff zu bekommen.Ohne auf die Einzelheiten einzugehen, nenne ich nur Stichworte wie die Leistungen des Fonds Deutsche Einheit, die Aufstockung der Anteile der neuen Bundesländer am Länderfinanzausgleich, das kürzlich von Bundeswirtschaftsminister Möllemann geforderte und inzwischen von der Regierung beschlossene Sonderprogramm Aufschwung Ost sowie die erhebliche Mittelaufstockung beim Wohnungsbau in den neuen Bundesländern. Zusätzlich sind wir bei den jetzt laufenden Haushaltsberatungen dabei, Infrastrukturvorhaben in Milliardenhöhe für die neuen Bundesländer zu bewilligen.Wer bei Kenntnis der genannten Hilfen, die allein in diesem Jahr weit über 100 Milliarden DM betragen und die Bundesrepublik Deutschland bis an die Grenze der vertretbaren Verschuldung geführt haben, so tut, als reiche dies alles nicht aus, und ständig neue Forderungen stellt, handelt fahrlässig und unverantwortlich.
— Auch Sie, Frau Matthäus-Maier.
Meine Fraktion ist der Auffassung, daß die Hilfen für die ehemalige DDR, was Höhe und Zielrichtung der verschiedenen Maßnahmen angeht, aus heutiger Sicht ausreichen. Ich betone: aus heutiger Sicht. Das Problem liegt nicht in der Mittelbereitstellung bzw. in der Höhe der Hilfen. Das Problem tut sich vielmehr bei den Schwierigkeiten in der Umsetzung der Hilfen in der ehemaligen DDR auf.
Bereits bei Abschluß des Bundeshaushalts 1990 haben wir feststellen müssen, daß Förderprogramme in
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1294 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Carl-Ludwig ThieleMilliardenhöhe nicht abgeflossen sind. Der Grund liegt darin, daß die Verwaltung bzw. die verschiedenen Institutionen in der ehemaligen DDR noch längst nicht arbeitsfähig sind.
Herr Biedenkopf hätte als sächsischer CDU-Ministerpräsident besser daran getan, sich um dieses Problem zu kümmern, als mit ständig neuen Forderungen Bevölkerung und Wirtschaft zu verunsichern.
Es liegt jetzt an den Landesregierungen in den neuen Bundesländern, daß sie so schnell wie möglich für eine funktionierende Verwaltung und Struktur sorgen. Die Äußerungen des sächsischen Ministerpräsidenten sind geeignet, Verunsicherung und Attentismus zu erzeugen. Die Folgen sehen wir bei den wöchentlich stattfindenden Demonstrationen, die pikanterweise von den Gewerkschaften und von der SPD gefördert und gesteuert werden.
— Ich war in Wernigerode und habe dort die Demonstrationen gesehen. Dort hingen Plakate von der SPD, vom DGB und von der ÖTV, schön vereint. Ein westdeutscher Wagen wurde von einer Gewerkschaft gestellt. So wird heute die Montagsdemonstration bestritten.
Das ist unlauter, Frau Matthäus-Maier!
Kümmern Sie sich darum, den Leuten zu helfen! Sorgen Sie nicht nur dafür, daß hier eine Haß- und Neiddiskussion geführt wird! •
Deshalb geht es unserer Ansicht nach darum, die Jammerei hier zu beenden und statt dessen endlich mit der Bewältigung der vor uns liegenden Probleme zügig und motiviert zu beginnen. Wie gesagt: Geld ist vorhanden. Wir sollten nunmehr an die Arbeit gehen und die überflüssige Rederei sein lassen.Ich bedanke mich.
