Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich zunächst dem Herrn Kollegen Schulze nachträglich im Namen des Hauses ganz herzlich gratulieren. Er ist am 1. September 71 Jahre alt geworden.
Der Herr Abgeordnete Scherrer hat am 31. August 1990 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Herr Abgeordnete Herberholz am 1. September 1990 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den Kollegen ganz herzlich im Deutschen Bundestag.
Für den Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes sind einige Nachwahlen erforderlich geworden: Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, daß Herr Kollege Gerster als stellvertretendes Mitglied aus dem Vermittlungsausschuß ausgeschieden ist.
Als Nachfolger wird Herr Kollege Dr. Blens vorgeschlagen.Die Fraktion DIE GRÜNEN teilt mit, daß Frau Kollegin Nickels als ordentliches Mitglied aus dem Vermittlungsausschuß ausscheidet und den Sitz als stellvertretendes Mitglied übernehmen soll. Herr Kollege Dr. Lippelt , der bisher stellvertretendes Mitglied war, soll ordentliches Mitglied werden.Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Damit sind Herr Kollege Dr. Lippelt als ordentliches Mitglied, Frau Kollegin Nickels und Herr Kollege Dr. Blens jeweils als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Beratung des Antrags des Abgeordneten Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung des Grundgesetzes — Drucksache 11/7780 —2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Such, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes — Drucksache 11/7142 —3. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Umgestaltung des Zivildienstes im Sozialbereich — Maßnahmen zum Schutz der Kriegsdienstverweigerung — Drucksache 11/7772 —Zugleich soll bei den Tagesordnungspunkten 4 und 5 von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.Darüber hinaus ist interfraktionell vereinbart worden, die in der verbundenen Tagesordnung aufgeführten Punkte 1 g), h) und i) — das sind die Drucksachen 11/7767, 11/7765 und 11/7544 — abzusetzen.Weiterhin besteht interfraktionelles Einvernehmen darüber, den bereits überwiesenen Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über Bausparkassen auf Drucksache 11/7424 nachträglich dem Wirtschaftsausschuß zur Mitberatung zu überweisen.Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? — Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung und Zusatztagesordnungspunkt 1 auf:1. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungsvertragsgesetz —— Drucksache 11/7760 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß Deutsche Einheit
Auswärtiger AusschußInnenausschußSportausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
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17484 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Präsidentin Dr. SüssmuthAusschuß für VerkehrAusschuß für Post und TelekommunikationAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche BeziehungenAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Bildung und WissenschaftAusschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GOb) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Straffreiheit bei Straftaten des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit— Drucksache 11/7762 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Innenausschußc) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Inkraftsetzung von Vereinbarungen betreffend den befristeten Aufenthalt von Streitkräften der Französischen Republik, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin und von sowjetischen Streitkräften auf dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet nach Herstellung der Deutschen Einheit— Drucksache 11/7763 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschußd) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Haushaltswahrheit und -klarheit: Gesamtdeutscher Haushalt 1991 noch in diesem Jahr— Drucksache 11/7756 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuße) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stratmann-Mertens, Frau Vennegerts und der Fraktion DIE GRÜNENVerabschiedung des Dritten Nachtragshaushaltsgesetzes und Verabschiedung des ersten gesamtdeutschen Haushaltsgesetzes vor den Bundestagswahlen— Drucksache 11/7766 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß Deutsche Einheit Haushaltsausschußf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Garbe, Häfner, Hüser, Frau Kottwitz, Stratmann-Mertens, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNENDemokratische, soziale und ökologische Eckpunkte zum Einigungsvertrag— Drucksache 11/7764 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß Deutsche Einheit InnenausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit HaushaltsausschußZP1 Beratung des Antrags des Abgeordneten Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung des Grundgesetzes — Drucksache 11/7780 —Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung sechs Stunden vereinbart worden. Eine Mittagspause ist von 13 bis 14 Uhr vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach dem Beschluß der Volkskammer vollzieht sich der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands, der Einigungsvertrag, soll die Grundlagen dafür schaffen, daß dieser Beitritt in geordneten Bahnen verlaufen kann. Der Einigungsvertrag will damit zur Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands beitragen, und er soll die Voraussetzungen dafür schaffen, daß das Ziel einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland möglichst bald erreicht werden kann. Er soll auch dazu beitragen, daß die großen, dramatischen Veränderungen, die sich für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands, vor allen Dingen aber für die Menschen in dem Teil Deutschlands, der heute noch die DDR ist, in kurzer Zeit ergeben haben, für diese Menschen erträglich bleiben: sozial, wirtschaftlich, auch politisch, psychologisch und moralisch.Der Einigungsvertrag will so einen Beitrag dazu leisten, daß die Menschen im vereinten Deutschland wirklich zueinander finden; denn es wird noch einiges an Anstrengungen von allen erfordern, daß wir uns nach der Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 tatsächlich in diesem vereinten Deutschland in den vielen Bereichen, in denen wir ganz unterschiedliche historische und politische Erfahrungen und Belastungen haben, möglichst rasch wieder zusammenfinden können.Dazu gehört dann auch — auch das ist ein Ziel des Einigungsvertrages — , daß die Hinterlassenschaft von über 40 Jahren Diktatur, real existierendem Sozialismus und Teilung unseres Vaterlandes so rasch wie möglich überwunden wird
und daß die Narben, die die Teilung und die Diktatur geschlagen haben, so gut wie möglich und so schnell wie möglich heilen können. Niemand wird sich einer Illusion darüber hingeben, daß diese über 40 Jahre Teilung und das, was dieses Unrechtsregime bedeutet hat, vielen Menschen dauerhaft Wunden, Verletzungen geschlagen haben und daß Narben bleiben werden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17485
Bundesminister Dr. SchäubleMit dem 3. Oktober wird das Kapitel deutscher Geschichte abgeschlossen, das in der DDR und für die DDR und für die Teilung unseres Vaterlandes mit Mauer und Stacheldraht, mit Selbstschußanlagen und Minenfeldern, mit Wachtürmen und Schießbefehl, mit dem Stechschritt von Soldaten beschrieben ist. Die Geschichte des Stechschritts ist noch ein bißchen länger; aber sie geht auch am 3. Oktober 1990 zu Ende, und auch dies ist gut. Aber die Erinnerung an ein System wird bleiben, das in seiner Hybris die Gefangennahme und Erniedrigung von Menschen — am Ende durch eine Riege alter Herren, gestützt auf einen perfekt organisierten Bespitzelungs- und Unterdrükkungsapparat — für weitere hundert Jahre für möglich gehalten hat; denn es ist noch nicht lange her, daß der Mauer noch eine weitere Existenz von hundert Jahren vorhergesagt worden ist.Wir wollen in diesen Tagen auch an die Menschen denken, die das Opfer der Teilung geworden sind: die 16 Millionen Deutschen in der DDR, viele hier im Westen, deren Familien zerrissen und zerschnitten worden sind und die erst jetzt, seit dem 9. November vorigen Jahres, wieder zusammengefunden haben; oder diejenigen, die bei dem Versuch, von Deutschland nach Deutschland oder von Berlin nach Berlin zu kommen, ihr Leben gelassen oder Jahre schwerer Gefangenschaft in Kauf genommen haben — oder was einem noch alles in diesen Wochen und Monaten durch den Kopf geht. Der Vertrag will, daß wir mit diesem Erbe möglichst gut im vereinten Deutschland fertig werden können.Dieser Einigungsvertrag, meine Damen und Herren, ist in der Rechtsgeschichte durch seine Regelungsbreite und durch die Notwendigkeit, einen hochentwickelten, manchmal perfektionistischen Rechtsstaat, wie wir ihn in der Bundesrepublik Deutschland in 40 Jahren entwickelt haben, zu vereinheitlichen, wahrscheinlich ohne Beispiel.
— Nicht in allen Fragen; Gott sei Dank, Herr Conradi.Dies mit einem System von über vier Jahrzehnten Unrechtsstaat auf der anderen Seite, in dem der einzelne Mensch, das Individuum, keine besondere Ziel- und Schutzrichtung staatlicher rechtlicher Regelung war, in dem es keine unveräußerlichen Menschenrechte gegeben hat, zu vereinheitlichen, ist also, wie wohl auch die friedlich verlaufene Revolution in der DDR, wahrscheinlich ohne Beispiel, und auch der Prozeß der Einigung unseres Vaterlandes seit dem 9. November vergangenen Jahres ist ohne Beispiel.
Insofern spiegelt der Vertrag die Besonderheiten dieses Prozesses friedlicher Revolution in der DDR wider, die auch dadurch gekennzeichnet war, daß sie sehr rasch in die Bahnen des formal fortgeltenden alten Rechts, einschließlich der alten Verfassung der DDR, gelenkt wurde. Mit den Mitteln dieses alten formal weitergeltenden Rechts und der Verfassung wurde der revolutionäre Prozeß abgewickelt, gemeistert, auch beherrscht. Manche bei uns in der Bundesrepublik haben darüber gelegentlich überheblicheoder auch spöttische Bemerkungen gemacht. Ich habe großen Respekt vor all denjenigen, die in der DDR die Verantwortung dafür übernommen haben, daß dieser Prozeß so verlaufen ist; denn er ist auf diese Weise, nur auf diese Weise, friedlich und ohne Blutverlust verlaufen. Das ist das Einzigartige dieser Revolution.
Über 40 Jahre Diktatur und sozialistischen Totalitarismus mit den Mitteln des Rechtsstaats ab- und aufzuarbeiten, meine Damen und Herren, ist ein schwieriges Unterfangen. Auch dies haben wir bei der Erarbeitung dieses Vertrages gelernt, und es beschäftigt uns bis in diese Tage hinein. Sie wissen, daß uns zuletzt bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag — das gehört unmittelbar dazu — etwa die Frage beschäftigt hat: Wie halten wir es mit einem besonders ekelerregenden Teil dieser sozialistischen Vergangenheit, mit den Stasi-Akten?
Ich finde, wir haben im Einigungsvertrag eine faire und gute Regelung gefunden, die die besondere Empfindsamkeit und Sensibilität der 16 Millionen Deutschen in der DDR, die in besonderer Weise von dem entsetzlichen Treiben der Staatssicherheit betroffen sind, berücksichtigt; denn wir haben im Vertrag festgeschrieben, daß die Akten bis zu einer gesetzlichen Regelung, die der gesamtdeutsche Gesetzgeber zu schaffen hat, in gesicherter Verwahrung in der DDR verbleiben und daß sie unter der Verantwortung eines Sonderbeauftragten stehen, der auf Vorschlag des Ministerrats der DDR, der der Zustimmung der Volkskammer bedarf, bis spätestens zum 2. Oktober zu berufen ist.Ich denke, daß wir auf diese Weise dem Rechnung getragen haben, was in der Volkskammer noch in den letzten Tagen der vergangenen Woche beschlossen worden ist. Wir waren uns alle darüber einig, daß wir den Umgang mit diesen unsäglichen Akten, die natürlich auch viele Menschen, die hier in der Bundesrepublik leben — wenn ich nur an das unsägliche Treiben des Abhörens des Telefonverkehrs erinnern darf —, betreffen,
nach streng rechtsstaatlichen Grundsätzen regeln müssen, daß wir die Gesichtspunkte des Datenschutzes und der Sicherheit dieser Daten gewährleisten müssen, daß wir sicherstellen müssen, daß von dieser Tätigkeit Betroffene eine Chance der Rehabilitierung und der Aufklärung haben,
und daß wir im übrigen sicherstellen müssen, daß das Unwesen der Staatssicherheit nicht noch dadurch fortgesetzt werden kann, daß Presseorgane und andere auch in Zukunft mit gezielten Veröffentlichungen ihr Schindluder treiben.
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17486 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Herr Minister Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer?
Bitte sehr.
Herr Minister Schäuble, Ihnen ist sicherlich bekannt, daß es in der Frage der Stasi-Akten einen sehr ungewöhnlichen Vorgang in der Volkskammer gegeben hat, nämlich den, daß sie
— mit nur zwei Gegenstimmen — interfraktionell einstimmig eine andere Lösung beschlossen hat. Fanden Sie es eigentlich nötig, gegen diesen einstimmigen Beschluß der Volkskammer etwas anderes vorzuschlagen, und können Sie verstehen, daß viele DDR-Bürger und auch Volkskammerabgeordnete das so interpretieren, daß sie sagen „Jetzt soll uns auch noch die Verfügung über unsere Geschichte, über etwas, was wirklich unsere Geschichte ist, weggenommen werden' ?
Ich kann das verstehen; ich spreche ja gerade davon, Frau Kollegin Vollmer. Aber vielleicht können Sie verstehen
— und vielleicht schaffen wir es gemeinsam, daß unsere Kollegen in der Volkskammer es auch verstehen — , daß das Gesetz, das sie in der Volkskammer eine Woche zuvor geschaffen hatten, in ihrem eigenen Interesse nicht zureichend ist, weil es Minimalia rechtsstaatlicher Anforderungen nicht erfüllt.
Deswegen haben wir uns nach dem Beschluß der Volkskammer — ich spreche ja gerade davon — in den letzten Stunden der Verhandlungen bemüht, auf der Grundlage des Beschlusses der Volkskammer eine vorläufige Regelung zu finden, die Sie in der Anlage I zum Vertragsentwurf finden — wenn Sie die Drucksache nehmen: auf den Seiten 28ff.; ich habe gerade daraus zitiert — , um dem, was die Volkskammer verständlicherweise zum Ausdruck gebracht hat, in einer möglichst guten und richtigen Weise Rechnung zu tragen. Vor allem ist sichergestellt — ich sage das noch einmal — , daß die Akten in der DDR, auf dem Gebiet der DDR, verbleiben sollen und daß derjenige, der dafür verantwortlich ist, daß sie sicher verwahrt werden, auf Beschluß des Ministerrats mit Zustimmung der Volkskammer ernannt werden soll.
Nun gibt es jetzt eine Besetzung in Ost-Berlin.
— Ist ja in Ordnung! Ich finde, wir tragen wirklich
— das ist ja das Thema dieses Tages und die Aufgabe, die sich uns in diesen Wochen und Monaten stellt — alle miteinander Verantwortung dafür, daß der Prozeß der deutschen Einheit gut bewältigt wird. Wenn es zusätzlicher Erläuterungen dessen bedarf, was im Einigungsvertrag angelegt und beschlossen ist und was den Interessen der Menschen in der DDR entspricht, dann bin ich bereit, diese zu geben, und dann sollten wir uns auch gemeinsam darauf verständigen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch?
Frau Präsidentin, irgendwann will ich mit dem Vertrag weiterkommen, aber bitte sehr, Herr Hirsch.
Herr Minister, ich bedanke mich sehr. — Es ist zwar richtig, daß der Vertrag in weiten Teilen den Intentionen des Volkskammergesetzes entspricht, und zwar weitergehend, als die Demonstranten in Ost-Berlin offenbar wissen. Aber ist es nicht so, daß der wesentliche Unterschied darin besteht, daß nach dem Einigungsvertrag auch Nachrichtendienste, sogenannte andere Behörden, unter bestimmten Bedingungen Zugang zu diesem Material bekommen und daß wir ihnen damit zum ersten Male den Zugang zu bzw. den Gebrauch von illegal gewonnenen Daten gestatten würden?
Herr Kollege Hirsch, wir haben in der Anlage I, auf den Seiten 24 und 25, sehr genau und unter ganz engen und strengen Voraussetzungen geregelt, was in dieser vorläufigen Phase mit diesen Akten geschehen darf und was nicht. Wie Sie zu Recht sagen: Wahrscheinlich wissen diejenigen, die in diesen Stunden in OstBerlin und anderswo in der DDR berechtigte Sorgen haben, gar nicht genau, was wir geregelt haben. Deswegen sollten wir uns gemeinsam bemühen — es ist ja auch nur eine vorläufige Regelung — , diesen besorgten Menschen, deren Besorgnisse wir ernst nehmen, die notwendigen Aufklärungen zu vermitteln,
und wir sollten in einem gesamtdeutschen Parlament durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber in dieser besonders schwierigen Frage möglichst rasch eine gute und endgültige Regelung schaffen.
Wir haben all diese Regelungen sehr sorgfältig und einvernehmlich erarbeitet. Das, wovon der Kollege Hirsch spricht, war in der Fassung enthalten, die wir dann auf Grund des Beschlusses der Volkskammer noch einmal grundlegend verändert haben. Ich möchte Sie wirklich einladen, dabei mitzuwirken, nicht die Verunsicherung in der DDR zu schüren, sondern dabei mitzuhelfen,
daß die Menschen in der DDR das notwendige und begründete Vertrauen in den Prozeß der deutschen Einheit haben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17487
Bundesminister Dr. Schäuble— Dazu komme ich. Dazu will ich gleich etwas sagen: Ich glaube, daß das Parlament in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nie in einem solchen Maße in Vertragsverhandlungen einbezogen worden ist,
wie es im Ausschuß Deutsche Einheit der Fall gewesen ist,
der vor jeder Runde der Verhandlungen von mir über alle Verhandlungspositionen umfassend unterrichtet worden ist.
Ich kann nichts dafür, daß Sie im Ausschuß Deutsche Einheit nur über einige wenige Punkte diskutiert haben. Ich habe alle Papiere vorgelegt. Ich war vor jeder Verhandlungsrunde und nach jeder Verhandlungsrunde unbegrenzt gesprächsbereit.
Es hat nie eine stärkere Einbeziehung des Bundestages wie der Bundesländer in Vertragsverhandlungen, die die Bundesregierung zu führen hatte, gegeben als in diesen Verhandlungen.
— Frau Präsidentin, jetzt möchte ich gern zu einigen weiteren wichtigen Punkten des Vertrages sprechen. Verstehen Sie das bitte, Herr Kollege.Zu dem, was an Erbe, zu dem, was an Problemen aus unterschiedlichen Erfahrungen in beiden Teilen Deutschlands nach 40 Jahren Teilung kommt, was uns auch in der Zukunft Probleme macht und was in diesem Vertrag schwierig zu regeln war, gehören die Regelungen dessen, was schon in der gemeinsamen Regierungserklärung vom 15. Juni als offene Vermögensfragen bezeichnet worden ist. Es geht um die Frage: Wie kann das Unrecht von Enteignungen in diesen 45 Jahren in einer solchen Weise bewältigt und wiedergutgemacht werden, daß Gegenwart und Zukunft nicht allzusehr Schaden leiden und daß aus altem Unrecht nicht neues Unrecht wird? Das ist die schwierige, mit die schwierigste Frage bei der Regelung offener Vermögensfragen.Ich verstehe sehr wohl alle diejenigen Mitbürger, die sich schwertun mit der Vereinbarung, die sich schwertun mit der Erklärung dazu, daß die Enteignungsmaßnahmen, die in dem Zeitraum von 1945 bis 1949 unter der Verantwortung der Besatzungsmacht ergriffen worden sind, in der Vielzahl der ganz unterschiedlichen Einzelfälle nicht rückgängig gemacht werden können. Ich verstehe sehr wohl die Besorgnisse, die Verärgerung und den Protest vieler davon betroffener Mitbürger bzw. ihrer Kinder oder Enkel.
Ich sage auf der anderen Seite: Man kann in der Geschichte Krieg, Teilung, Unrecht, Diktatur nicht rückgängig machen, man kann Unrecht nicht perfekt Punkt für Punkt rückgängig machen. Nach einer so langen Zeit — in den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern herrschten seit beinahe 60 Jahren weder Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit, nämlich von 1933 bis zum 18. März 1990 — läßt sich das nicht in Form der Einzelfallgerechtigkeit aufarbeiten; vielmehr brauchen wir pauschalierende Regelungen auch bei der Rückgängigmachung von Unrecht in Eigentums- und Vermögensfragen und bei ihrer Abwicklung.
Solche Regelungen haben wir in diesem Vertrag — unter Festschreibung der gemeinsamen Regierungserklärung vom 15. Juni — entwickelt. Wir haben dabei versucht, Wege zu finden, die den Betroffenen gerecht werden. Betroffene sind auch diejenigen, die auf der Grundlage von unrechtmäßigen Enteignungsmaßnahmen seit 35 Jahren gutgläubig und im Vertrauen auf die Beständigkeit ihrerseits Eigentums- und Nutzungsrechte erworben haben.
Deswegen sage ich: Man kann altes Unrecht nicht durch neues Unrecht rückgängig machen,
sondern man kann am Ende das Problem nur dadurch lösen, daß man Ausgleichsleistungen beschließt. Wir haben verabredet, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber insoweit über Ausgleichsleistungen zu beschließen hat.Ich werbe mit aller Eindringlichkeit um Verständnis für diejenigen, die sich mit diesen Regelungen nur schwer abfinden können, aber auch um Verständnis dafür, daß anders eine friedensstiftende Regelung bei den offenen Vermögensfragen nicht zu erreichen ist, daß es letztlich, meine Damen und Herren, nach mehr als 40 Jahren der Teilung in allererster Linie darum geht, Gegenwart und Zukunft für unser deutsches Vaterland zu sichern,
und daß dies noch wichtiger ist als die Aufarbeitung der Vergangenheit. Ich werbe dafür, daß wir uns dieser Verantwortung in diesen Tagen bewußt bleiben.Zu den Besonderheiten der Entwicklung in Deutschland, die sich auch in diesem Vertrag widerspiegeln, gehört das Tempo, in dem sich diese Entwicklung vollzogen hat. Meine Damen und Herren, seit dem 9. November, seit dem Fall der Mauer hat sich die Entwicklung hin zur Vollendung der deutschen Einheit immer mehr beschleunigt. Das Tempo hat niemand hier in der Bundesrepublik Deutschland bestimmt.
Niemand hat zur Eile getrieben. Niemand hat überstürzt. Die Menschen, Herr Kollege, es waren dieMenschen in der DDR, die nach mehr als 40 Jahren
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17488 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Bundesminister Dr. SchäubleUnrechtsstaat, Diktatur, Sozialismus, Teilung nicht mehr länger geteilt leben wollten, sondern die mit uns zusammen so rasch wie möglich in Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft leben wollten
und die keine Geduld mehr hatten. Wenn es uns ernst ist mit unserer Verantwortung für die Einheit, müssen wir für diese Menschen Verständnis aufbringen, Verständnis dafür, daß sie nicht noch einmal 10 Jahre oder 15 Jahre warten wollen, bis sie so leben können wie wir im Westen. Denn man muß doch wissen, daß sich in all den Jahrzehnten der Teilung für die Menschen der DDR vieles an Erwartungen, Maßstäben, Wünschen und Sehnsüchten aus dem Bild, das sie von uns im Westen hatten, gebildet hat. Nachdem die Mauer gefallen ist, wollen sie, daß sich ihre Erwartungen möglichst schnell erfüllen. Sie haben so wenig Geduld wie wir hier im Westen. Deswegen ist die Entwicklung so schnell verlaufen. Niemand hat sie beschleunigt!
Meine Damen und Herren, nun wird eine Diskussion darüber geführt, was das alles koste, wie schnell und überstürzt die Entwicklung sei und daß alles zu schnell gehe. Herr Lafontaine ist der markanteste Vertreter dieser Auffassung. Nach dem Fall der Mauer haben bis März dieses Jahres monatlich Hunderttausende von Menschen die DDR als Übersiedler verlassen, weil sie kein Vertrauen hatten, daß es in der DDR rasch besser wird. Diese Menschen haben dann in der DDR gefehlt, und sie waren in der Bundesrepublik zuviel. Da wir diesen Prozeß nicht durch eine neue Mauer aus Paragraphen stoppen wollten, wie es Herr Lafontaine vorgeschlagen hat, haben wir uns für den anderen Weg entschieden.
— Ja, natürlich! Das müssen Sie schon ein paarmal hören.
— Das, Herr Kollege Vogel, müssen Sie solange hören, bis Sie versprechen, daß Sie nie mehr sagen, daß der Prozeß überstürzt sei.Ich kann überhaupt nicht erkennen, daß es mit der deutschen Einheit zu schnell gegangen wäre. Ich finde, es ist bei über 40 Jahren Teilung viel zu langsam gegangen.
Solange Sie oder Ihre Parteigenossinnen und Parteigenossen sagen, es sei zu schnell gegangen und deswegen sei es zu teuer, und solange Sie deswegen hier den Menschen Neid einreden und bei den Menschen drüben Ängste schüren, so lange muß ich Ihnen sagen, daß Sie eine Mauer aus Paragraphen gegen die Übersiedler bauen wollten und daß wir statt dessenauf die Politik schneller Hilfe gesetzt haben und damit erfolgreich waren.
— Deswegen sage ich:
Wenn Sie versprechen, daß Sie all Ihre polemischen Verzerrungen nicht mehr —
— Kann er nicht? Aber nach der Kleiderordnung müßte er es können.
— Das ist wahr. Klarsichthüllen und Kleiderordnung, „K. u. K." , beides ist gut.
— Ich schaffe ja sehr viel Klarheit. Es fällt Ihnen nur schwer, sie zu ertragen.
— Sehen Sie, Sie fangen schon wieder an.
Die Diskussion ahne ich schon. Es fällt Ihnen ja nichts anderes ein, als zu sagen, das alles sei viel zu schnell gegangen und sei zu teuer. Ich sage Ihnen: Die deutsche Einheit ist keine Frage der Kosten, sondern die schnelle Bewältigung des Erbes von 40 Jahren Teilung ist eine Frage von Investitionen in die gemeinsame Zukunft unseres Vaterlandes. Daß dies natürlich hohe Milliardenbeträge an Investitionen erfordert, ist gar keine Frage. Aber das ständige Rufen: „Was kostet der Einigungsvertrag?" ist eine unsinnige Fragestellung
— Schreien Sie doch nicht immer dazwischen! —, denn je besser wir diesen Prozeß bewältigen, um so schneller wird der Prozeß der wirtschaftlichen Gesundung stattfinden, und je schneller die wirtschaftliche Gesundung in der DDR erfolgt, um so schneller werden wir auch die finanziellen Aufgaben, die sich mit der Bewältigung der Überwindung der deutschen Teilung stellen, meistern.Es wird sich in wenigen Jahren herausstellen, daß der Prozeß der Vollendung der deutschen Einheit und der Prozeß des Wiederaufbaus des Teils, der heute noch DDR heiß, einen gewaltigen Schub wirtschaftlichen Wachstums für ganz Deutschland, auch für uns in der Bundesrepublik Deutschland, bedeutet und daß wir durch diesen Prozeß alle miteinander, meine Damen und Herren, nicht ärmer, sondern reicher wer-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17489
Bundesminister Dr. Schäubleden. Deswegen finde ich, daß Sie diese Diskussion endlich einmal lassen sollten.
Dann will ich Ihnen auch noch sagen: Es ist ja gar keine Frage, daß wir zur Bewältigung dieser Aufgaben sehr viel Geld brauchen. Das ist überhaupt keine Frage. Die Frage, über die wir streiten, ist, wie wir zu möglichst hohen Steuereinnahmen kommen. Da sage ich Ihnen: Den Sozialisten fällt, wenn sie große Aufgaben haben und Geld brauchen, nie etwas anderes ein, als die Steuersätze zu erhöhen.
Auf diese Weise haben Sie den Staat in den 70er Jahren ziemlich heruntergewirtschaftet und ziemlich zahlungsunfähig gemacht.
Wir haben mit einer Politik bemessener Steuersenkungen 1986, 1988 und 1990 das wirtschaftliche Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland so nachhaltig verstärkt, daß die Steuereinnahmen wesentlich höher gestiegen sind als vor diesen Steuersenkungen. Es kommt ja nicht darauf an, möglichst hohe Steuersätze zu haben.
— Herr Vogel, warum schreien Sie eigentlich unablässig? Sie können doch nachher zu Wort kommen. Ich würde nun wirklich vorschlagen: Wir reden hintereinander.
Ich finde wirklich: Es macht in einer parlamentarischen Debatte doch keinen Sinn, wenn während der eine redet, die anderen permanent schreien. Sie haben diese Rolle ja ganz den GRÜNEN abgenommen. Früher kam das Extrem immer aus dieser Ecke. Ich weiß gar nicht, was Sie heute haben.
Ich sage noch einmal: Wir brauchen hohe Steuereinnahmen. Die bekommen wir durch eine funktionierende Wirtschaft, und diese würden wir durch Steuererhöhungen sehr beeinträchtigen. Deswegen sind Steuererhöhungen der falsche Weg, um die Aufgaben der deutschen Einheit zu meistern.
Bei aller Geschwindigkeit, meine Damen und Herren, mit der sich die deutsche Einheit vollzieht und der wir in diesem Einigungsvertrag Rechnung tragen mußten, war, ist und bleibt es wichtig, daß sich der Prozeß der deutschen Einheit in einem völligen Einvernehmen mit den Vier Mächten, die bisher für Deutschland und Berlin als Ganzes Verantwortung tragen, mit unseren Nachbarn und Freunden in Europa, in Nord, Süd, Ost und West vollzieht.Zu den wirklichen Wundern des Jahres 1990 gehört, daß sich die deutsche Einheit mit der Zustimmung aller in Europa und der Vier Mächte sowie in einem völligen Einvernehmen vollzieht. Wenn einmal die großen staatsmännischen Leistungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewürdigt werden, dann wird dies — davon bin ich überzeugt — vor der Geschichte zu den wirklich bleibenden, großen Verdiensten dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers Helmut Kohl gehören.
— Die Bundesregierung hat einen hervorragenden Außenminister. Sie hat einen sehr guten Finanzminister. Sie hat einen ganz leidlichen Innenminister. Sie hat viele andere hervorragende Persönlichkeiten, und sie wird von einem ausgezeichneten und verdienstvollen Bundeskanzler geführt. So ist das.
Die Bundesregierung hätte — auch das ist wahr — eine bessere Opposition verdient. Aber wir schaffen es trotzdem.
Ich würde bitten, meine Damen und Herren, daß Sie mir wirklich erlauben, in aller Ruhe darauf hinzuweisen, wie wichtig das ist. Wir haben dem im Einigungsvertrag Rechnung getragen. Wir haben bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag auf den Fortgang und Abschluß des Prozesses der Verhandlungen beider deutschen Staaten mit den Vier Mächten Rücksicht genommen. Wir haben im Einigungsvertrag darauf geachtet, daß die völkerrechtlichen Verträge für beide deutschen Staaten in einer geordneten Weise abgewickelt und überführt werden.Wir haben eine hervorragende Unterstützung, für die man gar nicht genug danken kann, von der Europäischen Gemeinschaft und insbesondere von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft erfahren.
Es ist schon nicht ganz selbstverständlich, sondern aller Ehren und allen Dankes aller Deutschen wert, in welcher Weise die Europäische Gemeinschaft den Prozeß der deutschen Einheit, mit dem ja die DDR Mitglied der Europäischen Gemeinschaft wird, begleitet und unterstützt hat.Es ist auch wichtig, daß in allen Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Regierungen die Kommission der Europäischen Gemeinschaft am Verhandlungstisch vertreten war. Ich möchte mich dafür ausdrücklich und herzlich bedanken. Ich glaube, das ist wichtig.Es war ferner wichtig, daß der Termin des Beitritts erst nach der KSZE-Außenministerkonferenz erfolgt. Dann findet er ja so früh wie möglich statt; denn er ist am Tag nach dieser Außenministerkonferenz.Es hat viel Anstrengungen und Sorgfalt gekostet — wir haben es bisher gut zustande gebracht —, daß wir uns bei diesem Tempo der Entwicklung hin zur Einheit in Deutschland die Zustimmung und Unter-
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17490 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Bundesminister Dr. Schäublestützung aller in der Welt, insbesondere der Vier Mächte und der Partner und Nachbarn in Deutschland und Europa erhalten haben. Aber natürlich bedeutet dies nicht nur die Überleitung völkerrechtlicher Verträge im Einigungsvertrag, sondern es bedeutet auch den schmerzlichen Schritt, zu dem wir uns mit der gemeinsamen Entschließung von Bundestag und Volkskammer entscheiden mußten, nämlich zu akzeptieren und auszusprechen, daß der Prozeß der deutschen Einheit mit dem Beitritt der DDR abgeschlossen ist und daß die Grenze zwischen dem vereinten Deutschland und Polen an Oder und Neiße die endgültige Grenze zwischen Deutschland und Polen sein wird.
Ich will die Debatte, die wir mit großem Ernst und großer Eindringlichkeit geführt haben, nicht wiederholen, aber ich finde, wir sollten in dieser Stunde auch an diejenigen denken, denen dieser Schritt unendlich schwerfällt; wir sollen auch für diejenigen Verständnis haben und mitempfinden. Auch das gehört zur deutschen Einheit.Aber ich finde, wir sollten auch klar aussprechen, daß wir die Chance, die Einheit Deutschlands im Jahre 1990 zu verwirklichen, und zwar friedlich und mit Zustimmung aller und als Beitrag zur Einheit Europas, uns nur erhalten und nutzen konnten, indem wir uns zu diesem notwendigen Schritt bereitgefunden haben. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Man kann im Leben nie alles zusammen haben.
Dies findet sich darin wieder, was mit der Inkraftsetzung des Grundgesetzes in dem beitretenden Gebiet zugleich an Änderungen des Grundgesetzes im Einigungsvertrag vorgeschlagen wird, weswegen wir die Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat für das Inkrafttreten dieses Vertrages brauchen.Der Einigungsvertrag sieht vor, daß wir die Präambel unseres Grundgesetzes in Zukunft so formulieren, daß klar ist, daß der Prozeß der deutschen Einheit damit abgeschlossen ist. Die Präambel des Grundgesetzes soll nach Art. 4 des Vertrages in Zukunft lauten:Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen,hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
— Ich weiß nicht, ob Sie sich nicht ein bißchen schämen, daß Sie an dieser Stelle auch noch dazwischenrufen.
Ein bißchen Sinn für Würde sollten Sie auch noch haben. Ich verlese die Präambel des künftigen Grundgesetzes des vereinten Deutschlands, und Sie machen an dieser Stelle noch Zwischenrufe.
Ich zitiere weiter:
Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein, im Augenblick nicht. Man erkennt die Absicht und wird verstimmt.
Ich bin ja bereit, Zwischenfragen zu beantworten, aber ich bin eigentlich nicht bereit, mich daran hindern zu lassen, dem Hohen Hause wenigstens einige Grundelemente dieses Vertrages vorzutragen, und zwar einigermaßen zusammenhängend.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu der Veränderung der Präambel des Grundgesetzes gehört auch, daß Art. 23 des Grundgesetzes ersatzlos gestrichen werden soll, so daß es in Zukunft keine Beitrittsmöglichkeiten mehr — wie bisher — geben wird. Dazu gehört schließlich auch, daß wir in Art. 146 des Grundgesetzes einen Zusatz aufnehmen wollen, der klarstellt, daß dieses Grundgesetz „nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt". Ich weiß, daß wir bezüglich Art. 146 sehr unterschiedliche Meinungen haben. Wir haben lange darüber diskutiert. Mein Grundprinzip bei diesen Verhandlungen war ja, daß wir den Konsens zwischen den politischen Lagern brauchen, um die notwendigen Mehrheiten zur Änderung des Grundgesetzes, nämlich die Zweitdrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat, zu erreichen. Deswegen war klar, daß wir uns an Verfassungsänderungen gegenseitig nichts zumuten können, was sich die eine oder andere Seite nicht selber zumuten will. Ich hätte mir sehr wohl vorstellen können, daß wir den Art. 146 aus dem Grundgesetz ersatzlos streichen. Aber ich weiß, daß es dafür die notwendigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nicht gibt.Infolgedessen ist es wichtig, daß wir festgehalten haben — das wird durch den Zusammenhang zwischen Art. 146 des Grundgesetzes und Art. 5 des Vertrags ganz klar — , daß die Frage einer Volksabstimmung nach Art. 146 eine Frage ist, die von den gesetz-
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Bundesminister Dr. Schäublegebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat als eine Änderung oder Ergänzung der Verfassung, d. h. mit den Mehrheiten nach Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes, entschieden werden kann und auch nur so entschieden werden kann, daß es also einen anderen Weg, zu einer Volksabstimmung nach Art. 146 des Grundgesetzes zu kommen, nicht gibt.
Das wird im Vertrag klargestellt. Darüber herrscht Einigkeit. Das ist auch für künftige verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Diskussionen wichtig und ausdrücklich festzuhalten.
Ich finde gut, daß es in Deutschland über alle politischen Lager und Gruppen hinweg eine spontane Zustimmung gegeben hat, den 3. Oktober 1990 zum Tag der Deutschen Einheit und zum gesetzlichen Feiertag zu machen, und daß wir auch das im Vertrag regeln.
— Auch darüber haben wir diskutiert.
— Wir fangen die Debatte gerade an.
Wir haben darüber z. B. mit den Bundesländern gesprochen. Wir haben in Gesprächen mit Partei- und Fraktionsvorsitzenden darüber gesprochen. Ich denke, es hat einen so breiten Konsens auch in den öffentlichen Äußerungen dazu gegeben, daß auch diese Regelung eine breite Zustimmung erfahren wird.Der wesentliche Teil des Einigungsvertrages ist— das ist seine wesentliche Aufgabe —, das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht auf das beitretende Gebiet, d. h. auf die DDR, überzuleiten und für eine Vereinheitlichung des Rechts im einigen Deutschland zu sorgen. Natürlich kann das nicht ohne Überleitungsbestimmungen gehen. Wir können nicht alle Gesetze, die heute in der Bundesrepublik Deutschland gelten, in einem Akt in vollem Umfang in der DDR in Kraft setzen. Wir haben eine Fülle von Maßgaben, wie die Gesetze übergeleitet werden, in den Vertrag aufnehmen müssen. Deswegen ist er eine umfangreiche Lektüre, aber jedenfalls eine interessante und gehaltvolle Lektüre.Ich will bei dieser Gelegenheit auf die Diskussion zurückkommen, ob wir das statt durch einen Vertrag durch den Gesetzgeber hätten machen können. Natürlich hätten wir das machen können. Aber, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir hätten bei einer Überleitung des Rechts nach dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz viele lange Monate gebraucht, wenn der gesamtdeutsche Gesetzgeber, Bundestag und Bundesrat, Gesetz für Gesetz mit oder ohne Maßgabe in der DDR hätte in Kraft setzen wollen. Es ist der entscheidende Vorteil eines Einigungsvertrages, daßwir auf einen Schritt bis zum 3. Oktober vollständige Klarheit über das Recht haben, das künftig im vereinten Deutschland gelten wird, und daß wir nicht den Prozeß der Investitionen, der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Belebung und des Wiederaufbaus in der DDR auf weitere Monate behindern. Deswegen war es so wichtig, daß dieser Einigungsvertrag zustande kommt. Er stellt einen besseren, sichereren und solideren Weg zur deutschen Einheit und zur Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse dar als jede denkbare Alternative. Deswegen bin ich allen so dankbar, den Bundesländern, den Partei- und Fraktionsvorsitzenden, den vielen Beamten und Mitarbeitern innerhalb der Bundesregierung, in der DDR und in den Bundesländern, die mit einem unsäglichen Maß an Mühe und Arbeit in den letzten Wochen und Monaten über alle Erfahrungen hinaus Anstrengungen geleistet haben, daß dieses Werk gelungen ist.
Gelegentlich wird von anderen viel über die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes gesprochen. Meine Damen und Herren, mit diesem Vertrag und auch mit dem Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hat der öffentliche Dienst in der Bundesrepublik Deutschland bewiesen, daß er in einem Maße leistungsfähig ist, daß wir stolz darauf sein können. Wir können auch in Zukunft unsere Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst selbstbewußt wahrnehmen.
Bei der Schaffung einheitlichen Rechts im vereinten Deutschland sind in vielen Punkten die ganz unterschiedlichen Erfahrungen zu berücksichtigen gewesen, meine Damen und Herren. Sie haben sich bei den Arbeiten am Einigungsvertrag, bei den leidenschaftlichen Diskussionen darüber, wiedergefunden. Es sind ganz unterschiedliche Erfahrungen, die wir in den 40 Jahren der Teilung gemacht haben.Es ist doch kein Wunder, sondern selbstverständlich, daß bei der Vereinigung von zwei Teilen Deutschlands, wo im einen seit über 40 Jahren Demokratie und Rechtsstaat ganz selbstverständlich und unbestritten sind und wo im anderen Teil seit beinahe 60 Jahren Staats- und Gesellschaftsordnungen bestanden, in denen der einzelne nichts und das Kollektiv alles bedeuteten, in denen nicht der einzelne im Mittelpunkt staatlicher Politik stand, die Einstellungen zum Schutz von Leben, auch von ungeborenem Leben, sehr unterschiedlich sind.Deswegen war es notwendig, und es war, soweit ich das gehört habe, auch nie umstritten, daß wir in der Frage, wie wir den Schutz ungeborenen Lebens sicherstellen, Zeit brauchen, um uns im vereinten Deutschland zu einer gemeinsamen Lösung zusammenzufinden. Wir haben im Vertrag nach leidenschaftlichen Debatten eine Lösung gefunden.Ich teile auch nicht die Meinung derjenigen, die gefragt haben: Gibt es eigentlich bei der deutschen Einheit über nichts anderes als über den Schutz ungeborenen Lebens zu streiten? Ich finde es ist wichtig
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17492 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Bundesminister Dr. Schäublegenug, über den Schutz von Leben — auch im besten Sinne des Wortes — zu streiten. Aber ich werbe dafür, daß wir uns zu dem bekennen, was wir im Vertrag nach intensiven und mühevollen Beratungen mit dem Versuch, aufeinander zuzugehen und zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, festgelegt haben, nämlich daß wir so rasch wie möglich im vereinten Deutschland den Schutz von Leben und die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen besser lösen, als wir das heute in beiden Teilen Deutschlands gelöst haben. Denn keiner kann behaupten, daß wir den Schutz von Leben in der Bundesrepublik Deutschland in Tat und Wahrheit besonders wirkungsvoll und gut geregelt hätten.Deswegen ist die Regelung, die wir im Vertrag schließlich gefunden haben, geeignet, das Menschenmögliche für den Schutz von Leben zu tun. Wenn wir jetzt sofort darangehen, mit finanzieller Hilfe des Bundes in der DDR ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen aufzubauen, dann wird ab dem 3. Oktober mehr für den Schutz von Leben in Deutschland getan, als bis zum 3. Oktober 1990 für den Schutz von Leben getan worden ist.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich will einen weiteren Punkt nennen, der uns bei den Vertragsverhandlungen zum Einigungsvertrag sehr wichtig war, der uns aber merkwürdigerweise im Ausschuß Deutsche Einheit nie beschäftigt hat: Wenn sich die 16 Millionen Deutschen in der DDR im vereinten Deutschland wiederfinden wollen, dann ist es nach meiner Überzeugung besonders wichtig, daß wir etwa über die Frage der Anerkennung von Bildungsabschlüssen schon mit dem Vertrag klare Regelungen schaffen. Wir haben, was die Bildungsabschlüsse anbetrifft, solche Regelungen im Art. 37 des Vertrages gefunden.Darüber hinaus ist es ebenfalls wichtig, daß wir im Vertrag im Art. 35 bei dem, was für die 16 Millionen Deutschen in der DDR, aber auch für uns alle im vereinten Deutschland wichtig ist, etwa auf dem Felde Kultur, auf dem Felde von Bildung und Wissenschaft und auf dem Felde des Sports Regelungen gefunden haben, die erhalten, was erhaltenswert ist. Sie können die Aufgabe bewältigen, das unter ganz unterschiedlichen Verhältnissen Geschaffene in einem Staat unter Berücksichtigung der Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern, die wir in dem Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland ja haben, zu vereinen. Wir haben dafür gute Regelungen gefunden.Deswegen werden mit dem Beitritt der DDR die 16 Millionen Deutschen in einem vereinten Deutschland nicht verloren sein. Vielmehr wird vieles von dem, was sie als Identität im guten Sinne mitbringen, durch diese Regelungen erhalten und bewahrt. Es war für uns alle bei den Vertragsverhandlungen ein wichtiges Leitziel, dafür zu sorgen, daß die 16 Millionen Menschen, die in den 40 Jahren im Schnitt sehr viel schlechter gestellt waren als wir in der Bundesrepublik Deutschland, die an den Folgen des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs stärker gelitten haben als wir im freien Teil unseres Vaterlandes, auf dem Weg zur deutschen Einheit nicht schwerer zu tragen haben als wir, sondern daß wir gut zusammenfinden.Das ist in den Vertrag eingeflossen. Auch deswegen ist es so wichtig, daß er zustande kommt. Denn wer Einheit wirklich will und nicht nur als Ausdruck staatlicher Organisation versteht, muß dafür sorgen, daß sich die Menschen alle in diesem einigen Deutschland finden können.Entsprechendes gilt für die Angleichung der Sozialsysteme. Natürlich haben wir alle seit dem 9. November erlebt, daß die Diskussionen über die angeblich so großartigen sozialen Errungenschaften des real existierenden Sozialismus in der DDR nur noch Hohngelächter auslösen. Wer einmal als Deutscher in der DDR erlebt hat, wie die Rentenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland gestaltet ist und wie soziale Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht worden ist, der nimmt das Wort „soziale Errungenschaften des real existierenden Sozialismus" in der DDR nicht mehr in den Mund.
— Sie sind schwer zu belehren; das ist wahr.
— Man soll die Hoffnung nicht aufgeben, Friedrich Vogel. Wenn ich nicht das Prinzip hätte, die Hoffnung nie aufzugeben, wäre ich in den zurückliegenden Wochen vielleicht manchmal verzagt. Aber weil ich daran festgehalten habe, daß man die Hoffnung nie aufgeben soll, ist es möglich gewesen, daß wir am Ende doch zu einem guten Ziel gekommen sind.
Wir haben in bezug auf die Angleichung der Sozialsysteme — das scheint mir wichtig zu sein — Regelungen vereinbart, bei denen die Menschen in der DDR in keinem Fall das Gefühl haben, daß sie durch den Beitritt zur Bundesrepublik schlechter gestellt werden als zuvor. Wir haben uns nach schwierigen Diskussionen auch darauf verständigt, daß wir die ganz eigenen Vorruhestandsregelungen in der DDR so lange behalten und weiterführen, daß niemand in der DDR das gegenteilige Gefühl haben kann und daß kein böser Bube in der DDR die Menschen aufhetzen kann, indem er ihnen wahrheitswidrig einredet, sie würden durch den Beitritt schlechter gestellt als zuvor.Deswegen führen wir etwa die Regelungen bei der Vorruhestandsregelung in der DDR durch den Vertrag so über, daß niemand schlechter gestellt wird, weder beim Eintrittsalter noch bei den Prozentsätzen der Vorruhestandsbezüge, als zuvor, weil es ja in Tat und Wahrheit so ist, daß alle Menschen in der DDR durch den Beitritt zur Bundesrepublik, durch den Prozeß der deutschen Einheit und schon durch die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion nicht ärmer, sondern reicher werden. Der Prozeß der deutschen Einheit ist weiß Gott kein Ereignis der Verarmung, sondern ein Ereignis, bei dem sich Wohlstand und soziale Sicherheit nun endlich auch für die Menschen im an-
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Bundesminister Dr. Schäublederen Teil Deutschlands erschließen. Das ist ja unsere Aufgabe und unser Ziel.
Es gehört zu den besonders schwierigen Aufgaben, die sich uns auch in den nächsten Wochen und Monaten stellen werden — auch das gehört zu den unterschiedlichen Erfahrungen und Gegebenheiten in den beiden Teilen Deutschlands — , daß das, was wir in der Bundesrepublik öffentliche Verwaltung nennen, in der DDR nach unseren Vorstellungen hoffnungslos personell überbesetzt ist, so daß wir deswegen bei Bund und Ländern die Zahl der Beschäftigten in den öffentlichen Verwaltungen in den nächsten Wochen und Monaten in einem erheblichen Maße werden abbauen müssen. Jeder weiß dies. Es hat auch keinen Sinn, dies zu verschweigen. Wir wollen ehrlich und offen miteinander umgehen. Die finanzielle Leistungsfähigkeit von Bund und Ländern würde bei dem Besoldungs- und Bezahlungsniveau, das wir in der Bundesrepublik haben und das ja auch die Menschen in der DDR möglichst rasch für sich anstreben, völlig erdrosselt werden, wenn wir nicht zu einem erheblichen Personalabbau in den öffentlichen Verwaltungen bei Bund und Ländern kämen.
Wir haben im Vertrag die Voraussetzungen dazu geschaffen. Wir haben auch die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß dieser Abbau sozial verträglich vonstatten geht. Denn auch das gilt: auch wenn die meisten der zwei Millionen Beschäftigten in den öffentlichen Verwaltungen der DDR Mitglieder der SED gewesen sind, müssen sie eine faire Chance haben, sich im Prozeß der deutschen Einheit wiederzufinden. Auch sie gehören zu dem vereinten Deutschland, und auch für sie wollen wir eine Chance für eine bessere Zukunft erschließen.Dazu haben wir in dem Einigungsvertrag Regelungen gesucht, die einen Ausgleich zwischen dem notwendigen Personalabbau, der Begrenzung der finanziellen Belastungen für die künftigen Gebietskörperschaften und dem Erfordernis, diesen Abbau sozial verträglich und auch für den einzelnen verträglich zu machen, schaffen.Das Wichtigste ist, daß die Entscheidungen im Einzelfall erfolgen. Es gibt keinen Automatismus bei den Entscheidungen. Jeder Fall muß im einzelnen entschieden werden. Wer für ein halbes Jahr Wartegeld bezieht, wird sofort in den Genuß von Qualifikations-, Umschulungs-, Fortbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt kommen, weil noch wichtiger als der Abbau von Personal ist, neue Arbeitsplätze zu schaffen und Beschäftigte für diese neuen, in großer Zahl zu schaffenden Arbeitsplätze zu qualifizieren. Deswegen sind Qualifikation und Umschulung das Wichtigste, was wir bewältigen müssen und was wir angelegt haben.Wir werden ab dem 3. Oktober Übergangsregelungen brauchen, um die Verwaltung in der DDR aufrechtzuerhalten. Die DDR gliedert sich ab dem 3. Oktober in Länder. Landtage werden am 14. Oktober gewählt. Landesregierungen werden erst einige Wochen später gebildet sein. Wir haben Regelungen gemeinsam zwischen Bund und Ländern gefunden— Bund und Länder wirken auch beim Aufbau der Verwaltungen in der DDR zusammen, leisten auch gemeinsam Verwaltungshilfe; wir haben dazu eine Clearing-Stelle zwischen Bund und Ländern verabredet — , damit dieser Prozeß des Übergangs in den kommenden Wochen und Monaten in der DDR in einer Weise bewältigt werden kann, daß keine Unordnung ausbricht, daß sich der wirtschaftliche Gesundungs- und Investitionsprozeß rasch vollzieht und daß auch die innere Sicherheit in der DDR gewährleistet wird. Niemand braucht Angst und Sorge vor dem zu haben, was sich nach dem 3. Oktober vollzieht. Die Regelungen sind so vereinbart, und wir legen auch alle Aufmerksamkeit darauf, daß ab dem 3. Oktober die innere Sicherheit in der DDR gewährleistet bleibt und sich der wirtschaftliche Erholungsprozeß rasch vollzieht.Das Entscheidende scheint mir zu sein, daß wir mit der Schaffung einheitlicher Rechtsgrundlagen im Wirtschafts-, Handels-, bürgerlichen Recht und Steuerrecht die beste Grundlage haben, um einen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung in der DDR zu erreichen. Das ist das Eigentliche, was dieser Einigungsvertrag für die wirtschaftliche Erholung der DDR und damit für den wirtschaftlichen Aufbau im vereinten Deutschland leisten kann. Indem wir klare, einheitliche Rechtsgrundlagen haben, wird die noch vorhandene Verunsicherung und Zurückhaltung von Investoren beseitigt werden. Ich bin ganz sicher, daß sich mit dem Einigungsvertrag und ab dem 3. Oktober der wirtschaftliche Erholungsprozeß in der DDR rasch beschleunigen wird.Wir haben in den Einigungsvertrag auch ein Gesetz aufgenommen — Sie finden das in der Drucksache auf der Seite 273 — , in dem wir die schwierigen und strittigen Eigentumsfragen nicht mehr als ein Hindernis für den Prozeß der Investitionen belassen. Wer Grundstücke zum Zwecke von Investitionen erwirbt, wird nach diesem Gesetz in Zukunft sicher sein, daß sein Eigentum daran nicht mehr bestritten wird. Etwaige frühere Eigentümer werden insoweit auf Entschäçligungsansprüche verwiesen.
Auch dies scheint mir dringend notwendig zu sein, damit der Mangel an Grundstücken, bei denen die Eigentumsverhältnisse unbestritten sind, nicht eine dauerhafte Investitionsbremse in der DDR bleibt. Wir haben das im Einigungsvertrag geregelt. Ich halte das für einen wichtigen Punkt. Ich bin sicher, daß dies zusammen mit einer soliden Finanzausstattung der künftigen Länder und Gemeinden einen raschen Aufschwung in der DDR ermöglicht.Wir haben über die Finanzausstattung der künftigen fünf Länder lange zwischen Bund und Ländern verhandelt. Ich hätte mir gelegentlich gewünscht — das sage ich mit aller Zurückhaltung —, daß sich manche der Reden über die notwendige Solidarität auf dem Weg zur deutschen Einheit auch stärker in konkreten Bereitschaften zu finanzpolitischen Einigungen zwischen Bund und Ländern niedergeschlagen hätten.
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17494 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Bundesminister Dr. SchäubleAber ich will eine erreichte Einigung nicht weiter in Frage stellen.Es ist wohl so, daß der Bund den allergrößten Anteil dabei leistet.
— Am Anfang haben die Länder gesagt, es seien die Länder, die den Prozeß der deutschen Einheit zu leisten hätten. Aber als es um die Fragen der finanziellen Ausstattung der deutschen Einheit ging, war es so, daß aus dem Fonds Deutsche Einheit 85 % der Mittel für die künftigen Länder und nur 15 % für die Bewältigung der Bundesaufgaben in dem beitretenden Gebiet bereitgestellt werden.Auf die Frage der Umsatzsteuerverteilung möchte ich am liebsten nicht mehr zurückkommen.Ich finde, kooperativer Föderalismus wird sich in der Zukunft stärker zu bewähren haben, als dies in den zurückliegenden Wochen der Fall gewesen ist.
Wir haben den Streit mit den Bundesländern nicht weitergeführt, weil es uns wichtiger war, daß der Prozeß der Einheit rasch erfolgreich verläuft und daß wir die künftigen fünf Länder für die Übergangszeit bis 1995 in einer guten Weise finanziell ausstatten. Dies ist gelungen. Deswegen bin ich sicher, daß es nun in der DDR rasch aufwärtsgehen wird.Ich bin sicher, daß der Prozeß der wirtschaftlichen und sozialen Gesundung in der DDR schneller verlaufen wird, als manche heute glauben. Ich weiß, daß die Erwartungen der Menschen noch größer sind, als sie in der Realität zu erfüllen sind. Ich weiß auch, daß mit der Einführung der D-Mark ab dem 1. Juli 1990 in der DDR ein Gefühl, das die Menschen bisher hatten, endgültig vorüber ist: Solange sie die Mark der DDR hatten, die nichts wert war und von der man deshalb mehr hatte, als man ausgeben konnte, hatten sie das Gefühl, wenigstens genügend Geld zu haben. Mit der Einführung einer harten Währung, der D-Mark, ist das Gefühl, genügend Geld zu haben, für die Menschen endgültig vorüber, weil das Gesetz der Knappheit bei einer harten Währung immer gilt. Deswegen haben wir alle das Gefühl, wir hätten zuwenig Geld, weil wir alles für unser Geld kaufen können, was die Menschen in der DDR bisher nicht konnten. Deshalb ist die psychologische Situation von der Entwicklung der Realitäten ein Stück weit entfernt.
Aber die Menschen in der DDR haben sich wohl die Fähigkeit bewahrt, zu erkennen, daß es nicht wahr ist, was ihnen manche einreden wollen, daß es ihnen seither schlechtergehe. Wer sieht, wie der Autoverkehr zugenommen hat, wie die Straßen verstopft sind, wer sieht, wie die Menschen reisen, wie voll die Schaufenster sind, der weiß, daß es niemandem gelingen wird, Herrn Gysi nicht und auch anderen nicht, die ihm nacheifern wollen, den Menschen einzureden, durch die Soziale Marktwirtschaft werde es schlechter. Sie wissen, daß es schlechter als im Sozialismus gar nicht werden kann und daß es deswegen schon jetzt besser wird.
