Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich des Opfers des Mordanschlages vom vergangenen Freitag gedenken.
Am 1. Februar 1985 morgens gegen 7.30 Uhr wurde der Vorsitzende der Geschäftsführung der Motoren- und Turbinen-Union, MTU, Dr. Ernst Zimmermann im Alter von 55 Jahren heimtückisch in seinem Wohnhaus in Gauting bei München ermordet.
Das Opfer ahnte nichts Böses. Unbefangen wurde den Mördern die Tür geöffnet. Ein Mann, der nichts als seine Pflicht getan hatte, wurde in einer Weise ermordet, die uns alle schauern läßt.
Der Deutsche Bundestag gedenkt des Verstorbenen in Ehrerbietung und Trauer. Wir verneigen uns vor dem Opfer, das Ernst Zimmermann erbringen mußte. Denn die Mörder haben ihn in ihrer Verirrung stellvertretend für unsere gesamte staatliche Ordnung — und das heißt: stellvertretend für uns alle — treffen wollen. Seinen Angehörigen gilt unser ganzes Mitgefühl.
Unser Rechtsstaat wird auch diese Herausforderung bestehen. Diese zweite deutsche Republik — der freiheitlichste Staat, den es je auf deutschem Boden gegeben hat — wird niemals durch die Taten einiger irregeleiteter Gewalttäter aus den Angeln gehoben werden können. Und für das ganze Haus stelle ich fest: Gewalt kann und wird niemals ein von uns akzeptiertes Mittel der Politik sein.
Sie haben sich, meine Damen und Herren, zu Ehren des Toten von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich noch folgende Mitteilungen machen:
Am 26. Januar 1985 hat der Abgeordnete Haar seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ich darf dem Kollegen im Namen des ganzen Hauses zu diesem runden Geburtstag alle guten Wünsche übermitteln.
Für den als Stellvertreter aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Schäuble schlägt die Fraktion der CDU/CSU als Nachfolgerin die Abgeordnete Frau Fischer vor. Ist das Haus mit diesem Vorschlag einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Damit ist die Abgeordnete Frau Fischer an Stelle des Abgeordneten Dr. Schäuble als Stellvertreter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Beratung des Jahresgutachtens 1984/85 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
— Drucksache 10/2541 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Beratung des Jahreswirtschaftsberichts 1985 der Bundesregierung
— Drucksache 10/2817 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 2 a und 2 b und eine Aussprache von fünfeinhalb Stunden vorgesehen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister für Wirtschaft das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte die Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht auch meinerseits mit einigen Worten zu Ehren des von Terroristen ermordeten Dr. Ernst Zimmermann beginnen; denn sosehr wir uns im Bundestag über wirtschaftspolitische Strategien und Bewertungen streiten werden, so sehr wird sich das ganze Haus in der Trauer um den Toten und im Abscheu gegenüber seinen Mördern finden. Die Bundestagssitzung hier wie die Trauer-
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8830 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Bundesminister Dr. Bangemannversammlung in München sind von der gleichen Gesinnung getragen: Wir vereinigen uns mit denen, die in München von Ernst Zimmermann Abschied nehmen, in dem Gedenken um einen aufrechten Mann, der den Todfeinden der Demokratie zum Opfer gefallen ist.Auf diese Gewalt kann unsere Antwort nur sein: Wir beugen uns der Gewalt nicht. Wir geben dem Terror keine Chance. Wenn die Mörder gehofft haben, sie würden diesen Staat mit ihrem Anschlag lähmen, so haben sie sich getäuscht.Wir sind erschüttert über diese Tat. Wir trauern mit den Angehörigen und Freunden von Dr. Ernst Zimmermann. Wir werden, wissend, daß es den absoluten Schutz nicht gibt, alles Erdenkliche tun, um die Sicherheit in unserem Lande zu vervollkommnen. Wir werden uns aber in gar keinem Fall durch eine Mörderbande in unserer Arbeit beirren lassen.
Meine Damen und Herren, die wirtschaftspolitische Debatte, die wir heute führen, spielt sich vor unterschiedlichen Hintergründen ab. Der wirtschaftliche Aufschwung in der Bundesrepublik ist in sein drittes Jahr eingetreten. Ich füge gleich hinzu: Man kann davon ausgehen, daß ein Ende dieses Aufschwungs nicht in Sicht ist. Auch die aktuellen Arbeitsmarktzahlen stehen dem nicht entgegen. Ich werde darauf noch ausführlich eingehen.
Die von der Bundesregierung im Herbst 1982 eingeleitete Politik der marktwirtschaftlichen Erneuerung hat sich als erfolgreich erwiesen.
Gravierende Fehlentwicklungen in der Vergangenheit konnten beseitigt werden,
und die Voraussetzungen für eine Fortdauer der konjunkturellen Expansion sind so gut wie lange nicht mehr.
Das ist ein Zeugnis, das uns von vielen Seiten ausgestellt worden ist. Der unabhängige Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat erst vor kurzem — ich zitiere wörtlich — ausgeführt, daß die Chancen für einen langen Aufschwung vorhanden sind. Wer den Rat kennt, weiß, daß er mit Lob nicht verschwenderisch umgeht. Wir finden das auch richtig; denn wir brauchen ein objektives Urteil.Wem die Prädikate des Sachverständigenrats nicht passen, wem die Propheten oder die Weisen im eigenen Lande nichts gelten, der braucht nur über den Zaun zu sehen,
denn von dort klingt es auch nicht anders.Die Grundlinie unserer Wirtschaftspolitik wird durch internationale Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds und die OECD nachdrücklich unterstützt. Der Internationale Währungsfonds bescheinigt der deutschen Wirtschaftspolitik eine optimale Mischung von Fiskal-, Geld-und Strukturpolitik. Die OECD testiert der Bundesrepublik in ihrem letzten Deutschlandbericht — ich zitiere wörtlich —, bei der Verwirklichung mehrerer wichtiger Ziele der Wirtschaftspolitik ein gutes Stück vorangekommen zu sein.Präsident Mitterrand nannte es zuletzt einen kleinen Wachstumsboom, den die Deutschen da veranstalten, und empfahl seinen Landsleuten, das deutsche Beispiel nachzuahmen.Nicht zuletzt hat die angesehene „Financial Times" auf ihre Weise kurz und bündig den Befund so ausgedrückt:Gemessen an den Maßstäben, wie sie gegenwärtig von der Mehrzahl aller Länder in dieser Welt akzeptiert werden, hat die Regierung von Kanzler Helmut Kohl so ziemlich alles richtig gemacht.
Das ist nicht ein Urteil, das ich hier selber abgebe, sondern ich zitiere nur, weil es natürlich schwer ist, der Opposition ein eigenes Urteil so zu unterbreiten, daß sie dies auch annimmt.Man kann auch die Londoner „Times" vom 15. Januar nehmen, die nur Fakten sprechen läßt: Verdoppelung der wirtschaftlichen Wachstumsrate gegenüber 1983; mit 2,4 % die niedrigste Inflationsrate seit 15 Jahren; maßvoller Anstieg der Lohnkosten; wachsende Erträge der Unternehmen; starke Neuinvestitionen auch in Technologien; ein Rekordüberschuß in der Handelsbilanz und allgemein das Bewußtsein, daß man auf dieser Basis weiterbauen kann.
Dies ist eine ermutigende Bilanz, eine solide Grundlage. Deswegen erwarten wir für 1985 einen weiteren realen Anstieg des Bruttosozialprodukts im Jahresdurchschnitt von 21/2% oder auch mehr, eine Zunahme der Beschäftigung, und zwar erstmals seit 1979 im Jahresdurchschnitt auch eine Abnahme der Arbeitslosigkeit,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8831
Bundesminister Dr. Bangemannund einen erneut nur verhaltenen Anstieg der Verbraucherpreise von durchschnittlich etwa 2 %.
Der Sachverständigenrat hat noch günstigere Zahlen vorgetragen. Er hält ein Wachstum auch von 3% für möglich. Ich glaube, daß das nicht auszuschließen ist. Aber wir haben es unseren Berechnungen nicht zugrunde gelegt, weil wir diese Zahl an der oberen Grenze des Erreichbaren ansiedeln.Auch der Chef der Bank für Gemeinwirtschaft, dem man nun wirklich nicht eine allzu große Nähe zu dieser Regierung nachsagen kann, hält 3 % Wachstum oder sogar noch mehr für durchaus erreichbar.Wenn die Bundesregierung mit ihrer Schätzung etwas darunter liegt, so ist das ein Ausdruck von
Realismus. Wir versuchen, uns in diesen Optimismus nicht so einzureihen, daß wir unrealistische Zahlen vorlegen. Das Entscheidende läßt sich aber auch gar nicht in solchen Zahlen ausdrücken. Das Entscheidende ist, daß die Gesamtkonstitution unserer Wirtschaft, die an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientierte Grundausrichtung unserer Wirtschaftspolitik, die Stabilität und Solidität, das Vertrauen der Unternehmen in die eigene Stärke und die Zuversicht der Bürger in die weitere wirtschaftliche Entwicklung uns mit großem Optimismus erfüllen können.Wir haben — das möchte ich angesichts der schlechten Zahlen für den Arbeitsmarkt Ende Januar betonen — viel erreicht. Wir haben ein Ziel unserer Politik nicht so erreicht, wie wir es uns alle in diesem Haus wünschen. Das ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Die Zahl der Arbeitslosen ist auf den Höchststand von über 2,6 Millionen gestiegen. Diese Zahl müssen wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen machen. Sie darf uns aber nicht in eine hektische Betriebsamkeit oder gar in panische Stimmung versetzen. Denn dann würden wir mit Sicherheit das Falsche tun, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Ich weiß, es klingt möglicherweise für den einen oder anderen wie eine Entschuldigung. Das soll es nicht sein. Es ist ein Teil der Analyse: Ohne jeden Zweifel hat das Wetter im Januar die ungünstige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt mit geprägt.
Ich habe zu diesem Zweck auf den letzten so harten Januar zurückgeblickt und dabei festgestellt, daß wir 1963, als wir eine ähnlich schlechte Witterung hatten, bei noch besseren konjunkturellen Voraussetzungen eine prozentual gleiche Entwicklung —die absoluten Zahlen waren damals erheblich niedriger — zu verzeichnen hatten.
Damals gab es einen Anstieg der Arbeitslosenzahl, der prozentual in etwa dem entspricht, den wir im Januar hatten. Der scharfe Frost und die erheblichen Schneefälle zwangen vor allem in den unmittelbar witterungsabhängigen Bereichen, besonders in der Bauwirtschaft, zur Einstellung der Außenarbeiten. Aber natürlich sind auch allgemein durch dieses Wetter die wirtschaftlichen Aktivitäten spürbar behindert worden. Das ist, wie ich meine, eine Entwicklung, die wir auch im Januar zu verzeichnen hatten. Wenn man die Zahlen etwas analysiert, stellt man fest, daß das nicht so weit von der Realität entfernt ist.Der Anstieg der Arbeitslosigkeit betraf zu 90% Männer. Bei ihnen stieg die Zahl der Arbeitslosen gegenüber Dezember um rund 20 %. Bei den Frauen, die nur in geringem Umfang in Außenberufen beschäftigt sind, betrug der Anstieg dagegen nur 3 %. Im Durchschnitt der letzten fünf Jahre war der Anstieg der Frauenarbeitslosigkeit im Januar übrigens mit knapp 6% fast doppelt so hoch wie dieses Jahr. Die stärkste Erhöhung bei den männlichen Arbeitslosen gab es in Nord- und Südbayern, wo sich jahreszeitliche Einflüsse regelmäßig besonders stark bemerkbar machen. Hier lagen die Zuwachsraten mit 43 bzw. 51 % mehr als doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Bundesrepublik. Bei den Arbeitern, bei denen ein relativ großer Prozentsatz Außenarbeit verrichtet, kam es zu einer Erhöhung der Arbeitslosenzahl um 17 %; bei den Angestellten dagegen betrug die Steigerung 3,5%.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reimann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, wenn Sie gestatten und die Kollegen mir das nachsehen, möchte ich erst einmal im Zusammenhang vortragen.
Wenn man die Zahlen einmal genauer analysiert, stellt man also sehr wohl fest, daß das Wetter, das Klima, einen Einfluß gehabt hat, und es wäre ja auch wirklich erstaunlich, wenn diese extremen Wintertemperaturen einen Einfluß nicht gehabt hätten.
Ich sage nicht, daß alles darauf zurückzuführen ist, aber es gibt doch keine Möglichkeit, nun zu sagen: Das war nicht das Wetter, sondern eine schlechte generelle Entwicklung.Man muß diese Daten ja auch vor dem Hintergrund anderer Wirtschaftsdaten sehen. Auftragsentwicklung und Produktion in der Industrie lassen — die letzten Daten, die vom Dezember, liegen detailliert vor — ganz eindeutig den Schluß zu, daß
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8832 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Bundesminister Dr. Bangemannder Aufschwung nicht zu Ende gegangen ist, auch nicht durch die Entwicklung dieser Arbeitsmarktdaten im Januar. Das entspricht im übrigen auch dem, was die Einschätzungen der einzelnen Unternehmen hergeben. Auch bei den Einschätzungen gibt es einen nachhaltig positiven Trend. Auch der Umstand, daß die Kurzarbeit in den Schlüsselbranchen, der Investitionsgüterindustrie, im Maschinen- und Fahrzeugbau und in der Elektroindustrie, auch im Januar auf sehr niedrigem Niveau geblieben ist, zeigt, daß dieser konjunkturelle Aufschwung nicht abgebrochen ist, sondern weitergeht.Leider gibt es — ich muß das anmerken, weil man ja bei der sogenannten Deregulierung oft erwartet, daß die Abschaffung statistischer Daten eine gewisse Erleichterung verschafft — für den Monat Januar keine Aufschlüsselung der Arbeitslosenzahl nach Berufen mehr. Diese Statistik ist 1981 auf einen Vierteljahresrhythmus umgestellt worden. Ich frage mich, ob man das in Zukunft so lassen sollte, denn es wäre natürlich für die Beurteilung der Zahlen vom Januar ganz ausschlaggebend, wenn wir aus der Statistik wüßten, in welchen Berufen dieser Anstieg tatsächlich zu verzeichnen ist. Da wir diese Statistik nicht mehr haben, muß man sich aus den vorhin von mir angeführten Daten über männliche und weibliche Arbeitslose, über Arbeiter und Angestellte usw. mühsam ein ungefähres Bild vom Einfluß des Wetters auf die Entwicklung der Zahlen verschaffen. Das ist nicht befriedigend. Man muß sich überlegen, ob nicht manche Statistik tatsächlich notwendig ist, auch wenn sie einmal ein bißchen Mühe macht.
— Das ist 1981 so gemacht worden, Herr Roth!
— Gut, aber das lag sicher nicht in meiner Verantwortung. Möglicherweise trugen Sie dafür mehr Verantwortung als ich.Meine Damen und Herren, niemand kann über Frost und Schnee bestimmen, und deswegen glaube ich, daß wir die Entwicklung im Januar, sosehr jeder hier sie beklagen wird, auch vor diesem Hintergrund sehen müssen.
Im übrigen wird es mit Sicherheit am Ende dieses Monats, wenn sich das Klima so wie jetzt weiterentwickelt, wieder ganz anders aussehen. Sich also jetzt, in einer Situation, in der alle anderen grundlegenden Daten unverändert sind, in Hektik versetzen zu lassen, das wäre sicherlich vollkommen falsch.Nicht nur ein konjunkturpolitischer Aktionismus könnte schädlich sein, sondern schädlich wäre es vor allen Dingen, wenn wir unsere stetige Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik verlassen würden.
Meine Damen und Herren, schon in dem Augenblick, als in Großbritannien nur der Eindruck entstand, daß eine solide Haushaltspolitik verlassen werden sollte — der Eindruck war sicherlich falsch, aber er entstand in Großbritannien —, verfiel das britische Pfund; es begann eine Kapitalflucht, und es wurden Daten deutlich, die in der Tat gefährlich wären, wenn wir sie bei uns zulassen würden.
Wir müssen unsere verläßliche Wirtschaftspolitik fortsetzen; wir dürfen uns davon nicht abbringen lassen.
Meine Damen und Herren, besonders gefährlich wäre ein bloßes Kurieren an den Symptomen durch kurzatmige Beschäftigungsprogramme.
Die Opposition wird in dieser Debatte — sie hat es gestern schon angekündigt — wieder vier oder fünf oder sechs verschiedene Vorschläge machen, wie man die Arbeitslosigkeit sogar — so sagt man — unter 1 Million drücken kann.
Wenn ein verantwortlicher und nachdenklicher Mensch so etwas sagen würde, dann würde die Opposition auf ihn springen und ihn in der Luft zerreißen. Sie selber erlaubt sich aber solche Schätzungen.
Wir haben schon davon gesprochen, daß das Programm „Arbeit und Umwelt" im Grunde genommen nichts anderes ist als ein durch den Staat finanziertes und daher durch irgendwelche Steuermittel oder andere Aufnahmen beim Kapitalmarkt zu finanzierendes Beschäftigungsprogramm ohne nachhaltigen Effekt. Das haben wir hier schon diskutiert.
Und wir haben lange und nachhaltig darüber diskutiert: Wir haben eine bestimmte Menge a) an Arbeit, und wir haben eine bestimmte Menge b) an Nachfrage für Arbeit. Nun laßt uns doch das zusammenbringen, indem wir einfach die Arbeitszeit verkürzen,
dann findet jeder, der Arbeit sucht, eine Arbeit. Es ist nämlich der Grundgedanke der Arbeitszeitverkürzung, daß sie nur dann volkswirtschaftlich aufgeht, wenn damit auch eine entsprechende Kürzung der Arbeitsentgelte verbunden wird.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8833
Bundesminister Dr. BangemannWenn das nämlich nicht akzeptiert wird, dann funktioniert es nicht. Und daß es nicht akzeptiert wird, huben wir ja in einem Lande erlebt, für das diese Regierung keine politische Verantwortung trägt. Der Kultusminister von Nordrhein-Westfalen hat einmal vorgeschlagen, daß man doch alle arbeitslosen Lehrer einstellen könnte, indem man einfach einen bestimmten Prozentsatz weniger Gehalt an Lehrer zahle und für dieses Weniger für die anderen entsprechende Arbeit schaffen könne. Die sei dann ja vorhanden, und sie würden dann bezahlt. Das ist natürlich eine völlig logische Einstellung. Leider fand sie nicht die Zustimmung der Lehrer, die einen Arbeitsplatz hatten. Das ist nämlich das eigentliche Problem.
Machen Sie deswegen keine Scheinrechnungen auf, die von den Betroffenen überhaupt nicht mitgetragen werden, sondern lassen Sie uns bei dem bleiben, was wir hier tun können.
Wir haben jedenfalls ein verläßliches Datum dafür, daß wir im Verlaufe dieses Jahres die Arbeitslosigkeit nachhaltig bekämpfen können: Das ist die Investitionsbereitschaft und auch die Investitionsfähigkeit der Wirtschaft. Neben ausreichenden Absatzbedingungen werden Investitionen nämlich vor allen Dingen dann vorgenommen, wenn man erwarten kann, daß bei einigermaßen kalkulierbaren Kosten Renditen zu erzielen sind. Diese Perspektive hat die Bundesregierung der Wirtschaft wiedergegeben.
Die gesamtwirtschaftlichen Aussichten für Investitionen sind günstig. Die Kapazitätsauslastung hat sich in der verarbeitenden Industrie um über 10 % verbessert. Die weltwirtschaftlichen Risiken sind nicht verschwunden, aber sie sind geringer geworden. Die Absatzchancen sind gewachsen. Nach Schätzungen des internationalen Währungsfonds wird sich der Welthandel in diesem Jahr real um 5 bis 6 % ausweiten. Die Exportchancen der deutschen Unternehmen sind dabei günstig. Ihre Wettbewerbsfähigkeit ist gut. Dies belegen auch die steigenden Auftragseingänge aus dem Ausland.Man erreicht nicht zufällig einen positiven Außenhandelsbilanzsaldo von 54 Milliarden DM wie im letzten Jahr. Das fällt einem nicht in den Schoß, sondern ist Ausdruck der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie, Ausdruck einer vernünftigen Wirtschaftspolitik, die auf eine langanhaltende Gesundung der Industrie gesetzt hat.
Natürlich entsteht auch ein Teil dieser neuen Chancen durch die Wechselkursentwicklung des Dollars. Aber man muß diese Wechselkursentwicklung, den starken Dollar, durchaus differenziert se hen. Natürlich ist das im Verhältnis zu den USA und Kanada ein direkter Vorteil. Deswegen sind unsere Exporte in diese beiden Länder überproportional gestiegen. Aber im Verhältnis zu anderen Ländern, zu wichtigen Schwellenländern wie Brasilien, Argentinien, Mexiko, die ihre Schulden mit Dollar bedienen müssen, ist ein hoher Dollar-Kurs durchaus für uns auch eine Bremse des Exports in diese Länder gewesen. Diese Länder mußten zum Teil auf direkte Aufforderung des internationalen Währungsfonds ihre Handelsbilanzen sanieren. Das konnten sie in erster Linie nur dadurch, daß sie ihre eigenen Importe beschränkt haben. Das hat natürlich auch unsere Möglichkeiten zum Export in diese Länder beschnitten. Deswegen ist es falsch zu sagen, alles, was wir an Exporterfolgen erzielt haben, gehe nur auf den starken Dollar zurück. Das ist ein falsches Urteil. Darauf sollten wir uns nicht einlassen.
Natürlich gibt es in der Weltwirtschaft auch hier eine Reihe von Problemen, die wir nicht übersehen dürfen. Sie liegen vor allem in den wachsenden protektionistischen Neigungen mancher Länder. Wir haben uns mit unseren Freunden darum bemüht, diese protektionistischen Neigungen einzudämmen.
Der Weltwirtschaftsgipfel, den wir in diesem Jahr bei uns in Bonn veranstalten werden, wird als eines seiner Hauptziele haben müssen, diese protektionistischen Neigungen ein für allemal einzuschränken, indem wir uns darauf einigen, eine neue GATT-Runde vorzubereiten. Wie ich es anläßlich einer Debatte hier schon einmal gesagt habe, werden wir uns auch selber einige neue Anstrengungen abverlangen müssen. Wenn die Entwicklungsländer diese neue GATT-Runde akzeptieren sollen, dann müssen wir ihnen auch unsere Märkte mehr öffnen, als wir es in der Vergangenheit getan haben. Aber es gibt gute Aussichten, diesen Protektionismus zu bekämpfen.
Wenn wir diese weltwirtschaftlichen Unterstützungsfaktoren weiterhin in Rechnung stellen, dann müssen wir selber im Verhältnis zu unseren Haupthandelspartnern alles tun, um solche Exportpositionen zu behalten und auszuweiten. Es wäre geradezu abenteuerlich und für die Entwicklung unseres Arbeitsmarktes katastrophal, wenn wir den Ratschlägen der Fraktion der GRÜNEN folgten und uns aus den Exportbemühungen zurückzögen.
Meine Damen und Herren, das wäre das eigentliche Signal für das Zusammenbrechen des Arbeitsmarkts bei uns.
Wir haben auch überhaupt keinen Grund, von unserer Haushalts-, Finanz- und Steuerpolitik abzu-
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8834 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Bundesminister Dr. Bangemannweichen. Die Tatsache, daß wir im vergangenen Jahr eine Inflationsrate mit einer Zwei vor dem Komma hatten und in diesem Jahr eine ähnlich gute Zahl erwarten können, beruht ausschließlich darauf, daß die öffentliche Hand den Kreditmarkt nicht wie in der Vergangenheit in Anspruch genommen hat,
so daß auf diese Weise sowohl das Zinsniveau als auch im Zusammenhang damit das Preisniveau so stabilisiert werden konnten, daß von daher nicht nur gute, positive Einflüsse auf Investitionen ausgegangen sind, sondern auch für den Verbraucher ganz wesentliche Vorteile erreicht worden sind.
— 1 % Inflationsrate weniger sind 40 Milliarden DM Kaufkraft mehr, meine Damen und Herren. Das sollten Sie sich einmal ausrechnen.Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte hat auch 1984 bei Bund, Ländern und Gemeinden Fortschritte gemacht. Deswegen glaube ich, daß wir hier dem Gutachten des Sachverständigenrats nur zustimmen können, wenn es zu dem Ergebnis kommt, daß die Konsolidierungsstrategie der Bundesregierung die wirtschaftliche Erholung nicht behindert, sondern gefördert hat.Natürlich ist das noch nicht zu Ende geführt. Wir müssen neue Anstrengungen machen. Wir müssen diesen Kurs fortsetzen und dürfen uns davon nicht abbringen lassen. Nur so kann der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt weiter gesenkt werden.
1982 betrug der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt über 50 %. In zwei Jahren haben wir diesen Anteil auf 48% zurückgeführt. Wir müssen das fortsetzen, um bis 1988 auf eine Größenordnung von annähernd 45% zu kommen, nicht im Interesse von Haushaltsfanatikern oder -statistikern,
sondern im Interesse der in unserem Land lebenden Menschen.
Deswegen haben wir in dem Entwurf des Steuerentlastungsgesetzes ein Volumen von über 20 Milliarden DM Steuerentlastungen vorgesehen.
— Herr Ehrenberg, wenn Sie einen Teil Ihrer kostbaren Zeit z. B. dafür verwenden würden, sich einmal die Übersichten anzusehen, die der Finanzminister besonders im ersten Teil des Steuerpakets vorgelegt hat, dann werden Sie feststellen, daß dieser erste Teil des Steuerpakets, der mit 10 Milliarden DM etwa die Hälfte umfaßt, fast ausschließlichfür Familien und damit für den großen Teil unserer Bevölkerung bestimmt ist,
der auch in den mittleren und unteren Einkommensklassen lebt und arbeitet.
Auch der zweite Teil der Steuerreform zielt auf eine deutliche Absenkung der Grenzsteigerungssätze hin.
Meine Damen und Herren, wenn ein Arbeiter, wenn ein Angestellter von 50 DM, die er im Monat mehr verdient, 40 DM für Steuern und Sozialabgaben abgeben muß und wir das ändern,
so daß er davon in Zukunft an den Staat weniger abgeben muß und mehr für sich selber behält, dann ist das ein gutes Stück Sozialpolitik, das wir uns auch durch großes Geschrei nicht abringen lassen.
Aber es ist wahr: Wir müssen auch die Unternehmensbesteuerung verbessern. Meine Damen und Herren, schauen wir uns einmal an, was beispielsweise das Geheimnis der Schaffung neuer Arbeitsplätze in den USA ist. Das ist eine uns gegenüber bemerkenswerte Leistung,
die wir in derselben Weise nicht haben erbringen können. Warum ist es in den USA möglich gewesen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, und warum ist das bei uns weniger möglich gewesen? Es gibt einen ganz einfachen Grund dafür. Wenn jemand heute Geld investiert, spart oder irgendeiner anderen Verwendung zuführt, dann wird er, wenn er dieses Geld investiert, also Arbeitsplätze damit schafft, der höchsten steuerlichen Belastung ausgesetzt. Wenn Sie die Körperschaftsteuer oder Einkommensteuer, wenn Sie die Gewerbesteuer, die Vermögensteuer, die Grundsteuer, wenn Sie das alles zusammen nehmen, was heute auf unternehmerisch arbeitendem Kapital lastet,
dann kommen Sie auf Steuersätze von mehr als 70 %. Das müssen wir beseitigen, um zu Investitionen und Arbeitsplätzen zu kommen.
Meine Damen und Herren, es wird auch in diesem Hause immer wieder der flammende Appell an die Regierung gerichtet, Subventionen abzubauen. Ja, schön, gut, das ist sicher richtig. Aber wenn man
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8835
Bundesminister Dr. Bangemanndann Subventionen abbauen will, dann kommt aus derselben Ecke Protestgeschrei,
weil das eine soziale Demontage sei. Auch Subventionen, meine Damen und Herren, sind ein Weg, eine Möglichkeit, Kapital volkswirtschaftlich irrezuleiten. Subventionen kosten Geld, sie verfälschen in vielen Fällen den Wettbewerb,
und — das ist das Schlimmste — sie erhalten Strukturen, die man eben nur mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten überhaupt noch eine gewisse Zeitlang aufrechterhalten kann. Deswegen müssen wir sie abbauen.
Meine Damen und Herren, parallel zu diesen Konsolidierungserfolgen muß der Raum für Investitionen auch in den öffentlichen Haushalten wieder größer werden. Ich wende mich hier insbesondere an die Gemeinden und an die Städte.
Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen mitteilen, daß die Gemeinden nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes, also einer nicht regierungsunterstellten Behörde, am Ende dieses Jahres schwarze Zahlen schreiben,
daß es bei den Gemeinden im Durchschnitt keine Nettoneuverschuldung gibt.
— Ich gebe zu, Herr Ehrenberg, daß das eine durchschnittliche Zahl ist. Von dieser durchschnittlichen Zahl weichen die meisten Gemeinden ab, die unter SPD-Führung stehen, die sind schlechter dran.
Es sind auch die Gemeinden in den Ländern schlechter dran, meine Damen und Herren, die in Kommunalwahlkämpfen große Plakate aufstellen, auf denen man lesen kann: Der Aufschwung ist nichts für die Millionen, er ist nur etwas für die Millionäre.
Das sind Länder, die von Ihnen regiert werden.
Dieselben Länder beklagen sich dann, daß sie bei der Neuansiedlung von kleinen Unternehmen gegenüber Baden-Württemberg und Bayern den kürzeren ziehen, meine Damen und Herren.
Das sind die Länder, die dann die Strukturprobleme haben, die sich dann hier bei uns in Bonn melden
und fünf Milliarden DM für die Entstaubung von Kohlekraftwerken haben wollen, ohne zu bedenken, daß sie damit den Jahrhundertvertrag gefährden. Das sind die Länder, in denen Ihre zukünftigen Koalitionspartner Kohle, Braunkohle nicht mehr verwenden wollen. Das sind diese Länder!
Deswegen wende ich mich hier an die Gemeinden, die einen Investitionsbedarf haben, die auch die Mittel dafür haben und die nach unserer Meinung in diesem Jahr verstärkt öffentliche Investitionen bestreiten sollten. Ich bin froh, daß sich der Gemeindetag und der Städtetag auch in dieser Richtung geäußert haben. Das ist eine Aufforderung, die schon gehört worden ist.Produktionsfördernde öffentliche Investitionen sind also sicherlich ein richtiger Beitrag auch zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Diese Entscheidungen sind von uns, soweit wir sie fördern konnten, gefördert worden. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat z. B. ein Milliardenprogramm für Umweltschutzinvestitionen zur Verfügung gestellt. Man kann es benutzen. Ich appelliere nochmals an die Städte und Gemeinden, von diesem Programm Gebrauch zu machen.Von einem generellen Kapitalmangel in der Bundesrepublik, meine Damen und Herren, kann man nicht reden, trotz des hohen Zinsunterschieds gegenüber den Vereinigten Staaten. Aber die Aufbringung von risikotragendem Eigenkapital wird noch durch steuerliche, gesellschaftsrechtliche und kapitalmarktpolitische Hemmnisse behindert. Besonders mittelständischen Unternehmen wird es oft schwergemacht, sich am Kapitalmarkt durch Beteiligungen oder Aktienausgaben neue finanzielle Quellen zu erschließen. Die Bundesregierung hat es sich deswegen zum Ziel gesetzt, die bestehenden Hemmnisse bei der Eigenkapitalausbildung zu beseitigen, insbesondere um auch mittelständischen Unternehmen zu mehr Beteiligungskapital zu verhelfen. Dabei geht es nicht um neue Subventionstatbestände, sondern um die Herstellung eines chancengleichen Wettbewerbs bei der Eigenkapitalbeschaffung. Der Börsenzugang für junge mittelständische Unternehmen muß erweitert werden. Direkte wie auch indirekte Beteiligungen an diesen Unternehmen dürfen steuerlich nicht schlechter behandelt werden als Beteiligungen von Privatpersonen an Unternehmungen.
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8836 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Bundesminister Dr. BangemannDie Bundesregierung bereitet gegenwärtig, wie Sie wissen, ein Gesetz für Unternehmensbeteiligungsgesellschaften vor, mit dem diese Gleichstellung weitgehend verwirklicht werden soll. Wir sind sicher, daß damit Voraussetzungen für die überbetriebliche Vermögensbildung verbessert werden. Wir werden auch die Gesellschaftssteuer und die Börsenumsatzsteuer abschaffen, sobald die entsprechende Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft vorhanden ist und die Fortschritte bei der Haushaltskonsolidierung das zulassen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist auch angetreten, durch die Privatisierung öffentlicher Unternehmen
und öffentlicher Dienstleistungen diese staatliche Tätigkeit nicht nur deswegen zu beschränken, weil sie nach unserer Meinung nicht mit den hoheitlichen Aufgaben des Staates zusammenhängt, sondern auch, um mehr Freiraum für privatwirtschaftliche Initiativen und Wettbewerb zu schaffen. Meine Damen und Herren, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen ist in jedem Fall auch für die öffentliche Hand eine Quelle von Ersparnis. Das geht sogar herunter bis in große private Unternehmungen. Wenn große private Unternehmungen durch Abschaffung ihres Fuhrparks und durch Mieten von Taxen oder Mietwagen eine erhebliche Ersparnis erzielen können, dann gilt das für die öffentliche Hand in gleicher Weise.
Deswegen ist die Privatisierung beispielsweise von öffentlichen Dienstleistungen bei Bahn und Post ein Stück Arbeitsmarktpolitik.
Denn damit werden Dienstleistungen effektiver und billiger. Deswegen bin ich sehr froh, daß ich mich mit meinem Kollegen, dem Postminister, darüber habe verständigen können, daß wir das Bundespostmonopol beim schnurlosen Telefon teilweise durchbrochen haben.
Denn das wird Arbeit schaffen für viele kleine und mittlere Unternehmungen und auf diese Weise dazu beitragen, daß der Arbeitsmarkt entlastet wird.
Die Privatisierung führt zu besseren Wettbewerbsbedingungen und erweitert die unternehmerischen Freiräume und steigert die marktwirtschaftliche Effizienz.
Deswegen bleibt der Abbau dieser staatlichen Tätigkeit ein Gebot dieser Regierung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, zu dem, was Sie an wirtschaftspolitischen Vorstellungen hätten verwirklichen können,
sind Sie ja Gott sei Dank nie in der Lage gewesen, weil Sie in den Zeiten der sozialliberalen Koalition von meiner Partei daran gehindert worden sind, den Blödsinn umzusetzen, den Sie in Ihre Programme schreiben.
Wenn Sie jemals Gelegenheit erhalten sollten
— was wir verhüten werden —, das umzusetzen, was Sie sich alles ausdenken, kämen wir in der Tat in eine tiefe Krise unseres Wirtschaftssystems.
Dann werden Sie dasselbe tun, was Ihre sozialistischen Freunde in anderen Ländern auch tun mußten. Wir haben das doch alles schon erlebt. In Frankreich ist eine Regierung mit genau den hehren sozialistischen Ideen angetreten, die Sie uns nachher hier ausbreiten werden.
Was Sie hier nachher in der Debatte vortragen werden, hat die französische Regierung durchzusetzen versucht — mit katastrophalen Ergebnissen. Nach zwei Jahren, meine Damen und Herren, hat diese französische Regierung eingesehen, daß es besser ist, zu einer liberalen, zu einer marktwirtschaftlichen Position zurückzukehren. Lassen Sie sich mal von meiner Kollegin Frau Cresson über Wirtschaftspolitik beraten! Das ist bei Ihnen sehr notwendig.
Meine Damen und Herren, wir sagen, daß unsere Politik die Investitionen fördern will und auf diese Weise zu einer nachhaltigen Erholung des Arbeitsmarktes beitragen wird. Das wird nur gehen, wenn man das nachhaltig tut und sich nicht beirren läßt. Es gibt natürlich immer wieder einmal Augenblikke, wo verunklart wird, daß Wachstum eine der Bedingungen für nachhaltige Fortschritte auf dem Arbeitsmarkt ist. Es besteht — ich sage das hier ganz ausdrücklich, damit das nicht in der Diskussion nachher wieder zerredet wird — keine mechanistische Verknüpfung zwischen Wachstum und Schaf-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8837
Bundesminister Dr. Bangemannfung von neuen Arbeitsplätzen. Das ist gerade der Irrtum, der dem Gedanken von Beschäftigungsprogrammen zugrunde liegt. Es besteht keine mechanistische Verknüpfung.
Aber in einer dynamischen und flexiblen Wirtschaft wird Wachstum auch immer die Chance bieten, neue wirtschaftliche Aktivitäten mit Beschäftigungswirkung zu beginnen. Das sieht man in unserer Wirtschaft ganz deutlich.Je stärker die Lohnpoltik einen solchen wirtschaftspolitischen Wachstumskurs unterstützt, um so mehr Beschäftigung wird am Ende herauskommen.
Meine Damen und Herren, ich sage ganz deutlich— ich sage das dem Sozialpolitiker Ehrenberg und dem Mitglied des DGB Ehrenberg sehr deutlich —:
Wer sich wundert — —
— Ich sage das dem Kollegen Ehrenberg, wenn Sie das lieber wollen, Frau Fuchs. — Herr Ehrenberg, nun seien Sie doch froh, daß ich Ihnen nicht vorwerfe, daß Sie beim DGB nicht so viel Unterstützung gefunden haben, daß Sie wirtschaftspolitischer Sprecher werden konnten. — Ich unterstelle, Herr Ehrenberg, daß Sie das, was ich jetzt sagen werde, nicht akzeptieren. Ich sage es trotzdem.Meine Damen und Herren, wer sich wundert, daß gerade bei den Nichtqualifizierten die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist, wer sich wundert, daß im Bereich der Nichtqualifizierten viele Unternehmen durch Automatisierung in der Tat Arbeitsplätze beseitigt haben, der muß sich auch einmal fragen, was er zu dieser negativen Entwicklung dadurch beigetragen hat, daß er die Löhne unterer Lohngruppen immer überproportional gesteigert hat.
— Das ist kein Blödsinn, sondern das ist das volkswirtschaftliche Einmaleins.
Wenn Sie jedesmal die Löhne einer unteren Lohngruppe um einen festen Satz erhöhen und dann noch die proportionale Erhöhung, die für alle gilt, daraufsetzen,
müssen Sie sich nicht wundern, wenn sich ein Unternehmen überlegt, ob es, statt einen Mann einzustellen, der den Hof fegen soll, eine Maschine anschaffen soll. Das ist nämlich das Problem der unteren Lohngruppen.
Es ist wichtig, daß man solche Zusammenhänge einmal deutlich sagt;
denn eines wäre am schädlichsten: — —
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Burgmann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich sagte schon, daß ich das gerne im Zusammenhang vortragen möchte.
Das gilt für die gesamte Rede? — Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich nicht in der Lage sehen, solche Dinge in einen Zusammenhang mit der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zu bringen, dann tun Sie den Arbeitslosen einen sehr schlechten Gefallen.
In diesem Zusammenhang muß ich auch erwähnen, was mein Kollege Norbert Blüm noch weiter ausführen wird:
Das Beschäftigungsförderungsgesetz wird von Ihnen diffamiert.
Dabei weiß heute jeder ganz genau, daß ein Unternehmen, das vor der Entscheidung steht,
entweder Überstunden zu machen oder einen Menschen neu auf einen Arbeitsplatz einzustellen, in der Regel dann zu Überstunden neigt,
wenn dieses Unternehmen nicht hundertprozentig weiß, wie die weitere Entwicklung ist. Wenn es aber wüßte, daß es mit einer solchen Neueinstellung auch wieder flexibel auf eine andere Entwicklung reagieren kann, dann würde es diesen Mann einstellen. Das mißachten Sie sträflich. Sie gehen einfach an den Realitäten vorbei. Sie bauen sich Ihre wunderschöne utopische Welt auf. Sie träumen, Sie machen sich irgendwelche Illusionen, und Sie rechnen nicht mit der Wahrheit und mit der Wirklich-
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8838 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Bundesminister Dr. Bangemannkeit, in der die Menschen in unserem Lande leben müssen.
Deswegen sage ich Ihnen: Lohnpolitische Vernunft ist wichtig. Ein Blick über den Atlantik zeigt, wie wichtig das ist.
— Frau Fuchs, von 1970 bis Ende 1984 ist die Zahl der Erwerbstätigen in den USA um über 27 Millionen angestiegen.
Das sind Menschen, die Arbeit haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, ich habe in den zurückliegenden Monaten verschiedene gemischte Wirtschaftskommissionen mit Handelspartnern der Bundesrepublik geleitet, und ich habe bei den Diskussionen zugehört. Alle diese Leute sagen uns: Eure Waren sind hervorragend. Sie sind konkurrenzlos. Sie haben nur einen einzigen Fehler: Sie sind teurer als die anderer Länder.
— Herr Ehrenberg, man kann von den Handelspartnern nicht auf Dauer verlangen, daß sie mehr bezahlen als andere Länder. Deswegen ist eine vernünftige Lohnstückkosten-Entwicklung das A und O der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie.
Auch bei den Lohnnebenkosten liegen wir international an der Spitze. Meine Damen und Herren, Kündigungsvorschriften sind angenehm für diejenigen, die in Beschäftigung sind. Sie errichten aber gleichzeitig oft unüberwindliche Barrieren für diejenigen, die draußen sind.
Das, was Sie hier veranstalten, ist ein neuer Klassenkampf, und zwar zwischen denjenigen, die Arbeit haben, und denjenigen, die keine Arbeit haben.
Meine Damen und Herren, ein solcher Strukturwandel ist unvermeidlich. Wir sollten aber auch die Chancen erkennen, die ein solcher Strukturwandel gerade einer hochlohnorientierten Wirtschaft bietet. Der wissenschaftliche Beirat macht in seinem jüngsten Gutachten darauf aufmerksam, wie wichtig ständige Produkt- und Prozeßinnovationen für die Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes sind. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.Unser hohes Lohnniveau kann nur erhalten werden, wenn unsere Unternehmen fähig sind, technologisch mit an der Spitze zu bleiben. Wer den Einsatz moderner Technologie verhindern will, wer ihn nur verlangsamt, der wird unsere Unternehmen konkurrenzunfähig machen und dadurch auch negative Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt hervorrufen.Produktivitätsfortschritte waren deswegen nie so nötig, wie sie das heute sind. Wir werden nichts zulassen, was solche Produktivitätsfortschritte behindert.Die Entwicklung im warenproduzierenden Gewerbe widerlegt auch das Vorurteil, daß der Einsatz moderner Technologie Arbeitsplätze vernichtet. Das Gegenteil ist richtig. Selbst auf kurze Sicht sind die Industriebereiche, die verstärkt in die neue Technologie investieren, arbeitsplatzschaffende Industriebereiche gewesen.
— Auch menschlichere Arbeitsplätze werden dadurch geschaffen, denn, meine Damen und Herren, die Automatisierung eines Produktionsprozesses zeigt j a immer auch, daß dort eine menschliche Tätigkeit ersetzt wurde, die man durch Maschinen ersetzen kann. Sie können nie eine kreative, schöpferische Tätigkeit des Menschen durch eine Maschine ersetzen, aber eine automatische Tätigkeit und damit eine inhumane Tätigkeit eines Menschen können Sie sehr wohl durch einen Automaten ersetzen.