Als nächste hat die Kollegin Lydia Westrich das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung wurde in der vergangenen Woche vom sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf aufgefordert, tiefgreifende Veränderungen der Staatsfinanzen herbeizuführen, um die notwendigen Mittel zur wirtschaftlichen Sanierung der FNL bereitstellen zu können. Den erforderlichen Finanztransfer beziffert er beispielsweise für 1992 auf noch einmal 170 Milliarden DM. Weitere Jahre des Finanztransfers werden noch folgen.Damit wird durch den sächsischen Ministerpräsidenten die Kritik der Sozialdemokraten an der Bundesregierung wegen der unter Wahlkampftaktik formulierten Schönfärberei zum x-ten Mal bestätigt. Ich bin froh, daß wenigstens e i n Politiker der Koalitionsparteien, nämlich dieser sächsische Ministerpräsident, es schon vor der Wahl gewagt hat, die Wahrheit zu sagen. Aber, meine Damen und Herren, unsere Bürger in den alten und in den neuen Bundesländern haben es satt, immer wieder mit Hinhaltetaktiken und den darauf folgenden Hiobsbotschaften sowie mit erneuten Hinhalteparolen konfrontiert zu werden. Die Bürger erwarten endlich, die ungeschminkte Wahrheit zu hören, und sie erwarten darüber hinaus natürlich die Vorlage eines steuer- und finanzpolitischen Konzeptes,
das die Probleme überzeugend lösen kann.Die Menschen z. B. in meinem Wahlkreis sind mit Truppenreduzierungen und der Auflösung des Militärflughafens Zweibrücken, mit einer kranken Schuhindustrie, einer schleichenden Abwanderung und einer ungenügenden Verkehrsinfrastruktur konfrontiert. Tausende von Arbeitsplätzen sind bedroht und Existenzen auch bei uns gefährdet. Strukturschwäche gibt es nicht nur im Beitrittsgebiet.Diese Feststellung hat aber nichts mit sozialem oder politischem Egoismus zu tun, denn gerade unsere Bürger, die wissen, was Arbeitslosigkeit und Existenzangst bedeuten, haben in ihren Städten und Gemeinden viele Partnerschaften mit Gemeinden im Beitrittsgebiet geschlossen. Sie leisten nicht nur praktische Hilfe aller Art, sondern dokumentieren damit vor allem auch ihre Solidarität. Gerade sie in ihrer eigenen Existenzangst und bei gleichzeitig vorhandener Hilfsbereitschaft wollen aber endlich ehrlich wissen, was an finanziellen Belastungen noch auf sie zukommt. Sie haben keinerlei Verständnis dafür, daß sie, angefangen von der Telefonsteuer bis hin zur Erhöhung der Mineralölsteuer und zu anderen Arten von Hilfe, ihren Beitrag zum Aufbau der östlichen Nachbarländer leisten oder leisten sollen, während gleichzeitig Großverdiener und Großunternehmer durch die Abschaffung der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer entlastet werden sollen.
Besonders pikant schlägt dabei zu Buche, daß die abzuschaffenden Steuern Länder- und Kommunalsteuern sind, während die geplanten Steuererhöhungen voll dem Bund zugute kommen.Die riesige Aufgabe des Zusammenwachsens in Deutschland muß von allen Bürgern getragen werden, wenn sie schnell und erfolgreich bewältigt werden soll. Dazu waren aber weder die Steuerlügen im Wahlkampf noch ist das jetzige Steuer- und Abgabenerhöhungspaket geeignet. Auch die ungerechte Behandlung im Zuge der z. B. vom Bundesverfassungsgericht geforderten Aufbesserung des Familienlastenausgleichs ist von den Bürgern sehr negativ aufge-
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Lydia Westrichnommen worden und mit Waschkörben voller Einsprüche gegen die Steuerbescheide dokumentiert worden.Das Vertrauen in unseren Staat, in die Demokratie ist nicht nur in den fünf neuen Ländern, sondern auch in den alten Ländern nachdrücklich erschüttert.
Das ist keine gute Ausgangsbasis für das gewaltige Werk, das uns bevorsteht.
Wir fordern von der Bundesregierung daher ein Steuer- und finanzpolitisches Konzept, das diesen Namen auch verdient und das die Lasten auf alle Bürger und Steuerzahler gerecht verteilt. Dazu gehören Einsparungen im Verteidigungshaushalt und bei den Subventionen genauso wie das Verbleiben der Vermögen- und der Gewerbekapitalsteuer.
Die Menschen müssen das Vertrauen haben können, daß nicht nur ihre schmalen, sondern entsprechend mehr noch die starken Schultern belastet werden und nicht umgekehrt. Nur so können die Einheit unseres Landes gefördert, das Solidaritätsgefühl der Bürger verstärkt und der innere Friede unseres Landes hergestellt werden.Ich bedanke mich.
Als nächster Redner hat der Kollege Gerhard Schulz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer immer vom Licht am Ende des Tunnels spricht, hat noch lange nicht gesagt, was in diesem Licht zu sehen sein wird. Ich glaube nicht, daß wir eine achtspurige Autobahn oder ein Wassergrundstück im Tessin vorfinden werden. Eher glaube ich an einen steinigen, aber durchaus überschaubaren Weg.
Wann immer wir vom blühenden Garten sprechen — wir in Sachsen haben das seit längerer Zeit getan — , haben wir dabei bestimmt nicht an Rosen und Obstbäume gedacht. Ich glaube eher, daß man nach der Durchquerung einer Wüste eine Wiese voller Gänseblümchen, Hundeblumen und Margeriten als blühenden Garten empfindet.
Obstbäume und Spargel dauern bekanntlich etwas länger; das weiß jeder.