Es gibt große Veränderungen in Deutschland, und die Menschen sind in solchen Zeiten schneller Veränderungen leicht zu verunsichern. Es sind auch Zeiten, die uns sehr beschäftigen und fordern. Ich finde, es sind dennoch keine Zeiten, in denen wir Grund haben, Klage zu führen, sondern wir haben Grund, dankbar zu sein,
dankbar, daß sich die Einheit unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit vollzieht, dankbar, daß wir 40 Jahre der Teilung überwinden können, dankbar, daß wir mit der Einheit Deutschlands einen entscheidenden Beitrag zur Einigung Europas leisten können, dankbar, daß mit der Einheit Deutschlands zugleich der Ost-West-Konflikt in seiner bedrohenden Dimension der Geschichte angehört,
dankbar, daß in diesen Tagen die letzten chemischen Waffen aus der Bundesrepublik Deutschland abgezogen werden.
Das hängt alles miteinander zusammen, und wir sollten neben all dem Kleinen das Große nicht vergessen.Ich finde, wir sollten mit Dankbarkeit erkennen, welch faszinierende Chancen sich uns eröffnen, wenn wir durch Abrüstung, Rüstungskontrolle, weniger Konfrontation im Ost-West-Konflikt, Fortschritte in der europäischen Einigung einen größeren Teil der Kräfte des vereinten Deutschlands und des vereinten Europas zur Bewältigung dringenderer Aufgaben in der Welt einsetzen können, als es bisher der Fall gewesen ist, und zwar zur Lösung der Umweltprobleme. Wir werden schon im vereinten Deutschland mehr für die Umwelt tun können als in der Bundesrepublik Deutschland.
— Ja, sicher. Wenn ich von den GRÜNEN höre, daß das wirtschaftliche Wachstum schuld an den Umweltproblemen sei, so habe ich das nie begriffen. Wenn es daran läge, müßte es in der DDR wenigstens mit der Umwelt gut sein.
In Wahrheit hat der Sozialismus einen einzigen Umweltskandal hinterlassen.
Rot-grün muß aus den Erfahrungen mit der deutschen Teilung und mit der deutschen Einheit lernen,
daß nur eine leistungsfähige Volkswirtschaft in der Lage ist, die Umwelt zu bewahren und Umweltprobleme zu lösen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17495
Bundesminister Dr. SchäubleWenn wir nun in einem vereinten Deutschland, in einem sich einigenden Europa am Ende des Ost-WestKonfliktes, bei Abrüstung einen größeren Teil unseres wirtschaftlichen, technischen, wissenschaftlichen Potentials in die Lösung und Bewältigung globaler Umweltprobleme, in die Bekämpfung von Hunger, Not und Elend in der Dritten Welt stecken können, dann ist dies eine faszinierende Chance für uns alle und insbesondere für die jungen Menschen.
Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, hieß es in der jungen Generation: no future! Die Welt wurde gemalt als Welt der verschlossenen Türen, ohne Zukunftsperspektiven.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir leben in einer Zeit, in der sich großartige Perspektiven für die Zukunft auftun, gerade für junge Menschen. Man hört ja manchmal, daß junge Menschen, die im Westen. unseres Vaterlandes leben, von der bisherigen Teilung und jetzt bevorstehenden Einheit unseres Vaterlandes persönlich und emotional vielleicht weniger betroffen seien als ältere, die noch im vereinten Deutschland gelebt haben. Ich finde, wir müssen den jungen Menschen sagen, welch faszinierende Chancen und Perspektiven es gerade für die junge Generation gibt. Es hat nie eine Generation gegeben, die großartigere Chancen für Gegenwart und Zukunft hatte.
Die Aufgaben, die sich uns stellen, die Einheit Deutschlands zu vollenden, fordern gerade auch den Beitrag der jungen Generation. Jeder kann in der DDR mithelfen, mit den Folgen möglichst rasch fertigzuwerden, nicht nur Reden zu halten, sondern mit anzupacken, damit es im vereinten Deutschland möglichst schnell und möglichst gut vorangeht.Ich werbe bei den Menschen in der DDR dafür, daß sie Verständnis und Geduld nicht verlieren, daß auch bei uns Wunder nicht über Nacht geschehen. Auch nach der Einführung der D-Mark 1948 und nach der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft hat es ein paar Monate gedauert, bis der Prozeß des Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik in Gang kam. Das dauert auch in der DDR ein paar Monate, aber es geht rasch voran.Niemand sollte den Bürgerinnen und Bürgern in der DDR Ängste einreden.
Wir brauchen in diesen Monaten weder Ängste noch Neid, sondern wir brauchen Solidarität und Zuversicht.
Wenn wir dies haben, werden wir unserer Verantwortung gerecht und können wir die Aufgaben meistern und die Chancen nutzen.Dieser Einigungsvertrag bietet eine gute Grundlage, unseren Auftrag zu erfüllen, so wie er in derPräambel unseres Grundgesetzes steht, nämlich „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" und „die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden".
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Einigungsvertrag liegt auf dem Tisch. Zusammen mit seinen Anlagen hat er den Umfang eines dicken Buches. Das alles hat viel Arbeit gekostet.Wir haben Ihnen, Herr Bundesminister Schäuble, ausdrücklich zugestimmt, als Sie all denen gedankt haben, die in Bund und Ländern mitgearbeitet haben. Die Zeit war in der Tat sehr knapp bemessen. Was da in wenigen Wochen zusammengetragen, was da abgeklärt, was da ausgehandelt wurde, ist wirklich erstaunlich.Auch wir Sozialdemokraten danken allen, die dabei mitgeholfen haben, und schließen Sie, Herr Bundesminister Schäuble, ausdrücklich mit ein, auch wenn Sie Ihre Wahlkampfspitzen von vorhin ruhig hätten seinlassen können.
Das sind Rituale, meine Damen und Herren, die die Kooperation nur erschweren. Das sollten Sie doch langsam wissen.Wir stellen ausdrücklich fest: Trotz der Sommerpause ist der Deutsche Bundestag früher und besser informiert worden als beim ersten Staatsvertrag. Allerdings, Herr Schäuble, halten wir das für eine Selbstverständlichkeit und nicht für eine besondere Gnade der Bundesregierung, auch wenn Sie sich dabei engagiert haben.
Partnerschaftliche Zusammenarbeit in den Fragen der deutschen Einheit haben wir Sozialdemokraten seit dem letzten Herbst angeboten. Diesmal gab es sie; auch die Bundesländer waren einbezogen. Letztlich hat die Vernunft gesiegt, auch wenn die sozialdemokratische Mehrheit im Bundesrat, die wir seit den niedersächsischen Landtagswahlen dort haben, ihr erst zum Durchbruch verhelfen mußte.
Das Ergebnis ist wichtig. Der Einigungsvertrag markiert einen entscheidenden Abschnitt der deutschen Einigung. Wir werden ihm zustimmen.Ein Journalist hat dieser Tage diesen Einigungsvertrag mit einem Kursbuch verglichen; dick genug ist er ja. Mir gefällt der Vergleich mit einem Bauplan noch besser, mit einem Bauplan für das Haus, das wir Deutsche uns jetzt gemeinsam bauen, genauer: das wir jetzt ausbauen, das wir jetzt umbauen, nachdem die trennende Mauer zwischen uns eingerissen ist.„Das alte Gehäuse DDR ist geborsten." Das hat Jens Reich, der Mitbegründer des Neuen Forum gesagt,
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17496 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Frau Dr. Däubler-Gmelinjener Bürgerbewegung in der DDR, die zusammen mit vielen Bürgerrechtlern — auch viele Sozialdemokraten waren darunter — die friedliche Revolution des letzten Herbstes getragen hat. Und er hat Recht.Es ist gut, daß dieser Bauplan für das geeinte Deutschland jetzt vorliegt. Es ist vor allen Dingen gut für die Menschen in der DDR; denn in der DDR läuft im Augenblick gar nichts. Fast alles stockt wie gelähmt. Darunter leiden viele. Wir wissen das alle von unseren Bekannten und Verwandten aus der DDR aus Telefongesprächen, aus Briefen.Ich sage Ihnen: Mich macht traurig, was ich jetzt höre. Meine Verwandten waren glücklich, als die Mauer gefallen war und sie endlich reisen durften. Sie haben gejubelt, als der alte SED-Apparat mit seiner Unfreiheit und Unterdrückung einstürzte; denn schließlich hatte der Vater — ein alter Sozialdemokrat — ja nicht nur bei den Nazis, sondern auch in der DDR im Gefängnis gesessen. Viele haben bei der friedlichen Revolution mitgemacht. Sie haben mit der Freude auf die Einheit die Hoffnung auf ein besseres Leben verbunden, auch wenn sie — da stimme ich Ihnen zu, Herr Bundesminister Schäuble — realistisch genug waren, nicht alles über Nacht zu erwarten.Was wir jetzt hören, klingt ganz anders. Jetzt haben sie Angst — und die redet ihnen niemand ein — um die Zukunft ihrer Familie. Die Frau ist wie so viele arbeitslos. Ihre Firma hat schon seit März keine Aufträge mehr. Der Mann weiß auch nicht, was aus ihm werden wird, weil die Zukunft seines Betriebes unsicher ist. Dabei arbeitet er bei einem der führenden Büromaschinenhersteller in der DDR.Einen Betriebsrat, der ihnen helfen könnte, haben sie noch nicht. Und von der Treuhandanstalt, die wir am 1. Juli 1990 errichtet haben, haben sie in ihrem Betrieb im Süden der DDR auch noch nichts gehört.Und die Tocher? Sie arbeitet in einer LPG, in einem Betrieb für Rinderzucht. Auch sie steht vor dem Aus, weil das Fleisch nicht abgesetzt werden kann. Das ist eine verdammt schwierige Situation.
Das wäre sie für jeden von uns.
Es ist eben alles zu Bruch gegangen: nicht nur die staatliche Existenz, das verhaßte politische System oder die verkrustete Wirtschaftsordnung, sondern auch die privaten Zukunftsplanungen. Das ist ein bißchen viel auf einmal. Das ist besonders deshalb schwer zu verkraften — ich glaube, das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen — , weil im Augenblick nirgendwo Änderungen sichtbar werden, weil überall — in Verwaltungen, Schulen, Betrieben und Verbänden — immer noch die alten Bonzen sitzen.
Ich sage Ihnen: Diese Lähmung muß jetzt endlich überwunden werden. Die alten Seilschaften müssen weg, Änderungen müssen her. Deshalb halten wir den Einigungsvertrag mit guten Regelungen für so wichtig.Das heißt, der Bauplan — um dieses Bild wieder aufzugreifen — muß großzügig, muß zukunftsweisend angelegt sein, damit sich alle in diesem gemeinsamen Haus, in unserem gemeinsamen Land wohl fühlen. Er muß präzise sein und, Herr Bundesinnenminister, er muß natürlich auch gut durchgerechnet sein. Darauf komme ich noch.Wir finden, die jetzt wichtigsten Fragen sind im Einigungsvertrag zufriedenstellend geregelt. Deswegen stimmen wir ihm zu. Wir sagen aber auch: In anderen Bereichen muß ergänzt und sorgfältig nachgearbeitet werden. Auch das ist im übrigen keine Schande. Das wird die Aufgabe des ersten gesamtdeutschen Parlamentes sein.In drei Punkten schließlich sind wir nicht mit dem einverstanden, was jetzt gelten soll. Da haben wir uns nicht durchsetzen können. Über diese Punkte, Herr Bundeskanzler, werden wir weiter mit Ihnen streiten.Zunächst aber zu den vernünftig geregelten Fragen. Ich will die vier nennen, die wir für die wichtigsten halten: erstens die Festlegungen zu den noch offenen Fragen zum Eigentum, zu Grund und Boden, zweitens den Durchbruch bei § 218, drittens die Verfassungsfragen, in denen wir ein Stück weitergekommen sind,
viertens die Riesenvermögen der SED — jetzt PDS — und der alten Blockparteien, die jetzt endgültig für gemeinnützige Zwecke und den Wiederaufbau der DDR verwendet werden.
— Keine Sorge, ich komme schon noch darauf. Ich kann im übrigen die Blockparteien auch genauer definieren und die „Ost-CDU" genauer benennen, wenn Sie das wünschen, Herr Kollege Rüttgers.
Zum ersten Punkt, Eigentum an Grund und Boden, Regelung der offenen Vermögensfragen: Dieser Punkt ist besonders wichtig, für uns und für die Menschen in der DDR, und zwar zum einen deshalb, weil es um Gerechtigkeit geht. Hier in der Bundesrepublik fragen nämlich viele ehemalige DDR-Flüchtlinge— und sie fragen das zu Recht — : Was wird aus meinem Haus, aus dem Grundstück, das mir die SED-Regierung einfach weggenommen hat?Millionen Männer und Frauen in der DDR sagen— ebenfalls mit Recht — : Es darf doch nicht sein, daß mir jetzt mein Haus oder mein Grundstück weggenommen wird, das ich korrekt gekauft und das ich vollständig bezahlt habe, mein Haus, in dem ich seit Jahren wohne, in das ich viel Zeit und noch mehr Arbeit investiert habe!Beide Aussagen, meine Damen und Herren, sind richtig. Weil das so ist, mußte ein vernünftiger Interessenausgleich her — wie im übrigen auch beim Mietrecht und auch bei den Schrebergärten. Diesen vernünftigen Interessenausgleich stellt der Einigungsvertrag her.Klare Regelungen sind notwendig, um lange und teure Prozesse mit unsicherem Ausgang zu vermei-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17497
Frau Dr. Däubler-Gmelinden; eindeutige Regelungen vor allem deshalb, damit die Gemeinden planen können, damit dringend benötigte Investitionen nicht weiter verzögert, sondern Arbeitsplätze geschaffen werden.Ich will die drei Schwerpunkte der Regelungen nochmals besonders hervorheben, die wir für richtig halten.Erstens. Zwischen 1945 und 1949 ist vielen Menschen Unrecht geschehen. Da hat es viel menschliches Leid gegeben. Vieles kann heute nicht mehr rückgängig gemacht werden, auch die Enteignungen nicht. Das müssen alle akzeptieren, auch wenn es schwerfällt.Zweitens. Zur Frage von Entschädigung oder Rückgabe: Was geht vor? Diese Frage ist besonders schwierig. Der Einigungsvertrag stellt klar: Entschädigung statt Rückgabe des weggenommenen Hauses oder des enteigneten Grundstücks wird immer dann gewährt, wenn die Rückgabe nicht möglich ist oder wo sie zu neuen Ungerechtigkeiten führen würde. Das wird in den allermeisten Fällen so sein. Diese Regelung ist vernünftig.Drittens. Gemeinden und Landratsämter brauchen die Möglichkeit, investitionshemmende Auseinandersetzungen über Rückgabe oder Entschädigung schnell zu beenden. Investitionen müssen vorgehen. Auch das wird so gemacht.Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie uns eines nicht vergessen: Wenn Entschädigung gezahlt wird, muß noch dreierlei klargestellt werden. Herr Bundesinnenminister, ich glaube, es wird auch Ihre Aufgabe sein, ganz sorgfältig darauf zu achten.Erstens. Die Gemeinden dürfen nicht finanziell ausbluten.Zweitens. Wer Entschädigung bekommt, darf nicht auch noch die immensen Bodenwertsteigerungen kassieren, die es in der Zwischenzeit gegeben hat oder die noch kommen.Drittens. Wir werden gemeinsam dafür sorgen müssen, daß auch die Lastenausgleichszahlungen für Flüchtlinge aus der DDR angemessen auf diese Entschädigungsleistungen angerechnet werden. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit, auch gegenüber unseren Steuerzahlern.
Meine Damen und Herren, nächster Punkt: Bei § 218 sind wir stolz auf den Durchbruch. Jetzt endlich soll es eine Regelung geben, die sich nicht mehr hinter dem Strafrecht versteckt. Wir haben uns gemeinsam auf einen Weg verständigt, der den Frauen mehr Rechte und mehr Hilfen bringt und der die Zahl der Abtreibungen senken soll. Das ist gut.Ich bitte Sie, Herr Bundesinnenminister Schäuble, meine Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, von dieser Einigung nichts zurückzunehmen.
Ich freue mich, daß Sie das Wohnortprinzip fallengelassen haben. Es wäre nicht nur juristisch absurd gewesen und hätte zu untragbaren Ergebnissen geführt, keineswegs nur in Berlin. Das, verehrter Graf Lambsdorff, haben dann ja auch Sie erkannt — nach Beratung.
Frauen vor Gericht zu stellen, wenn der Schwangerschaftsabbruch in einem Krankenhaus im gleichen Land, aber eben auf dem Gebiet der dann damaligen DDR vorgenommen worden wäre, das hätte die Frauen zusätzlich gedemütigt, und es hätte vor allem den Weg zu vernünftigen Zukunftslösungen verbaut. Verstanden hätte es sowieso niemand. Wir, Oskar Lafontaine und ich, hatten uns dafür verbürgt, daß das nicht in den Staatsvertrag hineingeschrieben wird, und das haben wir gehalten.
Das ist ein Erfolg für die Frauen, im übrigen gerade für die Frauen, die sich im Sommer zusammengetan haben. Es waren Frauen — ich darf das betonen — aus allen Parteien und aus den wichtigsten Frauenverbänden, aus dem Bund und den Ländern, aus der DDR und der Bundesrepublik. Wir haben uns zusammengesetzt und gesagt, daß wir erstens in der Übergangszeit keine Strafen für die Frauen wollen und daß wir zweitens Hilfe statt Strafe im Rahmen einer gesamtdeutschen Regelung wollen, auch wenn das viel Geld kostet.
Meine Damen und Herren, jetzt werden wir einen Gesetzentwurf einbringen, der dieser Weichenstellung gerecht wird, und wir werden dafür die Mehrheit bekommen. Dafür werden wir Frauen schon sorgen.
Meine Damen und Herren, zum dritten Punkt. Ich sagte, daß wir auch in der Diskussion um die Verfassungsfragen weitergekommen sind. Sie haben die beschlossenen Änderungen aufgezählt, Herr Bundesinnenminister. Ich stimme dem zu, aber ich sage zugleich: Wir sind noch nicht am Ziel. Der Einigungsvertrag eröffnet auch in diesem Bereich Wege, die bisher verschlossen waren. Auch davon sollten Sie nichts zurücknehmen.Uns ist das aus zwei Gründen sehr wichtig. Erstens. Wir wissen, das Grundgesetz ist eine gute Verfassung. Zweitens. Klar ist auch, das Grundgesetz ist die Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland. Es hat sich selbst als Provisorium eben für diesen Teilstaat verstanden. Auch deshalb hat es darüber nie eine Volksabstimmung gegeben. Es sollte bis zur Herstellung der deutschen Einheit gelten; sie steht jetzt vor der Tür. Wir wollen, daß die Bürgerinnen und Bürger des geeinten Deutschlands selbst über ihre Verfassung entscheiden können. Meine Damen und Herren, das ist uns wichtig.
Diese gesamtdeutsche Verfassung kann das Grundgesetz sein. Noch besser — und auch deswegen haben wir auf diesen Punkten bestanden — wäre es allerdings, wenn wir es veränderten, wenn wir insbesondere Anregungen aufnähmen, die auch aus der DDR kommen. Jetzt lassen Sie uns doch einfach zuge-
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17498 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Frau Dr. Däubler-Gmelinstehen, daß dort der Runde Tisch, jenes Gremium aus Bürgerrechtlern, allen Parteien und Bewegungen, Vorschläge erarbeitet hat, die wir gemeinsam prüfen sollten. Der Runde Tisch hat doch insbesondere vorgeschlagen, den Umweltschutz in der Verfassung zu verankern, die Verpflichtung zum Frieden zu betonen, mehr Mitbestimmungsrechte für die Bürgerinnen und Bürger festzulegen. Wer erinnert sich denn nicht an die Transparente des letzten Herbstes, auf denen stand: „Wir sind das Volk"? Das sollte doch auch im geeinten, gesamten Deutschland gelten, meine Damen und Herren.
Der Runde Tisch hat ebenfalls angeregt, ein Recht auf Arbeit und menschenwürdiges Wohnen in die Verfassung aufzunehmen. Das ist in unserem Sozialstaatsprinzip auch schon angelegt; Herr Bötsch, Sie nicken.
— Schade. Ich hätte mich wirklich gefreut, wenn Sie dem zugestimmt hätten. Aber offensichtlich sah es nur so aus.
Aber Sie werden mir sicherlich zustimmen, wenn Sie meinen Satz zu Ende hören. Was schadete es denn, wäre es nicht vielmehr für alle gut, wenn wir dieses Sozialstaatsprinzip gemeinsam weiter präzisierten und konkretisierten? Die Anregungen dafür kommen doch nicht nur aus der DDR, dies wollen doch auch wir. Wir schlagen Ihnen vor, darüber bald ernsthaft und in einer breiten Diskussion zu reden.So sieht es der Einigungsvertrag vor. Dann stimmen wir ab, mit Zweidrittelmehrheit; Verfassungsfragen sind Konsensfragen. Danach legen wir unsere gemeinsamen Vorschläge den Bürgerinnen und Bürgern des künftigen gemeinsamen Deutschlands vor, damit sie in einer Volksabstimmung selbst entscheiden. Das wollen wir.
Vierter Punkt. Jetzt komme ich zu dem, was Sie, Herr Rüttgers, in Ihrem Zwischenruf gerade noch einmal unterstrichen hatten. Das in 40 Jahren angehäufte Milliardenvermögen der SED, jetzt PDS, wird ebenso wie die großen Vermögen der alten Blockparteien und der ihnen verbundenen Massenorganisationen gemeinnützigen Zwecken und dem Wiederaufbau der DDR zugeführt. Das legt der Einigungsvertrag fest. Wir finden das gut, und zwar zum einen deshalb, weil das Geld den Menschen in der DDR zusteht, zum zweiten deshalb, weil es unzumutbar wäre, diese Vermögen in den Händen der alten Organisationen zu belassen, während unsere Steuerzahler immer größere Summen für den Wiederaufbau in der DDR aufbringen müssen, und zum dritten wegen der Chancengleichheit. Es geht einfach nicht an, daß die einen riesige Apparate, Tausende von Mitarbeitern, Zeitungen, Geld, Vermögen zu ihrer Verfügung haben, die anderen aber nichts.
Wir sind zufrieden, daß mit dem Einigungsvertrag dieser Ärger vorbei ist. Sobald der Vertrag in Kraft tritt, übernimmt die Treuhandanstalt diese Vermögenswerte. Sie prüft und handelt dann unter der politischen Verantwortung des Bundesfinanzministers, und dieser muß aufpassen, daß dann wirklich nach Recht und Gesetz verfahren wird.Die Treuhandanstalt gibt den früheren Besitzern zurück, was ihnen weggenommen worden war. Sie wird den alten Blockparteien und Organisationen das belassen, was sie — ich füge hinzu: ausnahmsweise — unter Anlegung unserer rechtsstaatlichen Maßstäbe redlich und ehrlich erworben haben; das ist vernünftig. Der Rest — das werden Milliarden sein — wird, wie gesagt, für gemeinnützige Zwecke und den Wiederaufbau in der DDR verwendet.
Ich fasse zusammen: Die wichtigsten Elemente des Bauplans stehen, und sie sind vernünftig. Aber ich habe auch gesagt: In einigen Bereichen muß noch nachgearbeitet werden, und ich füge hinzu: wenn es geht, noch im Zusammenhang oder sogar vor Verabschiedung des Staatsvertrages, also vor Bezug des Hauses. In einigen Fällen halte ich das für möglich. In anderen Fällen wird es wahrscheinlich länger dauern, aber dann muß das eben der neue, der gesamtdeutsche Bundestag machen.Vier Anmerkungen dazu. Erstens. Herr Bundesinnenminister Schäuble, die Wiedergutmachung für jüdische Bürger, die bisher auf dem Gebiet der DDR leben, ist im Einigungsvertrag nicht angesprochen worden. Wir haben zwar festgelegt, daß die Opfer des Naziterrors zurückbekommen sollen, was ihnen zwischen 1933 und 1945 geraubt wurde — das ist gut —, aber es reicht nicht aus. Es kann doch nicht so schwer sein — auch jetzt nicht — , einen Weg für eine vernünftige Härteregelung zu finden. Ich finde, wir sollten das tun.Zweitens. Die Frage, was wir mit den rund 136 Kilometern Stasi-Akten, dieser unvorstellbar großen Zahl von angehäuften Spitzel- und Schnüffelberichten machen, ist noch nicht geklärt. Herr Bundesinnenminister, ich finde, Sie sollten über das, was Sie hier vorgetragen haben, noch einen Schritt hinausgehen. Ich meine, wir sollten die Beschlüsse der Volkskammer vollends aufgreifen; denn ich verstehe sehr gut, daß sich gerade die Bürgerrechtler in der DDR durch unser bundesrepublikanisches Recht nicht vom Zugriff auf diese Akten abhalten lassen wollen.
Sie wollen die alten Seilschaften stoppen — da haben Sie recht — und vor allen Dingen die alten Stasi-Praktiken vollends aufklären und die Geschichte der vergangenen 40 Jahre in der DDR, die doch ihre eigene Geschichte ist, aufarbeiten. Deswegen sagen wir: Lassen Sie uns gemeinsam einen vernünftigen Weg vor Verabschiedung des Staatsvertrages finden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17499
Frau Dr. Däubler-GmelinAls dritten Punkt spreche ich den öffentlichen Dienst in der DDR an; auch Sie haben das getan. Der Einigungsvertrag sieht Regelungen vor; ich meine aber, daß sie nicht ausreichen. Die Probleme sind klar: Der öffentliche Dienst ist zu groß, er ist überbesetzt. Er ist mehr als doppelt so groß wie bei uns. Es muß sichergestellt werden, daß die Richtigen, die Qualifizierten übernommen werden und nicht die alten Seilschaften. Meine Damen und Herren, dies wird wohl das Schwerste sein: Die neuen Länder und Gemeinden in der DDR dürfen nicht den Kosten für den öffentlichen Dienst erliegen. Sie haben andere Aufgaben, die sie bewältigen müssen. Das alles müssen wir mit auf den Weg bringen. Ich bin ganz sicher, da müssen zusätzliche Hilfestellungen, einiges mehr her als das, was wir jetzt mit der Clearing-Stelle und in einzelnen Vorschriften des Einigungsvertrages verabredet haben.Viertens. Die Bundesregierung hat im Zusammenhang mit dem Staatsvertrag heute zwei weitere Gesetze vorgelegt, die wir in den kommenden Tagen hier im Bundestag genau prüfen werden.Zum einen handelt es sich um ein Übergangsgesetz, das den befristeten Aufenthalt von alliierten Truppen im geeinten Deutschland so lange ermöglichen soll, bis ein endgültiges Abkommen ausgehandelt ist, das dann der gesamtdeutsche Gesetzgeber beraten und auch beschließen kann.Das Anliegen ist uns klar; wir halten es im Grundsatz natürlich für berechtigt. Uns sind aber die Ermächtigungen, die Sie vorsehen, Herr Bundesaußenminister, viel zu ungenau, sie gehen viel zu weit. Wir wollen eine klare Befristung und sehen es überhaupt nicht gerne, daß Sie schon wieder das Instrument der Rechtsverordnung zur Inkraftsetzung eines so wichtigen völkerrechtlichen Vertrages nutzen wollen, auch wenn das nur übergangsweise geschehen soll.
Das muß verändert werden.In dem zweiten Gesetz schlägt die Bundesregierung vor, frühere Stasi-Leute zu amnestieren — natürlich nicht alle, sondern lediglich die kleinen Fische, die auf dem Boden der Bundesrepublik spioniert haben. Sie haben das getan bei uns, was unsere Dienste woanders tun, was sie auch in der DDR getan haben. Nach der Einheit bleiben jedoch nur die einen — die Mitarbeiter der Stasi — strafbar, weil ja unser Strafrecht gilt.Auch hier, meine Damen und Herren, verstehe ich das Anliegen durchaus. Was micht ärgert, ist etwas anderes. Mich ärgert, daß Sie mit dieser Stasi-Amnestie nicht wenigstens so lange warten, bis die Opfer der Stasi rehabilitiert und auch entschädigt worden sind.
Und mich stört zusätzlich, Herr Bundesjustizminister, daß Sie aus Anlaß der deutschen Einheit offensichtlich nur an Stasi-Leute denken. Es gibt doch bei uns ganz andere Gruppen, die erheblich mehr und einen viel größeren moralischen Anspruch darauf haben, endlich amnestiert, jetzt endlich außer Verfolgung gesetzt zu werden. Oder halten Sie es wirklich für vernünftig, für gerecht oder auch nur für hinnehmbar, Stasi-Leutezu amnestieren, aber Postschaffner und Lokführer, weiterhin aus dem öffentlichen Dienst zu werfen, deren einziges Vergehen darin bestand, Mitglied der DKP zu sein?
Und das alles, während wir gleichzeitig, ganz selbstverständlich auch ehemalige SED-Mitglieder als Lehrer und Verwaltungsbeamte einstellen, wenn wir sie brauchen, und Sie, Herr Schäuble — ich glaube, gestern war das in der „Augsburger Allgemeinen" — auch öffentlich erklären, daß selbstverständlich auch ehemalige SED-Mitglieder verbeamtet werden können. Wir meinen, das paßt nicht zusammen.Wir finden es gut, daß der Herr Bundespräsident in den letzten Wochen ein Zeichen gesetzt hat, indem er Herrn Bastian begnadigt hat. Dieser kann jetzt in seinem alten Beruf weiterarbeiten.
— Nein. Andere Verfahren laufen noch. Wir wollen, Herr Bötsch, daß endlich Schluß damit ist.
Meine Damen und Herren, es gibt noch andere Gruppen, an die wir denken müssen. Ich denke da z. B. an jene Männer und Frauen — sie sind heute sehr alt — , die noch von den Nazis gequält wurden, die in den Konzentrationslagern saßen und dort gelitten haben und die keine Entschädigung bekommen haben, weil sie auf ihrer persönlichen Meinung beharrten und Kommunisten bleiben wollten. Ich habe das immer für unverständlich gehalten; aber dieser Grund reichte wirklich aus, ihnen keine Entschädigung zu geben. — Erklärbar ist das alles nur als Ergebnis des Kalten Krieges und der Teilung Deutschlands.Ist es denn wirklich gerecht — das frage ich Sie jetzt nochmals — , all das so zu lassen und alle Stasi-Leute— und allein diese Stasi-Leute — zu amnestieren?Wie ist es mit der Friedensbewegung, mit diesen vielen Männern und Frauen, die sich zu Demonstrationen vor Chemie- oder Atomwaffenlager gesetzt haben.
— Herr Bötsch, hören Sie doch einfach einmal ein bißchen zu; ich mache es bei Ihnen nachher auch —
und die kurzfristigen Störungen des öffentlichen Straßenverkehrs — was für ein Verbrechen! — dabei in Kauf genommen haben? die wurden verurteilt, die werden heute noch verurteilt, obwohl die Chemiewaffen, obwohl die Atomwaffen bereits abgezogen werden und obwohl doch völlig klar ist, daß die Friedensbewegung ohne Zweifel zur Entspannung wesentlich beigetragen hat — auch andere; aber die auch.
Jetzt, meine Damen und Herren, ernten wir hier in Deutschland die Früchte der Entspannung. Die Mauer ist gefallen, der Stacheldraht in Deutschland ist weg, und auch der Eiserne Vorhang durch Europa ist geris-
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17500 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Frau Dr. Däubler-Gmelinsen. Wir sagen: Wir müssen das alles zusammen sehen, nicht nur Stasi-Mitarbeiter dürfen amnestiert werden, sondern wir fordern Sie auf: Lassen Sie uns eine Amnestie beschließen aus Anlaß der deutschen Einheit, die alle diese einschlägigen Verurteilungen und Diskriminierungen umfassend beseitigt!
Dazu fordern wir Sie auf. Das ist gerecht, das verstehen alle, das dient dem Rechtsfrieden, und wir haben auch noch Zeit, uns darüber zu unterhalten.In drei Punkten, meine Damen und Herren — so sagte ich das schon —, haben wir Sozialdemokraten uns im Einigungsvertrag nicht durchsetzen können. Auch diese Punkte will ich hier ansprechen. Hier geht — das habe ich schon gesagt, Herr Bundeskanzler — die Auseinandersetzung weiter.Dabei handelt es sich erstens um die Energieversorgung, wie sie jetzt geregelt worden ist. Wir halten das nicht für gut. Die großen Energieversorgungsunternehmen der Bundesrepublik haben sich, wie schon im Stromvertrag, mit ihrer übergroßen Marktmacht durchgesetzt. Das geht zu Lasten der Gemeinden, und das geht auf Kosten des Umweltschutzes. Wir halten das für falsch. Wir wissen, daß viele von Ihnen, meine Damen und Herren in den Regierungsparteien, das insgeheim im Grunde genommen auch so sehen. Wir finden es besonders schade, daß es trotzdem nicht möglich war, eine vernünftige Regelung durchzusetzen. Wenigstens das Wahlrecht in der Frage, wie sie es mit der kommunalen Energieversorgung halten wollen, hätten diese Gemeinden in der DDR gebraucht. Von starken Gemeinden zwar zu reden, aber nicht einmal das zuzugestehen, das geht nicht.
Wir sagen deswegen auch heute deutlich: Wir lehnen diese Regelung ab, halten die Meinung des Deutschen Städtetages für richtig und unterstützen das, was dort geplant wird, um Änderungen zu erreichen. Außerdem — auch darauf hat der saarländische Ministerpräsident hingewiesen — wird sich der Bundesrat noch mit diesen Regelungen beschäftigen.Zweitens. Wir stellen auch fest, und zwar mit Bedauern, daß Chancen im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik vertan worden sind, die Chance beispielsweise, Herr Bundesinnenminister und Herr Bundesarbeitsminister, vernünftige Regelungen aus dem Gesundheitswesen der DDR in das Gesundheitswesen für Gesamtdeutschland zu übernehmen.
So wäre es doch gut gewesen, wenn die Lockerung der viel zu starren Abgrenzung zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung beschlossen worden wäre. Die Abgrenzung, wie wir sie ja bei uns haben, führt doch zu hohen zusätzlichen Kosten. Das merken doch die Bürgerinnen und Bürger bei uns an ihrem Geldbeutel. Sie wollten das nicht. Die Chancen sind vorerst vertan. Das ist schade.Wir hätten auch gern gemeinsam, Herr Blüm, die doch längst überholte Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten endgültig und vollständig aufgegeben.
Auch dafür gab es diesmal keine Mehrheit.Daß jetzt die Frauen in der DDR, die sowieso von Arbeitslosigkeit besonders bedroht sind, millionenfach auch noch auf Arbeitsplätze ohne Versicherungsschutz — ohne jeden Versicherungsschutz, muß ich sagen — abgeschoben werden sollen, das halten wir für völlig unerträglich.
Wir wollen solche Arbeitsplätze — lassen Sie mich das ganz deutlich sagen — weder bei uns noch für die Frauen in der DDR. Wir hatten die Chance, Herr Bundesarbeitsminister, sie auch für Gesamtdeutschland ein für allemal abzuschaffen. Auch diese Chance ist vertan worden. Wir sagen deshalb: Damit wird sich das gesamtdeutsche Parlament sehr bald beschäftigen müssen. Die Gesetzentwürfe dafür werden wir vorlegen.Unser dritter Streitpunkt betrifft nun das wirklich leidige Thema Kosten, die Kosten des Staatsvertrages, Herr Bundesinnenminister, ebenso wie die Kosten der deutschen Einheit insgesamt. Ich habe den Eindruck, Herr Schäuble, daß Ihre Ausführungen zu dieser Frage wieder einmal ablenken sollten, ablenken sollten davon, worum es in Wirklichkeit geht.
Was haben wir nicht alles versucht, um Sie, Herr Bundesfinanzminister Waigel, zu tragfähigen Kostenabschätzungen zu bringen,
Sie zu ehrlichen, verläßlichen Äußerungen über die zukünftigen Belastungen der Bürgerinnen und Bürger zu bewegen! Das hat alles nichts genützt. Sie haben die Angaben verweigert. Sie haben auch keine brauchbaren Schätzungen vorgelegt.Wo wir aus dem Bundesfinanzministerium Zahlen bekommen haben, da waren sie nun wirklich mehr als abenteuerlich. Das gilt sowohl für die Zahlen für den öffentlichen Dienst in der DDR als auch für andere. Da werden für den öffentlichen Dienst in der DDR im nächsten Jahr 15 000 DM pro Kopf für ausreichend gehalten. So geht es doch nicht! Das wissen wir doch alle! Schon die Tarifabschlüsse der vergangenen Tage drücken diesen Betrag um mehrere tausend DM nach oben.Wenn Sie, Herr Bundesminister Schäuble, heute sagen, die Länder in der DDR seien mit genügend Geld ausgestattet, dann ist das doch einfach nicht wahr. Sie wissen doch, daß alle fünf neuen Länder in der DDR zusammen 70 Milliarden DM haben werden, 70 Milliarden DM! Das ist doch, verehrter Herr Schäuble, nur ein Bruchteil des Geldes, das sie brauchen werden. Wenn wir das einmal mit unseren Verhältnissen vergleichen, dann wird das besonders deutlich. Auch die ärmsten Bundesländer bei uns benötigen viel mehr, und dabei haben die noch nicht einmal den Nachhol-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17501
Frau Dr. Däubler-Gmelinbedarf, den doch jedes einzelne Land dieser neuen Länder in der DDR hat. Ich hoffe, daß Professor Biedenkopf Ihnen bald konkrete Zahlen und vor allen Dingen die Motivation liefern wird, die Sie brauchen, um endlich realistische Zahlen vorzulegen.
Denn, meine Damen und Herren, niemand unter den Bürgerinnen und Bürgern bei uns glaubt mehr an das Märchen, Einheit koste nichts oder sei zum Nulltarif zu haben. Wenn Sie so weitermachen wie bisher, verlieren Sie noch mehr an Glaubwürdigkeit, vor allen Dingen deshalb, weil prominente Mitglieder der Regierungsparteien mittlerweile ganz offen zugeben, daß alles mit Sicherheit viel teurer wird, und auch Unionspolitiker — ich darf nur den Ministerpräsidenten Späth oder noch einmal Herrn Professor Biedenkopf nennen — ganz offen auch von Steuererhöhungen reden. Ich halte das auch für viel ehrlicher.Ich will Ihnen auch sagen, wofür wir sind, damit es da bei niemanden eine Unklarheit gibt.
— Auch bei Ihnen nicht, Herr Bohl. Im übrigen war Ihr letzter Zwischenruf noch nicht einmal witzig, vom Inhalt ganz zu schweigen. — Wir sind zum einen für Einsparungen besonders im Verteidigungsetat, und da müssen wir jetzt auch heran.
Wir wollen zum zweiten, daß Sie endlich auf weitere Steuersenkungen für Unternehmer verzichten, also auf jene 25 Milliarden DM, über die Sie noch immer reden. Diese Pläne müssen vom Tisch.
Wenn das nicht reicht, und es wird nicht reichen, dann können Sie mit der Kooperation der Sozialdemokraten nur rechnen, wenn völlig klar ist, daß nicht die kleinen Leute die Kosten für die deutsche Einheit bezahlen müssen, nur weil Sie sich weigern, die Kosten durchzurechnen und realistische Kostenschätzungen für den Bau eines geeinten Deutschlands auf den Tisch zu legen.
Den kleinen Leuten ist es viel lieber, wenn ihnen reiner Wein über die Belastungen eingeschenkt wird.
Heute sind wir doch schon so weit, daß viele, die sich für ihr Häusle krummlegen, wirklich krummlegen, die steigenden Zinsen bald nicht mehr zahlen können. Diese Zinsen steigen durch Ihre Politik. Das gleiche gilt für viele Mieten, weil Vermieter ihre zusätzlichen Belastungen eben auf die Mieter abwälzen.Wir sagen Ihnen: Mit uns wird es keine Finanzierung nur auf Pump geben. Mit uns wird es keinen Griff in die Rentenkassen zur Finanzierung geben, und wir wollen auch keine Mehrwertsteuererhöhung.
Frau Dr. Däubler-Gmelin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Hellwig?
Frau Dr. DäublerGmelin, Sie haben gesagt, ganz klar und deutlich werden Sie sagen, was Sie wollen. Bitte, sagen Sie mir ganz klar und deutlich, welche Steuererhöhung Sie für erforderlich halten, die nicht die kleinen Leute betrifft!
Liebe Frau Hellwig, Sie sind wahrscheinlich gerade zum Mikrofon gelaufen; als ich das ausgeführt habe, aber ich wiederhole es gern.
Erstens. Wir sind für Einsparungen im Verteidigungsetat,
und dazu wollen wir erst einmal Ihre Zustimmung. Das ist das erste, und davor können Sie sich auch nicht drücken.
Zweitens — das geht nun auch Sie persönlich an, weil Sie ab und zu darüber reden, Frau Hellwig —: Wir möchten gerne, daß Sie auf weitere Senkungen der Unternehmensteuern verzichten. 25 Milliarden DM!
Zum dritten — auch das wiederhole ich sehr deutlich — : Wenn das nicht reicht — ich sage Ihnen: es wird nicht reichen — , dann — jetzt verlese ich das noch einmal ganz deutlich, damit Sie es dieses Mal vollständig mithören können —, können Sie mit der Kooperation der Sozialdemokraten
nur dann rechnen, wenn völlig klar ist, daß nicht die kleinen Leute die Kosten bezahlen müssen. So ist das.
Aber wie wäre denn jetzt folgender Vorschlag an Sie: Sagen Sie doch endlich einmal, was die deutsche Einheit kostet! Legen Sie die Zahlen über die Belastungen auf den Tisch! Dann machen Sie Vorschläge für Steuererhöhungen, die Sie für richtig halten, und dann werden wir uns dazu äußern.
17502 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch. den 5. September 1990
Frau Dr. Däubler-Gmelin
Das ist die richtige Reihenfolge. Das erwarten die Menschen von Ihnen, und so wollen wir es auch halten.
— Ich weiß, Sie hätten es gern, daß Sie sich weiter drücken können, meine Damen und Herren. Aber ich sage Ihnen: Nicht nur wir werden Ihnen das nicht gestatten, sondern das werden auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes nicht tun. Sie werden Sie dazu zwingen, die Karten auf den Tisch zu legen, und das ist auch völlig in Ordnung.
Ich habe den Staatsvertrag mit einem Bauplan verglichen. Herr Bundesinnenminister und Herr Bundesfinanzminister: Auch ein Bauplan muß möglichst gut und präzise durchgerechnet sein. Was passiert — das ist noch eine Antwort auf Ihre Frage, Frau Hellwig —, wenn er das nicht ist? Darüber können viele Bauherren ein trauriges Lied singen. Dann dauert alles doppelt so lang. Dann wird das meiste doppelt so teuer, und es gibt eine Menge zusätzlichen Ärger. Ich sage Ihnen: Genauso wird es Ihnen gehen, wenn Sie Ihre Politik in dieser Frage nicht ändern.
Noch eines: Wir halten das, was Sie zu den Kosten des Einigungsvertrages auf das Vorblatt geschrieben haben, und auch das, was Sie in die Begründung hineingeschrieben haben, für eine Zumutung.
Erstens. Die angegebenen Kosten sind viel zu niedrig. Diese Angaben zu machen, können Sie nur deshalb wagen, weil Sie meinen, es würde niemand bemerken, welche Riesenbeträge Sie in Sondertöpfe, in verdeckte Töpfe und woanders hin abgeschoben haben.
Zweitens. Jeder, der Ihre Vorlage liest, muß den Eindruck haben, die Gemeinden und die Länder würden durch die deutsche Einheit mehr einnehmen, als sie ausgeben müssen, sie würden also durch die deutsche Einheit sogar noch etwas gewinnen. Das, meine Damen und Herren, nenne ich einen Taschenspielertrick. So geht es nicht, Herr Bundesfinanzminister.
Wir sagen: Sie müssen das Vorblatt ändern, Sie müssen die Zahlen auf den Tisch legen und ganz ehrlich sagen, Frau Hellwig, wie sich die Bundesregierung und die Union die Verteilung der zusätzlichen Lasten vorstellen.
Ich kann nur noch einmal sagen: Wir Sozialdemokraten sind zur Kooperation bereit. Das haben wir jetzt mehr als einmal bewiesen. Wer Kooperation mit uns will, wer die Bürgerinnen und die Bürger unseres Landes zur Solidarität aufruft, der muß wenigstens Ehrlichkeit anbieten. Dabei bleiben wir.
Der Einigungsvertrag ist fertig. Die Einheit steht vor der Tür. Bischof Schönherr, jener große, alte Mann aus den evangelischen Kirchen in der DDR, hat drei Forderungen an das Zusammenleben der Deutschen gestellt. Er hat von der Verantwortung für unsere gemeinsame Geschichte gesprochen. „Haftungsgemeinschaft" hat er das genannt. Er hat Verantwortung
für das vernünftige Zusammenleben der Menschen in beiden Teilen Deutschlands, also für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte in unserem eigenen Land, gefordert. Dann hat er vor allem von der Verantwortung für die Mitgestaltung, für unsere Mitarbeit an der weltweiten Bewältigung der künftigen Aufgaben, die auf uns zukommen, gesprochen.
In der ihm eigenen Zuversicht — ich teile diese — hat er das „Hoffnungsgemeinschaft" genannt.
Das hat er zu einer Zeit getan, meine Damen und Herren, als von einer Hoffnung auf die deutsche Einheit nicht die Rede sein konnte. Da konnte niemand darauf hoffen. Jetzt steht sie vor der Tür. Ich glaube, wir sollten seine Mahnungen beherzigen. Sie sind wichtiger denn je.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Bötsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als vor zwei Wochen, am frühen Morgen des 23. August, die Volkskammer den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober mit der nötigen Zweidrittelmehrheit beschlossen hat, da war es bemerkenswerterweise der Vorsitzende der SED-Nachfolgepartei, PDS, der die Tragweite der Entscheidung klar ausdrückte. Er sagte nämlich:Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen.Seine Bemerkung wurde von den meisten Kollegen der Volkskammer mit Freude und mit langanhaltendem Applaus quittiert. Ich glaube, hier wurde schlagartig das Wesentliche sichtbar, das durch manche öffentlichen Diskussionen und Streitigkeiten über Detailfragen überdeckt zu werden schien. Dieses Wesentliche ist die Herstellung der Einheit und Freiheit Deutschlands durch Selbstbestimmung.Ich spreche hier für die CDU/CSU-Fraktion, für eine Fraktion, die darauf über 40 Jahre hingearbeitet hat,
und zwar mit der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, mit der Bindung der Bundesrepublik Deutschland an den Westen, mit der Offenhaltung der deutschen Frage, mit einer Sicherheitspolitik, die nie einen Zweifel daran ließ, daß wir bereit sind, unsere Freiheit zu verteidigen. So kann ich auch heute unsere Genugtuung darüber nicht verhehlen, daß wir heute den Gesetzentwurf über den Einigungsvertrag beraten dürfen.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Einigungsvertrag wollen wir das wahr machen, was mutige Männer und Frauen zunächst vergeblich am 17. Juni 1953 und dann erfolgreich im letzten Herbst auf den Straßen von Leipzig und Dresden, von Magdeburg und Berlin einforderten. Trotz Verzweif-
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Dr. Bötschlung, trotz Angst und Wut über eine kommunistische Diktatur brachten sie in menschlich großartiger Weise den Mut auf, unvermummt und ohne Waffen friedvoll zu demonstrieren, obwohl an diesem Tage ein Schießbefehl der Armee nicht ausgeschlossen werden konnte. Sie wurden so ein Vorbild an gewaltfreiem Einsatz für Frieden und Menschenrechte.
Sie und die Opfer des SED-Regimes dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Wir müssen ihnen in angemessener Weise ein stetes Gedenken bewahren.Ich fordere dieses Gedenken trotz oder gerade auch wegen unserer Zustimmung zum neuen „Tag der Deutschen Einheit" am 3. Oktober.Nachdem Bundeskanzler Helmut Kohl bei seinen historischen Gesprächen mit Generalsekretär Gorbatschow im Kaukasus Mitte Juli den Weg für die Lösung der äußeren Aspekte freigemacht hat, regeln wir nun mit dem Einigungsvertrag die inneren Aspekte der deutschen Einheit. Wir können jetzt ein Deutschland schaffen, in dem die Menschen vereint in Frieden und Freiheit leben und das gleichberechtigtes Mitglied der Völkergemeinschaft sein wird. Wir wollen dieses Deutschland. Wir wollen es im Bewußtsein der Kontinuität deutscher Geschichte und eingedenk der sich aus unserer Vergangenheit ergebenden besonderen Verantwortung für eine demokratische Entwicklung in Deutschland, die der Achtung der Menschenrechte und der Freiheit verpflichtet bleibt. Wir werden mit der deutschen Einheit einen Beitrag zur Einigung und zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung leisten, in der Grenzen nicht mehr trennen und die allen europäischen Völkern ein vertrauensvolles Zusammenleben gewährleistet.
Wahrhaftig, vor uns liegt eine große und verdienstvolle Aufgabe, die wir gemeinsam mit unseren Nachbarn und Freunden lösen wollen.Für die CDU/CSU-Fraktion danke ich der Bundesregierung, daß sie diese Aufgabe zielstrebig und effektiv wahrnimmt. Nicht zuletzt der vorliegende Entwurf des Einigungsvertrages stellt die Handlungsfähigkeit der Regierung Kohl eindrucksvoll unter Beweis. Ich danke für unsere Fraktion allen, die an diesem Mammutwerk von 900 Seiten mitgewirkt haben. Insbesondere Ihnen, Herr Bundesinnenminister, und Ihren Mitarbeitern sowie dem Verhandlungsführer der DDR, Herrn Staatssekretär Krause, und seinen Mitarbeitern gilt unser Dank für diese immense Arbeit.
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß der Vertrag von beiden Seiten fair im Interesse der Menschen ausgehandelt worden ist. Lassen Sie mich nur auf drei Punkte eingehen, die aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion besonders wichtig sind:Erstens. Der Vertrag stellt klar, daß die bei uns bewährte freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands weiterhin Gültigkeit behält. Es bleibt dabei — Frau Kollegin Däubler-Gmelin, Sie haben dem nicht widersprochen, sondern das unterstrichen — , daß Änderungen dieser Verfassung nur mit einer Zweidrittelmehrheit der parlamentarischen Gremien beschlossen werden können.
Ich habe Ihnen nicht in allen einzelnen Punkten inhaltlich zugestimmt. Aber mit meinem vorsichtigen Nicken — vielleicht haben Sie es bemerkt — wollte ich unsere Diskussionsbereitschaft ankündigen, wenn wir möglicherweise auch nicht in allen Fragen, die Sie angedeutet haben, zu einem Konsens kommen. Das allerdings, was der Runde Tisch als Verfassungsentwurf für die DDR in letzter Minute vorgelegt hat, ist für uns keine brauchbare Diskussionsgrundlage, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Zweitens. Die Regelung von Vermögensfragen lehnt sich in Art. 41 des Vertrages an die von den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR abgegebene Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni 1990 an und damit an den Grundsatz, daß in der Regel Restitution vor Entschädigung steht.
Nur in konkreten Einzelfällen, wo Investitionen behindert werden könnten, soll die Entschädigung vorrangig möglich sein. Damit ist eine Regelung getroffen, die dem verfassungsmäßigen Rang des Eigentums entspricht und zugleich der Wirtschaft klare Rechtsgrundlagen gibt. Es sollte also bezüglich der Grundstücke keine Rechtsunsicherheit mehr geben. Ich möchte deshalb von dieser Stelle aus an die Wirtschaft appellieren, jetzt keine Vorwände mehr zu suchen, sondern drüben zu investieren statt bei uns weiter zu expandieren und die DDR nur als einen Absatzmarkt zu betrachten.
Bundesminister Schäuble hat in seinen Ausführungen schon auf die Regelung in Art. 41 hingewiesen, die die Enteignungen vor 1949 betrifft. Ich gestehe zu, daß vielen von uns die Zustimmung zu dieser Regelung nicht leichtfällt.
Sie wird auch dadurch nicht leichter, daß Herr Staatssekretär Krause einer Agenturmeldung zufolge bei seinem Werben um die Zustimmung der PDS gestern gesagt hat, es seien PDS-Vorschläge in den Einigungsvertrag eingegangen, was sich beispielsweise in der Regelung zur Bodenreform widerspiegele.
Meine Damen und Herren, ich sage in aller Kollegialität: Solche Äußerungen machen uns die Zustimmung zu diesem Punkt wirklich nicht leichter.
Sie wissen, daß die DDR-Seite bei der Auffassung geblieben ist — das gilt für alle, Herr Kollege Stratmann, da stimme ich Ihnen zu — , daß diese Enteignungen nicht mehr rückgängig gemacht werden sollten. Dafür mögen viele politische Gründe sprechen.
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17504 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Dr. BötschIch bin aber der Auffassung, daß die verfassungsrechtliche Lage endgültig erst beim Bundesverfassungsgericht geklärt werden wird. Entsprechende Verfahren sind angesagt.
Wir sollten uns im gesamtdeutschen Parlament aber baldmöglichst der Mühe unterziehen, die Behandlung der Entschädigung gerecht, vernünftig und sehr schnell zu regeln. Diese Auffassung hat die Bundesregierung auch in der Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni bekräftigt.Drittens. Ich möchte nicht verschweigen — es wäre auch nicht sinnvoll, das zu verschweigen; denn die Öffentlichkeit hat daran teilgenommen — , daß ein weiterer Punkt im Einigungsvertrag aus unserer Sicht längerer interner Diskussionen bedurfte. Es betrifft die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im vereinten Deutschland und alles, was damit zusammenhängt. Es ist und bleibt für uns nur ein Kompromiß, wenn durch eine Suspendierung des Grundgesetzes auf dem beitretenden Gebiet das vorübergehende Inkraftbleiben eines von Walter Ulbricht im Jahre 1972 unterschriebenen Gesetzes für zwei Jahre, nämlich bis zum 31. Dezember 1992, möglich gemacht wird. Aber ab 1. Januar 1993 wird auch in dieser Hinsicht die nach dem Grundgesetz geltende Verfassungslage uneingeschränkt in den fünf neuen Ländern gelten.
Daran ändert nichts die dann möglicherweise — falls wir nicht zu einer gemeinsamen Lösung kommen — weitergeltende materielle Rechtslage, wie es in Art. 31 Abs. 4 letzter Satz des Einigungsvertrages festgelegt worden ist.Bis dahin, also innerhalb von zwei Jahren, hat der gesamtdeutsche Gesetzgeber aber die Aufgabe und die Verpflichtung, eine vernünftige, das ungeborene Leben gemäß unserer Verfassung schützende Regelung für ganz Deutschland zu treffen.Ich bitte, folgendes nicht zu übersehen: Der Vertrag gewährleistet den unverzüglichen Aufbau eines flächendeckenden Netzes von Beratungsstellen zum Schutz vorgeburtlichen Lebens auf dem Gebiet der fünf neuen Länder. Damit haben wir die Situation in den fünf Ländern gegenüber bisher ganz entscheidend verbessert.
Ich bitte all diejenigen, die bei dieser Regelung vielleicht Zweifel haben, ob man ihr zustimmen kann, das nicht in den Hintergrund zu stellen.
Auf Grund dieser Diskussionen haben sich CDU und CSU letzte Woche in langen und, ich glaube, von großem Verantwortungsbewußtsein geprägten Diskussionen entschlossen, nicht das eintreten zu lassen — ich drücke mich vorsichtig aus —, was zumindest vorübergehend den Anschein hatte, nämlich daß der Kanzlerkandidat der SPD diesen Einigungsvertrag nicht wollte. Ich drücke mich so vorsichtig aus, weil man bei den Beratungen unterschiedliche Stimmungen gespürt hat. Aber sei es, wie es sei: Sie haben heute erklärt, daß Sie dem Vertrag zustimmen, undwir haben jetzt die Aufgabe, für diesen Punkt eine Regelung zu finden.Ich sage auch für die Öffentlichkeit: Es ist nicht Aufgabe der politischen Parteien allein, einen Konsens zu finden. Vielmehr sind alle gesellschaftlichen Gruppen, denen es um den Wert des Lebens, auch um den Wert des ungeborenen Lebens geht, aufgerufen und eingeladen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen. Wir sind gesprächsbereit und aufnahmebereit für alle Argumente in dieser wichtigen Frage.