Meine Damen und Herren, wir werden diese strukturpolitischen Fragen in der kommenden Debatte über die Anfragen zur Industriepolitik und auch zur Regionalpolitik noch eingehender diskutieren können.Auf einen Punkt möchte ich aber noch hinweisen, nämlich auf die notwendige berufliche Qualifizierung der Jugendlichen für zukünftige Aufgaben der Wirtschaft. Die Wirtschaft, insbesondere auch das Handwerk, hat dafür im vergangenen Ausbildungsjahr Hervorragendes geleistet, allen düsteren Voraussagen zum Trotz. Ich möchte mich hier ganz ausdrücklich insbesondere beim Handwerk dafür bedanken. Das Handwerk hat einen großen Beitrag zu der Bewältigung der Aufgaben geleistet, die vor uns lagen —
mehr als mancher große Industriebetrieb.
Wenn bei uns die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen unter dem allgemeinen Durchschnitt liegt, während es in vergleichbaren Ländern wie etwa in Großbritannien, Frankreich und auch in den USA
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8839
Bundesminister Dr. Bangemannumgekehrt ist, dann ist das ein Erfolg unseres dualen Systems.
Überall dort, wo Sie eine rein schulische Ausbildung von Jugendlichen haben, ist die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen höher als bei uns.
Deswegen hat sich auch unser duales System bewährt. — Wenn Sie da zu einer besseren Erkenntnis gekommen sind, dann darf ich Sie beglückwünschen.
Es ist zwar heute morgen die einzige, die Sie hatten, aber immerhin, Sie haben einmal angefangen. — Wir sind uns alle darüber im klaren, daß dieses duale Ausbildungssystem ein großer, wichtiger Positivposten in unserem gesamten Ausbildungssystem ist.Zweite Bemerkung, die ich auch in diesem Zusammenhang hervorheben möchte. Im Jahreswirtschaftsbericht finden Sie zum erstenmal längere Ausführungen über das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Umweltschutz. Ich glaube, daß wir mit einer ökologisch verpflichteten Marktwirtschaft für den Umweltschutz mehr leisten können als nur durch ein starres System von Geboten und Verboten oder durch dirigistische Eingriffe.
Wir müssen es fertigbringen, das, was an Innovationskraft, was an Dynamik im marktwirtschaftlichen System steckt, für die Erreichung von Zielen des Umweltschutzes einzusetzen. Ich bin überzeugt davon, daß es solches Zusammenführen marktwirtschaftlicher Mechanismen mit umweltpolitischen Zielen beiden nur nützen wird.Das, glaube ich, wird in den vor uns liegenden Monaten auch bei der Regelung des abgasarmen Autos deutlich werden. Ich bin ganz sicher, daß die Möglichkeiten, die wie hier für jeden Käufer bieten, in einem marktwirtschaftlichen System dazu führen werden,
daß diese Quelle der Umweltverschmutzung zunehmend verstopft werden wird.Meine Damen und Herren, ich möchte zusammenfassen.Erstens. Es kommt jetzt darauf an, daß der eingetretene Aufschwung in eine langgezogene, stetige Aufwärtsentwicklung einmündet. Die Voraussetzungen dafür sind günstig, die allgemeinen Rahmenbedingungen sind so gut wie seit Jahren nicht mehr.Zweitens. Die marktwirtschaftliche Neuorientierung der Wirtschaftspolitik muß auf dem eingeschlagenen Weg konsequent weiterverfolgt werden.Drittens. Wir werden die Bedingungen für mehr Dynamik durch Erweiterung der Freiräume für Private, durch bessere Chancen für neue Existenzgründungen, durch weniger Bürokratie sowie durch nach außen und innen offene Märkte verbessern.Viertens. Die erfolgreiche Politik der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wird fortgesetzt.Fünftens. Die öffentlichen Ausgaben werden zugunsten öffentlicher und komplementärer privater Investitionen umstrukturiert.Sechstens. Die Anstrengungen um den Abbau wettbewerbsverzerrender Subventionen müssen verstärkt werden.Siebentens. Die Politik einer leistungsgerechten und leistungsmotivierenden Senkung der Steuerbelastung für Unternehmen und Private muß fortgesetzt werden.Achtens. Die Voraussetzungen für eine Verbreiterung der Eigenkapitalbasis privater Unternehmen werden günstiger gestaltet.Neuntens. Wir verbessern die Bedingungen für mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt zugunsten der Beschäftigungschancen von Arbeitslosen.Zehntens. Wir verfolgen eine entschlossene Politik für eine saubere Umwelt und sichern damit die ökonomischen Lebensgrundlagen künftiger Generationen.Meine Damen und Herren, allen Unkenrufen zum Trotz: Mit einer entschlossenen Politik, die sich daran mehr orientiert, werden wir 1985 die Trendwende auch am Arbeitsmarkt erreichen und über 1985 hinaus fortsetzen.
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8840 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Was bleibt eigentlich von dem Gerede über den lang anhaltenden selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung übrig? Das Alibi von 14 strengen Wintertagen in diesem Januar! Das ist die Wahrheit. Wie zart muß denn diese Pflanze des Aufschwungs gewesen sein, wenn sie in 14 Frosttagen vernichtet ist? Schrecklich ist, daß sich diese Regierung jetzt nicht einmal dazu versteht, sich dieser Tatsache wirklich zu stellen und sich weiter von Ausrede zu Ausrede hangelt. War es vorgestern die Erblast, dann war es letztes Jahr der Arbeitskampf, und jetzt sind Sie beim Wetter als Ausrede für die Massenarbeitslosigkeit angelangt.
Übrigens, selbst Ihre Ausreden werden in jüngster Zeit viel schwächer als in der Vergangenheit.
Die Bundesregierung hat in ihrem letzten Jahreswirtschaftsbericht, im Bericht des Jahres 1984, gesagt, daß, was die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit betreffe, den produktiven Investitionen eine Schlüsselrolle zukomme. Das ist gerade wiederholt worden. Wenn dies richtig ist — ich unterstelle das mal, und da ist auch viel dran —, so muß man das Jahr 1984 und die Probleme des Jahres 1985 unter diesem Aspekt analysieren, ob wir es tatsächlich zu einer Verbesserung der Investitionstätigkeit in der Bundesrepublik gebracht haben. Daß dies erfolgreich war, muß ich angesichts der eigenen Daten der Bundesregierung bezweifeln. Die Bundesregierung hat argumentiert: Gewinne müssen steigen, dann steigen Investitionen.Was ist nun tatsächlich geschehen? Im Jahre 1983 und im Jahre 1984 haben wir eine kräftige Steigerung der Unternehmergewinne: 11,2 % im Jahre 1983 und 9,5 % im Jahre 1984.
Meine Damen und Herren, die realen Anlageinvestitionen sind in beiden Jahren nicht jeweils um 10 %, sondern real nur um 3,1 % im Jahre 1983 und sogar nur um 1 % im letzten Jahr gewachsen. Das heißt, wir haben in der deutschen Volkswirtschaft trotz Gewinnexplosion eine anhaltende Investitionsschwäche. Das ist die Wahrheit.
Der Anteil der Investitionsquote — hören Sie zu — am Bruttosozialprodukt ist mit 19,8 % niedriger als selbst in den Krisenjahren 1975 und 1981, als wir die Ölkrise gehabt haben. Die Investitionstätigkeit, gemessen am Sozialprodukt — das ist ein faires Maß für wirtschaftlichen Fortschritt —, ist niedriger als in den schweren Krisenjahren.
Kontrastiert man das Ergebnis von nominal plus 3 %, real 1 % mehr Investitionen mit der Zielsetzung der Bundesregierung aus dem Jahreswirtschaftsbericht 1984, nämlich 8 bis 9 % nominal bzw. 6 bis 7 % real, dann sieht man das ganze Ausmaß der Verfehlung der eigenen Projektion der Bundesregierung. Davon sagt Herr Bangemann kein Wort.
Er erklärt den Vorgang nicht und findet logischerweise auch keine Antwort außer allgemeinen Sprüchen.
Übrigens — weil Sie im Jahreswirtschaftsbericht wieder die Arbeitszeitfrage als Alibi auch für Investitionsschwäche angeführt haben —, mir fiel im Jahreswirtschaftsbericht 1985 doch auf, daß Sie auf Grund des Tarifvertrags der IG Metall für das Jahr 1985 eine 1%ige Arbeitszeitverkürzung unterstellen und genau wegen dieser 1%igen Arbeitszeitverkürzung dann zu einer Zunahme der Beschäftigten um 85 000 kommen.
Das ist ja wunderbar: Was gestern dumm, töricht und absurd war, ist heute das einzige, was gegen die Arbeitslosigkeit hilft.
Aber lassen Sie mich auf das Investitionsproblem zurückkommen. Warum — so müßte die Frage gelautet haben — führt die Gewinnexplosion von nahezu 20 % in zwei Jahren nicht zu mehr arbeitsschaffenden Investitionen? Offenbar führen Gewinnsteigerungen dann nicht zu mehr Investitionen in neue Arbeitsplätze, wenn gleichzeitig Verwendungen des Kapitals in anderen Formen möglich
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8841
Rothsind, die ertragreicher sind als die Investition in Arbeitsplätze.
Das heißt nichts anderes, als daß die Geldvermögenserträge in dieser Wirtschaft, in der westlichen Wirtschaft insgesamt viel zu hoch sind, um — jedenfalls bei der schwachen Nachfrage, die bei uns existiert — zu investieren.Tatsache ist doch: Unser Steuersystem bestraft das Investieren und belohnt insbesondere den Spekulanten, weil Geldvermögenserträge oft genug steuerfrei bleiben.
Nun höre ich, daß Herr Bangemann das beklagt. Ich habe mich gefragt, ob er in der Opposition ist oder was.
Warum macht er dann nicht einen Vorschlag? Die Unternehmensteuerreform haben Sie auf das Jahr 1988, 1989, 1990 vertagt. Das ist doch die Wahrheit. Dann jammern Sie doch hier nicht, sondern nehmen Sie unsere Vorschläge auf!
Tatsache ist doch, daß die Defizitpolitik der USA — gegen die Sie heute erstaunlicherweise gar nichts gesagt haben — und die Überschuldung der Dritten Welt die Erträge aus Finanzkapital seit langem in widersinniger Weise nach oben getrieben haben. Daß muß sich ändern, auch durch den Ausbau der EWS.
Tatsache ist, daß die Vernachlässigung der Nachfrageseite der Volkswirtschaft die nachhaltigen Ertragsaussichten für Sachinvestitionen gegenüber Geldinvestitionen verschlechtert hat. Das ist Tatsache. Alles das führt in einem Erholungsjahr der Konjunktur zu einer schwachen Investitionstätigkeit, wie wir das jeweils aus den früheren Konjunkturzyklen nicht kennen.Ich nenne jetzt nur eine Zahl. Vergleichen wir das Jahr 1979 — ein Erholungsjahr — mit dem letzten Jahr, dann betrug letztes Jahr die Mehrinvestition real 1% und im Jahre 1979 tatsächlich 7,3%. Damals gab es einen Aufschwung, letztes Jahr war ein Stagnation bei der Investitionstätigkeit festzustellen. Das ist die Wahrheit. Von wegen Erblast in diesem Zusammenhang!
Die Rechtfertigung von Unternehmensgewinnen, meine Damen und Herren, liegt nicht darin, daß Leute reicher werden, sondern daß sie eine Quelle zur Erhaltung und Erneuerung des produktiven Kapitals in dieser Gesellschaft und zur Schaffung von Arbeitsplätzen sind. Eben das ist aber immer weniger der Fall. Im Jahre 1983 wurden 94,3% der Gewinne brutto entnommen, und 1984 waren es 95,5%. Meines Erachtens kann man an diesen Zahlen sehen, daß viel zuviel Geld aus den Betrieben herausgezogen wird und in andere Verwendungen geht, so daß eben keine Arbeitsplätze geschaffen werden.
Sie sagen immer ganz einfach: Gewinne sind Investitionen. Aber die Statistik des Statistischen Bundesamts oder auch des Sachverständigenrats widerlegt Sie. Offenbar stehen Sie zu stark unter dem Einfluß des großen Geldes, um hier überhaupt etwas zu ändern.
Demzufolge gibt es auch keine Reaktion auf die langanhaltende Bewegung weg von der Sachvermögensbildung hin zur Geldvermögensbildung. Allein im Monat Dezember 1984 sind 12 Milliarden DM in die USA gegangen. Das müßte Sie doch endlich aufwecken!
Wir sind, um einen Begriff von Schumpeter aufzunehmen, auf dem Weg von der Produktionsgesellschaft hin in eine Spekulationsgesellschaft.Übrigens: Die Spekulanten sind oft genug nicht die Zahnärzte oder andere, sondern es sind oft genug die großen Gesellschaften selbst, die sich an dieser Geldvermögensbildung in den USA beteiligen.
Sie verdrängen jedoch auch noch ein anderes Problem — das war bei Herrn Bangemann ganz deutlich —: Investieren bedeutet nicht mehr automatisch, daß mehr Arbeitsplätze entstehen. Heute dominiert natürlich bei vielen Investitionen das Rationalisierungsmotiv. Lassen Sie mich zum Beleg dafür nur eine Zahl des Ifo-Instituts vortragen. Im Jahre 1984 nannten im Durchschnitt 53% aller Unternehmer an erster Stelle für ihre Investitionstätigkeit das Rationalisierungsmotiv. 25% sagten: Wir ersetzen alte Anlagen. Auch das schafft keine neuen Arbeitsplätze. Nur 22 % der Investitionen, d. h. jede fünfte Investition, waren Erweiterungsinvestitionen. Nur dort konnte man damit rechnen, daß zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Das ist die Situation.Herr Minister Bangemann, deshalb sind die Reaktionen von Gewerkschaften verständlich, die darauf hinweisen, daß der Begriff „Investition" zur Zeit sogar Gefahr läuft, negativ belegt zu werden. Verstehen sie mich nicht falsch: Ich bin nicht auf der Seite, die sagt, Investitionen seien etwas Falsches. Wenn wir keine Investitionsprozesse in der Wirtschaft hätten, erlitten wir Wettbewerbsnachteile und letztlich Einkommenverluste. Warum liegen die Arbeitnehmereinkommen in Großbritannien um 30, 35% niedriger als in der Bundesrepublik Deutschland? Das hängt mit dem langsameren Produktivitätsfortschritt zusammen.
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8842 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
RothAber es müßte doch die Aufgabe der Politik sein, das Erweiterungsmotiv dieser Volkswirtschaft zu stärken, beispielsweise durch mehr Nachfrage in der Volkswirtschaft, statt immer nur die Rationalisierungen zu fördern.
— Verehrter Zwischenrufer, im jetzt laufenden Zyklus ist eine Wachstumsrate von etwa 0,5 % zu erwarten. Meines Erachtens ist das zuwenig, um unsere ökologischen Aufgaben anzupacken und die sozialen Standards zu sichern, die wir uns in dieser Gesellschaft erarbeitet haben. Dies als Antwort auf Ihren Zwischenruf.
Aber Sie haben mit Ihrer Finanzpolitik diese vernünftigen Wachstumsspielräume auch in ökologischer Richtung überhaupt nicht ausgeschöpft. Das ist die Wahrheit.
Das DIW schätzt, daß in den letzten drei Jahren das Sozialprodukt um weitere 62 Milliarden DM hätte gesteigert werden können, wenn man eine potentialorientierte Finanzpolitik und nicht eine Finanzpolitik der Restriktion betrieben hätte. Das bedeutet, 400 000 Menschen wären nicht arbeitslos geworden, wenn Herr Stoltenberg nicht eine Finanzpolitik des Streichens auch bei den Investitionen betrieben und damit seinerseits Arbeitslosigkeit verursacht hätte.
In Zwischenrufen wurde am Anfang gesagt: Kein Optimismus. Optimismus — ja oder nein, das ist nicht die Frage, sondern Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es, Bedingungen zu schaffen, daß der Optimismus gerechtfertigt ist. Und das tun Sie nicht.
In diesem Zusammenhang gehört auch die Frage, die sich jedenfalls mir seit Jahren aufdrängt: Ist es eigentlich richtig, mit pauschalen Steuersubventionen Gewinne zu fördern in der Hoffnung, daß irgendwann am Ende Investitionen in Arbeitsplätzen herauskommen? Könnte man nicht vernünftigere steuerliche Entlastungen vorsehen, die sich darauf konzentrieren, z. B. einen Steuerbonus für mehr Arbeitsplätze einzurichten und vor allem gezielte Hilfen für die Investitionstätigkeit der kleinen und kleinsten Betriebe zu geben, die sich am Spekulantenspiel nicht beteiligen können. Hier gibt es Alternativen zu der Methode, die sie vorschlagen.Besonders grotesk fand ich den Vorschlag der FDP, eine Senkung des Spitzensteuersatzes von 56 auf 36 % vorzusehen. Was glauben Sie dem kleinen Mann noch zumuten zu können
bei dieser skandalösen Umverteilung von oben nach unten, die keinen einzigen Arbeitsplatz bringen wird? Ich frage die CDU, auch die Kollegen von den Sozialausschüssen: Glauben Sie wirklich, in einer Koalition mitmachen zu können, die in der Weise in die Substanz der kleinen Leute eingreift, wie es durch die Verwirklichung derartiger Vorschläge geschähe?
Wir sind der Meinung: Steuern sparen soll der, der Arbeitsplätze schafft, und nicht der, der reich ist. Das Prinzip „Arbeitsplätze schaffen" muß in den Vordergrund, nicht das Prinzip „Reich sein".
Zur notwendigen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gehört auch ein Vorschlag, von dem ich gar nichts gehört habe, obwohl er in der letzten Debatte und auch nachher außerhalb dieses Raumes Zustimmung fand: ob wir unser Sozialversicherungssystem nicht anders finanzieren und arbeitsmarktfreundlicher machen könnten. Wäre es nicht möglich, statt dauernd Lohnzuschläge zu machen, für die Finanzierung der sozialen Sicherheit endlich die gesamte Wertschöpfung heranzuziehen, so daß der kleine Handwerksbetrieb entlastet wird und die automatisierte Fabrik endlich zur sozialen Sicherung beitragen muß.
Auch zu dieser Fragestellung gibt es kein Wort im Jahreswirtschaftsbericht. Mich interessiert hier auch eine Antwort aus der Union. Vor der sogenannten Wende gaukelten Sie von den Unionsparteien den Selbständigen vor, mit der Übernahme der Regierung durch Sie würden die Probleme kleiner und mittlerer Unternehmen schrittweise gelöst; bessere Rahmenbedingungen, vor allem der Klimawechsel, würden dazu führen, daß wir einen massenhaften Ansturm in die Selbständigkeit fänden. Tatsache ist, daß die Pleitewelle im Jahr 1984 einen weiteren traurigen Höhepunkt erreicht hat. 16 600 Betriebe haben wegen Konkurses dicht gemacht. Das ist die Wahrheit.
Sie werden Verständnis haben: Hier ist ein Zitat fällig. Es ist ein Zitat aus dem Jahr 1981:Die schockierende Mitteilung aus Wiesbaden — nämlich die Zahl 16 600 im jetzigen Fall —steht im krassen Widerspruch zum regierungsamtlich verbreiteten Optimismus über die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land. Der Anstieg der Pleiten ist ein exakter Gradmesser für die verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung.Das ist ein Zitat von Herrn Hauser, der da vorne sitzt, in der Situation, als die Pleiten um mehr als 1000 niedriger als im letzten Jahr waren.Was ist es jetzt: Verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik? Ja oder nein?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8843
Roth— Jetzt ist das Wetter weg und die Erblast schon wieder da. Fabelhaft! Jetzt sind wir wieder auf das Jahr 1983 zurückgefallen.Für uns ist diese bedrückende Entwicklung bei den Konkursen nicht — wie damals für Sie — Anlaß zu billiger Polemik oder gar zu politischem Triumph. Hinter dieser Statistik stehen Menschen, Selbständige, für die der Zusammenbruch natürlich Arbeitslosigkeit bedeutet. Die Bundesanstalt schätzt, daß allein durch Pleiten 1984 175 000 Menschen arbeitslos geworden sind.
Das ist das Jahr 1984, wie es sich wirklich darstellt.Zu dieser dramatischen Entwicklung der Pleiten während einer Erholungsphase — es müßte doch zu Untersuchungen Anlaß geben, warum die Zahl der Pleiten in einer Erholungsphase steigt — steht im Jahreswirtschaftsbericht kein Wort. Selbst die Pflicht zur Berichterstattung über die Tatsache des Pleitenrekordes wird nicht erfüllt.Ähnlich ist es mit der Lage in der Bauwirtschaft. Da haben wir nun gehört: Der Bauwirtschaft geht es schlecht, weil der Winter so hart ist.
Gestern veröffentlichte der Hauptverband der Bauindustrie folgende Pressemeldung — Herr Präsident, ich darf das zitieren —:Die alarmierende Zunahme der Arbeitslosen und Kurzarbeiter auf 3,1 Millionen im Januar ist nach Auffassung der Bauindustrie nicht auf den Kälteeinbruch zurückzuführen.
Der Hauptverband hat deshalb in einer Stellungnahme dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, Zweckoptimismus vorgeworfen.Der Verband verweist auf eine Situation im Jahre 1980. Damals seien bei 11 Millionen ausgefallenen Tagewerken in der Bauwirtschaft im Januar nur 67 400 Menschen zusätzlich arbeitslos geworden oder hätten kurzgearbeitet; im Jahre 1985 seien nur 7 Millionen Tagewerke — statt der 11 Millionen — ausgefallen, aber 398 700 Menschen seien zusätzlich arbeitslos geworden.Das Reden vom Wintereinbruch ist eine neue Winterlüge, nicht die Wahrheit über den Arbeitsmarkt!
Übrigens, meine Damen und Herren, haben wir die Debatte im Dezember 1982 noch nicht vergessen, als in diesem Hause Herr Bundesbauminister Schneider den Abbau des sozialen Mietrechts damit begründete, daß dann endlich in der Bundesrepublik Deutschland wieder gebaut werden würde. Das Gegenteil ist wahr! Die gestiegenen Erträge wurden aus der Wohnungswirtschaft herausgenommen — das ist die Wahrheit —, und mehr Arbeitslosigkeit kam heraus.
Wir sind der Meinung: Sicherlich, die großen zusätzlichen Wohnungsbaumöglichkeiten existieren zur Zeit wegen der Marktnachfrage nicht,
aber es besteht eine Möglichkeit, mehr zu bauen, es gibt einen Bereich, in dem viel Nachfrage ist. Das ist der Umweltsektor. Die Bauindustrie unterstützt unser Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" doch nicht deswegen, weil sie dumm wäre, sondern deswegen, weil man dort weiß, daß das Arbeitschancen und Investitionschancen sind.
Arbeit und Umwelt zusammenzubringen, das ist die Hauptaufgabe der 80er Jahre, die Hauptaufgabe des ausgehenden Jahrzehnts. Wir haben mit unserem Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" einen konkreten Plan. Stimmen Sie dem zu, hören Sie mit der Blockade gegen diese Idee auf, hören Sie beispielsweise auf die Gewerkschaften und auf die Industrieverbände der Bauwirtschaft!
Statt Umweltpolitik und Schaffung von Arbeitsplätzen miteinander zu verkoppeln, gefährdet die Bundesregierung Arbeitsplätze durch eine widersprüchliche und vor allem kleinmütige Umweltpolitik. Daß Sie es fertiggebracht haben, 18 Monate lang über das schadstoffarme Auto zu diskutieren und zu streiten, hat nach Aussage des Verbandes der Automobilindustrie dazu geführt,
daß mehrere hunderttausend Autos nicht verkauft werden konnten.
Es mag ja sein, daß der Verbandsvertreter der Automobilindustrie — wie Verbandsvertreter es manchmal tun — mit der Zahl 400 000 ein bißchen hoch gegriffen hat — ich habe diese Zahl nicht genannt —, aber die Autonachfrage ist in den letzten Monaten stark zurückgegangen, und das hat neue Arbeitslosigkeit verursacht. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Fragen Sie doch bei Opel oder bei einigen anderen Firmen in der Bundesrepublik Deutschland nach. Diese Bundesregierung sieht eben die ökologische, die qualitative Wachstumschance nicht, die durch die Umweltsicherung für diese Industriegesellschaft eröffnet wird.Diese Regierung der Verweigerung hat auch auf dem Gebiet der regionalen Wirtschaftspolitik völlig versagt. Und was macht man hier? Polemik gegen SPD-Länder statt einer Erneuerung des Instrumentariums der regionalen Wirtschaftspolitik.
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8844 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
RothIm Grundgesetz, Herr Minister Bangemann, steht, daß es Aufgabe des Bundes und seiner Organe ist, für die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu sorgen. Am Montag gab es die Daten aller Arbeitsamtsbezirke: Der beste 3,9 % und der schlechteste — man will die Zahl gar nicht aussprechen — 29,3 % Arbeitslosigkeit im Arbeitsamtsbezirk Leer in Nordfriesland, in Nordniedersachsen.
Bitte, der eine ist in Baden-Württemberg und der andere in Niedersachsen, beides CDU-regierte Länder. Ich finde es empörend, daß man hier eine Gespensterschlacht austrägt: Der Norden ist schlecht— SPD — und der Süden ist gut — CDU —, wo gerade Schleswig-Holstein und Niedersachsen mit der regionalen Krisenspirale an der Küste überhaupt nicht zurechtkommen. Das ist auch eine Bundesaufgabe. Wir bräuchten ein Programm „Küste"— das wäre die Antwort — und keine Polemik gegen Sozialdemokraten!
Ich halte Ihr Verhalten in der regionalen Wirtschaftspolitik — ich weiß, was ich sage — für grundgesetzwidrig und nichts anderes.
Ähnlich verhält es sich beispielsweise mit der Auseinandersetzung in der Wirtschaftsstrukturpolitik. Sie verweigern eine Wirtschaftsstrukturpolitik. Und was passiert? — Die Bundesländer, die Landesfürsten, die Neumerkantilisten Späth und Strauß nämlich, machen einen regelrechten Wettbewerb mit viel Geld um Innovationen und Standorte und ziehen damit natürlich, weil sie von der Struktur her gegenüber der Küste beispielsweise begünstigt sind, Geld und Standorte aus den Regionen ab, denen geholfen werden muß. Das ist die Wahrheit. Dezentralisierung führt in diesem Fall zu einer regionalen Verschlechterung in den ohnehin benachteiligten Regionen. Das ist die Wahrheit über Ihre Strukturpolitik.Oder nehmen wir den Fall der Stahlindustrie. Wie geht es jetzt weiter mit den Stahlstandorten in der Oberpfalz? Was ist los mit Osnabrück? Wird da weiter Stahl produziert werden? — Wir haben keine Antwort. Wir haben die groteske Situation, daß in der Lage, wo Sie über Privatisierung reden, ArbedSaarstahl de facto verstaatlicht wurde und alle Verluste beim Bund und beim Saarland auflaufen.
Jetzt haben Sie wegen Ihrer Verweigerung einer Stahlpolitik nicht einmal mehr einen Vorsitzenden des Vorstands bei Arbed-Saarstahl; er ist weggelaufen. Und einen neuen haben Sie nicht gefunden, weil jeder sagt: Da kann ich ja nicht hereingehen, ich weiß ja gar nicht, was die Bundesregierung mit Arbed wirklich vor hat. Das hängt offenbar von den saarländischen Landtagswahlen ab, was damit geschieht, habe ich den Eindruck.
Konzeptionslosigkeit ohne Ernsthaftigkeit.Alle diese Beispiele zeigen, wie stark die Bundesregierung durch Illusionen und Mittelmäßigkeit geprägt ist. Dabei habe ich noch nicht von der Tatsache gesprochen, daß die Agrarpolitik praktisch gescheitert ist. Sie ist gescheitert; das können Sie bei jedem Kreisbauerntag erleben.Dabei habe ich noch nicht davon gesprochen, daß Sie in den letzten Jahren in der Subventionspolitik geradezu eine Subventionsexplosion entgegen allen Ankündigungen durchgeführt haben.
Dabei habe ich noch nicht davon gesprochen, daß Sie im Gegensatz zu Ihren Ankündigungen die höchste Steuerquote und die höchste Abgabenquote haben, die jemals in der Bundesrepublik Deutschland da war.
Die Bruttoabgabenquote der Arbeitnehmer liegt jetzt bei 45,5%.
Wo ist eigentlich der Alt-Poujadist Häfele bei diesem Skandal geblieben? Der hat doch immer gesagt, die Abgaben seien zu hoch.
Sie sind seit Ihrer Regierungsübernahme noch einmal um 2 Punkte gestiegen.
Wir haben eine Regierung, die in allen Versprechungen gegen ihre eigenen Ankündigungen Politik macht, eine Regierung, die am Arbeitsmarkt versagt hat.Meine Damen und Herren, es wäre falsch, wenn Sozialdemokraten nicht Alternativen nennen würden.
Ich will meine Gedanken in sieben einzelnen Punkten darlegen.
Erstens. Vordringlichstes Ziel ist der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit. Wir fordern Sie auf,
auf unsere Vorschläge vom September 1984 zurückzukommen.Zweitens. Arbeitszeitverkürzung steht so lange weiter auf der Tagesordnung, wie das Rationalisierungstempo höher ist als das Wachstumstempo.Drittens. Es ist möglich, durch Umweltverbesserung Arbeit zu schaffen. Wir fordern Sie auf, mit
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8845
Rothuns das Sondervermogen „Arbeit und Umwelt" einzurichten,
das jedes Jahr 400 000 Arbeitsplätze schaffen wird.Viertens. Wir setzen uns für eine vernünftige, arbeitsmarktorientierte Finanzpolitik ein, eine Finanzpolitik, die den Erholungsprozeß stützt, stabilisiert und ihm zusätzliche Impulse gibt. Mehrere hunderttausend Arbeitsplätze wären auf diesem Wege zu schaffen.Fünftens. Wir brauchen mehr Dienstleistungsarbeitsplätze. Sie sind möglich, wenn man die Gesamtarbeitskosten senkt, beispielsweise dadurch, daß man bei Beibehaltung des Niveaus der sozialen Sicherung andere Methoden der Finanzierung der sozialen Sicherung findet.
Wir müssen von der lohnbezogenen Finanzierung wegkommen und zur Wertschöpfungsorientierung übergehen.
Sechstens. Wir können die traditionellen Industrieregionen nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Wir brauchen ein industriepolitisches Konzept, das den Anpassungsprozeß in Problemregionen und Problembranchen erleichtert und unzumutbare Härten vermeidet. Wir brauchen vor allem Bereitstellung von Innovationspotential in regionaler Hinsicht in den benachteiligten Bereichen.Siebtens. Zur Überwindung der Beschäftigungskrise reichen nationale Maßnahmen allein nicht aus. Der Bundesregierung hätte es angestanden, statt zwischen der französischen Regierung und unserer Opposition im Bundestag Zwietracht säen zu wollen — wir haben wöchentlich Kontakt mit Vertretern der dortigen Partei —, zuzuhören, was der Präsident der Europäischen Kommission, Delors, in seiner Rede in Straßburg gesagt hat. Er hat nämlich exakt einen europäischen Beschäftigungspakt verlangt, der konzertiert nach vorn geht.
Das Problem Frankreichs war doch nur, daß Frankreich isoliert war und aus einer hohen Inflationsrate kam. Die französische Regierung hat von der Giscard-Regierung über 13 % Inflationsrate übernommen. Das ist die Wahrheit. Deshalb hat sich eine expansive Politik nicht realisieren lassen. Aber eine konzertierte Aktion, ein europäischer Beschäftigungspakt wäre eine Chance für ganz Europa. Das wäre die Chance für Europa, diese schreckliche Arbeitslosigkeit gemeinsam zu überwinden.Meine Damen und Herren, als ich die Rede von Herrn Bangemann gehört habe, als ich diese Flucht aus einer Auseinandersetzung über praktische Antworten in unserer Wirtschaftspolitik gehört habe, mußte ich einen Moment denken: Die Auseinandersetzungen mit Lambsdorff waren härter und entschiedener. Aber was er sagte, hatte wenigstenKontur im Vergleich zu dem, was wir heute morgen hier gehört haben.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hauser .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht gibt Gelegenheit zu einer wirtschafts- und finanzpolitischen Zwischenbilanz in der Mitte dieser Legislaturperiode.Kollege Roth, Sie haben eben gesagt, man müsse Bedingungen schaffen, die Optimismus rechtfertigten. Ich habe den Eindruck, daß die Bürger in unserem Lande die Situation ganz anders beurteilen, als Sie es uns hier soeben einzureden versucht haben.
Wenn am Jahreswechsel 55 % der Bundesbürger mit Zuversicht und positiven Erwartungen in das neue Jahr gegangen sind — im Gegensatz zu 1982, als es noch 34 % waren —, dann zeigt das, daß die Politik der Bundesregierung von den Bürgern als der richtige Weg erkannt worden ist und daß sie wissen, daß mit dieser Politik auch ihr Schicksal auf die richtige Straße gebracht worden ist, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, die „Financial Times" hat — das hat der Herr Wirtschaftsminister schon gesagt — vom neuen Wirtschaftswunder gesprochen. So vermessen würden wir gar nicht sein. Und sie hat hinzugefügt: Kaum ein Tag vergeht ohne Beweise für die bemerkenswerte Erholung der deutschen Wirtschaft. Ein Mann wie Professor Engels, der ja nun in der deutschen Volkswirtschaft einen Namen hat
— das paßt Ihnen natürlich nicht, Herr Ehrenberg, aber der möchte ja Ihren Ruf auch nicht haben;
deswegen ist es schon ganz gut so, daß Herr Engels einen Ruf hat, der ihn auszeichnet und ihn als sachkundig ausweist —,
hat gesagt:Die Politik der Bundesregierung hat einen Teil des verkrusteten Arbeitsrechts aufgelockert, kostentreibende Strukturen im Gesundheitswesen zumindest an einer Stelle aufgebrochen, die öffentlichen Haushalte saniert, die Inflation beseitigt. Das Sozialprodukt und die Löhne steigen wieder, und mit der Privatisierung wurde ein Anfang gemacht. Schon die Ankündigung einer Konkurrenz im Äther hat frischen
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8846 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Hauser
Wind in die milde Langeweile der öffentlichen Monopolfernsehsender geblasen.
Meine Damen und Herren, trotz all dieser positiven Aussagen wissen wir, daß die Sanierung der Staatsfinanzen, die Bewältigung des strukturellen Wandels in der Wirtschaft, die Schaffung neuer, rentabler Arbeitsplätze nicht mit kurzfristigem Aktionismus, sondern nur durch eine dauerhafte und solide Politik erreicht werden kann, eine Politik des langen Atems. Im Jahreswirtschaftsbericht 1985 hat die Bundesregierung die politischen Schwerpunkte zusammengefaßt, die nach unserer Überzeugung und auch der Überzeugung der Mehrheit der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute geeignet sind, die genannten Aufgaben zu bewältigen.Herr Kollege Roth, auch wenn Sie das von der Erblast nicht gern hören — dafür haben wir ja großes Verständnis; denn das ist für Sie eine unangenehme Erinnerung, die da immer wieder aufkommt —,
so ist es doch, glaube ich, richtig, wenn wir bei dieser Zwischenbilanz an die Situation erinnern, die vor zwei Jahren, am 6. März 1983, für unsere Volkswirtschaft gegeben war: mit Inflation, mit Stagnation, mit wachsender Arbeitslosigkeit und trotzdem mit einem Hang, weitere soziale Wohltaten zu fordern und zu verteilen, was sich bei den bis Ende 1982 regierenden Politikern, aber auch bei einigen Interessengruppen sehr stark entwickelt hatte. Mit der ideologischen These von der „öffentlichen Armut" und dem vermeintlichen „privaten Reichtum" wurde klassenkämpferisch eine zielstrebige Umverteilungspolitik betrieben, die am Ende lediglich den Staatsanteil am Bruttosozialprodukt ausweitete. Die Inflation wurde die entscheidende Wachstumsbremse. Der Wirtschaft fehlte das Kapital für notwendige innovative Investitionen, und es entstand eine gewaltige Investitionslücke.Meine Damen und Herren, nach der erfolgten politischen und ökonomischen Wende in Bonn haben wir uns auf die Kräfte des Marktes besonnen. Die von uns eingeleitete Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft bedeutet, staatliche Aufgaben und Ausgaben zu beschneiden, bedeutet die Freisetzung privater Kräfte und die Förderung der Leistungsbereitschaft. Der Regierungswechsel 1982 hat uns die Chance eröffnet, die Wachstumskräfte wieder stärker und nachhaltiger zu entfalten.Die wirtschaftliche Zwischenbilanz zeigt, daß wir hier auf dem richtigen Wege sind. Man muß sich einmal die Zwischenergebnisse ansehen, die Sie natürlich ignorieren möchten, Herr Kollege Roth, die aber im Jahreswirtschaftsbericht noch einmal deutlich unterstrichen worden sind. Von den vier Zielen, zu deren Erreichung uns das Stabilitätsgesetz verpflichtet, sind drei in geradezu idealer Weise realisiert, nämlich Preisstabilität, außenwirtschaftlichesGleichgewicht und eingemessenes Wirtschaftswachstum.
Trotz der schockierenden Januarzahlen über den Arbeitsmarkt, die wir genauso wie Sie beklagen — es sollte niemand den Eindruck erwecken — —
— Entschuldigen Sie, nun erregen Sie sich nicht unnötig.
— Ja, ja, tun. Dann frage ich mich: Was haben Sie denn getan, um zu verhindern, daß am Ende Ihrer Regierungszeit zwei Millionen Arbeitslose die Basis für das waren, was wir heute hier zu beklagen haben, meine Damen und Herren?
Sie machen hier ständig dumme Zwischenrufe und tun so, als ob Sie an der Entwicklung der Arbeitslosenzahl überhaupt keinen Anteil gehabt hätten. Genau das Gegenteil ist richtig.
Meine Damen und Herren, trotz der schockierenden Januarergebnisse der Arbeitslosenentwicklung, die wir gar nicht bestreiten, sind wir mit den Experten des Arbeitmarktes der Auffassung, daß wir im Jahresverlauf mit einem Absinken rechnen können. Meine Damen und Herren, wenn es so ist— das sollten Sie einmal durchdenken, wenn Sie hier immer nur Zwischenrufe machen, ohne substantiell etwas beizutragen —,
daß wir auch in diesem Jahre mit einem Absinken der Arbeitslosigkeit rechnen können,
dann liegt das nicht zuletzt daran, daß es der Politik dieser Regierung gelungen ist, die von Ihnen auf 5,3 % hochgeschraubte Inflationsrate auf jetzt 2,4 %, also auf die Hälfte, abzusenken.
Herr Abgeordneter Hauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön.
Herr Abgeordneter Westphal, bitte sehr.
Herr Kollege Hauser, würden Sie mir bestätigen, daß, selbst wenn man die optimistische Prognose der Fünf Weisen zugrunde legt und wir hunderttausend oder sogar zweihunderttausend Arbeitslose im Jahre 1985 weniger hätten — jeden
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Westphalwürde das freuen — daß im Oktober 1985, dem Vergleichsmonat zum Wende-Datum, immer noch mehr Arbeitslose wären als an dem Datum, als Helmut Schmidt aus dem Amt schied, als es 1,8 Millionen Arbeitslose waren?
Herr Kollege Westphal, Ihr eigener Fraktionsvorsitzender hat im Wahlkampf 1983 zu dieser Frage gesagt, daß der Abbau der Massenarbeitslosigkeit — wenn man diesen Begriff hier in diesem Zusammenhang überhaupt nennen darf; denn Massenarbeitslosigkeit ist in meinen Augen etwas ganz anderes —,
die sich unter Ihrer Regierungsverantwortung entwickelt hat, eine lange Zeit braucht. Das könne nicht die Aufgabe einer Legislaturperiode sein. Das ist die Antwort Ihres Fraktionsvorsitzenden auf diese Frage.
Meine Damen und Herren, mit der Absenkung der Inflationsrate haben wir die niedrigste Marge seit 1969 erreicht, für das Jahr 1984 die niedrigste weltweit. Wenn es bei der früheren Bundesregierung zu einer solchen Entwicklung gekommen wäre, bin ich sicher, wäre die politische Seligsprechung des Kanzlers eingeleitet worden. Sie tun so, als sei das ganz selbstverständlich, ohne anzuerkennen, daß ohne eine vernünftige Stabilität in unserer Volkswirtschaft jede Bemühung um eine Lösung des Arbeitslosenproblems von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.Meine Damen und Herren, Stabilitätspolitik ist zugleich die soziale Komponente. Denn die Halbierung der Inflationsrate bedeutet für die Bürger eine zusätzliche Kaufkraft von mehr als 30 Milliarden DM. Die Halbierung der Inflationsrate hat darüber hinaus die Substanzeinbußen beim Geldvermögen der Bürger in Höhe von 80 Milliarden DM verhindert. Heute sind die Zinsen auf dem Sparbuch unserer Rentner, unserer Arbeitnehmer und all derer, die ein Sparbuch haben, weil sie zur Reserve etwas brauchen, wieder sicher geworden. Sparen bringt wieder Vermögensgewinn und keinen Substanzverlust. Das ist soziale Politik für breite Schichten unseres Volkes.
Meine Damen und Herren, natürlich ist diese Stabilität auch das Ergebnis einer außergewöhnlichen Preisdisziplin der Unternehmer und des harten Wettbewerbs, der es einfach nicht erlaubt, Kostenerhöhungen immer wieder auf den Preis weiterzugeben. Die Mehrwertsteuererhöhung vom Juli 1983 um einen Prozentpunkt ist praktisch nicht an den Verbraucher weitergegeben worden, was sich an den geringen Preissteigerungsraten beweisen läßt.Diese Stabilitätspolitik muß konsequent fortgesetzt werden. Der Kampf gegen die Geldentwertung ist nie gewonnen, sondern immer wieder neu gefordert.Die wichtigste Voraussetzung für einen nachhaltigen Abbau der Arbeitslosigkeit ist die Steigerung des Bruttosozialprodukts. Ich bin schon sehr froh, daß wir uns inzwischen alle darin einig sind, daß wir mit Wachstum allein die Probleme nicht werden lösen können, sondern daß es hier ein Bündel von Maßnahmen wird geben müssen.
— Herr Kollege Ehrenberg, es ist sehr gut, daß Sie hier den ganzen Vormittag Ihre Stimme strapazieren. Aber wenn Sie zuhörten, bekämen Sie auf manche Ihrer Fragen eine Antwort.
— Das mag ja sein. Das ist unangenehm und dann auch schwer umzusetzen.Wir haben die negative Entwicklung unter Ihrer Regierungsverantwortung, meine Kollegen von der SPD 1981 minus 0,3 %, 1982 minus 1,1% umgedreht und stehen heute bei einer Steigerungsrate von 2,5%.