Diese Bilder mögen dazu dienen, die Erwartungshaltung nicht schon wieder zu hoch anzusetzen. Das gilt auch in bezug auf die vom Institut für Wirtschaft und Gesellschaft vorgelegten Zahlen, um die es ja bei den Äußerungen von Ministerpräsident Biedenkopf ging. Ich stehe nicht an, die Notwendigkeit von weiteren Transferleistungen zu bestätigen; ich bestreite aber ausdrücklich die Notwendigkeit, dies, wie die SPD mit ihrer Anfrage es hier tut, mit einer Steuerdebatte zu verquicken. Die Frage ist doch: Wohin soll das Geld gehen? Erst auf Grund der Antwort wird man erkennen können, woher es kommen soll.
Zunächst einiges zu der Frage, wohin das Geld gehen soll. Es gibt da zwei Meinungen, über die wir uns ständig streiten. Die einen sagen: Das, was jetzt anläuft, reicht nicht, greift nicht; die Wirtschaft springt nicht an usw. Also muß viel Geld zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit aufgewendet werden. — Ich verkürze das zugegebenermaßen bewußt. Die anderen — wir — sagen: Das greift. Wir benötigen in absehbarer Zeit nicht mehr so viel für die Arbeitslosigkeit, wir benötigen mehr für infrastrukturelle Verbesserungen, und dabei kann die Wirtschaft viel für sich selbst tun, denn das, was die Wirtschaft investiert, braucht der Staat nicht zuzuschießen.
Nehmen wir doch einmal an, in Leipzig funktioniert alles; nehmen wir es doch einmal an! Dann ist die Einnahmeseite der Stadt gut, und der vom Land zusätzlich zu deckende Finanzbedarf ist gering. Funktioniert es nicht, dann ist die Zulage für die Verwaltung wesentlich höher, und es kommen die Ausgaben für die dann auch höhere Arbeitslosigkeit hinzu.
Liebe Kollegen von der SPD, hören Sie ganz einfach auf mit der Mieserpeterei. Lassen Sie uns die Dinge angehen und dann schauen, wo was fehlt und wo was nachgelegt werden muß. Das tun wir dann gezielt, und das verlangen wir dann auch gezielt ab, und zwar von denen, die es können.
Zur Frage, woher das Geld kommen soll, nur drei ganz kurze und sehr grobe Beispiele. Wir haben den Länderfinanzausgleich, bei dessen Gestaltung ich durchaus Möglichkeiten sehe. Liebe Frau Matthäus-Maier, Sie selbst zeigen doch immer wieder einen Weg auf: sparen. Genau: Sparen, sparen, sparen, im Bundeshaushalt, in den Länderhaushalten, in den Kommunalhaushalten, überall sparen. Ich habe nichts dagegen.
— Selbstverständlich. Genau das ist der springende Punkt.
Als letztes will ich den konsequenten Subventionsabbau anführen. Damit will ich es bewenden lassen.
Ich rufe die Kollegen von der SPD auf, bei der Erschließung von Finanzquellen mitzutun
und nicht ständig die alte Gebetsmühle Steuererhöhungen zu leiern.
Danke.
Als nächstes hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald das Wort.
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Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese von der SPD beantragte Aktuelle Stunde ist schlicht überflüssig.
Schade um die Zeit! Denn die Bundesregierung hat ihre Position sowohl zur Finanzierung der Investitionen in die deutsche Einheit als auch zur weiterern Verbesserung der Steuerstruktur zum wiederholten Male ausführlich dargelegt. Sie, liebe Frau Matthäus-Maier, haben zum wiederholten Male widersprochen. Die 41 Millionäre aus Ihrem Munde verfolgen mich schon fast Tag und Nacht.
Die Annäherung der Lebensverhältnisse im wiedervereinigten Deutschland hat hohe Priorität. Wir investieren in diesem Jahr und in den kommenden Jahren dreistellige Milliardenbeträge. Das, Herr Briefs, nennen wir allerdings Klotzen und nicht Klekkern. Wir leisten alles, was an Verwaltungshilfe, an Infrasturkturinvestitionen und an Förderung privater Investitionen notwendig und sinnvoll ist.
Der Vorrang der deutschlandpolitischen Aufgaben kann und darf nun aber nicht dazu führen, daß in anderen Bereichen — auch in der Steuerpolitik — absoluter Stillstand eintritt. Im Gegenteil: Wir brauchen die steuerlichen Verbesserungen der Investitions- und Wachstumsbedingungen in ganz Deutschland — damit sind wir bei der Unternehmensteuerreform —, eben weil unser Land vor so großen ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen steht. Auch mit dem Familienlastenausgleich können wir — schon mit Sicht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts — nicht weiter zuwarten.