Meine Damen und Herren von der SPD, in der Präambel Ihres Wahlprogramms steht gleich zu Beginn:Die Nachkriegszeit ist zu Ende, die deutsche Teilung ist überwunden. Was zusammengehört, hat zusammengefunden. Die Deutschen leben wieder in einem Staat.Wohl wahr!
— Dagegen gibt es nichts zu sagen. Aber ich muß Ihnen an dieser Stelle die Frage stellen: Was haben Sie eigentlich dazu beigetragen, daß es zu dieser Entwicklung gekommen ist?
Auch Ihr Beitrag, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, enthielt eigentlich mehr Negatives zum Vertrag als Positives.
— Herr Kollege Amling, waren vielleicht das gemeinsame Strategiepapier mit der SED, in dem Sie gemeinsam mit Erich Honecker auf die gemeinsame Vergangenheit des Humanismus hingewiesen haben,
oder das Abgehen von der deutschen Frage Ihre Beiträge, die Sie gebracht haben? Oder war die versuchte Verhinderungspolitik zum ersten Staatsvertrag, der die Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion gebracht hat, Ihr Beitrag?
Frau Kollegin Däubler-Gmelin, in der Bewertung des Beitrags der Friedensbewegung in der Situation, in der wir heute stehen, unterscheiden wir uns fundamental. Nicht die Friedensbewegung hat die deutsche Einheit mit herbeigeführt, sondern unsere Standhaftigkeit, die Standhaftigkeit dieser Regierungskoalition in den letzten Jahren in allen Fragen der Verteidigungspolitik zusammen mit unseren Verbündeten. Das war das auslösende Moment, das zu der Situation, in der wir heute stehen, geführt hat.
Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben wahltaktische Manöver fahren wollen, wohlwissend, daß die rasche Klärung aller anstehenden Fragen und die damit verbundene Rechtssicherheit entscheidend für die Herstellung einheitlicher Le-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17505
Dr. Bötschbensverhältnisse in Deutschland ist, von denen Sie oft und meines Erachtens zu Recht reden.In dieses Bild paßt übrigens auch Ihre Verweigerung der Zustimmung, die erste gesamtdeutsche Wahl nach vorne zu ziehen. Eine schnelle, einheitliche , demokratische Legitimierung eines gesamtdeutschen Parlaments wäre nicht nur würdiger und nicht nur angemessener gewesen, um die dringenden Probleme der Vereinigung zu lösen, sondern sie hätte uns auch schneller in die Lage versetzt, an die praktischen Dinge heranzugehen. Wie sollen eigentlich die Kollegen aus der Volkskammer in den restlichen zwei bis drei Sitzungswochen, die wir noch haben, hier arbeiten? Wir hätten die Zeit von Mitte Oktober bis zum Ende des Jahres statt für den Wahlkampf weiß Gott . dazu nutzen können, die Verbesserung der Lebensverhältnisse herbeizuführen.
Sie tragen mit Ihrer Verweigerung in diesem Punkt die Verantwortung dafür, daß in wenigen Wochen Herr Gysi im Deutschen Bundestag eine öffentlich wirksame Plattform erhält, um zusätzlich Wahlkampf betreiben zu können, meine Damen und Herren.
Wenn ich in bezug auf die Fragen der Wirtschaftspolitik die vielen warnenden Fingerzeige, die Kassandrarufe aus der SPD zu unserer bewährten Deutschlandpolitik kommentieren soll, dann möchte ich auf meinen fränkischen Landsmann Ludwig Erhard zurückgreifen. Im Hinblick auf eine mögliche Wiedervereinigung schrieb er bereits 1953 Sätze, die man sich wirklich anhören sollte. Er schrieb damals:Wir können also schon mit einiger Gelassenheit den trüben Prophezeiungen derer entgegensehen, die in ihrer „rationalen Vollkommenheit" wieder einmal die menschlichen und soziologischen Imponderiabilien, die Impulse und Energien vergessen werden, die sich eben nicht auf rechenhafte Formeln bringen lassen. In politischer, wirtschaftlicher und menschlicher Beziehung wird die Wiedervereinigung Deutschlands Kräfte entfesseln, von deren Stärke und Macht sich die Schulweisheit der Planwirtschaftler nichts träumen läßt. Weder wird für die heutige Bevölkerung des Bundesgebiets durch den Zusammenschluß eine steuerliche Belastung eintreten noch dadurch die Existenz von Betrieben gefährdet werden. Viel besser als leistungshemmende Schutzmaßnahmen erweisen sich produktionsfördernde steuerliche Erleichterungen und Befreiungen. Bei der Höhe der heute auf unserer Wirtschaft ruhenden Steuerlasten sind alle und ausreichende Voraussetzungen gegeben, den Unternehmungen der Sowjetzone— wie er damals schrieb —zu betriebs-, kosten- und ertragswirtschaftlich gleichartigen Startbedingungen im Wettbewerb zu verhelfen.Soweit Ludwig Erhard 1953, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Nicht nur deshalb, aber auch deshalb, Herr Kollege Roth, werden wie die Kräfte der deutschen Wirtschaft nicht durch Steuererhöhungen oder andere Vorschläge aus dem Programm mit dem absolut irreführenden Namen „Fortschritt 90" fesseln; wir werden sie vielmehr frei walten lassen, indem wir weiterhin eine klare Politik der Sozialen Marktwirtschaft verfolgen,
eine Politik, die bei uns im Bundesgebiet seit 1983 fast zwei Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen hat, die den Deutschen einen alles in allem beispiellosen Wohlstand beschert hat, die zu den höchsten ökonomischen Wachstumsraten geführt hat, die die Kassen der Renten- und Krankenversicherung so ausgestattet hat, daß wir die Dinge finanzieren können. Nebenbei gilt dies auch für die SPD-regierten Länder. Sie schweigen allerdings dazu und üben auch noch laute Kritik. So mußte etwa gegen ihren Widerstand die große Steuerreform durchgesetzt werden. Sie sind aber jetzt stillgeworden, weil auch sie natürlich wohlgefällig die neuesten Daten über die Zuwächse der Steuereinnahmen betrachten. Auch die SPD-geführten Länder tun das.
Unsere Politik der Sozialen Marktwirtschaft hat dafür gesorgt, daß die ökonomischen Voraussetzungen für die Wiedervereinigung Deutschlands so gut sind, daß wir sie bewältigen können, meine Damen und Herren.
Trotzdem will jetzt Herr Lafontaine eine Steuererhöhungsdebatte führen, übrigens entgegen dem Ratschlag von Frau Matthäus-Maier. Ich bitte nur, am Montag das, was in den Tageszeitungen steht, mit dem zu vergleichen, was in einem nicht ganz unbedeutenden deutschen Wochenmagazin zu lesen ist. In dem Wochenmagazin steht, man sollte eine intelligente Finanzpolitik betreiben, statt Steuererhöhungen durchzuführen.Im zweiten Punkt stimme ich dem zu. Die intelligente Finanzpolitik haben wir. Deshalb brauchen wir auch keine Steuererhöhungen. Das ist der Sachverhalt, meine Damen und Herren.
Frau Kollegin Däubler-Gmelin, Sie haben heute wieder die Steuererhöhungen angesprochen. Sie sind aber dann, als es in das Konkrete ging, etwas in das Allgemeine ausgewichen und haben gesagt: Hannemann, geh du voran.Meine Damen und Herren, unseren Segen zu dieser Diskussion haben Sie, aber die Zustimmung der Bevölkerung dazu werden Sie nicht bekommen.Meine Damen und Herren, Sie fragen immer: Was kostet die Einheit?
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17506 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Dr. BötschJa, wollen Sie eigentlich ab einem bestimmten Kostenpunkt sagen: Nein danke, zu dem Preis wollen wir die Einheit nicht?
Die Frage müßten Sie doch auch einmal beantworten.
Sonst ist eine solche Frage doch völlig sinnlos.Sie haben von den Schwierigkeiten gesprochen, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, die es im Übergang gibt. Sie haben das an konkreten Beispielen dargelegt. Wir verschweigen nicht, daß der Übergang zur Marktwirtschaft in der DDR natürlich erhebliche Umstellungsprobleme mit sich bringen wird; denn die immensen Fehlleistungen des früheren sozialistischen Plansystems sind eine schwere Hypothek. 15 000 Tage sozialistische Mißwirtschaft können nicht durch 67 Tage soziale Marktwirtschaft getilgt werden. Das ist doch der Sachverhalt.
Daran haben wir auch nie einen Zweifel gelassen. Deswegen werden wir alle die planwirtschaftliche Struktur konservierende Maßnahmen verhindern, wozu beispielsweise auch die Schaffung von sogenannten Beschäftigungsgesellschaften gehört, die Herr Thierse jetzt vorgeschlagen hat.Ich meine, bei aller Kompliziertheit der anstehenden Probleme dürfen wir diese nicht mit Kleinmut angehen, sondern wir sollten sie mit einem Stück von praktischem Optimismus gemeinsam lösen. Das hat nichts mit dem Verschweigen der Probleme zu tun — ich wiederhole das. Im übrigen, im wirtschaftlichen Alltag der Noch-DDR gibt es auch sehr viele positive Entwicklungen, die die SPD natürlich gern verschweigt.Warum geben Sie, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, nicht zu, daß die Währungsumstellung ein großer Erfolg geworden ist?
Der Innenminister hat darauf hingewiesen, daß der von manchen selbsternannten Experten vorausgesagte preistreibende Kaufrausch ausgeblieben ist. Warum lassen Sie uns nicht unwidersprochen darauf hinweisen, daß sich bereits sehr viele westdeutsche Unternehmen in der DDR engagieren oder dies in Kürze tun werden? Ähnliches gilt für Hunderte von Klein- und Mittelbetrieben aus der Bundesrepublik.Im ersten Halbjahr 1990 wurden bereits 2 800 Jointventures genehmigt bzw. realisiert. Eine Umfrage des Bundeswirtschaftsministeriums hat gezeigt, daß eine Vielzahl weiterer gemeinsamer Projekte von Unternehmen aller Branchen und Größen in Vorbereitung ist.Auch ist die Nachfrage nach ERP-Krediten für Investitionen in der DDR ungebrochen. Derzeit liegen rund 45 000 Anträge mit einem Fördervolumen von rund 4,7 Milliarden DM vor. Davon stammen knapp 40 000 Anträge mit einem Fördervolumen von 4,1 Milliarden DM aus dem Gebiet der DDR, die fast zu 100 % zugesagt sind.Meine Damen und Herren, man könnte die Reihe fortsetzen, die zeigt: Von Lethargie ist auf örtlicher Ebene nichts zu spüren. Es gibt Anzeichen von Optimismus und wachsender Regsamkeit. Unsere breitangelegten Maßnahmen für öffentliche Investitionen lassen Infrastrukturmaßnahmen rasch in Gang kommen.Auch im Mittelpunkt des dritten Nachtragshaushalts, den der Bundesfinanzminister in Kürze vorlegen wird, werden Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaft auf dem Gebiet der beitretenden fünf Länder stehen. Dazu zählen vor allem Maßnahmen zur Förderung privater und kommunaler Investitionen.Ich frage mich, warum wir diese positiven Daten verschweigen sollten, die den Vorhersagen nationaler und internationaler Wirtschaftsinstitute entsprechen. Letzte wesentliche Investitionshemmnisse werden jetzt mit dem vorliegenden Vertragswerk beseitigt.
Meine Damen und Herren, wir stehen in der Tat vor einer neuen Epoche. Wir haben die Chance, in einem vereinigten Vaterland in Freiheit und Wohlstand zu leben und den Frieden in Europa durch eine Verständigung und Aussöhnung mit den Völkern des Ostens zu festigen. Wir wollen diese Chance nicht vergeben. Ich freue mich, daß wir trotz aller Kontroversen zwischen der Koalition und der Opposition nicht nur wieder über Deutschland reden, sondern Deutschland gestalten können.Manche hatten nicht aufgehört, über Deutschland zu sprechen, wie der Schriftsteller Martin Walser, der unter dem Titel „Über Deutschland reden" am 30. Oktober 1988 in den Münchener Kammerfestspielen eine Rede hielt. Damals, ein Jahr vor der friedlichen Revolution in der DDR, bekannte er, wenn er in Leipzig sei, wenn er an Bach und an andere denke, dann sei er nicht bereit, zu sagen, er befinde sich im Ausland, oder es handle sich um Ausländer. Und er sagte auch, er spüre ein elementares Bedürfnis, nach Sachsen und Thüringen reisen zu dürfen, unter ganz anderen Umständen als denen, die 1988 herrschten.Nur zwei Jahre sind seitdem vergangen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, frei, ohne Einschränkung, ohne Paßkontrolle nach Sachsen oder Thüringen, nach Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg, nach Berlin oder Sachsen-Anhalt zu reisen. Wir sollten es tun, wir sollten die Möglichkeit nutzen, um unsere Landesleute — ich sage: wieder — kennenzulernen und das Hüben und Drüben baldmöglichst durch ein gemeinsames „Wir" zu ersetzen. Und wir sollten versuchen, uns der Größe dieses Augenblicks auch würdig zu erweisen.Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland in einem geeinten Europa, im Einsatz für eine friedliche Welt! Daran laßt uns gemeinsam arbeiten!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stratmann-Mertens.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17507
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Am 3. Oktober soll nun also gefeiert werden, der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Das Ganze auch noch, ginge es nach dem Szenario des Bundeskanzleramtes, wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten mit Glockenläuten und Gottesdiensten.
Mich überkommt ein schaler Geschmack. Wie können wir unserer Genugtuung Ausdruck geben, daß eine erzwungene Trennung der Deutschen nun endlich überwunden wird? Wo aber können wir gleichzeitig unsere Enttäuschung und unsere Wut über die vertanen Chancen im deutschen Einigungsprozeß lassen?Wir können und wollen nicht die spontane Freude vom 9. November des vergangenen Jahres, als die Mauer fiel, einfach wiederbeleben; denn heute droht eine millionenfache Entlassung von Erwerbstätigen in der DDR, wenn nicht alsbald die Chance für einen ökologischen und sozialen Aufbau und Umbau der DDR genutzt wird. Unsere Erleichterung über die Blocküberwindung in Deutschland und in Europa wird durch unsere Furcht jäh abgebrochen, daß ein „Deutschland erwache" sich militärische Einsatzgebiete am Golf und anderswo sucht.Wir GRÜNEN sagen ja zur deutschen Einheit und deswegen nein zum Einigungsvertrag. Dieser Vertrag ist eine Hypothek auf unsere Zukunft. Zentrale Probleme der Gegenwart löst er nicht. Er entsorgt lediglich die deutsche Vergangenheit und das Erbe zweier Diktaturen in Deutschland, statt dazu beizutragen, daß unsere Vergangenheit rückhaltlos aufgearbeitet wird.Seit gestern abend halten Bürgerrechtlerinnen in Ost-Berlin die ehemalige Stasi-Zentrale besetzt. Sie verlangen Einsicht in ihre persönlichen Akten und wollen verhindern, daß in Zukunft die Stasi-Akten zentral erfaßt und außer Landes gebracht werden. So will es die Bundesregierung.Die Bürgerrechtlerinnen wollen sich davor schützen, daß die Schnüffelergebnisse der Stasi in Zukunft durch bundesdeutsche oder andere Geheimdienste ausgewertet werden.
Auf diese Weise kämen sie nämlich vom Regen in die Jauche.Wir GRÜNEN haben volle Sympathie mit den Besetzern. Ihnen gebührt die Unterstützung des ganzen Bundestages, so wie die Volkskammer noch vor fast zwei Wochen fast einstimmig beschlossen hat, daß die Stasi-Akten auf dem Boden der DDR bleiben und der Verantwortung der DDR-Länder unterstellt werden. Wir sagen: Es darf keine Enteigung der Staatssicherheitsakten durch die Bundesregierung geben. Dies wäre nämlich eine Enteignung der Vergangenheit der DDR-Bürgerinnen.
Ein selbstbestimmter Umgang mit ihrer Vergangenheit würde ihnen vorenthalten. Dazu, Herr Schäuble,haben Sie kein Recht. Der Einigungsvertrag muß hier verändert werden.Der Beitritt der DDR vollendet am 3. Oktober, was in der Präambel des Grundgesetzes als Auftrag formuliert ist: die nationale und staatliche Einheit beider Deutschländer. Es scheint mir charakteristisch zu sein: Die Präambel ist anspruchsvoll hinsichtlich der nationalen Zukunft. Sie ist aber völlig anspruchslos hinsichtlich des Umgangs mit der eigenen nationalen Vergangenheit; hier schweigt sie sich aus.
Das soll auch in ihrer beabsichtigten Neufassung so bleiben. Lediglich der Vorspann zum Einigungsvertrag gibt sich geschichtsbewußt: „im Bewußtsein der Kontinuität deutscher Geschichte" heißt es dort inhaltsleer — bedeutungsschwanger.Wir meinen, daß wir die Zukunft Deutschlands verantwortlich nur gestalten können, wenn wir das Gedenken an die beispiellosen Verbrechen von Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus und damit die Achtung vor den Opfern wachhalten. Das gilt in diesen Wochen besonders für asylsuchende Roma in der Bundesrepublik.Wir GRÜNEN greifen eine Anregung von Herrn Galinski, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf und beantragen, dieses Gedenken an die Verbrechen der Deutschen in der Vergangenheit in die Präambel des Grundgesetzes aufzunehmen.
Mich interessiert, Herr Schäuble, warum Sie — nach Anregung von Herrn Galinski auch an die Bundesregierung — einen solchen Vorschlag ablehnen?Der deutsch-deutsche Einigungsprozeß hat die Chance eröffnet, eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten. Das Grundgesetz hätte so um den Verzicht auf ABC-Waffen, um das Grundrecht auf gesunde Umwelt und um direkt-demokratische Elemente wie Volksabstimmungen angereichert werden können. Diese Chance wird mit dem Einigungsvertrag vertan. Der Auftrag, eine neue Verfassung auszuarbeiten, wie ihn die jetzige Präambel in Verbindung mit Art. 146 Grundgesetz vorsieht, wird faktisch aufgegeben.
Die CDU/CSU war dagegen.
Die SPD tat so, als wäre sie dafür, tat aber nichts dafür; das kennen wir.Wir GRÜNEN halten an dem Projekt einer neuen Verfassung fest. Wo das Parlament diesen Weg blokkiert, hilft nur die alte Weisheit der Bürgerinitiativen: das „Ding" in die eigenen Hände zu nehmen. Ich rege an, daß sich alle interessierten Kräfte in den Parteien und in allen Fraktionen des Bundestages, alle interessierten Kräfte in Verbänden, Kirchen und Initiativen zusammentun und selbst eine verfassunggebende Versammlung der Bürger und Bürgerinnen konstituieren.
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17508 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Stratmann-MertensEine solche Versammlung könnte die Tradition und den Verfassungsentwurf des „Runden Tisches" in der DDR aufnehmen und weiterentwickeln. Sie könnte noch vor der Wahl am 2. Dezember zu ihrer ersten Sitzung zusammentreten, in Weimar oder in der Paulskirche. Das „Kuratorium für eine neue Verfassung" könnte die Initiative dazu ergreifen. Laßt uns selbst organisieren, was uns die Parlamentsmehrheit vorenthält!Kaum ein Begriff wird in den letzten Monaten bis in diese Tage so bemüht und strapaziert wie der Begriff der Solidarität, sei es die Solidarität mit den Menschen in der DDR, sei es die Solidarität mit unseren internationalen Verbündeten. Es lohnt sich, genau hinzuschauen. Denn Solidarität und der verantwortliche Umgang mit Macht sind Maßstäbe, an denen wir uns messen lassen.§ 218: Hier ist Solidarität mit Frauen in Schwangerschaftskonflikten geboten. Eine breite Mehrheit in der Volkskammer der DDR — immerhin unsere Vertragspartnerin — ist für die Beibehaltung der Fristenregelung der DDR. Eine Mehrheit im Bundestag ist mindestens für eine Fristenregelung, ungeachtet weiterreichender Forderungen von uns Grünen nach gänzlicher Streichung des § 218.
Es hätte die Möglichkeit bestanden, die gegebenen Mehrheiten für eine gesamtdeutsche Übergangsregelung im Einigungsvertrag zu nutzen, die nicht hinter die Fristenregelung der DDR zurückfällt. Wir GRÜNEN haben dies schon vor Wochen als einzige Fraktion im Bundestag beantragt.Doch wie sah die Solidarität unserer Verhandlungsführer mit den Frauen praktisch aus? Eine Herrenrunde mit Dame tagte und nächtigte hinter verschlossener Kanzlertür
und exekutierte ein Lehrstück für Politik und Patriarchat. Die Runde aus Koalition und SPD verständigte sich — nach Lambsdorffs doppeltem Salto — auf das Prinzip „Tatort" : In der BRD bleibt zunächst alles beim alten; die Frauen werden zum Abtreibungstourismus in die DDR genötigt. Die SPD verzichtete darauf, schon im Einigungsvertrag eine gesamtdeutsche Abtreibungsregelung durchzusetzen, die nicht hinter die DDR-Regelung zurückfällt.
Dieses Einknicken in zentralen Fragen des Einigungsvertrags hat bei der SPD Methode; ich werde darauf zurückkommen.Ob sich die jetzige Chance, reale Verbesserungen für betroffene Frauen durchzusetzen, in den kommenden zwei Jahren wieder ergibt, steht in den Sternen. Wir GRÜNEN werden in dieser Zeit wie bisher dafür werben und Druck machen, daß der § 218 gestrichen wird. An die Stelle von Strafandrohungen müssen umfassende soziale Hilfsangebote für schwangere Frauen, für junge Familien und Alleinerziehende treten. Damit wird auch das ungeborene Leben am wirksamsten geschützt.
Daß solcherart solidarische Hilfe im Einigungsvertrag nur ein Lippenbekenntnis ist, zeigt der Abschnitt „Familie und Frauen". Danach beteiligt sich der Bund nur bis Mitte 1991 an der Finanzierung der Kinderbetreuungseinrichtungen im Gebiet der DDR, obwohl absehbar ist, daß Tausende von Betriebskindergärten ihre Arbeit einstellen müssen und die hoch verschuldeten Kommunen diese Einrichtungen nicht übernehmen können. Wir fordern Finanzzuweisungen an die Kommunen, damit sie den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz tatsächlich garantieren können.Die Solidarität, die die Männerriege der Koalition den Frauen vorenthält, geht völlig den Bach runter bei der ökonomischen Gestaltung des Einigungsprozesses. Der Einigungsvertrag setzt in dieser Hinsicht das Werk des ersten Staatsvertrages über die Wirtschafts- und Währungsunion fort.Das eher konservative Institut für Wirtschaftsforschung — IFO — , München, rechnet in seiner jüngsten Untersuchung, daß im Jahr 1991 durchschnittlich zweieinhalb Millionen Menschen in der DDR arbeitslos werden. Wen wundert es da, daß die Angst um den Arbeitsplatz, um die materielle Existenz das wichtigste Thema der Bürgerinnen und Bürger in der DDR ist?Wir GRÜNEN wollen uns dieser Situation stellen, ohne durch Schwarzmalerei diese Ängste zu schüren. Im Gegenteil: Gefordert ist jetzt ein scharfer Blick auf die Ursachen dieser Situation. Wir wollen Kräfte freisetzen helfen und Mut machen, um Wege aus dieser Massenerwerbslosigkeit und Umweltzerstörung zu finden.
Eines ist wahr: Die Strukturprobleme der DDR-Wirtschaft sind das Resultat 40jähriger SED-Herrschaft. Keiner von uns weint dieser so undemokratischen wie ineffektiven Planwirtschaft eine einzige Träne nach. Aber es hätte die Chance bestanden, schrittweise und für die Menschen in der DDR verträglich den Übergang zu einer effektiven und demokratischen Wirtschaftsweise zu gestalten. Das Fiasko, das sich nun von Woche zu Woche in der DDR ausbreitet, begann am 1. Juli 1990, dem Tag der Währungsunion.
Zwar wollten die Menschen in der DDR die D-Mark, aber nicht so. Sie wußten nicht, welche Folgen sie in Kauf nehmen müssen. Das Tempo in dieser Frage machte die BRD, nämlich SPD und Bundesregierung gemeinsam. Das Fiasko war absehbar. Wir GRÜNEN waren nicht die einzigen, die davor gewarnt haben. Dieses Fiasko war von der Bundesregierung wohlkalkuliert, und die SPD assistierte wie jetzt auch wieder beim Einigungsvertrag.Die schnellste und wirksamste Methode, um die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse der Bundesrepublik in der DDR zu etablieren, war, die DDR wirtschaftlich in die Knie zu zwingen und sie damit jeder Widerstandskraft zu berauben. Das ist der
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Stratmann-Mertenstiefere Sinn der überstürzten Währungsunion. Der Bankrott der Betriebe in der DDR macht sie billiger für das westdeutsche Kapital, und mit den Arbeitslosen lassen sich gut die Löhne drücken.Was haben Sie in der Bundesregierung eigentlich vor? Schauen wir uns Ihre Politik und diesen Einigungsvertrag an. Erstens das Treuhandvermögen: 8 000 volkseigene Betriebe werden von der Treuhandanstalt verwaltet, ein Vermögen von geschätzt 1 Billion DM. Die Treuhandanstalt soll diese Betriebe privatisieren. An der Spitze des Vereins steht der Vorsitzende eines westdeutschen Stahlkonzerns, Herr Rohwedder.
Ihn beaufsichtigt eine illustre Runde weiterer Konzernmanager.Sie haben alle ihren Adam Smith gelesen, daß Eigennutz das Gesamtwohl mehre. Und das funktioniert so: Herr Rohwedder bringt einen unterschriftsreifen Vertrag zur Übernahme eines Zementwerks in der DDR durch ein Hamburger Zementunternehmen zu Fall und bewirkt statt dessen die Übernahme dieses Zementwerks durch eine Unternehmensgruppe in Ratingen. Wie es der Zufall so will, betreibt der Hoesch-Konzern, dem Herr Rohwedder vorsteht, mit dieser Ratinger Gruppe ein Zementwerk in Gemeinschaftsregie. Motto: Selbstbedienung aus DDR-Vermögen.Der Einigungsvertrag setzt diesem Treiben die Krone auf: In Zukunft werden der Vorsitzende der Treuhandanstalt und der Verwaltungsrat von der Bundesregierung ohne parlamentarische Kontrolle eingesetzt. Wohlgemerkt: Es geht um die Privatisierung eines DDR-Vermögens im Umfang des Dreifachen unseres Bundeshaushaltes. Wir fordern, daß in den Aufsichtsräten der Treuhand AG nicht nur die Gewerkschaften der DDR vertreten sind, sondern auch Umwelt- und Verbraucher- bzw. Verbraucherinnenverbände und Vertreter bzw. Vertreterinnen der Wettbewerbsaufsicht.
Wir wollen, daß bei der Privatisierung von Betrieben besonders Bürgerinnen und Bürger der DDR zu unterstützen sind. Wo — wie beim Robotron-Werk in Sömmerda bei Erfurt — Betriebsbelegschaften ihren Betrieb übernehmen wollen, da sollen solche demokratischen Unternehmensinitiativen gefördert werden.Das zweite Beispiel für die Selbstbedienung westdeutscher Konzerne in der DDR ist der Stromvertrag.
Die drei größten Strom- und Atommonopole der Bundesrepublik — RWE, PreussenElektra und Bayernwerk — knebeln mit diesem Stromvertrag die regionalen und kommunalen Energieversorgungsunternehmen in der DDR. Sie zwingen ihnen gegen den Willen der kommunalen Unternehmungen Stromabnahmeverträge auf. Sie hebeln damit die kommunale Autonomie in der DDR aus, ökologische und dezentrale Energiekonzepte zu entwickeln und durchzusetzen. Dies geschieht mit ausdrücklicher Billigung undUnterstützung sowohl des Bundeskartellamts als auch des Bundeswirtschaftsministeriums.
Diese Methode hat Tradition, auch in der Bundesrepublik. Ich erinnere an die Großfusion Daimler-Benz/ MBB. Wir GRÜNEN meinen: Wo die Wirtschaft von Monopolen und Großkonzernen dominiert wird, da ist auch die demokratische Kontrolle im Staat gefährdet. Wir halten die Aufkündigung dieses Stromvertrags für ein Gebot der Demokratie.
Wir sind der Meinung, daß auch der Einigungsvertrag das kommunale Recht auf Energieeigenversorgung hätte garantieren müssen.Einen eklatanten und zynischen Verstoß gegen das Prinzip der Solidarität stellen die Regelungen zur Finanzverfassung dar, die in Übereinstimmung der Bundesregierung mit den CDU- und den SPD-geführten Bundesländern verabschiedet worden sind. Nach dem Einigungsvertrag werden die Rechte der neu konstituierten DDR-Länder auf Finanzausgleich ausgehebelt, obwohl diese Rechte der zukünftigen DDR-Länder durch das Grundgesetz, Art. 106 und 107, garantiert sind. Eine Verfassungsänderung mit Zustimmung der SPD muß herhalten, um Jahr für Jahr bis 1995 den Ländern der DDR Milliardenbeträge im Finanzausgleich vorzuenthalten, die sie erstens dringend brauchten und auf die sie zweitens einen grundgesetzlichen Anspruch hätten.
Wir halten dies für einen Skandal und Grund genug, den Einigungsvertrag abzulehnen.Es ist ein seltsames Spiel, daß der Kanzler-Herausforderer Lafontaine als Ministerpräsident des Saarlandes dieses Austricksen der DDR-Länder voll mitträgt. Er betreibt in diesen wie in vielen anderen Fragen ein zynisches Doppelspiel.
Wir fordern als Hilfe für den Aufbau und den ökologischen Umbau der DDR ein Sofortprogramm.
— Nicht „auf einmal" : Wir waren im Bundestag die ersten, denn wir haben schon im März dieses Jahres ein Soforthilfeprogramm für die zweite Hälfte dieses Jahres in Höhe von 30 Milliarden DM vorgelegt.
Damals wurden wir auch von Ihnen, Herr Roth, verhöhnt, als wir die Größenordnung von 30 Milliarden DM schon zu dieser Zeit für notwendig gehalten haben. Die Entwicklung gibt uns vollkommen recht. Wir sind heute mit die ersten, die sagen: Wir müssen ebenfalls den Blick auf das Jahr 1991 und auf die Folgejahre richten und für die DDR schnell wirksame Pro-
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Stratmann-Mertensgramme im ökologischen und sozialen Bereich auflegen.
Das wird teuer. Die Schätzungen für den öffentlichen Investitionsbedarf fangen an der Untergrenze von 100 Milliarden DM an. Es wäre ökonomisch unklug, vorschnell einfach solche 100-Milliarden-Programme für 1991 aufzulegen, ohne die Garantie zu haben, daß die Mittel vor Ort auch effektiv und verantwortungsvoll genutzt werden können.
Aber die Diskussion um mögliche Finanzierungsinstrumente zeigt eines ganz deutlich: Wenn wir der DDR sofort und verantwortlich helfen wollen, kommen wir in der Bundesrepublik ohne differenzierte Steuererhöhungen nicht aus.Wir schlagen zweierlei vor. Erstens: sofort mit der Einführung eines differenzierten Konzepts von Ökosteuern zu beginnen. Wir haben dazu viele konkrete Vorschläge gemacht. Ein Teil des Aufkommens aus der Ökosteuer könnte zweckgebunden für den ökologischen Aufbau und Umbau in der DDR genutzt werden. Wir wissen, daß darüber zu diskutieren ist, ob nicht die Ökosteuern in der DDR nur stufenweise eingeführt werden können.Wir schlagen zweitens eine Solidarabgabe der bundesdeutschen Wirtschaft vor. Die Gewinne der bundesdeutschen Wirtschaft sind in den letzten Jahren explosionsartig angestiegen.
Sie hat im Jahre 1989 249 Milliarden DM investiert, obwohl ihre betrieblichen Eigenmittel in der gesamten Bundesrepublik 390 Milliarden DM, also um ein Drittel mehr, betrugen. Wir wollen dieses nicht real investierte Mehrvolumen an Finanzmitteln der Unternehmen durch eine Solidarabgabe der bundesdeutschen Wirtschaft abschöpfen und für den Aufbau und Umbau in der DDR zugänglich machen.Durch den Beitritt der DDR wird die Bundesrepublik Deutschland erheblich an ökonomischem Gewicht und damit an politischer Macht zunehmen. Darauf muß sich auch die Politik der Opposition einstellen. Die Bedeutung des geeinten Deutschlands im europäischen Einigungsprozeß wird wachsen. Darin liegen auch Chancen für die Vermittlung zwischen Westeuropa, Mitteleuropa und Osteuropa.In dieser Lage aber über die neue Rolle der Deutschen als Weltmacht zu räsonieren ist doppelt daneben gegriffen. Es überschätzt maßlos die politische Relevanz des Außenhandelsweltmeisters; und, was schwerer wiegt, es leistet realen Tendenzen Vorschub, daß die BRD im Windschatten der NATO-Vormacht USA die Rolle eines weltpolizeilichen Hilfssheriffs einnimmt. Die Bestrebungen der Bundesregierung und führender Generäle, die Bundeswehr auch im Golfkonflikt zum Einsatz zu bringen, sind dafür ein beredtes Zeugnis.Wir GRÜNEN haben klargemacht, daß wir jeglichen Einsatz von Bundeswehreinheiten im Golfkonflikt ablehnen.
Wir verweigern uns auch Bestrebungen — das geht insbesondere an die Adresse der SPD — , das Grundgesetz zu ändern, um im Rahmen von UNO-Einsätzen Krieg treiben zu können.
— Sie sagt in diesem Punkt exakt und nahtlos das gleiche, wie ich es persönlich gerade gesagt habe und wie es die Fraktion sagt.Darüber hinaus fordern wir, jegliche logistische und finanzielle Unterstützung des westlichen Aufmarsches im Nahen Osten zu unterlassen.Angesichts der krisenhaften Zuspitzung am Golf und angesichts der bevorstehenden deutsch-deutschen Vereinigung ist es um so dringender, an den Antikriegstag am 1. September zu erinnern. In Göttingen und in Potsdam wurden letzte Woche zwei Denkmäler eingeweiht, mit denen die Deserteure im Zweiten Weltkrieg geehrt werden. Diese Ehrung darf nicht nur für die Vergangenheit gelten. Die Gedenktafel in Göttingen trägt den Schriftzug: „Nicht aus Furcht vor dem Tode, sondern aus dem Willen zu leben". Für den Fall, daß in Zukunft Bundeswehrsoldaten in die Golfregion oder anderswohin abkommandiert werden, bitte ich: Sagt nein! Befehlsverweigerung und Fahnenflucht sind die erste Bürgerpflicht.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ratifizierungsgesetze sind — das wissen wir — für uns als Parlamentarier immer problematisch. Wir können nichts ändern, wir können nur ja oder nein sagen. So problematisch wie heute war es wohl selten oder nie. Mehr als tausend Seiten umfaßt das ganze Vertragswerk. Wer von uns kann überhaupt von sich behaupten, das alles gelesen zu haben?
Trotzdem: Die FDP sagt ja zum Einigungsvertrag und zu den Begleitgesetzen. Die FDP sagt erneut, daß der Einigungsvertrag besser ist, als es ein Überleitungsgesetz gewesen wäre, weil der Einigungsvertrag der Noch-DDR mehr Mitwirkungsmöglichkeiten gibt. Die FDP sagt ja zum Inhalt des Einigungsvertrages, nicht nur zu seiner Form, obwohl wir einige Vereinbarungen für bedenklich halten. Wie sollte das bei tausend Seiten auch anders sein?Die FDP dankt allen in Ost und in West, die dieses Werk in mühevoller Arbeit zustande gebracht haben.
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Dr. Graf LambsdorffSchließlich sagt die FDP: Dies ist erneut ein Tag, an dem die Deutschen Anlaß zur Freude haben. Wieder rückt die Verwirklichung, die Umsetzung der deutschen Einheit ein Stück näher.Trotzdem, meine Damen und Herren, halten wir fest: Wir werden noch viel Geduld brauchen, bis wir am Ziel sind, Geduld in beiden Teilen unseres Vaterlandes, vor allem aber — das ist leider nicht zu ändern — im heutigen Gebiet der DDR. Das Ziel heißt: einheitliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Wir werden es erreichen. Wer aber heute schon verdienen will, was noch nicht geschaffen ist, wer heute schon verzehren will, was noch nicht geerntet, noch nicht einmal gewachsen ist, der wird den Weg zur Einheitlichkeit in Wahrheit verlängern. Auf Kredit, auf Vorschuß kann man nicht auf Dauer leben.
Wir wissen, diese Einsicht fällt den Menschen in den neuen Bundesländern schwer. Wir müssen uns fragen, ob wir nicht Wasser predigen und selber Wein trinken. Kann es denn sein, daß es Einkommensunterschiede in der Bernauer Straße und der Bernauer Straße (West) gibt? Das sind schwierige Fragen. Es ist schwer zu erklären, warum es noch eine Zeitlang so sein wird und so sein muß.Die Einheit ist nicht automatisch die Einheitlichkeit. Eins sagen wir immer wieder: Die Verantwortung dafür tragen nicht der Staatsvertrag, der Einigungsvertrag, die Regierungen in Berlin und in Bonn, sondern einzig und allein die Machthaber der letzten 40 Jahre, die SED, ihre Planwirtschaft und der real existierende Sozialismus.
Der real existierende Sozialismus hat die wirtschaftliche, die geistige, die politische Verwüstung angerichtet, die die Menschen in den neuen Bundesländern im jetzt direkten Vergleich mit uns noch stärker empfinden als vorher. Die Dreistigkeit, mit der die PDS so tut, als habe sie mit der alten SED überhaupt nichts zu tun, ist kaum noch zu überbieten.
Aber auch die Peinlichkeit, meine Damen und Herren, mit der Herr Gysi hier von Talkshow zu Talkshow gereicht wird, ist nicht zu überbieten.
Frau Däubler-Gmelin, ich fand die Schilderung des Schicksals und des Befindens Ihrer Verwandten in der DDR eindrucksvoll. Wir kennen viele dieser Beispiele. In der Tat, um diese Probleme geht es in Wahrheit. Deswegen frage ich mich bei aller Bedeutung, die die hier angesprochenen Themen haben — ich will sie nicht verringern — : Sind eigentlich unsere Landsleute in der DDR so sehr und sogar in erster Linie an der Verfassungsdiskussion zu Art. 146, an der Aufbewahrung der Stasi-Akten, am Parteivermögen, an der Amnestiefrage interessiert?
— Ja, Herr Vogel, auch.
Ich könnte mir übrigens — ich sage das für mich persönlich — aus diesem Anlaß so etwas wie eine Jubelamnestie durchaus vorstellen, die über das hinausgeht, was vorgesehen ist.
Der Einigungsvertrag wird zur Lösung des Hauptproblems in den neuen Bundesländern, Investitionen und Arbeitsplätze, beitragen. Es war ganz wichtig, daß die Bundesregierung — ich muß es wohl so sagen — auf den Pfad der Tugend zurückgekehrt ist, den sie zeitweilig, aus unserer Sicht unverständlicherweise, zu verlassen schien. Es gilt jetzt die nach Auffassung der FDP unerläßliche Grundregel: Mit dem Beitritt gilt einheitliches, bundesdeutsches Recht in ganz Deutschland; nur in festgelegten und vereinbarten Ausnahmen wird davon abgewichen. Umgekehrt konnte und durfte es nicht sein.
Das ist, meine Damen und Herren, aus zwei Gründen essentiell: Erstens, die Rechtsetzung von 40 Jahren Unrechtstaat kann nicht die Grundlage einer künftigen rechtsstaatlichen Ordnung in Gesamtdeutschland sein, und zweitens, deutsche und vor allem ausländische Investoren müssen eine klare, ihnen weitgehend vertraute Rechtslage vorfinden. Es bleiben immer noch viel zuviele Probleme der täglichen Rechts- und Verwaltungsanwendung in einer in Teilen unwilligen, in Teilen unfähigen Verwaltung. Die alten Bonzen sind noch da, hat Frau Däubler-Gmelin mit Deutlichkeit gesagt; sie hat recht.Ein herausragender Bestandteil der künftigen Rechtsordnung ist die Eigentumsordnung. Ich sage das gerade auch an die vielen Eigentümer in der DDR, von denen wir hier offensichtlich kaum Kenntnis nehmen, an die 1,3 Millionen Eigenheimbesitzer und vor allem auch an die, die es einmal werden wollen: Wehret neuen Anfängen!Die Sozialdemokraten in Ost und West haben in den Diskussionen der letzten Wochen erkennen lassen, daß sie ein gebrochenes Verhältnis zum privaten Eigentum haben.
Den Sozialdemokraten in der DDR mag man das noch nachsehen, denen in der Bundesrepublik nicht. Herr Vogel, Sie sind wahrlich weit weggekommen vom Godesberger Programm. Lesen Sie einmal, was Ihnen Ihr Parteifreund Wassermann jetzt beinahe täglich dazu ins Stammbuch schreibt! — Wer als Grundsatz den Vorrang der Entschädigung vor die Rückgabe des enteigneten Eigentums setzt, der sanktioniert das, der enteignet noch einmal.Meine Damen und Herren, wir haben der Sozialpflicht des Eigentums die Investitionsnotwendigkeiten in der DDR gleichberechtigt an die Seite gestellt. Das ist unvermeidlich. Ohne Verfügbarkeit des Produktionsfaktors Grund und Boden gibt es keine Investitionen und gibt es auch keine Arbeitsplätze. Für die Zeit von 1949 bis 1989 oder 1990 gilt der Grundsatz: Vorrang der Rückgabe vor Entschädigung. Dabei schützen wir redlich erworbene Rechte. Niemand
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Dr. Graf Lambsdorffwird aus seiner Wohnung, aus seinem Eigenheim, aus seiner Datscha — das ist ein bißchen mehr als der Schrebergarten, den Sie erwähnt haben — vertrieben werden; wohl aber, meine Damen und Herren, wollen wir diejenigen vertreiben, die seit dem Fall der Mauer in dreister SED/PDS-Kumpanei volkseigenen Grundbesitz zu Schleuderpreisen an sich gebracht haben.
Wir fordern die Bundesregierung auf, solche Geschäfte zu untersuchen und sie rückgängig zu machen.
Oft genug ist dabei Vermögen verschoben worden, das der SED-Staat seinen Bürgern früher weggenommen hatte.Dies führt dann auch zu der Behandlung der Enteignungen in den Jahren 1945 bis 1949. Im Protokoll vom 15. Juni 1990 zur Regelung noch offener Vermögensfragen heißt es, die Regierungen der Sowjetunion und der DDR wollten sie nicht rückgängig machen, die Bundesregierung nehme das zur Kenntnis. — Die OstCDU wollte nicht Kenntisnahme, sie wollte Akzeptanz. Die FDP hat das abgelehnt.Wir haben auch die Öffnungsklausel für Ausgleichsmaßnahmen durchgesetzt. Es wäre schön gewesen, die CDU/CSU hätte uns dabei von Anfang an in dem Geiste unterstützt, der aus der Idee oder aus dem Entwurf ihres heutigen Entschließungsantrages spricht.
— Muß ich „CSU" streichen, Herr Bötsch?
— Okay. — Das war nicht von Anfang an so.Jetzt versucht der Einigungsvertrag in den Art. 4 und 41 gar, die damaligen Enteignungen dem Schutz des Art. 14 Grundgesetz zu entziehen. Nach unserer Auffassung wird das nicht gelingen. Ich lasse dahingestellt, meine Damen und Herren, ob es für besatzungsrechtliche Entscheidungen gelingt. Es ist ja aus vielen Zuschriften, die wir bekommen, längst bekannt, daß ein großer Teil der Enteignungen in den Jahren 1945 bis 1949 nicht auf Besatzungsrecht, sondern auf den Willkürakten deutscher Kommunisten in den Ländern der DDR beruhte.
Damit wird sich der künftige gesamtdeutsche Gesetzgeber zu beschäftigen haben. Die Öffnungsklausel sieht Ausgleichsmaßnahmen vor. Darunter können nach Auffassung der FDP auch Vorkaufsrechte für die Enteigneten oder ihre Rechtsnachfolger fallen.
Es gibt eine Diskussion im Lande; Herr Westphal, ich will gerne darauf eingehen. Sie haben gesagt, man solle die Junker nicht wieder in den früheren Stand zurückversetzen. — Ich bestreite überhaupt nicht, daß diese Gruppe unserer Bevölkerung in der WeimarerRepublik und zu Anfang der nationalsozialistischen Zeit unendliche Fehler gemacht hat; aber ich weiß auch — und Sie wissen es auch — —
— Zu den Bauern sage ich gleich noch etwas. — Meine Damen und Herren, hundert Hektar Großgrundbesitz, das ist in der Mark Brandenburg ein Bauer, der kaum leben kann; in der Magdeburger Börde ist das ein reicher Grundbesitzer.
Unterschiede sind überhaupt nicht gemacht worden.Aber ich will auf den Fall zurückkommen, um klarzumachen, wie ich es sehe. Diejenigen, die Sie da angesprochen haben — wie gesagt, ich teile viel von der Kritik, Herr Westphal —, waren am 20. Juli erheblich beteiligt. Einer, den wir in den Filmaufnahmen des Prozesses vom 20. Juli — leider — häufig gesehen haben, den Herr Freisler angeschrien hat, als dieser gesagt hat, die Nationalsozialisten hätten die Juden ermordet, „Ermordet?! Sie sind ja ein schäbiger Lump! " — jeder hört noch das Schreien des Herrn Freisler —, war der Graf Schwerin, dem die Nationalsozialisten das Eigentum genommen haben, den sie enteignet haben, und die Kommunisten haben das bestätigt. Soll das so bleiben?
Uneingeschränkt? Nach meiner, nach unserer Rechtsauffassung kann das so nicht sein.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Westphal?
Selbstverständlich. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Graf Lambsdorff, würden Sie mir zugestehen, daß das, was ich zu diesem Thema geschrieben habe, nichts enthält, was die Unrechtmäßigkeit und die Unmenschlichkeit des Vorgangs der Enteignung zwischen 1945 und 1949 bestreitet? — Das ist meine erste Überlegung.
Was die Tatsache angeht, daß es am Ende der Hitler- und Nazizeit eine Reihe von Personen, die in diese Personengruppe gehören, gegeben hat, die mit dabei waren, Hitler zu bekämpfen, sogar sehr entscheidend, nämlich am 20. Juli, so werde ich auch nichts tun, um das zu bestreiten.
Worum es mir geht, ist, daß wir nicht neues Unrecht schaffen dadurch, daß wir altes auf eine Weise zu beseitigen versuchen, für die der Art. 14 des Grundgesetzes noch gar nicht gelten konnte; denn der hat zu der Zeit auch bei uns noch gar nicht existiert.
Herr Kollege Westphal, ich nehme diese erläuternde Darstellung gern zur
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Dr. Graf LambsdorffKenntnis. Das differenziert das etwas, was darüber zu lesen war.
— In der „Welt" schreibt auch Herr Wassermann. Das ist ja auch alles in Ordnung, nicht?
Ich unterstreiche, daß wir, als es um die Frage der Jahre 1949 und danach ging, von Anfang an gesagt haben: Es darf nicht — diese Formulierung stammt von uns — früher entstandenes Unrecht durch neues Unrecht wiedergutzumachen versucht werden. — Das ist alles richtig, nur, Herr Westphal: Was die Wegnahme, die Enteignung eines Forstbesitzes angeht, den heute noch der Staat verwaltet, der dem Staat heute gehört: Wem widerfährt durch dessen Rückgabe Unrecht?
Es gibt natürlich Fälle, in denen gesiedelt worden ist, auf die man Rücksicht zu nehmen hat. Aber so einfach darüber hinwegzugehen und zu sagen: „Da bleibt eben alles so, das ist das, was wir eigentlich wollen", das ist nicht in Ordnung.
Meine Damen und Herren, eine Wirtschaftsordnung gedeiht nur, wenn sie auf klaren Rechtsordnungen beruht, und auf das Gedeihen der Wirtschaft kommt es jetzt vor allem an. Die DDR bekommt jetzt einen klaren Rechtsrahmen, der am 3. Oktober in Kraft tritt. Der muß jetzt durch wirtschaftliche Daten und durch wirtschaftliches Handeln ausgefüllt werden.Was tut jetzt not? — Der Wettbewerb muß rasch zum Zuge kommen. Staatliche Monopole dürfen nicht durch private Monopole ersetzt werden. Ein Fall wie die Übernahme der staatlichen Versicherung der DDR durch die Allianz-Versicherung darf sich so nicht wiederholen.
Die Kollegen Cronenberg und Funke haben den Herrn Bundesfinanzminister danach gefragt, in welchem Umfang das Risiko der staatlichen Versicherung der DDR durch den Vertrag mit der Allianz auf den Steuerzahler abgewälzt worden sei. Die Antwort des parlamentarischen Staatssekretärs auf diese Frage war nichtssagend und unbefriedigend; wir werden das nicht auf sich beruhen lassen.Der Staat steht mit dem Übergang auf die marktwirtschaftliche Ordnung nicht mehr im Zentrum des Wirtschaftsgeschehens. Er setzt den Rahmen und schafft die Infrastruktur, in denen sich private Initiative entfalten kann.Ein starker Mittelstand in der DDR muß neu entstehen.
Dem dienen die bestehenden Programme, das ERP-Existenzgründungsprogramm, das Eigenkapitalhilfeprogramm, die vergünstigten Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Das alles ist in Ordnung.Aufgabe der Treuhandanstalt ist der Umbau der Staatswirtschaft zur Privatwirtschaft. Entflechtung und Privatisierung müssen so schnell wie möglich vorangetrieben werden. Die notwendigen organisatorischen und personellen Konsequenzen müssen unverzüglich gezogen werden. Unternehmen, die sanierungsfähig, aber überschuldet sind, müssen entschuldet werden. Dabei sollte zweistufig verfahren werden: Übernahme der Schulden durch die Treuhand bei Unternehmen, für die sich ein Übernehmer findet, Moratorium für Verzinsung und Tilgung bei Unternehmen, für die sich noch kein Übernehmer findet. Konkursreife Unternehmen müssen schnell geschlossen werden.Trotz der Möglichkeiten zur Freistellung von Umweltaltlasten werden Betriebsübernahmen und Neuinvestitionen immer noch behindert. Eine fallweise, eine pragmatische Behandlung im Zusammenwirken von Behörden und Unternehmen ist notwendig.Die DDR, meine Damen und Herren, muß zu einem Niedrigsteuergebiet innerhalb der EG werden, damit durch Investitionen neue Arbeitsplätze entstehen. Auf dem Gebiet der DDR müssen ab 1. Januar 1991 für den Zeitraum von mindestens zehn Jahren die vom Gewinn unabhängigen Substanzsteuern ausgesetzt werden, die Ertragsteuerbelastung auf weniger als 40 % des Gewinns begrenzt werden.Alle Investitionen in den neuen Bundesländern sind rückwirkend zum 1. Juli 1990 in einem befristeten und degressiv gestalteten Regionalförderkonzept mit einem Anfangssatz von 23 % zu fördern. Ein Präferenzvorsprung ist durch die zusätzliche zehnprozentige Investitionszulage in den neuen Ländern herzustellen und durch den zügigen Abbau der Zonenrandförderung und Berlin-Förderung zu sichern. Die Regionen mit wirtschaftlicher Monostruktur sollen in die Sonderprogramme der EG einbezogen werden.In der Bauwirtschaft der DDR liegen Chancen für einen schnellen Aufschwung und viele neue Arbeitsplätze. Wir haben das bei uns vor 40, 45 Jahren doch auch erlebt. An die Stelle einseitiger Neubauförderung — darum geht es in der DDR nämlich nicht in erster Linie — müssen die Rettung der Bestände, der Umbau, der Ausbau und die Modernisierung treten. Kosten und Preise müssen dabei schrittweise wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Deshalb fordert die FDP: Förderung des Verkaufs von Wohnungen aus öffentlichem Eigentum vorrangig an die Mieter,
schrittweiser Übergang zu kostengerechten Mieten bei gleichzeitiger Gewährung von Wohngeld an alle bedürftigen Haushalte, insbesondere kinderreiche Familien,
Begrenzung der Belastungen durch Zinsverbilligungauch für Altkredite und Modernisierungsaufwendun-
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Dr. Graf Lambsdorffgen — die Menschen können die plötzlich von 1 % auf 9,5 % heraufgesetzten Zinsen nicht zahlen —,
Anwendung unseres sozialen Mietrechts, Wohnungsfürsorge durch die Kommunen, die über Belegrechte im Wohnungsbestand verfügen, sozialen Wohnungsbau begrenzt auf Eigentum und Förderung der Modernisierung in privaten Eigenheimen und Mietshäusern, Unterstützung der Eigentumsbildung, Bausparprämien von 15 % plus 2 % je Kind und Zinsverbilligung der Zwischenfinanzierung,
Verkauf freier Grundstücke an Bauwillige, steuerliche Anreize für Umbau, Ausbau und Neubau, steuerliche Förderung von privaten Wohnungsbauinvestitionen westdeutscher Steuerpflichtiger — das ist wichtig; auch das haben wir mit § 7 c EStG nach 1949 erfolgreich praktiziert — und schließlich Sanierung der Städte und Dörfer durch Städtebauförderung.Meine Damen und Herren, der inzwischen abgeschlossene und vom Verwaltungsrat der Treuhandanstalt genehmigte Stromvertrag ist auf Kritik gestoßen. Wir sind auch nicht frei von Bedenken, insbesondere was die Einwirkungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten der Kommunen angeht. Das Kommunalvermögensgesetz der DDR folgte doch offensichtlich etwas anderen Intentionen. Auf der anderen Seite müssen wir die Notwendigkeit ungewöhnlich hoher Investitionen und den Bedarf an schnellen Investitionen sehen, wenn man an die Umwelt, die Energieversorgung und den bevorstehenden Winter denkt, Investitionen für die entweder der Staat oder die Energieversorgungsunternehmen der Bundesrepublik mit ihren Mitteln zur Verfügung stehen müssen. Unter den gegebenen Umständen und bei Abwägung aller Vor- und Nachteile halten wir die jetzt getroffene Regelung für vertretbar, zumal das Bundeskartellamt Einfluß genommen hat und die Wettbewerbsbedingungen wenn auch nicht ideal gestaltet — da hätten wir uns etwas anderes vorstellen können; sie sind aber auch hier nicht ideal — , aber doch verbessert hat.Der Aufbau einer wirtschaftsnahen Infrastruktur in der DDR ist dringend notwendig.
Dabei sollte versucht werden, im Verkehrsbereich, im Abwasserbereich, im Umweltbereich, vor allem aber im Telekommunikationsbereich privates Kapital in Anspruch zu nehmen, um die Belastungen der öffentlichen Hände zu begrenzen. Wir haben das von Anfang an für richtig gehalten und so gefordert.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang ein Wort über die Steuererhöhungsdiskussion der letzten Tage und auch der letzten zwei Stunden sagen. Am Samstag hat der Kanzlerkanditat der Sozialdemokraten, Herr Lafontaine, das Wahlprogramm der SPD 1990 vorgestellt; das ist das Programm „Rückschritt 90".
— Ich habe mich ziemlich ausführlich damit auseinandergesetzt. Viel Neues war nicht darin. —
Darin war von Steuererhöhungen im Zusammenhang mit der Finanzierung der deutschen Einheit überhaupt keine Rede. Die deutsche Einheit kommt in diesem Programm praktisch überhaupt nicht vor. Kurz darauf hat Herr Lafontaine auf dem Landesparteitag der SPD — ich glaube, es war so; in Saarbrücken jedenfalls — und auf der Leipziger Messe von der Notwendigkeit von Steuererhöhungen gesprochen, Mehrwertsteuererhöhungen aber abgelehnt. Am gleichen Tage hat der niedersächsische Ministerpräsident, Herr Schröder, von der Notwendigkeit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer gesprochen. Das Interview von Herrn Schröder, meine Damen und Herren, legt im übrigen den ganzen Egoismus einiger Bundesländer dar.
Sie werden das noch häufiger zu hören bekommen. Dieses Interview ist der Schlüssel für die Haltung sozialdemokratisch geführter Bundesländer.