Der Jahreswirtschaftsbericht spricht von 2,5% auch für das Jahr 1985. Es ist eine vorsichtige Prognose. Und ich will jetzt hier nicht sagen, das könnten genausogut 3 % werden. Zumindest ist dies nicht ausgeschlossen. — Diese Entwicklung zeigt, daß der Sachverständigenrat recht hat, wenn er sein Gutachten mit der Überschrift versieht: „Chancen für einen langen Aufschwung". Hier kommt es darauf an, daß die Entwicklung nicht in Hektik mal hoch, mal runter geht, sondern daß wir diesen Aufschwung über eine lange Frist kontinuierlich sichern. Die Sachverständigen sagen wörtlich:Die deutsche Wirtschaft dürfte auch 1985 auf expansivem Kurs bleiben. Die Voraussetzungen dafür sind so gut wie lange nicht mehr.Meine Damen und Herren, die Dynamik der deutschen Wirtschaft ist also ungebrochen, so daß für 1985 mit einer weiteren Beschleunigung gerechnet werden kann. Der Aufschwung hat an Kraft gewonnen. Und nimmt man alles zusammen, kann man sagen, daß die Perspektiven unserer Volkswirtschaft heute so günstig wie seit 30 Jahren nicht mehr sind.Auch die Steigerung des realen Wachstums gehört zur sozialen Komponente unserer Politik. Eine Steigerung des Bruttosozialprodukts um real 1 % bedeutet, daß Güter und Dienstleistungen im Wert von 18 Milliarden DM der Bevölkerung mehr zur Verfügung stehen.Der dritte Punkt im Hinblick auf die vier Kategorien des Stabilitätsgesetzes ist die wiedergewonnene Leistungskraft der deutschen Wirtschaft, wie sie sich in der Leistungsbilanz zeigt. Der Saldo der Leistungsbilanz stieg von minus 28,5 Milliarden DM im Jahre 1980 auf plus 18 Milliarden DM im Jahre 1984. Das Plus in unserer Leistungsbilanz in bisher
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8848 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
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unbekannter Höhe ist der beste Beweis für den Wiedergewinn der Leistungsfähigkeit. Entscheidend hat dazu der Rekordüberschuß im Außenhandel beigetragen.
Meine Damen und Herren, große Sorge bereitet uns gegenwärtig die Lage in der Bauwirtschaft. Diesem Wirtschaftszweig kann durch die Auflage zeitlich begrenzter Sonderprogramme nicht geholfen werden. Erfreulicherweise wird dies auch in den Verbänden und Betrieben der Bauwirtschaft so gesehen. Deshalb ist es unser Ziel, die öffentlichen Investitionen zu verstetigen und im Rahmen des finanzpolitisch Machbaren schrittweise zu erhöhen.Wenn Sie, Kollege Roth, die sicherlich niedrige Investitionsquote im Bundeshaushalt kritisiert haben, muß ich Ihnen allerdings dringend raten, zuerst einmal vor der eigenen Haustür zu kehren.
Der rückläufige Trend der Investitionen im Bundeshaushalt wurde unter der Richtlinienkompetenz eines SPD-Bundeskanzlers eingeleitet. Angesichts der positiven Entwicklung der Gemeindehaushalte sehe ich Möglichkeiten für eine kurzfristige Anhebung öffentlicher Investitionen. Damit wir uns hier nicht falsch verstehen — Herr Kollege Wolfram, Sie nehmen Ihre Brille schon ab, um besser zuhören zu können;
deswegen sage ich das hier sofort pointiert dazu —: Es wäre falsch, hier den Eindruck zu erwecken, als seien in allen Gemeinden die Haushalte in Ordnung.
— Entschuldigen Sie, ich sage das, was ich für richtig halte. —
Aber es ist nicht zu bestreiten, daß sich die Gesamtlage der kommunalen Haushalte deutlich entspannt hat. Wir sind in vielen Gemeinden nicht mehr auf eine Neuverschuldung zum Ausgleich der Haushalte angewiesen. Hier zeichnet sich alles in allem per saldo eine positive Entwicklung ab.
Meine Damen und Herren, ich habe eine Bitte. Es geht darum, an die Gemeinden zu appellieren — ich tue dies hier ausdrücklich —, ihren Handlungsspielraum dort zu nutzen, wo es irgend möglich ist, damit sie ihren Beitrag — vor allen Dingen zur Unterstützung der kleinen und mittleren Bauunternehmen — leisten.Ich möchte den Bundesfinanzminister bitten, im Finanzplanungsrat prüfen zu lassen, inwieweit in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden für 1985 veranschlagte Investitionsausgaben zeitlich vorgezogen werden können. Ich meine, es wäre auch dringend erforderlich, daß eventuell noch gesperrte Investitionsmittel in allen Haushalten — sei es im Haushalt des Bundes oder in den Haushalten der Länder oder Gemeinden — schnellstens zur Verfügung gestellt werden, damit sie in die Bauwirtschaft fließen, um vernünftige öffentliche Projekte zu finanzieren.
Herr Abgeordneter Hauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolfram?
Herr Präsident, ich weiß nicht, wie das mit meiner Redezeit ist.
Ich rechne Ihnen das nicht auf die Redezeit an.
Ja, dann bitte schön.
Bitte schön.
Verehrter Herr Kollege, teilen Sie als erfahrener Kommunalpolitiker meine Auffassung, daß es des Nachhilfeunterrichts durch Minister der Bundesregierung darüber, was die Gemeinden zu tun haben, nicht bedarf, und sind Sie mit mir der Meinung, daß die Gemeinden manche Mark mehr investieren könnten, wenn sie nicht durch zusätzliche Sozialhilfelasten und andere Aufgaben belastet würden?
Herr Kollege Wolfram, Sie sind auch ein erfahrener Kommunalpolitiker. Dann wissen Sie ja, daß die strukturelle Schwäche der kommunalen Haushalte viele Gründe hat. Dazu gehört sicherlich auch das, was Sie hier angeführt haben; aber dies allein ist es nicht.
Ich meine, es wäre unsere Aufgabe — ganz gleichgültig, wo wir politische Verantwortung tragen —, dafür zu sorgen, daß die kommunalen Haushalte wieder intakt kommen und sich verfestigen, denn die kommunalen Haushalte tätigen zwei Drittel der öffentlichen Investitionen. Und wenn unsere Gemeinden nicht investitionsfähig sind, dann können fast überhaupt keine Investitionen getätigt werden.
Meine verehrten Damen und Herren, seit Ende 1982 können wir feststellen, daß die Unternehmen auch wieder Gewinne machen. Der Kollege Roth hat das hier soeben in einem Zusammenhang angesprochen, den ich gleich noch einmal erläutern werde. Diese notwendige Erholung der Einkommen aus Unternehmertätigkeit hat jedoch das Ausmaß zurückliegender Fehlentwicklungen nicht korrigieren können. Die Erholung der Unternehmenserträge hat dazu beigetragen, daß die Investitionstä-
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tigkeit im Unternhmensbereich belebt werden konnte. So ist auch von der Ertragsseite wie von der Finanzlage der Unternehmen her mehr Raum für die Entfaltung der Auftriebskräfte.Diese erfreuliche Entwicklung ist hier im Deutschen Bundestag von der SPD mehrfach kritisiert worden. Ich halte dies aber schlicht für eine Wahlkampfdemagogie, denn jeder Arbeitnehmer weiß, daß sein Arbeitsplatz nur gesichert ist, wenn sein Unternehmen schwarze Zahlen schreibt. Da in den Veröffentlichungen leider immer von „Unternehmergewinnen" die Rede ist, entsteht in der Öffentlichkeit der falsche Eindruck, als sei das, was hier in summa oder in Prozenten ausgedrückt ist, das, was der Unternehmer — wie immer man ihn dann auch qualifizieren mag — für sich privat verwenden kann.Hier muß doch einmal deutlich gesagt werden: Unter der Überschrift „Unternehmensgewinne" verbirgt sich doch alles das, was erst nach Steuern zur Verfügung steht, um Investitionen zu finanzieren, damit Arbeitsplätze gesichert werden können. Deswegen ist es eine völlig irrige Auffassung, daß Unternehmergewinne in der Form, wie sie uns dargestellt werden, private Verfügungsmasse des Unternehmers selbst wären.Hier wird doch deutlich — das ist auch ein Punkt, Herr Kollege Roth, den Sie angesprochen haben —, daß trotz dieser Entwicklung die Investitionen noch unbefriedigend sind. Ein Grund dafür ist, daß in den zurückliegenden Jahren die Eigenkapitalbasis der Unternehmen rapide, zum Teil dramatisch abgesunken ist. Wenn jetzt wieder Gewinne gemacht werden, versucht man natürlich zunächst einmal, sich von der bis dato notwendig gewordenen Fremdverschuldung, die die Erträge der Betriebe zum Teil drastisch beeinträchtigt, freizumachen, ehe man wieder Spielräume für neue Investitionen hat. Das ist ein längerer Prozeß. Deswegen bleibt die nachhaltige Verbesserung des Eigenkapitals eine zentrale Aufgabe für den Gesetzgeber und auch für die Bundesregierung.
Wir beraten in Kürze das große Steuerpaket für 1986 und 1988.
Hier sind erste, wichtige und große Schritte in eine richtige Richtung getan wie die Entlastung aller Bürger, vor allen Dingen auch der großen Familien. So wichtig die von mir soeben angesprochenen Entlastungen der Unternehmen sind, genauso wichtig ist die Entlastung all unserer Bürger, vor allen Dingen auch der Arbeitnehmer, damit auch deren Leistung wieder belohnt und nicht bestraft wird.
Herr Abgeordneter Hauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrenberg?
Bitte schön.
Herr Kollege Hauser, können Sie dem Haus bei den von Ihnen dargestellten Zusammenhängen zwischen Gewinn, Eigenkapital und Investitionen Aufschluß darüber geben, aus welchen Quellen 1984 mehr als 29 Milliarden DM aus der Bundesrepublik mehr in Finanzanlagen im Ausland angelegt worden sind als umgekehrt aus dem Ausland hier? Wo kommen Ihrer Ansicht nach diese 29 Milliarden DM her, und warum werden sie nicht in der Bundesrepublik investiert?
Herr Kollege Ehrenberg, es bedarf doch überhaupt keines Streites. Der Kapitalabfluß aus der Bundesrepublik ist auch aus unserer Sicht zu hoch.
— Entschuldigen Sie, es ist ja immer so schön, wenn die Brandstifter nach der Feuerwehr rufen und so tun, als hätten sie mit all dem nichts am Hut gehabt.
Wer hat denn diese Entwicklung eingeleitet? Wann hat denn der Kapitalabfluß aus der Bundesrepublik in andere Märkte begonnen?
Etwa erst 1982, oder war das bereits vorher der Fall, Herr Kollege Ehrenberg?
Meine Damen und Herren, ich sagte, daß wir bei dem Steuerpaket uns zunächst einmal an die breite Masse unserer Bürger wenden, weil sie der Entlastung bedürfen, und vor allen Dingen auch an die Familien. Die Haltung der SPD zu dieser Reform der Lohn- und Einkommensteuer ist j a außerordentlich widersprüchlich. Der Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen hält Entlastungen bei der Lohn- und Einkommensteuer überhaupt nicht für notwendig. Hier zeigt sich wohl wieder die alte Philosophie der Sozialisten, die die Hauptaufgabe staatlicher Finanzpolitik darin sehen, das Geld anderer Leute auszugeben.
In die gleiche Richtung zielt auch die Initiative des hessischen Sozialministers zur Einführung einer Pflegeversicherung. Sieht man einmal von dem geforderten Bundeszuschuß ab, dann läuft auch dies wieder nur darauf hinaus, die Belastung beim Arbeitnehmer und beim Produktionsfaktor Arbeit unterzubringen.
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8850 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
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— Herr Kollege Roth, vielleicht hören Sie auch einmal zu, das habe ich bei Ihnen auch getan. — Vielleicht äußert sich zu diesem Punkt auch einmal der Vordenker der SPD, der Bundesgeschäftsführer Glotz.
— Na ja, er bezeichnet sich doch selbst so. Lassen wir das doch, wir können das dann ruhig so hinnehmen. — Er hat eine bemerkenswerte Feststellung getroffen. Eigentlich als erster führender SPD-Politiker hat er den Mut gehabt, offen und ehrlich zu sagen, daß die Arbeit in unserem Land zu teuer geworden ist und es vielfach rentabler ist, Arbeit durch Kapital zu ersetzen. Damit, Herr Kollege Ehrenberg, haben Sie einen Teil der Fragen beantwortet, die Sie durch Zwischenrufe hier stellen wollten. Gehen Sie zu Ihrem Genossen Glotz, er soll Ihnen mal Nachhilfeunterricht über Zusammenhänge von Arbeitskosten, Ertrag und volkswirtschaftlicher Leistung geben!
Meine Damen und Herren, es gibt natürlich in den Reihen der SPD auch Politiker, die das Gegenteil von dem propagieren, was Herr Posser sagt, und die wiederum beklagen, daß das Volumen der von der Regierungskoalition beschlossenen Entlastungen nicht groß genug ist. Ich meine, deswegen sollten wir das, was Sie am Wochenanfang hier in die Öffentlichkeit getragen haben, Ihr Paket, einmal daraufhin untersuchen, aus wieviel Widersprüchlichkeiten sich dies alles zusammengesetzt hat und ob es wirklich eine Alternative zu dem ist, was die Bundesregierung vorlegt.Wenn man alles einbezieht, dann wird auch die Opposition zugeben müssen, daß es gerade die heimlichen Steuererhöhungen, besonders die betroffenen Steuerzahler in der Progressionszone, waren, die einen entscheidenden Beitrag zu der bisherigen Konsolidierung der Staatsfinanzen geleistet haben. Dann entpuppt sich auch das Gerede vom Mangel an sozialer Symmetrie als das, was es ist, nämlich als Scheinheiligkeit und Heuchelei.Wie ich gestern aus der Presse entnehmen konnte, soll jetzt dieses Steuerpaket von Ihnen auf den Weg gebracht werden, und dann wollen wir mal sehen, was im Grunde davon übrigbleibt. Sie beklagen darin, daß wir die Kinderfreibeträge erhöhen wollen. Wenn Sie aber gegen Kinderfreibeträge sind, dann müßten Sie logischerweise auch gegen alle anderen Freibeträge sein, und dann müßten Sie sich darüber unterhalten, ob Sie auch die Abschaffung des Grundfreibetrages, des Weihnachtsfreibetrages, des Altersfreibetrages oder der Ausbildungsfreibeträge haben wollen. Dies alles ist ein völlig falscher Weg. Ich möchte hier mit Norbert Blüm sagen: Wir wollen in der Steuerpolitik nicht bessere Melkmaschinen, sondern wir wollen wieder bessere Kühe, damit es für unsere Volkswirtschaft Geld gibt.
Wir wissen aber auch, daß weitere Schritte zur Reform der Unternehmensbesteuerung folgen müssen und auch folgen werden. Dies ist die Konsequenz unserer Politik der Rückführung der Staatsquote auf ein vernünftiges Maß. Wir müssen unsere Unternehmen wieder wetterfest machen. Diesem Ziel müssen die nächsten Schritte in der Steuerpolitik dienen; auch dies ist ein Beitrag zur Sicherung der Arbeitsplätze.Lassen Sie mich dies hier sagen: Dabei geht es nicht nur um die Senkung des Spitzensteuersatzes, sondern vor allem um die Sicherung der Investitionskraft der Unternehmen, die im übrigen mit ihren Erträgen manchmal gar nicht an den Spitzensteuersatz herankommen.
Herr Abgeordneter Hauser, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth?
Ich glaube, ich komme jetzt zeitlich etwas ins Gedränge, Herr Präsident.
Wenn Sie die Frage beantworten wollen — daran soll es nicht scheitern.
Ja, bitte schön.
Herr Hauser, nur eine kleine Frage: Jetzt haben Sie dreimal gesagt, Sie wollen die Staatsquote senken. Wie vereinbaren Sie damit die angekündigte Rentenbeitragserhöhung, die doch die Staatsquote erhöht? Oder irre ich mich?
Sie wissen, daß mit der Rentenbeitragserhöhung auch eine Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung verbunden ist.
Wir werden diese Fragen, die steuerpolitischen und die sozialpolitischen Notwendigkeiten, auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Ich kann noch einmal sagen: Wir bleiben bei dem Ziel, das wir uns in der mittelfristigen Finanzplanung gesetzt haben, diese Steuerlastquote, diese Staatsquote auf 45% herabzusetzen,
um dann in einem längerfristigen Zeitraum
wieder auf das Niveau zu kommen, das wir 1969 hatten, nämlich von 39 %.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu einem Thema machen, das auch mit Investitionen und ihren Möglichkeiten zu tun hat. Das ist die Zinssenkung, die wir als einen wichtigen Konjunkturimpuls verstehen. Die Bundesbank war durch die Politik der Bundesregierung in der Lage, den Diskontsatz vom März 1983 von 7,5 % auf heute 4,5% abzusenken. Jedes Prozent
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Zinssenkung ist ein Konjunkturimpuls von etwa 6 Milliarden DM. Deswegen, glaube ich, darf man feststellen: Es ist eine wirtschaftspolitische Leistung ersten Ranges, daß es uns gelungen ist, trotz mancher Schwierigkeiten auf dem Weltmarkt dafür zu sorgen, daß wir uns von den Zinsentwicklungen in den USA haben abkoppeln können und hier ein Zinsniveau haben, das investitionsfreundlich ist.Aber lassen Sie mich anfügen: Ich bin der Meinung, daß auch unsere Banken hier ihren Beitrag zu leisten haben. Im Jahresgutachten des Sachverständigenrates des vorigen Jahres wird ja gesagt, daß die Banken die Verbilligung der Refinanzierung nicht an den Kreditnehmer weitergegeben hätten. Ich bin der Meinung, es darf nicht Sache der Banken sein, ihre Kreditrisiken im Ostgeschäft und in den Entwicklungsländern zu Lasten der heimischen mittelständischen Wirtschaft abzuwickeln.
Wir müssen dafür sorgen, daß das, was die Bundesbank mit ihrer Politik mit Blick auf den Binnenmarkt ankurbeln will, von den Geschäftsbanken auch in Richtung Kreditnehmer umgesetzt wird, damit wir eine vernünftige Basis erhalten.Marktwirtschaft und Wettbewerb sind nur funktionsfähig, wenn wir jungen und aufstrebenden Unternehmern mit neuen Ideen und Impulsen ständig eine Chance geben. Nach zuverlässigen Schätzungen dürften in der Bundesrepublik jährlich mehr als 160 000 Unternehmen aus dem Markt ausscheiden, denen aber jährlich etwa 180 000 Neugründungen gegenüberstehen. 1984 gab es nach Jahren der Mutlosigkeit und der Resignation wieder so etwas wie eine Existenzgründungswelle. Die neuen politischen und ökonomischen Rahmendaten wie auch die stark verbesserten Förderungsprogramme der neuen Regierung haben den latent vorhandenen Willen, ja den Mut zur Selbständigkeit beflügelt.Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß diesen Neugründern, diesen jungen Menschen, die Risikobereitschaft zeigen, auch die Chance gegeben wird, sich zu entfalten, damit sie mit ihren jungen Betrieben in der Bundesrepublik eine Zukunft sehen.
Das Ziel der Stärkung des privaten Sektors ist aber auch durch eine stärkere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt sicherzustellen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Wort zu dem vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Beschäftigungsförderung sagen. Die Vorschläge sollten in sachlicher Weise diskutiert werden.
Die gegenwärtige Diskussion in der Öffentlichkeit scheint mir demgegenüber viel zu sehr in eine ideologische Schlammschlacht auszuarten. Wenn wir am Arbeitsmarkt keine Flexibilität bekommen, wenn wir nicht dafür sorgen, daß Unternehmen ihre Unternehmensentscheidungen auch im Hinblick auf die dort Beschäftigten aus der Marktlage heraus treffen können, Herr Kollege Roth, dann istauch das mit eine Frage nach den Konkursen, die Sie eben angesprochen haben.Es ist doch so, daß wir heute mit vielen Dingen belastet sind. Manche Unternehmer können gar nicht anders — obwohl sie gerne möchten —, als vor dem Konkursrichter zu erscheinen, weil ihnen auf Grund sozialpolitischer Verpflichtungen — bis hin zum Sozialplan — gar keine andere Wahl mehr bleibt.
Deswegen sollten Sie die Verweigerungshaltung, die Sie gegenüber diesen Gesetzen zur Zeit einnehmen, aufgeben, damit wir möglichst schnell zu einer Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt kommen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ihr Vorgänger hatte versprochen, daß ich etwas länger reden dürfe.
Das haben wir alles schon berücksichtigt, Herr Kollege Hauser. Aber wenn Ihnen Ihre Fraktion die Zeit noch zugesteht, bitte, gerne. Dann haben die anderen Redner Ihrer Fraktion entsprechend weniger Redezeit.
Verehrte Frau Präsidentin, dann will ich es kurz machen und sehr schnell zum Ende kommen, damit wir keine Schwierigkeiten bekommen. Ich will auch meinen Kollegen keine Redezeit wegnehmen.Ich möchte dann nur noch ein paar Bemerkungen zu den Subventionen machen. Im Jahreswirtschaftsbericht steht, daß sie weiter abgebaut werden müßten. Ich halte das auch für dringend erforderlich, und zwar mit mehr Konsequenz — ich sage das einmal sehr offen —, als das bisher geschehen ist,
weil nämlich die Subventionen auch zu Wettbewerbsverzerrungen vor allen Dingen zwischen den großen und kleinen Unternehmen führen.Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Der Herr Bundeswirtschaftsminister wird es mir sicher verzeihen, wenn ich sage, daß das, was im Jahreswirtschaftsbericht zum Wettbewerbsrecht gesagt worden ist, in meinen Augen etwas dünn ausgefallen ist.
Die im Bericht enthaltene Formel von der konsequenten Anwendung der vierten Kartellnovelle ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die nicht der besonderen Erwähnung bedarf.
Es gibt bezüglich des Wettbewerbs ohne Zweifel einen Handlungsbedarf. Wenn sich herausstellen sollte, daß die Wettbewerbsverzerrungen im Handel zugenommen haben — wir brauchen gar nicht auf
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8852 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
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das Gutachten der Monopolkommission zu warten, denn das Ifo-Institut in München hat in seinen Untersuchungen diesbezüglich schon alarmierende Zahlen veröffentlicht —, dann gibt es einen Handlungsbedarf, dem wir uns nicht entziehen dürfen.
Wir sind der Meinung, der faire Leistungswettbewerb muß wieder realisiert und von uns politisch geschützt werden, wenn es uns ernst mit der Aufgabe ist, den kleinen und mittleren Unternehmen auf Dauer eine Überlebenschance zu sichern.
Dieses Thema können wir heute sicherlich nicht zu Ende besprechen. Dieses Thema drängt aber zu einer Entscheidung in den nächsten Monaten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend sagen, nicht nur ökonomische Maßnahmen werden zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen.
Hier sind alle gefordert, nicht zuletzt die Tarifpartner. Es muß dafür gesorgt werden, daß man auch bereit ist, einmal von sogenannten Errungenschaften Abschied zu nehmen, wenn man damit den Arbeitslosen eine Chance geben kann. Wir dürfen nicht nur für diejenigen, die Arbeit haben, Politik betreiben, sondern das Ziel unserer Politik — und da sind wir auf dem richtigen Weg —
ist es, denjenigen Menschen zu helfen, die unserer Hilfe bedürfen. Das ist der soziale Akzent unserer Politik.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stratmann.
Liebe Bürgerinnen! Liebe Bürger!
Die Bundesregierung behauptet in ihrem Jahreswirtschaftsbericht — Zitat —: „Zentrales Problem für die Wirtschaftspolitik der 80er Jahre bleibt die Überwindung der hohen Arbeitslosigkeit."Messen wir sie an diesem Anspruch! 1984 waren 3,6 Millionen Menschen erwerbslos, davon 2,3 Millionen gemeldet und über 1,3 Millionen in der stillen Reserve. Seit der Regierungswende im Oktober 1982 nahm die registrierte Erwerbslosigkeit um 430 000 Personen und die stille Reserve um 400 000 Personen, d. h. um über 800 000 erwerbslose Männer und Frauen insgesamt zu.Angesichts dieser trostlosen Entwicklung sucht die Bundesregierung nach jedem Strohhalm und macht in ihrem Jahreswirtschaftsbericht auf Schönfärberei. Zitat: „Seit Herbst 1984 wächst erstmals seit vier Jahren die Zahl der Beschäftigten wieder."
In dieser Woche wird sie wieder von nackten Tatsachen auf den Teppich geholt: über 2,6 Millionen gemeldete Erwerbslose, dazu über 1,3 Millionen verdeckte Arbeitslose. Rechnen wir die 70 000 ausländischen Beschäftigten hinzu, die im letzten Jahr mit Rückkehrhilfen aus der Bundesrepublik gedrängt wurden, was einem Export von Arbeitslosigkeit gleichkommt, so sind von der tatsächlichen Arbeitslosigkeit ca. 4 Millionen Menschen in diesem Land betroffen.
— Ein einsamer Rekord in der Geschichte der Republik.Just in diesem Moment vertreibt die CDU eine Werbebroschüre — ich habe sie mitgebracht —: „Weitersagen! 1985 geht es weiter aufwärts." Dort heißt es: „Die Arbeitslosigkeit wächst nicht mehr, sondern wird abgebaut." An anderer Stelle in dieser Broschüre steht — Zitat —: „Mit Helmut Kohl begann der Aufschwung. Jetzt sind wir wieder im Plus."
Und Kanzler Kohl kommentiert:
Auf dem Weg zu einer stabilen wirtschaftlichen und sozialen Lage sind wir ein großes Stück vorangekommen.
Unsere Politik der Erneuerung stärkt die schöpferischen Kräfte, die uns voranbringen.
Die Dauerarbeitslosen, ein Jahr und länger arbeitslos, wissen ein Lied davon zu singen. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitslosen wächst stetig und ist mittlerweile auf über ein Drittel aller Arbeitslosen gestiegen.Die Unverfrorenheit der Bundesregierung gegenüber dem Heer der Arbeitslosen wird lediglich durch ihre wirtschaftspolitische Torheit übertroffen. Ihr Kerndogma zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit lautet: mehr Investitionen, mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze.Ich möchte mich auf empirischer Grundlage — Daten aus 1984 — mit diesem Kerndogma auseinandersetzen.Erstens. 1984 war das Wirtschaftswachstum hauptsächlich von der Exportnachfrage getragen. Es betrug 2,6 %, wie für 1985 projektiert. Gleichzeitig sank die Zahl der Beschäftigten um 90 000.Zweitens. Die Bundesregierung setzt vor allem auf die technologiestarken Wachstumsbranchen. Schauen wir uns drei dieser Wachstumsbranchen an.Die erste ist der Maschinenbau. Er weitete 1984 seine Produktion um gut 3 % aus. Die Zahl der Mitarbeiter erhöhte sich um 17 000.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8853
StratmannDie zweite ist die Chemieindustrie. Sie verzeichnete 1984 eine Umsatzsteigerung um 11 % auf rund 141 Milliarden DM und eine reale Produktionserweiterung um 5% gegenüber 1983. Zu diesem Zweck investierte sie 7 Milliarden DM, wovon ein höherer Anteil in den Ausbau der Anlagen investiert wurde. Gegenüber 1983 stieg die Zahl der Beschäftigten aber nur um 1 000 auf 550 000.
— Auf die Vergiftung durch die chemische Industrie komme ich noch zu sprechen. — Man muß sich das vergegenwärtigen: 7 Milliarden DM Investitionen in der Chemiebranche bringen 5 % Wachstum— doppelt so viel wie für 1985 projektiert — und 1 000 Arbeitsplätze, und das in der zweitgrößten Wachstumsbranche unserer Wirtschaft.
Schließlich: Die Elektroindustrie verbuchte 1984 ein Produktionsplus von 7 % und schuf bei 938 500 Beschäftigten etwa 35 000 neue Arbeitsplätze. Allein der Siemens-Konzern investierte 2,4 Milliarden DM. Aber da er in technologisch hochwertige Sparten investierte — wie Halbleiter, Bauelemente, Bürotechnik, Produktionsautomatisierung, Daten- und Kommunikationssysteme —, erreichte er teilweise zweistellige Produktivitätszuwächse, was Herr Bangemann und die Regierung ja so feiern.
Die Folge dieser zweistelligen Produktivitätszuwächse trotz 21/2 Milliarden DM Investitionen allein in einem Konzern: Siemens stellte in der BRD im letzten Jahr lediglich 4 000 neue Mitarbeiter ein. Die Elektroindustrie ist zur Zeit der wachstumsstärkste Produktionszweig in der Bundesrepublik, und zwar vor allem im Bereich der Investitionsgüter mit zweistelligen Wachstumsraten und sehr hohen Produktivitätsraten.Schon dieser Blick auf die technologieorientierten und technologiestarken Wachstumsbranchen zeigt, daß selbst Wachstumsraten von 5% und höher, selbst Milliardensummen von Investitionen für Sachanlagen und Erweiterungen kaum nennenswerte Arbeitsplatzeffekte haben.Ich komme auf die gesamtwirtschaftlichen Perspektiven zurück. Die Bundesrepublik erwartet für 1985 ein Wachstum von gut 21/2%, gestützt auf den Export und eine 10%ige Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen. Nach der Ifo-Investitionsumfrage vom August/September 1984 werden 1985 49 % der Industrieunternehmen in Rationalisierung und 26 % in Erweiterungen investieren. Man muß zugestehen: Der Anteil der Erweiterungsinvestitionen nimmt seit 1983 zu: von 18 auf 26%. Doch heißt das keineswegs unter Arbeitsmarktgesichtspunkten, daß diese schwache Tendenz zur Ausweitung der Erweiterungsinvestitionen auf den Arbeitsmarkt durchschlägt, und zwar erstens deswegen nicht, weil der Großteil der Ausrüstungsinvestitionen in den Wachstumsbranchen in der Folge, bei der Anwendung der Produkte, hohe Rationalisierungseffekte hat, und zweitens deswegen nicht, weil Erweiterungsinvestitionen keineswegs automatisch eine Zunahme von Beschäftigung bedeuten. Die Erweiterungsinvestitionen, die im kommenden Jahr, so schätzt Ifo, auch in der eisenschaffenden Industrie vorgenommen werden —, z. B. bei der durchgängigen Einführung der Stranggußanlagen oder bei der Einführung der Durchlaufglühe bei Hoesch, einem milliardenschweren Projekt —, werden die Kapazitäten ausweiten und gleichzeitig die Zahl der Beschäftigten in diesem Produktionsbereich senken.In der letzten Woche hat die CDU ein Forum „Frauenarbeit und technologische Entwicklung" veranstaltet. Dort haben die eingeladenen Sachverständigen, selbst die beiden Vertreter und Vertreterinnen der Arbeitgeberverbände, gesagt, daß die Frauenarbeit heute zu ca. 70% auf computerisierbaren Arbeitsplätzen geleistet wird und daß die Frauen heute auf ihren Arbeitsplätzen von einem ganz enormen Beschäftigungsrisiko betroffen sind. Die Folge davon ist — so das Ergebnis des CDU-Hearings —: Die Einführung neuer Technologien und die Ausrüstungsinvestitionen, auf die Sie gerade hoffen, werden speziell bei der Frauenarbeit eine neue elektronische Einsiedelei, Heimarbeit und Telearbeit herbeiführen. Das war, wie ich der Presse entnehmen konnte, Tenor auf diesem CDUHearing.
Die Folge ist: Die Frauen bleiben befangen in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die wir heute haben und die wir beklagen. Zu der Hausarbeit und zu der Erziehungsarbeit kommt dann spätabends und nachts auch noch die Computerarbeit in der Wohnung hinzu. Wenn das Ihre Arbeitsmarktperspektive und Ihre Frauenperspektive für die Zukunft ist, werden sich die Frauen bedanken, und die, die auf Ihrem eigenen Hearing zu Wort gekommen sind, haben das auch getan.Fazit: Die produktivitätsorientierten Investitionen und die Ausrüstungsinvestitionen, auf die Sie setzen, haben im vergangenen Jahr keine nennenswerten Arbeitsplatzeffekte gehabt und werden sie auch in Zukunft nicht haben, und zwar deswegen nicht, weil gerade durch die Investitionsstruktur, die Sie wollen, die Schere von Produktivität und Wachstum weiter erhalten bleibt. Ich habe mir sowohl im Jahreswirtschaftsbericht als auch im Sachverständigengutachten die entsprechenden Passagen genau angeschaut. Herr Bangemann, Sie behaupten ja — Herr Lambsdorff hat das im letzten Jahr hier auch schon getan —, es gebe keine notwendig auseinanderklaffende Schere zwischen Produktivität und Wachstum mit der Folge von Arbeitsplatzvernichtung. Ich gebe zu, ich kann jetzt nicht auf die ganzen Rand- und Rahmenfaktoren eingehen, die bei diesem Komplex zu berücksichtigen sind; das kann man noch nicht einmal in einer halben Stunde eingehend tun. Ich konzentriere mich auf die Entwicklung von Produktivität und Wachstum. Wenn Sie sich die Entwicklung dieser beiden Faktoren seit 1971 anschauen, stellen Sie fest, daß wir in der Bundesrepublik mit Ausnahme von zwei oder drei Jahren immer ein höheres Wachstum der
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StratmannProduktivität als der Produktion gehabt haben. Das ist 1982, 1983 und 1984, also seit Sie die Regierungsverantwortung tragen, genauso gewesen.Die automatische Folge ist die Zunahme der Arbeitsplatzvernichtung und damit der Erwerbslosigkeit. Genau das ist der theoretische Grund für den empirischen Befund, daß wir seit Mitte der 70er Jahre Massenarbeitslosigkeit mit bis heute steigender Tendenz haben.
Herr Bangemann, Sie haben eben darauf verwiesen, am Beispiel der USA könnten wir doch lernen, daß es diesen Zusammenhang zwischen Produktivität, Wachstum und Arbeitsplätzen nicht gebe. Der Sachverständigenrat versucht auch, so zu argumentieren, und verweist auf das leuchtende Beispiel der USA: Wirtschaftsboom in den USA und tatsächlich millionenfache Bereitstellung von Arbeitsplätzen.Schauen wir uns diesen Wirtschaftsboom in den USA und die Struktur der Arbeitsplätze an, so stellen wir fest, daß die Situation dort nicht im entferntesten mit der in der Bundesrepublik vergleichbar ist. Erstens war das vergleichsweise hohe Wachstum in den USA in den letzten Jahren zu einem sehr großen Teil außen- und auslandsfinanziert. Zweitens ist, anders als in der Bundesrepublik, das Produktivitätsniveau in den USA relativ gering. Es liegt im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt um 25 % unter dem Produktivitätsniveau der Bundesrepublik, was in den USA zur Folge hat, daß neue Arbeitsplätze nicht etwa in Wettbewerbssektoren geschaffen worden sind, sondern auf die Nichtwettbewerbssektoren im Dienstleistungsbereich gedrängt worden sind. Nur im Dienstleistungsbereich sind millionenfach neue Arbeitsplätze geschaffen worden, allerdings ganz besonderer Art. Vorreiter bei der Arbeitsmarktentwicklung waren McDonald's — das ist ja schon in ,Zwischenrufen angeklungen — und Burger King mit Billigstarbeitsplätzen: 3,35 Dollar pro Stunde Arbeitslohn, fast 10 Dollar pro Stunde unter dem, was ein Stahlarbeiter verdient, mit der Folge, daß zwei Drittel der neuen Arbeitsplätze weniger als 13 600 DM im Jahr einbringen. Die amerikanische Mittelklasse schrumpft, und jeder siebte Amerikaner gilt als arm.Was ich durch eine empirische Untersuchung des Befundes 1984 darzustellen versucht habe, war, daß Ihre Hoffnung, durch Ausrüstungsinvestitionen und Technologieorientierung Arbeitsplatzeffekte zu schaffen, völlig auf Sand gebaut ist. Dies ist empirisch nachweisbar und theoretisch begründbar.Unsere Alternative dazu ist: Der Hauptansatzpunkt zur Überwindung der Arbeitslosigkeit muß, wenn wir gleichzeitig eine wachstumsunabhängige Politik betreiben wollen, die Verkürzung der Arbeitszeit sein.
Wir versuchen auf fünf Ebenen — auch mit parlamentarischen Initiativen —,
die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Erstens. Das Thema der Einführung der 35-Stunden-Woche ist nach wie vor aktuell. Es wird im Metallbereich 1986 auf der Tagesordnung stehen. Wir sind der Meinung, daß diejenigen Gewerkschaften,
die sich prioritätsmäßig für die Vorruhestandsregelung entschieden haben, nicht bis 1988 zusehen können, daß die Arbeitslosigkeit weiter steigt, sondern daß auch bei diesen Gewerkschaften und in den entsprechenden Wirtschaftsbereichen das Thema Wochenarbeitszeitverkürzung im kommenden Jahr auf den Tisch muß.
Wir sind dafür, daß der Staat den Lohnausgleich durch flankierende Maßnahmen unterstützt und durch Steuersenkungen im unteren und mittleren Einkommensbereich den vollen Reallohnausgleich ermöglicht. Wir haben im letzten Jahr gesagt, daß wir für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich für untere und mittlere Einkommen sind und der Staat flankierend steuerpolitisch eingreifen sollte. Durch Steuererleichterungen im unteren und mittleren Bereich kommen wir dem Ziel des vollen Reallohnausgleiches näher.Zweitens. Wir haben ein Arbeitszeitgesetz eingebracht, durch das die Zahl der Überstunden mit dem Vorrang für Freizeitausgleich bei Überstunden drastisch reduziert wird und in dem sehr viele Freistellungstatbestände für die abhängig Beschäftigten geschaffen werden. Durch die verschiedenen arbeitsplatzwirksamen Möglichkeiten in unserem Arbeitszeitgesetz können, grob geschätzt, 700 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Lohn- und Gehaltssumme würde durch die Finanzierung dieses Gesetzes um ca. 1 bis 1,5 % steigen. Wir halten das bei der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik für durchaus verkraftbar.Dritter Bereich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit: ein ökologisches Investitionsprogramm zum ökologischen Umbau der Industrieproduktion.
Mit diesem Programm — ich kann auf Einzelheiten nicht eingehen — können ebenfalls mehrere hunderttausend Arbeitsplätze in ökologisch sinnvollen und notwendigen Bereichen geschaffen werden.Viertens. Wir werden noch — wir haben schon darüber gesprochen — einen Gesetzentwurf zur Förderung von lokalen Beschäftigungsinitiativen im Bundestag einbringen, durch den gerade Versuche von Arbeitslosen, selbstverwaltete Betriebe zu gründen, gefördert werden.Fünfter Bereich zur Bekämpfung der Folgen der Massenarbeitslosigkeit: Wir haben schon bei der Haushaltsberatung Vorschläge zur materiellen Absicherung der Erwerbslosen und zur Bekämpfung der zunehmenden Armut unterbreitet. So schlagen wir z. B. vor, daß die Unterstützung für Arbeitslose mit Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw. -hilfe auf 950 DM pro Monat angehoben wird und daß auch die Sozialhilfesätze um 100 DM pro Monat angeho-
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Stratmannben werden. Das ist ein Paket, das ca. 10 Milliarden DM kostet und durch eine völlig andere Steuerreform finanziert werden kann, als Sie sie planen, nämlich indem diejenigen, die über hohe Einkommen verfügen, tatsächlich auch zur Kasse gebeten werden statt umgekehrt.
Ich habe angedeutet, durch welches Bündel von Maßnahmen wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen. Für uns scheidet ein wachstumsorientierter Weg, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, völlig aus. Die Bundesregierung ist hier auf den Auftrag des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes festgelegt. Dieses schreibt in § 1 vier wirtschaftspolitische Ziele vor: Preisniveaustabilität, hoher Beschäftigungsstand — was das auch immer heißen möge —, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes Wirtschaftswachstum; dabei ist noch nicht geklärt, für wen oder für was angemessen.
Diesen gesetzlichen Auftrag einer wachstumsfixierten Wirtschaftspolitik verfolgt nicht nur die Bundesregierung, sondern — das muß ich sagen — auch die SPD-Fraktion, selbst mit ihrem Programm „Arbeit und Umwelt". Auch Ihr Programm „Qualitatives Wachstum" ist ein wachstumsfixiertes Modell. Sie können sich auch vor den verheerenden Folgen einer qualitativen Wachtumspolitik nicht davonstehlen. Wachstumspolitik heißt Zerstörung von Umwelt und Lebensbedingungen. Qualitative Wachstumspolitik ist im Effekt eine qualitative Zerstörung. Es ist nicht der Ausstieg aus einer zerstörungsorientierten Wirtschaftspolitik.
— Warten Sie mal ab! Ich habe noch ein paar Minuten, in denen ich darstellen kann, wie wir das meinen.Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz schreibt der Bundesregierung für den Jahresbericht vor, eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung für ihre Jahresprojektion vorzulegen. Solche volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen sind im Jahreswirtschaftsbericht, im Sachverständigengutachten und in den Arbeiten der fünf Wirtschaftsforschungsinstitute nicht einmal ansatzweise vorhanden. Wir erfahren mit keinem Wort etwas darüber, welche gesamtwirtschaftlichen Kosten das Wachs-turn der Chemieindustrie verursacht.Wir wollen Auskunft darüber haben, wieviel Umweltzerstörung ein Prozent Wachstum der gesamten Volkswirtschaft, insbesondere der Chemieproduktion, verursacht.
Wir wollen Auskunft darüber haben, wieviel Armut durch die wachstumsfixierte Politik der Bundesregierung produziert wird. Dazu sind gesamtwirtschaftliche Berechnungen notwendig. Dazu sind entsprechende Berechnungsinstrumentarien notwendig.Damit ein solcher Weg überhaupt beschritten werden kann, überlegen wir uns in unserer Fraktion, den ganzen Zielkatalog aus dem Stabilitätsund Wachstumsgesetz herauszunehmen und durch einen anderen zu ersetzen: Erstens muß das Wachstumsziel aus dem Gesetzesauftrag gestrichen werden. Zweitens müssen wir neu und überhaupt erst einmal definieren, was ökologisches und soziales Gleichgewicht heißt. Die Wirtschaftspolitik muß auf die Erreichung von ökologischem und sozialem Gleichgewicht hin orientiert werden. Dazu ist es notwendig, daß der Sachverständigenrat und andere Wirtschaftsforschungsinstitute den Auftrag erhalten, entsprechende volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen vorzulegen.Ich will dafür ein Beispiel nennen, das unsere Verkehrsexperten hier im Bundestag schon vorgetragen haben. Die gesamtwirtschaftlichen Kosten des Automobilverkehrs, die nicht durch Kfz-Steuer, Mineralölsteuer und Kfz-Versicherung abgedeckt werden, betragen schätzungsweise 65 Milliarden DM, die von der Gesellschaft übernommen werden.Wir teilen die Auffassung der Bundesregierung, daß ökologische Politik heißt, streng nach dem Verursacherprinzip vorzugehen. Das heißt in diesem Fall: Der Autofahrer, auch wir selber, müssen für die Folgen zahlen, die wir mit unserem Pkw-Einsatz, mit unserer Autofahrt verursachen.
Wenn wir konsequenterweise die 65 Milliarden DM an gesellschaftlichen Kosten auf die Mineralölsteuer umlegen, würde das bedeuten, daß diese, die heute 51 Pf je Liter beträgt, um 1,05 DM erhöht werden müßte. Wir GRÜNEN im Bundestag werden demnächst einen Stufenplan einbringen, der ausweist, wie die Mineralölsteuer im Laufe von sechs Jahren stufenweise um 1 DM erhöht werden kann. Dies verlangt die strikte Anwendung des Verursacherprinzips.Der erste Schritt wird darin bestehen, die Mineralölsteuer um 45 Pfennig anzuheben und gleichzeitig das Geld, das dadurch aufkommt, voll für den sofortigen Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs, insbesondere der Deutschen Bundesbahn, einzusetzen,
so daß derjenige, der betroffen ist, weil er auf das Auto angewiesen ist, gleichzeitig eine Umsteigemöglichkeit bekommt.