Unbestreitbar wird die Vollendung der deutschen Einheit auch in den kommenden Jahren Milliardenbeträge an öffentlichen Mitteln erfordern. Die Bundesregierung hat in ihrer Finanzplanung bis 1994 Vorsorge getroffen und im Bundeshaushalt jährliche Beträge von fast 100 Milliarden DM vorgesehen. Die Bundesländer haben — zuletzt durch ihre Bereitschaft zur vollen Beteiligung des Beitrittsgebietes an den Umsatzsteuereinnahmen — ebenfalls ihren Beitrag geleistet.
Gerade bekomme ich von Reuter eine Agenturmeldung auf den Tisch. Darin fordert mein sehr geehrter Kollege Milbradt von Sachsen, wir sollten unverzüglich die Länder im Beitrittsgebiet an der Umsatzsteuer beteiligen. Hat er verschlafen, daß wir das rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres schon vereinbart haben?
Spätestens ab 1995 muß darüber hinaus — auch da stimmen wir überein — das System des Länderfinanzausgleichs auf eine neue Grundlage gestellt werden. Noch in diesem Jahr müssen wir über eine Neuverteilung der jährlichen Strukturhilfen in einer Größenordnung von 2,45 Milliarden DM mit Wirkung vom 1. Januar 1992 verhandeln.
Damit leisten die öffentlichen Haushalte ihren Beitrag, um in wenigen Jahren eine wesentliche Annäherung der Lebensbedingungen im östlichen Teil unseres Vaterlandes an den westlichen Standard zu erreichen.
Der von uns in Verfolg dieses hohen Zieles vorgezeichnete Weg ist richtig und ohne Alternative. Das hat uns der Sachverständigenrat gerade am vergangenen Wochenende in seinem lesenswerten Sondergutachten ganz uneingeschränkt bestätigt. Die Sachverständigen teilen in diesem Gutachten nicht nur unsere Bewertung der wirtschaftlichen Lage und die von der Bundesregierung bereits eingeleitete Therapie. Sie warnen auch vor Attentismus und fordern uns ausdrücklich auf, marktwirtschaftlich Kurs zu halten.
Wenn nun der Ministerpräsident von Sachsen bzw. das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft einen höheren Betrag nennt, so ist diese Forderung nicht mehr und nicht weniger als ein weiterer Beitrag zu der bereits seit langem andauernden Diskussion über den Finanzbedarf des Beitrittsgebiets.
Die genannten Zahlen beziehen sich übrigens — darauf hat schon Kollege Uldall hingewiesen — auf die privaten und die öffentlichen Mittel. Schon deshalb lassen sich aus dieser Untersuchung keine Defizite für die öffentlichen Leistungen ableiten.
Angesichts der Vielzahl der Schätzungen und der Bandbreite der möglichen Annahmen kann keine der vorliegenden Prognosen alleinige Gültigkeit beanspruchen. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt hat völlig zu Recht in einem Artikel im November vergangenen Jahres geschrieben:
Keiner kann heute genau die Finanzierungsbeiträge benennen, welche schon im Jahre 1991 nötig sein werden, um den wirtschaftlichen Aufbau in der ehemaligen DDR voll in Gang zu setzen...
Wenn eine solche Prognose schon für ein Jahr im voraus nicht möglich war, um wieviel mehr müssen dann Zweifel angemeldet werden, wenn entsprechende Voraussagen für einen Mehrjahreszeitraum abgegeben werden? Bereits die Veränderung eines oder nur weniger Faktoren können den öffentlichen finanziellen Beitrag um hohe Milliardenbeträge verändern; denn niemand kann mit Sicherheit vorhersagen, wann der ökonomische Wendepunkt erreicht ist, wann die beschlossenen und vereinbarten wirtschaftspolitischen Instrumente greifen und wann die vielfältigen privaten Initiativen Wirkung zeigen. Niemand kann die Tariflohnentwicklung in den kommenden Jahren oder die Wanderbewegung der Arbeitskräfte exakt prognostizieren. Niemand kennt die wirtschaftliche Entwicklung in unseren östlichen Nachbarstaaten und damit die Perspektive für die exportorientierte Wirtschaft im Beitrittsgebiet.
Es gibt aber schon jetzt sehr gute Gründe, diesen extrem pessimistischen Prophezeiungen, wie sie auch hier heute wieder gemalt worden sind, zu mißtrauen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17, April 1991 1297
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
So werden in jedem Monat drüben 25 000 Betriebe neu gegründet. Seit der Öffnung der Grenzen sind drüben 1 Million neue Arbeitsplätze geschaffen worden. In der Bauwirtschaft zeichnet sich, Gott sei Dank, eine Trendwende ja schon heute ab.