Er macht völlig klar, daß er nicht bereit ist, für das Land Niedersachsen auf den künftigen Zuwachs von Einkommen, sprich Steuereinnahmen, zugunsten der DDR zu verzichten. Das allerdings haben wir immer gesagt: Zum Nulltarif ist die deutsche Einheit nicht zu haben. Der künftige Zuwachs muß in die DDR.
Aber Herr Schröder und die Sozialdemokraten, die so argumentieren, wollen keine Steuererhöhung für die Finanzierung der deutschen Einheit. Sie wollen in Wirklichkeit Steuererhöhung, um nichts von sich abgeben zu müssen. Das ist der Punkt. Das können Sie aus diesem Interview deutlich ersehen.
Erinnern Sie sich an den Ausspruch des Herrn Schröder vor einigen Monaten — ich zitiere wörtlich — : „Die Leute in der DDR sollen sich jetzt selber krummlegen. " Genau in diesem Geiste betreibt er heute seine Steuerpolitik.
Schon in der vorherigen Debatte habe ich für die FDP gesagt, daß beim Geld offensichtlich nicht nur die Gemütlichkeit, sondern auch die Solidarität der Länder und das föderalistische Verantwortungsgefühl aufhören. Die Ausstattung der Länder der DDR ist nicht zuletzt dank der Vereinbarung mit den Bundesländern unzulänglich. Die Hartherzigkeit der Bundesländer gegenüber den neuen Bundesländern ist zu kritisieren.
Auch wir — ich glaube, Herr Vogel, da sind wir nicht so weit auseinander — halten es nicht für das
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Dr. Graf Lambsdorffglücklichste Verfahren, die Stimmenverteilung im Bundesrat schnell festzulegen, bevor die Vertreter der Länder hier erschienen sind.
Es ist dringend notwendig, den Kommunen der DDR mehr Geld zu geben, zum einen, weil sie sonst ausbluten, und zum anderen, weil die Kommunen in der DDR die Hauptauftraggeber für die mittelständischen Unternehmen sind. Hier sollte ein Vorgriff auf die Länderzuweisungen vorgenommen werden.
Allerdings muß man auch sehen: So schlecht, wie die Situation von Ihnen in Ihrer Frage nach den Kosten dargestellt wurde — ich verstehe das ja; das werden Sie die ganzen nächsten acht Wochen betreiben, und wir werden darauf antworten — , ist sie nun auch nicht. Wenn Sie sich die Entwicklung der Einnahmenseite im Haushalt der DDR für den Monat Juli im Vergleich zum Monat August ansehen, werden Sie das feststellen. Man muß sich doch nicht wundern. Es gibt kein Finanzeinzugssystem. Es gibt kein Banküberweisungssystem, das funktioniert. Daß die Ist-Einnahmen zunächst einmal weit hinter den Soll-Einnahmen zurückbleiben, war zu erwarten. Das bessert sich. Damit beschönigt man nichts. Es bleiben noch immer gewaltige Anforderungen. Aber immer nur von Ausgaben zu sprechen, ohne die Einnahmen, die verbesserten Steuereinnahmen in der DDR und die verbesserten Lohnsteuereinnahmen in der DDR auf der Basis neuer Tarifverträge zu sehen, ist keine ehrliche Diskussion.
Meine Damen und Herren, unser sozialdemokratischer Kollege Ehrenberg spricht sich gegen Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit aus. Kollege Hauchler fordert Steuererhöhung, übrigens in einem Dreiklassensteuersystem. Das halte ich für eine besonders schöne Erfindung. Das erinnert an Zeiten vor 1914, Herr Westphal. Das kommt aus Ihrer Fraktion. Frau Matthäus-Maier meint, statt einer Steuererhöhungsdebatte brauchten wir jetzt eine Einspardebatte.
Damit liegen Sie schon näher bei unseren Positionen. Richtig! Sagen Sie das Herrn Schröder, bitte.
Herr Kollege Roth fordert steuerliche Entlastungen für die DDR. Auch darüber läßt sich reden. Aber als Fazit muß doch festgehalten werden: Sie haben kein Konzept zur Finanzierung der deutschen Einheit.
Die Vorschläge reichen von Steuererhöhungen durch eine Ergänzungsabgabe für Besserverdienende — da kommt also die alte Neidsteuer wieder; sie bringt nichts ein; das weiß auch jeder — über eine Anhebung des Spitzensteuersatzes — den zahlen dann auch die Unternehmen in der Bundesrepublik, auf deren Leistungskraft wir jetzt besonders angewiesen sind; das ist ökonomisch sehr sinnvoll! — bis zur Forderung nach Verzicht auf eine Steuererhöhungsdiskussion und bis zum Vorschlag drastischer Steuersenkungen für Unternehmen und Arbeitnehmer, die sich in der DDR engagieren.
Herr Kollege Vogel, Sie stehen wirklich einem total atonalen Orchester vor.
Ich dachte zunächst, es handele sich um lauter Zwölftöner. Aber nachdem ich Frau Däubler-Gmelin gehört habe, meine ich: Sie hat die Tonleiter noch etwas verlängert und die totale Verwirrung herbeigeführt.
— Wenn man Ihre Widersprüchlichkeit vorführt, erreicht man eines: Sie werden wieder lebhaft. Das ist nett. Das tut der Debatte gut.Kollege Dregger hat gestern erklärt, nur wer ein sozialistisches Brett vor dem Kopf habe, sehe in Steuererhöhungen ein Allheilmittel.
Ob er da auch an seine geschätzten Parteifreunde Späth und Biedenkopf gedacht hat?
— Verehrter Herr Vogel, man kann ein Brett vor jeden Kopf nageln; aber deswegen ist es bei Ihnen noch nicht weg, wenn es woanders auftaucht.
Für die FDP erkläre ich noch einmal: Wir brauchen keine Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit. Wir lehnen sie ab. Sie sind ökonomisch falsch. Sie würden den Zwang zu Einsparungen sofort beseitigen und ein fröhliches Ausgabegebaren bewirken. Wenn man die Schleuse erst einmal geöffnet hat, wird natürlich — das kennen wir doch alle — weiter Geld ausgegeben. Sie würden auch die Investitionstätigkeit in der DDR behindern. Dies wollen wir nicht. Vielleicht denkt irgendwann einmal jemand, der über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer spricht, darüber nach, daß das bei einheitlichem Steuerrecht automatisch auch die Verbraucher in der DDR trifft. Was denkt sich Herr Schröder eigentlich dabei?
Reden Sie mit Herrn Schröder. Er ist nicht hier. Er schickt immer den Freund Oskar.
Herr Abgeordneter Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Haack?
Herr Graf Lambsdorff, Sie haben Herrn Dregger zitiert und gesagt, wer Steuererhöhungen wolle, habe ein sozialistisches Brett vor
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Haack
dem Kopf. Meine Frage: Gilt das auch für den Kollegen Späth und für den Kollegen Biedenkopf, die auch Steuererhöhungen fordern?
Ich kann darauf nur antworten: Mancher hat nicht nur ein sozialistisches Brett vor dem Kopf, sondern er hat auch noch sozialistische Watte in den Ohren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Landwirtschaft in der DDR
steht vor sehr großen Problemen. Es besteht aber die durchaus gute Aussicht, in den neuen Bundesländern eine hochmoderne Landwirtschaft aufzubauen. Die agrarpolitischen Rahmenbedingungen müssen jetzt darauf ausgerichtet werden, die Strukturvorteile dort in rentable und umweltgerecht wirtschaftende Unternehmen hinüberzuretten. Ziel ist die Wettbewerbsfähigkeit im EG-Binnenmarkt. Deshalb fordern wir die rasche Schaffung einer wirtschaftlichen Produktionsstruktur auf der Basis privaten Eigentums und der rechtlich möglichen Gesellschaftsformen, den Aufbau einer modernen Nahrungsmittelverarbeitung und eines Agrarmarketings, den Abbau des hohen Arbeitskräfteüberhangs ohne soziale Härten durch Auflegung von Umschulungs- und Vorruhestandsprogrammen und die Reduzierung der Produktion durch Flächenstillegung, Extensivierung und Aufforstung.
Herr Abgeordneter Graf Lambsdorff, es wird noch einmal eine Zwischenfrage zu stellen gewünscht.
Wenn Sie es nicht auf meine Redezeit anrechnen, Herr Präsident, lasse ich sie zu. Ich habe vergessen, vorher danach zu fragen.
Es wird nicht angerechnet.
Danke schön.
Frau Abgeordnete Vollmer, bitte sehr.
Graf Lambsdorff, ist Ihnen bekannt, daß 50 000 Bauern Anträge gestellt haben, private Betriebe neu gründen zu dürfen, was ja den Aufbau einer Art mittelständischer Struktur bedeuten würde, daß diese 50 000 Bauern ihre Anträge inzwischen jedoch wieder zurückgezogen haben, und können Sie mir erklären, wie es bei der jetzigen Preisbildung, angesichts der fehlenden Planungen Ihres Wirtschaftsministers und auch des Landwirtschaftsministers mit dem Ziel, die Gründung neuer bäuerlicher Existenzen zu ermöglichen, und bei den nicht vorhandenen regionalen Märkten möglich sein soll, private Landwirtschaft zu fördern?
Ich glaube, Frau Vollmer, daß diejenigen, die die Anträge gestellt und sie wieder zurückgenommen haben — das sind ja diejenigen, die in die LPGs hineingezwungen worden sind und die man immer noch als Eigentümer bezeichnet; Herr de Maizière bezeichnet sie gar als Produzenten und Eigentümer; das sind sie nicht alle, denn sie konnten, jedenfalls in der Vergangenheit, nicht über ihr Eigentum verfügen —, inzwischen gesehen haben, daß die Größenordnungen, die dabei zustande kommen, in einer Landwirtschaft, der sie sich zukünftig ausgesetzt sehen, nicht wettbewerbsfähig sein können.
— Bitte?
— Erstens fördern wir keine englischen Strukturen, und zweitens würde ich die englischen Strukturen nicht so abwertend behandeln, denn die Landwirtschaft in Großbritannien funktioniert ganz gut.
— Sie ist nicht in allen Strukturen das, was wir strukturpolitisch wollen, was wir im bäuerlichen Familienbetrieb haben wollen. Darin bin ich mit Ihnen einig. Wir müssen sehen, wie wir eine Umstrukturierung in der DDR zustande bekommen. Ich weiß ganz genau— jeder von uns weiß das — , daß das außerordentlich schwierig ist. Daß die Tatsache, daß man z. B. die Viehproduktion und die Viehhaltung zu irrsinnig großen Einheiten zusammengezogen hat, die auch umweltpolitisch höchst belastend sind, geändert werden muß, ist klar. Aber daß dieser Teil Deutschlands landwirtschaftlich keine Chance haben sollte, vermag uns nicht einzuleuchten. Wir müssen uns mit dieser Thematik beschäftigen.Meine Damen und Herren, die Tarifpartner müssen sich stärker als bisher ihrer beschäftigungspolitischen Verantwortung stellen: maßvolle Lohnabschlüsse, die der Produktivitätssteigerung folgen, und nicht umgekehrt — das kann nicht gehen — , stärkere Lohndifferenzierung an Stelle einer Sockellohnpolitik, Abkehr vom Rationalisierungsschutzabkommen, Tariföffnungsklausel für Betriebsvereinbarungen und keine weitere Arbeitszeitverkürzung, die vor allem den Mittelstand behindert. Mit der Übernahme des Arbeitsförderungsgesetzes und vorübergehender DDR-spezifischer Sonderregelungen — z. B. niedrigere Anspruchsvoraussetzungen bei der beruflichen Qualifizierung, niedrigere Anspruchsvoraussetzungen beim Kurzarbeitergeld und bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen — ist der geeignete rechtliche Rahmen für eine aktive Arbeitsmarktpolitik und soziale Absicherung für den Fall der Arbeitslosigkeit geschaffen. Die Zeit der Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit muß intensiv für Umschulung und Weiterbildung auch in Betrieben genutzt werden. Ich glaube, daß es hier noch deutlich erkennbare Defizite gibt.
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Dr. Graf LambsdorffWestdeutsche Unternehmen sind dabei zu Partnerschaften aufgefordert. Viele tun es, aber es könnten noch mehr sein. Priorität müssen berufliche Bildung und Qualifizierung erlangen: die Übernahme des dualen Ausbildungssystems, die Übernahme bundesdeutscher Berufsbilder und Weiterbildungseinrichtungen, die Ausbilderausbildung, Austauschprogramme für Lehrlinge und Facharbeiter, die der Bundesbildungsminister vorgeschlagen hat.Eines den Bürgern der DDR zu sagen ist ganz wichtig: Wir müssen erreichen, daß Diplome und Berufsabschlüsse, die in der DDR erteilt worden sind, auch in der Bundesrepublik gelten. Es kann doch nicht wahr sein, daß wir das zwar in der EG gegenseitig tun, es mit der DDR aber nicht schaffen.
Daß dabei zum Teil Nachausbildung und Nachqualifizierung notwendig sind, wissen wir. Aber der Grundsatz muß gelten. Auch das betrifft einen Großteil der Sorgen, die Frau Däubler-Gmelin vorhin in einem besonderen Fall angesprochen hat: Diejenigen, die einen Abschluß erworben haben, wissen nicht, was sie damit anfangen können und wie sie darauf ihr Leben aufbauen können.Die FDP bittet die Bundesregierung, dafür zu sorgen, daß die sinnvollen Einrichtungen für Frauen, Alleinerziehende und deren Kinder nicht zerstört werden.
Kinder- und Ganztagskindergärten, Ganztagsschulen und Kinderkrippen sind ja nicht als solche schlecht, weil in ihnen 40 Jahre lang Marxismus-Leninismus indoktriniert wurde. Man kann darin auch etwas Vernünftiges tun.
Sie werden verstehen, wenn ich mich besonders darüber freue — ich bedanke mich beim Herrn Bundesfinanzminister, daß er dem Drängen zwar nicht erlegen ist, aber ihm nachgegeben hat; daß er Bedenken hatte, ist völlig verständlich — , daß es möglich gewesen ist, in der DDR die Kriegsopferversorgung zum 1. Januar 1991 einzuführen.
Wir sind fest davon überzeugt, die DDR hat die Möglichkeit, zu einem modernen Industriestandort mit positiver Perspektive für das Land und die Menschen zu werden. Angst, Panikmache, immer nur von Sorgen zu reden, immer nur die Schattenseiten und die Schwierigkeiten der Entwicklung darzustellen, das führt nicht weiter. Gefordert sind eine zügige und konsequente Umsetzung des Systems der Sozialen Marktwirtschaft, der Abbau bürokratischer Hemmnisse, die personelle Erneuerung, damit sich marktwirtschaftliches Denken entfalten kann, damit Eigeninitiative, Entschlußkraft und Kreativität aufkommen.Meine Damen und Herren, wir werden noch einige Gelegenheiten haben, das Zustandekommen der deutschen Einheit miteinander zu feiern und freudigzu begehen. Auch wenn man bei den Verhandlungen um den Einigungsvertrag und um die vielen Kleinigkeiten manchmal das Gefühl hatte, es kommt einem langsam die Freude an der deutschen Einheit abhanden: Immer wieder, wenn man mit den Menschen in der DDR darüber sprach, was nun die Freiheit wert ist, was es ihnen wert ist, reisen zu können, was es ihnen wert ist, einmal nach Köln zu fahren und nicht mehr auf die Tschechoslowakei oder Polen beschränkt zu sein — nichts gegen diese Länder, aber alles gegen die frühere Begrenzung — , wenn man sich an all das erinnert, dann, meine Damen und Herren, haben wir Anlaß, uns zu freuen, haben wir auch Anlaß zu feiern. Aber wir haben noch mehr Anlaß, wir hier und ganz gewiß auch die in der DDR — ohne das geht es nicht — , uns in die Sielen zu legen und miteinander zu arbeiten, damit wir das erreichen, was wir erreichen wollen: daß aus der Einheit auch die Einheitlichkeit in Deutschland wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Graf Lambsdorff, Sie haben sich nun wirklich bemüht, uns Widersprüchlichkeiten nachzuweisen. Ich wäre nach dem Geschehen beim Einigungsvertrag in den letzten drei, vier Wochen hinsichtlich Widersprüchlichkeiten wirklich schweigsam.
Bei dem, was Sie sich beim § 218 geleistet haben, habe ich mich manchmal gefragt: Braucht der Graf jetzt eigentlich ein Beratungsgesetz für sich persönlich, damit er irgendwann wieder einen Durchblick unter juristischen Gesichtspunkten bekommt? Es war dramatisch.
Aus Gründen der Milde will ich das Thema Justizminister hier nicht erörtern; so sind wir Sozialdemokraten eben: tolerant, selbst gegen diese Art von Ministern.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat aus der Opposition heraus den Prozeß der deutschen Einheit, auch den Prozeß der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialeinheit nach Kräften gefördert. Dies geschah, obwohl wir mit wesentlichen Elementen der Strategie der Bundesregierung in diesem Prozeß nicht einverstanden waren.Auch beim Einigungsvertrag, der heute vorliegt und zur Diskussion steht, hätten wir vieles anders gemacht als die derzeitige Koalition. Aber wir konnten uns trotzdem nicht mit einem Nein aus dieser Sache heraushalten; denn das hätte erneut, und ich sage: neue Probleme in der DDR geschaffen.Wir sagen auch aus wirtschaftspolitischer Sicht heute ja zu diesem Einigungsvertrag. Ich persönlich sage vor allem auch deshalb ja, weil wir uns in einer Frage durchgesetzt haben, nämlich daß in der DDR, was Grundstücke anbetrifft, zukunftsorientierte Nut-
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Rothzung vor Rückübertragung geht. Genau das ist in der DDR notwendig.
Graf Lambsdorff, hier geht es im Grundsatz um die Frage: Vergangenheit oder Zukunft. Das ist die Fragestellung bei den Grundstücken in der DDR gewesen. Es kann nicht die völlige Gerechtigkeit wiederhergestellt werden, weder bei den alten Eigentümern noch bei denjenigen, die künftig nutzen wollen; das ist völlig klar. Aber wo gibt es denn nach 45 Jahren Gerechtigkeit, nachdem so viel Unrecht geschehen ist?Wie viele junge Leute in der DDR haben in den 50er und 60er Jahren ihre Lebenschancen durch die Machthaber in der DDR zerstört bekommen! Sie haben niemals Anspruch auf Entschädigung, und es gibt keine Rückübertragung ihrer alten Chancen. Diese Ungerechtigkeit wird bleiben. Schauen wir in die Zukunft und helfen wir denen, die in der DDR etwas Neues anfangen wollen! Das haben wir durchgesetzt, und darauf bin ich stolz.
Die Reaktion darauf aus der DDR, und zwar quer durch die Parteien, von der CDU bis zu dem, was sich FDP nennt, über die Sozialdemokraten und auch bei der Union, ist positiv. Für das, was wir für Sie getan haben, haben wir aus allen Parteien der DDR Dank empfangen.Auf unser Drängen finden sich im Einigungsvertrag, im Art. 28, auch Aussagen über eine aktive Strukturpolitik. Damit hat sich die Position der Bundesregierung gegenüber Januar, Februar, März geändert, als gesagt wurde, es müßte nur die Währungsunion kommen und dann würde das nächste Wirtschaftswunder schon um die Ecke stehen.
Nun wird gesagt, Strukturpolitik sei notwendig.Ich muß allerdings auch folgendes sagen: Der Art. 28 ist nicht ausgefüllt worden. Wenn Sie sich den Einigungsvertrag und dort die Kostenübersicht ansehen, dann entdecken Sie bei Maßnahmen zum Art. 28 Pünktchen und Strichchen. Das heißt, Sie haben die finanzpolitischen Folgerungen aus dem Vertrag noch nicht einmal vorbereitet.Dabei verschlechtert sich die Lage in der Wirtschaft der DDR dramatisch. — An dieser Stelle kann ich übrigens sagen: All unsere Befürchtungen über einen unzureichenden Übergang zur D-Mark haben sich jetzt schon bewahrheitet, ich muß sagen, eigentlich noch dramatischer, als ich es vor zwei, drei Monaten erwartet habe. Der Wirtschaftskreislauf des Landes ist ins Stocken geraten, ja, er ist an vielen Stellen unterbrochen.Bereits 1,5 Millionen Menschen in der DDR sind ohne jede Arbeit und leben damit auf Kosten des Staates, ich sage es konkreter: auf Kosten des westdeutschen Steuerzahlers,
für das Nichtstun.Tausendfach, meine Damen und Herren — das ist die Wahrheit — , werden zur Zeit in der DDR Aufträge storniert, die schon heraus waren. Es werden in vielen Betrieben nicht einmal Sozialbeiträge bezahlt, Steuern werden zurückgehalten, Schulden werden nicht getilgt, Rechnungen nicht bezahlt. Geld für Investitionen ist zur Zeit in den meisten Betrieben überhaupt nicht vorhanden. Löhne und Gehälter werden zunehmend nicht mehr von der Unternehmenskasse bezahlt; die Leute werden vielmehr auf Kurzarbeit gestellt, oft sogar auf Kurzarbeit im Umfang null Stunden.Das heißt, wir zahlen jetzt schon aus den Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit für 1,5 Millionen Menschen in einem Land, in dem unheimlich viel neu getan werden müßte. Ich halte es für unerträglich, daß in der DDR für Nichtstun Milliarden und aber Milliarden ausgegeben werden, statt daß man objektive Bedürfnisse und Bedarfe befriedigt und endlich mit Infrastrukturinvestitionen beginnt.
Ein stabilisierendes Element hätten die Gemeinden sein können.
Aber sie haben kein Geld für irgendwelche Investitionen; auch Sie wissen das doch von Ihren Reisen. Sie können nicht einmal ihre Gehälter voll zahlen. Auch in den Gemeinden gibt es schon Kurzarbeit; man muß sich das einmal vorstellen.Es ist leider so: Unsere größten Befürchtungen, was den schnellen Übergang zur Währungsunion betrifft, sind nun schon eingetreten. Die Währungseinheit und die Marktwirtschaft wurden überhaupt nicht vorbereitet. In den ersten Monaten wurde sehr viel Zeit mit dem Gerede vergeudet, man dürfe Modrow nicht helfen, und jetzt ist die wirtschaftliche Katastrophe in ganzen Regionen eingetreten.
Natürlich sind wir uns über die letzten Ursachen der Wirtschaftskrise in der DDR einig. Ich will das in der geschichtlichen Darstellung gar nicht verzerren. Die 45 Jahre Mißwirtschaft der SED sind eine schwere, schwere Last, eine Erblast. Das ist nun weiß Gott eine Erblast.Aber, meine Damen und Herren, über diese falsche Wirtschaftsstruktur und über die Fehler der SED waren wir uns einig. Da konnte man doch nicht sagen: D-Mark rein, und die Wirtschaft lebt auf. Das ist ja der Widerspruch, mit dem Sie leben. Sie haben keine Übergangsmaßnahmen vorbereitet.Jetzt wird jeden Tag offenkundiger: Die Bundesregierung war zu keinem Zeitpunkt seit November 1989 der großen Herausforderung gewachsen, der sie sich gegenübergestellt sah.
Sie schiebt seit dem Konkurs der DDR-Wirtschaft laufend Mittel nach, ohne Zukunftsinvestitionen zu fi-
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Rothnanzieren. Sie bezahlt mit unglaublichen Finanzbeiträgen das Nichtstun, die Arbeitslosigkeit, statt Rahmenbedingungen zu schaffen, die Investitionen sichern und schnell Arbeit schaffen.
— Herr Grünbeck, lassen Sie mich nur ein Zitat Ihres Herrn Wirtschaftsministers wiedergeben. Am 11. Mai heißt es bei dpa:Haussmann sagt vor den Mitgliedern der EG-Handelskammer in New York, Kapitalmangel und veraltete Anlagen könnten die wirtschaftliche Erholung der DDR für einige Monate aufhalten. Doch ein „zweites Wirtschaftswunder sei nicht zu verhindern" , d. h. — in wenigen Monaten sei das zweite Wirtschaftswunder da.
Eine groteske Fehleinschätzung,
eine Fehleinschätzung, die meines Erachtens dazu geführt hat, daß die Maßnahmen ausgeblieben sind, die notwendig waren.
Aber, meine Damen und Herren, mir geht es hier nicht um Fehleinschätzungen, sondern um die Folgen. Die wirtschaftliche Depression in der DDR wäre zu vermeiden gewesen.
Warum kein umfassendes Wohnungsbauprogramm in der DDR seit Anfang des Jahres, so daß alle hätten anpacken können, statt nichts zu tun?
Die Bundesregierung hat zwar die SED-zerrüttete Wirtschaft beklagt, aber im Grunde aus dieser Klage keinerlei Konsequenz gezogen. Sie hat sogar — so lautet mein Urteil — zu den überkommenen Problemen, die wirklich dramatisch waren, kein Zweifel, neue Probleme hinzugefügt.
Inzwischen wird sichtbar — auch die Bundesregierung hat das jetzt erkannt — , daß der bisherige Weg ohne Programme, ohne Aktionen in die Sackgasse geführt hat. Erstaunlicherweise beginnt sie nun, auf Vorschläge zurückzugreifen — man hat ja von dieser Absprache zwischen Finanzminister und Wirtschaftsminister vorletzte Woche gehört, über die jetzt wieder Ruhe eingekehrt ist —, die wir im Januar/Februar gemacht haben. Ich bin der Auffassung, das muß jetzt schnell umgesetzt werden. Aber was ich in diesem Programm gelesen habe, ist immer noch nicht zureichend. Das geht nicht an das wirkliche Problem heran.Beispiel eins: Sie wollen den Gemeinden helfen. In dem Waigel/Hausmann-Programm steht, man wolle Kredite vergeben. Wie können Sie mit Erfolg Kredite an Gemeinden vergeben wollen, die keinerlei Grundfinanzierung haben? Die können gar keine Anträge auf Kredite stellen, weil sie keine Kommunalaufsicht — und die gilt auch dort — genehmigen wird. Das heißt, Sie werden, wenn Sie nicht die grundlegende Finanzierung der Gemeinden sichern, ein Kreditprogramm bekommen, das völlig ins Leere geht.Ein anderer Fall: Wir haben auf Wohnungsbau gedrängt, viel Wohnungsbau, auch für kleine Leute, die noch eine Wohnung bzw. ein Haus über die Zeit gerettet haben. Da gibt es nicht wenige, 3 Millionen, wissen wir.
Und das ist ja gut so. Nun soll das Kreditprogramm mit 6,5 bis 7 % Zinsen ausgestattet werden, also Kapitalmarktzins im Westen minus 3 %. Meine Damen und Herren, wer glaubt denn, daß in der DDR eine nachhaltige Welle von Investitionen in die Wohnungserneuerung bei 6,5 % Zinsen stattfinden kann? Da muß man deutlicher herangehen. 300 Millionen DM wollen Sie zur Subvention der Wohnungsrenovation in der DDR vorsehen. Das ist weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein.Ich sage noch einmal: In der DDR ist der Wirtschaftskreislauf regelrecht zusammengebrochen. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern das ist auch die Meinung von Leuten, die am Anfang des Jahres mit viel Optimismus in der DDR angefangen haben. Typisch die Äußerung des Geschäftsführers des neu gegründeten DDR-Unternehmerverbandes, Hartmut Lehmann. — Wenn Sie mir schon nicht glauben, Herr Glos, dann glauben Sie vielleicht ihm. — Er sprach von einer Phase der Resignation und davon, daß sich in einer Welle stiller Konkurse bei Handwerkern und Existenzgründern in der DDR die Hoffnungslosigkeit ausbreite.
Die Hoffnungslosigkeit breitet sich also genau in dem Bereich aus, auf den wir alle gesetzt haben. Wir wußten alle, daß die alten Kombinate abschmelzen müssen und daß die in ihrer alten Struktur nicht die Zukunft darstellen. Aber wir hatten gehofft, daß Neugründer eine Chance bekommen. Fahren Sie jetzt in irgendeine Stadt der DDR, dann kriegen Sie von dem Bürgermeister oder dem Oberbürgermeister oder einem Stadtverordneten jeweils Hinweise darauf, daß Baubetriebe, die im Januar/Februar gegründet worden sind, mangels irgendeines Auftrages jetzt schon Pleite gemacht haben. Das ist die Wahrheit. Das heißt, es ist ein Entmutigungsprozeß im Gange, der auf Sie zurückzuführen ist.
An dieser Stelle muß ich eines zum Bundeswirtschaftsminister sagen, Mir tut es leid, daß ich das sagen muß. Aber er ist in den letzten Monaten seiner Aufgabe deutlich nicht gewachsen gewesen.
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17520 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
RothIch fand besonders schäbig, daß er mit anderen zusammen die Probleme in der DDR auf die Minister in der DDR wie Pohl abgeschoben hat. Wenn er das schon getan hat, würde ich ihm eines empfehlen, er sollte sich jetzt Herrn Pohl zum Vorbild nehmen und zurücktreten, den Platz für jemanden frei machen, der das besser kann.
Was Sie sich in den letzten Monaten an Fehlentscheidungen geleistet haben, geht auf keine Kuhhaut.Nur ein Beispiel: - -
Herr Abgeordneter Roth, gestatten Sie vor dem Beispiel noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Grünbeck?
Bei ihm immer. Vizepräsident Stücklen: Bitte schön.
Herr Kollege Roth, da Sie den Wirtschaftsminister so kritisieren, möchte ich Sie fragen: Was würden Sie eigentlich sagen, wenn er das gemacht hätte, was Sie gewollt haben, nämlich der Modrow-Regierung 15 Milliarden DM Barmittel in den Koffer zu stecken und dann bei den Kommunisten zu verschleudern?
Mein lieber Grünbeck, ich will Ihnen eines sagen: Ich habe im Januar, im Februar hier in diesem Parlament gesagt, ich halte 15 Milliarden DM für notwendig, und zwar für Wohnungsbaukredite, für Infrastrukturkredite, die ganz konkret in den Gemeinden überprüft werden. Dann wäre etwas geschehen, und dieser Attentismus wäre nicht entstanden.
Es war doch völlig klar, daß die demokratischen Parteien in der DDR die Wahlen gewinnen würden — das wußte jeder — , und deshalb war es zum Schaden der demokratischen Kräfte in der DDR, daß Sie damals mit konkreten Hilfen gezögert haben, nicht mit einem Finanzzuschuß, wovon in der SPD nie einer geredet hat.
Meine Damen und Herren, Bundeswirtschaftsminister Haussmann akzeptiert beispielsweise, daß die Treuhandanstalt jetzt in die Verantwortung des Finanzministers übergeht. Dabei ist völlig klar, daß die Treuhandanstalt das industriepolitische Instrument in der DDR schlechthin darstellt,
denn damit schafft man Umstrukturierung bei den Entscheidungen, wer in welche Richtung dort hereinkommt oder investiert. Da wird übrigens auch über Wettbewerbsfragen entschieden. Das heißt, der Bundeswirtschaftsminister gibt Herrn Waigel freiwillig das entscheidende Instrument für die Industriepolitik in der DDR ab. Mein Herr, Sie sollten wenigstens aus dieser Sache Konsequenzen ziehen. Wenn Sie die schwierigen Fragen nicht anpacken wollen, dann lassen Sie das ganz. Reisen Sie nicht dauernd herum und reden über Mittelstand!
Natürlich ist diese Auseinandersetzung nicht ausreichend; wir müssen Alternativen darstellen. Hier sind sie:Erstens. Für Investitionen in der DDR müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Sie wird es vielleicht überraschen, daß ich glaube — das ist der Punkt, wo ich mit Graf Lambsdorff übereinstimme —, daß optimale steuerpolitische Bedingungen für die DDR Voraussetzung sind, damit dort Bewegung entsteht.
Wir müssen uns einfach klarmachen — ich sage das in alle Richtungen — : Der Standort DDR konkurriert zur Zeit mit Standorten in der ganzen Welt, mit Spanien, mit Portugal, mit Irland, auch mit Südkorea. Überall dort gibt es Investitionsförderungen, die im großen Umfang die unseren übersteigen.Das Kapital kennt kein Vaterland; es ist global geworden. Die Standortentscheidungen werden nicht nach der Gemütslage des Wirtschaftsministers, sondern nach ganz rationalen Rechnungen entschieden. Deshalb glaube ich auch, daß drastische Investitionsförderungsmaßnahmen für die DDR für eine Übergangszeit von drei bis vier Jahren notwendig sind. Sonst bekommen wir die Bewegung nicht herein, um westdeutsche Kapitalströme in Richtung auf die DDR umzulenken.Ich bin eigentlich seltsam berührt, daß ich als Sozialdemokrat an diese alte Erkenntnis von Ludwig Erhard erinnern muß. Erhard hat den Wiederaufbau nach 1950 natürlich durch das Steuergesetz mit erreicht. Damit wurden Investitionen gefördert. Übrigens waren Ungerechtigkeit die Folge, aber Wachstum und Arbeit waren da. Die Ungerechtigkeit könnte man ja dadurch ausgleichen, daß endlich alle Parteien hier im Hause auf die alten Ideen der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand zurückkommen. Bei der Neubildung von Kapital in der DDR, das steuerlich gefördert wird, wäre es nur gerecht, wenn die breiten Schichten der Bevölkerung Beteiligungschancen hätten.
Dann hätten wir einen Fehler von Erhard vermieden, nämlich die Konzentration des Vermögens, aber wir hätten eine Erfahrung von Erhard genutzt, nämlich daß nichts an privaten Investitionen und ihrer Förderung vorbeigeht, wenn man die Massenarbeitslosigkeit bekämpfen will. Das ist meine erste Forderung.Bei meiner zweiten Forderung kann ich mich kurz fassen: Infrastruktur, Gemeindefinanzierung. Das muß jetzt schnell kommen. Wir können die Länder der DDR in der Frage nicht alleinlassen; das können sie selbst nicht finanzieren.Drittens. Wir müssen auch die Beschäftigung in solchen Unternehmen stabilisieren, die mittelfristig erfolgreich sind, aber jetzt kurzfristig aus dem Markt fallen würden, weil die Veränderungen zu schnell gekommen sind. Dazu sind viele Maßnahmen not-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17521
Rothwendig: großzügige Entschuldung, mehr Kredite von der Treuhandanstalt und vieles andere mehr.Viertens. Wir brauchen — das zeigt sich in diesen Wochen immer deutlicher — noch mehr zentrale Koordination des Personalaustausches. Wir alle haben uns getäuscht: Die Fähigkeit in den DDR-Betrieben, die Probleme in der Marktwirtschaft zu lösen, ist nicht so ausgeformt, daß das jetzt schnell anläuft. Im Bankenbereich, im Versicherungsbereich, im Handelsbereich ist der Personalaustausch intensiv; im Industriebereich dagegen findet ein intensiver Personalaustausch kaum statt.In diesem Zusammenhang muß ich auch einmal an die Verantwortung des BDI erinnern:
Der BDI als Vertreter der westdeutschen Industrie müßte mobilisierend tätig sein, nicht bremsend, was derzeit allerdings permanent geschieht.
Fünfter und vorletzter Punkt: Ganz entscheidend ist, daß Beschäftigungsmaßnahmen, z. B. Umschulung und Qualifizierung, nun wirklich Vorrang haben.Sechster Punkt: Wir brauchen ein Wohnungssanierungsprogramm.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß ein paar Worte zur Finanzierung sagen, exakt dazu.
Meine Bitte ist, die Wähler nicht für dümmer zu halten, als sie sind.
Zu glauben, daß die Einheit Deutschlands für die Bundesrepublik Deutschland quasi zum Null-Tarif zu haben sei, ist vielleicht bei manchen Politikern auf der rechten Seite hier verbreitet. Aber eine solche Vorstellung habe ich in keiner Veranstaltung bei Wählern angetroffen; das ist der erste Punkt.Der zweite Punkt ist: Jetzt müßte von drastischen Einsparmaßnahmen im Bundeshaushalt die Rede sein.
Wo ist denn die Subventionsabbaupartei FDP mit konkreten Vorschlägen von der Berlinförderung über die Zonenrandförderung bis hin zu steuerlichen Ausnahmeregelungen, die Subventionscharakter haben?
Wo ist denn der Herr Haussmann? Wo sind denn wirklich Maßnahmen zur Einsparung? Der Jäger 90 soll immer noch starten, höre ich;
der ist immer noch nicht gestrichen, meine Damen und Herren.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege Roth, darf ich Sie nach der soeben gemachten Erfahrung mit der sozialistischen Watte in den Ohren fragen: Haben Sie gar nicht gehört, daß ich ausdrücklich vom Abbau und von der Einschränkung der Zonenrandförderung und der Berlinförderung gesprochen habe?
Verehrter Graf, im Hinblick auf Ihre Durchsetzungsfähigkeit habe ich inzwischen ein bißchen Zweifel. Aber soviel hätte ich Ihnen schon zugetraut, daß Sie Herrn Haussmann einmal sagen, daß das auch schneller geht als in sieben Jahren, wie von der Bundesregierung jetzt geplant; jedenfalls habe ich eine andere Aussage bisher nicht gehört.
— Ich bin an der Stelle ein bißchen mutiger als Sie.
Ich habe noch nichts gehört, was gewisse Einkommensteuerregelungen betrifft. Ganz konkret — ich sage das trotz des Berliner Wahlkampfes auch in Richtung Berlin — : Wie wollen Sie eigentlich begründen, daß Sie am Alexanderplatz 30 % mehr Einkommen- und Lohnsteuer zahlen als am Ku'damm?
Das spricht hier von diesen feinen Herren keiner an. Sie reden immer vom Subventionsabbau. Aber wenn es konkret wird, dann ist Stillschweigen im Walde, im gräflichen Wald.
Herr Abgeordneter Roth, Sie gestatten eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Aber natürlich!
Verehrter Herr Kollege Roth, darf ich Sie der Vollständigkeit halber und zu Ihrer Information darauf aufmerksam machen, daß ich kein Waldbesitzer bin?
Ja, ich weiß, ich kenne Ihre Lebenslage; das haben Sie mir ja erzählt.
Darf ich Sie ferner darauf hinweisen, daß ich mehrfach und öffentlich dafür eingetreten bin, genau diese Einkommen- und Lohnsteuerpräferenz in Berlin abzuschaffen? Ich habe dies
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17522 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Dr. Graf Lambsdorffübrigens immer — wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf — unter Hinweis auf meine Tochter getan, die dort lebt und arbeitet und bei der ich nun nicht mehr einsehe, daß sie einen Einkommen- und Lohnsteuervorteil hat. Ihr Beispiel vom Alexanderplatz und vom Kurfürstendamm ist vollständig richtig; wir sind uns völlig einig. Hätten Sie die Güte, dies zur Kenntnis zu nehmen?
— Er sagt doch nur, wir hätten es nie gesagt. Und ich sage: Wir haben es gesagt!
Lieber Graf, Sie bestätigen mein Urteil, daß Ihr Durchsetzungsvermögen Schaden gelitten hat. Die Bundesregierung hat bisher nichts in der Richtung entschieden. Das ist doch die Wahrheit!
Meine Damen und Herren, Einsparungen sind möglich; da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Es sind auch Schnitte notwendig. Darüber wird es in den nächsten Monaten viele Diskussionen geben.
Ich sage zum Schluß: Ich persönlich glaube, daß all die Politiker den Bürgern nicht die Wahrheit sagen, die so tun, als ob das mittelfristig ohne jede steuerpolitische Maßnahme abgeht. Ich glaube, das ist nicht möglich. Deshalb habe ich mich entschlossen zu sagen: Wenn die beiden ersten Punkte voll erfüllt sind — auf der einen Seite an die Grenze der Einsparmöglichkeiten zu gehen und auf der anderen Seite so viel wie möglich privates Kapital zu mobilisieren —, muß es auch möglich sein, in diesem Haus in seriöser Weise über Steuerpolitik zu diskutieren.
Ich sage Ihnen auch, warum.
Herr Abgeordneter Roth, Ihre Fraktion besteht auf der Einhaltung Ihrer Redezeit.
Mein letzter Satz: Schon jetzt sehen wir, was die unseriöse Finanzdiskussion, die Sie begonnen haben, in der Bundesrepublik angerichtet hat. Wir haben jetzt in der Bundesrepublik einen Kapitalmarktzins von 9,5 %. Wer soll denn überhaupt noch Häuser bauen? Wer soll Wohnungen renovieren? Welche Gemeinde soll bei diesem Zinssatz Zukunftsinvestitionen machen? Diesen Zinssatz haben Sie allein zu verantworten.
Das ist das Ergebnis der unseriösen Finanzdiskussion, die Sie derzeit führen.
Vielen Dank für das Zuhören.
Ich erteile das Wort der Frau Bundesminister Dr. Wilms.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die erste Lesung dieses Einigungsvertrages und der Beitritt der DDR am 3. Oktober 1990 sind verständlicherweise für den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, der früher einmal Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen hieß, ein besonderer Anlaß zu Freude und Genugtuung.Dieses Bundesministerium hat seit seiner Entstehung dem Ziele gedient, die Einheit Deutschlands in Freiheit zu vollenden, wie unser Grundgesetz es vorsieht. An dieser Zielsetzung hat das Ministerium auch in Jahren festgehalten, in denen der Zeitgeist in eine andere Richtung wehte. Die Mitarbeiter des Ministeriums haben in ihrer Arbeit für die Einheit der Nation auch dann nicht nachgelassen, als mancher in der Öffentlichkeit dafür plädierte, etwa die Geraer Forderungen des Herrn Honecker anzuerkennen
und sich mit der Teilung Deutschlands endgültig abzufinden.
Eine friedliche Revolution und die Wende durch unsere Landsleute in der DDR sind bei allen Problemen, über die wir heute diskutieren, ein Glücksfall für unsere Geschichte. Ich denke, Sie alle stimmen mir darin zu, daß alle meine Vorgänger in diesem Amte, von Jakob Kaiser angefangen, ihre Arbeit unter die Zielsetzung, unter die Aufgabe der Einheit gestellt haben. Jeder meiner Vorgänger im Amte hätte sicher gerne zu seiner Amtszeit bei gleicher Gelegenheit an diesem Rednerpult gestanden.
Aber noch ist die Aufgabe der Einheit nicht erfüllt. Nach dem 3. Oktober 1990 gilt es, den Einigungsvertrag in die Wirklichkeit umzusetzen, die materiellen und geistigen Folgen der Teilung und damit die Vergangenheit zu überwinden. Kaum jemand weiß besser als die früheren und heutigen Mitarbeiter meines Ministeriums, wieviel Unrecht und Leid in der DDR verursacht wurden. Viele von ihnen haben selber Verurteilung und Haft erdulden müssen. Insoweit ist Art. 17 des Einigungsvertrages von großer Bedeutung, der die politisch-moralische Rehabilitierung der Opfer des totalitären SED-Staates fordert und auch das gesamtdeutsche Parlament auffordert, über materielle Ansprüche nachzudenken.Seit mehr als 40 Jahren hat dieses Ministeriums jenseits aller Schlagzeilen effiziente humanitäre Hilfe geleistet.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17523
Bundesminister Frau Dr. WilmsTausende von Menschen konnten aus den Gefängnissen des SED-Staates herausgeholt werden. Noch weitaus mehr Menschen fanden auf dem Weg der Familienzusammenführung wieder zueinander. Das gesamtdeutsche oder innerdeutsche Ministerium war jahrzehntelang für die Menschen in der DDR ein Symbol der Hoffnung, die erste Adresse für persönliche Hilfe in persönlichen Notlagen. Es war ein institutioneller Garant für die Erfüllung der Aufgaben der Präambel unseres Grundgesetzes.
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17524 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder.
Wir setzen unsere Beratungen über den Einigungsvertrag fort. Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft.
— Dann müssen wir in anderer Reihenfolge fortfahren. — Frau Schoppe, Sie hatten sich am Vormittag gemeldet. Steht Ihre Wortmeldung noch? — Dann kommen Sie bitte, und reden Sie zu uns!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin angereist, um zur Regelung im Staatsvertrag über den Schwangerschaftsabbruch Stellung zu nehmen. Aber ich möchte zuerst die Schilderung eines Eindrucks loswerden.Ich habe die Diskussion um den zweiten Staatsvertrag mehr aus der Ferne, sozusagen aus der Provinz, beobachten können. Da ist mir folgendes aufgefallen: Ich denke, daß die Debatte um den zweiten Staatsvertrag über lange Strecken hinweg von einer unglaublichen Sprachlosigkeit gekennzeichnet war. Mir ist aufgefallen, daß in der Debatte Elemente der Gestaltung gefehlt haben. Es reicht einfach nicht, wenn eine Opposition nur von den Fehlern der Regierung lebt; das ist noch keine Gestaltung.
Der Hinweis auf die sozialen Folgen der Vereinigung ist zwar richtig; aber er gewinnt ein Schwergewicht von Eigennutz, wenn die Aufforderung zum Teilen, die wir ja hier mal gehört haben, letztendlich dann doch vergessen wird.
Für mich geht es — ich sage es einmal an dieser Stelle, bei der es um Teilen geht — nicht nur um Ökonomie, sondern auch um die Gestaltung einer zivilen Gesellschaft.
Ich habe mir vorgestellt, daß die Wünsche, die Bedürfnisse und auch die Skepsis der Leute aus der DDR in die Gestaltung dieses Vertrages einfach mehr einbezogen werden sollten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17525
Ministerin Schoppe
Jetzt zu meinem Anliegen. — Ich möchte zunächst einmal etwas zu der Diskussion um das Wohnort- und um das Tatortprinzip sagen. Ich will ganz ehrlich sagen: Ich habe diese Diskussion überhaupt nicht verstanden.
Wer kann denn im Ernst davon ausgehen, daß man das überhaupt überprüfen könnte? Dann hätte man an dem Übergang zum Gebiet der DDR die Frauen einem Schwangerschaftstest unterziehen und hätte das bei der Ausreise wieder machen müssen. Oder hätte man Spitzel ansetzen sollen, die die Frauen, die in die DDR gehen, observieren, oder hätte man vielleicht die ganzen Patientinnenkarteien observieren wollen? — Das ginge überhaupt nicht.Daß sich letztendlich dann doch das richtige Prinzip durchgesetzt hat, hat nichts mit einem großartigen gewonnenen Kampf zu tun, sondern das hat einfach mit dem klaren Menschenverstand zu tun, und das kann man nicht als großen Erfolg feiern. So hat sich das mir dargestellt.
Mir ist darüber hinaus bei der Diskussion um das Wohnort- und Tatortprinzip aufgefallen — jetzt ist Herr Lambsdorff nicht da — , daß sich manche Menschen offensichtlich mit den Prinzipien der Parteienfinanzierung besser auskennen als mit den Prinzipien von Tatort und Wohnort.Ich bin in der Gruppe von Frauen gewesen, die sich hier in Bonn zusammengesetzt haben. Es sind Frauen aus der FDP, Frauen von den GRÜNEN und Frauen von der SPD gewesen
— ihr habt eingeladen; das war eine sehr gute Idee —, die im Staatsvertrag vier Punkte verankert haben wollten.Der erste Punkt war das Recht auf Beratung. Der zweite Punkt war: bessere Ansprüche für Frauen und Kinder, rechtlich abgesichert.Das dritte waren Maßnahmen, war eine Offensive für Maßnahmen zur — ich sage immer — lustfreundlichen Aufklärung; das muß man nämlich dazusagen, weil wir ja immer die Kirchen mit ihrer Sexualfeindlichkeit im Nacken haben.Das vierte — das war uns eigentlich das Wichtigste — war folgendes: Wenn es uns nicht gelingt, so haben wir gesagt, im Staatsvertrag eine Option für eine Regelung zum Schwangerschaftsabbruch unterzubringen oder zu verankern, die eine liberalere ist als die, die wir heute haben, dann wird es auch danach sehr schwierig sein, für eine gesamtdeutsche Lösung ein liberales Recht durchzukriegen.
Dann hat mich folgendes gewundert: Ich sitze in Niedersachsen und gucke mir die Presse an, und was höre ich von hier? — Ich höre von hier, aus verschiedenen Parteien: Eine wunderbare Regelung zum Schwangerschaftsabbruch haben wir gefunden; wir können jetzt eine liberale Regelung schaffen; wir können aus dem Strafgesetzbuch rausgehen. — Ich denkemir „Das freut dich aber", lasse mir die Sachen rübertickern, die im Staatsvertrag tatsächlich verhandelt worden sind, lese das durch und denke: Vielleicht habe ich nicht die richtige Fassung; vielleicht habe ich die 19-Uhr-Fassung, und ich müßte die Mitternachtsfassung haben. — Ich lasse es mir also von anderer Stelle noch einmal rübertickern und lese wiederum: Es steht darin nicht, daß eine neue gesamtdeutsche Regelung eine solche Regelung sein soll, die von Strafe absieht.
Das — muß ich sagen — finde ich unlauter. Wenn schon die Frauen im Staatsvertrag so vergackeiert werden, wie sie vergackeiert worden sind,
dann geht es nicht an, daß sich Frauen aus dem Bundestag auch noch hinstellen und irgend etwas erzählen, was im Staatsvertrag überhaupt nicht geregelt worden ist. Das geht nicht.
Das kann man so nicht machen. So kann man die Frauen nicht an der Nase herumführen. Das finde ich unglaublich.Darin steht, daß für zwei Jahre die unterschiedlichen Rechte gelten. Das ist nichts weiter als ein Stillhalteabkommen,
das heißt: maximal für zwei Jahre.Es gibt den Art. 146, der zunächst einmal regelt, daß es zwei Jahre bestehenbleiben soll.
Wer sagt uns denn, daß nicht innerhalb dieser zwei Jahre jemand, der es überhaupt nicht mehr aushält, vor das Verfassungsgericht geht und sagt: „So können wir das aber nicht machen, mit zwei unterschiedlichen Rechten"?Jetzt kommt der zweite Punkt, zu dem hier kein klares Wort geredet worden ist. Nach zwei Jahren ist eine gemeinsame Regelung möglich. Sie kann eine Fristenregelung sein, sie kann — möglicherweise — auch eine andere, eine liberalere Regelung sein als jetzt; aber das muß durchgekämpft werden. Wer sagt, daß wir die Mehrheiten für eine liberalere Lösung dann haben, wenn wir diese Mehrheiten bei der Formulierung des Staatsvertrages, nämlich genau dabei, als es darum ging, das aufzunehmen, nicht gehabt haben?Diese Voraussetzungen und Grundlagen müssen geklärt werden, ehe wir gemeinsam mit anderen Frauen wieder darangehen und sagen können: So, jetzt geht es darum: Wer bringt hier einen Entwurf auf die Tagesordnung, auf den wir uns einigen können? — Aber da muß man schon ehrlich sagen, was tatsächlich im Staatsvertrag steht.Wir als Frauen, die wir den vierten Punkt als wichtigsten Punkt aufnehmen wollen, haben hierbei zu-
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17526 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Ministerin Schoppe
nächst einmal eine herbe Niederlage einstecken müssen; das muß man so sagen.
— Das ist korrekt.
Ich habe es sehr gut durchgelesen. Man muß den Art. 31 zu Rate ziehen, man muß den Art. 146 zu Rate ziehen, und man muß den Anhang zum Protokoll zu Rate ziehen. Wenn man das alles nimmt, stellt man fest:
Nirgends steht drin, daß wir eine liberalere Lösung haben wollen. Das steht so nirgends drin. Das muß man zur Kenntnis nehmen.
— Wenn so großer Widerstand kommt, hat man meist recht.
Frau Ministerin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Ja.
Bitte schön, Frau Schmidt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Waltraud, würdest du mir in der Einschätzung recht geben, daß nach dem vorliegenden Staatsvertrag nicht nur eine Landesregierung eventuell vor das Bundesverfassungsgericht ziehen könnte, sondern z. B. eine konservative Bundesregierung nach der Wahl schon Anfang Januar mit einer einfachen Mehrheit ein Gesetz verabschieden könnte, so daß die Übergangsregelung nicht zwei Jahre Bestand hätte, sondern schon vor dem 31. Dezember 1992 durch eine neue Regelung abgelöst werden könnte, denn die Formulierung lautet „spätestens bis zum 31. Dezember 1992"?
Genau das ist der Punkt. Es kommt auf die Mehrheiten an, die wir nach der gesamtdeutschen Wahl hier haben. Da kann es natürlich sein, daß Anfang Januar ein Gesetz auf dem Tisch liegt,
das mit einfacher Mehrheit verabschiedet werden kann. Es kann natürlich auch die Indikationsregelung sein. Darüber muß man sich doch klar sein.Ich wollte mich jetzt aber in die Debatte um die Formulierung eines neuen Rechtes einmischen und möchte im Zusammenhang mit der bestehenden Indikationsregelung zwei Punkte aufnehmen und etwas dazu sagen. Die Intention bei der Indikationsregelung war, daß durch durch die Ansiedlung im Strafgesetzbuch sozusagen eine hohe moralische Instanz aufgebaut werden sollte, und durch diese Instanz sollten die Frauen vom Schwangerschaftsabbruch abgehalten werden. Diese Intention, die man sich da überlegt hat, hat nicht gewirkt. Das müssen wir sagen, das können wir aus Überzeugung sagen. Das können wir auch sagen, wenn wir Vergleiche mit anderen Ländern anstellen, in denen es liberalere Lösungen und vielleicht viel weniger Schwangerschaftsabbrüche gibt; das wissen wir heute.Die zweite Intention bezieht sich auf die Pflichtberatung, wir Frauen sagen immer: Zwangsberatung. Die Frauen sollen deshalb in die Beratung gehen, weil die schwangeren Frauen durch die Vorstellung der sozialen Hilfen, die eine Frau mit einem Kind bekommen kann, davon überzeugt werden sollen, daß sie es schaffen, diese Schwangerschaft auszutragen, und es so regeln können, mit dem Kind hinterher leben zu können.Auch diese Intention, muß ich Ihnen sagen, hat nicht so gewirkt. Alle Beratungsstellen, nicht nur Pro Familia, sondern auch die katholischen Beratungsstellen, sagen: Die meisten Frauen, die zu uns in die Beratungsstellen kommen, sind entschieden, d. h. die haben sich zu einem Schwangerschaftsabbruch entschieden. Sie kommen nur dahin, weil sie den Schein brauchen, nicht weil sie die Beratung brauchen. — Man kann das auch anders herum lesen, man kann nämlich sagen: Gut, wenn die meisten entschieden sind, gibt es einen Rest von Frauen, die die Beratung brauchen.Deshalb bin ich dafür, daß wir das Beratungsangebot gerade auf den Dörfern, gerade in Baden-Württemberg und Bayern, wo es an Beratung mangelt, unbedingt ausbauen, damit die Frauen dort eine Möglichkeit haben, beraten zu werden, aber so beraten zu werden, daß ihre Vorstellungen, die sie im Kopf haben, auch unterstützt werden und sie nicht dadurch in Druck geraten, daß sie nun unbedingt zum Schutz des ungeborenen Lebens überredet werden sollen.Meine Damen und Herren, die Uhr hier vorne ist schon auf Null gelaufen, aber ich will noch einmal an den Punkt anknüpfen, mit dem ich angefangen habe, den Punkt mit der Sprachlosigkeit und der zivilen Gesellschaft. Ich möchte zum Schluß meines Redebeitrags aus einem Buch von Thomas Schmid zitieren. Er hat ein sehr schönes, sehr nachdenkliches Buch über diese Vereinigung geschrieben. Ich will es hier nicht hochhalten, ich will hier keine Reklame machen, aber es ist sehr schön. Er sagt:Bundesrepublik Deutschland, so heißt der eine Staat, Deutsche Demokratische Republik der andere. Der eine war ganz leidlich Republik, die Bewohner des anderen schufen im Herbst 1989 die Voraussetzung dafür, daß er es hätte werden können. Nun aber wird Deutschland gemacht, ohne einen die Gesellschaft näher bestimmenden Zusatz. Für uns soll es jetzt darum gehen, diesen republikanischen, demokratischen, bürgerlichen, weltbürgerlichen und föderalistischen Zusatz wieder einzuführen und zur Hauptsache zu machen.Ich finde, meine Damen und Herren, wir haben noch sehr viel zu tun.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17527
Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Wirtschafts- und Währungsunion und dem Einigungsvertrag, den wir heute hier im Parlament besprechen, wird die ökonomische Zukunft der DDR noch besser. Viele Gespräche in Leipzig zeigen, daß es vor allem für Großinvestoren und für ausländische Investoren ganz entscheidend ist, daß es zu einer Regierung, zu einem Parlament und zu einem Haushalt kommt.