Bei diesen einschneidenden Maßnahmen ist es für uns selbstverständlich — —
Herr Abgeordneter Stratmann, nehmen Sie noch die acht Minuten?
Ja, aber ich komme dann gleich zu Ende. — Wir wissen, daß es Bevölkerungsgruppen mit geringem Einkommen gibt, die auf das Auto angewiesen sind. Wir werden uns bei unseren Mineralölsteuererhöhungsvorschlägen selbstver-
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Stratmannständlich um soziale Ausgleichsmaßnahmen für diese Bevölkerungsgruppen bemühen.
Wir GRÜNEN haben für unsere Arbeit im Bundestag als ökologisches, wirtschaftspolitisches und umweltpolitisches Schwerpunktprogramm für 1985 beschlossen, ein Entgiftungsprogramm für die chemische Industrie in das Zentrum aller unserer Aktivitäten zu stellen.
Mit diesem Entgiftungsprogramm werden wir versuchen — wir werden viele einzelne Vorschläge dazu vorlegen, wir werden Initiativen ergreifen —, die Politik des Verschiebebahnhofs bei der Schadstoffbelastung, die in der chemischen Industrie heute praktiziert wird zu beenden. Das heißt: Wir wollen nicht mehr, daß Schadstoffbelastungen, die normalerweise in die Abluft abgehen, dann, wenn das durch die TA Luft verhindert wird, in das Wasser abgehen oder dann, wenn das in Zukunft verhindert werden soll, in den Abfall abgehen, oder wenn das verhindert werden soll, in Produkte eingelagert werden, so daß wir hochgiftige Produkte bekommen. Wir wollen die Schadstoffventile und Ausweichmöglichkeiten der chemischen Industrie verstopfen, so daß sie gezwungen sein wird, sich auf Konversion, sich auf Umstellung ihrer Produktion auf umweltverträgliche Produktion zu besinnen.Wir wissen, daß dies nur durch ganz harte Eingriffe in die Machtstrukturen der chemischen Industrie möglich sein wird, daß dies nur gegen das Interesse des Chemiekapitals — Bayer, Hoechst, BASF — durchsetzbar ist.
Wir wissen, daß das ebenfalls gegen die großenteils bornierte Politik der IG Chemie durchgesetzt werden muß.
Wir knüpfen aber bewußt an den Widerstand von Bürgerinitiativen und auch von alternativen Fertigungsgruppen in der chemischen Industrie an, mit denen zusammen wir dieses Entgiftungsprogramm durch parlamentarische Initiativen auf den Weg bringen wollen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Haussmann.
Frau Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für die Aufmunterung durch den großen Koalitionspartner. — In meinem kurzen Beitrag soll von der viel zu hohen Arbeitslosigkeit in der BundesrepublikDeutschland, von den wahren Verantwortlichen für diese Arbeitslosigkeit
und von der realen Chance die Rede sein, daß aus mehr Wachstum, weniger staatlichem Defizit und vorbildlicher Stabilitätspolitik endlich auch mehr Arbeitsplätze werden. Denn nur dann verdient diese Wirtschaftsordnung das Prädikat „sozial",
wenn es uns nach all den Sparopfern,
die wir den Bürgern abverlangt haben, gelingt, auch die Zahl der Arbeitslosen herabzudrücken, Frau Fuchs. Da sind wir einer Meinung, nur, wir schlagen verschiedene Wege vor.
Die zu hohe Arbeitslosigkeit, verehrte Kollegen, darf den Blick trotzdem nicht dafür verstellen — daß Herr Roth dazu etwas sagt, hätte ich schon erwartet —, daß der neue liberale Wirtschaftsminister in seinem Jahreswirtschaftsbericht hervorragende Daten aufzuweisen hat.
Sachverständigenrat, OECD, Internationaler Währungsfonds geben beste Noten, immerhin internationale Gremien, die man seitens der Opposition zumindest zur Kenntnis nehmen sollte. Das Wachstum wurde gegenüber 1983 verdoppelt, die Stabilitätsrate ist so niedrig wie seit 15 Jahren nicht mehr.
Blüm hat recht, wenn er sagt, daß dies eine wirkliche Stabilitätspolitik ist, Herr Stratmann. Und es gibt wieder mehr Neuinvestitionen
bei Spitzentechnologien. Dies ist seit vielen, langen Jahren das beste — weil solideste — Fundament, von dem aus wir zu einem lang anhaltenden Aufschwung starten können, der in mehr Beschäftigung münden muß.Trotzdem: 2,6 Millionen Arbeitslose sind eine bedrückende Ausgangslage. Daher müssen wir die Kräfte ausschließlich auf die Beseitigung der Arbeitslosigkeit konzentrieren. Wir müssen an die Wurzeln der Arbeitslosigkeit herangehen. Wir dürfen, verehrte Kollegen, unser schlechtes Gewissen über die Arbeitslosigkeit nicht dadurch besänftigen, daß wir in immer mehr staatlichen Aktionismus münden. Was ich heute morgen wieder gehört habe von neuen Strukturkonzepten, von Sonderprogrammen, von weiteren staatlichen Eingriffen, läßt Schlimmes ahnen. Die bevorstehenden Landtags-
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Dr. Haussmannwahlkämpfe müssen dazu dienen, daß die Wähler wissen,
welche Arbeitslosenzahlen sich aus den schieren Vorstellungen der GRÜNEN ergeben. Herr Stratmann, Sie waren ja heute noch friedlich. Vielleicht hängt das mit Ihrem bevorstehenden Ausscheiden zusammen. Aber wenn ich mir überlege, was allein die Idee der Nationalisierung unserer Volkswirtschaft an Arbeitsplatzverlusten zur Folge hätte — —
— Die Autarkie der deutschen Volkswirtschaft, das Herabdrängen der Exporterfolge —
das hat in der letzten Wirtschaftsdebatte eine große Rolle gespielt. Umwandlung großer Autofirmen in Fahrradfabriken — offizielles Programm der GRÜNEN in Köln.
All dies führt zu Massenarbeitslosigkeit.
Das muß in den künftigen Wahlkämpfen eine ganz entscheidende Rolle spielen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Nein, vielen Dank, ich halte mich an meine knappe Redezeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung hält es nicht für sinnvoll, die stille Reserve zur Grundlage arbeitsmarktpolitischer Entscheidungen zu machen. Für die Arbeitsmarktpolitik ist die Zahl der registrierten Arbeitslosen maßgebend. Es ist davon auszugehen, daß jene Nichterwerbstätigen, die an einer Arbeitsaufnahme ernsthaft interessiert sind, sich dem Arbeitsamt melden.
Wir wollen bei dieser Statistik bleiben. Wir können die Sozialdemokraten nur davor warnen, aus diesem saisonalen Ausrutscher im Januar eine Katastrophenstimmung zu machen.
Ich halte es auch nicht für in Ordnung, wenn die der Sozialdemokratie angehörende Vizepräsidentin der Bundesanstalt für Arbeit auf Grund dieser saisonalen Arbeitslosenzahl bereits die gesamte Jahresprojektion der Bundesregierung in Frage stellt. Das ist nicht in Ordnung, meine Damen und Herren.
— Nein.Wer an die Wurzeln der Arbeitslosigkeit vordringen will, muß drei Fragen sehr klar beantworten. Erstens. Die wahren Wurzeln der Arbeitslosigkeit liegen in der ständigen Überforderung unseres Wirtschaftssystems, in dem Mangel an Beweglichkeit von uns selbst, von Staat und Parlament, in dem Mangel an Beweglichkeit von Gewerkschaften und Unternehmen, auf strukturelle Arbeitslosigkeit zu reagieren.Zweitens. Die staatliche Politik hat inzwischen die wichtigsten Voraussetzungen für mehr Beschäftigung geschaffen: Verdoppelung des Wachstums, niedrige Inflationsrate, große Fortschritte in der Entschuldung. Wir liegen, was die Entschuldung angeht, weit vor unseren Konkurrenten Japan, USA und Frankreich. Wir haben inzwischen einen Rekordüberschuß in der Handelsbilanz. Dies alles — das verdient hier festgehalten zu werden — sind unbestreitbare Erfolge dieser neuen Koalition von Christdemokraten und Liberalen.
Sie sind, Herr Matthöfer, die Vorboten von mehr Beschäftigung, wenn nun auch die Tarifpartner ihre beschäftigungspolitische Pflicht einlösen. Davon will ich nun reden.Bevor ich dazu komme, sollte man sich das Recht herausnehmen zu untersuchen, ob die Regierung und das Parlament alle Voraussetzungen geschaffen haben, die zu mehr Beschäftigung führen. Ich glaube, es gibt auch Defizite der Regierungspolitik auf dem Pfad zu mehr Beschäftigung:Erstens. Der Subventionsabbau kommt nicht voran.Zweitens. Die notwendige Klarheit und zeitliche Präzisierung der steuerlichen und anderen Rahmenbedingungen im kränkelnden Baubereich fehlen nach wie vor. Es ist hoch an der Zeit, daß die Kommunen, aber auch wir im Deutschen Bundestag, endlich sagen, wann es zu den Steuervergünstigungen für eigengenutzten Wohnungsbau kommen wird. Wir sind dies den Beschäftigten in der Bauindustrie schuldig.
Drittens. Die längerfristigen Perspektiven einer stärker innovations-, mittelstands- und damit letzt-
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Dr. Haussmannlich auch beschäftigungsfreundlichen Steuerpolitik sind unklar — zumindest beim größeren Koalitionspartner. Die vielangekündigte Privatisierung, Deregulierung und Entbürokratisierung geht zu langsam voran.Dies sind eindeutige Defizite unserer Regierung und des Parlaments auf dem Weg zu mehr Beschäftigung.Trotzdem halte ich fest: Die entscheidenden Voraussetzungen in der Stabilitäts- und in der Haushaltspolitik für mehr Beschäftigung hat der Staat getroffen. Weil dies so ist, wird doch eine Frage immer dringlicher: Leisten auch die anderen Hauptverantwortlichen für mehr Beschäftigung ihren Beitrag? Denn klar ist: in einem offenen Wirtschaftssystem mit Tarifautonomie tragen Gewerkschaften und Unternehmen entscheidende Mitverantwortung für den Beschäftigungsstand.
Meine verehrten Kollegen von der Regierungskoalition, wir müssen in der Diskussion über Arbeitslosigkeit endlich raus aus der Defensive und die weiteren Hauptverantwortlichen für die Arbeitslosigkeit in die Pflicht nehmen.
Die USA, Japan und die Schweiz zeigen es doch. Trotz zum großen Teil schlechterer allgemeiner, staatlicher, ökonomischer Bedingungen, Stabilität, Haushalt, gibt es in allen diesen Ländern mehr Beschäftigung, weil die Tarifpartner mehr Verantwortung für die Beschäftigung übernommen haben.
— Hier, verehrter Herr Ehrenberg, verehrter Kollege aus früheren Koalitionen, geht es um vier Punkte: Erstens. Generell bestimmen in einer vom Ausland abhängigen Wettbewerbswirtschaft die Lohnhöhe und, in Deutschland insbesondere, die Lohnnebenkosten immer stärker die Höhe der Beschäftigung.
Niemand in der Bundesrepublik kann doch wegdiskutieren, daß die Zunahme der Schwarzarbeit zeigt, daß die Nachfrage nach Arbeit und die Preise für Arbeit nicht mehr stimmen — eines der größten Probleme.
Zweitens. Wir müssen aus der Diskussion über Lebensarbeitszeitverkürzung lernen: Produktivitätszuwächse dürfen nicht nur in mehr Konsum und Freizeit verteilt werden, sondern Produktivitätszuwächse müssen verstärkt in neue, rentable Arbeitsplätze investiert werden.Drittens. Dazu hat Herr Bangemann schon das Nötige gesagt. Lohnnivellierung ist eine Strategie aus Zeiten der Überbeschäftigung, Lohndifferenzierung nach Branchen, Regionen, Qualifikationen aber ist in einer Phase der Unterbeschäftigung dringend geboten. Nur eine solche Differenzierung eröffnet schwächeren Branchen, strukturschwachen Regionen und Minderqualifizierten zusätzliche Beschäftigungschancen. Dies ist keine soziale Demontage, meine verehrten Kollegen.
Umgekehrt: Nur wer auf dem jetzigen Stand der Nivellierung verharrt, schließt schwächere Branchen, schwache Regionen und Minderqualifizierte dauerhaft von Arbeit aus.
— Ich glaube das und kann das auch beweisen, Frau Fuchs. Was mich vorhin bei Ihnen besonders gestört hat, ist, daß Sie sich darüber ausgelassen haben, daß es sich bei den 27 Millionen neuen Arbeitsplätzen in den USA nur um solche mit geringen Löhnen und geringem sozialen Ansehen handele. Das glauben Sie doch selber nicht.
— Herr Ehrenberg, Frau Fuchs, machen Sie doch weniger in Staat, und lassen Sie doch den Unternehmern den Spielraum, dort Arbeitsplätze zu schaffen, wo Nachfrage ist.
Herr Roth hat es ja angedeutet; er war nur nicht so frei, hier die Konsequenz zu ziehen. Natürlich haben wir in der Bundesrepublik ein Defizit an Arbeitsplätzen bei privaten Dienstleistungen. Das resultiert einfach daraus, daß dort die Möglichkeiten zur Rationalisierung gering sind, da dort die hohen Lohn- und Lohnnebenkosten voll durchschlagen
und weil dort die Nachfrage nach Arbeit nur zu Schwarzarbeit und nicht zu offiziellen Arbeitsplätzen führt.Viertens. Kleine und mittlere Betriebe zeigen mehr Verantwortung für die Beschäftigung als viele Großbetriebe.
Ich will die Dinge hier ruhig beim Namen nennen. Es gäbe keine Lehrstellennot, wenn sich einzelne Großbetriebe genauso verhalten würden wie einzelne Handwerksbetriebe, meine Damen und Herren.
Es ist auch langsam an der Zeit, daß Vertreter der Regierungskoalition Großbetriebe darauf hinweisen, daß sie sich in einer Zeit der Unterbeschäftigung nicht wie Bankinstitute zu verhalten haben, sondern daß sie nun einen Teil ihrer gewaltigen Festgelder in neue, in zusätzliche Arbeitsplätze investieren müssen. Dies ist in einer Notsituation in der Beschäftigungspolitik eine Bringschuld vieler Großbetriebe.
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Dr. HaussmannEs geht jetzt auch darum, daß Rationalisierungsinvestitionen endlich in erste Arbeitsplatzerweiterungsinvestitionen einmünden müssen. Nicht zuletzt jedoch gilt — darauf hat Herr Blüm zu Recht hingewiesen —: Statt andauernd Überstunden zu leisten, müssen zusätzliche Arbeitsplätze — wenn vielleicht zunächst auch befristet — eingerichtet werden.Ich kann nur hoffen, daß das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz durch deutliche Verbesserungen in der parlamentarischen Beratung am Schluß auch seinen Namen verdient, denn Besitzstandsdenken, mangelnde Flexibilität und Im mobilität werden immer stärker zur Beschäftigungsbremse.Ich will abschließen mit einem Wort zum Wirtschaftsminister. Martin Bangemann hat in dem ersten halben Jahr seiner Arbeit deutliche Zeichen gesetzt. Es gibt wieder mehr Optimismus,
Zuversicht und Zukunftsvertrauen im Mittelstand, meine Damen und Herren. Der Mittelstand spürt, daß hier ein liberaler Wirtschaftsminister Verständnis für seine Sorgen hat.
Die große europapolitische Erfahrung dieses Ministers ist in der jetzt schwierigen Phase für die Regierung von großem Nutzen. Die Wirtschaftsgespräche in Tokio und Washington haben gezeigt, daß die liberale handelspolitische Tradition von Graf Lambsdorff in besten Händen ist. Der neue Wirtschaftsminister hat die große Unterstützung seiner Fraktion.
Soziale Marktwirtschaft verdient dann ihren Namen, wenn wir jetzt auch noch die Wende am Arbeitsmarkt schaffen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehrenberg.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon beeindruckend, wie wenig beeindruckt von 2,6 Millionen Arbeitslosen der Bundeswirtschaftsminister und die Sprecher der Regierungsparteien das vom Jahreswirtschaftsbericht vorgegebene Selbstlob dieser Politik hier ausbreiten und so tun, als sei alles andere vom Himmel gefallen. Nicht nur die Bauindustrie, auch das Baugewerbe — bitte nachlesen in der „Westfälischen Rundschau", Herr Bangemann — hat eindeutig erklärt: Nicht der Frost ist schuld an den hohen Arbeitslosenzahlen, sondern Auftragsmangel. Sie — zumindest der Kollege Blüm weiß es — wissen: Gegen Witterungseinflüsse gibt es in der Bauwirtschaft die bewährte Schlechtwettergeldregelung. Die Unternehmer schicken die Jungs vom Bau nur dann in die Arbeitslosigkeit, wenn keine Aufträge vorhanden sind, sonst schicken sie sie in „Schlechtwetter".
Diese bereits vor langen Jahren geschaffene Regelung hat immer noch Bestand, nur: Ohne Aufträge kann niemand die Schlechtwettergeldregelung in Anspruch nehmen.Der Bundeswirtschaftsminister, der auf das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verpflichtet ist, muß schon sehr viel Akrobatik oder Zynismus besitzen, wenn er bei 2,6 Millionen Arbeitslosen hohen Beschäftigungsstand deklariert und nicht bereit ist, in seinem Jahreswirtschaftsbericht irgend etwas Konkretes zum Abbau dieser hohen Arbeitslosigkeit vorzuschlagen.
Die zuständigen Minister tun nichts, und Herr Stoltenberg läßt sich als Konsolidierungsheld feiern. Leerkonsolidierte Rentenkassen und hohe Arbeitslosenzahlen interessieren ihn auch nicht.
Herr Bundesfinanzminister, durch Ihre restriktive Finanzpolitik sind nach den Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung rund 600 000 Arbeitsplätze vernichtet worden. Diese Folgen wären noch höher, wenn nicht die Rentenversicherung — weil sie aus unserer Regierungszeit 22 Milliarden DM Reserven übernommen hatte — in der Lage gewesen wäre, davon 10 Milliarden DM abzubauen. Nur, das ist vorbei. Diese Nachfragestütze gibt es 1985 nicht mehr. Die Rentenversicherung ist am Nullpunkt der gesetzlichen Mindestrücklage angelangt, wo sie vorher nie war.
Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Sie haben 22 Milliarden DM Reserven von uns übernommen, heute haben Sie keine 10 Milliarden mehr.
Lesen Sie es doch beim Verband der Rentenversicherungsträger nach, wenn Sie es nicht glauben!Meine Damen und Herren, was bietet der Jahreswirtschaftsbericht für die Beschäftigung? „Mehr Wachstumsdynamik" heißt es dort und „wachstumsorientierte Steuerpolitik". Sie haben da ja schon einiges getan. Mit dem Dringlichkeitsprogramm vom Herbst 1982 und dem Steuerentlastungsgesetz 1984 wurden jährlich 6,5 Milliarden DM an Entlastungen der Unternehmenssteuern verfügt; 6,5 Milliarden DM jährlich, aber die Investitionen sind 1984 gegenüber 1983 im Anstieg zurückgeblieben. Das einzige, was diese Steuerentlastungen hervorgebracht haben, ist ein permanenter Anstieg der Kapitalströme ins Ausland, weil die Unternehmer hier nicht investieren wollen.
Das müssen Sie doch einmal zur Kenntnis nehmen.
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8860 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Dr. EhrenbergHerr Hauser, schauen Sie bitte die Bankenstatistik an, wann es mit dem Kapitalabfluß ins Ausland begann! Im dritten Quartal 1982 hatten wir noch einen Überschuß. Im vierten Quartal 1982 waren es minus 6,7 Milliarden DM. Ich möchte die Regierungsfraktionen, und den Bundeswirtschaftsminister doch sehr bitten, sich einmal die Kapitalbilanz anzusehen und dann darüber zu philosophieren — wenn es sein muß —, was Steuerentlastungen bei den hohen Einkommen wirklich bringen. Es gab 1981 in der Kapitalbilanz ein stolzes Plus von 9,2 Milliarden DM, 1982 ein Minus von 4,4 Milliarden DM, 1983 ein Minus von 16,2 Milliarden DM und 1984 den bisher unerreichten Rekord eines Kapitalabflusses von 29,1 Milliarden DM. Ein „Vertrauensbeweis" für diese Regierung, wenn 29 Milliarden DM die Bundesrepublik verlassen!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kittelmann?
Ohne Anrechnung auf die Redezeit?
Ja, das machen wir generell, da braucht keiner mehr zu fragen. — Bitte.
Herr Abgeordneter Ehrenberg, nachdem nun über Herrn Roth in den letzten Wochen immer gesagt worden ist, seitdem die CDU an der Regierung sei, würde man ausschließlich Unternehmerpolitik machen: Spricht nicht gerade Ihre These, die Sie eben vertreten, dafür, daß die Unternehmer gerade umgekehrt reagieren, als sie es immer behaupten?
Aber nein, die Unternehmer reagieren nicht auf die Regierung,
sondern auf die Verhältnisse.
Wenn Sie die Steuern für die Unternehmen senken und gleichzeitig mit Beitragserhöhungen und Leistungskürzungen die Einkommen der breiten Bevölkerung beschneiden: Wohin sollen die Unternehmer dann investieren, wer soll das kaufen, was produziert wird, wenn die Massenkaufkraft ständig zurückgeht?
Es bleibt den Unternehmern ja bei dieser Politik nur der Weg dorthin, wo ihre Produktion davon nicht tangiert wird.Es ist sicher auch kein Vertrauensbeweis für diese Regierung, daß man 1981 noch 44 Cent anlegen mußte, um eine gute Deutsche Mark zu kaufen; heute ist sie schon für 31 Cent zu haben. Das hat diese Regierung zustande gebracht.
Meine Damen und Herren, wenn der Bundesfinanzminister,
statt Steuererleichterungen für die Spitzeneinkommen vorzusehen, weniger rigoros die Sozialleistungen beschnitten hätte und weniger Beitragserhöhungen durch die Kürzungen der Bundeszahlungen nötig gewesen wären, dann hätten wir jenes Stück mehr Massenkaufkraft, das wir brauchen, um zu einem beschäftigungswirksamen Aufschwung zu kommen.Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie sind es schuldig geblieben, dem Hause zu erklären, woher Ihr Optimismus kommt, daß 2,5 % Wachstum zu mehr Beschäftigung führen werde. In Ihrem eigenen Bericht steht: 1984 haben wir ein Wirtschaftswachstum von 2,6 % gehabt und eine rückläufige Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer um 90 000. Wenn 1984 2,6 % Wachstum einen Beschäftigungsrückgang von 90 000 gebracht haben, dann bleibt es Ihr Geheimnis, warum 1985 2,5 % Wachstum plötzlich einen Anstieg der Beschäftigung bringen soll. Das müßten Sie dem Hause wirklich noch erklären.
— Schauen Sie sich die Beschäftigtenstatistik mit den Kurzarbeitern im Januar an! Ihnen müßte, wenn Sie ehrlich sind, wegen dieses Anstiegs der Zahl der Kurzarbeiter übel werden. Sie sollten nicht davon reden, daß Sie sie weggebracht haben.Aber das Neue: Trotz dieser traurigen Erfahrungen mit Steuererleichterungen für hohe Einkommen und Kapitalströmen ins Ausland enthält auch die neue Vorlage der Bundesregierung weitgehend eine Entlastung der hohen und nicht der niedrigen Einkommen. Auch da lohnt es sich, Herr Bangemann, einmal Berechnungen des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung anzusehen. Sie haben meinen Zwischenruf bestritten; ich empfehle Ihnen die Lektüre der Nr. 39 aus dem Jahre 1984 des DIW-Wochenberichts. Dort wird exakt nachgewiesen, daß mehr als zwei Drittel der geplanten Steuersenkungen im Volumen ausschließlich den Einkommen über 75 000 DM im Jahr zugute kommen, daß also die Massenkaufkraft durch diese Steuersenkung wieder keine Stütze erhält.Dagegen hat die SPD-Fraktion einen Entwurf vorgelegt, der darauf abstellt, Steuerentlastungen dort vorzunehmen, wo die Kaufkraft niedrig ist; denn nur von daher ist wirtschaftspolitisch und verteilungspolitisch eine Steuerentlastung gleich sinnvoll; sonst können Sie sich das schenken.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8861
Dr. EhrenbergMeine Damen und Herren, anstatt konkrete Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit vorzuschlagen, beschränkt sich die Bundesregierung auf das, was sie wachstumsorientierte Steuerpolitik nennt, was, wie die Kapitalbilanz belegt, Jahr für Jahr zu größeren Kapitalabflüssen, aber nicht zu Investitionen hier führt,
und auf Appelle. Der Appell an die Kommunen ist da schon sehr merkwürdig, denn auch der Bundeswirtschaftsminister sollte wissen, daß dort, wo bei dem durchschnittlichen Konsolidierungsstand die kommunalen Finanzen wieder glänzend sind, wie beispielsweise in Baden-Württemberg, auch längst die meisten Investitionen, die die Kommunen vernünftigerweise machen, getan sind, daß aber dort, wo seit drei bis vier Jahren alle Investitionen wegen der Belastungen mit der Sozialhilfe aus der steigenden Arbeitslosigkeit zurückgestellt worden sind, vor allen Dingen in Niedersachsen, das, verehrter Redner von der Regierungsfraktion, seit zehn Jahren von der CDU regiert wird, die kommunalen Defizite am höchsten sind. Vorhin wurde von einem von Ihnen gesagt, das sei nur in SPD-regierten Ländern so. Niedersachsen wird leider seit zehn Jahren von der CDU regiert, und die Kommunen merken es sehr stark, daß das so ist.
Dort kann durch Appelle allein nichts investiert werden. Wer es mit der Stärkung der Investitionskraft der Kommunen ernst meint, der muß für einen vernünftigen Länder- und kommunalen Finanzausgleich sorgen; sonst geht dieser Appell ins Leere.
Noch merkwürdiger ist ja wohl der Appell an die Tarifpartner — wobei j a die Gewerkschaften gemeint sind —,
verantwortungsvolle Lohnpolitik zu machen. So steht es im Jahreswirtschaftsbericht. Ich würde gerne einmal wissen, was damit gemeint ist. Weiß der Verfasser des Jahreswirtschaftsberichts, daß wir drei Jahre nacheinander rückläufige Reallöhne gehabt haben? Wissen Sie, Herr Bangemann, daß das Durchschnittsniveau der Nettorealeinkommen der Arbeitnehmer heute unter dem Stand von 1978 liegt? Und wenn Sie im Jahreswirtschaftsbericht dann fordern, auch in Zukunft mit dem Lohnzuwachs hinter dem Produktivitätsanstieg zu bleiben: Wie lange soll das fortgehen? Bis wir unter dem Niveau von 1969 liegen, oder wohin soll diese Reise gehen?
Herr Haussmann, Sie haben etwas zu den Lohnstückkosten gesagt. Ich empfehle Ihnen dringlich, das Sachverständigengutachten zu lesen.
— Ich habe es gelesen, Sie dürfen es mir glauben.
Aber Sie anscheinend nicht; denn sonst hätten Sie dort die Stelle gefunden, wo es heißt, daß die Lohnstückkosten in den USA im vergangenen Jahr um 3 % gestiegen sind bei einem Wachstum von 7 %. Die Lohnstückkosten sind in der Bundesrepublik nach dem Sachverständigengutachten, auf das Sie sonst so gerne Bezug nehmen, nur um 0,9 % gestiegen, und wir haben ein Wachstum von 2 1/2 %. Ein dreimal so hoher Anstieg der Lohnstückkosten und ein zweieinhalbfach so hohes Wachstum in den USA wie bei uns, und Sie reden davon, daß die Lohnstückkosten die entscheidende Ursache für die Beschäftigung seien. Lassen Sie doch einmal Ihre sonstigen beliebten Amerikavergleiche, und kommen Sie auf die Ebene der Realität zurück! Dann werden Sie sehen, welche Rolle die Löhne wirklich spielen.Sie spielen vor allen Dingen bei der Verminderung der Massenkaufkraft eine Rolle. Solange sich das nicht ändert, wird es keine bessere Beschäftigung geben.
Diese Bundesregierung hat den Auftrag des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes verfehlt. Wir haben die höchste Arbeitslosigkeit aller Zeiten, und die Bundesregierung ist nicht bereit, etwas dagegen zu tun, obwohl es Aufgaben in Hülle und Fülle gibt. Zwei Dinge sind wenigstens erforderlich: Beschleunigung der Umweltschutzinvestitionen, beispielsweise in einem Küstenprogramm, um endlich die Entsorgungseinrichtungen zu schaffen, die zur Erfüllung des Marpol-Übereinkommens notwendig sind.Der zweite Punkt: neben der Stärkung der kommunalen Finanzkraft eine differenzierte Besteuerung der Unternehmen für den entnommenen und den nicht entnommenen Gewinn. Nur wenn Sie ganz kräftig die entnommenen Gewinne stärker und die investierten Gewinne niedriger besteuern, werden Sie eine Umkehr dieses verhängnisvollen Trends der Bevorzugung von Finanzanlagen gegenüber den Investitionen erreichen.
Herr Bundesfinanzminister, hierüber sollten Sie nachdenken und nicht Ihre Parlamentarischen Staatssekretäre über Senkungen des Spitzensteuersatzes philosophieren lassen. Aber das ist wahrscheinlich der notwendige Wettstreit mit der FDP, damit die mit der Neidsteuer diese Klientel nicht alleine für sich gewinnen kann.
Meine Damen und Herren, Bundeswirtschaftsminister und Bundesarbeitsminister sind noch mehr als die anderen Kabinettsmitglieder auf das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verpflichtet. Sie haben konkret keine Bereitschaft gezeigt, etwas gegen die steigende Arbeitslosigkeit zu tun. Ich schlage vor, der Herr Bundeskanzler gibt diesen beiden Herren eine neue Amtsbezeichnung, nämlich Bundesminister für die Verwaltung von hoher Arbeitslosigkeit.
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8862 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Dr. Ehrenberg Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, es ist der Sinn parlamentarischer Debatten, daß Argumente ausgetauscht werden. Deshalb bin ich ganz dankbar, daß mein verehrter Vorgänger mir die Gelegenheit zum Argumentenaustausch gibt.
Verehrter Kollege Ehrenberg, erklären Sie mir doch einmal das Geheimrezept Ihrer Partei: Sie sagen, wir hätten in der Sozialversicherung zwar weniger sparen, aber mehr Rücklagen erwirtschaften sollen. Nach diesem Spargeheimnis forsche ich schon lange: Du sollst weniger Geld auf die Sparkasse tragen und als Ergebnis ein höheres Konto haben.
— Auch darüber können wir reden. Obwohl wir die Bemessungsgrundlage gesenkt haben, haben wir noch 60 Milliarden DM mehr in die Kassen der Rentenversicherungen befördert, als wenn Sie weitergemacht hätten.
Wie kommen Sie, die Sie die Rücklagen von neun Monatsausgaben auf zwei Monatsausgaben heruntergewirtschaftet haben, dazu, mir hier Vorwürfe zu machen?
Herr Kollege Ehrenberg, Sie haben 1981 den Bundeszuschuß um 3,5 Milliarden DM gekürzt. Sie haben mir 1982 den Vorschlag für eine Kürzung des Bundeszuschusses um 1,3 Milliarden DM hinterlassen. Wir haben heute nacht in den Koalitionsfraktionen beschlossen, den Bundeszuschuß aufzustokken. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Sie haben das mit minus gemacht, und wir machen das mit plus.
Wir lassen die Rentenversicherung nicht im Stich, wenn sie Aufgaben im Allgemeininteresse übernimmt. Sie hat die Aufgabe der Rückkehrförderung übernommen. Sie läßt unsere ausländischen Kollegen nicht mit leeren Händen in die Heimat gehen. Das ist zum einen im Interesse der ausländischen Mitbürger, es ist zum anderen — das will ich zugeben — auch eine Entlastung unseres Arbeitsmarkts. Nicht 50 000, wie wir geschätzt und Sie bezweifelt hatten, haben diese Rückkehrförderung in Anspruch genommen, sondern 156 000 haben sich die Antwartschaften auszahlen lassen. Wir helfen der Rentenversicherung, diese Leistung, die sie stellvertretend erbringt zu finanzieren. Das ist der Unterschied.
Wenn Sie Lust haben, reden wir noch von anderen Unterschieden. Die Sozialdemokraten haben mir eine Bundesanstalt für Arbeit mit einem Defizit von 13 Milliarden DM hinterlassen. Im letzten Jahr hatten wir wieder einen Überschuß von 3,4 Milliarden DM.
— Wenn Sie Lust haben, mache ich noch weiter. Als ich mein Amt übernommen habe, gab es 265 000 Teilnehmer an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung. Wissen Sie, wieviel es im letzten Jahr waren? Es waren 353 000. Wie kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, wir täten nichts, wenn wir bei der beruflichen Bildung fast ein Drittel mehr tun, wenn wir die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fast verdreifacht haben? Wie kommen Sie dazu, zu sagen, wir täten nichts, obwohl Sie viel weniger gemacht haben?
Meine Damen und Herren, ich nehme nur die Stichworte auf, die Herr Ehrenberg genannt hat. Kurzarbeit: Betrachten Sie die Zahlen! Ich habe die Zahlen hier. Die Zahl der Kurzarbeiter betrug 1982, in Ihrem letzten Jahr, durchschnittlich 606 000. 1984, also im letzten Jahr, lag der Jahresdurchschnitt bei 384 000.
Was ist weniger?
Da reicht die einfache Grundrechenart; da braucht man keinen Computer.
— Sie werden es bestätigen, Herr Stratmann. Bitte schön.
Herr Stratmann, bitte, zu einer Zwischenfrage.
Herr Blüm, daß die Minister Ihrer Regierung das Einmaleins beherrschen, wie schon bei Herrn Bangemann festgestellt, Sie jetzt auch noch die vier Grundrechenarten, das finde ich toll.
Wenn Sie eine Leistungsbilanz aufmachen, auch der Bundesanstalt für Arbeit, wie erklären Sie sich dann, daß in den letzten Jahren die Zahl der Sozialhilfeempfänger deutlich angestiegen ist, daß für 1984 die Zahl der Sozialhilfeempfänger auf 2,5 bis 3 Millionen geschätzt wird, und zwar deshalb, weil sie durch die Kürzungen, die Sie mit zu verantworten haben, aus der Arbeitslosenhilfe oder dem Arbeitslosengeld herausfallen?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8863
Ich bin ausgesprochen dankbar, daß Sie mir alle diese Stichworte geben. Ich brauche gar keine vorbereitete Rede mehr. Sie schießen alle Bälle vors Tor; ich brauche nur noch das Bein hinzuhalten.
Wir sind die erste Regierung, die die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose verlängert hat.
Wir sind diejenigen, die die arbeitslosen Jugendlichen wieder ins Kindergeld gebracht haben. Wir sind diejenigen, die die Kürzung für die arbeitslosen Jugendlichen zurückgenommen und sie in die Krankenversicherung zurückgeführt haben. Die Wunden, die Sie geschlagen haben, heilen wir. Das stimmt. Ich bin Ihnen für die Frage dankbar.
— Sozialhilfeempfänger? Der nächste Ball: 1970 betrug der Zuwachs der Sozialhilfe 20,4 %, 1974 26,2 %, 1983 7,6 %. Noch einen Ball, kann ich da nur fragen. Habt Ihr noch einen Ball?
Ich bestreite doch nicht, daß es auch materiellen Mangel gibt. Aber — das will ich jetzt gar nicht parteipolitisch ausbeuten; es ist doch unsere gemeinsame Leistung, daß wir einen Sozialstaat aufgebaut haben, auf den wir gemeinsam stolz sein können — Massenelend gibt es Gott sei Dank in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Dazu haben auch Sie beigetragen. Ich will das gar nicht parteiegoistisch hier ausbeuten. Aber wir haben einen Sozialstaat,
der wirklich nicht den Vorwurf verdient, er löse Massenelend aus. Da muß man sich mal Elend auf der Welt ansehen. Es ist geradezu zynisch, bei uns von Elend zu sprechen
angesichts von Hunger, Not, verhungernden Menschen auf der Welt. Dagegen wollen wir gemeinsam ankämpfen.
Ich meine, die Arbeitslosen, die uns zuhören, wollen nicht Zahlenaustausch haben — ich weiche dem allerdings nicht aus —; die wollen wissen, was man tun kann, was wir machen. Und da sage ich: Es gibt kein Patentrezept, und wer euch Patentrezepte vormacht, der gaukelt euch etwas vor. Die Politik der Patentrezepte ist die Politik der Seifenblasen. Das habt ihr 13 Jahre gehabt.
Wir machen eine Politik Schritt für Schritt.
— Wenn ein Wagen einen Abhang runterrast, können Sie den nicht in der Spitzkehre bremsen, dazu brauchen Sie eine lange Kurve. Sie haben die Arbeitslosigkeit in den 13 Jahren um 1700% gesteigert.
Wer glaubt, über Nacht könnten wir das beseitigen, traut uns mehr zu, als ein Wunderheiler könnte.
— Nein. Ich habe früher und heute gesagt, daß wir das Schritt für Schritt zurückdrängen.
— Die saisonbereinigte Zahl der Arbeitslosen ist 1984 zum erstenmal nach vielen Jahren zurückgegangen. Das halte ich für einen Fortschritt. Ich halte es auch für einen Fortschritt, daß die Kurzarbeiterzahl zurückgegangen ist. Denn der Rückgang der Kurzarbeit war immer das Signal und der erste Schritt zu einer Wiedereinstellung. — Bitte schön.
Zu einer Zwischenfrage hat das Wort der Abgeordnete Urbaniak.
Herr Kollege Blüm, können Sie mir nach Ihrem Redefluß bestätigen, daß wir jetzt die höchste Arbeitslosenquote nach dem Krieg haben und Sie dazu mit Ihrer Politik beigetragen haben?
Ich gehe doch gar nicht über diese hohe Arbeitslosigkeit sozusagen nichtredend hinweg. Aber richtig ist, daß wir im Januar einen Winter hatten
wie nie in den letzten Jahren, sondern zum letztenmal 1963, und im Winter 1963 ist die Arbeitslosenzahl um 75 % in die Höhe geschnellt. Wir sind unter diesem Anstieg geblieben. Trotzdem, Herr Kollege Urbaniak, bleiben wir dabei: Dies bereitet uns Sorge. Dies ist der Grund, daß wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, daß wir beispielsweise das Beschäftigungsförderungsgesetz am besten morgen verwirklichen müssen und daß das, was wir vorhaben, nicht auf die lange Bank geschoben werden darf.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Urbaniak?
Nein. Ich möchte jetzt vielleicht doch im Zusammenhang meine Vorschläge vortragen, sonst komme ich nämlich gar nicht zu dem vielen, was wir machen müssen. Wenn ich alles vortrage, was wir machen, brauche ich zwei Stunden Redezeit, Frau Präsidentin. Deshalb will ich es im Bündel tun.Wir brauchen erst mal Wachstum.
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8864 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Bundesminister Dr. Blüm— Daß Sie bei dem Wort „Wachstum" dazwischenschreien, weiß ich. Das ist für Sie ein Schreckgespenst.
Das ist für Sie ein Schreckgespenst. Mehr haben wollen, aber weniger Wachstum, das ist Ihr volkswirtschaftliches Geheimrezept. Mir ist es nie verständlich gewesen.
Wir brauchen Investitionen, und zwar Investitionen in moderne Arbeitsplätze. Die Arbeitsplätze sind dort weggefallen, wo die alten Klamotten — in meiner Sprache — sind.
Sie sehen, daß man Technik braucht, daß man Fortschritt braucht, um Arbeitsplätze zu schaffen. Sie haben die Zahlen über Amerika vorgetragen und das mit McDonald's erklärt. Nun, in der Zeit, in der wir 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren haben, haben die Amerikaner 6,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Wenn die alle bei McDonald's gelandet sind, muß ganz Amerika von McDonald's übersät sein; dann können die Amerikaner nirgendwo anders essen als bei McDonald's. Das ist doch völlig weltfremd!
Silicon Valley ist kein McDonald's-Laden. Sie sollten einmal hinfahren!
Silicon Valley ist ein Zentrum des technologischen Fortschritts. Vielleicht gibt es dort auch McDonald's. Ich weiß gar nicht, was Sie dagegen haben; das Ganze hat doch einen gewissen grünen Touch, oder?
— Herr Stratmann, ich will das im Zusammenhang vortragen.Wir brauchen ein Wachstum, das nicht durch Inflation bezahlt wird. Wachstum durch Inflation, wissen Sie, meine Damen und Herren, wer das bezahlt?
Wissen Sie, wer das bezahlt? Es bezahlt — das ist der ganze Kenes — der kleine Mann! Inflationsgestütztes Wachstum ist nichts anderes als Wachstum, das die Arbeitnehmer durch Einbußen beim Reallohn bezahlen. Das ist Ihr Wachstum gewesen!
Deshalb halte ich die Politik der Preisstabilität nicht nur für die Rentner, nicht nur für die kinderreichen Familien, sondern auch im Sinne einer berechenbaren Politik der Investitionsförderung für das beste Klima.Wir brauchen Bildung.
Wiederum Zahlen, Herr Ehrenberg: Wir haben 1984 80 000 mehr Lehrplätze geschaffen als Sie 1982, in Ihrem letzten Jahr. Aber ich sage gar nicht „wir", sondern das haben die Handwerker, das haben die Betriebe gemacht; von hier aus noch einmal meinen Dank und meine Anerkennung für diese Leistung!
Wir brauchen Weiterbildung. Nie in der Geschichte der Bundesanstalt für Arbeit, nie, zu keiner Zeit, auch nicht in der Zeit, in der Sie, mein verehrter Kollege, die Oberaufsicht hatten,
gab es so viele Weiterbildungsplätze wie im letzten Jahr, nie gab es so viel berufliche Fortbildung und Umschulung wie im letzten Jahr.
Auch das ist ein Rekord, und wenn Sie nicht darüber reden, muß ich doch einmal über unsere Rekorde reden. Irgendeiner muß doch einmal darüber reden!
Meine Damen und Herren, ich denke, wir brauchen auch Weiterbildung, weil ich fest davon überzeugt bin, daß die alte Idylle vergangenen Zeiten angehört, nämlich die Idylle: Schulzeit, Lehrzeit, und dann hast du das Gepäck, mit dem du durch das berufliche Leben wandern kannst. Der Elektriker des Jahres 2000 wird mit dem des Jahres 1985 möglicherweise nur noch den Namen gemeinsam haben. Weiterbildung, das darf nicht das Privileg der sogenannten höheren Bildung sein, sondern muß eine Erwartung sein, die auch in der beruflichen Bildung eingebaut ist.Fachleute sagen: Schon in fünf Jahren werden 70 % der Arbeitsplätze in irgendeinem Kontakt mit elektronischer Informationstechnik stehen, 70%! Wissen Sie, wieviel Prozent der Arbeitnehmer heute Kenntnisse in diesem Bereich haben? 2 %! Wenn wir auf die Höhe der Zeit kommen wollen, schaffen wir es gar nicht nur über die Erstausstattung. Wenn wir warten, bis durch verbesserte berufliche Bildung in der Erstausstattung diese Kenntnisse zu 70 % erreicht sind, sind die Japaner schon auf dem Mond und haben ihn verkabelt.