Auch bei allen hoffnungsvollen Anzeichen ist sich die Bundesregierung natürlich der großen finanziellen Risiken dieses Einigungsprozesses bewußt. Doch mit Risiken korrespondieren immer auch Chancen — Chancen, die in der Diskussion unserer Tage, auch in der Diskussion heute, leider viel zu gering und viel zu ängstlich beurteilt werden.
Wir haben durch Einsparungen und Umschichtungen von rund 50 Milliarden DM, durch eine vorübergehend vertretbare Ausweitung der Kreditaufnahme sowie durch die beschlossenen Einnahmeverbesserungen die Grundlagen für die Lösung unserer nationalen und internationalen Aufgaben geschaffen. In den kommenden Jahren wird es bei strikter Ausgabendisziplin bleiben. Auch eine erneute Absenkung der Steuerquote — ganz anders, als Sie es hier gesagt haben — wird in absehbarer Zukunft wohl kaum möglich sein. Und wir werden weiter sparen müssen — weiter sparen!
Die Unternehmensteuerreform, die hier wiederholte Male hinterfragt wurde, werden wir — und etwas anderes haben wir nie gesagt — im wesentlichen aufkommensneutral vollziehen müssen.
Vor dem Hintergrund dieser Konzeption erweist sich der unentwegt wiederholte, aber deshalb noch nicht richtig werdende Vorwurf der SPD, die Bundesregierung plane trotz der hohen Finanzierungslasten im Zusammenhang mit der deutschen Einheit Steuerentlastungen für die sogenannten Besserverdienenden als blanke Demagogie und Teil einer langfristig geführten Kampagne.
Wir machen, Frau Matthäus-Maier, keine Steuergeschenke, sondern vollziehen nur das, was in den meisten westlichen Industrieländern an steuerlichen Verbesserungen für Investoren bereits verwirklicht ist.
Wer heute in Europa investiert, wer neue Produktionseinrichtungen schafft, hat schon längst die Möglichkeit, dort tätig zu werden, wo niedrige Steuersätze gelten. Wenn aus den von uns vorgesehenen Steuerentlastungen jemand einen Vorteil zieht, dann sind es doch die Beschäftigten und vor allen Dingen diejenigen, die heute einen Arbeitsplatz suchen.
Für die wollen wir in unserem Land, also daheim, die Arbeitsplätze schaffen.
Alle großen europäischen Parteien, ob christlich-soziale, liberale und — das ist besonders interessant — auch sozialdemokratische haben diesen sehr einfachen Zusammenhang lange erkannt. Ich meine, es wird höchste Zeit, daß auch die SPD Deutschlands endlich zu einer rationalen steuerpolitischen Diskussion findet.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Karl Diller.
Frau Präsidentin! Die Verteidigungsrede des Herrn Staatssekretärs stand unter der Devise: verniedlichen, verharmlosen, vertuschen.
Deshalb möchte ich noch einmal an das erinnern, Herr Staatssekretär, was der Kollege Biedenkopf vor wenigen Tagen hier in Bonn gesagt hat.Erstens. Noch in diesem Jahr ergibt sich ein erheblicher Verhandlungsbedarf zwischen Bund und Ländern. Das haben Sie bitte zur Kenntnis zu nehmen.Zweitens hat er gesagt: Weitere massive Steuererhöhungen im Westen schließe ich nicht aus.Drittens hat er in seinem Gutachten gesagt: Wenn diese Hilfen aus dem Westen nicht kommen, werden wir das Ziel, im Jahre 2000 wenigstens halb so weit zu sein wie im Westen, nicht erreichen.Deswegen ist das schon eine dramatische Aussage, die der sächsische Ministerpräsident hier getroffen hat. Daß ihm das Geld fehlt, hängt mit einem Konstruktionsfehler des Topfes Deutsche Einheit zusammen, der degressiv gestaltet ist. Deswegen diese Forderung nach massiven Steuererhöhungen seitens des Ministerpräsidenten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben damit viele Probleme am Hals; das sehe ich schon ein. Ich erinnere mich mit Bitterkeit an etwas, das haben Sie 14 Tage vor der Bundestagswahl verbreitet: Steuererhöhungen seien Gift für unsere Arbeitsplätze. Das stand damals in Ihrer Wahlkampfzeitung. Jetzt schreibt die Handwerker-Zeitung: Das, was Sie vorhaben, ist die rabiateste Steuer- und Abgabenerhöhung seit 1949.Meine Damen und Herren, was die Leute in den westlichen Bundesländern so aufregt, ist dabei die Eiseskälte, mit der Sie vorgehen.
48 Milliarden DM den Arbeitnehmern und den Rentnern wegzunehmen und davon 9 Milliarden den Vermögenden, den Milliardären und Millionären zu schenken, ist wirklich ein Skandal ersten Ranges.