Trotzdem — daran habe ich nie einen Zweifel gelassen — läßt sich der Weg zum wirtschaftlichen Aufschwung der DDR nicht beliebig abkürzen. Es gibt eine unvermeidliche Anpassungskrise. Aber sie trägt bereits die Chancen des Neubeginns in sich; denn es ist auch in der Wirtschaft so: Zunächst muß das Alte verschwinden, damit sich Neues überhaupt entwikkeln kann.Wer wie manche Sozialdemokraten glaubt — ich sehe Herrn Roth leider nicht hier, was ich vor dem Hintergrund seiner persönlichen Anschuldigung gegen mich im übrigen nicht für einen guten Stil halte; ich kenne ihn gut, ich habe ein gutes Verhältnis zu ihm —,
man müsse nur genügend Geld über die Elbe schleusen, um den Aufschwung zu beschleunigen, der irrt sich. Ich will Herrn Roth sagen: Ich bin für die deutsche Wirtschaftspolitik verantwortlich. Die Ergebnisse der deutschen Wirtschaftspolitik sind exzellent!
Ich bin heute morgen vom japanischen MITI-Minister begrüßt und beglückwünscht worden. Inzwischen ist die Bundesrepublik so dynamisch wie Japan. Sie ist in ihrer Währungsentwicklung sehr viel stabiler als die Schweiz.
Was, glaube ich, nicht nur für Sozialdemokraten wichtig ist: Im Jahresvergleich sind 634 000 neue Arbeitsplätze entstanden. Darin liegt kein Grund für Rücktritte. Wir werden uns am Ende des Jahres darüber unterhalten, wie die Menschen in Gesamtdeutschland diese Art der Wirtschaftspolitik bewerten.
Auch ein Wort zur Treuhandanstalt. Ich finde den Stil seiner Kritik nicht gut. Weil wir uns persönlich kennen, will ich es ihm aber noch einmal sagen: Solange die Treuhand beim SPD-Finanzminister in der DDR war, war mit der Treuhand offensichtlich alles in Ordnung; jetzt, nachdem wir eine gesamtdeutsche Regierung haben werden, ist das nicht mehr in Ordnung: Natürlich ist die Treuhand aus meiner ordnungspolitischen Sicht primär eine Anstalt zur schnellen Privatisierung, meine Damen und Herren, was denn sonst?
Hier hat natürlich der Finanzminister die Rechtsaufsicht. Jedermann weiß — das weiß Herr Roth von seinem Parteifreund Herrn Rohwedder; Herrn Rohwedder schätze ich übrigens außerordentlich — : Die Fachaufsicht der Treuhand liegt sowohl beim Wirtschafts- als auch beim Finanzministerium. Wir wollen aber kein Strukturlenkungsinstrument. Deshalb ist die Zuständigkeit richtig. Es gab darüber nie eine Diskussion, es gab darüber auch nie einen Streit zwischen Herrn Waigel und mir.Meine Damen und Herren, mit dem Einigungsvertrag wird die Durchsetzung einer marktwirtschaftlichen Politik aus einem Guß leichter. Es gibt in Zukunft nicht mehr eine Wirtschaftspolitik und eine völlig andere Wirtschaftspolitik (West). Für Unternehmer und Arbeitnehmer in der DDR haben wir mit diesem Vertrag solide Brücken in unsere gemeinsame Zukunft gebaut. Der Einigungsvertrag sieht die Ausdehnung unserer regionalen Wirtschaftsförderung auf das gesamte Gebiet der DDR vor. Das entspricht auch einem früheren Vorschlag der Sozialdemokraten. Ihn haben wir übernommen. Warum denn nicht? Was sinnvoll ist, wird von uns übernommen. Es war nur ein bißchen schwierig, mit den Bundesländern Einigkeit zu erzielen.Alle Investitionen werden rückwirkend ab dem 1. Juli 1990 bis zu 23 % und zusätzlich durch die bereits geltende Investitionszulage gefördert. Das heißt, meine Damen und Herren, alle Investitionen in Sachsen, Thürigen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern werden stärker gefördert als das bisherige Zonenrandgebiet und auch andere Regionen in Deutschland.Wenn die Sozialdemokraten auf einen schnellen Abbau der Zonenrand- und der Berlinförderung drängen, kann dem abgeholfen werden. Wir sprechen uns dann aber im Ausschuß mit den sozialdemokratisch regierten Bundesländern Berlin und Niedersachsen wieder.
— Ich komme gern und schnell auf diesen Vorschlag zurück.Meine Damen und Herren, woran mir auch in Zukunft sehr viel liegt, ist die Stellung der Gemeinden, der Kommunen. Ihnen kommt jetzt die Schlüsselrolle beim marktwirtschaftlichen Aufholprozeß in der DDR zu. Deshalb werden im Rahmen der Regionalförderung gerade auch Investitionen in die wirtschaftsbezogene kommunale Infrastruktur durch Zuschüsse gefördert, im Einzelfall bis zu 90 %. Außerdem haben wir ein Kreditprogramm für kommunale Investitionen vereinbart. Auch damit erleichtern wir die schwierige finanzielle Situation der Kommunen. Zugleich helfen wir dem jungen Mittelstand und beschleunigen damit den Aufbau einer modernen Infrastruktur. Ich füge hinzu: Reine Keditprogramme für die Kommunen sind zu wenig. Wir müssen schnell einen Weg finden, wie wir praktisch vorab den Kommunen diejenigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellen können, die ihnen
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Bundesminister Dr. Haussmannzustehen. Dies kann eigentlich erst dann geschehen, wenn die Bundesländer gebildet sind; so lange können die Kommunen aber nicht mehr warten.Alles zusammengenommen stehen der DDR derzeit 60 Milliarden DM als Infrastrukturmittel zur Verfügung — darauf möchte ich einmal hinweisen — : Investitionszulage, Regionalhilfe, ERP-Mittel, Eigenkapitalhilfe, Förderung der Wohnungsmodernisierung und Förderung von Infrastrukturmaßnahmen. Es herrscht also kein Geldmangel, sondern es herrscht ein Mangel an leistungsfähiger Administration vor Ort. Ich werde zusammen mit den Bundesländern dafür sorgen, daß in den wichtigsten Kommunen marktwirtschaftlich denkende Menschen zum Zuge kommen, die Erfahrung auf dem Gebiet der Existenzgründung und der Mittelstandsförderung haben. Dann wird der Mittelstand an Aufträge herankommen können. Das ist unter der alten Regierung sicher nicht genügend berücksichtigt worden.Ich füge hinzu: Die neue Organisation der Treuhand mit ihren neu besetzten dezentralen Außenstellen wird in Zukunft Anlaufstelle für die Kommunen und den Mittelstand sein. Wer mit den Bürgermeistern jede Woche im Gespräch ist, wie ich es bin, der weiß, daß das keine parteipolitische Problematik ist, sondern daß in der DDR selbst ein Mangel an geeignetem Personal herrscht. Erst durch den Einigungsvertrag haben wir die Möglichkeit, zusammen mit den Bürgermeistern, zusammen mit den Bundesländern geeignete Menschen zu finden.
— Ich habe mich am Anfang sehr ausführlich dazu geäußert. Ich finde, es ist nicht in Ordnung, solche Vorwürfe zu erheben, wenn man nicht pünktlich ist. Aber das ist eine Frage des persönlichen Stils. Ich will das hier nicht vertiefen.Die Gründung neuer Betriebe in der DDR kommt trotz der Probleme in den Kommunen gut voran. Mein frühzeitiges Drängen auf Starthilfen, auf ERP-Fördermittel trägt Früchte. Schon vor dem Start der deutschdeutschen Währungsunion haben hunderttausend junge Unternehmer den Sprung in die Selbständigkeit gewagt. Ich weiß, es fehlt ihnen noch an öffentlichen Aufträgen, aber das ist ja das Element meines Konzepts.Ich werde deshalb diese erfolgreiche Offensive zum Aufbau eines leistungsfähigen DDR-Mittelstandes entschieden fortsetzen. Ich glaube, Kollege Walther, auch der Haushaltsausschuß wird uns dabei unterstützen. Das ERP-Kreditvolumen wird nochmals aufgestockt, und zwar in diesem Jahr auf 7,5 Milliarden DM und um weitere 6 Milliarden DM im nächsten Jahr. Das ist es, was in der DDR derzeit am meisten bringt und was den Menschen inzwischen auch vertraut ist.Sehr viel schwieriger als der Aufbau des neuen Mittelstandes ist — daran führt kein Weg vorbei — der Umbau der Altindustrie. Die Staatsunternehmen müssen so schnell wie möglich privatisiert werden. Dieneue Organisationsform der Treuhand wird ihre Leistungsfähigkeit schnell beweisen müssen.Ab 3. Oktober heißt ein weiterer Schwerpunkt: beschleunigter Aufbau einer leistungsfähigen wirtschaftsfreundlichen Verwaltung nicht nur in den Kommunen, sondern auch in den neuen Bundesländern. Bisher sind viele Entscheidungen liegengeblieben, weil in den Verwaltungen Unsicherheit, Informationsmangel vorherrschte. Hier müssen wir ansetzen, um die vielen Chancen für mittelständische Unternehmer, aber auch für große Investitionen zu wahren. Die bisherigen Verwaltungsblockaden müssen weggeräumt werden.Meine Damen und Herren, vor allem Industrie und Landwirtschaft müssen sich derzeit enorm anstrengen, um unter den neuen Bedingungen der EG und der D-Mark im Wettbewerb zu bestehen. Die DDR-Industrie steht sicherlich nicht pauschal vor dem Zusammenbruch, trotz des 40%igen Rückgangs der Produktion im Juli, der alarmierend ist. Aber das sind Auswirkungen der alten Planwirtschaft. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit im August und die hohe Zahl der Kurzarbeiter kommen nicht aus heiterem Himmel. Das ist die Hinterlassenschaft des alten Systems. Es ist nicht die Folge der Einführung der Marktwirtschaft.
Die richtige Antwort darauf heißt: umschulen und qualifizieren. Ich will hier sehr offen sagen: Der jetzige Zustand ist äußerst unbefriedigend. Die Menschen holen einmal im Monat ihr Geld für Kurzarbeit ab, ohne daß sie bisher in der Regel eine Chance auf Weiterqualifikation hatten. Hier muß sich schnell etwas ändern. Hier wird viel Geld ausgegeben, und die Menschen verlieren wertvolle Zeit.Meine Damen und Herren, auch die Tarifpartner müssen bei der Beschäftigungspolitik ihrer Verantwortung gerecht werden. Lohnerhöhungen bis zu 35 %, bevor die Produktivität steigt, führen in die Arbeitslosigkeit. Beim Wiederaufbau der DDR ist weitere Arbeitszeitverkürzung falsch. Das sehen im übrigen auch die Menschen in der DDR.Positiv ist nach zwei Monaten D-Mark: Die Verbrauchersituation verbessert sich von Woche zu Woche. Das Preisniveau ist im Vergleich zum Vorjahr um 5,5 % gesunken. Das heißt, die reale Kaufkraft der Menschen in der DDR verbessert sich derzeit gewaltig.Was die Steuerpolitik angeht, so ist es sicher richtig, daß die früher anvisierte Reform der Unternehmensbesteuerung unter den neuen finanziellen Bedingungen so nicht realisiert werden kann. Mein Vorschlag ist, daß wir mit der Unternehmenssteuerreform zunächst auf dem Gebiet der DDR beginnen. Was spricht dagegen? Nach vier, fünf Jahren gesamtdeutschen Wachstums sind wir in der Lage, diese günstigeren Steuersätze auf dem Gebiet der jetzigen Bundesrepublik zu übernehmen. Das ist meines Erachtens der richtige Weg. Wir brauchen keine Steuererhöhungen! Man hat langsam das Gefühl, wenn man Sozialdemokraten, aber auch Ministerpräsidenten der CDU hört,
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Bundesminister Dr. Haussmannman wäre ein schlechter Deutscher, wenn man derzeit nicht für Steuererhöhungen einträte.
Ich halte das für einen sehr phantasielosen Weg. — Wir haben erfreuliche Steuermehreinnahmen. Sie werden weiter ansteigen.
Wir haben ein gewaltiges Potential an Subventionen. Da müssen wir ran.
Wer heute Steuererhöhungen durchsetzt, nimmt den Druck auf Sparmaßnahmen, auf Privatisierung und auf Subventionsabbau.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ich habe nur noch eine Minute; es tut mir furchtbar leid. Wir sehen uns aber im Wirtschaftsausschuß regelmäßig. Dort können wir das vertiefen.
Trotz aller Probleme ist der Start der DDR in die Marktwirtschaft aus meiner Sicht nicht schlecht gelungen: währungspolitisch und was die Versorgung angeht. Wer auf der Leipziger Messe viele Einzelgespräche geführt hat, weiß, daß sich im Herbst und im nächsten Frühjahr viel deutsche und immer mehr ausländische Großinvestitionsprojekte in Vorbereitung finden. Die DDR darf nicht nur ein Absatzgebiet sein, sie darf nicht nur eine Dienstleistungsgesellschaft sein, sondern sie muß ihre industrielle Basis erneuern.
Die DDR braucht Arbeitnehmer. Sie braucht Arbeit für ihre Ingenieure.
Meine Damen und Herren, eine Wirtschaftspolitik des kurzen Atems, des Hinterherrennens hinter Tagesproblemen, der bequemen Lösung durch höhere Steuern führt zu nichts Gutem. Nur eine Politik, die klar Kurs hält, die diejenigen belohnt, die aktiv sind, und die nicht das Abwarten mit neuen Subventionen belohnt, hat für die DDR Zukunft. Für diese Politik setzen wir von der Freien Demokratischen Partei und Fraktion uns ein.
Das Wort hat der Abgeordnete Walther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, die Höflichkeit gebietet es, daß ich zunächst der ehemaligen
Kollegin und jetzigen Landesministerin in Niedersachsen, Waltraud Schoppe, ein paar Bemerkungen als Antwort widme. Sie haben sich, Frau Kollegin Schoppe, zu Beginn kritisch über den Ablauf des öffentlichen Diskurses im Zusammenhang mit der deutschen Einigung geäußert, und Sie haben von Sprachlosigkeit geredet. Sind Sie bei dieser Bemerkung ganz sicher, daß Sie damit nicht DIE GRÜNEN gemeint haben?
Denn wenn jemand in diesem ganzen Prozeß sprachlos war, dann waren es DIE GRÜNEN, insonderheit die grüne Bundestagsfraktion, Frau Kollegin Schoppe. Das muß ich Ihnen leider sagen. Sie ist in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen worden.
— Herr Stratmann, wenn Sie nicht wahrgenommen werden, haben Sie sich das selber zuzuschreiben.
Zweitens, Frau Kollegin Schoppe, möchte ich Ihre Bemerkung, die Sie kritisch im Hinblick auf die vorgesehene Regelung zum § 218 gemacht haben, mit dem beantworten, was mir Frau Kollegin DäublerGmelin zu sagen aufgetragen hat. Sie, die für unsere Seite federführend an dem Prozeß beteiligt war, sagt, daß das, was Sie hier vorgetragen haben, inhaltlich schlicht falsch sei
und daß Sie auch nicht für die Frauen gesprochen hätten. Vielmehr hätten Sie von der Bundesratsbank aus versucht, reine Parteipolitik zu machen.
Meine Kollegin hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß die Sprecherin der GRÜNEN in BadenWürttemberg, Frau Bender, die Regelungen zum Staatsvertrag in dieser Sache sogar ausdrücklich gelobt und DIE GRÜNEN aufgefordert hat mitzuarbeiten. Das unterscheidet sich erheblich von dem, was Sie hier vorgetragen haben, Frau Kollegin Schoppe. Liebe Waltraud Schoppe, ich hätte mir gewünscht, wir hätten gerade an dieser Stelle keinen Streit miteinander gehabt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Vennegerts?
Ja, bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Rudi Walther, sind nicht auch Sie mit mir der Meinung, daß es höchst undemokratisch und unparlamentarisch war, DIE GRÜNEN bei den gemeinsamen Beratungen zum Einigungsvertrag auszuklammern? Meine konkrete Frage: Warum hat es die SPD versäumt, darauf hinzuwirken, daß DIE GRÜNEN betei-
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Frau Vennegertsligt werden? Das war die „Sprachlosigkeit" der SPD.
Ich denke, liebe Frau Kollegin, daß es zunächst einmal Sache der GRÜNEN ist, sich bemerkbar zu machen. Wenn Sie an den öffentlichen Diskussionen nicht teilgenommen haben, dürfen Sie das nicht den Sozialdemokraten vorwerfen. Wir Sozialdemokraten haben für uns zu reden, für uns zu handeln und für unsere Wählerinnen und Wähler einzustehen. Sie haben für Ihre Klientel einzustehen. Es ist nicht meine Aufgabe, hier zu sagen, warum Sie so wenig an dieser Diskussion teilnehmen konnten.Daß wir zum Einigungsvertrag ja sagen und daß wir begrüßen, daß die Wiedervereinigung zum Greifen nahe ist, ist von uns heute morgen mehrfach vorgetragen worden. Ich füge von mir aus hinzu, daß wir uns darauf freuen, daß in wenigen Wochen Kolleginnen und Kollegen aus der Noch-DDR in diesem Saal mit uns zusammensein werden.
Wir sind auch guten Mutes, daß wir es schaffen werden, ein Deutschland zu gestalten, in dem sich auch unsere Landsleute in Brandenburg, in MecklenburgVorpommern, in Sachsen-Anhalt, in Sachsen und in Thüringen wohlfühlen werden. Wir sind uns auch bewußt, daß es dazu mehr bedarf als eines Einigungsvertrages mit 378 Seiten.Entscheidend ist, wie ich meine, die Bereitschaft in unseren Herzen, unseren neuen Mitbürgerinnen und Mitbürgern dieselben Chancen zu geben, die wir seit über 40 Jahren besitzen. Dies schließt die Bereitschaft ein, Teilung durch Teilen zu beheben. Es setzt voraus, daß wir auch finanzielle Lasten übernehmen, um in ganz Deutschland für alle Menschen die gleichen Lebensbedingungen zu schaffen — wie Oskar Lafontaine es gesagt und gefordert hat.Ich denke, daß wir uns bis dahin einigermaßen in Übereinstimmung mit dem befinden, was die Koalition aussagt. Wir unterscheiden uns von der Koalition aber darin, daß wir hier über die Kosten der Einigung reden, und zwar nicht in dem Sinne, daß wir die Einigung wegen der Kosten verhindern wollen, sondern in dem Sinne, daß wir offen und ehrlich den Bürgerinnen und Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland und in der Noch-DDR sagen, was die Einheit kostet und wie wir diese Einheit finanzieren wollen.
Weil wir davon überzeugt sind, daß die große Mehrheit unseres Volkes zu dieser Kraftanstrengung bereit ist, sagen wir auch schon vor der Bundestagswahl, daß die deutsche Einheit nicht zum Nulltarif zu haben ist.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie von der Koalition setzen alles daran, vor der Wahl des gesamtdeutschen Parlaments die wirklichen Kosten der deutschen Einigung zu verschleiern.
Das war das Ziel Ihres gescheiterten Versuchs, denWahltermin auf den 14. Oktober vorzuziehen, das wardas Ziel Ihrer Entscheidung, den Entwurf des Haushalts 1991 zurückzuziehen, und das ist auch Ihr Ziel bei der Darstellung der Kosten des Einigungsvertrages, die Sie auf den Seiten VIII ff. der Drucksache 11/7760, die den Einigungsvertrag beinhaltet, vorfinden.Das dort dargelegte Zahlenkonglomerat ist eine Mischung aus Unvollständigkeiten, Halbwahrheiten und Verwirrspielen, die einzig von dem Wunsch diktiert sind, Nebel zu werfen und Sand in die Augen der Mitbürger zu streuen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht kann das Fernsehen einmal hierher schalten, damit die Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Bundesrepublik sehen, wie die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen die Kosten der deutschen Einheit darstellen: lauter leere Blätter, so als wenn die deutsche Einheit nichts kostet.
Lieber Herr Kollege Bötsch,
da Sie den Finanzminister stellen, der es zu verantworten hat, daß die Kosten verschleiert werden, verstehe ich natürlich Ihre Aufregung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Verwirrspiel beginnt schon bei der Darstellung der Endsumme der Kosten des Einigungsvertrages. Die Zahlenjongleure der Koalition, Rudolf Kraus, haben es tatsächlich geschafft, die Situation so darzustellen, daß der Bund und die Bundesländer auf Grund des Einigungsvertrages finanziell gewinnen, d. h. Mehreinnahmen haben. Denn auf der Seite VII erfährt der erstaunte Leser, daß die Mehrausgaben 1991 20 Milliarden DM betragen und daß sie durch Einnahmen in Höhe von 23 Milliarden DM mehr als kompensiert werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das nun nicht wirklich eine Verhohnepipelung des deutschen Parlaments ist, dann weiß ich überhaupt nicht mehr, was unter einem solchen Begriff zu subsumieren ist.
Denn den Finanzakrobaten gelingt tatsächlich das sprachliche Kunststück, aus Ausgaben Einnahmen zu machen.
— Ja, so ist es, Herr Kollege Wieczorek.Die Verwirrung ist komplett und wird bei weiteren Einzelheiten fortgesetzt.Angaben über die finanziellen Auswirkungen des Einigungsvertrages im laufenden Haushaltsjahr fehlen übrigens völlig. Die Aufstellung auf Seite VIIff. beginnt erst mit dem Jahre 1991 und ignoriert, daß wir
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Waltherin wenigen Wochen einen dritten Nachtragshaushalt in Milliardenhöhe beraten werden, der auf Grund dieses Vertrages notwendig wird.Die Zahlenaufstellung unterschlägt aber nicht nur die Kosten, die 1990 anfallen, sondern auch weitere finanzielle Konsequenzen. Die Technik dieser Unterschlagung besteht, wie Sie, wenn Sie wollen, auf den Seiten VIII und IX nachlesen können, in einer neuen Variante von Lückentexten, die durch zahlreiche kleine Striche und Pünktchen garniert sind. Ich habe das ja eben schon angesprochen. Ich hoffe, das Fernsehen konnte es den Zuschauern zeigen.Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, erweckt beim flüchtigen Leser den Eindruck penibler Buchführung, ist aber nichts weiter als Schlamperei und bewußte Irreführung.
Im übrigen ist die dort angeführte Liste der Vertragsartikel zudem auch noch gänzlich unvollständig. Eine Reihe von Vertragsvorschriften mit erheblichen Kostenfolgen ist weder dort noch auf den folgenden Seiten angeführt. So fehlen beispielsweise die Angaben über die finanziellen Folgen des garantierten Vertrauensschutzes für die völkerrechtlichen Verträge der DDR und des vorgesehenen Vertrauensschutzes für bestehende vertragliche Verpflichtungen den Ländern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe gegenüber. Dort steht schlicht und einfach null; null haben Sie hier in diese Kostenübersicht hereingeschrieben.
Wir erfahren dementsprechend nichts über die Kosten, die für die Stationierung der Roten Armee übernommen werden. Wir erfahren ebensowenig etwas über die Höhe der finanziellen Folgen der Regelung des Art. 20 über den öffentlichen Dienst und die Angehörigen der NVA. Darüber erfahren wir überall nichts. Nicht ausgewiesen sind in der Tabelle so gravierende Posten wie die zu übernehmende Gesamtverschuldung und die Auslandsschulden der DDR sowie die Ausgleichsforderungen, die sich aus der Währungsumstellung ergeben haben. Herr Bundesinnenminister, Sie waren ja Verhandlungsführer. Geradezu lachhaft ist die Aufstellung auf den Seiten X und XI, die angeblich vollständig die finanziellen Folgen widerspiegelt, die sich aus der in Art. 8 vorgesehenen Überleitung des gesamten Bundesrechts ergeben, soweit dies nicht geändert wird. Diese Berechnung auf ganzen zwei Seiten ist entweder von grenzenloser Naivität oder von nicht zu überbietender Dreistigkeit, die auf Verschleierung und Irreführung abzielt.
Hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird in unvorstellbarem Maße getäuscht und getrickst. Da wundere ich mich überhaupt nicht, daß — der Bundesfinanzminister ist ja entschuldigt, das verstehe ich sehr gut; er ist in wichtigen Geschäften unterwegs — überhaupt niemand aus der Koalition sich zu haushalts- und finanzpolitischen Aspekten gemeldet hatund daß Sie offenbar die Debatte über dieses Thema fürchten wie der Teufel das Weihwasser.
Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle die Liste der Unvollständigkeiten und Halbwahrheiten der Kostenberechnung der Koalition abbrechen. Aber soviel ist klar: Sie können nicht im Ernst erwarten, daß wir Ihnen diese Endsumme abnehmen, die Sie mit jeweils netto 10 Milliarden DM für den Bund in den kommenden vier Jahren ausweisen.Das nehmen wir Ihnen schon deshalb nicht ab, weil die dicksten Posten in Nebenhaushalten versteckt werden und nicht in der Kostenliste erscheinen. Dies gilt insbesondere, wie ich gesagt habe, für die Verschuldung und die Auslandsverschuldung der DDR, die in ein neues Sondervermögen eingestellt werden sollen, ein Sondervermögen, das auch eine Mogelpackung darstellt. Sie können übrigens im „Handelsblatt" dieser Tage, einer Zeitung, die Ihnen ideologisch nahesteht, die diese ganze Finanztrickserei, Graf Lambsdorff, die Sie von der Koalition vorhaben, kritisch würdigt, nachlesen, daß Sie hier wichtige Kosten als Sondervermögen, bestehend aus reinen Schulden — aus reinen Schulden! — , neben dem Haushalt, unter Umgehung von haushaltsrechtlichen Grundsätzen ausweisen. Graf Lambsdorff, Sie haben es doch mitzuverantworten, daß über 200 Milliarden DM Schulden überhaupt nicht im Bundeshaushalt erscheinen, neben dem Bundeshaushalt als sogenanntes Sondervermögen geführt werden,
z. B. der Sonderfonds Deutsche Einheit, der Kreditabwicklungsfonds,
der aus den Altschulden der DDR und aus dem Ausgleichsfonds für die Währungsunion besteht, der aus der Gewährträgerhaftung für die Staatsbank Berlin besteht, der aus den Kosten der Auslandsschulden der DDR besteht, der aus den vom Kreditabwicklungsfonds selbst aufgenommenen Kredite besteht. Die im staatlichen Bankensystem plazierten Auslandsschulden der DDR sollen in einen anderen Fonds aufgenommen werden. Das Bürgerschaftsvolumen im DDR-Haushalt erscheint nirgendwo im Bundeshaushalt, obwohl wir es übernehmen. Die Verschuldung der staatlichen Treuhandanstalt erscheint nirgendwo. Das Bürgschaftsvolumen der Treuhandanstalt erscheint nirgendwo. Die staatliche Versicherung der DDR in Abwicklung — rund 6 Milliarden DM Risiko, so habe ich gelesen — erscheint nirgendwo.
Der Entschädigungsfonds für vermögensrechtliche Ansprüche erscheint nirgendwo.
Auch der Fonds, über den der Bundesfinanzministergerade verhandelt, für die Kosten des Aufenthalts sowjetischer Truppen in der Noch-DDR und für den17532 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990Waltherdeutsch-sowjetischen Wohnungsbau erscheint nirgendwo.
Nirgendwo, Graf Lambsdorff, erscheint das in Ihrem Haushalt.Sie machen das alles mit.
Graf Lambsdorff, ich weiß doch noch — es ist schon viele Jahre her — , wie Ihre Parteifreunde, Sie eingeschlossen, immer hier gestanden und gegen die angebliche Schuldenwirtschaft gewettert haben.
Nun fangen Sie endlich einmal an, da, wo Sie Verantwortung haben, dafür zu sorgen, daß mit der Schuldenwirtschaft Schluß gemacht wird.
Ich weiß, daß es von vielen als wenig populär empfunden wird, wenn wir hier von Sparen, Einsparen und Spardruck reden. So hat der Bundespräsident kürzlich öffentlich ausgeführt, wer Haushaltsfragen zum Maßstab seiner politischen Grundsätze mache, der habe keine.
— Der Herr Bundespräsident anläßlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde in Berlin.Sosehr ich den Bundespräsidenten ansonsten schätze, so sehr widerspreche ich ihm in dieser Auffassung.
Richtig ist der umgekehrte Satz: Wer haushaltsmäßige Konsequenzen außer acht läßt, handelt ohne Grundsätze und ohne Verantwortung.
Dies gilt in ganz besonderem Maße auch für das Konzept der Koalition zur Finanzierung der deutschen Einheit. Das reine Setzen auf Pump, Graf Lambsdorff, überbürdet die Kosten der Einigung auf die nachfolgenden Generationen, die die finanziellen Folgen der heutigen Entscheidung zu tragen haben, ohne heute mitreden zu können.
Es engt die Gestaltungsspielräume zukünftiger Haushaltsgesetzgeber zu Lasten anderer wichtiger Aufgaben ein. Bereits 1995 — das schreibt Waigel in seinem zurückgezogenen Haushalt — wird jede sechste Mark für Zinsen ausgegeben werden müssen. Wenn Sie so weitermachen wie jetzt, wird es jede fünfte Mark sein, die 1995 für den Zinsdienst aufgebracht werden muß. Ich wende mich immer wieder an die FDP, weil sie uns damals so geschurigelt haben. Auch der von mir hochverehrte Bundestagsvizepräsident hat sich damals beteiligt.
Sie haben gestern erlebt — das habe ich in einer Tickermeldung gelesen — , daß der Fonds Deutsche Einheit gar keine Kredite aufnehmen kann, weil zupassablen Bedingungen am Kapitalmarkt zur Zeit überhaupt kein Kredit aufgenommen werden kann, auch als Folge Ihrer unverantwortlichen Schuldenpolitik.
Sie sagen, Sie machen das alles ohne Steuererhöhung, Sie machen das alles auf Pump — das ist die Alternative bei Ihnen —; das hat dann jeder zu bezahlen, der auf dem Kapitalmarkt Kredite aufnehmen will. Sie wissen doch selber, daß sich der Zinssatz in Richtung 10 To bewegt. Sie wissen, was das für die Investitionsbereitschaft bedeutet. Sie wissen aber auch, daß das viele kleine Häuslebauer mit einigen hundert Mark mehr Belastung jeden Monat mitzutragen haben. Da sagen wir denen draußen: Das haben Sie mit Ihrer unverantwortlichen Finanzierungspolitik mit zu verantworten.
Hier liegt der eigentliche Kern unserer Kritik, die wir mit unserem Konzept verbinden, nämlich — ich wiederhole das, was hier andere Rednerinnen und Redner für uns und meine Fraktion heute schon gesagt haben — eine sozial verträgliche Finanzierung der deutschen Einheit sicherzustellen. Statt auf Verschleierung und auf Pump setzen wir auf Offenlegung und auf Solidität. Dies bedeutet, den Rotstift im Haushalt anzusetzen und zu sparen, wo immer es geht, in erster Linie natürlich beim Verteidigungshaushalt. Heinz Riesenhuber gibt aber z. B. immer noch jedes Jahr eine Menge Geld für den Schnellen Brüter aus. Das wissen die meisten im Deutschen Bundestag wahrscheinlich gar nicht. Zum weiteren sollte der Rotstift bei den teilungsbedingten Ausgaben und schließlich bei den Subventionen angesetzt werden, an deren Abbau wir endlich ernsthaft heran müssen.
Kollege Haussmann, ich habe das ja gern gehört, was Sie heute zum Subventionsabbau gesagt haben. Nur wer glaubt Ihnen denn das noch, Herr Bundesminister Haussmann? Sie mögen ja daran glauben; Sie haben aber nie etwas in dieser Richtung getan, sondern Sie sind in Wahrheit immer ein Subventionsaufbauminister gewesen.Ich habe auch gern gehört, Herr Kollege Haussmann, daß Sie über Unternehmenssteuersenkungen ein bißchen nachdenken. Das steht im Gegensatz zu dem, was noch gestern und vorgestern aus Ihrer Partei zu hören war. Ich sage, dies ist nicht die Zeit für die Senkung von Unternehmenssteuern und von Steuern für Spitzenverdiener.Wir sind natürlich bereit, eine moderate Erhöhung der Nettokreditaufnahme im Rahmen dessen mitzumachen, was die Verfassung uns ermöglicht, aber wir sind nicht bereit, die ganze deutsche Einheit nur auf Pump finanzieren zu lassen. Ich wiederhole das noch einmal.
Wenn auf diesen Wegen, die die Bundesregierung nicht einmal ansatzweise in Betracht gezogen hat, die Finanzierung der deutschen Einheit nicht vollständig abgedeckt werden kann, dann werden wir auch an
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Walthereinen Solidarbeitrag von Besserverdienenden denken,
der die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen nicht belastet. Aus diesen und anderen Gründen kommt für uns in diesem Zusammenhang übrigens eine Mehrwertsteuererhöhung nicht in Frage, auch wenn dies ein vorlauter Ministerpräsident gesagt haben sollte.Dieses solide Finanzierungskonzept setzt voraus, daß die Bundesregierung endlich den längst überfälligen Kassensturz vornimmt, der auch Klarheit darüber schafft, welchen Finanzbedarf die neuen Bundesländer drüben in der DDR haben. Es ist nicht so, wie die Bundesregierung vorgerechnet hat, daß sie mit 70 Milliarden DM auskämen. Es mag sein, daß das für die Anfangsfinanzierung, wenn die Investitionen noch nicht so fließen, geht, aber mit dem Geld können die Länder und Kommunen drüben keine neuen öffentlichen Investitionen finanzieren.
Jeder, der etwas von Ökonomie versteht, weiß, daß der Aufbau einer öffentlichen Infrastruktur Voraussetzung dafür ist, daß die Wirtschaft in die Gänge kommt.
— Ich rede jetzt nicht von den Bundesländern hier, ich rede von den künftigen Bundesländern drüben.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Ja.
Herr Kollege Walther, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir mit Ihnen einer Meinung sind, daß der Betrag von 70 Milliarden DM für die neuen Bundesländer vermutlich nicht ausreichend ist,
daß es aber auf das Bestreben der Bundesländer zurückzuführen ist — und die sind mehrheitlich sozialdemokratisch geführt — , daß die ungenügende Finanzausstattung der Länder dort zustande kommt?
Graf Lambsdorff, wenn ich mich recht erinnere, war das eine gemeinsame Übereinkunft zwischen den Finanzministern der Bundesländer und dem Bundesfinanzminister Theo Waigel.
Dieser hat die Vereinbarung in einer Presseerklärung sogar öffentlich sehr gelobt.
Nun, warum soll ich denn in dem Fall klüger sein als Theo Waigel? Warum soll ich ausgerechnet dann, wenn der Bundesfinanzminister sagt, das sei eine ordentliche Vereinbarung, die er mit den Finanzministern der Länder getroffen habe — und die Bundesländer haben dem nicht widersprochen — , Kritik anmelden?
Herr Walther, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ich überhaupt nichts dagegen hätte, wenn Sie versuchen würden, klüger zu sein als Theo Waigel?
Graf Lambsdorff, wenn Sie damit ausdrücken wollen, Sie könnten sich einen klügeren Finanzminister als diesen vorstellen, dann stimme ich Ihnen ausdrücklich zu.
Meine Damen und Herren, auch vor diesem Hintergrund erneuern wir Sozialdemokraten unsere Forderung an die Bundesregierung, noch vor der nächsten Bundestagswahl die Wahrheit über die Lage der Staatsfinanzen zu sagen. Hierzu genügt es nicht, daß die Bundesregierung die Eckwerte des Haushalts 1991 bekanntgibt. Denn nach den Erfahrungen, die wir gerade jetzt — ich trage das ja an dieser Stelle vor — mit der Zahlenkosmetik und der Akrobatik in Sachen „verschleiern, täuschen und tricksen" gemacht haben, vertrauen wir nicht mehr darauf, daß die Zahlen nicht geschönt sind, die Sie uns als Eckdaten gnädigst übermitteln wollen.Wir fordern deshalb, daß die Bundesregierung nach dem Beitritt der DDR am 3. Oktober dem Deutschen Bundestag unverzüglich einen gesamtdeutschen Haushalt 1991 vorlegt,
der noch vor der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 verabschiedet werden kann. Wenn man will und wenn man nicht so erbsenzählerisch ist, geht das, natürlich. Wir brauchen ja nicht alle Bleistifte und alle Radiergummis zu zählen; wir können uns ja auf die großen Posten konzentrieren.
— Herr Präsident, wenn Sie so lieb sind und mir die Erwiderung auf diese Zurufe nicht auf die Redezeit anrechnen, möchte ich Ihnen hier gern öffentlich entgegenhalten: Der Wunsch, weitere Sitzungswochen in dem vereinbarten Terminkalender zu streichen, kam ausgerechnet aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, weil Sie mehr Wahlkampf machen wollten.
Wir sagen: Wahlkampf ist wichtig. Ein Haushalt für Gesamtdeutschland ist noch wichtiger.
Nur auf diesem Wege, meine sehr verehrten Damenund Herren, kann für die Bürger, die Wirtschaft und
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17534 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Waltherdie Kapitalmärkte endlich Klarheit über die finanzpolitischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Nur auf diesem Wege wird verhindert, daß das erste Jahr der Wiedervereinigung mit der schweren Hypothek einer ungeordneten Finanzlage begonnen wird.Mit einem bißchen guten Willen wäre dieser Weg gangbar. Daß die Bundesregierung diesen guten Willen zeigt, hoffe ich immer noch — vor allem im Interesse der Mitbürgerinnen und Mitbürger aus jenem Teil Deutschlands, der heute noch DDR heißt, die wir alsbald herzlich willkommen heißen werden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Walther hat hier das inzwischen schon gewohnte Lamento angestimmt,
die Bundesregierung würde keine Zahlen vorlegen und nicht genau Auskunft geben, was die deutsche Vereinigung koste.
— Bleiben Sie einmal ruhig! — Herr Kollege Walther, Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages,
ich darf Sie daran erinnern — wir waren ja lange Jahre gemeinsam im Haushaltsausschuß — , daß die damalige SPD/FDP-Bundesregierung in 13 Regierungsjahren, in ganz normalen Jahren, zwölfmal nicht in der Lage war, die von der Verfassung vorgesehene Pflicht zu erfüllen,
vor Beginn eines Haushaltsjahres einen ordentlichen Haushaltsplan vorzulegen.
Es ist die Wahrheit, daß die SPD-Finanzminister schon zwei, drei Monate, nachdem der Haushaltsplan verabschiedet war, feststellen mußten, daß vieles nur Makulatur ist. Deswegen mußten zwei, drei Nachtragshaushaltspläne vorgelegt werden, weil die Daten längst überholt waren.
Ich frage Sie, Herr Kollege Walther: Ist es wirklich redlich, sich im Zeitpunkt der Umstellung einer Kommandowirtschaft auf Soziale Marktwirtschaft, wo Sie wissen, daß zur Stunde kein Mensch voraussehen kann, wie nächstes Jahr das Wirtschaftswachstum sein wird, wie sich nächstes Jahr das Arbeitsmarktproblem darstellen wird, wie hoch nächstes Jahr das Lohnniveau sein wird, hier hinzustellen und einen Haushaltsplan für 1991 einzufordern, wenn man selbst in 13 Jahren zwölfmal seine Hausaufgaben nicht erledigen konnte? Das ist unredlich und unglaubwürdig.
Herr Abgeordneter, nachdem Sie nun Herrn Walther gefragt haben, darf er auch Sie etwas fragen?
Da das nicht auf die Redezeit angerechnet wird, bitte schön.
Lieber Kollege Gerster, nachdem Sie darauf hingewiesen haben — wie ich einräume, zu Recht — , daß das Haushaltsgesetz einige Jahre nicht pünktlich bis Ende Dezember im Bundesgesetzblatt gestanden hat,
frage ich Sie, ob es zutrifft, daß das auch bei den Vorgängerregierungen so war, ob es weiter zutrifft, daß die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts erstritten hat, wonach das Haushaltsgesetz spätestens am 31. Dezember im Bundesgesetzblatt zu stehen hat, und ob es dann nicht die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wäre, dieses von ihr selbst erstrittene Urteil einzuhalten.
Herr Kollege Walther, erstens gab es auch Jahre der CDU/CSU-FDP-Regierungen vor 1969 und nach 1982, in denen wir Probleme hatten, Fristen einzuhalten. Zweitens. Um diese Frage geht es hier schon gar nicht, ganz abgesehen davon, daß Sie der Weltmeister im Überziehen von Fristen waren. Bei uns waren das Ausnahmen, während es bei Ihnen der Regelfall war.
Dritter Punkt: Ich weiß nicht, ob Sie intellektuell nicht verstehen, daß es hier nicht um Vorwürfe an SPD-Regierungen von 1969 bis 1982 geht, sondern daß es um einen Vergleich geht. Wenn man die Kosten und Einnahmen schon in normalen Zeiten nicht vorausberechnen kann, geht das nämlich jetzt im Zeitpunkt der Umstellung einer Wirtschaft erst recht nicht. Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen mache.Ich mache Ihnen einen weiteren Vorwurf. Sie stellen sieben Landesregierungen, d. h. jeweils auch den Finanzminister.
Sie haben bedeutend mehr an Finanzverwaltung als der Bundesfinanzminister.
Sie sind bei allen Beratungen dabei. Es muß Ihnen doch auffallen, daß Sie der Bundesregierung einerseits vorwerfen, sie lege keine Zahlen vor, Sie andererseits aber auch keine Berechnungen anstellen, je-
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Gerster
doch schon genau wissen, daß wir eine Steuererhöhung brauchen. Das ist doch das Verrückte.Wenn man das Regierungsprogramm der SPD genau durchliest, wird ja auch ganz deutlich: Es geht den Sozialdemokraten, die noch im letzten Jahr eher zögerlich über die deutsche Vereinigung geredet und zum Teil noch von einem dritten Weg gefaselt haben, um etwas ganz anderes. Es geht Ihnen um zwei Dinge:
erstens um die Lafontainesche Katastrophenstrategie, drüben das Chaos herbeizureden, den Leuten Angst zu machen, und zweitens darum, die Angst zu nutzen, um wie in den 70er Jahren stiekum sämtliche Steuern wieder zu erhöhen.
Das heißt, der Vorhang geht bei Ihnen auf. Sie wollen den Bürgern wieder einmal in die Taschen greifen und mehr Staat produzieren.
Da viele Bürger der DDR diese Debatte verfolgen und das damals vielleicht nicht mitverfolgt haben, sollte man ihnen Ihr Mißerfolgsrezept noch einmal vortragen. Die Politik der SPD in den 70er Jahren bedeutete mehr Staat, mehr Steuern, mehr Pleiten, mehr Schulden und dann mehr Arbeitslosigkeit.
Sehen Sie, meine Damen und Herren, genau das ist der Unterschied zwischen uns:
Mit Ihnen könnten die Bürger die Einheit mit Steuererhöhungen haben — natürlich, Sie sind ehrlich und sagen das; die Bürger können sich auf Sie verlassen —, mit uns werden sie die Einheit ohne Steuererhöhungen haben. Das genau ist der Unterschied.
— Ich freue mich ja, daß Sie so lebhaft Anteil nehmen. Herr Walther, das unterscheidet meine Rede von Ihrer: Da ist geschlafen worden, bei mir wird zugehört. Ich bedanke mich bei allen.Sehen Sie, meine Damen, meine Herren, das ist genau das Konzept des Regierungsprogramms, das Lafontaine vor fünf Tagen vorgestellt hat. Man muß sich einmal vorstellen: Mehr als 40 Jahre haben die Bürger der DDR über Gefängnismauern hinweg ihren Blick einseitig in Richtung Westen fixiert. Sie haben unsere Demokratie, unseren Rechtsstaat, unsere Freiheit, unseren Wohlstand als für sie unerreichbar bewundert, ja uns sogar auch geneidet. Mit Mut und Risikobereitschaft, dann mit dem Mut der Verzweiflung haben sie in friedlicher Revolution den Abgangder Unterdrücker erzwungen. Ihr Ruf „Wir sind das Volk" war das Fanal für die Kommunisten und das Signal für die Freiheit. Sie wollten mit uns leben und wollen mit uns leben, nicht anders als wir.Natürlich sehen auch die Bürger der DDR bei uns — und zwar zu Recht — Fehler, Mängel, Unzulänglichkeiten und auch Unzuträglichkeiten. Denn die überwiegende Mehrheit der DDR-Bürger sind keine Kommunisten — keine Kommunisten mehr. Nur Kommunisten und Sozialisten glauben, sie könnten das absolute Heil schon auf dieser Welt erleben, ja verheißen und schaffen.Nur, meine Damen und Herren, die Mängel bei uns, die von den Sozialdemokraten übertrieben werden, wurden von den Menschen der DDR so klein, so bedeutungslos eingeschätzt, daß sie bedingungslos in ein Haus, das wie das unsere beschaffen sein sollte — und zwar ohne Wenn und Aber —, einziehen wollten. Dann begegneten sie wieder einmal einem Saarländer, nämlich Herrn Lafontaine.
Während sie glaubten, auch dieser werde sie einladen, ihnen helfen, sich zurechtzufinden, ihnen Kraft geben, sich wie im Westen einzurichten, passierte etwas ganz Außergewöhnliches.
Zuerst wollte Lafontaine sie durch eine Mauer von Paragraphen draußen halten. Man solle, so Lafontaine im Originalton, „den Deutschen im Osten nicht den Zugriff auf die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik einräumen".Dann malte er ihnen Schreckensvisionen für das Leben in dem Haus, auf das sie 40 Jahre so sehnsüchtig geblickt hatten, aus: Dort sei alles so schrecklich und grausam. Die DDR sei dagegen vor der Wende ein blühendes Industrie- und Gemeinwesen gewesen.Und der Höhepunkt vor vier Tagen: Lafontaine drohte mit dem SPD-Regierungsprogramm: Wenn sie nun doch kämen, sei das Wichtigste ein grundlegender Umbau der von ihnen so sehnsüchtig erwarteten Industriegesellschaft unseres Hauses Bundesrepublik Deutschland.
Sie, die Bürger der DDR, die so lange auf das stabile Haus Bundesrepublik Deutschland gewartet haben, sollen wenn sie endlich einziehen dürfen, nach Vorstellung von Lafontaine in eine Großbaustelle einziehen.
Meine Damen und Herren, glauben Sie mir, viele DDR-Bürger werden Herrn Lafontaine für lebensfremd halten. Sie, die gerade ihre Stasi-durchtränkte Gesellschaft mühsam umkrempeln, sollen plötzlich nicht in das Land ihrer Wahl, sondern wieder auf den Irrweg halbsozialistischer Träume geführt werden.
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Gerster
Denn genau das besagt die Steuerpolitik, die Sie vorhaben.
Nachdem Lafontaine zu Jahresbeginn die Paragraphenmauer propagiert hatte, verlor die SPD die Volkskammerwahl. Nachdem Lafontaine im Frühjahr die geplante Einführung der Währungs- und Wirtschaftsunion verteufelt hatte, verlor die SPD die Kommunalwahlen. Spätestens seit Lafontaine den Umbau der Bundesrepublik fordert, ist klar: Wenn nicht alles täuscht, wird er auch die Landtagswahlen und die Bundestagswahl verlieren.Denn die Menschen in Deutschland, und zwar in West und Ost, wollen keine sozialistischen Träumereien an saarländischen Kaminen — Herr Biermann, der Ehrengast von Herrn Hoffmann, läßt grüßen —, sondern sie wollen eine kontinuierliche, solide und berechenbare Verbesserung des Vorhandenen und Bewährten. Sehen Sie, meine Damen, meine Herren von der SPD, während Sie früher, zu Beginn des Jahres, im Bremserhäuschen saßen, sind Sie nun in dem Zug zur deutschen Einheit immerhin als Trittbrettfahrer mitgefahren. Wir laden Sie ein, voll mitzufahren und dieses deutsche Haus zu bauen.
Denn dieses deutsche Haus wird auf der Basis dieses Einigungsvertrages, der — und so selbstkritisch sind wir — durchaus auch Fehler und Mängel zeigen wird, der aber in kürzester Zeit insgesamt eine hervorragende Grundlage für eine einheitliche Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung geschaffen hat, ab dem 3. Oktober Möglichkeiten zur Gleichheit der Lebensbedingungen der Menschen schaffen. Er gibt ihnen die Möglichkeit, das, was sie wollten, nämlich Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit und Frieden, mit uns gemeinsam aufzubauen.Ich möchte für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion der Bundesregierung, insbesondere ihrem Verhandlungsführer Wolfgang Schäuble — ich sage es einmal salopp: das hat er klasse gemacht —,
aber auch Herrn de Maizière, Herrn Krause und unserem Koalitionspartner danken. Wir sind froh, daß dieser Einigungsvertrag zustande kommt. Er ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Einheit, auf die wir uns freuen. Wir freuen uns auf unsere Mitbürger in der DDR, wenn sie mitverantwortlich mitwirken und mit uns den Aufbau betreiben. Wir als CDU/CSU werden nicht rasten, bis gleich gute Lebensbedingungen in der DDR möglich sind, wie wir sie hier seit langem gewohnt sind.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine Bemerkung zu dem vorgelegten Entwurf eines Straffreiheitsgesetzes machen, weil heute morgen dazu Anmerkungen gemacht wurden, die mir geeignet erscheinen, weit über den Kreis dieses Hauses hinaus Verunsicherung, Besorgnis und, wenn das, was da angedeutet wurde, richtig wäre, tiefste Empörung hervorzurufen.Worum geht es? Wir haben — das ist vorab richtig — hier keinen Entwurf für eine Jubelamnestie vorgelegt. Aber man kann — da gebe ich Graf Lambsdorff recht — natürlich auch einen anderen Weg gehen. Nur, bei der Fülle dessen, was zu erledigen war — ursprünglich sollte diese Amnestie ja im Einigungsvertrag Eingang finden — und nachdem dies nicht möglich war und jetzt ja auch die Zeit sehr knapp geworden ist, haben wir angestrebt, hier in Gesprächen eine Einigung herbeizuführen, wobei naturgemäß — dies ist jedermann klar — die Auffassungen auseinandergehen. Sie haben speziell die Sitzblokkierer, nach § 240 des Strafgesetzbuches strafbar, angesprochen; andere haben natürlich wieder an anderes gedacht. Von Ihrer Seite gibt es vier Bereiche, von anderen sind andere Bereiche in die Diskussion gebracht worden. In der Kürze der Zeit ist das nicht einfach.Was haben wir deswegen vorbereitet, was ist hier eingebracht worden? Das ist auf das bei Erreichung der deutschen Einheit unbedingt Gebotene begrenzt, auf das sehr Naheliegende, weil es allein einen Bereich betrifft, der über die Jahre und Jahrzehnte intensiv betrieben worden ist: die Ausspähung, die Spionage, gerichtet gegen die Bundesrepublik Deutschland, also Delikte, die jetzt mit Erreichung der deutschen Einheit für Täter und Auftraggeber ihren Sinn verloren haben und nicht mehr stattfinden werden.Warum legen wir Wert darauf, daß das jetzt im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag beraten und verabschiedet wird? Ganz einfach deswegen, weil wir bereits über 40 bis 50 Namen mit Adressen von Tätern auf dem Gebiet der DDR verfügen und die Staatsanwaltschaft nach dem Legalitätsprinzip genötigt wäre, ab dem 3. Oktober nicht nur die Verfahren einzuleiten, nein, auch über die Haftfrage ihre Erwägungen anzustellen, gegebenenfalls Haftbefehl zu beantragen. Deswegen ist es so dringend, daß wir hier, wo immer es geht, zu einem Ergebnis kommen.
Wir haben das sehr abgewogen, Herr Kollege Dr. Vogel, auf den Spionage- und Ausspähungsbereich beschränkt. Die §§ 94 bis 100a des Strafgesetzbuches und die Begleitdelikte, der Gebrauch gefälschter Ausweispapiere — selbstverständlich wird der Agentenlohn nicht zur Einkommensteuer angemeldet — , sind mit eingebunden.
Aber — darauf lege ich größten Wert, weil von Ihnen, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, heute etwas ganz anderes gesagt wurde:
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Bundesminister Engelhard— Wir werden uns noch unterhalten.
Es ist klar abgegrenzt. Nicht eingebunden und ausgeschlossen sind Verbrechen, also alle Tötungsdelikte — —
Augenblick, der Herr Minister muß erst seinen Satz zu Ende sprechen.
Dann frage ich Sie, Herr Minister, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.
Bitte schön, Herr Präsident.
Die Höflichkeit gebietet, daß die Dame Vorrang hat. — Herr Kühbacher ist einverstanden. Bitte, Frau Däubler-Gmelin.
Ich habe mich nur deshalb vorgedrängt, weil mich der Herr Bundesjustizminister mit meiner Namensnennung ehrte.
Herr Bundesjustizminister, würden Sie so freundlich sein, einfach noch einmal nachzulesen und sich dann zu vergewissern, daß Sie mir bisher nicht in einem Wort widersprochen haben, daß ich bisher nicht ein Wort gesagt habe, an dem Sie hätten Anstoß nehmen können. Meine Vorwürfe waren, daß Sie gesagt haben: Wir machen das alleine — nichts anderes — , und daß Sie damit nicht gewartet haben, bis die Stasi-Opfer rehabilitiert sind. Dies halte ich für einen schlechten Stil. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das zur Kenntnis nähmen.
Herr Minister, ich habe Ihre Redezeit gestoppt. Wollen Sie auch noch die andere Frage hören und dann beides gemeinsam beantworten?
Ja, bitte.
Herr Kühbacher, bitte schön.
Herr Minister, ich persönlich bin nicht betroffen, aber ich habe eine Frage an Sie als Mitglied der Bundesregierung: Hat Ihr Amnestievorschlag, was Straffreiheit für Straftäter der Staatssicherheit in der Bundesrepublik, aber auch auf dem Gebiet der DDR angeht, etwas damit zu tun, daß Ihnen bekannt sein muß, daß bei dem Minister des Inneren der DDR die Versorgungsakten für ehemalige Staatssicherheitsmitarbeiter liegen und daß die Versorgungsbezüge für ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit, die mit Sicherheit Straftaten begangen haben, ab dem 3. Oktober aus dem Bundeshaushalt weitergezahlt werden? Wollen Sie hiermit möglicherweise Ihre Absicht, Staatssicherheitsmitarbeiter, die sich mit Sicherheit schuldig gemacht haben, auch noch Pensionszahlungen auf Dauer zu leisten, kaschieren?
Herr Kollege, das ist ein Gedanke von Ihnen, den Ihnen niemand verbieten kann. Ich weise dies aber mit aller Deutlichkeit und ganz nachdrücklich zurück: Derartige Überlegungen liegen überhaupt nicht im Bereich dessen, was zu erwägen war.
Es geht hier — jetzt bin ich bei dem, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, was Sie mit Ihrer Zwischenfrage wiederholt haben — um das, was Sie heute morgen sagten und was genau in die falsche Richtung führt. Sie sagten heute morgen, und Sie haben jetzt wiederholt: Es ist noch nicht an die Opfer des Staatssicherheitsdienstes gedacht worden, da denkt man schon an die Stasi.
Frau Kollegin, von dem weiten Bereich, den die Staatssicherheit in der DDR zu beackern hatte, ist nur ein Teil, die Ausspähung gegen die Bundesrepublik Deutschland, Gegenstand dieses Amnestiegesetzes.
Wer dies auch nur in Andeutungen nicht klar herausstellt, der begeht jene von mir eingangs angedeutete Todsünde, indem er das Gefühl vermittelt, wir würden darangehen, diejenigen, die in der DDR die Bürger ausgespäht haben, die sie ausspioniert haben, die sie bedroht haben, die sie abgeholt haben, die sie festgenommen haben, die sie unter erschwerten Bedingungen vernommen haben, die sie drangsaliert haben, und dies über die Jahrzehnte, in den Genuß zu bringen, bei Herstellung der deutschen Einheit den Segen eines Amnestiegesetzes über sie zu breiten. Genau dies ist nicht, nicht in einem einzigen Punkt, der Fall.
Wenn wir im Sinne dieser Vorlage von Opfern sprechen, dann müßten wir sagen: Wir, die wir uns als Bewohner und Bürger der Bundesrepublik Deutschland nicht beklagen wollen, sind die Opfer, denn ausgespäht und ausspioniert worden ist dieser Staat. Nur um diese Täter geht es.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Däubler-Gmelin?
Bitte!
Bitte schön, Frau Abgeordnete.