Wir brauchen einen neuen Aufschwung auch in der beruflichen Weiterbildung, auch in den Betrieben. Nicht nur in den staatlichen Schulen, sondern auch in den Betrieben gehört Bildung zum Investitionsprogramm. Es muß nicht nur in Maschinen inve-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8865
Bundesminister Dr. Blümstiert werden, es muß auch in die Menschen und in die Weiterbildung investiert werden.
Meine Damen und Herren, auch die Arbeitszeit wird von uns gar nicht tabuisiert. Welche Regierung hat zur Arbeitszeitproblematik nicht Worte geliefert
— vielen Dank, ich bin nicht abergläubisch, aber Sie bestätigen mir das —, sondern hat ein Konzept vorgelegt? Welche Regierung hat nicht nur Worte und Schulterklopfen für die Tarifpartner geboten? Das war unsere Regierung! Wir haben ein Vorruhestandsgesetz vorgelegt; wir haben den Worten Taten folgen lassen.Aus meiner Sicht ist die Vorruhestandsregelung der tarifpolitische Hit der Saison. Bereits 200 Tarifverträge haben diese Regelung in Anspruch genommen. Mit Sicherheit ist der Arbeitsmarktentlastungseffekt des Vorruhestandes jetzt schon zehnmal größer als das ganze Spektakel, das uns die Wochenarbeitszeitverkürzung gebracht hat.
Mit Sicherheit heute schon! Meine Damen und Herren, das sehen Sie auch daran, daß in die Vorruhestandsregelung Einstellungen eingebaut sind. Das ist nicht nur Zurücknahme von Arbeitszeit. Geld gibt es vom Staat nur, wenn an Stelle des ausgeschiedenen älteren Arbeitnehmers ein jüngerer nachrückt. Ich fürchte, ein Teil der Wochenarbeitszeitverkürzung wird durch den Schornstein gehen, weil die Maschinen ein bißchen schneller laufen. Dieser Gefahr ist der Vorruhestand nicht ausgesetzt.Ich denke, wir brauchen in der Tat ein ganz neues Konzept der Arbeitszeit; nicht mehr die Arbeitszeit in der Kolonne, die wir jetzt 200 Jahre trainiert haben, sondern eine Arbeitszeit, die wieder mehr dem Lebensrhythmus folgt, die das Ausscheiden erlaubt — auch für die Mutter — und das Zurückkehren in das Erwerbsleben.
— Nicht: im Winter raus, im Frühjahr wieder rein. Ich verstehe aber auch nicht, wieso der Bauarbeiter, wenn die Sonne ihn wärmt, dieselbe Wochenarbeitszeit wie im Winter hat, wenn seine Finger blaugefroren sind. Das ist ein gutes Beispiel. Das habe ich noch nie verstanden.
Ich habe noch nie verstanden, warum die einen im Winter Automobile für die Halden produzieren, während sie im Sommer Überstunden machen. Das Geld, das diese ganze Einfetterei kostet, hätte ich lieber in den Lohntüten der Arbeitnehmer, um es einmal klar zu sagen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Burgmann?
Nein, ich möchte jetzt gerne im Zusammenhang über die Arbeitszeit reden.Wir brauchen eine Arbeitszeit nach Maß und nicht mehr die Arbeitszeit von der Stange. Ich weiß, die Kollektivisten haben das nicht gern. Die haben immer gerne den Parademarsch: Mit 15 im Gleichschritt los, mit 65 raustreten. Wir wollen eine Arbeitszeit haben, die mehr Wahlmöglichkeiten bietet. Die Technik, die viel verteufelte Technik bietet zum erstenmal die Chance der Dezentralisierung. Mein lieber Herr Stratmann, wenn Sie die technologische Einsiedelei des Heimarbeitsplatzes als etwas ungeheuer Schreckliches beschwören, dann kann ich nur sagen: Wenn die einzigen Kontaktmöglichkeiten für die Menschen die Fabrikhallen und die Großraumbüros wären, dann wäre es um unsere Gesellschaft sehr schlimm bestellt.
Ich sehe in der Dezentralisierung auch neue Möglichkeiten, wieder Arbeit und Leben miteinander zu verbinden. Ich bin nicht so träumerisch, nicht auch Gefahren zu sehen. Natürlich, da brauchen wir ein neues Arbeitsrecht, das etwas flexibler ist und wahrscheinlich auch mehr den Einsatz der Tarifpartner und der Betriebspartner fordert. So perfekt kann ein Gesetzgeber gar nicht sein, als daß er die Vielfalt auch der technologischen Möglichkeiten durch Gesetze abdecken kann. Das Leben hat da meistens einen Fall mehr, als sich der Gesetzgeber denken kann.Das führt dann dazu, daß solche perfektionistischen Gesetze nur deshalb handhabbar sind, weil sich niemand danach richtet — oder solche Gesetze mit einer Vielzahl von Ausnahmen verbunden werden müssen.Deshalb machen wir ein neues Arbeitszeitgesetz. Da werden sieben Gesetze und 22 Verordnungen über Nacht überflüssig werden. Wenn dieses perfektionierte Arbeitsrecht überhaupt funktionieren soll, dann muß der kleine Handwerksmeister nachts studieren, damit er tagsüber keinen Fehler macht. Ich meine, das ist so weltfern und führt dazu, daß niemand eingestellt wird.
Wir brauchen ein Arbeitsrecht, das nicht ein Festungsrecht ist, nämlich ein Recht für die, die drinnen sind. Wir brauchen ein Arbeitsrecht, das eingliedern hilft. Das Arbeitsrecht unter den Bedingungen der Arbeitslosigkeit muß Brücken bauen und darf nicht dazu führen, daß sich die Privilegierten, die Arbeitsbesitzer, in die Festung zurückziehen und die Beute unter sich verteilen. Sozial heißt, auf die Rücksicht zu nehmen, die draußen stehen. An die denken wir.
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8866 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Bundesminister Dr. BlümWenn wir eine neue Schwerbehinderten-Novelle machen — das will ich gerade an unsere behinderten Mitbürger als Bitte um Verständnis richten —, dann ist das keine Politik gegen die Behinderten. Wir wollen die Behinderten nur davor schützen, daß sie Nachbarn bekommen, die gar keine Behinderten sind, obwohl sie einen Ausweis wollen. Je mehr die Zahl der Behinderten zunimmt, um so mehr bekommen die besonders betroffenen Behinderten Konkurrenten um die Arbeitsplätze. Wer den Behinderten helfen will, muß dafür sorgen, daß die Hilfe konzentriert ist, der muß dafür sorgen, daß wir unsere Finanzkraft denen schenken und auf jene richten, die der Hilfe bedürfen.
In der Tat muß es uns zu denken geben, daß eine Vielzahl von Besitzern von Schwerbehindertenausweisen in diesen Besitz gelangt ist, ohne vom Amtsarzt untersucht worden zu sein.
— Doch, vom Arzt untersucht. Ich will auch nicht die große Generalüberprüfung. Aber wir wollen doch dafür sorgen, daß sich der Behindertenbegriff nicht aus einer Summe von kleinen Behinderungen zusammensetzen kann, weil sonst niemand mehr in diesem Saale sitzt, der nicht einen Schwerbehindertenausweis bekommen kann. Wir wollen dafür sorgen, daß beispielsweise Alter keine Behinderung ist. Was ist das eigentlich für ein Behindertenbegriff, der offenbar im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht? Ein 20jähriger Jugendlicher, Leichtathletikzehnkämpfer, ist offenbar der Unbehinderte, und wer nicht ganz diesem Schema entspricht, gilt als Behinderter. Welches Verständnis von Mensch! Das ist keine soziale Politik!
— Nein, ich entdecke einen Gleichheitsbegriff, der nicht meiner Vorstellung vom Menschenbild entspricht.Wir brauchen die Hilfe für die Behinderten. Ich will hinzufügen, daß keine Behindertenpolitik jeden Nachteil völlig ausgleichen kann. Wir sollten auch nie den Eindruck erwecken, als würden die Behinderten in unserer Gesellschaft nicht gebraucht. Wir bedürfen ihrer. Niemand sollte auch sagen, daß jemand, der erwerbsgemindert ist, deshalb auch leistungsgemindert wäre. Mancher blinde Mitbürger leistet mehr als sein nicht blinder Nachbar. Es handelt sich doch nur um Vorurteile, die die Behindertenpolitik erschweren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließen. Es ist so, die Arbeitslosigkeit ist die größte Herausforderung. Niemand sollte über 2,6 Millionen Arbeitslose zur Tagesordnung übergehen.Ich bin dafür, daß wir Zusammenarbeit suchen, wo immer es möglich ist. Ich halte es für hoffnungsvolle Zeichen, daß auch die Sozialpartner wieder näher zusammenrücken, daß Otto Esser und Ernst Breit einen gemeinsamen Appell an alle gegen die Überstunden gerichtet haben. Denn es gibt keine Überwindung des Arbeitsleides und der Arbeitslosigkeit durch Klassenkampf. Eine Überwindung gibt es nur, wenn möglichst viele vor den Wagen gespannt werden, damit er aus dem Tal herausgezogen wird.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Fuchs.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesarbeitsminister, ich glaube, auch wenn Sie zwei Stunden geredet hätten, hätten Sie immer noch nichts gesagt.
Ich möchte deswegen auf das Thema zurückkommen.Wir diskutieren heute den Jahreswirtschaftsbericht.
— Seien Sie mit der Kassandra vorsichtig! Man hat zwar nicht auf sie gehört, aber sie hat recht behalten. Ich denke an meine Formulierungen in der Rentendebatte. Es ist genau das eingetreten, was wir immer befürchtet haben: die Rente auf Pump bleibt. Es bleibt 1985 eine Rente auf Pump. Was jetzt gemacht wird, ist neue Flickschusterei. Der Bundesarbeitsminister ist nicht in der Lage, ein vernünftiges Konzept zur Sanierung der Rentenfinanzen vorzulegen. Das habe ich damals geweissagt. Es ist leider eingetreten. Ich stehe sogar besser da als Kassandra, denn ich lebe noch; sie wurde bekanntlich erwürgt.
Wir haben 2,6 Millionen Arbeitslose, und der Bundesarbeitsminister sagt: Wir brauchen ein neues Beschäftigungsförderungsgesetz, wir brauchen ein neues Schwerbehindertengesetz. Er reduziert das Thema Arbeitslosigkeit in einer für mich unerträglichen Weise, indem er so tut, als ob die Schwerbehinderten in diesem Land die sozialen Gesetze ausnutzten. Das ist unerträglich, meine Damen und Herren.
Sorgen Sie doch für Arbeitsplätze für Schwerbehinderte! Tun Sie doch etwas dafür, daß Schwerbehinderte einen Arbeitsplatz finden! Schwerbehinderte sind von der Arbeitslosigkeit überproportional betroffen. Tun Sie nicht so, als ob Sie mit den kleinen Korrekturen dieser Gesetze etwas tun könnten, um Massenarbeitslosigkeit abzubauen!
Wenn man den Jahreswirtschaftsbericht liest und den Arbeitsminister und den Wirtschaftsminister
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8867
Frau Fuchs
dazu hört, stellt man fest: Trotz 2,6 Millionen Arbeitslosen und einer stillen Reserve von 1,3 Millionen scheint alles in Ordnung zu sein.
Herr Haussmann, ich komme auf meine damalige Haltung in der Bundesregierung zurück. Wir haben nie gesagt, daß die stille Reserve in der Statistik des Arbeitsmarktes eingefangen werden kann. Das will auch keiner. Aber Tatsache ist doch, daß neben den 2,6 Millionen offiziell gemeldeten Arbeitslosen 1,3 Millionen Menschen schon resigniert haben, weil sie gar keinen Arbeitsplatz finden können, und sich gar nicht mehr melden.
— Ja, deswegen muß man ehrlicherweise zu der Arbeitslosigkeit die stille Reserve hinzurechnen. Dann kommt man dazu, daß wir einen dramatischen Mangel an Arbeitsplätzen haben.Ich habe heute nicht gehört, wie man eine Zunahme an Arbeitsplätzen mit dieser Wirtschaftspolitik organisieren will.Wir haben einen Pleiterekord; das ist auch dargestellt worden. 95% der Gewinne werden eben nicht wieder angelegt. Und wenn mein Kollege Wolfgang Roth sagt, machen Sie doch eine Steuerpolitik, die dafür sorgt, daß die Gewinne wieder angelegt werden, dann ist bei der Bundesregierung Ruhe. Offensichtlich hat sie dafür kein Konzept. Nein, Ihr Konzept ist ganz einfach, Ihr Konzept ist: Sie haben sich auf Dauerarbeitslosigkeit eingestellt.
Ich habe heute morgen gelernt — und ich fühle mich bestätigt —, daß Herr Bangemann natürlich eine andere Wirtschaftspolitik als die Sozialdemokraten macht.
Natürlich setzt er auf die Selbstheilungskräfte des Marktes. Und wenn dabei Arbeitslosigkeit herauskommt, so hat man eben hinsichtlich dieser wirtschaftlichen Entwicklung Pech gehabt, die Arbeitslosen haben Pech gehabt, aber für Herrn Bangemann ist die Welt trotzdem noch lange in Ordnung; denn er nimmt diese Arbeitslosigkeit in Kauf.
Als ich diesen Jahreswirtschaftsbericht las, drängte sich mir der Eindruck auf: Wenn es einen Preis für Wortgeklingel gäbe, dann würde ich ihn heute nicht dem Bundesarbeitsminister, sondern dem Verfasser des Jahreswirtschaftsberichtes geben. Denn wie heißt es so schön auf vielen, vielen Seiten, z. B. auf Seite 9:Auch am Arbeitsmarkt deutet sich eine Trendwende an. ... Der wirtschaftliche Kurs stimmt.Die gesamtwirtschaftliche Expansion gewinnt an Breite und Dynamik.Meine Damen und Herren, dies ist Wortgeklingel. Denn hinterher kommen keine konkreten Maßnahmen, die dazu beitragen könnten, die Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Aber ich sage ja: Sie nehmen sie in Kauf.Wir als Sozialdemokraten haben wiederholt gefordert, daß man einen Arbeitsmarktbericht vorlegt. Sie haben, wenn ich es richtig weiß, Herr Minister Bangemann, durch Ihren Parlamentarischen Staatssekretär im Ausschuß versprochen, daß Sie einen Jahresarbeitsmarktbericht, zumindest die Daten, vorlegen, damit man über die Struktur der Arbeitslosigkeit diskutieren kann. Wir haben nunmehr selbst einen Arbeitsmarktbericht vorgelegt. Ich hoffe, daß Sie ihn aufmerksam lesen. Es ist doch so, meine Damen und Herren, daß uns nicht nur die 2,6 Millionen Arbeitslosen beunruhigen. Vielmehr beunruhigt uns darüber hinaus besonders, wie verhärtet der Arbeitsmarkt ist, daß in der jetzigen Zeit mehr als 700 000 Menschen länger als ein Jahr arbeitslos, daß 300 000 Menschen länger als zwei Jahre arbeitslos gemeldet sind. Und da tun Sie so, als ob Sie mit Ihrer Politik den wirtschaftlichen Kurs richtig bestimmt haben. Es geht eben nach dem Motto — das ich ja ganz sympathisch finde, Herr Bundesarbeitsminister —: Wir lassen uns die gute Stimmung nicht vermiesen, nur nicht nervös werden; in fünf bis zehn Jahren sieht es vielleicht besser aus, und bis dahin überstehen wir mit Ausreden und Ablenkungsmanövern.
Nur, ich sage Ihnen: Angesichts der Ausbildungssituation, die ich so einschätze, wie Sie sie hier vorgetragen haben — das duale System hat da eine großartige Leistung vollbracht —, stellen wir doch fest, daß sich die Zahl der Arbeitslosen jungen Leute zwischen 20 und 25 Jahren in den letzten Jahren dramatisch erhöht hat.
— Lieber ausgebildet als arbeitslos, wie richtig. Aber Sie können doch den jungen Leuten nicht sagen: Kommt in zehn Jahren einmal wieder, dann brauchen wir euch vielleicht. Sie brauchen jetzt und hier und heute einen Arbeitsplatz in unserer Republik.
— Ich habe nicht von Lehrplätzen gesprochen, Herr Minister. Damit Sie genau wissen, was ich meine: Sie müssen dringendst darüber nachdenken: Was wollen Sie den jungen Menschen anbieten, die die Ausbildung hinter sich gebracht haben und dann arbeitslos werden? Diese Zahl steigt dramatisch; sie hat sich verdreifacht. Die Arbeitslosenquote dieser Jahrgänge liegt bei 13 %. Wie wollen wir die jungen Leute für die Demokratie gewinnen, wenn am Beginn ihres Erwachsenenlebens erst einmal Arbeits-
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8868 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Frau Fuchs
losigkeit steht? Das zieht doch andere Gefahren nach sich als die, von denen Sie hier sprechen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Blüm?
Bitte sehr.
Verehrte Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß die Quote der Jugendarbeitslosigkeit zum erstenmal unter der Quote der Gesamtarbeitslosigkeit liegt?
Nein, Herr Bundesarbeitsminister — —
— Es ist mir bekannt, welches Problem Sie ansprechen. Mir ist bekannt, daß die Arbeitslosigkeit, wenn Sie vom Alter Schulentlassener bis zum 25. Lebensjahr rechnen, gesunken ist; das finde ich auch richtig. Ich sage immerhin, daß wir — insgesamt gesehen — gar keine Veranlassung haben, pessimistisch in die Zukunft zu schauen; wir müssen nur Probleme lösen. Aber die Arbeitslosigkeit derer, die zwischen 20 und 25 Jahren aus dem Ausbildungssystem kommen, stellt die höchste Quote dar; das sind 13%. Da entscheidet es sich doch, Herr Minister, ob man in der Lage ist, einen eigenständigen Lebensweg zu gehen,
oder ob man dazu nicht in der Lage ist.
— Es ist wahr — lesen Sie es bitte nach; ich habe es hier sogar aktenkundig dabei —, daß diese Personengruppe ganz besonders betroffen ist.Wir könnten weitere Zahlen nennen. Ich will nur darauf hinweisen, daß natürlich, wie immer in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, die Frauen besonders betroffen sind. Meine Damen und Herren, lesen Sie bitte unseren Arbeitsmarktbericht, dann sehen Sie, daß insbesondere bei den jungen Frauen wiederum eine deutliche Zunahme der Arbeitslosigkeit gegenüber den Männern vorhanden ist. Ich will auch hinzufügen: 83 % der vollzeitarbeitslosen Frauen suchen einen Vollzeitarbeitsplatz!, damit wir nicht auf die Idee kommen zu meinen, mit Teilzeitarbeitsplätzen allein sei das Problem der Frauenarbeitslosigkeit gelöst.
83 % suchen einen Vollzeitarbeitsplatz. Es kommen auch — das ist das Erschreckende — alte Vorurteile wieder hoch. Sie, die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wollen ein neues Programm verabschieden. Ich bin einmal gespannt. Wir finden Elemente unserer aktiven Arbeitsmarktpolitik wieder. Sie haben auch das Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie entdeckt. Ich bin gespannt, was Ihr Parteitag dazu sagen wird. Aber dennoch, HerrBundesarbeitsminister, ist es nach wie vor so, daß sich Ihre neue Mütterlichkeit, Ihre neue Ehrenamtlichkeit, Ihre neue Subsidiarität als Jobkiller für die Frauen erweisen. Deswegen müssen wir dagegen angehen.
— Als Jobkiller. Warum? Weil Sie sagen, man müsse das ehrenamtliche und subsidiäre Element stärken; damit werde den Frauen etwas besonders Gutes getan. Ich bin da anderer Meinung. Ich denke, die Frauen in unserem Lande haben genau wie die Männer ein Recht auf Arbeit. Uns — das sage ich generell — kann der Aufschwung gestohlen bleiben, wenn er am Arbeitsmarkt vorbeigeht. Für uns ist ein Aufschwung erst da, wenn die Arbeitslosigkeit abgebaut wird.
Der Arbeitsminister sagt: Wir machen alles Schritt für Schritt. Dann sagt er: Armut gibt es nicht. Herr Bundesarbeitsminister, seien Sie ein bißchen sensibler.
— Bei dem Thema Armut, neue bittere Armut.
Es ist doch so, daß Arbeitslosigkeit zunächst einmal dazu führt, daß es dramatische Einkommensveränderungen gibt. Sie haben das Arbeitslosengeld gekürzt. Sie haben die Bezugsdauer verlängert — einverstanden.
Dann rutschen doch die Arbeitslosen in die Arbeitslosenhilfe. Dann rutschen viele in die Sozialhilfe. Dann treffen Sie Familien, in denen auch die Frau ihren Arbeitsplatz verloren hat. Dann treffen Sie Familien, denen Kindergeld gekürzt wurde, BAföG eingeschränkt wurde.
Es gibt eine Kumulation von negativen Erscheinungen, die Sie geschaffen haben.
— Nein, nein, das haben Sie gemacht.Nun sagen Sie: Die Kommunen sollen investieren. Meine Vorredner haben schon darauf aufmerksam gemacht. Eine Kommune, die 20 % und mehr Arbeitslosigkeit hat, der Sie die Kosten der Arbeitslosigkeit durch die Sozialhilfe aufgebrummt haben, hat kein Geld zu investieren. Hier gibt es den Teufelskreis, daß hohe Arbeitslosigkeit und hohe Sozialhilfe dazu beitragen, daß es eine Armut in diesen Gemeinden gibt. Sie sollten einmal nach Niedersachsen oder nach Schleswig-Holstein gehen, Herr Bundesarbeitsminister. Auch Sie haben den Anspruch des Sozialstaates in dieser Gesellschaft zu
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8869
Frau Fuchs
verwirklichen — nicht Sie allein, Ihre Kollegen bitte auch.
Ich möchte all die, die jetzt die Kommunen zum Investieren ermuntern, einmal bitten: Gehen Sie in die Kommunen, damit Sie wissen, was in unserem Lande los ist.
Nun kommt das Patentrezept von Herrn Blüm. Es ist interessant, wie ein Mitglied der Sozialausschüsse Gesetzesvorschläge auslegt,
die einseitig Arbeitgeberinteressen untermauern.
Ich habe mit großem Interesse gehört, was Sie zu dem „Entlassungsförderungsgesetz" gesagt haben. Ich schicke Ihnen ein Gutachten zu, Herr Bundeswirtschaftsminister und Herr Bundesarbeitsminister, das darlegt, wie sehr in unserem Lande die Flexibilität in den Betrieben vorgenommen wird. Es ist eine ganz falsche Behauptung, wenn so getan wird, als ob die Unternehmen starr auf Veränderungen reagierten. Schauen Sie sich einmal die Veränderung der Lohnstruktur an. Schauen Sie sich doch einmal die Umsetzungspolitik in den Betrieben an. Dann werden Sie feststellen, daß unsere Unternehmen die Flexibilität herstellen, ohne Menschen zu entlassen, weil sie innerhalb der Belegschaft umordnen, umschulen, umbilden und vor allen Dingen auch die Arbeitsplätze flexibel danach einrichten. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten brauchen wir also zur Flexibilisierung der Unternehmenspolitik keine Gesetze, die Entlassungen fördern, weil es in unserem System, wenigstens bisher, so gegangen ist, daß sich die Unternehmen auf Veränderungen einstellen konnten, ohne die Praxis des Heuerns und Feuerns aus den Vereinigten Staaten übernehmen zu müssen.
— Auch in den kleinen Betrieben ist es so.Das ist doch der Punkt, meine Damen und Herren. Sie behaupten, mit einer Einschränkung der Arbeitnehmerrechte würden neue Arbeitsplätze geschaffen. Dies ist doch Unsinn. Wir haben nicht zuviel Arbeitnehmerrechte, sondern wir haben zuwenig Arbeitsplätze. Und die schaffen Sie nicht mit der Veränderung von Gesetzen.
Herr Minister Blüm, es ist interessant, daß Sie das Beschäftigungsförderungsgesetz immer noch vertreten.
Der Wirtschaftsausschuß, meine Damen und Herren und Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hatja gestern beschlossen, daß es nicht bei dem Entwurf der Bundesregierung bleiben solle, sondern daß die Befristung von Arbeitsverträgen auf zwei Jahre ausgedehnt werden solle, daß die Leiharbeit weiter ausgedehnt werden solle. Herr Minister Blüm, wollen Sie dieses Gesetz immer noch als ein arbeitsmarktwirksames Gesetz vertreten, oder erkennen Sie nun allmählich, daß Sie hier voll dem Wirtschaftsflügel Ihrer Partei auf den Leim gegangen sind?Ich habe insgesamt den Eindruck, auch wenn man Herrn Minister Bangemann zugehört hat,
— ich habe zugehört —
Sie möchten gern Lohnkosten drücken. Nun haben doch alle wissenschaftlichen Gutachten erwiesen — ich weiß nicht, warum das immer wieder kommt —,
daß ein Problem die schrumpfende Massenkaufkraft ist und mit Senkung von Löhnen Arbeitsplätze nicht geschaffen werden. Ich glaube, Sie hätten am liebsten einen neuen Slogan wie aus dem Winterschlußverkauf: Sonderangebot — Billige Arbeitnehmer. Damit könnte man, so meinen Sie, neue Arbeitsplätze schaffen. Und dann hätten Sie ganz gern noch Gefälligkeitsatteste aus Nürnberg. Wenn Sie die Frau Vizepräsidentin der Bundesanstalt kritisieren, ist das, muß ich schon sagen, eine eigenartige Haltung, wenn jemand, der in diesem Sektor tätig ist, die Wahrheit sagt, meine Damen und Herren.Der letzte Punkt ist — das sehen Sie auch nie so richtig —: Massenarbeitslosigkeit ist einfach zu teuer. Wir geben 55 Milliarden DM aus, und der ganze angebliche Erfolg, den Herr Minister Bangemann hier vorgetragen hat, führt doch nur dazu, daß die sozialen Sicherungssysteme in Unordnung geraten. Herr Minister Blüm, was Sie sich da nun haben wieder einfallen lassen, ist ja fabelhaft. Jetzt werden die Beiträge zur Rentenversicherung erhöht. Sie werden mehr erhöht, als Sie es sich vorgenommen haben. Es gibt einen Bundeszuschuß, der gerade eben für das Papier taugt.Im Jahre 1983, meine Damen und Herren, haben Herr Geißler und Herr Blüm gesagt: In 1985 gibt es 1 Million Arbeitslose weniger. —
Das ist die Politik, die hier gemacht wird: Große Versprechungen machen und nichts halten.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Wissmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist immer wieder
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8870 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Wissmannnotwendig — das zeigt der Beitrag von Frau Kollegin Fuchs —, die Ergebnisse der Jahre 1980 bis 82, Jahre, für die weitgehend noch Sie Verantwortung hatten, und 1984, für das wir Verantwortung hatten, nebeneinanderzustellen.
— Ich nenne die wichtigsten Zahlen, damit vielleicht auch Sie, Herr Ehrenberg, diese Dinge ins Bewußtsein bekommen.1982: Bruttosozialprodukt, minus 1 %, 1980: Leistungsbilanz, Rekordminusbetrag von 28 Milliarden DM, 1982: Inflationsrate, über 5 %, Anstieg der Arbeitslosenquote innerhalb von zwei Jahren von unter 4 auf über 7 %.
Zwei Jahre weiter, 1984, immer noch große Probleme, die wir nicht bestreiten, aber gleichzeitig deutliche Zeichen einer wirtschaftlichen Entwicklung, die nach oben führt. Bruttosozialprodukt 1984: plus 2,6 %, Leistungsbilanzüberschuß 1984: 17,9 Milliarden DM, Inflationsrate — ich erinnere noch einmal: damals über 5 % — 1984: 2,4 %. Wir sagen nicht, wir hätten bereits das Ziel erreicht. Wir sagen nur, und wir sagen das mit dem Sachverständigengutachten und mit dem Jahreswirtschaftsbericht: Wir haben eine Wendung zum Besseren erreicht, und wir werden uns von diesem Weg nicht abbringen lassen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Nein, ich möchte die wenigen Minuten, die ich habe, nutzen.
Keine Zwischenfrage.
Ich sage: Wir wollen den Weg, den wir eingeschlagen haben, weitergehen, um auch die Arbeitslosigkeit, die zweifelsohne das größte Sorgenkind ist, besser und entschiedener als bisher bekämpfen zu können.Nur, meine Damen und Herren: Es gibt nicht nur Unterschiede in den Zahlen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Dort sind seit 1970 25 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden, hier ist bei den Arbeitsplätzen ein deutliches Minus zu verzeichnen. Die Gründe dafür kann man auch erkennen, wenn man sich die amerikanische politische Auseinandersetzung ansieht und sie mit der deutschen Auseinandersetzung vergleicht.Vor wenigen Tagen hat auf dem großen internationalen Management-Symposion in Davos eine Diskussion zwischen einem der führenden Wirtschaftspolitiker der Demokraten, Senator Bill Bradley, und dem führenden Wirtschafts- undSteuerfachmann der Republikaner, Jack Kemp, stattgefunden. Was ich an dieser Diskussion so beneidenswert eindrucksvoll fand, und was ich mir auch für die Auseinandersetzung hier mit den Kollegen und Kolleginnen von der Opposition wünschen würde, ist, daß man sich dort über die Zielsetzung mehr Markt und weniger Staat sowie über die Zielsetzung, Bürger und Unternehmen deutlich steuerlich zu entlasten, einig war. Dort hat man nicht über Ideologien geredet, sondern über praktische Fortschritte. Ich meine, wenn wir hier dasselbe praktiziert hätten, dann hätten wir schon lange wesentlich mehr erreicht, auch bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will an Hand von acht Punkten skizzieren, wie wir den Weg, den wir eingeschlagen haben, weitergehen wollen.Punkt 1: Wir wollen den Weg der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte weitergehen, denn nur dieser Weg schafft Zinsspielräume und niedrige Inflationsraten. Ich sage es ganz deutlich: Was immer auch an Versuchungen kommen wird, wir bleiben bei diesem Weg einer sparsamen Finanzpolitik. Vielleicht ist es unser Fehler, daß wir die großen Erfolge bei der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte bisher nicht genügend ins Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit gebracht haben. Dieser sparsame Finanzkurs bleibt Bedingung auch einer soliden Wirtschaftspolitik.Dieser sparsame Finanzkurs schafft — zweitens — die Voraussetzungen für eine Politik der Steuerentlastung. Wir bleiben bei den Schritten — die wir für 1986 und 1988 angekündigt haben — zur Einkommensteuerentlastung, zur Lohnsteuerentlastung, zur Entlastung der Familien. Wir meinen, daß in der nächsten Legislaturperiode ein Schritt hin auch zu einer breiten Entlastung der Unternehmen getan werden muß. Wir werden ihn bereits in den kommenden Monaten entwickeln.Denn, meine Damen und Herren, das dritte wichtige Ziel bleibt eine wesentliche Entlastung vor allem der kleinen und mittleren Betriebe. Die Eigenkapitalquote in kleinen und mittleren Betrieben in der Bundesrepublik Deutschland ist so niedrig wie fast nirgends in den westlichen Industrieländern. Nur wer sie wieder anhebt, schafft Spielraum für Investitionen auch in neue Arbeitsplätze. Was wir am Beispiel der Amerikaner lernen können, ist, daß — ausweislich aller Unterlagen — dort über 80 % der 25 Millionen neuen Arbeitsplätze von kleinen und mittleren Betrieben bereitgestellt wurden und aus Unternehmensneugründungen resultieren. Nicht im Big Business liegt die Lösung für das Problem der Arbeitslosigkeit, sondern in der Verbesserung der Eigenkapitalquote, der Ertragskraft kleiner und mittlerer Betriebe. Gewinn sollte für Sozialdemokraten kein Fremdwort sein, sondern die Bedingung dafür, Arbeitslosigkeit besser bewältigen zu können.Viertens. Wir werden den Weg der Entbürokratisierung weitergehen. Wir werden mit einem neuen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8871
WissmannBaurecht und mit einem flexibleren Arbeitsrecht ein Zeichen setzen. Frau Kollegin Fuchs, ich muß Ihnen sagen: Ich verstehe Ihre Einwände nicht, denn Sie geben ja vor, Arbeitnehmerinteressen zu vertreten. Ist es denn nicht im Interesse des 50jährigen Arbeitslosen, dessen Firma vielleicht Konkurs gemacht hat und der keinen Arbeitsvertrag bekommt, weil jeder das Risiko einer langfristigen Beschäftigung zunächst scheut, wenn man sagt, er kann zunächst einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen
und der Mann oder die Frau wird dauerhaft beschäftigt, wenn sie sich bewähren? Das ist nicht gegen die Interessen der Arbeitnehmer, sondern es dient ihren Interessen. Mir jedenfalls, Herr Ehrenberg, ist es lieber, jemand hat befristet Arbeit, als daß er unbefristet arbeitslos ist.
Der fünfte Punkt. Wir wollen die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen und öffentlichen Unternehmen fortsetzen, die wir bei der VEBA begonnen haben,
weil wir glauben, daß mehr privatwirtschaftliche Orientierung in der gesamten Wirtschaft — „Mehr Markt und weniger Staat" als Grundlinie einer Wirtschaftspolitik — am Ende auch auf dem Arbeitsmarkt positive Wirkungen hat.
Deshalb unterstützen wir mit Nachdruck die Privatisierungsvorschläge des Finanzministers
und meinen, daß der dort eingeschlagene Weg ein Weg ist, der in unserer Gesellschaft mehr Dynamik und weniger staatliche und bürokratische Bevormundung bewirkt.Der sechste Punkt — der Kollege Haussmann sprach vorhin davon. Wir wissen genau, daß wir beim Abbau von Subventionen bisher nicht so vorangekommen sind, wie wir das wollen.
— Herr Spöri, diejenigen, die die Subventionen beispielsweise bei Arbed Saarstahl begonnen haben,
sollten jetzt nicht die moralischen Sittenrichter spielen, sondern sollten selbst endlich einmal ein konkretes Konzept zum Abbau von Subventionen vorlegen, statt solche Konzepte nur anzufordern.
Wir jedenfalls wollen in den nächsten Monaten ein Zeichen setzen für den ernst gemeinten Willen zu einer Veränderung auch hier. Das erste Zeichen:
Ich glaube, wir müssen mit Entschiedenheit dafür eintreten, daß der europäische Stahlsubventionskodex eingehalten wird und am Ende des Jahres 1985 nirgendwo in der Europäischen Gemeinschaft mehr Stahlsubventionen gewährt werden können, denn nur dann werden auch wir hier in der Bundesrepublik Deutschland mit der notwendigen Konsequenz entscheiden können.Das zweite. Ich meine immer noch, daß auch im übrigen Bereich der Subventionen, beispielsweise im Bereich der Finanzhilfen, allein ein linearer Schnitt durchsetzbar und sinnvoll ist.
Ich fände es gut, wenn wir uns im Wettbewerb darüber streiten würden, wie konkrete Schritte zum Abbau von Subventionen aussehen; denn eine Erkenntnis, finde ich, sollten wir doch alle haben: daß in viel zu vielen Fällen Subventionen unrentable Arbeitsplätze erhalten und damit den Strukturwandel in Richtung der Schaffung neuer, rentabler Arbeitsplätze schwerer machen.
Auch deswegen, meine ich, bedarf es einer neuen Anstrengung.Meine Damen und Herren, wir wissen, daß wir schwerwiegende Sorgenbereiche und Problembereiche in der Wirtschaft haben; davon ist der wichtigste sicherlich der Bereich der Bauwirtschaft. Aber ich glaube, auch hier können wir uns an einer realistischen Analyse der Möglichkeiten und Chancen nicht vorbeimogeln. Wir müssen uns im Wohnungsbau darauf einrichten, daß wir keine 500 000 bis 700 000 Wohnungen pro Jahr mehr benötigen, sondern, wenn es gutgeht, vielleicht 300 000 bis 350 000 Wohnungen im Jahr. Wir müssen, so schwer es ist und so hart es ist, dies auch zu sagen, uns hier auf einen Anpassungsprozeß einstellen; ihn künstlich zu verdecken würde nur für einen vorübergehenden Zeitraum guten Eindruck produzieren, würde auf Dauer aber keines der Probleme lösen.
Nein, wir müssen erkennen, daß beispielsweise im Bereich der Altbaumodernisierung, der Dorferneuerung und der Stadterneuerung sinnvolle Ziele künftiger Baupolitik liegen,
die wir nicht durch große Staatsprogramme, sondern nur durch privatwirtschaftliche Initiative erreichen können.
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8872 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
WissmannEs gibt ernst zu nehmende Expertisen von Wohnungsbaukennern, die sagen, daß wir in den nächsten zehn Jahren ein etwa doppelt so hohes Investitionsvolumen in den Bereich der Altbaumodernisierung, Dorferneuerung und Stadterneuerung wie in den gesamten Wohnungsbau der Nachkriegszeit stecken könnten. Daß wir dazu viele kleine, aktionsfähige, engagierte, eigenkapitalstarke Betriebe brauchen und deren Bereitschaft zur Investition ermutigen sollten, das gehört zu diesem Bild hinzu.
— Herr Sperling, Sie müßten eigentlich wissen, daß man in den ausgelatschten Pfaden der alten Baupolitik nicht weiterarbeiten kann, sondern daß man solche Akzente im Interesse der Beschäftigten und auch im Interesse einer verantwortlichen Wirtschaftspolitik setzen muß.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich außerdem darauf hinweisen, daß die vorhin vom Kollegen Hauser gemachten Vorschläge zu einem Freigeben von gesperrten Investitionsmitteln, zu einer Verstärkung des Investitionsanteils in den Kommunalhaushalten darüber hinaus in sinnvollen Bereichen von Bauinvestitionen jedenfalls ein besserer Beitrag als ein großes staatliches Konjunkturprogramm wären.
Was mich nur immer wieder wundert, Herr Roth und Herr Ehrenberg, ist, daß Sie immer noch glauben, Probleme mit Beschäftigungs- und Konjunkturprogrammen im selben Stil lösen zu können, die sich in den 70er Jahren als unfähig erwiesen haben, die Probleme zu bewältigen.
Ich meine, Sie sollten wenigstens diesen Lernprozeß vollzogen haben.
Meine Damen und Herren, einen Moment. Zwischenrufe sind sehr belebend; aber der Redner muß auch noch sprechen können.
Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, Frau Präsidentin, daß die Lautstärke der Zwischenrufe meistens im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Fähigkeit der Opposition steht, Alternativen vorzutragen, und deswegen finde ich mich damit durchaus ab.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen. Wir haben schwerwiegende Herausforderungen, aber wir haben im Unterschied zu 1982 — das zeigt das Sachverständigengutachten, das heute mit zur Diskussion steht, genauso deutlich wie der Jahreswirtschaftsbericht — Grund zu einem vernünftigen Optimismus. Ich fände es gut, wenn die Sozialdemokraten zu einer zuversichtlichen Zukunftsentwicklung nicht dadurch beitragen würden, daß sie die alten Konzepte wieder aus den Aktenschränken, die man schon verschlossen glaubte, wieder hervorkramen,
sondern konstruktive Beiträge, wirkliche Alternativen zu einer zukünftigen Wirtschaftspolitik in diese Debatte einführen. Ich warte immer noch darauf, meine Damen und Herren von der SPD.
Meine Damen und Herren, wir unterbrechen jetzt die Sitzung bis 14 Uhr und beginnen dann mit der Fragestunde.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder.
Wir sind bei Punkt 1 der Tagesordnung:
Fragestunde
— Drucksache 10/2826 —
Die Frage 68 des Abgeordneten Dr. Soell aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts wird auf Grund von Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. von Geldern zur Verfügung. Er muß aber lange blättern; denn die Fragen 9 der Abgeordneten Frau Weyel, 10 und 11 des Abgeordneten Immer , 12 und 13 des Abgeordneten Oostergetelo sowie 14 und 15 des Abgeordneten Pfuhl sind von den Fragestellern zurückgezogen worden, so daß wir sofort zur Frage 16 des nicht anwesenden Abgeordneten Eigen kommen. Das kann bei solcher Schnelligkeit passieren. Daraus wollen wir ihm keinen Vorwurf machen.
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Schaden in der Teichwirtschaft durch Kormorane, und wie steht sie zu der Aussage des Landesnaturschutzverbandes Schleswig-Holstein, daß die Befürchtungen der Fischerei gegenüber der Ausbreitung der Kormorane weitgehend unbegründet oder im Interesse des Artenschutzes nachrangig seien?Bitte schön, Herr Staatssekretär.Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8873
Parl. Staatssekretär Dr. von GeldernForsten: Herr Kollege Carstensen, der Bundesregierung ist bekannt, daß lokal ganz erhebliche Schäden in der Teichwirtschaft durch Kormorane, insbesondere in Schleswig-Holstein, zu verzeichnen sind. Genauere Angaben zur Höhe der Schäden sind der Bundesregierung allerdings nicht bekannt.Die Landesregierung Schleswig-Holstein hat auf freiwilliger Basis im letzten Jahr Entschädigungszahlungen geleistet. Darüber hinaus werden derzeit im Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Landes Schleswig-Holstein weitere Entschädigungsforderungen aus dem Jahre 1984, die die bisherigen Forderungen erheblich überschreiten, geprüft.Da der Bundesregierung exakte Zahlen über die von Kormoranen in der Teichwirtschaft insgesamt verursachten Schäden nicht vorliegen, kann sie sich auch nicht zur Aussage des Landesnaturschutzverbandes Schleswig-Holstein äußern. Die Bundesregierung möchte jedoch in diesem Zusammenhang auf folgendes hinweisen.Der Kormoran gehört laut „Rote Liste" zu den vom Aussterben bedrohten Vogelarten und ist auch in der EG-Vogelschutzrichtlinie als hochgradig gefährdete Art eingestuft. Deshalb wurde er als vom Aussterben bedrohte Art in die Bundesartenschutzverordnung aufgenommen. Der Kormoran unterliegt damit den strengen artenschutzrechtlichen Verboten des Bundesnaturschutzgesetzes, z. B. dem Verbot des Tötens, Fangens oder Verletzens. Von diesen Verboten können die Länder nach § 26 Abs. 3 des Bundesnaturschutzgesetzes unter Berücksichtigung der EG-Vogelschutzrichtlinie im Einzelfall Ausnahmen zulassen, wenn das zur Abwehr von Schäden in der Fischereiwirtschaft erforderlich ist. Die Überprüfung, ob eine Abweichung von der Schutzbestimmung geboten ist, fällt daher allein in den Aufgabenbereich der Länder. Wenn die Länder von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, ist das der Kommission der Europäischen Gemeinschaft zur Überprüfung zu melden.Soweit der Bundesregierung bekannt ist, haben die Länder von der Ausnahmeregelung bisher keinen Gebrauch gemacht.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Carstensen.