— Das sind 6,2 Milliarden DM Vermögensteuer und entsprechend knapp 3 Milliarden DM Gewerbekapitalsteuer.
— Mit dieser Gegenfinanzierung müßten Sie erstmal rumkommen, damit wir das überhaupt nachvollziehen und anschließend glauben können. Ihnen glau-
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Karl Dillerben wir nämlich nichts mehr, genauso wie die Bevölkerung Ihnen nichts mehr glaubt.
Diese unterschiedliche Belastung zwischen den Normalverdienenden und den Reichen, den Normalverdienenden wird weggenommen, den Reichen wird geschenkt, das setzen Sie auch regional fort: Die im Osten werden mit denen im Westen mitbelastet, und die Beschenkten sitzen ausschließlich im Westen. Das ist Ihre Politik. Was Sie mit dem Streichen der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer anrichten, ist eine Katastrophe in der Finanzierung unserer westlichen Bundesländer, im übrigen auch eine Katastrophe in der Finanzierung der östlichen Bundesländer.Denn mein Bundesland — verehrte Kollegen, wenn Sie das ansprechen, darf ich Ihnen das mal sagen —
hat einvernehmlich gesagt: Wir geben die Hälfte unserer freien Finanzmasse, das sind 300 Millionen DM über eine höhere Umsatzsteuerbeteiligung der neuen Bundesländer weiter in Richtung Osten. Wir helfen denen solidarisch mit. Mein Bundesland ist auch bereit, was es an Hilfen aus den Strukturmitteln des Bundes in Höhe von 272 Millionen DM jährlich zu erwarten hat, mit den neuen Bundesländern im Osten zu teilen.Aber es ist eine Katastrophe, daß Ihre Politik jetzt zusätzlich von diesem Land Rheinland-Pfalz noch verlangt, auf 300 Millionen DM Vermögensteuer ersatzlos zu verzichten und bis zu 145 Millionen DM Gewerbesteuerumlage als Einnahmeausfall verkraften zu müssen. Wer so mit den Ländern umgeht, raubt ihnen jede Kraft, ihre eigene Zukunft eigenverantwortlich zu gestalten.
Deswegen denke ich: Wir müssen zu einer anderen Politik kommen. Ich bin froh, daß die Bürgerinnen und Bürger wenigstens in einem Teil der Bundesrepublik Deutschland am Sonntag dazu eine deutliche Gelegenheit haben.
Als nächster hat der Kollege Arnulf Kriedner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin regelrecht dankbar, daß Herr Diller wenigstens am Schluß seiner Rede zur Sache gekommen ist. Er hat nämlich geoffenbart, warum diese Veranstaltung heute stattfindet. Offensichtlich brauchten einige Wahlkämpfer für Rheinland-Pfalz noch ihre Wahlkampfreden oder wollten hier erproben — vor einem mäßig interessierten Publikum — , wie es denn aussieht.
Die Rednerliste spricht für sich. Zunächst hat die Steuererhöhungskassandra Frau Matthäus-Maier gesprochen,
dann der schönen Reihenfolge nach Herr Eich von der Landesliste Rheinland-Pfalz, Frau Westrich von der Landesliste Rheinland-Pfalz und Herr Diller von der Landesliste Rheinland-Pfalz.Bei diesem Thema ist es bemerkenswert und interessant und zeigt die Taktik, die hier sehr deutlich wird, Frau Matthäus-Maier,
daß Sie nicht in der Lage waren, wenigstens als Feigenblatt für Ihre Argumentation hier einen Redner aus den neuen Bundesländern antreten zu lassen.
— Nein, das brauchen Sie nicht, weil Sie in Ihrer Deutschlandpolitik im vergangenen Jahr unglaubwürdig waren und auch mit dieser Katastrophenstimmungsmache unglaubwürdig sind, brauchen Sie so etwas nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage an dieser Stelle, daß die Bundesregierung für die nächsten zwei Jahre ihre Hausaufgaben gemacht hat, unabhängig davon, was Ministerpräsidenten in ihren Pressekonferenzen sagen. Es ist ihr gutes Recht, darauf hinzuweisen, daß sie mehr Geld haben wollen.Das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost ist eine bemerkenswerte Leistung dieser Regierung. Frau Matthäus-Maier, Sie widersprechen sich ja selber, wenn Sie heute so, wie Sie es getan haben, argumentieren; denn Sie haben dafür schon freundliche Worte gefunden. Wir hatten solche Debatten bereits in der Vergangenheit.
Die Bundesregierung hat in einem Umfang Geld zur Verfügung gestellt, daß ich die Angst teile, ob es in diesem Jahr ausgegeben werden kann. Wenn Ministerpräsidenten, welcher Partei auch immer sie angehören, sagen, sie brauchen in diesem Jahr noch mehr, dann verlange ich, daß sie sagen, wie sie diese Gelder ausgeben wollen.