Herzlichen Dank. Herr Justizminister, mir ist das ja auch wichtig. —Meine Bitte an Sie — ich darf einleitend sagen: lesen Sie das Protokoll noch einmal nach — habe ich deshalb ausgesprochen, weil ich genau das, was Sie gesagt haben, in dem ersten Teil meiner Rede ebenfalls gesagt habe: Es sind die kleinen Fische. Aber wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß eben auch sie zur Stasi gehören und daß es deshalb eine ganz
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Frau Dr. Däubler-Gmelinschwierige Stilfrage ist, so zu verfahren, wie Sie das vorschlagen, jetzt einmal ganz abgesehen davon, daß wir eine große Amnestie für alle die Fälle aus Anlaß der deutschen Einheit brauchen?
Frau Kollegin, über den zuletzt genannten Fall — das sagte ich schon — kann man sich unterhalten. Ich denke, daß jetzt die Zeit zu kurz ist,
um sich in diesen knappen Zahl von Tagen noch zu verständigen.
Über das andere sollten wir aus den von mir geschilderten Gründen vorab Übereinstimmung erzielen können.
Mir liegt daran — nur deswegen habe ich mich überhaupt gemeldet; ich sage es noch einmal — : Niemand soll durch eine unvorsichtige Äußerung das Gefühl erwecken, hier, vor allem aber bei den Bürgern im Gebiet der Noch-DDR, als würde hier etwas geschehen, was zutiefst Empörung hervorrufen müßte. Die Fragen jetzt, ob man darangehe, denen Pensionen zuschustern zu wollen — das geht alles in jene Richtung. Ich warne davor, weil wir auch bei unterschiedlicher Auffassung im Detail die gemeinsame Verpflichtung haben, nicht Verunsicherung hervorzurufen, was auch eine andere Form der Drangsalierung sein kann,
auch wenn sie aus dem Parlament kommt.
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Es übersteigt aber staatliche Möglichkeiten, jeden Pförtner, jeden Boten, jeden Obersekretär im einzelnen zu durchleuchten und an den Pranger zu stellen. Konkret sind wir dafür: Verantwortliche für die politische Justiz, für Schreckensurteile dürfen nicht in den Justizdienst der Demokratie übernommen werden.
Diejenigen, die bei den sonstigen Strafverfolgungsbehörden Terrorurteile und andere Absurditäten des politischen Strafrechts haben durchsetzen helfen, müssen aus dem Dienst entfernt werden.Im übrigen müssen wir gemeinsam alles tun, die alten Stasi-Seilschaften in allen Teilen der Gesellschaft bis in die Bundesrepublik hinein zu erkennen und unwirksam zu machen. Es ist ein Skandal, daßz. B. Bürgermeister, die Stasi-Verantwortlichen kündigen, täglich Drohanrufe und Drohbriefe bekommen. Das gilt es zu beenden, ohne ungerechtfertigte Diskriminierung und im Rahmen des uns selbstverständlichen Datenschutzes.
Nach diesen eher stichwortartigen Stellungnahmen schließe ich mit einem Wort der deutschen evangelischen und katholischen Bischöfe:Eine neue, gemeinsame Aufgabe liegt vor uns in Europa und in Deutschland. Sie ist nicht über Nacht zu lösen, sondern erfordert einen langen Atem. Für uns Deutsche hängt viel davon ab, daß wir uns der Last der Vergangenheit bewußt bleiben, daß wir nicht überheblich werden und daß wir vor allem auch die Lasten untereinander teilen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann nur noch wenige innenpolitische Bemerkungen anfügen.In vier Wochen vereinigen wir uns mit 16 Millionen Menschen, die andere Hoffnungen, andere Sorgen, andere Befürchtungen und über 40 Jahre ein ganz anderes Lebensgefühl entwickelt haben als wir. Ich habe den Eindruck, daß manches in dieser Debatte an dem, was unsere Landsleute in den fünf Ländern auf dem Gebiet der heutigen DDR bewegt und beschäftigt, vorbeigeht.
Wir sollten uns bei der Fortsetzung dieser Debatte mehr darum bemühen.Zur Frage des öffentlichen Dienstes. Herr Kollege Bernrath, manches, was Sie angesprochen haben, ergibt sich einfach aus dem Vertragstext. Die Anwendung des Betriebsverfassungsgesetzes, des Personalvertretungsgesetzes, die Überleitungsdauern, die Kündigungsfristen, die ordentlichen und außerordentlichen Kündigungsgründe, natürlich die selbstverständliche Bestimmung, das jemand, der sich in menschenrechtswidriger Weise verhalten hat oder ein Mitarbeiter der Stasi war, im öffentlichen Dienst nichts zu suchen hat, alles das ist im Vertrag klar geregelt. Aber nichts führt an der Tatsache vorbei, daß es für die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in der DDR dramatische Veränderungen geben wird, weil er zu 100 % überbesetzt ist, was mit der Aufgabenstellung und auch mit dem Zuschnitt der Kommunen zusammenhängt. Daß hier dramatische Änderungen unvermeidbar sind, darüber sollten wir niemanden täuschen.Genauso ist die Frage berechtigt: Wie stellen wir uns mit unseren bisherigen Positionen ein, wenn auf der einen Seite ein Lokomotivführer tätig ist, der sich aus Leibeskraft für die SED eingesetzt und engagiert
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Dr. Hirschhat, und auf der anderen Seite jener Postschaffner aus Marburg auf dem Gnadenwege weiter Briefe austragen darf? Daß sich daraus Konsequenzen ergeben müssen, kann man nicht bestreiten.
Ebenso stellt sich die Frage: Was machen die Leute, wenn die sechs oder neun Monate Übergangszeit vorbei sind, nach denen bestimmte Tätigkeiten ins Bergfreie fallen? Was wird tatsächlich an Überleitungsangeboten gemacht?Zweite Bemerkung: zur Amnestie. Der Justizminister hat völlig eindeutig und zutreffend darauf hingewiesen, daß die Amnestie, die hier in Rede ist, mit Stasi-Taten in der DDR überhaupt nichts zu tun hat, sondern mit Spionagetätigkeiten in der Bundesrepublik. Wir werden diesem Gesetz zustimmen.Aber unabhängig davon ergibt sich in der Tat die Frage, ob das alles sein kann, ob wir nicht darüber hinausgehen müssen. Ich hasse das Wort „Jubelamnestie". So viel Jubel ist gar nicht dabei. Es geht vielmehr um die Frage, ob wir nicht diesen einzigartigen historischen Anlaß nutzen sollten, um etwas mehr dazu zu tun, auch die Wunden zu heilen, die wir uns selbst zugefügt haben. Natürlich muß man dabei an manche Überzeugungstäter denken, die sich auf die Straße gesetzt haben, um mit ihren Mitteln Ziele zu erreichen, die im Grunde genommen auch unsere waren.Drittens zur Rehabilitierung. Ich wünsche mir, daß sich jeder das Gesetz der Volkskammer ansieht. Ich hätte genauso gerne eine Äußerung der Volkskammer zu dem Amnestiegesetz wie wir uns zu dem Rehabilitierungsgesetz äußern sollten, das in der Volkskammer in diesen Tagen gelesen wird.Zum Staatssicherheitsdienst. Es ist völlig ohne Zweifel, daß dort ein System errichtet und betrieben worden ist, daß jeder normalen Vorstellung Hohn spricht. Es ist die wildeste Phantasie kaum ausreichend, um sich wirklich vorzustellen, was dort alles an Unglaublichkeiten gemacht worden ist.Mir geht es in diesem Fall nicht um Bestrafungen oder sonst etwas. Das ist Sache der Volkskammer, jedenfalls so lange, wie es sie gibt; dies ist aber eine klare Äußerung, das Mitarbeiter dieses Dienstes im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik nichts zu suchen haben.Was tun wir mit den Akten? Da, finde ich, ist die Lösung, die der Vertrag jetzt bietet, weit besser, als sie dargestellt wird. Natürlich werden die Akten dort drüben aufbewahrt. Es gibt einen Sonderbeauftragten, der von der Regierung der DDR ernannt wird. Es gibt einen Beirat, in dem Vertreter aus fünf Ländern der DDR die Mehrheit haben. Die Akten werden zugänglich für Rehabilitierungen.Für mich ist die Bestimmung über den Zugang für die sogenannten anderen Behörden problematisch; das habe ich heute früh schon angedeutet. Über diesen Punkt sollten und müssen wir im Rahmen einer vernünftigen Benutzungsordnung reden. Ich bin sehrfroh, daß der Innenminister dafür durchaus Verständnis hat.Unter dem Strich: Diese Entwicklung gibt uns allen unglaubliche Chancen für einen neuen Anfang, auch für neue Anfänge des inneren Friedens in unserer Gesellschaft selbst. Es wird sehr darauf ankommen, ob wir die notwendige Toleranz aufbringen, um diese nur einmalige Chance zu nutzen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kottwitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die europäischen Nachbarvölker in Ost und West haben in der Vergangenheit mit einem deutschen Einheitsstaat bitterste Erfahrungen machen müssen. Seine Entstehung geht auf drei Kriege zurück. Er hat die bisher verheerendsten Kriege der Menschheitsgeschichte, die beiden Weltkriege, zu verantworten. Letztendlich wurde durch diese Aggression weltweit ein Militärpotential geschaffen, das der Menschheit das Ende der Welt greifbar naherükken lassen kann. Ich persönlich kann und will das nicht verdrängen. Darum sehe ich für Deutschland eine besondere Verpflichtung zur Wahrung des Friedens.In der Präambel des deutschen Grundgesetzes müssen folgende Punkte endgültig festgeschrieben sein: die Verantwortung für eine demokratische Entwicklung, der Schutz der Menschenrechte, die Verpflichtung, die natürlichen Lebensgrundlagen dieser Erde auch für zukünftige Generationen zu bewahren. Wir müssen angesichts der vom Nationalsozialismus begangenen beispiellosen Gewalttaten eine besondere Verantwortung übernehmen
und die daraus resultierenden Verpflichtungen zum Ausdruck bringen.Der von der Fraktion DIE GRÜNEN heute eingebrachte Antrag zur Änderung der Präambel des Grundgesetzes muß verabschiedet werden. Die Sorgen und Ängste vieler Menschen in unseren Nachbarvölkern werden wir aber damit allein nicht beheben können. Zwingendes Gebot für verantwortungsbewußte deutsche Politik wäre es, diesen Sorgen und Ängsten durch die Selbstbeschränkung eigener Macht, durch die Einbindung in friedensverträgliche und friedensfördernde internationale Zusammenhänge und durch die Entmilitarisierung Rechnung zu tragen.Nichts von dem plant die Bundesregierung. Im Gegenteil: Sie setzt durch, daß das vereinte Deutschland Vollmitglied des Militärpakts NATO sein wird. Selbst die Einbeziehung des vormaligen DDR-Territoriums in die militärische Integration der NATO wird nur für drei bis vier Jahre aufgeschoben, so lange, bis die sowjetischen Truppen von dort vollständig abgezogen sind.Daß die BRD einer Begrenzung ihrer Streitkräfte auf 370 000 Mann zugestimmt hat, ist kein friedenspolitisches Positivum. Eine ähnliche Truppenstärke war
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17543
Frau Kottwitzohnehin in den Planungen der Bundeswehr auch bei Fortexistenz einer NVA vorgesehen. Dieses scheinbare Zugeständnis ordnet sich ein in Prozesse der militärischen Umstrukturierung der NATO: Kleine, hochmobile, feuerkräftige Einheiten werden aufgebaut. Diese sind flexibel als Instrumente für Eventualfälle aller Art an beliebigen Orten einsetzbar.Ein neuer Feind für diese Verbände ist auch schon gefunden. Nachdem sich mit der angeblichen Bedrohung aus dem Osten das eigene Militär nicht mehr legitimieren läßt, ist es jetzt die Bedrohung aus dem Süden, gegen die angeblich Vorsorge getroffen werden muß.Die gegenwärtige Krise im Golf ist für die Sicherheitspolitik von NATO und BRD in diesem Zusammenhang ein höchst willkommener Anlaß, neue Legitimationen für die Fortexistenz von NATO und Bundeswehr zurechtzuzimmern. Von den vielversprechenden weitgehenden Abrüstungsdiskussionen nach dem Fall der Mauer ist leider kaum noch etwas zu hören.
Das verstärkte militärische Engagement der BRD im Südbereich der NATO und die Debatte um die „out of area"-Einsätze der Bundeswehr lassen Schlimmstes befürchten. Deutschland soll im Kontext einer sich herausbildenden Militärgroßmacht Westeuropa perspektivisch offensichtlich auch zur weltweit aktionsfähigen Militärmacht aufgebaut werden.
Das ist das genaue Gegenteil einer Politik der Selbstbeschränkung, wie die GRÜNEN sie fordern.
Für uns müssen Bundeswehreinsätze „out of area auch künftig ausgeschlossen bleiben. Das bezieht sich ebenfalls auf Einsätze im Rahmen von UNO-Friedenstruppen. Eine Beteiligung an UNO-Friedenstruppen mit oder ohne Grundgesetzänderung würde in der gegenwärtigen Situation als Türöffner für andere Einsatzformen benutzt werden.Ein weiteres wesentliches Element einer Politik der Selbstbeschränkung wäre der umfassende Verzicht auf Massenvernichtungswaffen, ein Verzicht, der unserer Meinung nach auch in dem vorliegenden Einigungsvertrag hätte festgeschrieben werden müssen.
Aber auch hier geht die Politik der Bundesregierung in eine entgegengesetzte Richtung. Bei der Frage des Verhältnisses Deutschlands zu Massenvernichtungswaffen und speziell Atomwaffen wird mit der Regelung der äußeren Aspekte der Wiedervereinigung die unrühmliche Geschichte der Bundesrepublik in die Zukunft verlängert.Schon der WEU-Vertrag von 1954, die Eintrittskarte der BRD zur NATO, war ein Erfolg Adenauers. Denn er verbot nur die Herstellung von Massenvernichtungswaffen auf dem Gebiet der BRD, aber nicht deren Erwerb und auch nicht die Produktion im Ausland.In den folgenden 35 Jahren ist die Bundesrepublik zum Exportland Nummer 1 bei Massenvernichtungswaffen geworden.
Laut einer Studie der Washingtoner Carnegie-Friedensstiftung hat die BRD Ländern wie Indien, Pakistan, Argentinien und Brasilien geholfen, Schwellenländer bei der Atomwaffenentwicklung zu werden. In diesem Geschäft mit dem geplanten Massenmord, Folge einer liberalen Wirtschaftspolitik, haben deutsche Firmen kräftig verdient.Daß die BRD dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist, wird von regierungsamtlicher Seite gern als zweiter Beleg für die Atomwaffenunschuld der Bundesrepublik genannt. Das Gegenteil ist der Fall. Art. 4 dieses Vertrages verlangt geradezu eine ungehemmte Förderung der Atomwirtschaft. Mit der Neuauflage der Erklärung von 1954 hat Außenminister Genscher den Maßstab für den Generalvertrag gesetzt, der am 12. September in Moskau die Zwei-plus-Vier-Gespräche beenden soll.Warum — so fragen wir — weigert sich die Regierung so beharrlich, einen umfassenden Atomwaffenverzicht in die deutsche Verfassung zu schreiben, wenn es ihr mit der atomaren Unschuld wirklich so ernst ist, wie sie vorgibt?
Wäre ein solcher Verzicht, in der Verfassung festgelegt, nicht eine angemessene friedenspolitische Konsequenz aus der deutschen Geschichte angesichts der Wiedervereinigung?Konsequentester Ausdruck einer Politik der Selbstbeschränkung wäre die vollständige Entmilitarisierung Deutschlands. Dies ist das friedenspolitische Ziel der GRÜNEN. Darum unterstützen wir auch die Aktivitäten der Friedensbewegung für ein Deutschland ohne Armee.Notwendige Ergänzung der Selbstbeschränkungspolitik ist die Einbindung deutscher Macht in und ihre Kontrolle durch internationale nichtmilitärische Institutionen. Der KSZE, die tatsächlich Kern und Ausgangspunkt für die Schaffung einer neuen gesamteuropäischen Friedensordnung sein könnte, wird von der NATO allenfalls eine nachgeordnete, komplementäre Rolle zugebilligt. Das NATO-Establishment will eine möglichst schwache KSZE als Ergänzung einer starken NATO.Wir dagegen wollen die Ersetzung der Militärpakte Warschauer Pakt und NATO durch eine auf die KSZE aufbauende gesamteuropäische Friedensordnung. Wir regen daher an, daß die KSZE-Gipfelkonferenz im November eine verbindliche Erklärung verabschiedet, in der sich die KSZE-Staaten zur Auflösung der Militärpakte und zu ihrer Ersetzung durch ein eurokollektives Sicherheitssystem in kürzestmöglicher Frist verpflichten. Deutschland muß in diesem Zusammenhang als Ausdruck einer aktiven Friedenspolitk verbindlich erklären, den Militärpakt NATO zu verlassen, sich einem europäischen Sicherheitssystem einzuordnen, völlig abzurüsten und diese Abrüstung
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Frau Kottwitzinternational kontrollieren zu lassen. Nur eine solche Politik der Selbstbeschränkung unter Einbindung in internationale Strukturen kann den Ängsten und Sorgen hinsichtlich einer neu entstehenden Großmacht Deutschland gerecht werden und zum Frieden in der Welt beitragen.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Biedenkopf.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir schwer, mich selbst bei der geschäftsmäßigen Behandlung des Einigungsvertrags in erster Lesung in diesem Hohen Haus daran zu erinnern und mir zu vergegenwärtigen: Es ist elf Monate her, seitdem die Demonstration in Leipzig zum erstenmal dem Unrechtsregime in der DDR den Rücken brach, und es ist zehn Monate her, seitdem sich die Mauer öffnete.Wir haben in diesen zehn Monaten einen politisch eindrucksvollen Beweis für die ungeheure Kraft der Gemeinsamkeit aller Deutschen erlebt; denn ohne diese Kraft wäre es nicht möglich, heute über den abschließenden Vertrag zu sprechen, der die Einheit sichern soll.Dieser Einigungsvertrag ist eine solide und tragfähige Grundlage für den Aufbau von Wirtschaft und Gesellschaft im östlichen Teil Deutschlands. Aber er hat auch eine hohe politische Qualität deshalb, weil ihm alle wesentlichen politischen Kräfte in beiden bisherigen Teilen Deutschlands zustimmen. Das heißt, wir können auf einer breiten politischen Grundlage aufbauen, wenn es nun darangeht, diesen Vertrag mit Leben zu erfüllen und die Aufgabe zu beginnen, die noch vor uns liegt, nämlich die deutsche Einheit zu verwirklichen, und zwar im Leben der Menschen, nicht nur in den Werken der Gesetzgebung.Diese Grundlage gemeinsamer Beschlußfassung der wichtigsten politischen Kräfte ist zugleich von großer Bedeutung — das ist schon in vielen Redebeiträgen angeklungen — für das Vertrauen, das die Deutschen in der bisherigen DDR in die Tragfähigkeit dieser Grundlage setzen müssen. Sie sind es, deren Hoffnungen sich erfüllen, die Hoffnungen, die ihnen die Kraft gegeben haben, vor elf Monaten in Leipzig auf die Straße zu gehen, obwohl ihr Leben bedroht schien. Sie brauchen diese Kraft und dieses Vertrauen aber auch deshalb — das dürfen wir in den kommenden Monaten und Jahren nicht aus dem Auge verlieren —, weil es die Menschen in der bisherigen DDR sind, die die eigentliche Leistung erbringen müssen, das Land wiederaufzubauen und die ungeheuren Schwierigkeiten zu überwinden, die damit verbunden sind, die Folgeschäden der sozialistischen Mißwirtschaft und des Unrechtsregimes zu beseitigen.Unsere Finanzierungsdiskussion ist wichtig, und wir werden sie sicher auch noch häufig führen, aber wir dürfen über diese Finanzierungsdiskussion nicht die eigentliche Dimension der Aufgabe verlieren, die vor uns liegt.
Es ist eine historische Dimension, die uns eigentlich alle mit Dankbarkeit und Freude darüber erfüllen muß, daß wir privilegiert sind, an dieser Aufgabe teilzunehmen.
Es geht darum, ein Deutschland zu schaffen, welches eine dauerhafte und endgültige Rolle in Europa und in der Welt übernehmen kann.Dieser Vertrag ist zweitens eine gute Basis für das Zusammenwachsen der beiden Teile. Dieser Prozeß steht, wie ich schon sagte, erst am Anfang. Er wird eine lange Zeit dauern. Das ist nicht nur eine wirtschaftliche Aufgabe, das ist vor allem auch eine geistige, eine philosophische und eine kulturelle Aufgabe.Kurt Masur sagte mir im Februar in Leipzig: Die schwersten Schäden in diesem Land sind nicht bei den Straßen, in den Fabriken, an den Häusern, in der Infrastruktur entstanden, sondern in den Köpfen, Herzen und Seelen der Menschen.
Diese Schäden abzubauen, sie zu überwinden, die Wunden 40jähriger Unrechtsherrschaft und staatlicher Bevormundung zu heilen, das ist eine Aufgabe vor allem auch der Kultur.
Deshalb ist es sehr wichtig, Herr Stratmann, daß in diesem Vertrag der Kultur und ihrer Erhaltung, vor allen Dingen der Erhaltung der kulturellen Substanz, in der bisherigen DDR die ihr zustehende Bedeutung beigemessen wird. Es ist für die Menschen im anderen Teil Deutschlands von größter Bedeutung, daß sie das, was sie in den Nischen der Freiheit, die sie sich mühsam erschaffen haben, erhalten konnten, das Gewandhaus-Orchester in Leipzig, die Semper-Oper in Dresden, der Thomas-Chor und vieles andere, und weiterführen und gerade in diesen kulturellen Institutionen auch ihre eigene Identität und ihre eigene Kontinuität entdecken können.
Wenn wir über Prioritäten sprechen, so sind wir in der Bundesrepublik dank unserer 40jährigen Freiheit und dank unseres wohlgeordneten Staates verführt, vor allem die materiellen Prioritäten zu sehen. Es sind diese Prioritäten, die über den Erfolg des Zusammenwachsens wesentlich mit entscheiden.
Drittens. Die Einheit Deutschlands und die Einheit Europas werden zu einem europäischen Deutschland führen oder zumindest die Entwicklung dahin befördern. Das wird eine wachsende Bedeutung der Bundesländer zur Folge haben. Mit der wachsenden Bedeutung der Bundesländer wächst aber auch die Bedeutung ihrer Solidarität. Die Bundesländer — ich meine jetzt die aus der Bundesrepublik Deutschland — haben in den letzten Monaten den Einigungsprozeß, wie ich glaube zu Recht, zum Anlaß genommen, um auf ihre Funktion als Quelle staatlicher Souverä-
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Dr. Biedenkopfnität zu verweisen und ihre Rechte, ihre Zuständigkeiten entsprechend in Anspruch zu nehmen. Nur, wer mehr Rechte in diesem Prozeß haben will, hat auch mehr Verantwortung.
Die Teilung zwischen Rechten und Verantwortung in dem Sinne, daß die Länder die Rechte und der Bund die Verantwortung tragen, wird nicht zu dem gewünschten Ergebnis einer Stärkung der Stellung der Länder führen, sondern zum Gegenteil.Viertens. Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und der Gesellschaft in der bisherigen DDR wird sicherlich auch durch die Bereitschaft zur Investition bestimmt, aber Geld ist tot ohne die Fähigkeit der Menschen, mit ihm zu arbeiten, und die Menschen, die mit ihm arbeiten müssen, leben nicht hier, sondern auch in der bisherigen DDR. Deshalb kommt es darauf an, wie wir unsere Wirtschaftskraft und die Motivation und Leistungsfähigkeit der Menschen im noch anderen Teil Deutschlands zusammenführen.Ich kann Ihnen aus meiner Erfahrung jetzt in drei Aufsichtsräten von DDR-Unternehmen sagen, daß vieles von dem, was wir in der Bundesrepublik und in den Medien über die Bereitschaft der Menschen in der DDR lesen, so nicht stimmt. Es gibt sehr viel mehr Bereitschaft zum Einsatz, und es gibt ganz ungewöhnliche Kraft gerade der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaftsvertreter, ihrer Betriebsräte, wenn es darum geht, die Kernsubstanz von Unternehmen zu bewahren und sich von vielem anderen zu trennen. Was uns in Rheinhausen bewegt hat, was zur Besetzung von Autobahnen geführt hat, um die Arbeitsplätze zu sichern, wird von den Menschen in der DDR heute schon fast als eine Alltäglichkeit empfunden, weil sie wissen, daß die Last, die auf sie zukommt, viel größer ist, als wir es für möglich halten.
— Ja, einverstanden. Ich möchte noch weitergehen. Herr Roth, das Stichwort „Treuhand" steht hier, nur geht meine Redezeit zu Ende. — In Stichworten zwei Punkte. Privatisierung darf nicht nur heißen Übernahme von DDR-Unternehmen durch Unternehmen in der Bundesrepublik oder in Europa.
Wir müssen darauf hinarbeiten, daß möglichst viel Selbständigkeitsfähigkeit erhalten wird,
weil sonst die Eigenständigkeit verlorengeht. Die Treuhandarbeit muß darauf hinarbeiten, daß es Arbeitnehmerbeteiligungen an den Unternehmen gibt, daß die Arbeitnehmer möglichst frühzeitig die Chance haben, an den Erfolgen ihrer Aufbauarbeit auch im materiellen Sinne teilzuhaben und sich so mit der Aufgabe zu identifizieren.
Dafür brauchen wir auch eine Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Unternehmen, um diese Rahmenbedingungen, die man nicht nur durch Gesetz, sondern auch durch Tarifvertrag und gemeinsame Politik schaffen muß, zu leisten.In diesem Zusammenhang ein letzter Punkt: Es ist wichtig, daß die Eigentumsfrage geregelt worden ist. Ich höre jetzt schon, daß man das Bundesverfassungsgericht bemühen will. Ich möchte hier für meine Person jedenfalls feststellen, daß ich die Regelungen im Einigungsvertrag über die Eigentumsfrage als eine von uns als Gesetzgeber verbindlich vorgenommene inhaltliche Interpretation des Art. 14 des Grundgesetzes mit Zweidrittelmehrheit ansehe,
so daß ein Angriff auf die im Einigungsvertrag enthaltene Regelung beim Bundesverfassungsgericht im Ergebnis an dem Umstand scheitern muß, daß wir hier für diesen besonderen Problembereich mit Zweidrittelmehrheit abschließend festgelegt haben,
wie zwischen Individualinteresse und Allgemeinwohlbindung entschieden werden muß. Nur wenn dies feststeht, können wir die unselige Investitionsbarriere überwinden, die zur Zeit entstanden ist.
Meine Damen und Herren, die Deutschen in der DDR und wir haben eine große Chance. Die Menschen in der DDR werden nicht nur unserer Entwicklung nachlaufen. Sie werden vieles von sich aus neu aufbauen müssen, und Neuaufbau bedeutet immer die Möglichkeit, es besser zu machen. Es wird in manchen Bereichen die Möglichkeit geben, auch vorbildliche Lösungen zu finden, die sich wegen vieler Besitzstände in der Bundesrepublik nicht ohne weiteres haben durchführen lassen.Ich bin überzeugt davon, daß dieses Zusammenwachsen der Deutschen eine gegenseitige Befruchtung werden wird. Und Sie werden verstehen, wenn ich aus gegebenem Anlaß sage, daß dies vor allen Dingen bei Sachsen der Fall ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Oostergetelo.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer Einheit in Europa und in Deutschland will, darf die Freude vom November nicht enttäuschen. Solidarität endet nicht an nationalen Grenzen, schon gar nicht an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze.Unsere Landsleute auf dem Gebiet der Noch-DDR brauchen Perspektiven. Nach 40 Jahren Zwangsherrschaft müssen wir die Voraussetzungen für eine freiheitliche, eigenverantwortliche Politik schaffen. Vor allem die Menschen auf dem Lande wollten die schnelle Vereinigung. Das kann ich verstehen. Jeder
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17546 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Oostergetelovon uns, der die Verhältnisse in der DDR kennt, wird das verstehen.Die Menschen dort haben Bundeskanzler Kohl geglaubt: Keinem wird es schlechter gehen als vorher.
Tatsache ist aber — leider — : In der DDR sind über die Hälfte bis zwei Drittel der landwirtschaftlichen Betriebe illiquide; bis drei Viertel der Arbeitsplätze sind gefährdet. Das Schicksal der Menschen darf uns nicht kalt lassen. Das sage ich an die Adresse aller, besonders aber an die Adresse der Bundesregierung. Die Menschen dort brauchen Perspektiven, und sie müssen wissen, wie es weitergeht. Es genügt nicht, nur auf die 40jährige Mißwirtschaft hinzuweisen. Das stimmt sicher, doch jetzt ist schnelle Hife geboten, wenn man den totalen Ruin nicht will. Oder will man ihn — wie einige meinen?Art. 15 des Staatsvertrages ist in seinen Auswirkungen, zeitlich gesehen, katastrophal, weil er Strukturwandel quasi über Nacht verlangt. So ist z. B. das Preisniveau bei Milch vom 30. Juni auf den 1. Juli von 1,70 DM auf bis zu 55 Pfennig gefallen. Was würden wir sagen, wenn unsere Einkommen über Nacht um 60% zurückgenommen würden? Die Wirtschafts- und Währungsunion kam auf die Bauern, ihre Familien und die LPGen wie ein Fallbeil.Hinzu kam die Unsicherheit: Wie werden die Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden gelöst? Macht der Betrieb angesichts der hohen Schulden Konkurs, Schulden, die vielfach durch die Kommandowirtschaft der SED und ihrer Blockparteien entstanden sind?Inzwischen ist viel Zeit — leider viel zuviel — vergangen. Wir Sozialdemokraten in West und Ost haben immer darauf gedrängt, die Eigentumsverhältnisse rechtswirksam zu klären. Wir wollten und wollen damit die Investitionshemmnisse für die Entwicklung der Landwirtschaft, der Ernährungsindustrie und des Gewerbes im ländlichen Raum beseitigen. Jetzt endlich sind mit dem zur Beratung anstehenden Einigungsvertrag brauchbare Lösungen verankert. Darüber freuen wir uns alle. Das ist im wesentlichen auch auf die Beteiligung der SPD-Bundesratsmehrheit zurückzuführen.Das ist kein Grund zum ausruhen. Wir müssen die Regelungen des Einigungsvertrages schnell mit Leben füllen, die überdimensionierten LPGen entflechten und nach Möglichkeit auf Dorfebene zurückentwickeln und die Landwirtschaft insgesamt umweltgerechter gestalten. Es gibt hier eine große Chance. Vertun wir sie nicht! Damit Betriebe überhaupt überleben können, brauchen sie vor allem Zeit zur Umstellung. Das ist noch wichtiger als Geld. Sie brauchen Übergangsfristen.Die zögerliche Haltung der Bundesregierung, ihre wie ich finde, falsche Einschätzung der DDR-Landwirtschaft und der Agrarmärkte hat zu dem geführt, was wir jetzt vorfinden. Die Hereinnahme der landwirtschaftlichen Produkte in die EG erst zum 1. August 1990 bedeutet nach vierwöchigem Zwangshorten, z. B. bei Rindern und Schweinen, einen Zusammenbruch der Preise, Zahlungsunfähigkeit der Betriebe in der DDR sowie einen dramatischen Rückgang der landwirtschaftlichen Erzeugerpreise bei uns. Jeder weiß das. Wir sehen auch, daß sich das nun an den deutschen Grenzen weiter nach Westen verlagert. Das bringt hier viele Betriebe in Schwierigkeiten.Herr Minister, das wäre nicht nötig gewesen, wenn die Hilfen in der DDR in vereinfachter Form früher eingesetzt worden wären, längere Übergangsfristen vereinbart worden wären und man die Agrarprodukte gleich mit der Währungsumstellung in die EG hineingelassen hätte. Jeder, der ein bißchen von Landwirtschaft versteht, weiß, was vier Wochen Zwangshorten neben Tierquälerei und allem anderen bedeutet.Die Bauernverbände der DDR haben sich inzwischen die ursprünglichen Berechnungen der DDR-SPD zu eigen gemacht.
Sie forderten einen Nachtragshaushalt von 4 Milliarden DM noch für dieses Jahr. Damit sollen die größten entstandenen Engpässe beseitigt werden.Die Volkskammer unterstützt dies in seiner Gesamtheit und hat das am 24. August 1990 einstimmig beschlossen und die Regierung aufgefordert, Vorkehrungen zu treffen, um die Agrar- und Marktstrukturen beschleunigt verbessern zu können und die Anpassungshilfen zur Überbrückung der auf Grund des soeben von mir geschilderten Preiseinbruchs im Juli und August entstandenen Verluste gezielt erhöhen zu können. Ich habe dem eigentlich nichts hinzuzufügen. Dieser einstimmige Beschluß unterstreicht, wie richtig auch die Berechnungen meiner politischen Freunde in der DDR waren. Ihre Einschätzung war damals 9 Milliarden DM; der CDU-Chefunterhändler war mit 5 Milliarden DM zufrieden.Da hilft es auch nicht, durch den DDR-Ministerpräsidenten oder Herrn Krause abzulenken, indem man den Landwirten der DDR weiszumachen versucht, ihnen ständen 7 000 DM Liquiditätshilfe je Beschäftigten für 1990 zu. Das hätten der bisherige Minister und seine Staatssekretäre von der CDU und DSU verhindert. Richtig ist: Bundesminister Waigel hat lediglich 2 700 DM Liquiditätshilfe je Beschäftigten zugelassen. Das ist die Wahrheit. Noch unter SPD-Verantwortung wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß diese Mittel im August ausgezahlt werden konnten und im September ausgezahlt werden.Aber es ist, wie die Situation zeigt, auch klar: Eine abrupte Änderung des Wirtschaftssystems kann nur mit erheblichen Blessuren vor sich gehen, wenn nicht ausreichende Hilfen und eine angemessene Übergangszeit zur Verfügung stehen.Entflechtungen, Neugründungen von landwirtschaftlichen Betrieben als bäuerlicher Familienbetrieb, Genossenschaften, Kapital- und Personengesellschaften brauchen nun einmal Zeit. Wir traten und treten deshalb für eine Übergangszeit von drei bis fünf Jahren ein. Auch bei uns brauchen Entwicklungspläne — bei einer guten Verwaltung — zwischen einem halben und anderthalb Jahren. Man kann von denen nicht verlangen, das über Nacht zu machen, wenn man sie nicht kaputtmachen will. Meine
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OostergeteloFreunde, wenn wir die Übergangsfristen erreichen, sollten in dieser Zeit die bewährten Regelungen der DDR fortbestehen und Regelungen, die von den Förderbestimmungen in der Bundesrepublik Deutschland abweichen, weiter gelten.Ich weiß, daß ist ein bißchen technisch, meine Freunde. Aber das entscheidet über Tausende von Existenzen und über Abertausende Arbeitsplätze,
über die Anpassung der landwirtschaftlichen Betriebe und vor allem auch über die Anpassung der Ernährungswirtschaft an die marktwirtschaftlichen Bedingungen in Gesamtdeutschland und in der EG.Solche Übergangsregelungen galten beim Beitritt neuer Mitgliedstaaten in der EG bisher immer. Das muß doch auch bei der DDR möglich sein. Wir brauchen Hilfestellungen für die Vermarktungsbetriebe — Molkereien, Schlachtereien, Zucker- und Stärkefabriken usw. — , damit die DDR nicht nur zum Rohstofflieferant heruntergeführt wird. Dies kann nicht unser Interesse sein. Betriebsumstellungspläne dürfen in ihrer Kompliziertheit und ihrer Zeitfrage nicht so ausgelegt werden, daß die Betriebe die Umstellung deshalb nicht erreichen, weil sie vorher Pleite machen.Ein besonderes Augenmerk müssen wir auf die Neuordnung des Milchmarktes in der DDR richten. Wir können der DDR im ersten Halbjahr 1991 aber nicht einfach unsere Quotenregelung überstülpen. Ich habe in Oranienburg ein Milchpapier des BML gesehen, das das Schlimmste befürchten läßt. Wir würden damit die überdimensionierte, oft nicht standortgerechte und vielfach nicht umweltfreundliche Rinderhaltung zementieren. Was noch schlimmer ist: Wir würden damit eine Entflechtung und Neuordnung der Landwirtschaft und vor allen Dingen die Zusammenführung von Tier- und Pflanzenproduktion behindern. Was das auch ökologisch heißt, mag hier nur angedeutet sein. Wir würden den unter der Kommandowirtschaft der SED entstandenen Massentierhaltungsbetrieben Vermögenswerte zuschanzen, die nun wirklich nicht zu verantworten wären.Wir können und dürfen, meine Damen und Herren, die Quoten im nächsten Jahr nur auf Zeit vergeben. Die neu entstandenen Länder müssen sie in umfassendem Sinne zur Strukturverbesserung und Strukturneuordnung selber einsetzen können. Dies ist eine große strukturpolitische Chance für die neu entstehenden Länder, ohne daß es, Herr Biedenkopf, zu haushaltspolitischen Schwierigkeiten kommt, ohne daß hier etwas angerechnet wird. Das sind Vermögenswerte, wenn ich sie auf unseren Markt umrechne, in Höhe von mehr als 20 Milliarden DM.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Krey?
Bitte sehr.
Herr Kollege Oostergetelo, ich stimme Ihnen ja weitgehend zu, daß es auch aus ökologischen Gründen dringend geboten ist, daß sich die Struktur der DDR-Landwirtschaftsbetriebe ändert. Sie haben zuvor ausgeführt, daß jetzt alles darangesetzt
werden muß, um zu erreichen, daß die Betriebe erhalten bleiben. Können Sie diesen Widerspruch in Ihrer Auffassung für mich einmal deutlich machen? Welche Betriebe sind es denn, die angesichts der richtigen Forderungen, die Sie gestellt haben, erhalten bleiben sollen?
Ich denke, Herr Kollege, ich habe deutlich gemacht, daß Zeit für die Umstellung da sein muß. Ich habe die Milch deshalb als Beispiel genommen, weil sich hier etwas zementieren kann, was ich nicht will. Ich könnte mir vorstellen, daß es Vorteile für die gesamte Gesellschaft mit sich bringt, wenn sich ein Dorf zu seinem Betrieb, zu seiner Genossenschaft, die überschaubar ist, bekennt. Daneben muß die private Landwirtschaft selbstverständlich gefördert werden und gleiches Recht haben.
Es kann keine Zwangs-LPG auf Dauer geben.
Insgesamt müssen wir für die DDR-Landwirtschaft, wie ich finde, ein vertrauensvolles Klima schaffen. Die Menschen dort sind genauso tüchtig wie wir. Wir müssen ihnen bei einem fairen Übergang von der Kommando- zur Sozialen Marktwirtschaft behilflich sein. Schon bald muß sich die Arbeit im Stall und auf dem Feld wieder lohnen. Zu dieser vertrauensbildenden Maßnahme gehört heute in erster Linie eine Stabilisierung der Märkte. Es ist katastrophal, was sich dort draußen tut. Wir müssen vor allen Dingen die Überschüsse an Schweine- und Rindfleisch mit Exporterstattungen an Drittländer geben. Das muß jetzt für eine kurze Zeit sein; aber nicht morgen, sondern heute muß das passieren. Not- und Panikverkäufe dürfen nicht weiter am Beginn der Marktwirtschaft stehen. Das sind für die Landwirte in der DDR unzumutbare Zustände. Wir sind ihnen und uns gezielte Gegenmaßnahmen schuldig.Meine Damen und Herren, insgesamt bin ich sehr optimistisch. Bei allen Reibungsverlusten, die sich jetzt zeigen, meine ich, daß es innerhalb weniger Jahre möglich sein wird, aus einer überdimensionierten Struktur eine funktionsfähige Struktur zu entwikkeln. Wir müssen den Menschen für diesen Anpassungsprozeß nur genügend Zeit und ausreichende finanzielle Hilfen geben. Ich erinnere daran, daß die Betriebsgröße in der DDR im Schnitt 4 500 ha, in Europa und auch in Deutschland dagegen unter 20 ha beträgt.Dies alles muß von Programmen zur Entwicklung des ländlichen Raumes — hier wohnen 50 % der Menschen — und der Dörfer in der DDR begleitet werden. Die ursprüngliche landwirtschaftliche Schönheit ist in vielen Gegenden noch zu sehen oder zumindest wiederherstellbar. Wir müssen mit diesem Pfund wuchern und davor auf der Hut sein, es zu verspielen.Der Einigungsvertrag ist eine geeignete Grundlage für einen Neuanfang der DDR-Land- und -Ernährungswirtschaft. Das schließt natürlich erforderliche Anpassungen bei den jetzt gefundenen Regelungen im Laufe der Zeit nicht aus. Ich gebe hier keine billigen Vertröstungen ab, aber ich sehe eine große, vielleicht historische Chance, wenn die Intaktheit des ländlichen Raumes in den Mittelpunkt unseres Inter-
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Oostergeteloesses gestellt wird. Das heißt, daß sich Genossenschaften nach Möglichkeit auf Dorfebene zurückentwikkeln können und die Tiere zur Fläche zurückkommen, damit ökologisch verantwortbare Landbewirtschaftung gleich am Anfang der Umstellung steht,
private Landwirtschaft gefördert wird und durch die Förderung der Dorfentwicklung die Sozialfunktion des gesamten ländlichen Raumes gesichert wird.Ich freue mich, daß wir jetzt wieder zusammenkommen. Darum laßt uns gemeinsam helfen, die jetzigen Schwierigkeiten zu meistern. Das ist nicht nur unsere Pflicht, sondern das ist zugleich eine große europäische Chance. Wir sollten uns dieser Herausforderung gemeinsam stellen und auch nicht nur das Trennende betonen, sondern diese Aufgabe gemeinsam annehmen.
Nun hat der Abgeordnete Spilker das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zehn Monate nach der friedlichen Revolution im anderen Teil Deutschlands, in der heutigen DDR, liegt uns bereits der Einigungsvertrag vor. Wer hätte das am 9. November 1989 und in den folgenden Monaten für möglich gehalten? Dasselbe gilt für andere politische Entwicklungen, über die man berichten könnte, wäre nicht die zur Verfügung stehende Zeit ein Hemmnis.Nach dem Staatsvertrag über die Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den beiden Staaten und dem in den frühen Morgenstunden des 23. August erklärten Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist dieser Einigungsvertrag Grundlage zur Herstellung und vor allem Gestaltung der deutschen Einheit, die bekanntlich am 3. Oktober wirksam werden wird. Wenn wir heute — das ist mehrfach geschehen — den Verhandlungsführern beider Regierungen, nämlich Herrn Bundesminister Dr. Schäuble und Herrn Staatssekretär Krause, besonders danken — das tun wir sehr gerne — , dann soll dieser Dank auch den Mitarbeitern beider Delegationen, gleich, ob es sich dabei um bekannte oder unbekannte Mitarbeiter handelt, für ihre unermüdliche Mitarbeit an diesem Vertragswerk gelten; das möchte ich ausdrücklich sagen.Über tausend Seiten Text liegen uns heute vor, ein Vertrag, der — das kann ich den Worten von Frau Däubler-Gmelin entnehmen — die einmütige Zustimmung dieses Hauses finden wird.Es liegt auf der Hand, daß die Nachfolger der Machthaber von gestern in der DDR, die PDS, also die frühere SED, dem Vertragswerk in der Volkskammer nicht zustimmen werden. Die notwendigen Mehrheiten in der Volkskammer für den Einigungsvertrag, dessen Beratung morgen beginnt, wird es aber auch ohne sie geben. In Anlehnung an das, was Graf Lambsdorff hier heute vormittag sagte, möchte ich den Frauen und den Männern der PDS aber dringend raten, sich mit unsachlicher und geradezu häßlicherKritik an diesem Einigungsvertrag zurückzuhalten; denn diese Kritik steht ihnen nach 40 Jahren Diktatur, Machtmißbrauch, Unrecht und Gewalt mit Sicherheit nicht zu.
Wenn ich eben den Verhandlungsführern und den Mitarbeitern dankte, so möchte ich an dieser Stelle auch einmal an unsere Verfassungsväter erinnern,
die in weiser Voraussicht mit sehr viel politischem Feingefühl und hoher Verantwortung unser Grundgesetz erarbeitet haben,
das sich als Basis unserer demokratischen Ordnung erwiesen hat.Immer wieder haben wir über Jahrzehnte hinweg die Präambel aus gegebenem Anlaß oder auch ohne .Anlaß gelesen, deren letzten Satz ich einmal zitieren darf:Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.Dieser Satz der Präambel war für uns nie eine leere Formel oder gar eine zur Routine erstarrte Formulierung. Wir haben uns immer als Politiker der Freiheit und der Einheit Deutschlands verstanden und haben dieses hohe Ziel zur Maxime unseres Handelns gemacht.
Ich erwähne das, weil wir, wenn wir über die Gestaltung unserer Zukunft reden, Anlaß haben, auch an unsere Vergangenheit zu denken und an die, die uns von Anfang an geholfen haben, eine rechtsstaatliche Ordnung aufzubauen.Die politische Auseinandersetzung, meine Damen und Herren, um die Treue zu dieser oben zitierten Präambel unserer Verfassung, die teilweise mit großer, ja mit größter Schärfe geführt worden ist, soll uns heute zu der freudigen Feststellung kommen lassen. Wir als Deutsche haben vier Jahrzehnte gefordert, gewünscht, ja herbeigesehnt, was nun Wirklichkeit wird: die Einheit unseres Vaterlandes.Wir werden dem Vertragswerk zustimmen. Ich freue mich, daß es für dieses Werk eine breite Mehrheit geben wird, weil das auch für die deutsche Einheit ein hohes Gut ist. Wir freuen uns und werden auch nach dem Beitritt alles tun, um mit den Schwierigkeiten fertig zu werden, die wir im anderen Teil Deutschlands nach 40 Jahren Diktatur, Unfreiheit und Sozialismus noch haben — Frau Kollegin DäublerGmelin hat heute früh darauf hingewiesen. Ich darf noch etwas dazu sagen: Die Freiheit haben sich die Bürger der DDR friedlich erkämpft. Wir wollen diese Freiheit gemeinsam mit ihnen gestalten und den Menschen das Bewußtsein vermitteln, daß sie in einem freiheitlich-sozialen Rechtsstaat leben, in dem es uneinschränkbare Rechte gibt, aber auch Pflichten, die wir hier nicht übersehen sollten.Dies zu regeln, meine Damen und Herren, dauert länger als Tage oder einige Wochen. Allein für den
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SpilkerAbbau der sozialistischen Strukturen brauchen wir länger. In der Zwischenzeit warten die Bürger der DDR mit hohen Erwartungen auf den Vollzug der Einheit. Wir werden die Politik im zukünftigen Deutschland gemeinsam, meine Damen und Herren, so gestalten, daß die Bürger der DDR nicht enttäuscht werden. Sie dürfen nicht enttäuscht und sie werden auch nicht enttäuscht werden.
Das ist das große Ziel unserer Politik der Zukunft.
Bei all der Freude, die ich vielleicht gar nicht angemessen zum Ausdruck bringen kann, gibt es einzelne Punkte des Vertrages, die Freunde und Kollegen von mir bedrücken, beschweren. Die Regelungen zum Schutz des ungeborenen Lebens im Einigungsvertrag halten sie für nicht akzeptabel. Ich sage das hier mit sehr viel Ernst, meine Damen und Herren, weil hier Gewissensgründe — man sollte diese nicht immer heranziehen — , die wir einfach zu respektieren haben, die entscheidende Rolle spielen.Das gilt auch für die Regelungen in dem Vertrag zu den Eigentums- und Vermögensfragen vor allem zu den rechtswidrigen Enteignungen, die zwischen 1945 und 1949 in der DDR stattgefunden haben. Verehrter Herr Kollege Biedenkopf, das ist natürlich eine schwierige Situation. Wir können uns über das Grundgesetz, über die Ergänzung des Grundgesetzes mit dem neuen Art. 143 und im Zusammenhang mit Art. 14 GG und über anderes unterhalten. Vielleicht sollten wir das einmal tun, und zwar in der Art, wie wir das über Jahrzehnte hinweg gewohnt sind. Aber ich muß ehrlich sagen: Ich teile Ihre Meinung nicht.Nach der Gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung und der DDR vom 15. Juni sind rechtswidrige Enteignungen nicht mehr rückgängig zu machen. Es gibt dazu eine Erklärung der Sowjetunion und der DDR, die feststellen, daß es keine Möglichkeit gibt, die damals getroffenen Entscheidungen zu revidieren. Die Bundesrepublik Deutschland hat dies zur Kenntnis genommen; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie ist der Auffassung, daß es in einem künftigen gesamtdeutschen Parlament eine abschließende Entscheidung über etwaige staatliche Ausgleichsleistungen geben muß.
Das ist ein wahrlich hoher Preis, und die Frage lautet: Kann man das so hinnehmen?Graf Lambsdorff erwähnte heute früh, daß wir als Politiker wiedereinmal vor der Entscheidung stehen, einem Vertragswerk zuzustimmen oder nicht. So wird es sicherlich zu dieser Frage Erklärungen, vielleicht auch Entschließungen geben, weil es da andere Positionen gibt.Auch ich habe große Schwierigkeiten; denn wir sprechen — das ist unbestritten, auch zwischen uns — über rechtswidrige Eingriffe in das Eigentum, über willkürliche Enteignungen zwischen 1945 und 1949. Wenn hier Besatzungsrecht — übrigens ein merkwürdiges Wort —, Besatzungshoheit herangezogen wird, dann wird dieses Unrecht nicht zu Recht. Auch wir können aus dem Unrecht der Vergangenheit durchBeschluß kein Recht machen, meine Damen und Herren. Das steht uns nicht zu.Es gibt nationales und es gibt internationales Unrecht. Beidem wollen wir uns nicht beugen. Wer gäbe uns eigentlich das Recht, das Unrecht — so sehe ich das — festzuschreiben?Ich sehe, Herr Präsident, Sie beobachten mich mit strengen Augen. Das heißt: Ich muß zum Ende meiner Rede kommen.
Da kann ich nicht widersprechen!
Ich hätte noch gern etwas zu Ihnen, Herr Walther, gesagt, zu Ihrer Prophezeihung über die Schuldenentwicklung, eine Entwicklung, die wir bei Ihnen gewohnt sind und nicht bei uns.
Ich wollte auch noch zu der Diskussion über Kosten, über Kosten der Einheit Stellung nehmen. Ich hoffe, daß mein Freund Wissmann das noch übernehmen wird. Lassen Sie mich jetzt nur sagen: Ist das eigentlich die Frage, die Kernfrage dieser Stunde? Was wollen wir eigentlich? Wollen wir hier rechnen, oder wollen wir alles tun, die Einheit herbeizuführen und die Zukunft dieses gemeinsamen Vaterlandes zu gestalten?
Das ist die Fragestellung dieser Stunde!
Damit, Herr Präsident, bin ich — sicherlich zu Ihrer Freude — endgültig beim Schluß.
Herr Abgeordneter, Sie haben meine Gefühlslage durchaus erfaßt.
Wir freuen uns über die Freiheit der Bürger in der DDR, die sie sich selbst erkämpft haben. Wir wollen die Einheit unseres Vaterlandes, die sie sich auch erkämpft haben. Wir wollen gemeinsam mit ihnen die deutsche Einheit gestalten, in der glückliche Menschen in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben.
Ich danke Ihnen.
Nun hat das Wort der Abgeordnete Wüppesahl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Eingangs möchte ich drei Vorredner beim Wort nehmen. — Herr Haussmann führte aus, daß nach seiner Meinung die Einführung der Marktwirtschaft in der DDR ausgesprochen erfolgreich verlaufen sei. Ich weiß nicht, was erfolgloser sein kann als dieses Unternehmen, das in der DDR zur Zeit Raum greift.Der Zusammenbruch — so hat der Kollege Roth völlig zutreffend ausgeführt — des Wirtschaftskreislaufs ist ausgenblicklich in vollem Gange. Dieser wirtschaftliche Zusammenbruch ist noch nicht einmal abgeschlossen. Wir sind mitten in diesem Prozeß drin und haben jetzt schon eineinhalb Millionen Arbeitslose, wenn man die Schwarzzahlen herausrechnet.
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17550 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
WüppesahlHerr Lambsdorff hilft bei der Gesundbeterei des Prozesses, der am Ende mit Sicherheit mehr als 3 Millionen Arbeitslose produzieren wird, noch kräftig mit. Er verkündet erneut an dieser Stelle große Freude für das deutsche Volk über die Vorgänge in der DDR und meint damit im besonderen auch die wirtschaftlichen Vorgänge. Große Freude zum 18. März, große Freude jetzt zum 3. Oktober und große Freude zum 2. Dezember,
während gleichzeitig der DDR-Originalton ganz andere Stimmen anschlägt.
Das ganze Haus müßte eigentlich „Hosianna! " rufen, und tatsächlich ist der Zusammenbruch in der DDR festzustellen.
Sie müssen bei Ihren wirtschaftlichen Daten, die Sie unserer Bevölkerung ständig verkaufen, endlich dazu kommen, auch die Gesamtbilanz aufzumachen. Zur Gesamtbilanz gehört eben nicht, daß man sagt: „Die bundesdeutsche Wirtschaft boomt, wir haben hier ein tolles Wachstum, die Arbeitslosenstatistik wird reduziert" , sondern dazu gehört, daß man sagt: Das Wirtschaftswachstum in Gesamtdeutland — DDR alt und Bundesrepublik in der jetzigen Fassung — sinkt, die Arbeitslosigkeit steigt in einem Maße, wie wir es seit dem Kriegsende noch nie gehabt haben.Das sind die Fakten, und diese Fakten haben wir nur deshalb zu konstatieren, weil diese Bundesregierung die Einführung der Marktwirtschaft in der DDR mit einem Urknall bewerkstelligt hat, mit einer Übergangszeit vom 30. Juni dieses Jahres auf den 1. Juli dieses Jahres. — Das sind die Fakten, meine Damen und Herren!Gleichzeitig muß man Ihnen vorhalten: Zu Zeiten sozialliberaler Regierungskoalitionen wurde diesen seitens der CDU/CSU und der FDP oftmals — meist zu Recht — eine unsolide Finanzpolitik vorgeworfen. Doch was die Bundesregierung in punkto Finanzierung der deutschen Einheit betreibt, ist nicht nur unsolide, sondern halsbrecherisch. Es ist ein halsbrecherischer Einheits-Amoklauf, der dort veranstaltet wird.Noch am 4. September dieses Jahres tönten die Regierungsparteien, es werde keine Steuererhöhungen geben. Gleichzeitig wird ein dritter Nachtragshaushalt aufgelegt, bei dem die einen davon ausgehen, zehn Milliarden DM könnten reichen, und die anderen 25 Milliarden DM fordern.Trotz aller möglichen Genmanipulationen dürfte es Herrn Minister Waigel nicht gelungen sein, einen dukatenabsondernden Esel zu züchten. Woher also nehmen, wenn nicht stehlen? Sagen Sie es bitte in aller Deutlichkeit: Steuererhöhungn stehen an.Der Einigungsvertrag, der ein neues Staatswesen begründet, hätte die Möglichkeit geboten, Altlasten,wie z. B. das politische Strafrecht der Bundesrepublik, über Bord zu werfen und auf der anderen Seite neue Gesetze, wie z. B. die Einführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung oder ein Antidiskriminierungsgesetz für Frauen, so wie ich es bereits für den ersten Staatsvertrag gefordert hatte, aufzunehmen. Selbst auf dieser Ebene werden gute und große Möglichkeiten vertan.Nicht ohne Grund hat der DGB hinsichtlich des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes — besser bundesdeutsches „Antistreikgesetz" tituliert — die Parteien aufgefordert, die Fassung des AFG der DDR zu übernehmen. Warum macht die SPD-Bundestagsfraktion eine solche Forderung des DGB nicht zu einem Muß für ihre Zustimmung zum Einigungsvertrag?Dort, wo im alten DDR-Recht, gemessen am bundesdeutschen Recht, Verbesserungsbedarf besteht, wird viel zu häufig altes DDR-Recht aufrechterhalten. Dies gilt zum Beispiel für die kürzeren Kündigungsfriste für Angestellte, aber auch die eingeschränkte Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle.Die Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger der DDR brauchen dringend finanzielle Hilfe. Die Bundesregierung sollte dies den Bürgern endlich klarmachen. Sie sollte auch sagen, wie das finanziert werden wird. Es wird Steuererhöhungen in der Bundesrepublik geben müssen.Weshalb macht die SPD nicht z. B. die Verwirklichung des Art. 146 des Grundgesetzes zu einem unverzichtbaren Essential des Einigungsvertrages? Statt dessen gibt sich die Oppositionspartei mit der im Einigungsvertrag ausgesprochenen Empfehlung zufrieden, man möge doch sehen, ob man es nicht eventuell ins Auge fassen könnte, das Grundgesetz ein wenig zu ändern. Von diesen einmaligen Möglichkeiten, eine moderne Verfassung zu schreiben, bleibt im Einigungsvertrag lediglich die Empfehlung, man möge so etwas doch eventuell ins Auge fassen. Gründe für eine moderne Verfassung gibt es doch genügend. Warum fordert die SPD, wo doch im Einigungsvertrag das Grundgesetz schon angetastet wird — die SPD-Bundestagsfraktion ist hier im besonderen gefordert, weil bei den politischen Kräfteverhältnissen, die zur Zeit bestehen, nur sie die Möglichkeit besitzt, über den Bundesrat ein Veto einzulegen — , nicht die Einführung des Schutzes der Umwelt als Grundrecht? Warum wird der Datenschutz nicht ganz anders verankert, nachdem das Verfassungsgericht bereits Verfassungsrecht gesprochen hat? Was ist mit der von Oskar Lafontaine versprochenen ökologischen Umgestaltung der Industriegesellschaft? Statt dessen geht es weiter in die ökologische Katastrophe, und dies mit rasendem Tempo.Warum sorgt die mitverhandelnde SPD nicht dafür, den in der DDR derzeit bestehenden Rechtsanspruch auf Kindereinrichtungen auch für das zukünftig geeinte Deutschland anzustreben? Von der konservativen und liberalen Seite des Hauses hören wir ständig, die Eigeninitiative in der DDR sei gefordert. Ich möchte einmal sehen, welchen Spielraum für Eigeninitiative eine Frau in der DDR mit zwei Kindern jetzt
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Wüppesahlhat, die Alleinerziehende ist, wenn gleichzeitig Kindertageseinrichtungen aufgegeben werden.