Herr Staatssekretär, wenn der Landesnaturschutzverband sagt, die Befürchtungen der Fischerei hinsichtlich der Ausbreitung der Kormorane seien im Interesse des Artenschutzes nachrangig, sind Sie dann mit mir der Meinung, daß es sich hier um einen erheblichen Eingriff in die Eigentumsrechte der Fischer handeln könnte?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Carstensen, es kann durchaus Situationen geben, in denen wirtschaftliche Interessen — die gibt es fast regelmäßig — Naturschutzinteressen untergeordnet werden müssen. Gerade im Zusammenhang mit der Vogelschutzrichtlinie tauchen solche Situationen auf. Man muß allerdings im Einzelfall prüfen, in welchem Verhältnis die Schäden zu der Schutzbedürftigkeit stehen. Darüber — das habe ich Ihnen in der Antwort gesagt — fehlen uns bisher noch genauere und vor allen Dingen umfassende Angaben für das Bundesgebiet.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Carstensen.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß der Kormoran nicht nur Schäden verursacht hat, die in niedrigeren Fangergebnissen meßbar gewesen sind, sondern daß Schäden auch dadurch eingetreten sind, daß er in dem wohl zum Eigentum der Fischer zu rechnenden Besatz fischt?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Mir sind Einzelheiten darüber nicht bekannt. Aber ich weise noch einmal darauf hin, daß, solange die Schutzbedürftigkeit des Kormorans nicht in Frage gestellt ist, das Schutzbedürfnis sicherlich den wirtschaftlichen Interessen vorgeht. Es ist die Frage, ob bei einer entsprechenden Vermehrung die Schutzbedürftigkeit nicht eines Tages überprüft werden müßte.
Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, kann man bei dieser Frage nicht, da j a beispielsweise für den Fischreiher in anderen Gebieten ähnliches gilt, davon ausgehen, daß gerade der menschliche Eingriff in die Natur zu solchen Einwirkungen geführt hat? Ist es nicht an sich falsch, in diesem Sinne von „Schäden" zu reden? Müßte man nicht eher davon sprechen, daß die natürliche Nahrungsgrundlage in eine künstliche Grundlage umgewandelt wurde?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Klejdzinski, im Sinne der „Roten Liste", im Sinne unseres Naturschutz- und Artenschutzrechts und der EG-Vogelschutzrichtlinie ist es, bedrohte Arten zu schützen, und zwar auch dann, wenn von diesen als wirtschaftlicher Schaden empfundene Auswirkungen ausgehen.
Es bleibt aber immer zu prüfen, ob die Art tatsächlich nach wie vor bedroht ist. Wenn diese Frage nicht mehr bejaht werden kann, kann man auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten natürlich zu anderen Ergebnissen kommen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Eigen.
Herr Staatssekretär, wenn nun aber der Kormoran neu eingebürgert wird und ganze Existenzen auf dem Spiel stehen, muß man dann nicht sehr sorgfältig überlegen, inwieweit von seiten der öffentlichen Hand eine Entschädigungspflicht zugunsten der Fischer besteht, wenn man eine solche Neueinbürgerung wirklich will?
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8874 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Landes Schleswig-Holstein auf freiwilliger Basis im vergangenen Jahr Entschädigungszahlungen geleistet hat und daß zur Zeit darüber hinausgehende Entschädigungsansprüche geprüft werden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung überhaupt bekannt, daß durch den Kormoran Existenzen gefährdet sind, oder gibt es nicht nur den Hinweis, daß Schäden aufgetreten sind, die aber nicht bis an die Existenzgefährdung reichen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe sogar von lokal ganz erheblichen Schäden gesprochen. Wir beziehen uns dabei auf Kenntnisse der Landesregierung Schleswig-Holstein, die entsprechend gehandelt hat.
Es bleibt auf der anderen Seite, solange das Schutzbedürfnis im Sinne des Artenschutzes nicht in Zweifel gezogen ist, nur die Möglichkeit, von der genannten Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen. Das habe ich vorhin ausgeführt. Das ist eine Frage, die das Land zu entscheiden hat.
Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Eigen auf:
Welche Maßnahmen zur Renationalisierung der Agrarpolitik wird die Bundesregierung einleiten, nachdem die Kommission Preisvorschläge für landwirtschaftliche Marktordnungsprodukte für das Wirtschaftsjahr 1985/86 vorgeschlagen hat, die von der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Landwirtschaft als Provokation empfunden werden müssen?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, die Bundesregierung steht zur Europäischen Gemeinschaft und zu den geschlossenen Verträgen. Mit einer Renationalisierung der Agrarpolitik würde für die Bundesregierung eine Gefährdung der für uns unverzichtbaren Europäischen Gemeinschaft eintreten. Deshalb lehnt die Bundesregierung alle diesbezüglichen Ansätze ab.
Im übrigen bringt der größere gemeinsame Markt auch für unsere Agrarwirtschaft erhebliche Vorteile, was durch die Exporterfolge der deutschen Ernährungswirtschaft eindrucksvoll dokumentiert wird.
Die Preisvorschläge der EG-Kommission hält auch die Bundesregierung in wesentlichen Teilen für nicht annehmbar. Sie wird sich daher in den bevorstehenden Verhandlungen energisch für bessere Ergebnisse einsetzen. Dabei ist sie sich der Tatsache bewußt, daß es angesichts der Haushaltslage der Gemeinschaft und der Situation auf wichtigen Agrarmärkten einerseits und der schwierigen Einkommenslage gerade der deutschen Landwirtschaft andererseits darum gehen muß, einen befriedigenden Kompromiß zu erreichen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Eigen.
Herr Staatssekretär, aus meiner Frage entnehmen Sie ja auch, daß man erst einmal darüber nachdenken soll. Verstehen Sie die Sorge der deutschen Landwirtschaft, daß offensichtlich durch die Beschlüsse des Ministerrats und die Verordnung der Kommission die deutsche Landwirtschaft in eine derart miserable Situation hineinmanövriert wird, daß sich daraus bei den Bauern eine Europafeindlichkeit einstellen könnte, und daß dies außerordentlich europaschädlich sein müßte, da die Bauern die einzigen sind, die wirklich von Europa betroffen sind?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, ich glaube nicht, daß die Bauern die einzigen sind, die wirklich von der Europäischen Gemeinschaft betroffen sind. Ich denke, das sind wir in mehrfacher Hinsicht alle. Aber ich stimme Ihnen zu, daß es höchst bedauerlich wäre, wenn in der Landwirtschaft eine Antistimmung gegen die Gemeinschaft aufkäme. Wir bemühen uns, zwei Ziele mit unserer Agrarpolitik zu verfolgen, nämlich die Märkte, die in der Gemeinschaft in Unordnung gekommen sind, zu ordnen und die landwirtschaftlichen Einkommen zu sichern, die dieser Sicherung dringend bedürfen.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Eigen.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung bei den Verhandlungen in Brüssel sicherstellen, daß die Landwirtschaft davon ausgehen kann, daß der Trend zur schlechteren Einkommenssituation der deutschen Landwirtschaft auf jeden Fall erst einmal gebremst werden kann und daß die Kommission davon überzeugt wird, daß auch die deutsche Landwirtschaft ein Wirtschaftszweig in der Europäischen Gemeinschaft ist, der florieren muß, wenn die Europäische Gemeinschaft insgesamt fortbestehen soll?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, ich habe die Vorschläge der EG-Kommission für die Preisrunde 1985 als aus der Sicht der Bundesregierung in wesentlichen Teilen nicht annehmbar bezeichnet. Wir werden uns bei den bevorstehenden Verhandlungen bemühen, in der Gemeinschaft einen Konsens zu erreichen, der sicherstellt, daß die Einkommen der Landwirte nicht unter den Ergebnissen der Preisrunde 1985 leiden werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie meiner Auffassung zu, daß die vom Fragesteller implizierte Tendenz, noch mehr Marktordnung, sprich noch mehr Planwirtschaft, vorzunehmen, im Grunde genommen den Markt völlig ausschließt und damit im Prinzip den Grundsatz dieser Bundesregierung, eine soziale Marktwirtschaft zuzulassen, wirklich völlig ins Gegenteil verkehrt?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8875
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Klejdzinski, ich kann die von Ihnen unterstellte Tendenz in der Fragestellung nicht erkennen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stockhausen.
Fällt für die Bundesregierung unter das Verständnis sozialer Marktwirtschaft auch, die Interessen der deutschen Landwirtschaft innerhalb der EG zu vertreten und zu gewährleisten?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Ja.
Herr Abgeordneter Jungmann, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir ein Jahr nennen, in dem die Einkommensverluste der Landwirtschaft höher als 1984, also höher als 18 % waren?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jungmann, ich habe jetzt keine Statistiken dabei. Es hat immer wieder Schwankungen gegeben, die vor allem witterungsbedingt sind, wie Sie wissen. Wir hatten in dem Wirtschaftsjahr, auf das Sie jetzt anspielen, eine ungünstige Getreideernte, und wir hatten ungünstige Entwicklungen bei den Fleischpreisen. Das waren die beiden Hauptursachen. Sie wissen, daß die Einkommensentwicklung in dem von Ihnen gemeinten Jahr nicht durch politische Entscheidungen der Gemeinschaft, sondern durch die eben von mir genannten Faktoren so negativ verlaufen ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten Bredehorn.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Preisvorschläge der Kommission als nicht annehmbar bezeichnet. Sind auch Sie der Ansicht des Herrn Abgeordneten Eigen? Empfindet die Bundesregierung diese Preisvorschläge als Provokation?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bredehorn, ich habe gesagt, daß wir die Preisvorschläge der EG-Kommission in wesentlichen Teilen für nicht annehmbar halten. Wir sind uns aber gleichzeitig darüber im klaren, daß bei den bevorstehenden Verhandlungen in Brüssel ein Kompromiß gefunden werden muß, ein Kompromiß allerdings, der die Interessen der deutschen Landwirtschaft wahrt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Urbaniak.
Herr Staatssekretär, wenn Sie die Einkünfte in der Landwirtschaft so sichern wollen wie im letzten Jahr, denken Sie da an das Mittel weiterer Subventionen, die ja heute morgen von Ihren Sprechern hier abgelehnt worden sind?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat die notwendigen Beschlüsse auf europäischer Ebene, die das Ziel verfolgt haben, die Märkte wieder in Ordnung zu bringen, insbesondere im Bereich der Milchmarktordnung und im Bereich des Währungsausgleichs, unter der klaren Voraussetzung mitgetragen, daß dies nicht bedeuten kann, der deutschen Landwirtschaft ein Sonderopfer zuzumuten.
Deshalb haben wir uns bemüht, mit den Möglichkeiten unserer nationalen Agrarpolitik die Landwirtschaft auf anderen Gebieten zu entlasten und für die durch die europäischen Beschlüsse eingetretenen Verluste zu entschädigen. Ich glaube, daß dieser Weg gegebenenfalls in vergleichbaren Situationen auch in Zukunft beschritten werden müßte, denn wir haben zwei Ziele: die Märkte zu ordnen und die Einkommen zu sichern.
Wir sind am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Ich danke dem Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Höpfinger zur Verfügung.
Ich rufe Frage 18 des Abgeordneten Reimann auf:
Hält die Bundesregierung trotz der Proteste des DGB an den geplanten Veränderungen des Betriebsverfassungsgesetzes fest angesichts der von Bundeskanzler Kohl abgegebenen Garantie der Mitbestimmung?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Reimann, ich gehe davon aus, daß Ihre beiden Fragen den Gesetzentwurf zum Minderheitenschutz in den Betrieben und Verwaltungen betreffen, und bitte deshalb um Ihre Zustimmung, Ihre beiden Fragen gemeinsam beantworten zu dürfen.
Herr Abgeordneter Reimann, sind Sie einverstanden? — Dann rufe ich zusätzlich Frage 19 des Abgeordneten Reimann auf:Ist die Bundesregierung ggf. bereit, neben den geplanten negativen Veränderungen auch die Erweiterung von Mitbestimmungsregelungen die neuen Technologien betreffend vorzunehmen?Bitte schön.Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Der Gesetzentwurf zum Minderheitenschutz ist nicht, wie Sie meinen, Herr Kollege, ein Gesetzentwurf der Bundesregierung; er ist vielmehr von Arbeitsgruppen der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und der FDP erarbeitet worden. Soweit mir bekannt ist, haben die Fraktionen noch nicht endgültig darüber beschlossen.
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8876 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Parl. Staatssekretär HöpfingerMir ist weiterhin bekannt, daß die Bundestagsfraktion der CDU/CSU beschlossen hat, eine Kornmission einzusetzen, die Vorschläge zur Verbesserung der Beteiligungsrechte des Betriebsrates bei neuen Techniken noch in dieser Legislaturperiode vorlegen soll.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reimann.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen zur ersten Frage nur vorn Minderheitenschutz. Nun beinhaltet diese Frage, die ich gestellt habe, aber mehr. Es geht ja darum, ob die Bundesregierung an all den geplanten Veränderungen des Betriebsverfassungsrechts, die jetzt öffentlich diskutiert werden, festhält. Ich bitte also, dazu etwas zu sagen.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reimann, ich darf noch einmal darauf verweisen, daß es sich hier um eine Initiative der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP handelt. Insofern möchte ich jetzt auf die Frage, ob Minderheitenschutz oder nicht Minderheitenschutz, nicht näher eingehen.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Reimann.
Das heißt, die Bundesregierung hat zu dieser öffentlichen Diskussion noch keine Meinung?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sehr wohl auch in diesen Fragen eine Meinung, aber ich bitte Sie, zu sehen, daß es sich hier um Initiativen von Koalitionsfraktionen handelt.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Reimann.
Herr Staatssekretär, dann zu meiner zweiten Frage, die Sie mit beantwortet haben: Ist denn die Bundesregierung überhaupt bereit, im Rahmen der betriebsverfassungsrechtlichen Diskussion neue Erkenntnisse aufzunehmen und Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer einzubauen und auszubauen, insbesondere im Hinblick auf das Einführen neuer Technologien, das Sie eben bereits genannt hatten?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reimann, hier wird auch das Ergebnis der Arbeit der Kommission eine Rolle spielen. Wie Sie wissen, hat die CDU/CSU eine Kommission eingesetzt, die eine Reihe von Fragen in dieser Hinsicht diskutiert und berät. Wenn diese Vorschläge vorliegen, wird sicher das Parlament von seiten der Koalitionsfraktionen damit befaßt werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Reimann.
Das heißt also, Herr Staatssekretär, daß sich die Bundesregierung zur Zeit auch dazu noch nicht äußern kann, weil sie keine Meinung hat?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen vorhin schon gesagt, daß die Bundesregierung zu diesen Fragen sehr wohl eine Meinung hat. Sie können der Bundesregierung nicht unterstellen, sie habe keine Meinung. Ich möchte aber sehr klar die Initiativen der Koalitionsfraktionen hervorheben, und ich glaube, das werden Sie als Parlamentarier sehr wohl zu unterscheiden wissen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Urbaniak.
Herr Staatssekretär, wenn die Bundesregierung schon einmal eine Meinung hat, können Sie uns dann verraten, ob sie mit dieser Meinung in Übereinstimmung mit den Koalitionsfraktionen steht, die bewährte Betriebsverfassung, wie wir sie über zwei Jahrzehnte praktizieren, in der Weise anzugehen, daß radikalen Kräften in den Betrieben Tür und Tor geöffnet wird?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, was hier die Minderheitenfrage anbelangt, wissen Sie sehr wohl auch aus eigener Erfahrung, daß diese Diskussion seit Bestehen des Betriebsverfassungsgesetzes nie aufgehört hat. Es geht hier nicht an, auf radikale Kräfte hinzuweisen. Es geht darum, Minderheitenrechte in den Betrieben zu sichern.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Urbaniak.
Herr Staatssekretär, da Sie sagen, die Bundesregierung habe eine Meinung zu dem, was hier auf der rechten Seite des Hauses vorbereitet wird: Können Sie uns sagen, wie denn die Meinung der Bundesregierung ist, ob sie voll mit dem übereinstimmt, was da vorbereitet wird?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, ich bitte Sie, sich an die Regierungserklärung von Herrn Bundeskanzler Dr. Kohl zu erinnern. Da ist an und für sich zunächst eine solche Initiative seitens der Bundesregierung nicht vorgesehen gewesen. Wenn es aber die Koalitionsfraktionen für erforderlich halten — auf Grund der gegebenen Tatsachen, auf Grund der jahrelangen Erfahrungen —, dann wird den Koalitionsfraktionen natürlich nicht abgesprochen werden können, eine solche Initiative in die Wege zu leiten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, können Sie uns denn hier zusichern, daß der Bundeskanzler seinen Einfluß gegenüber der Regierungskoalition in dem Sinne geltend machen wird, wie er es dem Vorsitzenden des DGB versprochen hat, als er versprochen hat, sich für die Mitbestimmung einzusetzen, und als er eine Garantie für das bestehende Mitbestimmungsgesetz gegeben hat?Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, diese Frage wäre an und für sich an jemand anderen zu richten. Ich habe auf die Frage geantwortet,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8877
Parl. Staatssekretär Höpfingerwie es mit den Minderheitenrechten vor allen Dingen im Zusammenhang mit dem Betriebsverfassungsgesetz steht. Hier möchte ich noch einmal hervorheben: Es handelt sich um eine Initiative der Koalitionsfraktionen.
Herr Jungmann, wollen Sie eine weitere Zusatzfrage stellen? — Sie könnten eine weitere stellen.
Ich muß die anderen Kollegen darauf aufmerksam machen, daß ich jetzt Schluß mit der Rednerliste mache; denn sonst bestimmen wir mit dieser einen Frage die ganze Fragestunde. Ich habe hier noch sieben Meldungen.
Herr Jungmann, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie mir in der Auffassung zustimmen, daß in den Fragen des Kollegen Reimann nach den von Ihnen hier immer wieder in den Mittelpunkt gestellten Minderheitenrechten gar nicht gefragt ist, und würden Sie in diese Antwort die Aussagen des Bundeswirtschaftsministers einbeziehen, daß er das Betriebsverfassungsgesetz gerne in der Richtung ändern möchte, daß in Zukunft nicht organisierte Arbeitnehmer an den Urabstimmungen teilnehmen, und können Sie sagen, ob das Auffassung der gesamten Bundesregierung ist?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, auf Ihre erste Frage darf ich Ihnen sagen, daß die Frage des Kollegen Reimann sehr wohl zu einem Gesetzentwurf zum Minderheitenschutz Stellung nimmt. Auf diese Frage habe ich geantwortet. Daß es in dieser Frage unterschiedliche Meinungen gibt, ist durchaus möglich. Aber die Initiative der Koalitionsfraktionen wird deshalb nicht aus der Welt geschafft. Diese Initiative ist vorhanden. Wie ich Ihnen gesagt habe, hat die CDU/CSU-Fraktion eine Kommission eingesetzt, die sich eingehend mit diesen Fragen befaßt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Lutz.
Herr Staatssekretär, sieht die Bundesregierung die Überlegungen der Koalitionsfraktionen mit freudiger Erwartung, oder sieht sie sie mit Sorge, und fürchtet sie nicht, daß dadurch der Bundeskanzler in Gefahr geraten könnte, seine gegebenen Versprechen nicht einlösen zu können?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Was die Versprechungen seitens des Herrn Bundeskanzlers anbelangt, Herr Kollege Lutz, steht hier die Aussage in der Regierungserklärung. Wenn hier die Frage des Betriebsverfassungsgesetzes mit angesprochen wird, so deshalb, weil die Regelung zum Sozialplan im Konkurs in dem Entwurf des Beschäftigungsförderungsgesetzes auch dieses Gesetz tangiert. Aber das tangiert die Aussage des Herrn Bundeskanzlers bezüglich des Betriebsverfassungsgesetzes nicht.
Was die Initiative der Koalition anbelangt: Das bleibt Initiative der Koalitionsfraktionen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, halten Sie es bei der Wichtigkeit dieser Frage für 25 Millionen Arbeitnehmer in diesem Land für einen guten parlamentarischen Brauch, auf Fragen von Abgeordneten an die Regierung so zu reagieren, daß Sie sagen: Diese Bundesregierung bildet sich sehr wohl eine Meinung; daß Sie gleichzeitig nicht bereit sind, die Meinung der Bundesregierung kundzutun, und zusätzlich als Hilfe darauf verweisen, daß die Koalitionsfraktionen eine Initiative diesbezüglich eingeleitet haben?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, jetzt haben Sie eine Frage direkt an mich gerichtet. Ich habe bei meiner bisherigen Beantwortung streng darauf geachtet, auseinanderzuhalten, was hier Initiativen der Bundesregierung und was Initiativen der Koalitionsfraktionen sind. Wenn Sie mich persönlich fragen, sage ich Ihnen aus eigener Erfahrung: Ich halte die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes in diesem Punkt schon seit Jahren für überfällig und notwendig.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, da Sie jetzt einen Unterschied zwischen Ihrer persönlichen und der Meinung der Bundesregierung, die Sie hier vertreten, gemacht haben, ich aber davon ausgehe, daß Sie als Bundesregierung antworten: Kann ich Ihre Antwort auf meine Frage von vorhin so verstehen, daß diese Antwort mit der Meinung der Bundesregierung bezüglich dieses Gesamtkomplexes identisch ist?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie haben mich vorhin nach den Initiativen der Bundesregierung gefragt. Ich habe klar hervorgehoben: Was die Arbeit anlangt, so handelt es sich bei den Bestrebungen, das Betriebsverfassungsgesetz zu ändern, um eine Initiative der Koalitionsfraktionen. Dann haben Sie mich gefragt, was ich persönlich dazu meine. Dazu habe ich Ihnen meine Meinung gesagt. Davon brauche ich keine Abstriche zu machen, weil ich das aus eigener Erfahrung weiß, weil ich es als Betriebsrat in einem Betrieb noch miterlebt habe.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Rossmanith.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß das derzeitige Betriebsverfassungsgesetz einen Minderheitenschutz, wie er erforderlich wäre, um auch kleinere
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8878 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
RossmanithGewerkschaften — wie DAG oder Christlicher Gewerkschaftsbund — entsprechend den demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen zu berücksichtigen, nicht gewährt?Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Rossmanith, Sie weisen auf die Schwachstellen des jetzigen Betriebsverfassungsgesetzes hin. Wie ich die Arbeit der Koalitionsfraktionen und vor allem dieser Kommission sehe, wird angestrebt, das Verhältniswahlrecht einzuführen. Im Betriebsverfassungsgesetz haben wir ein Mehrheitswahlrecht, bei dem Minderheiten nie zum Zuge kommen können.
Jetzt Herr Abgeordneter Sperling zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist der Eindruck, den ich habe, richtig, daß die Bundesregierung sehr viel Wert darauf legt, daß es sich um eine Initiative der Koalitionsfraktionen handelt, die sie aber gegenüber den Gewerkschaften für eine etwas schmutzige Sache hält, so daß sich die Bundesregierung ungern die Hände daran schmutzig macht, aber das Geschäft gern den Koalitionsfraktionen überläßt?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung wird zunächst einmal die Arbeit der Kommission abwarten und sich dann die Arbeiten ansehen. Ich bin überzeugt, daß man dann zu einer einheitlichen Lösung kommt, aber einer Lösung, deren Initiative von den Koalitionsfraktionen ausgeht.
Noch eine Zusatzfrage des Abgeordneten Sperling.
Da Sie immer noch Wert darauf legen, daß es sich um die Initiative der Koalitionsfraktionen handelt und niemand denen das wegnehmen will, wäre es schließlich doch interessant, zu erfahren, ob die Bundesregierung denn wirklich so rundherum glücklich und zufrieden damit ist, daß diese Initiative ergriffen wird.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie werden den Fraktionen des Parlaments wohl nicht absprechen wollen, daß sie neben all den Initiativen, die von der Bundesregierung ausgehen, auch eigene Initiativen entwickeln.
Ich stelle noch einmal fest, daß es sich hier um eine Initiative der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP handelt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dreßler.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß die Arbeitnehmergruppe der CDU/CSUBundestagsfraktion, vertreten durch ihren Vorsitzenden, den Kollegen Müller, bezogen auf ihre Absichten, die hier in Rede stehen, im Jahre 1984 das
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung — konkret die Leitung — um eine schriftliche Stellungnahme zu ihren Vorschlägen gebeten hat?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Daß eine solche Kommission, Herr Kollege Dreßler natürlich auch Verbindungen und Kontakte zum Ministerium aufnimmt, ist nicht ausgeschlossen. Er ist meines Erachtens auch Ausdruck der Zusammenarbeit und der Hilfestellung.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dreßler.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, dem Hause mitzuteilen, welche Haltung das Bundesarbeitsministerium, bezogen auf die hier in Rede stehende Initiative, schriftlich zum Ausdruck gebracht hat?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Das Bundesministerium wird hier ebenfalls die Ergebnisse der Kommission abwarten, die die Fraktion eingesetzt hat.
Augenblick. — Herr Kollege Dreßler, wollen Sie eine zweite Zusatzfrage stellen?
Das war die zweite, aber er antwortet nicht.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Herr Staatssekretär, da Sie vorhin so stark auf den Minderheitenschutz abgehoben haben und die Frage des Kollegen Urbaniak betreffend Öffnung der Betriebsräte für radikale Kräfte verneint haben: Können Sie ausschließen, daß durch diesen vorgesehenen Minderheitenschutz nicht doch radikale Kräfte in Betriebsräte gewählt werden?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, ich möchte Ihnen sagen, daß radikale Kräfte auch bis jetzt schon die Möglichkeit hatten, in Betrieben da und dort zur Geltung zu kommen. Bei der hier in Aussicht genommenen Änderung geht es meines Erachtens um kleinere Gruppen, die in den Betrieben sachgerecht mitgearbeitet haben und auch gegenwärtig noch mitarbeiten, deren Mitarbeit aber durch ein Verhältniswahlrecht zur Geltung kommen soll, z. B. bei der Wahl selbst, bei der Aufstellung von Listen und bei der Mitarbeit im Betriebsrat, auch in dessen einzelnen Ausschüssen. Das ist die Zielsetzung.
Letzte Zusatzfrage zu diesem Komplex, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, können Sie mir dann erklären, wieso der BDI und BDA hier beispielsweise eine ganz andere Haltung einnehmen, indem sie nämlich die Befürchtungen — im
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8879
KirschnerGegensatz zu der von Ihnen geäußerten Meinung — genauso sehen, wie ich sie geäußert habe?Höpfinger, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, wenn Sie hier Organisationen zitieren, dann möchte ich Ihnen sagen: Es vergeht keine Woche, in der nicht Anrufe aus den Betrieben, Aufforderungen und Bitten von Kollegen, von christlich-sozialen und christlich-demokratischen Kollegen kommen, diese Initiative voranzutreiben. Und diese Bitten richten sich eben an die Koalitionsfraktionen, an die CDU/CSU, an die von mir vorhin erwähnte Kommission.
Wir kommen zur Frage 20 des Abgeordneten Kirschner:
Sind Meldungen zutreffend, daß in der Woche ab 21. Januar 1985 im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die Spendensammlung für die Hungernden in Afrika durch den beamteten Staatssekretär untersagt wurde?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, Pressemeldungen, wonach eine Spendensammlung für Hungernde in Afrika im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung durch den beamteten Staatssekretär untersagt worden sei, sind unzutreffend. Die Sammlung ist auch nicht, wie in einigen Zeitungen berichtet wurde, von dem für den inneren Dienst zuständigen Referatsleiter verboten worden. Dieser Beamte hat den verantwortlichen Verbandsvertreter, dessen Organisation am 23. Januar 1985 ohne Kenntnis der Verwaltung mit einer Spendensammlung für Äthiopien in allen Diensträumen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung begonnen hatte, lediglich auf die einschlägigen Richtlinien der Bundesregierung hingewiesen.
Diese Verwaltungsvorschriften, die das Bundeskabinett 1966 erlassen und 1972 ausdrücklich bestätigt hat, verbieten Sammlungen — auch karitativer Art — in den Dienstgebäuden grundsätzlich. Zu dem Hinweis auf diese Richtlinien sah sich der zuständige Beamte veranlaßt, weil bei ihm wegen der nicht genehmigten Spendenaktion Beschwerden geführt worden waren. In dem Gespräch mit dem Verbandsvertreter machte er auf die Möglichkeit aufmerksam, die Sammlung durch die Leitung des Ministeriums genehmigen zu lassen. Ein entsprechender Antrag ist aber nicht gestellt worden. Es kann also nicht die Rede davon sein, daß die Sammelaktion verhindert worden ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Herr Staatssekretär, wenn sie auf die entsprechenden restriktiven Richtlinien hinweisen: Können Sie mir erklären, wieso dann im Kanzleramt im Kabinett, also in den Diensträumen, die ja diesen Richtlinien wohl ebenfalls unterliegen, am selben Tag eine Sammlung durchgeführt wurde, können Sie erklären, wer dies dort genehmigt hat, und wäre es nicht sinnvoll gewesen, eine solche Genehmigung für alle Diensträume der Bundesregierung generell zu erteilen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, das ist eine andere Frage. Aber hinsichtlich dessen, was Sie hier in bezug auf das Bundesarbeitsministerium ansprechen, wäre es vernünftig gewesen, wenn der Organisator dieser Sammlung ans Telefon gegangen wäre, angerufen und um Genehmigung ersucht hätte. Dann wäre es zu einer solchen Sache wahrscheinlich nicht gekommen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dreßler.
Herr Staatssekretär, da wir im deutschen Fernsehen gesehen haben, daß sich der Bundeskanzler selbst in den Diensträumen, etwa im Kanzleramt, an der Sammlung mit beteiligt hat: Sind Sie bereit, zuzugeben, daß das Verhalten des beamteten Staatssekretärs in dieser konkreten Frage nicht in Ordnung war?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, der beamtete Staatssekretär wurde in dieser Frage nicht gefragt; er hätte einen Antrag des Organisators haben sollen. Das hätte sicher durch Anruf erfolgen können. Das wäre sicher besser gewesen, als nachher an die Öffentlichkeit zu gehen, und sicher wäre durch einen Anruf die ganze Angelegenheit erledigt gewesen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Herr Staatssekretär, wenn Sie auf diesen Erlaß verweisen: Gibt es Initiativen des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, beim Bundesminister des Innern vorstellig zu werden, damit dieser Erlaß bei Sammlungen mit dieser Zielrichtung, also zur Bekämpfung des Hungers in Afrika ad acta gelegt wird?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, ich bin überzeugt, daß diese Angelegenheit im Hause besprochen werden wird und daß man zu einer sinnvollen und vernünftigen Lösung kommt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, wäre die Sammlung genehmigt worden, wenn sich ein Fernsehteam angesagt hätte, um den Arbeitsminister persönlich beim Eintüten zu senden bzw. damit dem Volk dieses in ähnlicher Weise, wie beim Bundeskanzler geschehen, vermittelt worden wäre?Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, da wäre überhaupt kein Fernsehteam notwendig gewesen. Ich verweise auf meine vorherige Antwort. Ein Telefonanruf hätte genügt, um die Angelegenheit in Ordnung zu bringen.Man kann nicht an Richtlinien vorbeigehen. Es wird in diesen Richtlinien ganz deutlich gesagt, daß selbst karitative Sammlungen nicht ohne Genehmigung durchgeführt werden können. Irgendwie ist es schon verständlich, daß nicht jeder durchs Haus ge-
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Parl. Staatssekretär Höfpingerhen kann, heute dieser und morgen jener, sondern daß das auch eines geordneten Weges bedarf.
Ich sage noch einmal: Hier geht es nicht um Fernsehteams, sondern hier geht es um die Benutzung eines Telefonapparats. Wenn sich der Veranstalter eine Minute Zeit genommen hätte und den beamteten Staatssekretär angerufen hätte, dann, davon bin ich überzeugt, wäre die Sammlung erlaubterweise weitergegangen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Sperling.
Herr Staatssekretär, wäre es nicht bürokratiefreier gegangen, wenn der Staatssekretär zum Telefon gegriffen hätte und antragslos genehmigt hätte?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Da kann ich nur sagen: Der hat zu diesem Zeitpunkt von der Angelegenheit noch gar nichts gewußt, sondern nachher erst erfahren.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Auffassung, daß der Hunger in Afrika nicht mit Ihrem Bürokratieverständnis zu bekämpfen ist,
sondern mit Spontanität und Hilfsbereitschaft?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Wenn Sie auf die Hilfsbereitschaft ansprechen, dann möchte ich sagen: Die Diskussion geht nicht über die Hilfsbereitschaft von Menschen für Notleidende in anderen Erdteilen. Das ist nicht die Frage. Die Frage ist, daß im Ministerium eine Sammlung durchgeführt wurde, ohne auch nur die einfachste Mitteilung an das Haus zu geben. Hier bitte ich doch um Verständnis, wenn es dann Beschwerden gegen eine solche Sammlung gibt. Wenn nicht ein Beschwerdeführer aufgetreten wäre, dann wäre die ganze Angelegenheit möglicherweise überhaupt nicht ins Gespräch gekommen. Aber es hat sich jemand darüber beschwert, daß gesammelt wird. Ich bitte doch wirklich darum, jetzt nicht dem Hause und auch nicht dem beamteten Staatssekretär zu unterstellen, er habe eine solche Sammlung untersagt. Das hätte er gar nicht tun können, weil er davon nichts wußte und davon auch nicht unterrichtet war.
Letzte Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Weyel.
Herr Staatssekretär, jetzt ist mir eine Frage nicht ganz klar: Wie kann der beamtete Staatssekretär etwas untersagen, von dem er gar nichts weiß?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wenn Sie den ganzen Vorgang noch einmal betrachten und die Beteiligten sehen, dann werden Sie merken: Ehe der beamtete Staatssekretär damit befaßt wurde, waren bereits andere Entscheidungen getroffen. Der Organisator der Sammlung ist sogar gebeten worden, er möge eine Genehmigung einholen. Das ist nicht geschehen. Der Anruf ist nicht gekommen.
Jetzt kommt die Frage 21 des Abgeordneten Kirschner:
Wie war die Schichtung der zeitlichen Dauer der Arbeitslosigkeit im September 1984 (absolut und prozentual)?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, die Schichtung der Zahl der Arbeitslosen nach der zeitlichen Dauer der Arbeitslosigkeit sah im September 1984, absolut und prozentual wie folgt aus — September 1984 deshalb, weil das der Erhebungsmonat für diese Stichzahlen ist —: Unter
1 Monat: 200 200 — 9,3 % —, 1 bis unter 3 Monate: 422 500 — 19,7 % —, 3 bis unter 6 Monate: 338 400 —15,8 % —, ein halbes Jahr bis unter 1 Jahr: 480 200 —22,4 % —, 1 bis unter 2 Jahren: 397 700 — 18,6 % —,
2 Jahre und länger: 304 000 — 14,2 %.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Herr Staatssekretär, nachdem wir aus dem Bundeswirtschaftsministerium, ich weiß nicht, wievielmal schon, vom Silberstreif am Horizont unterrichtet worden sind: Können Sie mir sagen, wie sich diese Zahlen absolut und prozentual gegenüber dem Vorjahr verändert haben?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, gegenüber dem Vorjahr, also September 1983 haben sich folgende Veränderungen ergeben: unter 1 Monat: plus 3 100, 1 bis unter 3 Monate: minus 3 100, 3 bis unter 6 Monate: minus 18 000, ein halbes bis unter 1 Jahr: minus 66 000, l bis unter 2 Jahre: minus 12 600, 2 Jahre und länger: plus 105 600.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dreßler.
Herr Staatssekretär, aus Ihren Zahlen geht hervor, daß 700 100 Menschen länger als ein Jahr arbeitslos sind und der Zuwachs von Herbst 1983 bis Herbst 1984 105 600 betragen hat: Ist die Bundesregierung unter diesen gegebenen Umständen nicht in der Lage, zu begreifen, daß schlicht Handlungsbedarf zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit besteht?
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Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, auf die Frage nach dem Handlungsbedarf gegen die Arbeitslosigkeit darf ich Sie darauf verweisen, welche Gesetzentwürfe zur Zeit im Parlament beraten werden. Ob es nun der Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes ist oder ob es die Novellierung des Schwerbehindertengesetzes ist, schon diese beiden Gesetze sind im Hinblick auf die Arbeitslosigkeit zu sehen.Ich bitte Sie, ein Zweites in Ihre Überlegungen einzubeziehen: daß die Bundesregierung auch hinsichtlich der Langzeitarbeitslosen gehandelt hat. Langzeitarbeitslose ab dem 49. Lebensjahr sollen länger Arbeitslosengeld bekommen, 18 Monate. Sie sehen also, Herr Kollege Dreßler, es wurde bereits gehandelt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, können Sie mir vielleicht sagen, wieviel Dauerarbeitslosigkeit, also Arbeitslosigkeit von mehr als zwei Jahren Dauer, die Bundesregierung durch die von Ihnen erwähnten Gesetzesinitiativen glaubt abbauen zu können?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die beiden Gesetzesinitiativen, die ich Ihnen genannt habe, sind solche, die allein aus unserem Hause stammen. Sie selber wissen recht gut: Arbeitslosigkeit muß durch Belebung der Wirtschaft abgebaut werden, aber auch dadurch — darauf möchte ich noch einmal verweisen —, daß nicht Überstunden im Übermaß gefahren werden. Vielmehr müssen mit Blick auf die Menschen, die keinen Arbeitsplatz haben, Einstellungen erfolgen. Die wirtschaftliche Seite darf hier nicht unterschlagen werden.
Wenn Sie mich fragen, was durch diese Gesetzesinitiativen an Arbeitslosigkeit abgebaut wird, will ich Ihnen sagen: Es gibt keine Gesetzesvorlage, mit der man auf einmal die Arbeitslosigkeit abbauen könnte, aber es gibt viele Initiativen, die zum Abbau der Arbeitslosigkeit führen können. Diese beiden Initiativen werden sicher ein Beitrag dazu sein.
Meine Damen und Herren, ich bitte, sich streng an die Fragen zu halten; denn wir haben heute eine Debatte über diese Probleme, die gleich weitergehen wird.
Herr Abgeordneter Kirschner, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Sie gerade auf die zunehmende Dauerarbeitslosigkeit hinweisen und in diesem Zusammenhang auf die hohe Zahl der geleisteten Überstunden, im vergangenen Jahr über 1 Milliarde, verweisen: Was tut die Bundesregierung konkret, um endlich per Gesetz das nachzuvollziehen, was in weiten Bereichen durch Tarifvertrag geregelt ist, denn die Betriebsräte sind nach wie vor auf Grund der Gesetzeslage nicht imstande, auf eine Einschränkung der Überstunden hinzuwirken, und das von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzesvorhaben wird diesem Ziel in keinster Weise gerecht?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, letzteres kann ich nicht teilen. Ich bin der Meinung, daß zunächst einmal ein Aufruf an Betriebsräte und Betriebsleitungen erfolgen sollte, die Frage der Überstunden in den Betrieben mit dem Blick auf die Arbeitslosigkeit zu diskutieren.
Ich rufe Frage 22 des Abgeordneten Dr. Müller auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die durch Sportfunktionäre verursachten, bewußt herbeigeführten Verletzungen und Invalidität, von allen Versicherten getragen werden müssen, und, wenn ja, welche Folgerungen zieht sie daraus?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, ich kann mir nicht vorstellen, daß es Fälle gibt, bei denen durch Sportfunktionäre bewußt Verletzungen und Invalidität von Sportlern herbeigeführt wurden. Sollte dies dennoch vorkommen, so gilt: Die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt die Kosten der medizinischen Behandlung ohne Rücksicht darauf, ob der Versicherte oder ein Dritter die Krankheit herbeigeführt hat oder nicht. Die Krankenkasse kann allerdings ihren Mitgliedern das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer einer Krankheit versagen, die sie sich vorsätzlich zugezogen haben.
In der gesetzlichen Rentenversicherung erhält der Versicherte, der sich absichtlich berufs- oder erwerbsunfähig macht, keine entsprechende Rente. Wird eine Verletzung oder Invalidität durch das Verschulden eines Dritten herbeigeführt, so geht ein bestehender Schadenersatzanspruch des Versicherten gegen den Schädiger kraft Gesetzes auf den Versicherungsträger über.
Die Bunderegierung ist der Auffassung, daß diese Regelungen ausreichen, um die Versichertengemeinschaft vor Fremdbelastungen zu schützen. Sie beabsichtigt insbesondere nicht, die Leistungspflicht der Versicherungsträger bei Krankheiten und bei Minderung der Erwerbsfähigkeit, die durch den Versicherten oder Dritte verschuldet worden sind, über das geltende Recht hinaus einzuschränken.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Müller.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, sind sie, da es sich bei dieser Frage um die Anwendung des sogenannten Siitonen-Schrittes im Langlauf handelt, der nach Ansicht der Sportmediziner mit absoluter Sicherheit zu gefährlichen Schädigungen einschließlich Invalidität führt, der Meinung, daß dies ohne weiteres so wie bisher getragen werden kann?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Diese Frage wird sicher eingehenden Besprechungen unterzogen.
Eine weitere Zusatzfrage von Dr. Müller.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, wie beurteilt die Bundesregierung ihre Fürsorgepflicht
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8882 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Dr. Müllergegenüber Angehörigen von Bundesdiensten wie Bundesgrenzschutz und Bundeswehr, da ja die Spitzensportler, die diesen Schritt anwenden, fast ausschließlich, in beiden Bereichen tätig sind? Kommt es dort zu einer Frühpensionierungswelle?Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Auf letztere Frage, Herr Kollege, kann ich Ihnen jetzt keine Antwort geben. Sie haben auch sehr deutlich gesagt, welche Bereiche hier angesprochen sind. Ich würde doch bitten, daß ich die Frage weitergeben darf und daß Ihnen von dort dann schriftlich Antwort gegeben wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Tillmann.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung gegebenenfalls bereit, einen sportmedizinischen Untersuchungsauftrag zu vergeben, um klären zu lassen, ob der Siitonen-Schritt gesundheitsgefährdend ist?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: So eine Anregung kann aufgegriffen werden. Ob man einen Forschungsauftrag erteilen kann, hängt natürlich auch von den finanziellen Mitteln ab. Aber die Anregung nehme ich gerne auf.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Würzbach zur Verfügung.
Ich rufe Frage 23 des Abgeordneten Krizsan auf:
Wie hoch sind die Belastungen des Bundeshaushaltes durch die vom Bundesrechnungshof bei den Dienstzeitberechnungen der Militäreinheiten bemängelte Anrechnung von z. B. Polterabenden, Hochzeiten, Herrenabenden, Eisstockschießen mit Damen etc., um so die Spitzendienstzulage kassieren zu können, und hält die Bundesregierung an der Definition fest: „Grundsätzlich ist ... nach dem Verständnis der Truppe alles Dienst, was nicht ausdrücklich als Freizeit bezeichnet wird"?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Herr Kollege, die Prüfungsmitteilungen des Bundesrechnungshofes — bei uns erst Ende Dezember letzten Jahres eingegangen — werden bei uns im Augenblick auch bei der Truppe ausgewertet. Sichergestellt ist, daß erkannte Mängel und Fehler abgestellt werden. Aber völlig unabhängig von der Frage, ob einzelne Einheiten, wie der Bundesrechnungshof beanstandet, die Vergütung zu Unrecht erhalten haben, darf nicht übersehen werden — das möchte ich hier sehr deutlich machen —, daß sich auch diese Einheiten in einem Belastungsbereich von knapp 56 Wochenstunden, Herr Kollege, im Jahresdurchschnitt bewegen und die Mehrzahl der vergütungsberechtigten Heereseinheiten sogar darüber hinaus Belastungen von über 61 Stunden unterliegt. Dafür wird eine geringe Vergütung, besser: eine geringe Anerkennung gezahlt, die nicht als Ausgleich bezeichnet werden kann.