Schon die 5 Milliarden DM, die direkt an die Kommunen geflossen sind, sind ein Programm, das sich sehen lassen kann. 12 zusätzliche Milliarden DM sind an Investitionshilfen im Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost verbucht.
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Arnulf Kriedner12 Milliarden DM gehen als zusätzliche Invesititon an die Länder. Wir haben Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einschließlich Investitionen in Höhe von 7 Milliarden DM. Wir finanzieren in diesem Jahr 250 000 AB-Maßnahmen und 350 000 Qualifizierungsmaßnahmen. Ich kann das fortführen. In die Verkehrsinfrastruktur werden in diesem Jahr 1,4 Milliarden DM gesteckt, im nächsten Jahr 4,2 Milliarden DM, in die Modernisierung des Wohnungsbestands insgesamt weit über 3 Milliarden DM; in die Förderung privater Unternehmen bei Investitionen 12 Ausrüstungszulage und 8 % weitere Zulagen; Kumulation ist gestattet.Ich weiß nicht, was das hier ständig wieder vorgetragene Geschwätz soll,
die Bundesregierung tue hier nicht das ihr Mögliche.
— Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe vorhin gesagt: Jeder Ministerpräsident hat das Recht, auf seine Notwendigkeiten hinzuweisen. Aber ich finde, es ist mit der Würde des Deutschen Bundestags nicht vereinbar, über eine solche an den Haaren herbeigezogene Debatte ausschließlich Wahlkampf zu betreiben. Das ist die Angelegenheit, über die wir hier reden, zudem nicht wert.Diese Kampagne zur Verunsicherung der Menschen in den neuen Bundesländern ist wirklich bemerkenswert. Daran tragen Sie ein großes Teil Schuld. Sie umarmen in diesem Zusammenhang die falschen Leute. Das muß ich hier in aller Deutlichkeit sagen.
Wir haben vorhin eine entsprechende Rede gehört, die wahrscheinlich wegen der Inhaltslosigkeit besonders gehetzt vorgetragen werden mußte. Aber mir war wenigstens eines sympathisch: Herr Briefs hat seinen Wohnsitz nicht in Rheinland-Pfalz, sondern, wenn ich es richtig sehe, immer noch in Holland.
Auch er hat dem Wahlkampf zuliebe gesprochen, aber sicher relativ chancenlos.
— Ja; das haben Sie mir immer vorgeworfen, Herr Briefs; ich weiß es.Vieles wird in einem Beitrag deutlich, der heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" im Wirtschaftsteil zu lesen ist. Da sagt der sächsische Wirtschaftsminister Kajo Schommer: „Das ist doch BesserWessirei. " Das Sondergutachten des Sachverständigenrats zur Lage in den neuen Bundesländern hat er verärgert kommentiert; zu Recht, wie ich finde. In demArtikel in der heutigen Ausgabe der „FAZ" heißt es weiter:Schommer wünscht sich, daß endlich Schluß gemacht werde mit den Horrormeldungen aller Art, sei es, daß man die Politiker der falschen Politik bezichtige, sei es, daß die ehemalige DDR immer nur als hoffnungsloses Chaos dargestellt werde.
Herr Kollege, mit Ihrer Rede müssen Sie jetzt auch Schluß machen.
Ich bedanke mich für den Hinweis. Aber ich weiß es; denn ich sehe das Licht hier vorne blinken.
Wer so wie Sie heute hier redet, meine Damen und Herren, befördert im Grunde genommen das, was er angibt, nicht befördern zu wollen. Das ist die falsche Politik!
Das Wort hat der Kollege Dr. Gero Pfennig.
Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Achtung vor der Opposition gebietet es, zu dem von der Opposition beantragten Thema hier zu sprechen, obwohl die Opposition meines Erachtens mehr zu dem Thema „Steuerprobleme in den alten Bundesländern" als zu dem gesprochen hat, was sie beantragt hat.Daß der von Ministerpräsident Biedenkopf dargestellte mittelfristige Bedarf an Transfermitteln in den östlichen Bundesländern — 170 Milliarden DM im öffentlichen und privaten Bereich — die SPD sofort wieder darüber nachdenken läßt, wie die Steuerbelastungen möglichst hoch gehalten werden können, ehrt ja die SPD. Und es paßt auch in die allgemeine Linie der SPD, den Bürgern in den östlichen Bundesländern zu sagen, für sie sei zu wenig Geld vorgesehen, und denen in den westlichen Bundesländern, sie müßten zuviel Geld abgeben.