Diese Fakten und die Tatsache, daß die Verhandlungen über den Einigungsvertrag formal zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, real aber zwischen der SPD-Führung und den sozialdemokratisch regierten Ländern stattfinden, bestätigt in erschreckender Weise, wie sehr sich die SPD beim Plattwalzen der DDR beteiligt und dabei gleichzeitig ihr politisches Profil und ihr Programm liquidiert. Dem enthält sich auch nicht der als Hoffnungsträger der Linken stilisierte SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine. Ich zitiere: „Ich finde es gut, daß die Bundesregierung begriffen hat, daß sie die Verhandlungen mit uns als SPD führen muß. " Während der letzten Wochen saß die DDR-Verhandlungsdelegation aber nur noch in der dritten Reihe. Deshalb, meine Damen und Herren, werden Sie auch für die weiteren Entwicklungen in der DDR die Verantwortung seitens der SPD nicht abstreiten können.Doch worüber hat die SPD zu verhandeln? Was bringt sie ein, wenn sie sich schon als gesamtdeutscher Anwalt der Bürgerinteressen aufspielt? Was sie alles versäumt, habe ich zum Teil bereits ausgeführt, und es ist noch so viel mehr.Die in der DDR bestehenden Regelungen des Urlaubs für die Betreuung erkrankter Kinder müssen im Interesse der Kinder und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer gesichert werden. Wo bleibt dabei die Sozialdemokratie?Warum setzt sich die SPD nicht für ein einheitliches Schulsystem mit einer zehnjährigen Schulpflicht ein, wie es zur Zeit in der DDR besteht? Gibt es nicht eine solche Forderung im SPD-Programm?
— Ich bitte Sie, Frau Schmidt, in diesem Einigungsvertrag wird das komplette bundesrepublikanische Recht auf die DDR übergestülpt.Warum sind Sie denn nicht in der Lage, bestimmte Änderungen auch in der Bundesrepublik aufzunehmen, wenn es so wäre, wie Herr Hirsch und Herr Bernrath hier gesagt haben, daß es zwischen DDR-Kultur und BRD-Kultur einen Austausch geben muß? Auch Herr Professor Biedenkopf hat das noch einmal angesprochen. Das sind schöne Worte. Faktisch bleibt davon doch nichts übrig, wenn man sieht, was zur Zeit in der DDR seitens der Bundesregierung veranstaltet wird.Warum setzt sich die SPD nicht für den Beibehalt der Möglichkeit des Hochschulzugangs für Berufstätige ein, warum nicht für die Erweiterung der Angebote der Weiterbildung durch die Hochschulen der DDR? Warum sorgt die SPD nicht dafür, daß bei Schaffung eines gemeinsamen Arbeitsrechtes die bisherige Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten endlich aufgehoben wird und durch einen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff ersetzt wird? Sozialdemokratische Funkstille außer unqualifizierten Zwischenrufen!Deren Genossen beim DGB bleiben sich treu. Der DGB und sein Sprecherrat fordern nicht nur die meisten der von mir soeben angeführten Punkte. Sie fordern vielmehr den Erhalt der für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer günstigeren Vorschriften des geltenden Arbeitsrechtes der DDR bis zur Schaffung eines einheitlichen Arbeitsgesetzbuches. Da hätten Sie strategisch doch einen Hebel, um solche Forderungen, ähnlich wie beim Abtreibungsrecht zumindest für zwei oder fünf Jahre, in diesem Fall vielleicht noch länger, aufrechtzuerhalten.Auch ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber wäre eine Forderung seitens der SPD-Bundestagsfraktion und der Partei. Doch die sozialdemokratischen Genossen im DGB warten vergebens auf Unterstützung ihrer Regierungs- und Führungsgenossen in Bonn.
— Das ist kein dummes Zeug. Das sind Fakten, die ich hier darstelle. Äußern Sie sich doch sachlich dazu!Warum streitet die SPD nicht für ein Arbeitsvertragsrecht in einem überschaubaren Gesetzeswerk, damit die zersplitterten und teilweise antiquierten Bestimmungen des bundesdeutschen Rechts abgelöst werden?Ich komme zum Schluß, weil meine Redezeit leider wieder so kurz bemessen ist.
— Ist das ein Plädoyer gewesen, daß ich länger reden darf? Habe ich das richtig verstanden?
Nein, Herr Abgeordneter, das haben Sie nicht richtig verstanden. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Ihre Redezeit in der Tat abgelaufen ist. Bitte, kommen Sie zum Schluß.
Herr Präsident, dieses Parlament hat es wirklich verdient, eine Linke Liste/ PDS mit einem Gysi und Hans Modrow zu haben. Das zeigt auch der Ablauf der heutigen Debatte.
Nunmehr hat die Abgeordnete Frau Unruh das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Volksvertreterinnen und Volksvertreter! Der Einigungsvertrag liegt auf dem Tisch. Ich werde diesem Einigungsvertrag selbstverständlich zustimmen; denn erst nach dem Einigungsvertrag wird die politische Auseinandersetzung überhaupt glaubwürdig. Dann sitzen nämlich die ehemaligen DDRler hier unter uns, und dann werden wir uns fetzen, was wohl das Beste für die Menschen ist. Das jetzige Trauerspiel tut nicht nur im Herzen, sondern auch im Kopf weh.Was heute alles gelaufen ist! Sie mögen es ja alle gut meinen; aber Sie machen die Rechnung immer, ohne zu berücksichtigen, daß es in der Volkskammer eine
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Frau UnruhZweidrittelmehrheit gegeben hat. Das sollten wir achten. Auch hier wird es eine Zweidrittelmehrheit geben. Das wird dann genauso geachtet.Wir sitzen ab 2. Dezember alle schön zusammen. Dann wird es einfache Mehrheiten geben. Ich bin davon überzeugt: Wer überhaupt an Zukunft glaubt, wird erleben, daß sich — verehrte Frau Dr. HammBrücher, Sie werden das am Fernsehschirm sehen oder im Rundfunk hören — Ihr Einsatz für mehr Demokratie und andere parlamentarische Rechte sehr wohl durchsetzen wird; denn die große Aufbruchstimmung herrscht insgesamt bei der Bevölkerung, ob Sie das glauben oder nicht.Die DDR-Strategie ist zur Zeit total kaputt. Das stimmt auch. Die Menschen wissen in ihrer Arbeitslosigkeit nicht, wohin. Doch man ist dort drüben sehr verblüfft, daß nach wie vor das Berufsbeamtentum eingeführt werden soll, wie es hier besteht. Selbst wir können es nicht mehr bezahlen, aber Sie Betonköpfe ändern sich absolut nicht. Sie geben nicht einen Hinweis — da bedauere ich die FDP — , wie man die Milliarden, die verschwendet werden, z. B. auch bei Pensionen, besser nutzen könnte. Wenn Sie lesen, daß 28jährige in Pension geschickt werden, und wenn Sie auf der anderen Seite sehen, daß die Menschen arbeitslos werden — nur weil sie Arbeiter oder Angestellte sind — , dann müssen Ihnen doch die Köpfe rauchen, wenn Sie daran denken, ob Sie das weiter durchhalten können. Mit einer gewissen Mehrheit hier im Parlament werden wir das auch entsprechend ändern.Wie ich der Presse heute entnehme, hat ein grüner Pressesprecher oder Fraktionssprecher Herrn Gysi gewarnt, z. B. mich zu nehmen,
sonst wäre Gysis Partei bald kaputt.
— Nun lassen Sie doch einmal diese Späßchen. Die GRÜNEN wissen doch sowieso nicht, was sie tun. Erstens ist Gregor — so heißt er, glaube ich — Gysi überhaupt nicht mein Typ,
zweitens bestimme ich immer noch, wem ich mein Herz schenke,
und drittens finde ich es natürlich wunderbar, welch eine Kraft man mir als 65jähriger zutraut, eine 350 000 Mitglieder starke Partei einfach in acht Tagen einzukassieren. Aber ich kann Ihnen eines versichern: Mein bißchen Kraft reicht noch dazu, die GRAUEN, initiiert vom Senioren-Schutzbund Graue Panther, über 5 % zu bringen. Das glauben Sie mir!
— Ach Gott, Behindertenreferent, komm, halt die Klappe. Ich muß es wieder sagen.
Diese Täuschungsmanöver! Wenn Sie sich draußenBlech ans Hemd kleben lassen, und wenn man inWirklichkeit sieht, daß die Behindertenpolitik ganz schief in Ihren Händen liegt, dann meine ich schon, es ist ganz dringend nötig, daß es eine neue politische Kraft gibt, auch in der DDR.Ich bin total überrascht, daß, wenn wir dort mit einem Info-Stand stehen, die Menschen zu uns drängen und einfach sagen: Ihr müßt irgendwie kommen. Irgendwie haben wir das Gefühl, daß ihr Alten ein natürliches Verbundsystem mit den weisen Jungen bildet. — Es gibt ja auch weise GRÜNE; nur, man muß sie mit der Lupe suchen. Es gibt auch junge SPDler, aber ob die weise sind, weiß ich nicht. Aber was Sie insgesamt angeht, so weiß ich nicht, wo Ihre Weisheit sitzen soll.
Aber davon abgesehen: Zusammen mit unseren Jungen werden wir über 5 % kommen. Ich glaube, es besteht die Hoffnung, daß Alte, die anders denken, und Junge, die anders denken, zusammen sehr wohl die Kraft haben, dann in diesem Parlament etwas zu ändern.Wenn ich lese, was das „Deutsche Sonntagsblatt" schreibt: Graue Panther überall und als Graue Panther z. B. Herr Lambsdorff, Herr Genscher, Herr Dregger, Herr Mischnick erwähnt werden, dann tut mir das in der Seele weh.
Wo haben die denn überhaupt Graue-Panther-Gefühle?
Haben die jemals auch nur ansatzweise gekämpft, damit diese soziale Ungleichheit wegkommt? Die haben in 40 Jahren Bundesrepublik Deutschland nicht nur ihr Herz vergessen, sondern die haben, glaube ich, auch ihren Verstand irgendwo gelassen; ja Gott, vielleicht bei den Diäten, ich weiß es nicht.Zum Beispiel ein junger Grauer Panther von 38 Jahren, ein Schichtarbeiter, der seit zehn Jahren GrauePanther-Arbeit macht, hat ein ganz kurzes Wort geprägt: Grauer Panther sein, heißt nicht alt sein, sondern kämpfen. Das können Sie sich hinter die Ohren schreiben. Ich als 65jährige habe noch die Kraft, zusammen mit den jungen Leuten zu kämpfen, jetzt auch in der DDR. In der DDR fragt man sich jetzt: Gysi, waren die das von der SED, was wollen die jetzt? Was wollt ihr jetzt in der BRD? Ihr wollt jetzt Stasi-Leute zu Beamten machen, und Parteilose werden herausgedrängt? Die sollen jetzt z. B. nicht mehr Lehrer werden dürfen. Darüber ist man sich im Klüngel einig. So einen Klüngel gibt es überall, nicht nur in Köln.Aber ich meine, wer die Herzen in der DDR überhaupt ein bißchen verstehen will, muß den Menschen Mut machen, z. B. auch einer neuen Partei beizutreten. Diese Menschen haben genausoviel Angst wie wir nach dem Hitlerreich, überhaupt einer Partei beizutreten. Die SPD hat finanziell nicht soviel abgeschmiert wie etwa die CDU oder die FDP. Ich glaube, bei Ihnen ist das ein bißchen weniger.
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Frau Unruh— Sie kriegen gar nichts? Warum betonen Sie das eigentlich nicht stärker? Haben Sie etwa auch irgendwo eine Clique?
Ich höre immer: Irgendwo zweigen die noch etwas für sich ab. Deshalb frage ich Sie ja. Nun habe ich die Gelegenheit, einen Grauen-Panther-Vogel kennenzulernen, einen kleinen, mit Hut. Die SPD kriegt also gar nichts.
Das ist doch lupenrein.Aber man darf schon ein bißchen fragen, Herr Mischnick. Sie sind ja nicht von vorgestern. Sie haben jetzt viele Parteimitglieder und viel Geld bekommen. Ich gönne es Ihnen ja; aber es muß reell sein.Aber wir als junge Partei haben überhaupt kein Geld. Wir müssen Unterschriften sammeln. Überlegen Sie sich das einmal. In der DDR haben sie getönt: Neues System — ihr braucht nicht. Wir, die wir jetzt die neue Demokratie wagen, hier und dort, müssen ran. Wir sammeln die Unterschriften. Die Menschen— das ist wieder bundesrepublikanische Wahrheit — haben teilweise Angst, so etwas zu unterschreiben. Hier in unserem Lande ist noch etliches zu regeln. Aber Gott sei Dank haben wir Grauen das Vertrauen draußen bei den Menschen. Sie stehen an unseren Unterschriftenständen Schlange. Freuen Sie sich deshalb schon auf die nächste Fraktion DIE GRAUEN. Wann denn? — Ab 3. Dezember im Deutschen Bundestag.
— Dann habt ihr etwas verloren.
Aber die Trude Unruh ist ja noch nicht gestorben. Die Landtagswahlen gehen sofort weiter. Sie haben ja gehört, wie wichtig der Föderalismus ist. Dafür braucht es ganz vieler Trude Unruhs, à la Biedenkopf. Trude Unruh ist ja nur ein Synonym für Kampfbereitschaft, für Gerechtigkeit, für Herz und sogar für Verstand. Die Frauenquote von 50 % ist bei uns Pflicht. Das ist selbstverständlich. Auch im Zusammenhang mit § 218 — —
Frau Abgeordnete Unruh, es scheint Ihrer Aufmerksamkeit entgangen zu sein, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich will nur kurz noch etwas zum § 218 sagen. Wir haben hier keine Schwierigkeiten. In unserem 20-Punkte-Programm ist die Fristenregelung bis zwölf Wochen enthalten und der Abbruch in der Klinik auf Krankenschein. Die Frau braucht niemandem zu begründen, warum. Ich als alte Frau weiß, wie die jungen Frauen zu schützen sind.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende unserer Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell ist vereinbart worden, den Gesetzentwurf zum Einigungsvertrag, vorliegend auf Drucksache 11/7760 zur federführenden Beratung an den Ausschuß Deutsche Einheit sowie zur Mitberatung an die übrigen in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Die Vorlagen auf den Drucksachen 11/7762 , 11/7763, 11/7756, 11/7766 (neu), 11/7764 und 11/7780 sollen ebenfalls an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse überwiesen werden.Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, die Anträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/7792 und 11/7793 ebenfalls heute zu behandeln.Der Antrag auf Drucksache 11/7792 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß Deutsche Einheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und an den Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden.Der SPD-Antrag auf Drucksache 11/7793 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß Deutsche Einheit und zur Mitberatung an den Innenausschuß überwiesen werden.Gibt es weitere Vorschläge? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.Ich rufe nunmehr Punkt 2 der Tagesordnung sowie Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:2. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen— Drucksache 11/7736 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/7584 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GOZP2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Such, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes
— Drucksache 11/7142 —Überweisungsvorschlag: Innenausschuß
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17554 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Vizepräsident Cronenbergc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ehmke , Fuchs (Verl), Horn, Erler, Gerster (Worms), Jungmann (Wittmoldt), Dr. Klejdzinski, Kolbow, Leidinger, Dr. Nöbel, Opel, Steiner, Weiler, Zumkley, Dr. Götte, Koschnick, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDÄnderung des Übungskonzeptes der Bundeswehr und des Bündnisses und Absage der Stabsrahmenübung WINTEX/CIMEX 1991— Drucksache 11/6327 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß Auswärtiger AusschußInnenausschußd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Niehuis, Bindig, Brück, Großmann, Dr. Hauchler, Dr. Holtz, Kolbow, Luuk, Dr. Osswald, Schanz, Schluckebier, Toetemeyer, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDGrundbildung in der Entwicklungszusammenarbeit— Drucksache 11/7468 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist dies so beschlossen.Ich rufe nunmehr Punkt 3 der Tagesordnung auf: 3. Beratungen ohne Aussprachea) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften über den Jahresabschluß und den konsolidierten Abschluß von Banken und anderen Finanzinstituten
— Drucksache 11/6275 —Beschlußempfehlung und Bericht desRechtsausschusses
— Drucksache 11/6786 —Berichterstatter:Abgeordnete Helmrich Stiegler
b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung— Drucksache 11/6004 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/7730 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Steinhauer
c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats— Drucksache 11/6241 —Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
— Drucksache 11/7679 —Berichterstatter:Abgeordnete Schwarz Dr. SoellDr. FeldmannFrau Beer
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Erler, Büchner (Speyer), Diller, Gerster (Worms), Dr. Götte, Ibrügger, Koschnick, Dr. Kübler, Leonhart, Müller (Pleisweiler), Pauli, Dr. Pick, Reimann, Dr. Scheer, Scherrer, Sielaff, Terborg, Adler, Weiler, Bahr, Fuchs (Verl), Horn, Dr. Klejdzinski, Dr. Soell, Stobbe, Verheugen, Voigt (Frankfurt), Dr. von Bülow, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Unterrichtung von Öffentlichkeit und Parlament über die Planung und Vorbereitung des Abzugs amerikanischer C-Waffen aus der Bundesrepublik Deutschland— Drucksachen 11/6310, 11/7452 —Berichterstatter:Abgeordnete Erler Francke
Es handelt sich um eine Reihe von Vorlagen, über die abgestimmt werden muß.Zunächst zum Tagesordnungspunkt 3 a: Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bankbilanzrichtlinie-Gesetzes. Dazu liegen Ihnen die Drucksachen 11/6275 und 11/6786 vor.Ich rufe die Art. 1 bis 13, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind diese Vorschriften bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
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Vizepräsident CronenbergWir treten in diedritte Beratungein und kommen damit zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist auch in der dritten Lesung der Gesetzentwurf bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 3 b, zur Einzelberatung und Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung. Dazu liegen Ihnen die Drucksachen 11/6004 und 11/7730 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Wir treten nunmehr in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist das Gesetz bei Enthaltungen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 3 c: Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Diese Vorschriften liegen Ihnen auf den Drucksachen 11/6241 und 11/7679 vor.Ich rufe die Art. 1 bis 4 sowie Einleitung und Oberschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Die aufgerufenen Vorschriften sind bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Damit ist das Gesetz bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 3 d und stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 11/7452 zum Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6310 ab. Es handelt sich um die Unterrichtung von Öffentlichkeit und Parlament über die Planung und Vorbereitung des Abzugs amerikanischer C-Waffen aus der Bundesrepublik Deutschland.Der Ausschuß empfiehlt Ihnen, den Antrag für erledigt zu erklären. Wer stimmt der Beschlußempfehlungdes Ausschusses zu? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist diese Beschlußempfehlung des Ausschusses mit den Stimmen der Koalition von CDU/CSU und FDP, gegen die Stimmen der GRÜNEN und gegen einige Stimmen aus der SPD-Fraktion bei Enthaltung des überwiegenden Teils der SPD-Fraktion angenommen worden.Meine Damen und Herren, ich rufe nun Punkt 4 der Tagesordnung und Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:4. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Dauer des Grundwehrdienstes und des Zivildienstes— Drucksache 11/7781 —Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuß
InnenausschußAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit HaushaltsausschußZP3 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNENUmgestaltung des Zivildienstes im Sozialbereich — Maßnahmen zum Schutz der Kriegsdienstverweigerung— Drucksache 11/7772 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
InnenausschußVerteidigungsausschußHaushaltsausschußInterfraktionell wird Ihnen empfohlen, einer Debattenzeit von einer Stunde zuzustimmen. Wenn sich kein Widerspruch erhebt — dies scheint der Fall zu sein — , dann habe ich das als beschlossen festzustellen und kann die Debatte eröffnen.Zunächst einmal hat der Abgeordnete Hauser das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! In meiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 26. April dieses Jahres habe ich die Absicht meiner Fraktion angekündigt, den Wehrdienst auf zwölf Monate zu verkürzen. Ich freue mich, nun heute den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Regelung der Dauer des Grundwehrdienstes und des Zivildienstes einbringen zu können. Wir haben damit unsere Absicht vom Frühjahr dieses Jahres in die Tat umgesetzt.Am 30. September werden neben denjenigen Soldaten, die 15 Monate Grundwehrdienst geleistet haben, auch alle die Soldaten entlassen, die bis dahin zwölf Monate gedient haben. Am gleichen Tag werden die Zivildienstleistenden, die 15 Monate und mehr Zivildienst hinter sich haben, ihren Dienst beenden.Künfig wird der Wehrdienst zwölf Monate und der Zivildienst 15 Monate dauern. Das Entlassungsgeld wird trotz der geringeren Dienstzeit weiterhin 2 500 DM betragen.
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17556 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Hauser
Meine Damen und Herren, mit der Verkürzung des Wehrdienstes reagieren wir auf die veränderte sicherheitspolitische Situation in Europa. Der Warschauer Pakt existiert in seiner bisherigen Form nicht mehr. Die Sowjetarmee wird nach dem WienI-Abkommen deutlich weniger Soldaten in Mittel- und Osteuropa stationiert haben als bisher. In absehbarer Zeit wird sie 380 000 Soldaten vom Gebiet der ehemaligen DDR abziehen.Die Armeen der Staaten Osteuropas werden drastisch reduziert und sind nicht mehr Instrument sowjetischer strategischer Ziele. Die DDR als Bollwerk des Marxismus-Leninismus existiert nicht mehr weiter. Unsere Politik muß deshalb diesen Entwicklungen und Veränderungen in der Welt Rechnung tragen, wenn sie für die Bürger überzeugend bleiben will.Neben unseren Beiträgen zur Verminderung von Spannungen und der Konfrontation in Europa bei den Abrüstungsverhandlungen in Wien geben wir nun mit der Wehrdienstverkürzung und damit mit der Herabsetzung der Präsenzstärke ein Signal. Unser Ziel ist, die Teilung Europas zu überwinden. Dies geschieht durch unsere Politik der Vereinigung mit der DDR und durch unseren Beitrag zur Abrüstung.Der Zeitpunkt der Wehrdienstverkürzung liegt genau richtig. Kurz vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland reduzieren wir die Präsenzstärke der Bundeswehr um 35 000 Mann. Dies ist ein eindeutiges Zeichen der Friedfertigkeit und des Abrüstungswillens des dann vereinten Deutschland. Es ist ferner der erste Schritt zur Verwirklichung des Ziels, die gesamtdeutschen Streitkräfte auf 370 000 Soldaten zu verringern.Diesen weiteren Abbau deutscher Streitkräfte werden wir in der schnellstmöglichen Zeit verfolgen. Wir machen damit klar: Das vereinigte Deutschland bedroht niemanden. Als souveräner Staat erhalten wir jedoch die Option zur Verteidigung unseres Territoriums aufrecht. Wir sind damit stark genug für die Verteidigung und stellen, meine Damen und Herren, für unsere Nachbarn keinerlei Risiko dar.Die Vereinigung Deutschlands sehen wir als Teil der Vereinigung Europas. Wir haben damit die Vision Konrad Adenauers verwirklicht, der bei der Gründung der Bundeswehr das politische Ziel der CDU und seiner Regierung betonte, das freie und vereinigte Deutschland in einem freien Europa verwirklichen zu wollen. Für meine Kollegen und für mich ist es eine große Genugtuung, daß wir 35 Jahre nach dieser Rede Adenauers sein großes politisches Ziel und Vermächtnis erreicht haben. Hier zeigt sich, daß nicht die Anpassung an den Zeitgeist, sondern das Festhalten am Bündnis der freien Staaten des Westens, die ernsthafte und maßvolle Politik zur Gewährleistung unserer Sicherheit und der Wille zum Frieden und zum Spannungsabbau nun zum Ziel geführt haben.Meine Damen und Herren, ich hatte schon ausgeführt, daß wir auch im vereinigten Deutschland auf ein Minimum an Verteidigungsaufwendungen nicht werden verzichten können. Deutschland wird auch in Zukunft in das Bündnis der freien Nationen des Westens eingebunden bleiben. Die Strategie der NATO wirdsich sehr bald ändern. An wichtigen Grundelementen der Verteidigungspolitik halten wir allerdings fest.Dazu gehört die allgemeine Wehrpflicht. Ich verstehe Wehrpflicht nicht nur als eine Möglichkeit der Rekrutierung von Soldaten, sondern auch als ein Instrument, dessen Wert wir heute in der NVA gerade nach der friedlichen Revolution beobachten können. Die SED-Offiziere und -Unteroffiziere konnten nicht einfach weitermachen wie bisher, weil Soldaten, Wehrpflichtige, die Autorität dieser Partei-Soldaten nicht mehr anerkannten. Wehrpflichtige in der Armee sind deshalb ein demokratisches Element, auf das wir auch in Zukunft nicht verzichten werden. In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, daß es auch in Berlin die allgemeine Wehrpflicht geben wird.
Meine Damen und Herren, wir werden energische Anstrengungen unternehmen, um die Kosten des Verteidigungsetats auf weniger als 50 Milliarden DM zu senken. Wir sind überzeugt davon, daß dieses Ziel nach den Veränderungen des 3. Oktober 1990 erreichbar ist.Ein erster Schritt dazu ist die Wehrdienstverkürzung auf zwölf Monate und damit die Senkung der Präsenzstärke. Wir erreichen allein damit eine Einsparung im Verteidigungsetat von nahezu 600 Millionen DM. Die weitere Herabsetzung der Präsenzstärke wird weitere Einsparungen bei den Personalkosten mit sich bringen, nicht nur bei den Wehrpflichtigen, sondern auch bei den Zeit- und Berufssoldaten und bei den zivilen Kräften der Bundeswehr.Ich darf auch hinzufügen, daß im Einzelplan 15 — Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit — die Verkürzung der Zivildienstdauer jährlich Einsparungen in einer Größenordnung von zwischen 140 und 200 Millionen DM bringt.Diese Einsparungen sind ein wesentlicher Beitrag zur Finanzierung unserer Zukunftsaufgaben für die deutsche Einheit, für den Umweltschutz, für humanitäre Aufgaben innerhalb und außerhalb Europas.Meine Damen und Herren, wir haben den Zivildienst um fünf Monate verkürzt. Eigentlich hätten es nach den früher angewandten Berechnungsschemata nur vier Monate sein sollen. Wir haben jedoch berücksichtigt, daß mit der Herabsetzung der Präsenzstärke der Bundeswehr künftig auch die Dauer und die Zahl der Wehrübungen zurückgehen werden. Daher sind 15 Monate Zivildienst im Verhältnis zum zwölfmonatigen Wehrdienst und geringerer Wehrübungszahl angemessen.Noch ein Wort zu manchen Katastrophenszenarios, die zur Zeit von verschiedenen Seiten wegen der Verkürzung des Zivildienstes gezeichnet werden: Die Behauptungen gehen vom Pflegenotstand bis zum Zusammenbruch ganzer karitativer Organisationen. Wir wollen hier eindeutig festhalten: Der Zivildienst war und ist kein Staatsservice für den Sozialbereich zu niedrigen Preisen. Zivildienstleistende dürfen keine Tätigkeiten ausüben, die eigentlich von Fachkräften erledigt werden müßten. Wenn also heute die Schrekkensvision an die Wand gemalt wird, nach der Ver-Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17557Hauser
kürzung des Zivildienstes würden ganze Organisationen zusammenbrechen, dann muß man feststellen, daß hier im Laufe der Vergangenheit eben Fehlentwicklungen eingetreten sind, die schleunigst korrigiert werden müssen.
— Hören Sie doch einmal zu, Frau Schulte!Wir treten für eine gründliche Durchforstung des Katalogs der Verwendungen von Zivildienstleistenden ein. Es ist nämlich nicht einzusehen, warum Zivildienstleistende Hausmeistertätigkeiten, Verwaltungstätigkeiten, Telefondienst oder Kraftfahrtätigkeiten verrichten sollen, die mit einem sozialen Engagement sicherlich nur indirekt zu tun haben. Wenn die Zahl der Zivildienstleistenden sinkt, müssen die Zivildienstleistenden künftig so eingesetzt werden, wie es ursprünglich einmal gedacht war, nämlich in der unmittelbaren Hilfe und Pflege der Behinderten und der Menschen, die leiden. Dann wird die Zahl der Dienstleistenden auch bei weniger Dienstzeit ausreichen.
Meine Damen und Herren, die Vereinigung Deutschlands und Europas liegen in greifbarer Nähe. Das Blockdenken der Vergangenheit ist nahezu verschwunden. Die Sicherheitspolitik muß auf große Veränderungen reagieren, und sie muß durch neue Konzepte Veränderungen ermöglichen. Damit Veränderungen zum Fortschritt beitragen, müssen wir positive Impulse geben. Die Verkürzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes sehe ich als bedeutenden Schritt an, dem sicherlich weitere folgen werden und folgen müssen.Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag ist bereit, diese Herausforderungen auch in einer neuen Zeit, gerade in dieser neuen Zeit, anzunehmen und sie entscheidend mitzugestalten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine frühere Entscheidung, liebe Kolleginnen und Kollegen und verehrter Kollege Hauser, hätte ein Signal sein können, bei dem der Minister Stoltenberg nicht der Getriebene, sondern vielleicht der Treiber einer Entwicklung gewesen wäre und bei dem er sein Ressort nicht verwaltet, sondern gestaltet hätte. Eine frühere Entscheidung hätte tatsächlich ein Signal sein können, eine Entscheidung zu einem Zeitpunkt, als die Entwicklungslinien, die schließlich zu der Vereinbarung im Kaukasus geführt haben, bereits erkennbar waren, aber diese Vereinbarung natürlich noch nicht auf dem Tisch lag.
Wenn Sie die großen Rahmenbedingungen beschreiben, Kollege Hauser, die zu dem geführt haben, was uns heute erlaubt, die Bundeswehrstärke sehr stark zu kürzen, stärker noch, als wir es vor einiger Zeit für möglich gehalten haben, dann müssen Sie um der historischen Ehrlichkeit willen die Ostpolitik Willy Brandts erwähnen, dann müssen Sie die Demokratiebewegung in der DDR erwähnen, und dann müssen Sie einen Mann wie Gorbatschow erwähnen, der nicht ohne Grund vom „Time Magazine" zum Mann des Jahrzehnts gekürt worden ist. Das sind die Gestalter einer Situation, die uns jetzt erlaubt, das positiv aufzunehmen und infolgedessen auch unsere eigenen Verteidigungsvorkehrungen den äußeren Bedingungen anzupassen.
Sie haben aber immer erst dann angepaßt, wenn es gar nicht anders ging, wenn der Druck zu groß war. Dann wurde plötzlich korrigiert, was jahrelang verteidigt worden ist, was „unverzichtbar" für die äußere Sicherheit war. Die FDP in der Koalition hat den Mund immer etwas früher gespitzt, hat aber in der Regel nicht gepfiffen. Beispiele: Wehrstrukturkommission, Bundeswehrstärke, Grundwehrdienst, Jäger 90.
Der Minister hatte bereits vor geraumer Zeit Gelegenheit, bei den entsprechenden Anträgen der SPD das wenigstens erkennen zu lassen, was wir heute vollziehen können, aber er hat noch im Sommer 1989 im Deutschen Bundestag folgendes gesagt — ich darf wörtlich zitieren — :
Die Bundeswehr kann ihren Auftrag aus heutiger Sicht für einen Planungszeitraum längerer Perspektive nur wahrnehmen, wenn W 18 1992 eingeführt wird.
W 18! Da ging es nicht einmal um W 15! Das war vor einem Jahr: „wenn W 18 1992 eingeführt wird" !
Bei den Vorstellungen der SPD ist dies mit Sicherheit nicht der Fall, meine Damen und Herren. Wir wollen auch die Gegensätze klarmachen.
Das sind Gegensätze, und wir beteiligen uns gerne daran, diese klarzumachen, denn wir haben die Entwicklungslinien, die zu den Bedingungen geführt haben, die heute W 12 ermöglichen, bereits damals skizziert; sie waren erkennbar, auch wenn sie sich noch nicht in allem so konkret abgezeichnet haben.
Im übrigen haben Sie meistens aus innenpolitischen Gründen gehandelt; Sie haben nämlich die Verlängerung auf W 18 zu einem Zeitpunkt zurückgenommen, zu dem die Militärs gesagt haben „Wir brauchen sie", und Sie haben dann aus innenpolitischen Gründen, weil der Druck in der eigenen großen Volkspartei Union größer wurde — es ist ja gut, daß Sie den Druck auch spüren —, die Verlängerung auf W 18 zurückgenommen, zurücknehmen müssen, haben dann allerdings seitens des Kanzleramtes dem BMVg vorgerechnet oder vorgeworfen, es habe den Bedarf falsch eingeschätzt, es sei dort falsch gerechnet worden, W 18 brauche man nicht. Das alles ist erst ein Jahr her. Damals ging es um W 15 oder W 18, heute geht es um W 12 oder W 15.
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17558 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Gerster
Ich möchte deutlich sagen: Wir werden im Laufe der nächsten Jahre eine ganz entscheidende Veränderung unserer sicherheitspolitischen Landschaft erleben. Wir sollten auch jetzt nicht so tun, als ob das operative Minimum von unten nach oben erreicht sei, wenn 370 000 Soldaten in Deutschland unter Waffen stehen und wenn wir W 12 haben. Ich sehe da schon neue operative Minima, etwa nach dem Motto: Man kann unterhalb von 12 Monaten einen sinnvollen Wehrdienst nicht mehr organisieren; W 12 ist das absolute Minimum.Hier bitte ich darum, daß wir für eine Situation offenbleiben, in der wir auch im Sinne der Wehrgerechtigkeit, um möglichst viele junge Männer erfassen zu können, gemeinsam überprüfen, ob wir die Formen der Dienstpflicht ändern, ob wir die Dauer des Grundwehrdienstes ändern, möglicherweise in Richtung österreichischer und anderer Beispiele, möglicherweise auch mit einer völlig neuen Struktur.Wir werden sowieso einiges völlig neu schneiden müssen, und zwar in Richtung Milizarmee.
Ich meine, angesichts der Tatsache, daß die Bundeswehr so grundlegend verändert wird, muß man auch darüber nachdenken, ob man nicht milizähnliche Wehrdienstformen einführt.
Dies war übrigens ein Auftrag, den die Wehrstrukturkommission 1972 der damaligen Bundesregierung erteilt hat, nämlich Truppenversuche mit Wehrpflichtmilz durchzuführen. Ich muß bekennen: Damals ist die Bundesregierung dem nicht nachgekommen.
Warum sollen wir es heute nicht versuchen? Warum sollen wir nicht prüfen — das will ich ganz bewußt subjektiv sagen; das ist umstritten, auch in meiner Fraktion — , ob es auch so etwas wie eine allgemeine Dienstpflicht mit Wahlfreiheit geben könnte, etwa nach dem derzeitigen rechtlichen Modell in der DDR, mit der Lösung des Dilemmas der Kriegsdienstverweigerung — das ist ja ein ungelöstes Dilemma für jeden von uns und für Rechtstheorie und -praxis gleichermaßen — , allerdings mit dem Risiko — das müssen wir sehr gründlich bedenken — , daß wir dann möglicherweise auf kaltem Wege und ungewollt die Berufsarmee einführen könnten, die wir, so glaube ich, in der Mehrzahl hier im Parlament nicht wollen? Die FDP ist da möglicherweise anderer Meinung.Ich bitte uns also, an diesem Punkt im Jahre 1990 für eine Entwicklung offenzubleiben, die auch das, was im Kaukasus vereinbart worden ist und was wir in gewissem Sinne jetzt ausfüllen, noch einmal überprüft.Im übrigen bitte ich den Minister, auf Arbeitsebene des Bundesministeriums der Verteidigung, wenn ich das so sagen darf, einmal prüfen zu lassen, ob es in wenigen Jahren tatsächlich möglich ist, mit W 12 und angesichts der derzeitigen Verweigererzahlen — mit kleinen Korrekturen nach oben oder nach unten — Wehrgerechtigkeit in ganz Deutschland bei einerBundeswehrstärke von 370 000 Soldaten herzustellen. Wenn heute schon erkennbar ist, daß das nicht möglich ist — ich fürchte, es ist so — , dann sollten wir uns sehr bald damit befassen, wie wir dieses Dilemma lösen können.Wir sagen hier und heute ja zu W 12; das ist völlig klar. Wir haben es oft genug per Antrag und aktenkundig gefordert. Wir sagen nein zu der verlängerten Zivildienstdauer; dies wird der Kollege Conny Gilges im einzelnen begründen. Wir melden unsere Bedenken an gegen die neugeschaffene Zwischenform zwischen dem Zeitsoldaten und dem Wehrpflichtigen: SaZ, 15 M/18 M also 15 Monate/18 Monate; denn es muß sicher näher untersucht werden, ob das ein taugliches Instrument ist. Und wir verweisen auf unsere vorliegenden Gesetzentwürfe — übrigens auch zur Einberufungspraxis; das will ich hier nicht näher beschreiben — , über die wir morgen im zuständigen Verteidigungsausschuß zusammen mit den Gesetzentwürfen der Koalition beraten werden.Aber, meine Damen und Herren, ich bitte vor allen Dingen das Verteidigungsministerium und auch die Regierungskoalition, über die Regelung hinaus, die wir jetzt treffen, die Akzeptanzkrise des Wehrdienstes anzupacken, deren Symptome unübersehbar sind: steigende Verweigererzahlen, ein Mangel an Bereitschaft zur Weiterverpflichtung selbst bei geringerem Bedarf, Aussagen, die von wehrpflichtigen Soldaten nach Ablauf ihres Grundwehrdienstes unverändert getroffen werden, etwa Aussagen über eine Unterforderung und über ein unfreundliches Klima während ihres Wehrdienstes.Ich bitte Sie, alle Kreativität darauf zu verwenden, den Wehrdienst so zu gestalten, daß die jungen Männer — und es sind immer noch etwa 50 bis 60 % eines Jahrgangs — , die die Bundeswehr durchlaufen, den Eindruck haben: Also, das war zwar keine tolle Zeit, in der es täglich etwas zu erleben gab, in der mir täglich der Sinn meines Dienstes klar wurde; aber es war eine Zeit, die mich weitergebracht hat, in der ich Neues kennengelernt habe, in der ich menschlich befriedigende Erfahrungen sammeln konnte.Hier sind wir alle gefordert, aber insbesondere eben auch die Spitze des Ministeriums und die Spitze der Bundeswehr. Wir sehen durchaus, daß es, etwa beim Führungsstab des Heeres, auch Ansätze in diese Richtung gibt, nämlich durch die veränderte Unteroffiziersausbildung, durch Truppenversuche, Innere Führung und ähnliches mehr die Symptome anzupakken, die immer wieder genannt werden, wenn von jungen Männern Unzufriedenheit mit ihren Erfahrungen in der Bundeswehr geäußert wird.Ich meine, bei einem faktischen Wahlrecht — und wir haben ein faktisches Wahlrecht zwischen Wehrund Zivildienst; wir wollen das nicht ändern, wir würden sogar noch weiter gehen — muß sich die Bundeswehr sogar um junge Leute bemühen. Sie muß sich darum bemühen, daß junge Leute den Wehrdienst freiwillig und vielleicht nicht gerne, aber wenigstens ohne innere Gegenwehr antreten. Sie muß sich, wenn diese jungen Leuten ihren Wehrdienst leisten, darum bemühen, daß sie den Sinn ihres Dienstes auch im täglichen Dienst erkennen können.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17559
Gerster
Das hat natürlich auch etwas mit dem Auftrag der Bundeswehr zu tun. Sie wissen ja, es gibt einige Kräfte quer durch die Parteien, die eine Grundgesetzänderung und den Einsatz von Bundeswehrsoldaten in UNO-Truppen im weitesten Sinne auch als einen Beitrag zur Lösung der Motivationskrise der Bundeswehr betrachten. Nach Meinung dieser Kräfte sollten wir sozusagen den Sonderstatus eben nicht auch dort aufrechtzuerhalten versuchen, wo er zur Erhaltung des Friendens weltweit und nach der Vereinigung Deutschlands nicht mehr paßt.Meine Damen und Herren, die Grundprinzipien sozialdemokratischer Wehrpolitik sehen so aus, daß der Wehrdienst so kurz wie möglich, so sinnvoll wie möglich und so gerecht wie möglich sein sollte. Das gilt, solange wir ihn brauchen und sinnvoll organisieren können. Die 370 000 Soldaten und die 12 Monate Wehrdienst, die wir jetzt im deutschen Parlament mehrheitlich festlegen werden, sind nur ein Zwischenschritt zu weiterer Abrüstung. Wir sind der festen Überzeugung: Wenn die Rahmenbedingungen — auch durch unsere Beteiligung — so weiterentwikkelt werden können, wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt haben, dann sind das tatsächlich nur Zwischenschritte hin zu einer wesentlich friedlicheren Welt.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Dr. Hoyer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn in diesen ständig historischen Tagen in dieser Republik Frohlocken angesagt ist, dann gilt das natürlich heute ganz besonders, da wir das Gesetz über die Reduzierung des Wehrdienstes und des Zivildienstes einbringen.Wir haben vor etwas über 18 Monaten vorgeschlagen, doch noch einmal zu überprüfen, ob W 18 nicht schlicht überflüssig und unsinnig ist. Wir sind damals dafür gescholten worden. Wir haben eine Verkürzung auf 15 Monate vor einem Jahr durchgesetzt. Wir diskutieren heute über unsere Forderung nach W 12, für die wir noch Anfang des Jahres gescholten worden sind. Wir werden das jetzt durchsetzen.
Deswegen ist das — das werden Sie verstehen — Grund zu tiefer Freude.
Wir bringen natürlich in allererster Linie den Betroffenen gute Nachrichten, denen wir einen Teil eines Opfers ersparen, nämlich den Teil, den wir nicht ungedingt für erforderlich halten. Wir Liberalen stehen zum Prinzip der Wehrpflicht. Auch im Hinblick auf das Prinzip Wehrpflicht ist diese Reduzierung eine gute Nachricht.Ich treffe mich hier mit dem Kollegen Gerster, der gesagt hat, der Grundwehrdienst sollte so kurz wie möglich sein. Ich sage umgekehrt: Er soll auf keinen Fall länger sein als unbedingt erforderlich. Ich denke, das ist sozusagen von zwei Seiten aus das gleiche Ergebnis. Das heißt, wenn wir für die Wehrpflicht eintreten, unterliegen wir als Politiker auch der Verpflichtung, die Intensität und Länge der Wehrpflicht stets auf die unbedingte Notwendigkeit zu überprüfen. Diese Überprüfung ist ein urliberales Prinzip; denn Wehrpflicht ist ein Eingriff in die individuelle Lebensgestaltung und Lebensplanung.Wehrpflicht und Wehrgerechtigkeit müssen allerdings auch stets zwei Seiten derselben Medaille sein und bleiben. Auch darauf ist der Kollege eben eingegangen. Das heißt natürlich, daß man auch bereit sein muß, alle Möglichkeiten zu überprüfen, gewissermaßen die Menge von Wehrpflicht gerecht zu verteilen. Dabei ist dann selbstverständlich auch die Länge des Grundwehrdienstes eine in Frage kommende Variable.Dabei gibt es natürlich Grenzen. In einigen Bereichen haben wir die Grenzen erreicht. Eine der Grenzen ist z. B. dort unterschritten, wo eine sinvolle Ausbildung in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr gewährleistet werden kann. Ob das der Fall ist oder nicht, kann unter gar keinen Umständen über einen Leisten geschlagen werden, sondern muß je nach der Verwendung des einzelnen Wehrpflichtigen überprüft werden.Ich denke, daß wir über kurz oder lang dazu kommen müssen, die Grundwehrdienstzeit je nach der Verwendungsform des jeweils Grundwehrdienstleistenden — natürlich mit einer entsprechenden finanziellen Kompensation — zu differenzieren.
Ich meine, daß das eine Perspektive für die Zukunft ist, für die wir heute den Einstieg schaffen, indem wir demjenigen Grundwehrdienstleistenden, der freiwillig 15 oder 18 Monate Dienst leistet, ein faires Angebot im Hinblick auf eine finanzielle Besserstellung gegenüber dem Grundwehrdienstleistenden machen, der es bei 12 Monaten belassen will.Ich bin mir darüber im klaren, daß wir für die Verbände und Einheiten der Bundeswehr, durch die kurzfristige und rückwirkende Entscheidung mit W 12 erhebliche Probleme herbeigeführt haben. Jeder, der sich in der Praxis umsieht — sowohl im Zivildienst als auch in der Bundeswehr — , wird mit diesem Problem konfrontiert. Aber wir stehen trotz aller dieser organisatorischen Probleme, die dort entstehen, vor der Frage, ob wir die Chance nutzen, in einem Jahr 200 000 Männern drei Monate Dienst zu ersparen, den wir nicht unbedingt für erforderlich halten — im Bereich des Zivildienstes sogar fünf Monate —, oder ob wir der Bundeswehr und dem Zivildienstbereich die organisatorischen Belastungsprobleme ersparen, die auf diese Bereiche zweifellos zugekommen sind. Ich denke, wir hatten gar keine andere Möglichkeit, als uns zugunsten der Verkürzung zu entscheiden, und zwar aus den grundsätzlichen Erwägungen, die ich zu Beginn vorgetragen habe.Besonders glücklich bin ich, daß es gelungen ist, in der Vorbereitung dieses Gesetzeswerkes den Zivildienst überproportional zu reduzieren.
Es ist schon zu Beginn der Legislaturperiode unserZiel gewesen, den unseligen Drittelautomatismus zu
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17560 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Dr. Hoyerknacken, der besagt, daß der Zivildienst grundsätzlich um ein Drittel länger sein soll als der Grundwehrdienst. Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode nicht durchgesetzt. Jetzt ist es gelungen. Das ist eine große Freude. Ich denke auch, daß wir große Schwierigkeiten hätten, die Überlänge des Zivildienstes gegenüber dem Grundwehrdienst, wie wir sie bisher hatten, beim Bundesverfassungsgericht noch einmal mit derselben Begründung durchzubekommen, wie das vor einigen Jahren der Fall gewesen ist, weil sich die entsprechenden Daten und Realitäten einfach verändert haben. Von daher ist dieses ein Einstieg.Ich bekenne auch, daß ich mir sehr wohl vorstellen kann, daß wir im Gesamtbereich Zivildienst eines Tages zu mehr gesellschaftlicher Ehrlichkeit kommen, daß wir das unwürdige Verfahren, das wir jungen Leuten im Hinblick auf die Verweigerungsformalitäten heute noch zumuten, ihnen ersparen können und tatsächlich zu einem echten Wahlrecht kommen. Ich denke, daß wir in der nächsten Legislaturperiode genau darüber, Herr Kollege Gerster, reden können.
— Lieber Herr Kollege, das Interessante — und deswegen kann ich Ihre Verärgerung durchaus verstehen — ist, daß Sie zwar über eine ganze Legislaturperiode Zeter und Mordio schreien und sich aufregen, daß aber die FDP auf diesem Gebiet ständig Forderungen stellt und sich schließlich herausstellt, daß diese Forderungen mit einem gewissen Timelag, das ich oft bedaure, dann realisieren lassen. Insofern stehlen wir Ihnen etwas die Show, und das macht Ihnen natürlich nicht so furchtbar viel Spaß.
Letzter Punkt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Im Pflegebereich bedeuten die Reduzierung auf 15 Monate und die damit verbundene Rückwirkung, die wir beschließen werden, natürlich ganz erhebliche Probleme. Über diese Probleme sind wir uns im klaren. Ich kann alle Betroffenen im Pflegebereich nur um Verständnis bitten, daß wir ihnen diese Mehrbelastung, die hier entsteht, aus den grundsätzlichen Erwägungen zumuten müssen, die ich vorhin vorgetragen habe.
— Herr Kollege Dreßler, dann müssen Sie konsequenterweise sagen, ob Sie etwa den Zivildienst oder den Wehrdienst länger lassen wollen, als es von der Sache her unbedingt geboten ist.
Das Faktum, was wir hier haben, Herr Kollege Dreßler, ist — und da tragen alle politischen Parteien und alle gesellschaftlichen Organisationen mit Verantwortung — , daß das Zivildienstgesetz vorsieht, daß der Zivildienst arbeitsmarktneutral abgewickelt werden muß. In der Realität sind wir von dieser Gesetzesvorschrift Lichtjahre entfernt. Faktum ist, daß wir die Zivildienstleistenden in den entsprechenden Bereichen zum großen Teil mißbrauchen. Sonst würde diese enorme Pflegelücke jetzt nicht plötzlich entstehen.
Also kommen wir genau dahin, daß wir diejenigen, die im Pflegebereich arbeiten, auch entsprechend gesellschaftlich würdigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das bedeutet allerdings auch — und darüber werden wir noch im Gesetzgebungsverfahren zu diskutieren haben — , daß wir denjenigen, die freiwillig länger als 15 Monate Zivildienst leisten wollen, entsprechende Angebote machen, ähnlich wie wir vernünftigerweise den Grundwehrdienstleistenden, die freiwillig länger dienen wollen, ebenfalls entsprechende Angebote machen. Im gleichen Sinne, denke ich, ist es erforderlich, Angebote dahingehend zu machen, daß die Mehrzeiten, die im Pflegebereich absolviert werden, den Betreffenden auch im Hinblick auf ihre Ausbildung im pflegerischen oder medizinischen Bereich angemessen angerechnet werden.
Meine Damen und Herren, all das, was wir jetzt hier ermöglichen — W 12, 15monatiger Zivildienst, achtjähriger Dienst im Katastrophenschutz, zweijähriger Dienst im Entwicklungsdienst — , ist durch die phantastischen Entwicklungen, die dieser Tage in Europa und insbesondere in Deutschland Platz greifen, möglich geworden. Daß dies gelungen ist, erfüllt uns natürlich alle mit großer Freude und verpflichtet uns, auf diesem Wege weiterzugehen und dafür zu sorgen, daß wir in der Entspannungspolitik, in der Abrüstungspolitik in den nächsten Jahren auf dem Weg weiterkommen, den wir gegenwärtig so erfolgreich begehen, und daß wir bei dem Bemühen Erfolg haben, auch unsere Bundeswehr erheblich kleiner, aber, wie ich hoffe, noch effizienter und zu einem attraktiven und als attraktiv empfundenen Arbeitsplatz zu machen, zu einer Herausforderung für diejenigen, die an diesem Arbeitsplatz ihren Dienst für die Gesellschaft tun, eine Gesellschaft, die zu dieser Aufgabe dann aber bitte auch steht.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schilling.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also da bleibt einem fast die Spucke weg, wenn man sich das so anhört. Gott sei Dank steht hier ein Glas Wasser.Die Bundesregierung, die sich bis vor kurzem nicht nur gegen die Verkürzung des Wehrdienstes, sondern für dessen Verlängerung ausgesprochen hat, ist nun doch für die Verkürzung auf zwölf Monate. Die GRÜNEN fordern das seit Jahren als ersten Schritt zur völ-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17561
Frau Schillingligen Abschaffung der Wehrpflicht. Im letzten Jahr wurden wir dafür vor allem im nichtöffentlichen Ausschuß, aber auch im Plenum wüst beschimpft und für verrückt erklärt. Uns wurde reiner Populismus ohne Rücksicht auf die Realität vorgeworfen, als stehe dann der Untergang des Abendlandes bevor. Wer sich daran noch ein bißchen erinnert oder sich einmal die Debatten und die Zwischenrufe durchliest und wer hier in dem Laden noch nicht ganz abgebrüht ist,
der wird sich dessen wirklich schämen müssen. Eigentlich müßte es Ihnen doch sehr peinlich sein, den Mund so voll zu nehmen und wenige Monate später mit der größten Selbstverständlichkeit das Gegenteil verkaufen zu wollen. Ihre Argumente sind voll austauschbar und werden fern von dem benutzt, was sachlich und politisch geboten ist.Sie sorgen sich angeblich um das ungeborene Leben. Wie aber gehen Sie mit der Tötungsmaschinerie im Hinblick auf das geborene Leben, die Umwelt und die Natur um?
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Breuer?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja. Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr!
Frau Kollegin, sind Sie denn nicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich in der Zeit von Mitte 1989 bis heute doch Erhebliches verändert hat, und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir es damals in östlichen Nachbarländern noch mit Regimen zu tun gehabt haben, die sogar dazu bereit waren, die Waffen gegen die eigene Bevölkerung zu richten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das nehme ich zur Kenntnis; nur verkennen Sie dabei eines: Auch auf westlicher Seite ist man bereit, die Waffen gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Dafür haben wir Beispiele genug.
Westliche Militärsysteme haben dies unter Beweis gestellt, Grenada usw. Da gäbe es eine Menge aufzuzählen. Hier in der Bundesrepublik ist die Bundeswehr zuletzt auch dafür da, bei entsprechenden Demonstrationen einzuschreiten; sie hat es bisher noch nicht getan.
— Oh ja!Das, was hier jetzt beschlossen werden soll, die zwölf Monate, hätten Sie im letzten Jahr ohne Not schon längst beschließen können. Dann könnten wirnämlich jetzt beschließen, daß wir den Wehrdienst auf Null bringen. Da hinken Sie ewig hinterher.
Die Chancen für einen wirklichen Neuanfang sind mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wieder vertan worden; denn die Entspannung im Verhältnis der beiden Militärblöcke gibt nachhaltig Anlaß, die Abschaffung der Wehrpflicht als einen einseitigen Abrüstungsschritt einzuleiten. Statt dessen tun Sie jetzt das, was Sie, wie ich gerade sagte, vor zwölf Monaten mindestens hätten tun können.Ein umfassendes Entmilitarisierungskonzept, verbunden mit der Einübung und Anwendung gewaltfreier Konfliktlösungsmöglichkeiten, ist das einzig Realistische. Es wäre einem neuen Staatswesen wirklich angemessen, das sich Demokratie nennen will, das auch einmal so zu tun. Es ist eben nicht realistisch, Konflikte mit Waffengewalt zu lösen, sondern es ist eine der primitivsten und dümmsten Verhaltensformen, die zudem nichts an Problemen löst, sondern nur neue schafft.Warum versuchen Sie nicht wenigstens jetzt, da ein neuer Staat entsteht, diese Todesspirale in die andere Richtung zu drehen?