Der Verteidigungsminister teilt nicht die von Ihnen in der Frage genannte Auffassung zur Berechnung der Dienstzeit in den Streitkräften.
Zusatzfrage des Abgeordneten Krizsan.
Herr Würzbach, wäre es Ihrer Meinung nach nicht sehr schnell möglich, die hohe Belastung abzubauen, wenn man in Zukunft darauf verzichtete, Dinge wie Polterabende, Hochzeiten, Herrenabende und Eisstockschießen mit Damen in die Dienstzeit einzubeziehen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es gibt über die Dinge, die als Dienst einbezogen werden dürfen und solche, bei denen wünschenswert ist, daß sie durchgeführt werden, aber nicht Dienst sind, eine Regelung aus dem Jahre 1981, an der sich nichts geändert hat, in der dies sehr klar geregelt ist. Deutlich will ich hervorheben, daß es eine Vielzahl von Veranstaltungen gibt, die der einzelne Kommandeur — da gibt es für den Kommandeur einen Spielraum, den wir auch nicht einengen wollen; etwa wenn es darum geht Patenschaftsverbindungen zu den alliierten Soldaten, enge Verbindungen zu den kommunalen Vertretern in der Garnison, in der er lebt, Verbindungen zu Organisationen, Kirchen und Gewerkschaften oder auch zu den Bürgern in einer Garnison herzustellen — zur dienstlichen Veranstaltung erklären kann. Solche, Herr Krizsan, die Sie angesprochen haben, fallen nicht unter dienstliche Veranstaltungen, aber unter gewünschte, an denen die Beteiligung freigestellt ist.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Krizsan.
Herr Würzbach, würden Sie mir zustimmen, daß zwischen dieser sehr hohen Dienstzeitbelastung, die nun mit allen Mitteln aufrechterhalten wird, und der Verlängerung des Zivildienstes auf 20 Monate ein bestimmter Zusammenhang besteht und daß die Intention gerade ist, durch hohe Dienstzeit — so merkwürdig sie auch immer sein mag — einen Grund zu schaffen, um die Zivildienstleistenden länger heranzuziehen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Sie haben mich gefragt, ob ich Ihnen zustimmen kann. Meine Antwort: nein.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, wie Sie wissen, wird ja die Zulage für Spitzendienstzeiten pauschaliert für Einheiten und Teileinheiten gezahlt, und der Verteidigungsausschuß hat im Jahre 1982 das Bundesministerium der Verteidigung aufgefordert, eine gerechtere, die Belange aller Soldaten berücksichtigende Lösung zu finden. Wann kann das Parlament damit rechnen, daß das Verteidigungsministerium diese neue Regelung einführt,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8883
Jungmannund sind Sie mit mir auch der Auffassung, daß nicht die Dienstzeit und die Belastung von Kommandeuren als Kriterien für die Zahlung der Zulage für Spitzendienstzeiten herangezogen werden können, sondern nur die Belastung der Einheit oder Teileinheit?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Das letzte ist geübte Praxis. Nicht die Sonderdienste, die noch weit über die genannte Stundenzahl hinausgehen, von Spieß, Chef, Kommandeur liegen zugrunde, sondern die der Einheit.Zu dem zweiten Teil Ihrer Frage: Die Führungsstäbe arbeiten daran. Sie sind informiert, daß wir unterschiedliche Vorschläge bekommen haben, die in sogenannten Trockenläufen in den verschiedenen Teilstreitkräften und unterschiedlichen Verbänden abgetastet werden. Der Grund, warum wir ein neues Modell noch nicht verfügt und angeordnet haben, ist, daß dies mit zuviel Bürokratismus, mit Listenführen und Listenbestätigen über einzelne Soldaten verbunden war. Dies wollen wir abbauen.Herr Kollege Jungmann, zum Spitzendienstzeitausgleich: Ich möchte zwei, drei Zahlen nennen, damit hier keine falschen Vorstellungen über die Gelder, die die Männer bekommen, stehenbleiben. Die Wehrpflichtigen bekommen ab einer bestimmten Zeit — ab 56 Stunden — 54 DM steuerfrei, der Zeitsoldat, der Berufssoldat ab 56 Stunden 90 DM, die er versteuern muß. Wenn Sie das von dem Sockel von etwa 40 Stunden, wie er sonst draußen üblich ist, auf die Stunden, die geleistet werden, umrechnen, dann kommen bei dem Wehrpflichtigen 84 Pfennig in der Stunde, bei dem Unteroffizier 81 Pfennig und beim Kompaniechef 49 Pfennig bei der genannten Stundenzahl heraus. Ich möchte dies hier bewußt einmal nennen, um die Relationen herzustellen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Vahlberg.
Herr Staatssekretär, wenn schon die in Rede stehenden Veranstaltungen finanzwirksam in die Dienstzeitberechnung eingehen, warum setzt sich Ihr Haus nicht dafür ein, daß für Wehrpflichtige die Nutzung von öffentlichen Nahverkehrsmitteln in den Gemeinden genauso gehandhabt wird wie bei Studenten und Schülern, d. h. mit reduzierten Tarifen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich hoffe, daß Sie, wenn ich Ihnen die laufenden Appelle, die Gespräche über die kommunalpolitischen Institutionen einmal zuleite, sehen, daß die Ihrer Frage zugrundeliegende Annahme nicht zutrifft. Die Bundesregierung hat für jeden Wehrpflichtigen für jedes Wochenende quer durch das Bundesgebiet die Bundesbahn zum Nulltarif — sage ich mal — geöffnet und appelliert immer wieder an alle Garnisonsstädte und an die Träger der Nahverkehrseinrichtungen, hier unseren Soldaten, den Wehrpflichtigen ähnlich zu helfen.
Ich rufe die Frage 24 des Abgeordneten Krizsan auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Aussage von Bundesminister Dr. Wörner, 48 v. H. seiner Untergebenen „leisteten" Woche für Woche über 56 Stunden „Dienst"?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Aussage, etwa 48 % der Soldaten leisten im Jahresdurchschnitt 56 Stunden pro Woche Dienst, hat uneingeschränkte Gültigkeit. Selbst die kritischsten Hochrechnungen auf der Basis der Erkenntnisse vom Bundesrechnungshof würden nur eine sehr geringfügige, auf das Jahresmittel bezogene Verschiebung ergeben. Die Aufträge an die Truppe haben sich darüber hinaus seit Inkraftsetzung dieser Vergütungsregelung nicht verringert, sie haben sich eher, z. B. durch zusätzliche Wachdienste, vergrößert. Im übrigen sind die durch die von der Bundeswehr selbst auferlegten Richtlinien tatsächlich geleisteten Dienste nicht alle berücksichtigt.
Ich will Ihnen zwei nennen, die nicht mitzählen. Der Kraftfahrer, der sich zu einer bestimmten Zeit für einen Dienst irgendwo melden muß, hat dieses Fahrzeug vorher in Ordnung zu bringen, je nach Jahreszeit unterschiedlich lange daran zu arbeiten. Dies zählt nicht mit. Das Revierreinigen in den Blocks, bevor der Dienst startet, zählt nicht mit. Ich könnte diese Kette lange fortsetzen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Krizsan.
Herr Würzbach, Ihr Plädoyer für Ihre Männer in allen Ehren. Aber können wir einmal genaue Zahlen von Ihnen haben, wie lang z. B. in bestimmten Einheiten der sogenannte Dienst, wie ihn der Bundesrechnungshof bemängelt hat, also, wie gesagt, Herrenabende, Eisstockschießen mit Damen, wo dann — das möchte ich hinzufügen — auch die Damen mit in die Dienstzeit einberechnet wurden, ist und wie sich der Dienst prozentual verteilt?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, auch wenn Sie ein drittes Mal durch Nennen dieser Dinge versuchen, den Eindruck zu erwecken — eine Beurteilung, ob das bewußt oder unbewußt geschieht, steht mir nicht zu —, als sei es die Regel, daß dieses eingerechnet wird, stelle ich fest, daß dies nicht der Fall ist. Diese Dinge werden bei der Dienstzeitberechnung nicht zugrunde gelegt. Ich habe gesagt: wir sind in der Einzelprüfung, und wo dies der Fall ist, werden wir diese Mängel, diese Fehler abstellen.
Ich nenne Ihnen folgende Zahlen, nach denen Sie gefragt haben: Beim Heer arbeiten 54 % der Soldaten länger als 56 Stunden,
bei der Luftwaffe sind es 25%, bei der Marine 55%. Bei einem Schnitt durch die Bundeswehr leisten insgesamt 48 % der Soldaten einen längeren Dienst als 56 Stunden.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Krizsan.
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8884 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Herr Würzbach, bei Ihrer Verteidigung frage ich mich, ob der Bundesrechnungshof mit seinem Bericht gänzlich danebenliegt, und ich frage Sie: Wird in Ihre Dienstzeitberechnung auch der mir aus Erzählungen junger Wehrdienstleistender sehr bekannte Gammeldienst mit einbezogen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe Sie schon häufiger eingeladen, und Sie sind einer der wenigen Ihrer Fraktion, die so einer Einladung einmal Folge geleistet haben. Besuchen Sie einmal ein normales Bataillon, beispielsweise in der Kampftruppe, und überzeugen Sie sich ob und wann dort Gammeldienst geleistet wird! Dies ist nicht der Fall.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, wenn es in der Bundeswehr keinen Gammeldienst gibt, wie Sie gerade gesagt haben, warum hat dann das Verteidigungsministerium durch ein wissenschaftliches Institut eine Studie über den Gammeldienst anfertigen lassen, und wäre es nicht in Anbetracht Ihrer Schilderung über die Dienstzeitbelastung und die geringe materielle Entschädigung dafür eine gute Initiative der Bundesregierung, sich den Forderungen des Bundeswehrverbandes anzuschließen, eine Dienstzeitregelung herbeizuführen, die erheblich unter 56 Stunden liegen würde?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, eine Untersuchung über das Phänomen Gammeln, was es ist und ob es in den Streitkräften stattfindet, haben wir vor zweieinhalb Jahren durchgeführt. In der Tat hatte eine Vielzahl von bürokratischen, den Truppenalltag lähmenden Bestimmungen Eingang gefunden, die wir erkennen und abstellen wollten. Dies ist inzwischen geschehen, und es wird Ihnen, auch wenn Sie das ein bißchen distanzierter sehen als ich, so gehen, daß Sie dieses Wort inzwischen fast nicht mehr hören, weil entsprechende Maßnahmen gegriffen haben.
Zu dem zweiten Teil Ihrer Frage, zur Dienstzeitregelung: Wenn ich Ihnen geschildert habe, daß 48% der Soldaten mehr als 56 Stunden Dienst leisten, und wenn Sie eine schematische Festlegung wollten: Wo soll sie denn liegen? Bei 56 Stunden, während andere über 40 und 38 Stunden reden, oder bei 56 plus x?
Deshalb bleibt die Bundesregierung dabei, für die Soldaten — so unbequem und unangenehm das für die Soldaten und für den Dienstherrn der Soldaten ist — keine schematische Dienstzeit festzulegen, um den Auftrag, Herr Kollege Jungmann, die Sicherheit für alle in der Bundesrepublik zu gewährleisten, erfüllen zu können.
Wir kommen zur Frage 25 des Abgeordneten Peter :
Trifft es zu, daß das Buch von André Glucksmann „Philosophie der Abschreckung", auf Veranlassung des Kommandeurs des VerbKdo TerrKdo Süd zu USAREUR/7. Armee von der Bundeswehr beschafft und in die Bibliotheken der Bundeswehr eingestellt werden soll?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das trifft nicht zu.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Peter.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie so verstehen, daß der Kommandeur des Kommandos mit der etwas komplizierten Abkürzung diesen Brief nicht an das Ministerium weitergegeben hat, den er mit offiziellem Briefkopf an die HBV geschrieben und in dem er angekündigt hat, er werde beim Bundesverteidigungsminister anregen, das Buch zu beschaffen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ja.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Peter.
Wie beurteilen Sie dann den Sachverhalt, daß der Kommandeur unter dem offiziellen Briefkopf die HBV von diesem Tatbestand in der Form unterrichtet und dabei eine politische Bewertung der während der Buchmesse durchgeführten Antibuchmesse-Preisverleihung vorgenommen hat?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Der Kommandeur hätte sicherlich besser daran getan, seinen als privat gemeinten Brief auch auf einem privaten Bogen zu schreiben.
Wir kommen zur Frage 26 des Abgeordneten Peter :
Wenn ja, wie beurteilt die Bundesregierung das Buch von André Glucksmann „Philosophie der Abschreckung" als Lehrmaterial für die Soldaten?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Die Frage erübrigt sich, Herr Kollege.
Ich stelle fest, daß sich die Frage in Übereinstimmung erübrigt.Die Fragen 27 und 28 des Abgeordneten Antretter werden auf Bitte des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir kommen zur Frage 29 des Abgeordneten Reuter:Ist der Bundesregierung bekannt, daß Wehrpflichtige bei Schießübungen als lebende Zielscheiben eingeteilt wurden, und hält dies die Bundesregierung mit der Menschenwürde und mit den Richtlinien der Inneren Führung der Bundeswehr für vereinbar?Bitte schön, Herr Staatssekretär.Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der Bundesregierung ist kein Fall bekannt, in welchem Soldaten bei Schießübungen zur Darstellung der von Ihnen geschilderten Art eingeteilt wurden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8885
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reuter.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung dann bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ein Stabsunteroffizier der Bundeswehr am 3. Mai 1984 einem Wehrdienstleistenden, der einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt hatte, befohlen hat, sich als lebende Zielscheibe vor seine Kameraden zu stellen, damit diese dann mit Platzpatronen auf ihn schießen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn das so geschehen sein sollte, wie Sie das schildern, entspräche das nicht den Vorschriften und müßte bei Kenntnisnahme durch den Disziplinarvorgesetzten entsprechend gewürdigt und geahndet werden.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Reuter.
Sehen Sie hierin einen schwerwiegenden Pflichtenverstoß des Stabsunteroffiziers?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich möchte von dieser Stelle aus — ich bin auch nicht der Disziplinarvorgesetzte — auf Grund dieser Aussagen einen solchen Fall nicht bewerten. Ich ermuntere Sie aber, alles zu veranlassen — es wundert mich, daß das nicht automatisch geschehen ist —, um diesen Fall auf dem vorgeschriebenen Weg zur Kenntnis zu bringen.
Wir kommen zur Frage 30 des Abgeordneten Reuter:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um solche Praktiken für die Zukunft zu unterbinden und insbesondere Antragsteller auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer vor Schikanen zu bewahren?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Die eindeutigen, bindenden Vorschriften und Sicherheitsbestimmungen der Streitkräfte schließen solche Praktiken auch für die Zukunft aus. Der Bundesregierung sind keine Fälle bekannt, in denen Soldaten ihre Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer beantragt haben und deshalb Schikanen ausgesetzt wurden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reuter.
Herr Staatssekretär, sind Sie, wenn ich Ihnen den ganzen Vorgang überreiche, bereit, sich entschieden dafür einzusetzen, daß sich solche Vorkommnisse, wie von mir geschildert, nicht wiederholen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Uneingeschränkt ja.
Wir kommen zur Frage 31 des Abgeordneten Dr. Scheer:
Wie steht die Bundesregierung zu Aussagen aus dem Hearing des Streitkräfteausschusses des Repräsentantenhauses, wonach bis Ende des Haushaltsjahres 1985 insgesamt 275 Pershing II produziert werden sollen, und für welchen Raum sind nach Informationen der Bundesregierung diese Pershing II-Raketen gedacht?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Scheer, entsprechend dem NATO-Doppelbeschluß werden in der Bundesrepublik Deutschland 108 Pershing-Systeme mit nuklearen Gefechtsköpfen einsatzbereit stationiert werden, falls nicht — und das ist unser Bestreben — durch konkrete Vereinbarungen in Genf mit der Sowjetunion diese Stationierung überflüssig wird oder die vorgesehene Zahl reduziert werden kann. Zwischen diesem Dislozierungsumfang und einem Produktionsumfang in den Vereinigten Staaten muß deutlich unterschieden werden.
Für das Haushaltsjahr 1985 hat der Kongreß der Vereinigten Staaten die Mittel für die Beschaffung von 70 Pershing-II-Raketen bewilligt. Damit sind für das Haushaltsjahr 1985 und vorangegangene Haushaltsjahre Mittel für insgesamt 248 PershingII-Raketen bewilligt.
Bei der Festlegung des Produktionsumfangs von Flugkörpern ohne Gefechtsköpfe, Herr Kollege, sind folgende Faktoren besonders zu berücksichtigen. Die Aufrechterhaltung der Einsatzbereitschaft eines jeden Systems erfordert periodische technische Überprüfungen. Hierfür brauchen Sie zusätzliche Raketen. Die Ausbildung der Truppe sowie die Überprüfung ihres Ausbildungsstands und ihrer Einsatzbereitschaft erfordern regelmäßige jährliche Erprobungen. Flugkörperstarts erfordern richtige zusätzliche Tests in einem Umfang, der beim Pershing-II-Programm dem allgemeinen Bedarf ähnlicher Systeme auch in der Vergangenheit entspricht.
Darüber hinaus ist bei der Aufrechterhaltung der Einsatzbereitschaft dieser dislozierten Systeme auch ein logistischer Ersatzteilvorrat erforderlich. Der Bedarf an zusätzlichen Raketen für technische Überprüfungen, Ausbildung und Prüfung der Einsatzbereitschaft sowie die angesprochene logistische Bevorratung sind auf die Lebensdauer dieses Systems — mindestens ein Jahrzehnt — angelegt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Scheer.
Herr Staatssekretär, können Sie frühere Aussagen der Bundesregierung aus Fragestunden bestätigen, daß 108 Raketensysteme laut NATO-Doppelbeschluß gleichbedeutend sind — begrifflich und damit natürlich auch in der Anzahl — mit 108 Raketen?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bestätige, daß ein Pershing-Waffensystem aus dem Fahrzeug und der Rakete plus dem atomaren Gefechtskopf besteht. So ist das immer von allen Regierungen bezeichnet worden.Sie nehmen auf die Fragestunden Bezug. Wir haben wiederholt darauf hingewiesen, daß kein einzi-
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8886 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Parl. Staatssekretär Würzbachger Gefechtskopf und damit kein einziges weiteres System zusätzlich hier stationiert wird. Im Gegenteil, wir hoffen — ein Erfolg in Genf vorausgesetzt —, daß es nicht einmal diese Zahl sein muß.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Scheer.
Herr Staatssekretär, ich möchte diese Frage präzisieren. Wenn man zwischen System, Rakete und Sprengkopf unterscheidet und dieses zusammen das Waffensystem ergibt, ist dann mit der Zahl 108 gemeint, daß das Abschußsystem plus Rakete plus Sprengkopf jeweils die Zahl 1 ergibt und davon 108 und nicht mehr stationiert werden?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Dies ist korrekt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Darf ich das noch weiter präzisieren: Bedeutet Ihre Auskunft, daß es zwar möglich sein könnte, daß für ein System vielleicht auch einmal zwei Fahrzeuge da sind, auch einmal ein Fahrzeug mit weiteren Ersatzteilen, aber garantiert nur ein Flugkörper und ein Sprengkopf?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Dies ist korrekt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Schließen Sie auch aus, daß die Amerikaner Umlaufreserven nach Europa bringen, um diese eventuell sofort einsatzbereit zu haben, wenn sich solche Unfälle wie im letzten Monat wiederholen sollten?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Ersatzteile müssen hier sein. Im übrigen verweise ich auf die Antwort auf die Frage des Kollegen Gansel, die das sehr klar ausgeführt hat.
Wir kommen zur Frage 32 des Abgeordneten Dr. Scheer:
Kann die Bundesregierung dementieren oder bestätigen, daß über die in der NATO vereinbarte Zahl von 108 in der Bundesrepublik Deutschland zu stationierenden Pershing-IIRaketen hinaus weitere Raketen als Nachladekapazität in den Vereinigten Staaten von Amerika bereitgehalten werden, während die dafür erforderlichen atomaren Sprengköpfe bereits in der Bundesrepublik Deutschland gelagert werden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß die Stationierung von Pershing-II-Systemen und -Gefechtsköpfen in der Bundesrepublik dem NATO-Doppelbeschluß entsprechend durchgeführt wird. Dieser sieht keinen Nachladebestand an Raketen vor. Die Zahl von nuklearen Gefechtsköpfen für Pershing II beträgt maximal 108.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Scheer.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereits mit Fragen hervorgetreten, ob Meldungen zutreffen, wonach über das Haushaltsjahr 1985 hinaus über die in der Frage unterstellten 275 Raketen hinaus — von Ihnen wurden in der Antwort 248 Raketen genannt — weitere produziert werden, und entspricht diese dann weit über 108 hinausgehende Anzahl tatsächlich ausschließlich den von Ihnen genannten Zwecken?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nicht 275, wie Sie in Ihrer Frage sagen, sondern 248 Raketen sind jetzt für 1985 durch den Kongreß bewilligt. In der Bundesrepublik bleiben es — egal, in welchem Jahr der Kongreß was weiter bewilligt — maximal 108. Die Antwort auf Ihre Frage, ob möglicherweise im nächsten Jahr weitere bewilligt werden, hängt u. a. davon ab, in welchem Maß weitere Flugkörperstarts von ganzen Systemen ohne Gefechtskopf durchgeführt werden, ob man über die sonst übliche Zahl hinausgeht oder ob man sich — diese Zahl ist darauf angelegt, etwa im Durchschnitt zu bleiben — damit begnügen wird.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Scheer.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen irgendwelche Überlegungen seitens des amerikanischen Bündnispartners bekannt, daß an irgendeiner Stelle der Welt — und sei es in Asien — vielleicht auch an die Stationierung solcher Systeme gedacht ist?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege.
Wir kommen zu der Frage 33 des Abgeordneten Vahlberg:
Ist der Bundesregierung die Studie von Professor Paul Crutzen über die Auswirkungen eines mit atomaren Waffen geführten Krieges auf das Klima bekannt, und welche Konsequenzen zieht sie aus dieser Studie vor allem im Hinblick auf den von der NATO propagierten unverzichtbaren Ersteinsatz von Atomwaffen unter Berücksichtigung der These vom „atomaren Winter"?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung sind Studien bekannt, die sich mit möglichen Auswirkungen eines mit Nuklearwaffen geführten Krieges auf die Umwelt befassen, an denen auch Professor Crutzen vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz beteiligt war. Die Bundesregierung zieht daraus die Konsequenz — wie auch die Vorgängerregierungen und die Regierungen der NATO-Partner dies tun und taten —, durch eine überzeugende Abschreckung einen Krieg mit jedweder Art von Waffe zu verhindern.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Vahlberg.
Herr Staatssekretär, wie glaubwürdig ist eine Abschreckungsphilosophie auf der Basis des Erstschlags, die den globalen Selbstmord vor dem Hintergrund eines Szenarios vom „atomaren Winter", wie es Professor Crutzen errechnet hat, einschließt?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8887
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wie die zurückliegenden rund drei Jahrzehnte beweisen, ist sie auf einem hohen — die Bundesregierung und alle Bundesregierungen haben dies häufig wiederholt; ich tue es noch einmal —, auf einem zu hohen — wir wollen dies herunterdrücken — Niveau erfolgreich, um einen solchen, aber auch jeden anderen Einsatz von solchen Waffen durch die glaubwürdige Abschreckung gemeinsam im Bündnis politisch wie militärisch zu verhindern.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Vahlberg.
Herr Staatssekretär, wird ein solches Szenario — ich hoffe, die Bundesregierung wird es nachrechnen lassen — auch bei der Konzeption von Zivilschutzbauten und Zivilschutzübungen zur Grundlage gemacht: Absinken der Temperaturen auf minus 40 Grad, monatelange Brände auf der nördlichen Halbkugel, Schwaden von Kunststoffdämpfen, Zusammenbruch der Photosynthese und dergleichen mehr, all das, was Professor Crutzen sehr glaubwürdig als Szenario entwickelt und errechnet hat?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, was die Bundesregierung ihrer Politik zugrunde legt, ist, alles zu tun, daß ein soches Szenario oder auch ein kleineres ähnliches Szenario verhindert wird. Ein Schutz der Zivilbevölkerung unter solchen Szenarien ist nicht möglich.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Jannsen .
Herr Staatssekretär, ist nicht die Grundlage der Abschreckungspolitik, die diese Bundesregierung vertritt, gewesen, daß die Möglichkeit eines „atomaren Winters" nicht einkalkuliert worden ist?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Das ist nicht wahr. Es sind alle Möglichkeiten ähnlicher Szenarien — nehmen Sie den NEMP oder ähnliches, worüber wir diskutiert haben; Fachleute wissen, was ich damit meine — mit einbezogen worden; sie haben diese wie die vorherigen Bundesregierungen dazu bewogen, alles, was nötig ist, zu tun,
um ähnliche Ergebnisse zu verhindern.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, ist denn wohl auch dem Finanzminister Ihr Spruch bekannt, den Sie eben getan haben, daß unter einem solchen Szenario Bevölkerungsschutz nicht möglich ist, und müßte man dann nicht Konsequenzen daraus ziehen, was die Steuerbegünstigung von unsinnigen atombombensicheren Schutzkellern angeht?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, hier haben Sie eine Konstruktion hergestellt, die ich so nicht bejahen will. „Unter solchen Szenarien nicht möglich" habe ich gesagt, aber ich habe daraus nicht die Konsequenz gezogen, daß wir jegliche Anstrengung für einen vorbeugenden, fürsorgenden Katastrophen- oder Zivilschutz unterlassen sollten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Vogt .
Herr Staatssekretär, wie kann die Vorstellung vom „nuklearen Winter" bereits bei der Festlegung des Abschrekkungskonzepts zur Grundlage gemacht worden sein, wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem das nukleare Abschreckungskonzept festgelegt worden ist, das Phänomen des nuklearen Winters noch gar nicht bekannt war?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nicht unter dem neu gefundenen Dachbegriff „nuklearer Winter", aber sehr wohl in dem Wissen — in dem seit Hiroshima und Nagasaki in dem Kopf jedes Menschen auf der Welt wachen Wissen —, daß der Einsatz von Atomwaffen auf der Erde ein ganz fürchterliches, unbedingt zu verhinderndes Szenario darstellt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, wenn Sie dennoch nicht ausschließen, daß vorbeugender Schutz notwendig ist: Gibt es Zivilschutzübungen, und, wenn j a, an welchen Erwartungen orientieren sich diese Zivilschutzübungen, von welchen Szenarien gehen sie aus, und kann ich aus Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen Vahlberg schließen, daß Sie von unrealistischen Szenarien ausgehen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich hoffe, daß dieses Szenario, über das wir jetzt reden, immer und für alle Menschen in allen Teilen der Erde ein — im Sinne dessen, was dieses Wort bedeutet — unrealistisches bleibt.
Herr Kollege, die weitere Frage zum Zivilschutz möchte ich hier nicht auf die Ursprungsfrage bezogen sehen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Staatssekretär, ist es zutreffend, daß Sie bei Ihren Szenarien davon ausgehen, daß durch sogenannten Zivilschutz zwar der Atomkrieg von einigen wenigen überlebt werden kann, aber auch diese einigen wenigen nach dem Atomkrieg nicht mehr leben können?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, bei meinem Szenario gehe ich davon aus, daß wir es durch gemeinsame notwendige Anstrengungen erreichen, daß das Szenario das bleibt, in dem wir glücklicherweise seit drei Jahrzehnten leben, und daß wir, um mögliche andere Szenarien wissend, alles
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8888 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Parl. Staatssekretär WürzbachErforderliche — auch wenn es unbequem ist — tun, um es erfolgreich aufrechterhalten zu können.
Wir kommen zu Frage 34 des Abgeordneten Horacek:
Wie groß ist das Ausmaß der bisher absehbaren Schäden, die durch das Reforger-Manöver Central Guardian verursacht worden sind?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Die amerikanischen Streitkräfte haben sich bemüht, Schäden so weit wie möglich zu vermeiden. Das Ausmaß der Übungsschäden kann aber noch nicht abschließend beurteilt werden. Es zeichnet sich jedoch heute bereits ab, daß weniger — sogar wesentlich weniger — Schäden aufgetreten sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Horacek.
Können Sie mir sagen, wie viele Menschen im Zusammenhang mit diesem Manöver getötet und wie viele verletzt wurden?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich habe darüber noch keine abschließenden Zusammenstellungen, Herr Kollege.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Horacek.
Können Sie die nachliefern?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich habe gesagt, daß wir dabei sind, das Ausmaß der gesamten Schäden zusammenzutragen; wir sind dabei auf Meldewege angewiesen. Dies kann geschehen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Krizsan.
Herr Würzbach, könnten Sie dann bitte auch eine Aufstellung über die Belastungen von Menschen und Natur bei diesem Großmanöver, vor allen Dingen der Natur, nachliefern?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn Sie mir die Kriterien liefern, nach denen dies erfaßt werden soll, sollten wir uns noch einmal darüber unterhalten,
ob dies verständlich gemacht werden kann.
Der Herr Abgeordnete Gansel zu einer Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir darin zu, daß, wenn man die Landesverteidigung so wie die Demonstrationsfreiheit bejaht, eigentlich die Kriterien für die Bewertung nicht sein dürften, welcher Flurschaden bei einem Manöver wie bei einer Demonstration entsteht?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, hier fällt es mir schwer, den Zusammenhang mit der Ursprungsfrage herzustellen.
Entsprechend den Regeln für die Fragestunde möchte ich diese Frage nicht beantworten.
Ich muß dem Herrn Staatssekretär zustimmen; es geht ein bißchen zu weit darüber hinaus.
Wir kommen zu Frage 35 des Abgeordneten Horacek:
Hat die Bundesregierung versucht, auf die US-Army Einfluß zu nehmen, um auf Grund des Smog-Alarms in den hessischen Städten Gießen und Kassel, der während des Manövers noch in Kraft war, die Luftverschmutzung durch ca. 22 000 am Manöver beteiligte Rad- und Kettenfahrzeuge zu unterbinden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Städte sind grundsätzlich bis auf unabdingbar erforderliche Transportbewegungen ausgenommen. Daher erübrigten sich die erfragten Maßnahmen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Horacek.
Ich enthalte mich jetzt einer Bewertung.
— Weil es arrogant war, was er gesagt hat.
Sie müssen fragen, Herr Horacek.
Sie meinen also, daß es eine gute Sache ist, die da mit den Manövern abgelaufen ist, und daß das Problem nur Städte und nicht auch die Dörfer und die umliegenden Landschaften betrifft?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich meine, daß sich die rund 22 000 am Manöver beteiligten Rad- und Kettenfahrzeuge — wie Ihrer Frage zugrunde liegt — nicht häufig in Städten aufgehalten haben. Danach haben Sie gefragt, sogar nach zwei konkreten Städten, nach Großstädten. Ich meine vielmehr, daß das die absolute Ausnahme — es hat höchstens ein kurzes Durchmarschieren gegeben — gewesen ist.
Herr Horacek, Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Sie haben noch nie gehört, daß Emissionen an einem Ort entstehen und dann auch woanders die Menschen betreffen?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn Erkenntnisse auf Grund ähnlicher Gegebenheiten die Forderung ergeben hätten, auch solche Märsche durch diese Städte zu unterbinden, dann hätten die Städte und für die Städte das Land Hessen mit den übenden Truppen — ob mit unseren oder den alliierten — Verbindung aufgenommen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8889
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir darin überein, daß für einen Pazifisten das entscheidende Motiv eigentlich nicht ist, daß sich auch Armeekraftfahrzeuge an der Luftverschmutzung beteiligen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir alle geben uns Mühe, die Luftverschmutzung aller Fahrzeuge zu reduzieren. Da schließt sich die Bundeswehr nicht aus.
Zwischenrufe sind erlaubt, aber hier nicht protokollfähig.
Der Fragesteller der Frage 36, Abgeordneter Dr. Kübler, hat um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 37 des Abgeordneten Vogt auf:
Hat sich die Bundesregierung darüber unterrichten lassen, daß eine Pressemappe des V. US-Corps für das Manöver „Central Guardian" zurückgerufen wurde und was der Grund für dieses Vorhaben war?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Würzbach, Pari. Staatssekretär: Die Bundesregierung betrachtet den Rückruf einer Pressemappe nicht als Anlaß für eine offizielle Bitte um Unterrichtung durch einen Verbündeten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Können Sie mir dann sagen, daß es zutrifft, daß in der ursprünglichen Fassung der Pressemappe davon die Rede war, daß mit dem Manöver „Central Guardian" der — ich zitiere wörtlich aus dem zurückgerufenen Exemplar — General-Defense-Plan im Rahmen des möglichen innerhalb des Air/Land-Battle-Konzepts überprüft werden sollte?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Das kann ich Ihnen nicht bestätigen. Ich kenne die Pressemappe nicht. Wir haben keinen Anlaß gesehen, sie uns rückwirkend irgendwie vorlegen zu lassen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Hält die Bundesregierung es für normal, daß bei einer so brisanten Fragestellung wie der, ob ein Manöver auf deutschem Boden nach dem Air/Land-Battle-Konzept abläuft, die US-Truppen dies zunächst bestätigen, die Bestätigung dann wieder zurückziehen und daß die Bundesregierung, wie Sie hier belegt haben, davon überhaupt nichts weiß — dieselbe Bundesregierung, die immer behauptet, daß solche Manöver nicht nach dem Air/Land-Battle-Konzept ablaufen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Wir haben über die Pressemappe geredet. Dazu habe ich Ihnen geantwortet.
Ihre zweite Frage ist die nach einer zugrunde liegenden taktischen Anweisung.
Zu dieser Frage kommen wir gleich. Herr Krizsan hat zunächst noch zu einer Zusatzfrage das Wort.
Herr Würzbach, Ihre Unkenntnis läßt mich etwas vermuten. Daher frage ich Sie: Wie sind die Informationsstränge zwischen den übenden US-Truppen und Ihrem Verteidigungsministerium, wenn Sie diese Pressemappe gar nicht gesehen haben?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Informationsstränge sind blendend und eng. Sie sind in beiden Richtungen — hin und her — vorhanden.
Aber wenn einer eine Pressemappe zurückzieht, ist das nicht Anlaß für die Bundesregierung, um hier irgendwelche Recherchen anzustellen.
Jetzt kommen wir zur Frage 38 des Abgeordneten Vogt:
Fand das Manöver „Central Guardian" nach den Grundsätzen von Air/Land-Battle und Field-Manual 100/5 statt, und welche Auswirkungen hat dies auf die teilnehmenden deutschen Truppen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: NATO-Land- und -luftstreitkräfte üben im Rahmen der gültigen NATO-Strategie, der MC 14/3, und operieren nach den eigenen nationalen taktischen Führungs- und Einsatzgrundsätzen, soweit diese mit der MC 14/3 übereinstimmen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Vogt.
Können Sie mir dann sagen, ob in der Vergangenheit bereits auf dem Territorium der Bundesrepublik nach dieser US-Heeresdienstvorschrift Manöver durchgeführt worden sind?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn diese in Übereinstimmung mit der MC 14/3 waren, j a.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Vogt.
Können Sie mir erklären, wie es möglich gemacht werden kann, ein Manöver mit verbündeten Streitkräften auf der Grundlage zweier verschiedener operativer Konzepte durchzuführen?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Dies haben wir in mehreren Fragestunden — ich möchte mir erlauben, darauf zu verweisen; ich habe mir die Daten
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8890 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
4. Mai 1984 und 16. Januar 1985 — ausführlich und gründlich erörtert.
Ich rufe die Frage 39 des Abgeordneten Kleinert auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß US-Minister Caspar Weinberger am 1. Februar 1983 vor dem US-Senat auf Anfrage bestätigte, daß nach „Air/Land-Battle" bereits während der Reforger-Manöver im Herbst 1982 geübt wurde?
Bitte schön, Herr Staatssekretär
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Reforger-Übungen werden im Rahmen der NATO-Strategie MC 14/3, wie eben erwähnt, durchgeführt. Die Bundesregierung sieht keinen Anlaß, die dabei angewandten Grundsätze für die taktische Führung der amerikanischen Truppen oder Äußerungen darüber einer besonderen Beurteilung zu unterziehen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Kleinert.
Wie bewertet denn dann die Bundesregierung den Widerspruch zwischen den von uns angeführten Belegen — beispielsweise den Äußerungen von Herrn Weinberger vor dem amerikanischen Senat — und der Aussage von Herrn Minister Wörner, der in einem offenen Brief an eine Fraktionssprecherin der GRÜNEN geschrieben hat, das Air/Land-Battle-Konzept gelte nicht für Europa?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, unter Bezugnahme auf die Äußerungen in den Fragestunden Mitte letzten Jahres und Mitte Januar dieses Jahres weise ich darauf hin, daß hier kein Widerspruch vorliegt.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 40 des Abgeordneten Kleinert auf:
Treffen Informationen zu, wonach ein Gebiet östlich von Krofdorf-Gleiberg westlich der Lahn am 24. Januar 1985 von den „Blauen" durch den simulierten Einsatz chemischer Kampfstoffe für die vorrückenden „Roten" ( = Angreifer) unpassierbar gemacht wurde?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Auf Grund der großen Bestände an chemischen Waffen auf seiten des Warschauer Pakts und der dort praktizierten Ausbildung zum offensiven Einsatz sind die NATOStreitkräfte gehalten, die ABC-Abwehr — ich unterstreiche das Wort „Abwehr" — zu üben. Dies ist geschehen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Kleinert.
Welche chemischen Kampfstoffe sind dabei eingesetzt worden?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Dies war eine Simulation, Herr Kollege. Weitere Daten kenne ich nicht; ich weiß auch nicht, ob solche der Truppe mitgeteilt worden sind. Wie gesagt, es handelte sich um eine Simulation bei der Übung.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Kleinert.
Heißt das, Herr Staatssekretär, daß Sie sich nicht in der Lage sehen, hier vor dem Deutschen Bundestag eine Auskunft darüber zu geben, welcher Art die Stoffe waren, die dabei verwandt worden sind, oder sehen Sie sich nur im Moment nicht in der Lage, darauf eine Antwort zu geben?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir setzen in der Wirklichkeit keine chemischen Kampfstoffe ein. Nur die Übungseingabe — simuliert, gespielt, der Truppe als Übungseingabe vorgegeben — hieß: Dieses Gelände ist durch chemische Kampfstoffe behindert oder blockiert.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Krizsan.
Herr Würzbach, können Sie denn bitte sagen, welche chemischen Kampfstoffe simuliert wurden?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Es wurde der Einsatz chemischer Kampfstoffe ohne Erläuterung einer dahinterstehenden chemischen Formel der Truppe vorgegeben, damit diese die ABC-Abwehr übt. Weil die Sowjetunion solche Bestände in ihren Truppen hat und offensiv daran ausbildet, ist dies für uns leider erforderlich.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Horacek.
Können Sie mir vielleicht verraten, welche der Manöverparteien diese Gaseinsätze simuliert hat? War es die blaue oder die rote Partei, Verteidiger oder Angreifer?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Abwehr solcher möglichen Einsätze müssen beide Manöverparteien, ob sie im Manöver eine blaue oder eine rote Armbinde tragen, üben. Sie wissen, worauf das abzielt. In diesem Fall ist es ein Einsatz durch die blauen Übungstruppen gewesen. Ich will gleich hinzufügen: Wir üben — übrigens gibt es diese Begriffe seit Preußens Zeiten — mit Blau, Rot, Gelb und auch Grün, Herr Kollege; das sind die Übungsparteien.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Ich danke dem Parlamentarischen Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.In den letzten 50 Sekunden rufe ich keinen weiteren Bereich auf; in der kurzen Zeit schaffen wir nicht einmal die Antwort auf die nächste Frage.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8891
Vizepräsident WestphalWir sind damit am Ende der Fragestunde.*)Zur Geschäftsordnung hat sich der Abgeordnete Becker zu Wort gemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Reimann hat in der heutigen Fragestunde unter Ziffer 18 die Frage gestellt:
Hält die Bundesregierung trotz der Proteste des DGB an den geplanten Veränderungen des Betriebsverfassungsgesetzes fest angesichts der von Bundeskanzler Kohl abgegebenen Garantie der Mitbestimmung?
Diese Frage ist von der Bundesregierung nicht beantwortet worden.
Der Vertreter der Bundesregierung ist auf die Meinung in den Koalitionsfraktionen und auf seine persönliche Meinung ausgewichen. Wir möchten aber gern die Meinung der Bundesregierung erfahren.
Deswegen beantrage ich gemäß § 106 unserer Geschäftsordnung und der „Richtlinien" — Anlage 5 Nr. I 1 b — eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen des Abgeordneten Reimann eine
Aktuelle Stunde
verlangt, das entspricht Nr. lb der Richtlinien für die Aktuelle Stunde. Die Aussprache muß nach Nr. 2 a der Richtlinien unmittelbar nach Schluß der Fragestunde durchgeführt werden; das ist jetzt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Reimann.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Die Aktuellen Stunden sind ein Stück Parlamentsgeschichte, die Fragestunden dagegen dienen der Aufklärung der Abgeordneten und dazu ihrer Sachkompetenz und ihrem politischen Sachverstand nachzukommen. Das bedeutet, daß die Bundesregierung die Fragen in den Fragestunden möglichst zu beantworten hat. Ich darf an die Selbstverständnisdebatte dieses Parlaments vor einigen Wochen erinnern, in der gerade die Fragestunde zum aktuellen demokratischen Instrument dieses Hauses gemacht wurde.
Um so erschütterter bin ich darüber, daß der Staatssekretär bei jeder der ihm gestellten Fragen ausweicht, sich auf Regierungsvorlagen nicht berufen kann, sich auf Koalitionsvorlagen beruft und im*) Die nicht mehr aufgerufenen Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden im Plenarprotokoll 10/121 als Anlagen abgedruckt.günstigsten Fall seine persönliche Meinung absetzt.
Herr Staatssekretär, Ihre persönliche Meinung mag ehrenwert sein. Aber die Abgeordneten dieses Hauses können mit dieser persönlichen Meinung nichts anfangen. Das, was wir brauchen, ist die Erklärung oder die Meinung der Regierung, ist Auskunft über die Regierungspolitik, ist, wenn es geht, die Meinung des Arbeitsministers.
Ich meine, daß es deshalb notwendig und sinnvoll ist, daß ich meine Fragen erneut einbringe und die Bundesregierung frage: Wie steht sie zu den Änderungen des Betriebsverfassungsgesetzes im Rahmen des von der Regierungskoalition eingebrachten Gesetzentwurfs?
Ich frage die Bundesregierung: Wie hält sie es denn mit dem Minderheitenschutz, der dort geregelt werden soll? Wie hält sie es denn mit der Herabsetzung des Quorums bei der Unterschriftenanzeige? Wie hält sie es denn mit der Freistellung der Personalräte in ihren eigenen demokratischen Gremien, die ja immerhin nicht uninteressant sind, bei den anstehenden Personalratswahlen? Auch in diesem Hause hier sind ja schon entsprechende Plakate zu sehen.Ich frage weiter: Wie verhält sich denn die Bundesregierung zu den Aussagen der Unternehmer und der Unternehmensverbände, daß ihnen ein geschlossener Betriebsrat am liebsten sei und daß sie keinen Wert auf eine Zersplitterung durch Minderheiten legten? Ich frage die Bundesregierung: Was hat sie denn aus der Geschichte der Weimarer Republik gelernt? Ich frage weiter: Was ist mit der Gefährdung der Grundrechte der Arbeitnehmer in dieser Gesellschaft? Und ich bitte Sie, Herr Arbeitsminister, vielleicht auch einmal dazu Stellung zu nehmen, ob Sie nicht doch noch bereit sind, diese Diskussion in Ihren eigenen Reihen und in der Öffentlichkeit dadurch abzustellen, daß Sie diese Vorlage, wenn sie eingebracht wird, zurückzuweisen, und ob Sie bereit sind, die Rechte der Arbeitnehmer nicht einzuschränken, sondern die Rechte der Arbeitnehmer am Arbeitplatz zu ihrer eigenen Selbstverwirklichung auszubauen.