— Der Finanzminister von Nordrhein-Westfalen hat das vor wenigen Wochen gesagt.Die SPD hält diese Doppelzüngigkeit offenbar für besonders werbewirksam. Da wir Landtagswahlen derzeit nur in den westlichen Bundesländern haben, Frau Matthäus-Maier, stört es Sie natürlich nicht im geringsten, wenn Sie das Programm Aufschwung Ost dadurch zerreden.
Dabei können nicht nur die Bürger in den östlichen Bundesländern davon ausgehen, daß die Lage besser ist als die Stimmung; das hat auch Ministerpräsident Stolpe gesagt. Vielmehr können auch die Bürger in den westlichen Bundesländern darauf stolz sein, daß ihre finanziellen Leistungen von den Verantwortlichen in den östlichen Bundesländern ausdrücklich positiv gewürdigt werden.
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1300 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. April 1991
Dr. Gero PfennigMinisterpräsident Stolpe und Ministerpräsident Biedenkopf haben den beginnenden Aufschwung dargestellt. Ministerpräsident Stolpe hat vorgestern betont, das Geld fließe inzwischen in ausreichendem Umfang; Investitionshemmnisse seien beseitigt und die Vergabe von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vereinfacht; es gebe viel mehr Eigeninitiative der Bürger, als zunächst angenommen. Vielleicht hätte er nur noch dazusagen sollen, daß die von Ihnen so gern zitierte Arbeitsministerin Hildebrandt jetzt aufhören wird, sich als Kassandra der Nation hervorzutun, daß sein Finanzminister Kühbacher in Zukunft nicht mehr versuchen wird, durch Geldanlagen Zinserträge zu erzielen, statt Investitionen zu finanzieren,
und daß sein SPD-regiertes Partnerland Nordrhein-Westfalen die in Brandenburg noch notwendigen 400 Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger endlich leihweise zur Verfügung stellen wird.
Das wäre ein guter Beitrag!
Wir wissen natürlich, daß das alles nur ein Anfang sein kann. Es wird sich zeigen, ob das verfügbare Einkommen pro Kopf der Bevölkerung in den neuen Bundesländern in den nächsten zwei Jahren erheblich steigen wird. Anzeichen dafür gibt es genug. Gelingen wird die Sache nur, wenn die totale Umstrukturierung der Wirtschaft gelingt und die Menschen dadurch Arbeitsplätze finden.Aber ich möchte Ihnen nur einmal zwei Zahlen sagen: Im Bereich des Baugewerbes in Potsdam ist vereinbart, daß die Löhne bereits im nächsten Jahr 90 des Westniveaus erreichen. Bei Handel, Banken und Versicherungen sind 75 % vereinbart. Der Gewerkschaftsvorsitzende hat gesagt, das sei das Äußerste, was noch erträglich sei. Denn bei 80 % würden die Menschen im östlichen Teil Berlins bereits ein besseres Einkommem haben als die im westlichen Teil, weil nämlich die Mieten und anderes so niedrig sind. Das alles spricht doch dafür, daß das Gutachten möglicherweise schon überholt ist, weil es das überhaupt nicht berücksichtigt hat.
Aber selbst wenn es richtig wäre — ich habe das Gutachten gelesen und kann hier daraus zitieren, weil ich es mitgebracht habe — : Biedenkopf und sein ehemaliges Institut haben zu Recht darauf hingewiesen, daß, wenn das alles nicht eintrifft, ein weiterer öffentlicher Transfer von Geld, Personal und Sachleistungen in die östlichen Bundesländer erforderlich ist, daß sich unsere Haushalts-, Steuer- und Wirtschaftspolitik für diesen Fall beizeiten darauf einstellen muß und daß die Finanzminister von Bund und Ländern für diesen Fall rechtzeitig in die Diskussion eintreten müßten. Das halte ich für ganz selbstverständlich.Aber für genauso selbstverständlich halte ich, daß wir alle erst einmal abwarten, welche zusätzlichen Wirkungen mit dem Programm Aufschwung Ost denn eintreten werden. Investitionen für 24 Milliarden DM wollen ja erst einmal in Auftrag gegeben sein und das Geld auch ausgegeben werden. Wenn sie in Auftrag gegeben sind, sollten wir uns, finde ich, wieder darüber unterhalten, ob aus öffentlichen Kassen Zusätzliches erforderlich ist oder nicht.Schönen Dank.
Meine sehr geehrten Herren und Damen, die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Von den insgesamt 13 Kollegen und Kolleginnen, die heute in der Aktuellen Stunde gesprochen haben, haben sich immerhin acht an die Zeit gehalten. Das ist eine deutliche Verbesserung gegenüber dem letzten Mal. Vielleicht verbessern wir uns das nächste Mal noch ein bißchen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 18. April 1991, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.