Drei Viertel aller Soldaten sehen laut Umfrage schon heute keinen Sinn mehr in dem, was sie tun sollen. Das kann nicht überwunden werden, indem neue Einsatzfelder wie jetzt im Nahen Osten gesucht werden und indem versucht wird, der Bevölkerung und den Soldaten ein neues Feindbild zu präsentieren und einzubleuen. Weltpolitische Verantwortung kann niemals durch militärische Einsätze übernommen werden, sondern nur durch den ernsthaften Versuch, gewaltfreie Konfliktlösungen wirklich auch einmal auszuprobieren.Warum halten Sie sich nicht wenigstens jetzt an das Grundgesetz, das in Art. 12a gleiche Wehrdienst- und Zivildienstzeit vorschreibt. Ihre schwachen, falschen und durchsichtigen Argumente sind längst widerlegt. Verbal pochen Sie auf das Grundgesetz, aber Sie handeln nicht danach.
Bei dem unausgegorenen Gesetzentwurf fehlen die nötigen Ausgleichsmaßnahmen und Übergangshilfen des Bundes für den Sozialbereich, wo der Pflegenotstand durch die verkürzten Zivildienstzeiten jetzt voll sichtbar wird und zu schlimmen, unmenschlichen Nachteilen und Situationen für die dort zu betreuenden Menschen führen wird. Dabei hat die Bremer Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer durch ihren Protest bereits die haarsträubendsten Ungereimtheiten und die ZDL-Benachteiligungen in Ihrem Gesetzentwurf verhindern können.Aber auch die SPD-Anträge gefallen uns noch nicht.
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17562 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Frau SchillingSie lassen zwar Bewegung erkennen — das meiste haben Sie aus unserem Szenario zur Überwindung von Wehrpflicht und Zivildienst abgekupfert — , in der Eile aber einige Fehler gemacht, die sich im Ausschuß noch korrigieren ließen.Erstens. Wer in dem kritischen Pflegenotstandsbereich die Verdrängung qualifizierter Arbeitskräfte durch billige Zivis feststellt, darf nicht deren intensivere Konzentration in diesem Bereich fordern.Zweitens. Länger dienende Zivildienstleistende auf Zeit entsprechen der möglichen Weiterverpflichtung von Soldaten. Gerade von diesem Zusammenhang wollten wir wegkommen. Sie sollten statt dessen mit uns bzw. mit der Bremer Zentralstelle die Möglichkeit vorsehen, daß ZDLer am bisherigen Einsatzort ein angemessenes, bezahltes, freies Arbeitsverhältnis mit Zuschüssen des Bundes eingehen können.Drittens vermissen wir ein wirklich klares Bekenntnis der SPD zu zwölf gleich zwölf oder noch besser zur doppelten Null-Lösung, nämlich null gleich null. Ich möchte wirklich gerne, daß wir darüber einmal im Ausschuß reden.Mit unserem Antrag, der heute hier vorliegt, wollen wir unser Szenario vom Frühjahr präzisieren und konkrete nachahmbare Schritte aufzeigen.Zur Überwindung der Wehrpficht. Dazu gehören Überbrückungs- und Umstellungshilfen des Bundes für die jetzigen Einsatzstellen der Zivildienstleistenden. Daß diese nun angesichts der bevorstehenden Zivildienstzeitverkürzung laut ihren Kollaps befürchten, zeigt mit letzter Deutlichkeit, daß die gesetzlich geforderte Arbeitsmarktneutralität des ZDL-Einsatzes nie bestanden hat. Die jährlich von ZDLern erbrachten Dienste haben einen volkswirtschaftlichen Wert von über zwei Milliarden DM, gerechnet nach dem Tariflohn der für diese Arbeiten benötigten qualifizierten Arbeitskräfte. Dies entspricht ziemlich exakt der vom Bund jährlich für die Zivildienstverwaltung aufgebrachten Summe. Dieses Geld könnte somit kostenneutral den Beschäftigungsstellen als Überbrükkungshilfen für die modellhafte Umstellung auf reguläre Fachkräfte vom Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt werden.Wir wünschen uns, daß Berlins entmilitarisierter Status auch nach Wegfall der alliierten Vorgaben von den Deutschen bejaht und weiter ausgebaut wird und sich schließlich auf Deuschland ausbreitet. Da von der Mehrheit in diesem Haus nichts Sinnvolles zu erwarten ist, was uns in Richtung wirkliche Abrüstung brächte, und auch der Minister, der es aus Eigeninitiative etwas mehr in diese Richtung bringen könnte, hier völlig versagt, bleibt der Bevölkerung nur eins übrig, nämlich dies selbst zu tun durch massenhafte Kriegsdienstverweigerung und Desertieren aus der Armee.
Frau Abgeordnete Schilling, ich habe Verständnis für einen lockeren Debattenstil, aber ich habe kein Verständnis dafür, wenn Sie den Deutschen Bundestag als „Laden" bezeichnen.
Sie könnten damit Rückschlüsse auf Ihr Verständnis zur parlamentarischen Bürokratie provozieren.
Sollte dieses nicht der Fall sein, dann würde ich Ihnen dringendst empfehlen, diese Ihre Äußerung im Protokoll zu korrigieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Gilges.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstens. Ich kann nicht in den Jubel einstimmen, den der Kollege Hauser und der Kollege Hoyer in der Frage hier angestimmt haben. Insbesondere aus der Perspektive der Kriegsdienstverweigerung ist nach wie vor nicht die Gerechtigkeit gegeben, die wir gefordert haben. Sie wissen, daß wir nach wie vor für die Abschaffung aller Gewissensprüfungen sind. Ein Großteil der Kriegsdienstverweigerungen fällt heute noch unter die Gewissensprüfung. Deshalb muß die erste aller Forderungen heißen: Abschaffung aller Gewissensprüfungen, die es heute noch gibt.
Zweitens. Die Dauer des Zivildienstes ist mit 15 Monaten gegenüber 12 Monaten nach wie vor ungerecht.
Unsere Forderung — Frau Schilling, jetzt hören Sie mal zu! — ist auch für den Zivildienstleistenden 12 Monate, wie für den Wehrdienstleistenden. Wir halten diese Abstufung, diese ungerechte Abstufung mit einer um drei Monate längeren Dienstzeit, nicht für gerechtfertigt.
Der Artikel 12 des Grundgesetzes muß nun endlich realisiert werden.
Drittens. Herr Hoyer, als Sie die Drittelautomatik hier dargestellt haben, bin ich ganz aus den Schuhen gerutscht. Der Herr Sauer, der Herr Breuer, der Herr Eimer haben uns hier in den letzten acht Jahren dies als eine ideologische Frage verkauft. Mit ihnen war über die Frage der Drittelautomatik überhaupt nicht zu streiten und zu reden.
Aber offensichtlich ist er jetzt dazu bereit. Gestatten Sie ihm eine Frage?
Wir haben sie immer für falsch, für ungerecht und für verfassungsrechtlich unsauber gehalten. Daß Sie jetzt die Einsicht haben, Herr Eimer, begrüßen wir. Sie können das jetzt noch einmal bestätigen, daß auch Sie die Einsicht haben. Deshalb bin ich bereit, die Frage zuzulassen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17563
Er kann eigentlich nur eine Frage stellen, aber nicht eine Bestätigung geben.
Er kann das ja in eine Frage kleiden!
Herr Kollege Gilges, können Sie erstens dem Plenum hier erklären, wie der Gesetzentwurf zum Zivildienstgesetz im Rahmen der sozialliberalen Koalition aussah, wie lange die Zivildienstleistenden damals länger dienen sollten, und können Sie zweitens vielleicht einmal in dem Protokoll nachlesen und feststellen, daß ich mich an der Stelle, an der Sie jetzt stehen, öfters gegen die Drittellösung ausgesprochen habe?
Ich will hier ja überhaupt nicht den Eindruck erwecken, daß nicht auch wir Einsichten haben, Herr Eimer. Aber es ist ja gut, wenn auch Sie einmal zu Einsichten kommen.
Es gibt für Sie ja jetzt keinen Grund, den Zivildienst immer noch drei Monate länger dauern zu lassen als den Wehrdienst.
— Das ist nicht gerechtfertigt,
und es gibt auch keinen Grund dafür. — Also, wenn wir die Einsicht haben — was ja schon seit längerem der Fall ist — , dann ziehen Sie nach und kommen Sie auch zu der Einsicht! Das ist unsere Forderung. Daß wir Fehler gemacht haben, will ich hier gar nicht in Abrede stellen.
Vierter Punkt. Es gibt nach wie vor eine MehrfachBestrafung für Totalverweigerung. Die muß beendet werden. Auch die halten wir für ungerecht. Dazu können Sie einen Beitrag leisten.
Fünftens. Es muß eine Amnestie für die eingeführt werden, für diejenigen, die sich abgesetzt haben — ihren Wohnort gewechselt haben — von der DDR, wo sie als Kriegsdienstverweigerer als Bausoldaten tätig waren, in die Bundesrepublik und die nach den DDR-Gesetzen und auch nach unserer Gesetzgebung in Zukunft nach dem 3. Oktober als Vorbestrafte einzustufen sind. Das gilt auch für die Verweigerer, die in der Vergangenheit nach Berlin gegangen sind. — Ich kann das nur in Stichworten machen. Ich glaube, hier ist eine Amnestie für alle unbedingt notwendig.
Ich will des weiteren etwas zur Ausgestaltung sagen. Es ist nach wie vor nicht die Forderung erfüllt, daß die Einführungslehrgänge qualifiziert gestaltet werden und für alle im Zivildienst stattfinden. Auch dies ist nicht sauber geregelt. Ich meine, hier wäre dieBundesregierung nun in der Pflicht, diese Einführungslehrgänge endlich vernünftig zu gestalten. Das gilt auch für die Einberufung. Wir haben dies alles in einem Antrag zu dieser Debatte hier zusammengefaßt. Ich glaube, daß bei der Beratung des Gesetzentwurfs die Chance besteht, das für die Zukunft vernünftig zu regeln.Jetzt möchte ich noch einige Bemerkungen zu den aktuellen Problemen machen. Ich muß Ihnen sagen, daß es mir wie Herrn Hauser kalt über den Rücken läuft, wenn ich die Diskussion höre, die zur Zeit geführt wird über die Frage der Zivildienstleistenden, d. h. darüber, daß sie in Krankenhäusern oder an anderen Einsatzorten gebraucht werden. Es läuft mir dabei deshalb kalt über den Rücken, weil ich immer davon ausgegangen bin, daß der Einsatz von Zivildienstleistenden — so wurde uns auch immer gesagt — arbeitsplatzneutral ist. Heute stellt sich heraus, daß das anscheinend nicht arbeitsplatzneutral ist.Es ist die Aufgabe der Bundesregierung und auch der Wohlfahrtsverbände und anderer Organisationen, sicherzustellen, daß in Zukunft der Einsatz von Zivildienstleistenden arbeitsplatzneutral gestaltet wird.
Des weiteren muß ich sagen, daß wir natürlich auch deswegen etwas Schwierigkeiten haben, weil es bei der Bundesregierung keine Bestrebungen gibt, den anscheinend vorhandenen Pflegenotstand zu beheben. Auch da ist die Bundesregierung in der Pflicht. In dem einen Punkt sind wir einer Meinung mit Ihnen, Herr Hauser und Herr Hoyer, aber in dem anderen Punkt, daß nämlich endlich einmal der Pflegenotstand beendet wird, sind wir nicht einer Meinung. Wir meinen: Da hat die Bundesregierung zu handeln. Was sie jetzt vorlegt, was jetzt an Überlegungen angestellt wird, das reicht nicht aus. In den Krankenhäusern, für den individuellen Schwerstbehinderteneinsatz müssen neue Kräfte eingestellt werden, damit dies auch im Interesse der Betroffenen ordentlich geregelt wird.
Zur Zeit gibt es sehr aktuelle Lösungsvorschläge, die wir ja auch diskutieren. Da ist das Bundesministerium gefordert. Ein aktueller Vorschlag ist zum Beispiel, daß die Möglichkeit bestehen muß, nach dem 30. 9. seinen Dienst als Zivildienstleistender freiwillig weiterzuleisten, natürlich unter verbesserten finanziellen Umständen und natürlich unter der Voraussetzung, daß die Arbeitsplatzgarantie, die ja nach dem Gesetz ausläuft, auch für die möglichen drei Monate oder einen längeren oder kürzeren Zeitraum erhalten bleibt. Es kann nicht sein, daß ein Jugendlicher seinen Zivildienst freiwillig verlängert und die Arbeitsplatzgarantie wegfällt.
— Ja, sicher.Ich wollte das nur anmerken. Das sind Beispiele— wir haben sie alle aufgeführt — , die zu einer Erleichterung der aktuellen Situation führen können.
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17564 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
GilgesIch habe für alle Wohlfahrtsverbände, für alle Träger Verständnis. Ich weiß, wie das vor Ort aussieht. Auch an uns sind Briefe gerichtet worden des Inhalts, es sei alles sehr schlimm, es breche alles zusammen. Da ist das Bundesministerium, da ist die Bundesregierung, da ist auch der Herr Hinze gefordert, dafür zu sorgen, daß diejenigen, die da noch im Stau sind, eingezogen werden, das heißt, daß die Lücken gefüllt werden, daß alle, die zum Zivildienst einziehbar sind, auch eingezogen werden, damit die Schwierigkeiten gemindert werden können.Aber es bleibt im Ergebnis immer wieder dabei: Wir können es nicht zulassen, daß der Pflegenotstand in unserem Lande mit Zivildienstleistenden behoben wird oder überdeckt wird. Dieser Pflegenotstand ist der entscheidende Punkt. Er muß behoben werden, und die Zivildienstleistenden haben eine zusätzliche Aufgabenstellung.Ich will zum Schluß kommen. — Ich hoffe, daß es der Bundesregierung und auch der Regierungskoalition gelingen wird, in den nächsten Jahren den Zivildienst auf die gleiche Dauer wie den Wehrdienst zu bringen, das heißt, auf zwölf Monate oder unter Umständen auch darunter.
— Wir machen das.
— Ich habe ja von der Bundesregierung und der Regierungskoalition gesprochen; vielleicht werden wir das ja dann sein,
ich hoffe das zumindest.Ich hoffe, daß in Zukunft ein bißchen mehr Rechtsfrieden in unserem Lande für die Jugendlichen einkehrt. Das wäre ein wichtiger Beitrag, den wir als Abgeordnete leisten könnten.
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung Dr. Stoltenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Verhandlungen und Vereinbarungen mit unseren Verbündeten und der Sowjetunion haben in den letzten Monaten die Rahmenbedingungen für den sicherheitspolitischen Status eines vereinten Deutschlands in einer für uns wie auch für unsere Nachbarn sehr guten, überzeugenden Form geschaffen und geklärt.Wir können auch jetzt, im September, mit dem Abschluß der Wiener Abrüstungsverhandlungen über konventionelle Streitkräfte noch in diesem Jahr rechnen. Nach dem einmütigen Willen der Mitgliedstaaten des Atlantischen Bündnisses sollen sich unverzüglich Folgeverhandlungen anschließen mit dem Ziel, zu generellen Absprachen über personelle Obergrenzen der Streitkräfte in Europa zu kommen. Das ist ein Kernpunkt des NATO-Gipels vom Juli. Die erste Reaktion der Sowjetunion ist durchaus ermutigend.Vor diesem aktuellen Hintergrund hat die Bundesregierung am 20. August einen Gesetzentwurf beschlossen, durch den die Dauer des Grundwehrdienstes von 15 Monaten auf 12 Monate und die Dauer des Zivildienstes von 20 Monaten auf 15 Monate herabgesetzt werden soll. Ich begrüße es, daß wir durch die entsprechende parallele Initiative der Koalitionsfraktionen bereits heute die erste Lesung im Deutschen Bundestag haben.
Die Bundesrepublik Deutschland leistet mit der vorgesehenen Herabsetzung des Grundwehrdienstes einen wichtigen, über das Ziel der jetzt laufenden Wiener Verhandlungen noch hinausgehenden und auch vertrauensbildenden Beitrag zur Begrenzung der Streitkräfte in einem neuen Europa. Durch die Festlegung des künftigen Personalumfangs unserer deutschen Streitkräfte auf 370 000 Soldaten im vereinten Deutschland ist ein weiterer bedeutender Schritt getan. Damit liegen die wesentlichen Rahmenbedingungen für eine neue Bundeswehrplanung nunmehr vor, jetzt auf Streitkräfte eines vereinten Deutschlands gerichtet.Wenn Herr Gerster an Zitate vom letzten Juni oder an Entscheidungen vom Oktober erinnert hat, dann will ich ihm sagen: Niemand konnte damals mit Sicherheit erkennen, im Juni schon gar nicht und selbst im Oktober noch nicht, daß der Weg so schnell zur Einheit Deutschlands führt. Deshalb brauchen wir eine neue Bundeswehrplanung. Im Herbst sollen erste Grundstrukturen für die künftige Organisation unserer Streitkräfte entschieden werden. Die detaillierte Einzelplanung bis hin zu den Standorten wird danach beginnen können, und sie soll im Frühsommer des kommenden Jahres abgeschlossen werden. Es wird darauf zu achten sein, daß die Kosten für diese Vereinigung getragen werden können. Es wird darauf zu achten sein, daß die Abbauschritte sozial verträglich ermöglicht werden und natürlich auch die Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte in diesem tiefen Umbruch gewährleistet bleibt. Eine anspruchsvolle Aufgabe ist auch, parallel hierzu die neue Struktur und den erforderlichen Umfang der zivilen Bundeswehrverwaltung für ganz Deutschland festzulegen und die notwendigen auch hier eingreifenden Veränderungen unseren Mitarbeitern gegenüber verantwortungsvoll umzusetzen.Gegenstand des vorliegenden Gesetzentwurfs ist auch die Schaffung einer gesetzlichen Regelung, die es gewährleistet, daß die Grundwehrdienst- und Ersatzdienstleistenden an der vorgesehenen Verkürzung teilhaben, und zwar sowohl diejenigen, die nach bisher geltendem Recht zu einem längeren Dienst einberufen worden sind, wie auch diejenigen, die sich noch im Dienst befinden. Die Einzelfragen, Herr Kollege Gilges, die Sie aufgeworfen haben — ich darf das auch für Frau Kollegin Lehr sagen — , werden dann im Ausschuß sicher zu erörtern sein. Aber das Prinzip, das ich hervorhebe, ist nach unserer Auffassung schon aus Gründen der Gleichbehandlung geboten. Es läßt sich sicherstellen, daß rechtzeitig die notwendige gesetzliche Grundlage geschaffen wird, damit bereits am 30. September 1990 die ersten Grundwehrdienst-
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Bundesminister Dr. Stoltenbergleistenden und Ersatzdienstleistenden entlassen werden können, die zu diesem Zeitpunkt mindestens zwölf Monate Wehrdienst oder fünfzehn Monate Zivildienst geleistet haben.Die Bereitschaft der sehr großen Mehrheit des Bundestages, den Gesetzentwürfen zuzustimmen, vorbehaltlich der Einzelberatung, läßt auch erwarten, daß diese Termine eingehalten werden können.
Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist im übrigen auch berücksichtigt, soweit es um andere Pflichtdienste und Zivildienstkomponenten geht. So wird die Mindestverpflichtungsdauer für ehrenamtliche Helfer im Zivil- und Katastrophenschutz von zehn auf acht Jahre und die Mindestverpflichtungszeit im Entwicklungsdienst von zweieinhalb auf zwei Jahre gesenkt. Für die bereits eingegangenen Verpflichtungen ist in diesen Fällen auf Grund von Übergangsregelungen eine Entlassung auf Antrag nach Erreichen der neuen Mindestdienstzeit vorgesehen.
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Frage der Abgeordneten Frau Schilling zu beantworten?
Eine Frage, Frau Kollegin, will ich gern beantworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Können Sie mir bitte einmal erklären, wie Sie zur Vokabel „Gleichbehandlung" kommen, wenn im Grundgesetz steht, daß Wehrdienst und Zivildienst gleich lang sein müssen, Sie dabei aber regelmäßig den Unterschied von drei Monaten machen?
Ich beziehe mich auf das auch Ihnen bekannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das unter Einbeziehung der zusätzlichen Verpflichtungen für die Wehrpflichtigen, etwa den Reservistendienst, gesagt hat, der verfassungsrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung ist gewahrt. Im Übrigen — darauf haben Herr Kollege Hoyer und Herr Kollege Hauser hingewiesen — reduzieren wir den zeitlichen Abstand zwischen Wehrdienst und Zivildienst noch ein Stück.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf enthält ferner finanzielle Anreize für Wehrpflichtige, die sich künftig aus dem Grundwehrdienst heraus freiwillig auf 15 oder 18 Monate als Soldat auf Zeit verpflichten.Es gibt eine Reihe von Dienstposten, für die längere Dienstzeiten erforderlich sind. Hierzu zählen z. B. Verwendungen als Elektroniker, Elektrotechniker und Gerätemechaniker. Auf diesen Dienstposten können Grundwehrdienstleistende nicht mehr uneingeschränkt eingesetzt werden, da sie eine noch geringere Dienstzeit in der Truppe haben werden und die erforderlichen Fähigkeiten dann in der Regel nicht erreichen.Deshalb haben wir beschlossen, eine Zwischenstufe einzuführen. Für Grundwehrdienstleistende wird so die Möglichkeit geschaffen, sich für einige Monate länger zu verpflichten.Die kurzen Verpflichtungszeiten für Grundwehrdienstleistende sollen nach folgendem Prinzip strukturiert sein: Soldaten auf Zeit für 15 Monate — drei Quartale Grundwehrdienst mit Wehrsold und zwei Quartale mit Dienstbezügen — , Soldaten auf Zeit für 18 Monate — zwei Quartale Grundwehrdienst mit Wehrsold und vier Quartale mit Dienstbezügen.Im Ergebnis ist diese Maßnahme übrigens kostenneutral, weil die Soldaten im Rahmen des verfügbaren Planstellenkontingents geführt werden sollen und sie in gewisser Weise auch ein Ausgleich für gegenwärtig nicht in vollem Umfang zu gewinnende Zeitsoldaten sind.Ein weiterer finanzieller Anreiz für diese kurzdienenden Soldaten auf Zeit ergibt sich aus der Einführung einer Übergangsbeihilfe, die das für Wehrpflichtige vorgesehene Entlassungsgeld in Höhe von 2 500 DM übersteigt.Um die künftigen Grundwehrdienstleistenden finanziell nicht zu benachteiligen, sind Bundesregierung und Koalition übereingekommen, die finanziellen Verbesserungen, die aus Anlaß der Verlängerung der Grundwehrdienstzeit von 15 auf 18 Monate im Jahre 1986 durch Erhöhung des Entlassungs-, Weihnachts- und Verpflegungsgeldes geschaffen werden, auch unter den neuen Bedingungen beizubehalten.Die relativ kurzfristige Ankündigung der Reduzierung auf 12 Monate hat zur Folge, daß im dritten Quartal dieses Jahres zwei Quartalseinstellungen entlassen werden und zum 1. Oktober Grundwehrdienstleistende im normalen Quartalsumfang einberufen werden sollen. Es gibt bei der Umstellung gewisse organisatorische Schwierigkeiten; aber insgesamt können der Dienst und die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr auch bei Verkürzung des Grundwehrdienstes gewährleistet bleiben.
Mit der vorgeschlagenen Neuregelung sichern wir eine einheitliche Wehrdienstdauer im vereinten Deutschland. Wir machen mit einer Verringerung der Soldatenzahl um über 35 000 auch einen Schritt auf den eingangs erwähnten Streitkräfteumfang von 370 000 hin.Wir haben im Haushaltsentwurf 1991, der natürlich auch unter dem Vorzeichen der deutschen Einheit noch einmal völlig neu gestaltet werden muß — das ist ja von der Bundesregierung angekündigt — und der im nächsten Jahr zu beraten sein wird, zunächst zusätzlich eine Reduzierung der Zahl der Zeitsoldaten um 5 000 und eine Verringerung der Wehrübungsplätze um ein Drittel vorgesehen.Bei der neuen Überprüfung unserer Planung, auch im Hinblick auf die Situation in der heutigen DDR,
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17566 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Bundesminister Dr. Stoltenbergmüssen wir natürlich die fast 100 000 Soldaten und die nahezu 50 000 zivilen Mitarbeiter im Bereich der heutigen DDR in die Betrachtung einbeziehen. Das ist eine Diskussion, die den heutigen Rahmen hier überschreitet. Aber wir müssen deshalb auch die Schritte zur Reduzierung nach Verwirklichung der Einheit neu bestimmen, vielleicht in einigen Bereichen beschleunigen. In jedem Fall ist es unser Ziel, sie in einer sozial tragbaren Form zu realisieren.Die Ausgangslage in der heutigen Bundesrepublik und in der heutigen DDR ist dabei auch hier recht unterschiedlich. Aber unser Ziel wird sein, auf der Grundlage des Einigungsvertrages und mit den notwendigen Anpassungs- und Zwischenschritten zu einer Bundeswehr für ganz Deutschland zu kommen, die unserer Demokratie, ihren Werten und Normen verpflichtet ist.
Herr Bundesminister, gestatten Sie dem Abgeordneten Gerster eine Zwischenfrage?
Herr Gerster, eine Frage lasse ich gerne zu, weil Sie eingangs gesprochen haben.
Eine Frage möchte ich gerne stellen, Herr Minister Stoltenberg. Sie sagen: Nach der Vereinigung müssen wir diese Schritte möglicherweise neu bestimmen. Kann das nach ihrer Auffassung bedeuten, daß auch Dauer und Art des Grundwehrdienstes neu bestimmt werden müssen?
Nein, ich meine etwas anderes. Im Kontext meiner Ausführungen ist es so zu verstehen, daß wir noch einmal zu überlegen haben, ob wir mit der im Kabinettsbeschluß vom Juli vorgesehenen Reduzierung der Zahl der Zeitsoldaten um 5 000 im nächsten Jahr für das Territorium der Bundesrepublik, für die heutige Bundeswehr wirklich auskommen oder ob eine begrenzte Beschleunigung des Abbautempos unter sozialen Gesichtspunkten vertretbar ist. Das ist mit dem hier Gesagten gemeint.
Wir können, wie ich glaube, die Erfüllung der Aufgabe, moderne Streitkräfte vorzuhalten, die der Demokratie verpflichtet sind, mit Blick auf die grundlegenden positiven Veränderungen in Europa, im WestOst-Verhältnis mit weniger Soldaten und einer kürzeren Wehrdienstzeit gewährleisten. Zugleich bleibt die Wehrpflicht eines der Fundamente für eine in unserem Volk fest verankerte moderne Armee.
Unsere Soldaten und zivilen Mitarbeiter haben in den vergangenen Jahrzehnten in Zeiten schwerer politischer Konflikte entscheidend dazu beigetragen, Frieden und Freiheit für unser Volk und für Europa zu sichern.
Ihr Dienst ist auch in Zukunft unverzichtbar,
wenn wir unter neuen Bedingungen unseren Beitrag für Stabilität, für einen friedlichen Ausgleich und für Konfliktbeherrschung in der Welt von morgen leisten wollen. Deshalb verdienen die Soldaten ebenso wie
die zivilen Mitarbeiter gerade in der Zeit des Umbruchs und tiefgreifender Veränderungen unsere volle Anerkennung, unsere Unterstützung und unsere sichtbare Solidarität.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß ich die Aussprache schließen kann.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/7772 und 11/7781 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Der Gesetzentwurf auf Drucksache 11/e81 soll zusätzlich an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit — zur Mitberatung — sowie an den Haushaltsausschuß — zur Mitberatung und gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung — überwiesen werden. — Andere Vorschläge werden aus dem Hause nicht gemacht. Dann kann ich dies als beschlossen feststellen.Meine Damen und Herren, die Abgeordneten Czaja, Dewitz, Jäger und Rossmanith haben eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Punkt 1 der Tagesordnung — Einigungsvertragsgesetz — abgegeben. Sie haben dabei offensichtlich übersehen, daß eine solche Erklärung nach unserer Geschäftsordnung zur abschließenden Abstimmung, aber nicht in der ersten Lesung zulässig ist. Ich sage das deswegen, damit keine formalen Schwierigkeiten entstehen. Die Abgeordneten werden in ihren Rechten selbstverständlich nicht beschränkt.
— Herr Abgeordneter Gilges, das ist aber nicht die Aufgabe des Präsidiums, sondern der Abgeordneten selber.Bei dem heute in erster Beratung behandelten Gesetzentwurf der CDU/CSU und FDP über die Inkraftsetzung von Vereinbarungen betreffend den befristeten Aufenthalt von alliierten Streitkräften nach Herstellung der Deutschen Einheit auf Drucksache 11/7763 soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Überweisung geändert werden, und zwar wie folgt: Der Gesetzentwurf soll dem Ausschuß Deutsche Einheit — zur federführenden Beratung — und dem Auswärtigen Ausschuß, dem Innenausschuß, dem Rechtsausschuß und dem Verteidigungsausschuß — zur Mitberatung — überwiesen werden.
— Das ist nicht beantragt worden. Ich sehe im Moment auch keine Notwendigkeit. Herr Abgeordneter Jungmann, es handelt sich um einen Gesetzentwurf über die Inkraftsetzung von Vereinbarungen betreffend den befristeten Aufenthalt von alliierten Streitkräften. Ich nehme an, daß Ihre Überlegungen bei dieser Korrektur berücksichtigt worden sind.Ich frage das Haus, ob es mit diesem geänderten Überweisungsvorschlag einverstanden ist. — Das ist der Fall. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17567
Vizepräsident CronenbergIch rufe nunmehr Punkt 5 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der personellen Struktur in Bereichen der Bundesverwaltung, die durch die Einrichtung des Europäischen Binnenmarktes und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten besonders betroffen sind— Drucksache 11/7782 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
FinanzausschußHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 93 GODer Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 30 Minuten vor. — Auch damit ist das Haus einverstanden.Im übrigen wäre ich den Abgeordneten und dem Staatssekretär, die sich an der Debatte zu beteiligen wünschen, dankbar, wenn sie ihre Redebeiträge zeitlich möglichst beschränken würden. Das ist hoffentlich kein vergebliches Bemühen des Präsidiums, zumal die GRÜNEN schon auf einen Redebeitrag verzichtet haben.Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Carstens das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung begrüßt es sehr, daß die Koalitionsfraktionen die hier debatierte Initiative der Bundesregierung aufgegriffen haben. Sie helfen damit, im Bereich der Zollverwaltung schnell und wirksam auf die besonderen personalwirtschaftlichen Herausforderungen reagieren zu können. Wir bekommen mit der geplanten Regelung ein zusätzliches Instrument in die Hand, um in dieser historischen Situation rasch und sozial verträglich den Umfang und die Struktur der Verwaltung an die geänderten Aufgaben anzupassen. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten wie auch die bevorstehende Vollendung des europäischen Binnenmarktes werden in bestimmten Bereichen des öffentlichen Dienstes beträchtliche Auswirkungen haben. Wegen der Eigenart ihrer Aufgaben ist hiervon die Zollverwaltung besonders betroffen.
Mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sind die Aufgaben des Zolls an der innerdeutschen Grenze und in Berlin seit dem 1. Juli 1990 fast völlig entfallen. Bis zum 3. Oktober 1990 verbleiben dort nur noch unwesentliche Restaufgaben. Damit werden rund 2 500 Beamte des mittleren Dienstes an der deutsch-deutschen Grenze frei.
Noch stärkere, allerdings erst in den nächsten Jahren eintretende Folgen wird die Schaffung des europäischen Binnenmarktes haben. Bisher sind etwa 3 400 Beamte des mittleren Dienstes mit binnenmarktbezogenen Tätigkeiten beschäftigt. Ihre Aufgaben werden fortfallen, sobald die Steuervorschriften harmonisiert und der Binnenmarkt innerhalb der Gemeinschaft von den bisherigen Beschränkungen und Überwachungsmaßnahmen befreit worden sind.
Insgesamt werden daher in den kommenden Jahren von den rund 20 000 Beamten des mittleren Zolldienstes voraussichtlich mehr als 5 000 ihre bisherigen Aufgaben verlieren. Es wird in erster Linie versucht werden, die betroffenen Beamten ihrer Qualifikation entsprechend, gegebenenfalls nach Umschulung, in anderen Arbeitsbereichen des Zolls oder auch in anderen Verwaltungen weiter zu beschäftigen. Wir haben daher die Initiative ergriffen und die Innen- und Finanzminister der Länder gebeten, an der innerdeutschen Grenze und in Berlin Zollbeamte in heimatnahe Bereiche zu übernehmen. Die Sorge um das Schicksal dieser Beamten und ihrer Familien liegt uns besonders am Herzen. Um den Ländern und Kommunen die Übernahme und Eingliederung zu erleichtern, haben wir auch angeboten, uns großzügig an dadurch entstehenden Kosten zu beteiligen. Die bisherige Resonanz der Länder ist unterschiedlich. Während Bayern und Berlin dankenswerterweise schon konkrete Angebote gemacht haben, hat uns die Reaktion des niedersächsischen Innenministers arg enttäuscht, der unüberwindliche laufbahnrechtliche Probleme sieht, die andere Länder für ihren Bereich bereits gelöst haben.
Auch wenn wir in unseren Bemühungen nicht nachlassen werden — Niedersachsen sollte noch einmal nachdenken — , ist davon auszugehen, daß wir gerade für die lebensälteren Beamten kaum anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten finden werden. Daher wird sich im mittleren Dienst der Zollverwaltung ein Personalüberhang von etwa 3 500 Beamten ergeben.
Um den erforderlichen Personalabbau zu bewältigen, halte ich die vorzeitige Pensionierung älterer Beamter, wie der Gesetzentwurf das vorsieht, für das verträglichste und wirksamste Mittel. Herr Kollege Kappes wird zu diesem Gesetzentwurf und seinen Auswirkungen weitere Einzelheiten vortragen.
Insgesamt liegt der Gesetzentwurf im Interesse der Verwaltung ebenso wie der betroffenen Beamten. Die Weiterbeschäftigung nicht mehr benötigter Kräfte ist erheblich teurer als die Zahlung von Ruhestandsbezügen bei Wegfall der bisherigen Planstelle. Deshalb werden bei der Zollverwaltung für die gesamte Laufzeit Einsparungen erwartet, die zwar schwer quantifizierbar sind, aber mit Sicherheit mehrere hundert Millionen DM ausmachen werden.
Für den Kreis der Betroffenen bietet die geplante Regelung die Möglichkeit, sonst unvermeidbare soziale Härten für ältere Mitarbeiter zu mildern.
Herr Staatssekretär, der Abgeordnete Struck möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herr Staatssekretär Carstens, können Sie mir bestätigen, daß ein Zollbeamter des mittleren Dienstes, wenn denn die Vorruhestandsregelung, die Sie vorschlagen, Gesetz wird, in der Regel mit einem Ruhegehalt von unter 2 000 DM in den Ruhestand gehen wird?
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17568 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Das kommt sehr auf die Einzelheiten an, Herr Kollege Struck. Das ist völlig klar. Es wird sicherlich solche Fälle geben. Aber Sie müssen dabei auch bedenken, daß das ein Angebot unsererseits ist und niemand gezwungen wird, dieses Angebot anzunehmen. Sie müssen das Ganze auch im Zusammenhang mit den anderen im öffentlichen Dienst und sonstwo Beschäftigten sehen. Das muß ja insgesamt verträglich sein. Deswegen haben wir diese Kompromißlösung vorgeschlagen. Wir nehmen an, daß sie ihre Wirkung auf positive Weise erzielen wird.
Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr über die Bereitschaft — damit möchte ich schließen — , der Zollverwaltung bei der Lösung der außergewöhnlichen und nicht vorhersehbaren Probleme zu helfen, die durch die einmalige historische Entwicklung entstanden sind. Ich danke Ihnen dafür.
Das Wort hat der Abgeordnete Egon Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein Novum, wenn ein Regierungsmitglied einen Gesetzentwurf der Koalition einbringt. Das zeigt
die „enge Zusammenarbeit" und natürlich das Bedürfnis, dieses Gesetz im Schlußgalopp des 11. Deutschen Bundestages verabschieden zu lassen.Das Problem brennt auch auf den Nägeln. Jahrelang hat es die Bundesregierung vor sich hergeschoben; nun eilt es. In der Tat hat der Wegfall der Binnengrenzen im sogenannten Schengener Raum und der Wegfall der innerdeutschen Grenzen die Zollbeamten in eine bedrängte Lage gebracht. Soweit dies die Folgen von Schengen betraf, war das seit Jahren abzusehen. Die Folgen der Einheit allerdings sind erst seit Monaten real abzuschätzen.Kurzum: Der Zoll muß Arbeitsplätze abbauen, Aufgaben umschichten, Beamte an andere Behörden weitervermitteln. Schließlich muß er auch das tun, was jeder Arbeitgeber bei Teilschließungen und Betriebsverlagerungen tun würde: Er muß die Chance nützen, die älteren Betroffenen in den Vorruhestand schicken zu können. Helfen soll dazu dieser Gesetzentwurf. Insofern ist er schlüssig.Entworfen wurde er, wie wir gerade gehört haben, im Finanzministerium. Die Koalition hatte die Aufgabe, ihn auf den Weg zu bringen.Ich könnte mir schon vorstellen, daß der Regierung daran gelegen wäre, ihn möglichst unauffällig über die Hürden zu bringen. Ich muß Sie enttäuschen: So einfach wird das nicht gehen. Dieser scheinbar so einfache Entwurf wirft mehr Fragen auf, als er Lösungen anbietet.
Ich will einmal die wichtigsten nennen:Erstens. Man muß schon längere Zeit im Geschäft stecken, um den eigentlichen Pferdefuß zu entdecken. Hier wird eine Sonderregelung auf die Schiene gesetzt, die unausgesprochen als Pilotgesetz für nachfolgende Sonderregelungen spätestens im nächsten Bundestag in Anspruch genommen wird, z. B. um den Personalabbau beim Grenzschutz, bei der Bundeswehr und deren ziviler Verwaltung und bei den verschiedensten Nachrichtendiensten zu erleichtern. Damit wird es natürlich notwendig, diesen Gesetzentwurf besonders sorgfältig zu prüfen.Zweitens. Um die Zustimmung zu erleichtern, hat das Haus Waigel wieder einmal eine abenteuerliche Berechnung der finanziellen Folgen der Frühpensionierung von 3 500 Zollbeamten des mittleren Dienstes vorgelegt. Es heißt lapidar, innerhalb des Geltungszeitraums des Gesetzes, also innerhalb der fünf Jahre, würden dadurch 600 Millionen DM eingespart. Man reibt sich die Augen und rechnet nach: Jeder frühpensionierte Zollbeamte würde demnach dem Bund einen Reingewinn von 171 428 DM bzw. 34 285 DM im Jahr bringen. Meine Herren, wenn das stimmt, haben Sie den finanziellen Stein der Weisen und ein Teilfinanzierungsinstitut für die deutsche Einheit entdeckt.
Wenn Sie nämlich demnächst 45 000 ältere Beamte aus dem Bereich des BGS, der Bundeswehr und der Nachrichtendienste nach dem gleichen Prinzip frühpensionieren sollten, stiege Ihr Gewinn schon auf 6,857 Milliarden DM,
und er würde immer höher ausfallen, je beherzter Sie frühpensionieren.Dabei — so beteuern die Beamten des Hauses Waigel — habe man die Vorruhestandsgelder schon gegengerechnet. — Das sind übrigens die gleichen Beamten, die bei ihren Luftrechnungen über die Kosten der deutschen Einheit einen Vollarbeitsplatz im öffentlichen Dienst der DDR mit 15 000 DM Personalkosten veranschlagt haben.
— Pro Jahr.
Als dem Ministerium zu Ohren gekommen war, daß wir erhebliche Zweifel an der Berechnungsgrundlage haben, flatterte uns per Fax eine Erläuterung auf den Tisch. Und siehe da: Plötzlich hat man die Kosten nicht auf die auf die im Gesetz beschriebenen fünf Jahre gerechnet, sondern auf 15 Jahre. Ich kann nur fragen: Warum nicht auf 50 Jahre? Denn die Arbeitsplätze würden dann immer noch fortgefallen sein, aber immer mehr der Frühpensionierten wären dann als Versorgungsfälle nicht mehr vorhanden.
Das sind schon abenteuerliche Taschenspielereien. Ich wundere mich nur, daß Sie dem Parlament einen solchen Unsinn zumuten. Da werden Sie noch eine Menge zu begründen haben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17569
LutzDrittens werden Sie beweisen müssen, daß auch für Sie die Frühpensionierung wirklich nur die Ultima ratio war und daß Sie wirklich alle Möglichkeiten der Versetzung, einer anderen Aufgabenzuweisung und der Fort- und Weiterbildung der Beamten ausgeschöpft haben. Dies hat der Gesetzgeber 1989 so beschlossen. Wir werden darauf achten, daß Sie diesem Gesetzesbefehl auch nachkommen. Ich kann Ihnen nur raten, daß dieser Nachweis für den gesamten Zoll die Qualität des Berichts der Arbeitsgruppe Ostgrenze erreicht.Viertens gehört zu einer korrekten Bewertung des gesamten Personalum- und -abbaus, daß Sie uns nicht nur Phantasiezahlen für den Teilbereich der Frühpensionierung vorlegen, sondern daß Sie auch die Gesamtkosten der Operation beziffern. Dann wird sich sehr schnell herausstellen, daß wie in jedem privatwirtschaftlichem Betrieb derartige Veränderungen nicht zum Nulltarif zu bekommen sind.Der fünfte und letzte Prüfungspunkt wird schließlich sein, inwieweit wir wieder einmal von dem so oft gemeinsam bekräftigten Ziel abweichen, Vorruhestandsregelungen im öffentlichen und im privatwirtschaftlichen Bereich nicht noch weiter auseinanderklaffen zu lassen.Sie sehen also, so klammheimlich durch die Hintertür oder durch die Hinterlegung der Redemanuskripte kann man die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs nicht erreichen. Je offener und ehrlicher Sie dabei mit uns die eben aufgeworfenen Fragen erörtern, um so eher können Sie mit einer Zustimmung zu diesem Gesetz rechnen.Den Damen und Herren von der Koalition — es sind nur noch Herren anwesend — können wir nur raten, nicht unbesehen jede Genieleistung dieser Regierung zu übernehmen. Auch Sie sind zur kritischen Kontrolle verpflichtet. Bis jetzt haben wir noch nichts davon verspürt. Aber, Herr Kappes, es kann ja noch kommen.
Das Wort hat der Abgeordnete Franz-Hermann Kappes.
— Es steht dem Präsidenten nicht zu, die Beiträge der Abgeordneten zu bewerten, Herr Dr. Penner.
Ob ich es nun schwer habe, kann ich nicht erkennen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In weniger als einem Monat wird der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wirksam werden.
Damit gehört dann die unser Vaterland seit mehr als
40 Jahren trennende innerdeutsche Grenze endgültig
der Vergangenheit an. Mit der Vollendung des europäischen Binnenmarktes am 31. Dezember 1992 werden zudem in Europa die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft ihren trennenden Charakter verlieren. Dies wird weitere Fortschritte auf dem Weg zur europäischen Einigung ermöglichen.
Meine Damen und Herren, sowohl die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands als auch das Zusammenwachsen Europas sind natürlich mit erheblichen Auswirkungen auch auf die Aufgaben- und Organisationsstrukturen vor allem bestimmter Zweige der öffentlichen Verwaltung verbunden. So werden vor allem, wie wir es hier eben schon gehört haben, im Bereich der Zollverwaltung Aufgaben entfallen. Etwa 5 000 Beamte werden ihre bisherigen Aufgaben verlieren.
Diese ganz außergewöhnliche und im wahrsten Sinne des Wortes einmalige Situation erfordert auch entsprechende außergewöhnliche, einmalige Maßnahmen.
Selbstverständlich — wir haben es gehört — muß im Interesse der betroffenen Beamten in erster Linie nach einer den erworbenen Qualifikationen entsprechenden Weiterbeschäftigung in anderen Arbeitsbereichen oder Verwaltungen gesucht werden. Aber wir dürfen nicht übersehen, daß auf diesem Wege wohl allenfalls etwa 1 500 der erwähnten 5 000 Angehörigen des mittleren Zolldienstes eine anderweitige Verwendung finden können.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner zu beantworten?
Einen kleinen Moment, bitte.
Für die verbleibenden 3 500 Beamten des mittleren Dienstes der Zollverwaltung müssen wir flankierende Maßnahmen vorsehen — auch das ist hier vom Vertreter der Bundesregierung zu Recht gesagt worden — , die sozial verträglich sind und die zugleich den Bundeshaushalt entlasten.
An dieser Stelle möchte ich sagen, Herr Lutz: Sie haben hier nicht vorrechnen können, daß das mit den 600 Millionen DM nicht stimmt. Ich kann das nicht nachvollziehen. Ich gehe zunächst einmal davon aus, daß das so ist. Aber das ist wohl auch nicht das Entscheidende. Wir sehen die Regelung dieser Frage, auf die ich gleich noch mit ein paar Einzelheiten eingehen will, in erster Linie unter dem Aspekt einer humanen Gestaltung des Arbeitslebens. Man kann die Leute ja nicht einfach ohne Arbeit weiter behalten. Man muß also nach Ideen Ausschau halten. Erst in zweiter Linie ist es eine Frage der eingesparten Mittel.
Herr Kollege Kappes, Sie haben vorhin Ihre Gesetzesinitiative als einmalig bezeichnet, nur auf dem Hintergrund außergewöhnlicher Umstände, die uns allen bekannt sind, zu erklären. Darf ich daraus schließen, daß wir künftig von Ihrer Seite keine ähnlichen Gesetzesinitiativen für den Bundesgrenzschutz, für die Bundeswehr, für die Volkspolizei,
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17570 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990
Dr. Penner
für die Nationale Volksarmee oder die Dienste zu erwarten haben?
Das dürfen Sie, Herr Kollege Penner, nicht daraus schließen.
Ich meine mit „Einmaligkeit", daß wir in einer einmaligen Situation sind.
— Meine Damen und Herren, Sie führen die Diskussion hier so wie die gesamte Diskussion über die deutsche Einigung. Sie kritisieren Dinge, ohne Alternativen aufzuzeigen. Sie wissen ganz genau, daß wir zu viele Mitarbeiter auch in den Verwaltungen haben werden. Das gilt nicht nur für den Zoll.
Ich meine, daß wir die Beamten und Mitarbeiter hier vorzeitig ausscheiden lassen, ist ein einmaliger Vorgang. Es kann nicht etwa auf Dauer die Regel werden, daß die Leute mit 55 Jahren einfach aufhören können. Sie wissen doch genau, wie ich das meine.
Noch eine Zwischenfrage?
Ja, bitte. Wir wollten die Sache aber kurz machen.
Natürlich. Aber es ist doch ganz amüsant, sich so zu treffen. — Darf ich denn aus Ihrer Äußerung schließen, daß Sie in bezug auf die unleugbaren Probleme des öffentlichen Dienstes scheibchenweise vorgehen wollen: zunächst den Zoll, dann den Bundesgrenzschutz, dann die Nationale Volksarmee, dann die Bundeswehr, dann die Dienste ppp.?
Ich kann mir nicht vorstellen, Herr Kollege Penner, daß Sie, wenn Sie die Regierungsverantwortung hätten, alles auf einmal erledigen könnten.
Auch Sie müßten sicher schrittweise vorgehen, so wie sich die sachlichen Notwendigkeiten ergeben.
Meine Damen und Herren, diesen Zwecken, die ich eben genannt habe, dient der vorliegende Gesetzentwurf, der für einen befristeten Zeitraum — ich betone: befristeten Zeitraum — vorsieht, lebensälteren Beamten ab dem 55. Lebensjahr bei entsprechendem dienstlichen Interesse die Möglichkeit der vorzeitigen Pensionierung zu eröffnen, wenn ihre Aufgaben durch die Einrichtung des Europäischen Binnenmarktes oder die Vereinigung der beiden deutschen Staaten entfallen. Hierdurch wird, wie ich schon sagte, dem Dienstherrn die Möglichkeit gegeben, die
Zurruhesetzung auch nach Zahl und Qualifikation zu steuern.
Gleichzeitig wird — ich betone das noch einmal — der Haushalt entlastet, weil eine Weiterbeschäftigung nicht mehr benötigten Personals vermieden wird.
Herr Staatssekretär Carstens hat angekündigt, daß ich hier noch einige Einzelheiten zusammenfassend mitteilen würde.
Ich weiß nicht, ob das meine Zeit hier gestattet. —
Meine Damen und Herren, wichtig ist mir, daß wir die genannten Ziele natürlich nur dann erreichen können, wenn die in Frage stehenden Beamten unser Angebot auch annehmen. Wir werden deshalb auch bei den Beratungen im Innenausschuß, Herr Kollege Lutz, gemeinsam ganz besonders sorgfältig prüfen — das werden nicht nur Sie tun, sondern das tun auch wir immer — , ob die vorgesehenen Konditionen für den Antrag auf vorzeitige Pensionierung auch ausreichen. Es muß sichergestellt werden, daß das Angebot von den Beamten des Zolls auch tatsächlich angenommen wird.
Ich darf den Herrn Präsidenten fragen: Bedeutet die „01 " hier, daß meine Redezeit gleich zu Ende ist?
Herr Abgeordneter, Sie haben noch Zeit. Ich habe Ihnen auch die ausführliche Beantwortung der Fragen des Abgeordneten Penner nicht angerechnet.
Das wollte ich sicherstellen. Wenn das so ist, würde ich gern, der Anregung von Herrn Parlamentarischem Staatssekretär Carstens folgend, noch einmal kurz zusammenfassen, was das Wichtige an dem Gesetz ist:Erstens. Das Gesetz wird bis zum Ende des Jahres 1995 befristet und bleibt schon dadurch auf die besondere, eben hier schon besprochene Ausnahmesituation beschränkt.Zweitens. Es wird ausdrücklich festgeschrieben, daß eine anderweitige Verwendung der unmittelbar betroffenen Beamten in der eigenen oder anderen Verwaltungen Vorrang genießt. Ich betone das erneut.Drittens. Anträgen auf Zurruhesetzung ist nur zu entsprechen, wenn hierfür ein dienstliches Interesse besteht. Dadurch hat der Dienstherr die Möglichkeit, nach Zahl und Qualifikation zu steuern.Viertens. Eine globale Belastung des Arbeitsmarktes ist wegen des fortgeschrittenen Alters der Beamten — vorhin war hier von „älteren Beamten" die Rede; ich scheue mich, das bei 55jährigen zu sagen, aber immerhin sind sie doch in gewisser Weise fortgeschrittenen Alters — nicht zu erwarten.
Fünftens. Im Interesse der sozialen Ausgewogenheit sieht der Entwurf die Anrechnung privater Ein-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. September 1990 17571
Dr. Kappeskünfte auf die Versorgungsbezüge des Beamten in dem Sinne vor, wie wir es kürzlich bei der Reform der Altersversorgung für die Zeit ab 1. Januar 1992 vereinbart hatten.Sechstens und schließlich ist trotz der vielfachen Forderungen nach einem Ausgleich von Einkommensverlusten vor allem im Interesse der Erhaltung des Rentenkonsenses darauf verzichtet worden, hier besondere finanzielle Anreize zu schaffen, etwa durch Verbesserung von Versorgungsleistungen.Ich will aber für den Innenausschuß noch einmal betonen, daß wir über die Attraktivität unseres Angebotes dort sehr wohl noch einmal miteinander sprechen müssen, denn es hätte wenig Sinn, wenn dieses Angebot nicht auch angenommen würde. In diesem Sinne stimmen wir einer weiteren Beratung der Vorlage in den Ausschüssen zu.Vielen Dank.
— Wir wollen sie jedenfalls beraten, Herr Kollege Penner; ich kann das auch anders ausdrücken.
Nun hat zum Schluß der Abgeordnete Manfred Richter das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, aber auch das Zusammenwachsen der Europäischen Gemeinschaft werden eine Vielzahl von Veränderungen für die Menschen mit sich bringen. Dieses betrifft in besonderem Maße natürlich bestimmte Bereiche des öffentlichen Dienstes, etwa, worüber wir hier reden, des Grenzzolldienstes. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird für einen befristeten Zeitraum die Möglichkeit geschaffen, betroffene Beamte ab dem 55. Lebensjahr vorzeitig in den Ruhestand versetzen zu können. Dabei haben dienstliche Belange den Vorrang, Kollege Lutz. Wer anderweitig beschäftigt werden kann, egal ob in der eigenen Verwaltung oder in anderen Verwaltungen, der braucht nicht von der Ruhestandsregelung erfaßt zu werden, und er wird es nach dieser Vorlage auch nicht.
Dem Gesetzentwurf liegen fürsorgerische Erwägungen des Bundesfinanzministers für die betroffenen Beamten des Grenzzolldienstes zugrunde; der Herr Parlamentarische Staatssekretär hat das hier eben richtig dargestellt. Diese Beamten haben sich nämlich wegen ihrer speziellen Laufbahn in ihrer Lebensplanung darauf einrichten können, an bestimmten Dienstposten an den jeweiligen Grenzen und nicht weiter als in erträglichem Maße von ihrem Wohnort entfernt Dienst tun zu können. Versetzungen gegen ihren Willen führen gerade auch bei Wohneigentum zu unabsehbaren wirtschaftlichen Schäden; es kommen weitere Belastungen hinzu. Es ist z. B. darauf hingewiesen worden, was geschieht, wenn mitarbeitende Ehefrauen betroffen werden.
Dieser Gesetzentwurf ist in der Tat — Herr Penner, Sie haben in Zwischenrufen mehrmals darauf hingewiesen — aus Zeitgründen von den Koalitionsfraktionen vorgelegt worden; er ist wortgleich mit dem der Bundesregierung. Die Anregungen und Bedenken der Gewerkschaften und Verbände aus dem durchgeführten Beteiligungsverfahren konnten aus diesem Grunde noch keine Berücksichtigung finden. Wir werden diese im Ausschuß eingehend zu prüfen haben und uns von dem Grundsatz leiten lassen, das Angebot so attraktiv zu machen, daß davon auch Gebrauch gemacht wird und die Versetzungsbereitschaft grundsätzlich erhalten bleibt. Das ist im Grunde die Gratwanderung, auf der wir uns bewegen: Die Akzeptanz muß einerseits gefördert werden, und die sozialen Aspekte müssen andererseits ausschlaggebend sein.
Zu prüfen bleibt im Ausschuß nach Ansicht der FDP-Bundestagsfraktion u. a. noch, ob die mögliche Ausweitung der Anwendung auf andere Verwaltungsbereiche als nur die Zollverwaltung notwendig ist und, wenn ja, auf welche. Dazu könnten die Verwaltungsbereiche zählen, die tatsächlich insbesondere durch die deutsche Vereinigung betroffen sind und wo wirklich Aufgaben wegfallen. Es muß aber auch bedacht werden, daß es Verwaltungsbereiche gibt, die einen hohen Anteil an Tarifangestellten und Arbeitern haben. Weiterhin wird zu prüfen sein, ob und welche Ausgleichsregelungen für Beamte zu finden sind, die den Höchstruhegehaltssatz noch nicht erreicht haben. Davon gibt es besonders im mittleren Dienst eine ganze Menge.
Es kommen dafür eine Reihe von Lösungsmöglichkeiten in Betracht, etwa die Suspendierung der in § 5 des Beamtenversorgungsgesetzes normierten Frist, wonach der Beamte die Versorgung aus dem letzten Statusamt nur erhält, wenn er dies zwei Jahre innehatte. Denkbar wäre auch, bei den Ruhegehaltsbezügen die nächsthöhere Beförderungsstufe zugrunde zu legen oder etwa eine einmalige Abfindung zu gewähren. All das werden wir, wie gesagt, im Ausschuß prüfen. Nichts ist endgültig, was hier in der ersten Lesung debattiert wird. Ich meine, mit diesem Maßstab sollte man auch dieses Gesetz beurteilen.
Für Ihre Aufmerksamkeit danke ich Ihnen.
Meine Damen und Herren, damit Sie den allseits gewünschten Beratungen im Ausschuß nachkommen können, bitte ich Sie, der Überweisung dieser Gesetzesvorlage auf Drucksache 11/7782 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuzustimmen. Ergänzend wird gewünscht, daß der Haushaltsausschuß die Vorlage auch gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung berät. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich habe nunmehr noch die Pflicht, den Deutschen Bundestag zu seiner nächsten Sitzung am Mittwoch, dem 12. September 1990, 13 Uhr einzuberufen.
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend und schließe die Sitzung.