— Bleiben Sie hier, fünf Minuten! — Ich frage weiter: Wie steht denn die Bundesregierung dazu, Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte hinsichtlich neuer Technologien, bei der Zusammenführung von Personalinformationssystemen, bei der Einführung von neuen Techniken einzubringen? Ich meine, Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren der CDU: Sie können auch nicht daran interessiert sein, daß diese Debatte negativ in die Betriebe einzieht.
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8892 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
ReimannIch beende meine Rede mit dem Aufruf, daß die Regierung mithelfen sollte — jetzt zitiere ich eine Vorlage des Deutschen Gewerkschaftsbundes — die Mitbestimmung am Arbeitsplatz auszudehnen, „den Arbeitnehmern einen wirksamen Einfluß auf die Gestaltung ihrer eigenen Arbeit einzuräumen und damit ihre Selbstverwirklichung zu fördern, die Humanisierung der Arbeit voranzutreiben und die Mitbestimmung der Betriebs- und Personalräte in den Betrieben und Verwaltungen sowie der Aufsichtsräte in den Unternehmen zu ergänzen und wirksam zu unterstützen" und nicht das, was jetzt geplant ist, in der Diskussion zu belassen. Sorgen Sie für Klarheit, Herr Arbeitsminister!
Das Wort hat der Abgeordnete Keller.
Auch Splitter sind wertvoll. — Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn Sie die Bundesregierung fragen, wie es um den Minderheitenschutz steht, so können auch die Koalitionsfraktionen mit ihrer Antwort nicht zurückstehen, nämlich: Es ist eine Gesetzesinitiative der Koalitionsfraktionen. Deshalb möchten wir, wenn Sie uns schon die Gelegenheit dazu bieten, unsere Vorstellungen noch einmal kurz darlegen.
Ich habe den Eindruck, daß Sie einfach Ursache mit Wirkung verwechseln. Die Ursache liegt nämlich im Mißbrauch der Mehrheiten der DGB-Gewerkschaften beim Betriebsverfassungsgesetz.
— Ich will die Beispiele dazu bringen. — Die Mißbräuche haben sich im Frühjahr bei den Betriebsratswahlen 1984 wiederholt.
Ein Kernproblem ist das Unterschriftenquorum. Hier liegen wir sicher nicht ganz so falsch, wie Sie das darstellen, einfach deshalb, weil das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Oktober 1984 uns bestätigt hat.
Ich will es an einem Beispiel klarmachen. Bei der Oberpostdirektion München gab es 1 258 Auszubildende, die im Frühjahr 1984 die Bezirksjugendvertreter wählen sollten. Die Postgewerkschaft sammelte über 1 200 Unterschriften. Weil nach dem alten Recht 10 % oder mindestens 100 Unterschriften nötig sind, war auf Grund der Rechtsposition keine andere Gewerkschaft mehr in der Lage, eine Liste einzureichen. Nun frage ich Sie, was das mit Demokratie oder Ihrem Demokratieverständnis zu tun hat.
Das ist eine entscheidende Frage bei uns. Ich will
Ihnen die Antwort geben. Wir werden das Bundes-
verfassungsgerichtsurteil so ausformen, daß man mit 3 % oder mindestens 50 Unterschriften — das sind unsere Vorstellungen, mit denen wir in die Diskussion gehen — eine Liste einreichen kann.
Ein zweites Problem ist die Besetzung der Ausschüsse und die Freistellungen. Bisher haben die DGB-Gewerkschaften, die Einzelgewerkschaften, die anderen total majorisiert. Auch dazu erzähle ich ein ganz klassisches Beispiel. Ich frage Sie, ob das mit Ihrem Demokratieverständnis zu vereinbaren ist. Bei der Firma Kugelfischer in Schweinfurt gibt es mehrere Gewerkschaften. Die können Sie nicht wegdiskutieren. Dort haben die IG-Metaller von 33 Sitzen noch 18, 10 hat der CMV, der Christliche Metallarbeiter-Verband, und 5 die DAG, ein Ergebnis 18 : 15. Wo können Sie hier mit Recht von Splittergruppen sprechen, wo sie gerade noch eine knappe Mehrheit haben? Aber die 12 Freistellungen hat alle die IG Metall für sich in Anspruch genommen mit einer Selbstverständlichkeit.
— Das hat mit Tarifverträgen überhaupt nichts zu tun. Das ist eine rein rechtliche Frage.
Die Freistellungen haben doch mit Tarifverträgen nichts zu tun.
Wir werden dieses Problem so lösen, daß die Ausschußbesetzungen und Freistellungen entsprechend der Struktur der Mehrheitsverhältnisse im Betriebsrat vorgenommen werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie haben einmal gesagt: Die Demokratie darf nicht am Werkstor enden. Entsinnen Sie sich an die Mitbestimmungsdiskussion der 70er Jahre. Wir werden dafür sorgen, daß sie nicht am Werkstor oder am Fabriktor enden wird. Ich gebe zu, daß die Demokratie sicher von Mehrheitsentscheidungen lebt. Aber Rücksichtnahme auf Minderheiten ist ein grundlegendes Element einer sozialen Ordnung.
Ich bitte Sie einfach, diese Argumente konstruktiv mit uns durchzugehen und darüber zu diskutieren, wie wir dieses Problem lösen können.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frage, die hier zur Debatte steht, muß zunächst so beantwortet werden, daß die Abgeordneten ein Recht haben, zu erfahren, welche Pläne bei der Regierung vorliegen.
Das ist von allen Seiten unbestritten.
Darüber hinaus steht der Inhalt zur Diskussion. Als jemand, der in dieser Frage betroffen ist, kann ich mir erlauben, dazu einige Bemerkungen zu machen:
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8893
HossZum einen ist die Rolle der Gewerkschaften in der Auseinandersetzung zwischen Belegschaft und Unternehmern mit den vielfältigen Ausprägungen, in denen sie sich zeigt, bei Veränderungen der Arbeitsplätze, technologischen Entwicklungen, Personalfragen, Disziplinierungen, unbestritten für die Arbeitnehmer unverzichtbar.
Das zweite ist, daß die Einheitsgewerkschaften in der Gefahr sind, weniger in Klein- und Mittelbetrieben, wo die Leute zum Teil in harten Auseinandersetzungen stehen, mehr in den Großbetrieben, sich zu verselbständigen und Minderheiten zu unterdrücken. Es ist festzuhalten, daß es in den Großbetrieben teilweise zu einer Zusammenarbeit von etablierten Betriebsräten und Geschäftsführungen kommt, die es für die Arbeiter geradezu nahelegt, in der Form der Stützung von Minderheiten sogar gegen den eigenen Betriebsrat zu opponieren. Ich glaube, daß die Gewerkschaften erkennen müssen, daß es seinen Wert hat als Ansporn für Gewerkschaftsarbeit, für gute Betriebsratsarbeit, daß es einem verknöcherten Betriebsrat gut tut, wenn ihm von der Belegschaft sozusagen in den Hintern getreten wird.
Im Hinblick auf diese Frage sind die vorgelegten Vorstellungen zu beachten, nicht von vornherein zu verwerfen.Dagegen, daß man das Quorum für die Einreichung einer Kandidatenliste von 100 Unterschriften auf 50 Unterschriften verringert, kann man nichts haben. Dagegen kann nur ein Betriebsrat etwas haben, der nicht bereit ist zu lernen, sich den Anforderungen, die von unten, vom Fließband, aus den Hallen kommen, zu stellen.Weiterhin ist es auch nicht zu verachten, wenn die Ergebnisse der Betriebsratswahl und die Besetzung der Ausschüsse nach d'Hondt vorgenommen werden; denn wir haben es erlebt, daß eine Gruppe, die 30 % der Arbeitnehmerstimmen erhalten hatte, in den Ausschüssen nicht vertreten war, weil das die IG Metall mit ihrer Betriebsratsmehrheit verhindert hat. Ich kann nur sagen, daß es im Interesse der Gewerkschaften und der Betriebsräte, die in ihrer Leistung nachgelassen haben, wichtig ist, daß sie an den Wahlergebnissen erkennen, daß sie ihre Arbeit verbessern müssen.Ich glaube, daß alle Fraktionen in die Beratung darüber eintreten sollten und sich die Gewerkschafter in unserem Hause nicht so verstockt verhalten und sagen sollten, daß alles, was an Vorschlägen gemacht worden ist, ein Angriff auf die Rechte der Arbeitnehmer sei. Es gibt auch Vorstellungen, die eine Verbesserung der Arbeit in den Betrieben ermöglichen. Ich denke, daß Kritik noch nie jemandem geschadet hat. Das, was hier in diesem Hause an Minderheitenschutz praktiziert wird, gilt es auch in den Betrieben und innerhalb der Gewerkschaften zu wahren.Besten Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Begründung für die Beantragung dieser Aktuellen Stunde ist, wenn ich das richtig mitbekommen habe, die gewesen, daß die Auskunft der Regierung auf die Fragen nicht ausreichend gewesen sei.
Ich glaube, daß die Regierung so geantwortet hat, wie sie antworten mußte.
Sie kann zu diesem Problem überhaupt nichts anderes als das sagen, was sie gesagt hat; denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, es handelt sich hier um eine Initiative einiger Fraktionen, und die Regierung selber ist in dieser Frage nicht initiativ geworden. Ich füge in Klammern hinzu, nach meiner Auffassung: leider. Insofern hat die Regierung nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet. Da ja in der Fragestunde die Fragen an die Regierung und nicht an die anderen Fraktionen gerichtet werden, hat die Regierung auch konsequent gehandelt. Daher muß man sie — wie so häufig — in Schutz nehmen.
Was die Sache selber anbelangt, so kann man schlecht Auskunft geben, wenn eine Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen ist. Wir befinden uns im Stadium der Beratungen.Ich will hier gerne sagen, wie unsere Positionen in diesem Beratungsstadium sind. Wir sind in der Tat der Meinung, daß der Minderheitenschutz zu fördern ist. Ich stehe nicht an, hier zu sagen, daß sich einige der Kritikpunkte, die der Kollege Hoss hier vorgetragen hat, durchaus mit meiner Kritik decken.
So ist nicht zu leugnen, daß wir bei der Frage des Quorums eine Überprüfung ernsthaft in Erwägung ziehen. Es ist auch nicht zu leugnen, daß die jetzige Regelung, was die Freistellung anbelangt, zu Majorisierungen führt, die bei richtigem Verständnis auch von Ihnen nicht als akzeptabel betrachtet werden können.
Ergänzend hierzu muß man sagen — auch dies ist für niemanden, der mich kennt, überraschend —, daß die Frage der leitenden Angestellten, die Einrichtung von Sprecherausschüssen — die für uns auch eine sinnvolle Vertretung von Minderheiten ist — einer ernsthaften Erörterung bedarf.
Ich stehe auch nicht an zu sagen, daß ich mit dem jetzigen Beratungsstadium nicht voll zufrieden bin, denn die Fraktionen haben sich noch nicht einmal dazu durchringen können, eine notwendige Neude-
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8894 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Cronenberg
finition des Begriffes der leitenden Angestellten ernsthaft in Erwägung zu ziehen.
Insofern können wir diese Aktuelle Stunde sozusagen als Aufforderung betrachten, auch diesen Bereich erneut aufzugreifen.
Ich meine, das sind — mindestens von der Thematik her — alles Vorstellungen, die durchaus vernünftig und diskutabel sind; sie sind aber nicht so abgeschlossen, daß die Regierung hier über den Stand der Beratung in den Fraktionen Auskunft geben kann. Unter dem Strich habe ich den Eindruck: viel Aufregung um wenig Sache.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat verstehe ich weder die Aufregung noch die Frage.
Welches Selbstverständnis steht denn hinter der Frage, was die Regierung von einer Initiative von Parlamentsfraktionen hält? Diese Koalitionsfraktionen sind so selbständig, daß sie für ihre Arbeit nicht die Noten der Regierung brauchen.
Alles Gute muß auch nicht von der Regierung kommen.Kommen wir direkt zur Sache. Dahinter steht ja auch ein Streit um Gewerkschaftsverständnis und zwischen Gewerkschaften. Ich will keinen Zweifel daran lassen, daß ich überzeugter Einheitsgewerkschafter bin. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß die Einheitsgewerkschaft — bei allen Mängeln, die sie hat und unter denen auch ich leide — große Verdienste hat.
Obwohl ich Einheitsgewerkschafter bin, bin ich dennoch für Minderheitenschutz.
Meine Damen und Herren, ich will das einmal an einem Beispiel deutlich machen. Da erhält eine Gruppe, der CGB — dem ich nicht angehöre —, in einem Betrieb acht Plätze, und zwar von den Wählern. Das ist der Souverän. Von den 32 freigestellten Betriebsräten erhält kein einziger vom CGB eine Freistellung. Das verstehe ich als Verletzung der Toleranz.
Souverän ist der Wähler; wenn der CGB die Stimmen hat, dann muß er auch proportional an derFührung der Geschäfte des Betriebsrates beteiligt werden. Das ist mein Verständnis.
— Was würden Sie denn, Herr Becker, machen, wenn wir mit Mehrheit die Ausschüsse ausschließlich durch CDU und FDP besetzen würden? Was würden Sie dann hier machen?
Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: Ich bin Einheitsgewerkschafter, halte sie für einen großen Fortschritt, aber ich bin ebenso Anhänger des Minderheitenschutzes, weil es das Toleranzprinzip gebietet. Ich hätte mir gewünscht und werde mir wünschen, daß dieses Toleranzprinzip freiwillig berücksichtigt wird. Die Gewerkschaften mußten sich gegen Intolerante durchsetzen. Ein Teil der Geschichte der Arbeiterbewegung ist Kampf gegen die Intoleranz. Jetzt dürfen doch die Gewerkschaften nicht den Fehler machen, daß sie sich dort, wo sie Rechte haben, so benehmen wie diejenigen, die sie früher bekämpft haben; das halte ich für einen Widerspruch.
Ich würde mir wünschen, daß sich diese Toleranz freiwillig, aus eigener Kraft einstellt; wenn sie sich nicht freiwillig einstellt, muß der Gesetzgeber her, das sehe ich auch. Aber der Ruf nach dem Gesetzgeber wäre nie laut geworden, hätte es in vielen Betrieben nicht so viel Intoleranz gegeben.Ich hoffe, daß der Meinungsaustausch zwischen den Gewerkschaften und den Fraktionen auch beide Seiten nachdenklich macht. Insofern hilft die Initiative, auch noch einmal über Selbstverständnis in den Gewerkschaften nachzudenken. Ich kann die Reihe der Beispiele fortsetzen. Wenn die Deutsche Angestelltengewerkschaft auf der Angestelltenseite vier Plätze erhält und die IG Metall, der ich angehöre, nur einen, dann, finde ich, ist es eigentlich gegen die Gesetze der Toleranz und der Fairneß gerichtet, daß ausgerechnet dieser eine „Metaller" stellvertretender Betriebsratsvorsitzender und damit Spitzenpräsentant der Angestelltengruppe wird. Das widerspricht meinem Gefühl für Spielregeln der Demokratie, die auch in der Betriebsverfassung gelten müssen.Lassen Sie mich auch etwas zum leitenden Angestellten sagen, damit Ihre Aufregung da ihre richtige Ursache findet. Der leitende Angestellte ist in die Mitbestimmung mit Hilfe der Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsgesetze gekommen, die unter Ihrer Federführung erlassen wurden. Die Sprecherausschüsse sind j a nun einmal vorhanden, 400 an der Zahl. Die Frage ist nur, ob man sie rechtlich absichert. Ich würde allerdings bei aller rechtlicher Absicherung auch darauf achten, daß der Betriebsrat Betriebsrat bleibt. Wie ich die Fraktionen und auch die Initiative aus den Koalitionsfraktionen verstehe, ist der Ausschuß für leitende Angestellte, der Sprecherausschuß nie als eine Konkurrenzinstitution zum Betriebsrat gesehen worden. Es ist nie so gesehen worden, daß sozusagen neben
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8895
Bundesminister Dr. Blümden Betriebsrat eine eigene, gleichgewichtige Interesseninstanz der leitenden Angestellten gehört, sondern so, wie es das in der Betriebsverfassung auch noch an anderer Stelle gibt, daß besondere Interessen unter einen besonderen Akzent gesetzt werden. Denn ich bleibe auch dabei: Diese Einheit der Betriebsverfassung hat verhindert, daß wir Gruppenräte haben; auch das war Erleichterung, und auch das hat dazu beigetragen, den sozialen Dialog in den Betrieben zu versachlichen. Diese Errungenschaft soll, wie ich sehe, von keiner Seite in Frage gestellt werden.Was die Mitbestimmung anbelangt: Die Mitbestimmung läßt sich doch nicht auf Minderheitenschutz und leitende Angestellte reduzieren. Wir stehen zu den Mitbestimmungsgesetzen. Alle Parteien sehen, daß Arbeitnehmer mitreden sollen, auch bei der Einführung neuer Techniken. Natürlich, wir wollen doch nicht die Maschinenstürmer des vergangenen Jahrhunderts. Nein, wir wollen doch anerkennen, daß in der deutschen Arbeiterbewegung die Maschinenstürmereien nie Mehrheiten hatten und hoffentlich auch nie bekommen werden. Deswegen ermuntere ich Betriebsräte wie Arbeitgeber, die Einführung neuer Technologien mit dem Gespräch, mit der Mitsprache, mit der Mitbestimmung der Betroffenen zu verbinden.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Fuchs .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, das Thema Mitbestimmung ist für uns alle ein sehr wichtiges, und uns geht es heute in dieser Aktuellen Stunde darum, daß noch einmal deutlich wird, um welch wichtiges Gut wir miteinander diskutieren. Denn es besteht doch Übereinstimmung, daß nach dem Zweiten Weltkrieg durch Mitbestimmung, durch Einheitsgewerkschaften — ich sage, Kollege Müller, auch durch das Industriegewerkschaftsprinzip; aber das ist bei Ihnen ein bißchen ins Rutschen geraten — und durch den Ausbau der Betriebsverfassung ein wesentlicher Beitrag geleistet worden ist, um mit sozialem Frieden den ganzen Aufbau möglich zu machen.
Deswegen sind wir so allergisch, wenn wegen der Koalition aus GRÜNEN und FDP die bewährten Prinzipien so leichtfertig aufgegeben werden.
Von daher hat es mich heute morgen schon gewundert, und ich möchte es ansprechen, daß auch im Jahreswirtschaftsbericht, Herr Bundesarbeitsminister, bei dem Thema technologische Entwicklung Mitbestimmung, soziale Gestaltung der Industriegesellschaft in das Jahr 2000 hinein von dieser Bundesregierung überhaupt nicht erfaßt wird. Ich hoffe, daß Sie darüber nachdenken. Ich habe nicht die Absicht, hier Polemik zu machen.Ich muß Ihnen sagen: Wir Sozialdemokraten sind in dieser Frage mit dem DGB einig, und ich höre auch von dem Bundesverband der Arbeitgeberverbände und vom BDI, daß sie große Sorgen haben, wenn aus kleinlicher — Entschuldigung, Herr Cronenberg — Parteitaktik und wegen des CGB, der bei Ihnen inzwischen offensichtlich eine größere Rolle spielt als der DGB, nun Minderheitenregelungen kommen könnten, von denen niemand so recht weiß, welche Auswirkungen sie haben.Ich habe gar nichts dagegen, daß man auf Grund des Gerichtsurteils über das Thema spricht
und daß man Regelungen finden kann, die kompromißfähig sind. Aber Sie müssen die Folgen bedenken, was es für die Arbeit in den Unternehmen heißen könnte, wenn Sie für Chaoten Tür und Tor öffnen, und vor dieser Gefahr möchte ich ganz eindringlich warnen.
— Regen Sie sich doch nicht immer gleich auf! Denken Sie doch nach, bevor Sie anfangen zu brüllen! Es ist doch eine Gefahr, die in Ihrem Vorschlag steckt.
Für die geplanten Regelungen für die leitenden Angestellten habe ich überhaupt kein Verständnis.
Wie können Sie als CDU-Abgeordnete auf die Idee kommen, nunmehr zur Entsolidarisierung der Arbeitnehmerschaft beizutragen, indem Sie einen Teil mit Arbeitgeberfunktion — das sind nämlich die leitenden Angestellten — auf die Arbeitnehmerbank setzen?
Sie wissen, daß wir schon in den Gesetzen, die wir gemacht haben, diese Sonderregelung für einen Teil der Arbeitnehmer nie recht verstanden haben. Auch hier wiederhole ich, meine Damen und Herren von der FDP, so glücklich ist die Wirtschaft über diesen Ihren Vorschlag nicht; denn sie hat kein Interesse an einer weiteren Aufsplitterung der Arbeitnehmerschaft. Ich stimme dem Kollegen Hoss insofern zu, als er das Bedauern zum Ausdruck gebracht hat, daß hier nun in der Diskussion der Versuch gemacht wird, die Pluralität der Arbeitnehmerschaft zu beschwören. Dieses schwächt eine organisierte Arbeitnehmervertretung in den Unternehmen. Das muß man doch in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit bedenken.
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8896 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Frau Fuchs
Ich wünschte mir, Herr Bundesarbeitsminister, daß wir baldigst auch in dieser Frage eine Perspektive von Ihnen bekommen. Ich habe zwar keine große Hoffnung bei Ihnen, aber ich will Ihnen Anregungen geben. Meine Sorge ist, Sie werden keinen Gesetzentwurf vorlegen, der für die Montan-Mitbestimmung eine Sicherung bringt. Meine Sorge ist, Sie werden keinen Gesetzentwurf bringen, der die Weiterentwicklung des Betriebsverfassungsgesetzes beinhaltet, aber Sie werden das Negative realisieren müssen, und die Mitbestimmung insgesamt bleibt dabei auf der Strecke. Das ist meine Sorge.Ich möchte zum Abschluß noch einmal darauf hinweisen, hier geht ein Stück Geschichte kaputt, wenn wir uns nicht bewußt machen, daß nur mit mehr Mitbestimmung und nicht mit weniger Mitbestimmung der soziale Friede erhalten bleibt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Broll.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Fuchs mag ihre eigenen Erfahrungen mit Chaoten haben.
Wir wissen, daß Chaoten in der Regel nicht aus der Gruppe der Arbeitnehmer kommen und daß es eine ziemliche Beleidigung der Arbeitnehmerschaft unserer Bundesrepublik ist
anzunehmen, daß, wenn ein Quorum von 10 % auf 3 % heruntergesetzt wird, womit wir einem Verfassungsgerichtsspruch folgen, damit den Chaoten etwa Tür und Tor geöffnet wären. Vertrauen Sie ruhig etwas mehr der Vernunft der deutschen Arbeitnehmer!
Die wissen in Wirklichkeit sehr gut zu unterscheiden, wer ihre Interessen wahrnimmt und wer nur seine eigenen Interessen wahrnimmt,
oder wer etwa vorgibt, die Interessen wahrzunehmen, sich am Ende aber nur als Demagoge herausstellt.
Etwas anderes, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die SPD tut so, als ob durch Überlegungen bei uns das Thema Mitbestimmung tangiert wäre. Es geht doch gar nicht um Mitbestimmung. Es geht im Grunde um Monopole, in diesem Fall allerdings um Monopole bestimmter jeweils monopolmächtiger Gewerkschaften.Ich habe hier in der Hand einen Wahlaufruf, ein Vorbereitungspapier für die Personalratswahlen 1985 der Deutschen Postgewerkschaft. Da steht: „Möglichst alle Unterschriften einholen. "
— Ich sehe, daß Sie die Prinzipien, nach denen wir das beurteilen, nicht teilen. Wir sind dafür, daß jeder Arbeitnehmer in geheimer Wahl seine Kandidaten wählt
und daß in den Betriebsräten die Gruppen, die sich je nach Stärke ihrer Anhängerschaft im Betriebsrat darstellen, mitbestimmen. Das ist die geheime Wahl und die freie Entscheidung der Arbeitnehmer.Aber wie ist es hier denn in Wirklichkeit gemeint? Es gibt auch im öffentlichen Dienst Betriebsverwaltungen, in denen eine Gewerkschaft, ein Verband quasi ein Monopol hat;
nicht nur bei der Vertretung, bei den Wahlen, sondern bis in die Personalentscheidungsetagen hinein. Sie wissen ganz genau, was es bedeutet, in einer Behörde, wo Mitbestimmung gilt und Mitwirkung der Personalvertretungen Gesetz ist, Vorgesetzte, Personalabteilungsleiter zu haben, die zum gegnerischen Verband gehören und die einem häufig deutlich zu verstehen geben, daß man, wenn man nicht bei der und der Liste unterschreibt, nicht nur keine Chance hat, befördert zu werden, sondern sogar bei der nächsten Entlassungsaktion als erster dran sein wird.
Zur öffentlichen Bekenntnisunterschrift werden Leute möglicherweise gezwungen.
Wenn jemand glaubt, auf diese Weise Demokratie zu verwirklichen, sage ich nur: Das ist nicht Demokratie, das ist Ziel Machtmonopol.
Es ist eines unserer Bestrebungen, das, soweit es gesetzlich und praktisch möglich ist, in Grenzen zu halten. Es ist zum Teil wirklich nur die späte Reaktion des Gesetzgebers auf Machtmißbräuche,
die möglicherweise nicht als Ziel im Programm einer Gewerkschaft stehen, die aber vor Ort praktiziert werden.
Hinter der Zahl 3 % als Unterschriftenquorum für jedwede Liste steht die Überlegung, daß das Verfassungsgericht verlangt; das Quorum bei der Unterschriftenleistung darf nicht größer sein als die Zahl der Stimmen, die jemand — möglicherweise bei geringer Wahlbeteiligung in der Dienststelle — bekommen müßte, um in den Personalrat oder den Betriebsrat gewählt zu werden. 3 oder 4 % sind die Marge, um die wir uns bewegen müssen. Nichts
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8897
Brollanderes. Alles Gerede von Mitbestimmung in Gefahr geht wirklich völlig an der Realität vorbei.
Ich bin der Regierung im übrigen dankbar, daß sie die Aktivitäten der beiden Koalitionsfraktionen so gewürdigt hat. Zu Recht hat Minister Blüm selbst gesagt, daß in dieser Phase die Meinung der Regierung relativ unwichtig sei. Unsere Meinung ist gefragt. Wir werden das in einem Gesetzentwurf vorlegen, und Sie werden Stellung nehmen. Die Arbeitnehmer werden beurteilen, wer Mitbestimmung der Arbeitnehmer in ihrer Pluralität will oder wer Monopole haben will.
Das Wort hat der Abgeordnete Urbaniak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben die Aktuelle Stunde beantragt, Kollege Blüm, weil ich Ihren Staatssekretär gefragt habe, ob denn die Bundesregierung eine Meinung habe, und er gesagt hat, ja, sie habe eine Meinung, er könne dem Hause aber nur seine persönliche vortragen. Was ist denn das für ein Verhältnis zum Parlament? Wenn Sie eine haben, dann legen Sie sie doch dar. Er war nicht in der Lage, das zu tun. Diese komplizierte und schwierige Frage so schludrig anzupacken ist unerhört. Das will ich Ihnen einmal sagen.
Hier ist von Mißbrauch des Deutschen Gewerkschaftsbundes bei den Betriebsratswahlen gesprochen worden. Nennen Sie Roß und Reiter, wo und was da geschehen ist! Die starken Gewerkschaften haben für klare, saubere, ordnungsgemäße Verhältnisse und für eine gute Vertretung der Arbeitnehmerschaft in den Betrieben gesorgt. Dafür sollten wir ihnen dankbar sein.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat mit demokratischen Mitteln in Auseinandersetzung mit anderen über 80 % der Mandate gewonnen. Das ist ordnungsgemäß verlaufen. Keiner von der sozialdemokratischen Opposition regt sich wegen der Vorgänge auf, die in Ihren Reihen passieren. Sie sind schlimm genug.
Aber hier werden 25 Millionen Arbeitnehmer betroffen und mit einer Frage überzogen, die Unsicherheit bewirkt und die die Vertretung ihrer betrieblichen Interessen in Gefahr bringt. Meine Damen und Herren, Sie scheinen sich über die Dimension nicht klar zu sein.
Sie zielen bei der Minderheitenregelung, die übrigens seit über 30 Jahren praktiziert wird, darauf ab, daß die Organisationsvorschriften, die wir haben, geändert werden. Sie bringen Unsicherheit und öffnen, wie ich meine, Tür und Tor für extreme und egoistische Vertreter. Das bringt für die Arbeitnehmerschaft überhaupt nichts.
Sie wollen darüber hinaus den gewerkschaftlichen Einfluß zurückdrängen. Sie wollen die Konstituierung im Betriebsrat verunsichern und das Mehrheitswahlrecht zerstören. Sie wollen die leitenden Angestellten dem Betriebsrat aufpfropfen. DGB und DAG sind dagegen.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen mit aller Offenheit: Staatssekretär Westrick hat damals im Parlament dargelegt, es sei ja schlimm, daß in Bundesunternehmen in verschiedene Betriebsräte extreme Gruppen eingezogen seien, und die Bundesregierung müsse Maßnahmen ergreifen, um die Wahlvorschriften zu verschärfen.
Sie machen es umgekehrt, und zwar in eine Richtung, die zur Verstümmelung der Betriebsverfassung führt. Professor Herschel warnt uns alle und insbesondere Sie, an Hand seiner Erfahrungen und wissenschaftlichen Untersuchungen aus den 20er Jahren davor, Weimarer Verhältnissen Vorschub zu leisten. Er legt das an Hand der Überlegungen der Rechtskoalition dar und warnt ausdrücklich davor.
Zum Schluß möchte ich Ihnen deshalb folgendes sagen. Der DGB erklärt: Den Arbeitnehmern ist bewußt, welche Fortschritte das Betriebsverfassungsgesetz aus dem Jahre 1972 beinhaltet. Für dieses Gesetz haben die Gewerkschaften 20 Jahre gekämpft, auch wenn nicht alles so ist, wie sie es wollen. Eine Verschlechterung der Betriebsverfassung wäre ein weiteres und ein entscheidendes Stück der Politik der Wende nach rechts.
Dabei wären dann auch die Einheitsgewerkschafter Müller und Norbert Blüm. Das wollte ich Ihnen hier mit aller Deutlichkeit sagen.
Das Wort hat der Abgeordnete Pohlmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat hat der Kollege Cronenberg recht, daß wir uns erst im Stadium der Beratung befinden und daß die Aufgeregtheit hier sicherlich etwas fehl am Platze ist. Persönlich möchte ich hier erklären, daß mir die Beratung viel zu langsam vor sich geht. Aber ich hoffe, daß am Ende der Beratungen eine vernünftige Entscheidung stehen wird.Sie wissen — das ist sicherlich auch nichts Neues für Sie, meine Damen und Herren, daß die Koalitionsfraktionen die gesetzliche Verankerung von Sprecherausschüssen wollen. Das ist j a nicht eine neue Forderung, die wir jetzt verwirklichen werden, sondern wir befinden uns in der Kontinuität unserer Politik. Ich darf Sie daran erinnern, daß wir bei der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 einen entsprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Ich darf Sie auch daran erinnern, daß 1979 ein Gruppenantrag der CDU/CSU-Fraktion mit über 160 Unterschriften gestellt wurde — der größte Gruppenantrag, den es jemals im Deutschen Bundestag gegeben hat —, wo wir ebenfalls die Forderung nach Verankerung von Sprecherausschüssen gestellt haben.
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PohlmannWir stellen diese Forderung, weil wir die Pluralität in den Betrieben anerkennen wollen. Sie kommen nicht an der Realität vorbei, daß es 400 000 leitende Angestellte gibt, die nicht dem Schutz des Betriebsverfassungsgesetzes unterliegen. Realität ist auch, daß 1976 im Mitbestimmungsgesetz der leitende Angestellte erstmals vorn Gesetzgeber anerkannt worden ist; erstmals hat hier der Gesetzgeber dem leitenden Angestellten eine zusätzliche Verantwortung gegeben. Ich glaube, wenn Sie sich die Entwicklung von 1976 bis heute anschauen, stellen Sie fest, daß die leitenden Angestellten im Rahmen dieses Mitbestimmungsgesetzes durchaus eine positive Rolle gespielt haben.
Wir leugnen die Existenz dieser eigenständigen Gruppe nicht. Wir wollen den Einheit-Arbeitnehmer nicht.Nun haben Sie, Frau Fuchs, davon gesprochen, daß leitende Angestellte Arbeitgeber seien. Das ist schlicht falsch, Frau Fuchs.
Leitende Angestellte sind Arbeitnehmer, die in abhängiger Arbeit innerhalb der Unternehmen stehen. Es ist auch nicht richtig, wenn Sie hier von einer Spaltung der Arbeitnehmerschaft und einer Entsolidarisierung der Arbeitnehmerschaft sprechen. Davon kann einfach keine Rede sein. Ich meine, Monopolansprüche sind für eine freiheitliche Entwicklung immer gefährlich.
Wir wollen keinen Streit in die Betriebe hineintragen. Auch sollen die Befugnisse des Betriebsrats nicht geschmälert werden. Für den Mann, der an der Drehbank steht, ändert sich durch die gesetzliche Verankerung von Sprecherausschüssen überhaupt nichts.
Ich bitte Sie: Sprechen Sie doch mal mit den leitenden Angestellten! Sprechen Sie auch mit den Betriebsräten!
Es ist ja gar nicht der Wille vorhanden, hier in den Betrieb Dissonanzen hineinzutragen. Bundesarbeitsminister Blüm hat schon darauf hingewiesen —: Wir haben schon heute mehrere hundert Sprecherausschüsse in der Bundesrepublik Deutschland. 60 % aller leitenden Angestellten unterstehen dem Schutz der Sprecherausschüsse. Diese Sprecherausschüsse arbeiten seit vielen Jahren mit den Betriebsräten zusammen. Ich bitte Sie: Gehen Sie mal in die Betriebe, sprechen Sie mit den verschiedenen Gruppierungen, und Sie werden erkennen, daß es hier durchaus eine sehr harmonische Zusammenarbeit gibt.
Wenn wir unseren Entwurf einbringen, Herr Kollege Urbaniak, wird es ein Ziel dieses Entwurfs sein, hier nicht einen Streit zu entfachen. Vielmehr wird sich wie ein roter Faden durch den Entwurf ziehen die gute Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und — —
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte Sie, den Schlußsatz zu sprechen.
Ich darf den letzten Satz eben noch aussprechen: — — zwischen dem Betriebsrat und dem Sprecherausschuß. Wir werden die notwendigen — —
Nein!
— — Rahmenbedingungen schaffen.
Es war nur ein Satz zugebilligt.
Das Wort hat der Abgeordnete Burgmann.
Meine Damen und Herren! Wenn der Herr Broll eben von Monopolen und Machtmonopolen gesprochen hat, dann müßten wir in diesem Zusammenhang über die Machtmonopole der Konzerne reden. Damit haben sich die Gewerkschaften auseinanderzusetzen. Das ist für uns der Grund, auch dafür zu sein, daß wir sehr starke Gewerkschaften brauchen, die in der Lage sind, sich mit diesen Monopolen auseinanderzusetzen. Aber das kann natürlich nicht bedeuten, daß die Gewerkschaften per se einen Alleinvertretungsanspruch bekommen. Ihren Vertretungsanspruch müssen sie sich jederzeit wieder durch Wahlen erwerben,
und die müssen von Chancengleichheit ausgehen. Genau die gleiche Position, die mein Freund Willi Hoss hier aus seiner persönlichen Betroffenheit geschildert hat, habe ich als Mitglied der IG Metall auch immer vertreten: die Position, daß Minderheiten die gleichen Rechte haben müssen.Aber wenn es dieser Regierungskoalition um Minderheitenschutz ginge, hätte sie uns j a auch in dem Augenblick unterstützen müssen, als es darum ging, die GRÜNEN in dieses Gremium zur Kontrolle der Geheimdienste zu wählen. Da zeigt sich, daß es ganz offensichtlich nicht um Minderheitenschutz geht, sondern um Politik,
um Politik zum Zwecke der Spaltung der Arbeitnehmerschaft.Wir werden die Differenzen noch weiter deutlich machen, wenn es darum geht, hier über Mitbestimmung und über die Frage, wie Mitbestimmung im Interesse der Arbeitnehmerschaft ausgedehnt werden kann, ausführlicher zu reden. Da meinen wir, daß ein ganz erheblicher Nachholbedarf besteht. Angesichts der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der zunehmenden Rationalisierung fordern wir mehr Mitbestimmung des Betriebsrates bei personellen Angelegenheiten, bei Betriebsveränderun-
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Burgmanngen, bei Rationalisierungen und bei Einführung neuer Technologien.
Deshalb meinen wir auch, daß die Kollegen im Betrieb wieder das Streikrecht haben müssen, um ihre Interessen durchsetzen zu können, und daß sie ein Arbeitsverweigerungsrecht haben, wenn man ihnen Arbeiten zumutet, die unzumutbar sind. Vor allem meinen wir, daß das Initiativ- und Mitbestimmungsrecht jedes einzelnen Arbeitnehmers am Arbeitsplatz ganz erheblich ausgebaut werden kann, damit jeder einzelne Arbeitnehmer von seinem Arbeitsplatz her initiativ werden kann. Wenn wir über diese Punkte debattieren werden, wird wieder deutlich werden, wo hier die Grenzen verlaufen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Faltlhauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Urbaniak hat hier die Interessen der Arbeitnehmer im Betrieb beschworen; auf die solle man vornehmlich Rücksicht nehmen.
Ich erzähle Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreis. Da ist MAN angesiedelt, und dort fanden Betriebsratswahlen statt. Eine Gruppierung, die CMV, die Christliche Metallarbeiter-Vereinigung, hat sich mit zur Wahl gestellt. Sie hat 27,3 % der Stimmen bekommen; das waren von 33 Betriebsräten 9. Diese 9 Betriebsräte konnten für die gesamte Wahlperiode nicht wirklich im Interesse derjenigen arbeiten, die sie gewählt hatten, weil sie erstens keinen einzigen freigestellten Betriebsrat bekamen, zweitens nicht in den Wirtschaftsausschuß zugelassen wurden und drittens nicht im Personalausschuß vertreten waren. Im Kantinenausschuß waren sie vertreten!
Meine Damen und Herren, wo ist denn da die Vertretung der Arbeitnehmerinteressen? Wo ist da eine demokratische Rücksichtnahme auf diejenigen, auf die 27,3 % der Stimmen entfielen?
Dieses Beispiel, ganz hautnah in meinem Wahlkreis, hat mich sehr beeindruckt. Ich würde meinen, man sollte daraus gesetzgeberisch die Konsequenzen ziehen und diese undemokratischen Möglichkeiten unterbinden.Im November letzten Jahres war hier in Bonn die ULA mit ihrer Delegiertenversammlung, und da war, meine Damen und Herren von der SPD, auch Ihr Bundesgeschäftsführer, der Herr Dr. Glotz. Er hat sich in seiner Begrüßungsrede hingestellt und hat — wenn ich ihn ungefähr wörtlich zitieren darf — gesagt: Wir von der SPD werden in einer breiten Initiative auf die leitenden Angestellten zugehen; das entspreche deren Bedeutung. Die SPD habe also mit den leitenden Angestellten ganz neue Dinge vor;
eine breite Front von Initiativen werde die SPD ergreifen.
Ich frage mich: Wo ist hier im Bundestag diese breite Front? Ist da der General vorgelaufen, und die Leute hinten sind schon nicht mehr da?Ich meine, Herr Glotz hat richtig erkannt, daß die leitenden Angestellten nicht nur im Betrieb an Zahl immer wichtiger werden, sondern auch in ihrer soziologischen Bedeutung immer mehr eine eigene Gruppe mit einem Gruppenbewußtsein innerhalb des Unternehmens und außerhalb des Unternehmens werden. Dieses Bewußtsein sagt ihnen einfach, daß es in den Unternehmen ein Gefälle der arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften zuungunsten der leitenden Angestellten gibt.Nehmen Sie das Beispiel der Fusionen. Wer ist denn da zuerst betroffen? Doch nicht der Arbeiter unten am Fließband! Da rollen die Köpfe oben bei den Leitenden — und nicht zu knapp, meine Damen und Herren! Da braucht es weiß Gott entsprechende Schutzvorschriften.
Wir — auch Sie, Frau Kollegin Fuchs von der SPD — müssen konsequent sein mit der rechtlichen Vorgabe. Herr Pohlmann hat schon gesagt, daß wir bereits 1972 die Leitenden herausgestellt haben. 1976 haben wir dokumentiert, daß es drei Gruppen gibt: Arbeiter, Angestellte und Leitende. Das Bundesarbeitsgericht hat gesagt: „Leitende dürfen nicht als einzige Arbeitnehmer im Unternehmen von einer gemeinsamen Wahrnehmung ihrer Interessen ausgeschlossen werden."Ich meine, dieser Bundestag hat seine Verpflichtung, aus diesen rechtlichen Vorgaben, die wir uns zum Teil selbst gegeben haben und die das Bundesarbeitsgericht vorgegeben hat, Konsequenzen zu ziehen. Die Leitenden haben ein gemeinsames Interesse. Sie brauchen gemeinsamen Schutz. Wir müssen diesen Vorgaben einen vernünftigen rechtlichen Rahmen geben. Die Betroffenen wollen das. 95 % der Leitenden im Bergbau z. B. haben sich bei einer Befragung für Sprecherausschüsse ausgesprochen. Ich kann Sie von der SPD nur auffordern: Tun Sie nicht immer nur das, was die Funktionäre der Arbeitnehmer wollen! Tun Sie endlich auch das, was die Arbeitnehmer selber wollen! Die wollen weiß Gott solche Sprecherausschüsse. Sonst würden sich nicht 800 Sprecherausschüsse — wie der Arbeitsminister schon gesagt hat — auf freiwilliger Basis gebildet haben.Ich sage noch etwas zum Schluß. Ich glaube, die Opposition sollte auch einen Beitrag leisten für ihre
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Dr. Faltlhausereigene Glaubwürdigkeit. Die SPD tut sich immer besonders hervor, wenn es darum geht, Minderheiten überall in der Welt zu schützen. Ich kann Sie nur auffordern: Schützen Sie die Minderheiten auch in unserem Lande, in unseren Betrieben! Wir wollen das. Tun Sie da mit, dann tun Sie etwas Praktisches im Minderheitenschutz.
Das Wort hat der Abgeordnete Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es ziemlich unerträglich, wenn die Bundesregierung mit ihren Mitgliedern im Jahre 1984 laufend auf Gewerkschaftskongressen die Leistung von Betriebsräten und von Gewerkschaften innerhalb der Zeitabläufe der zweiten deutschen Republik würdigt und ohne Reaktion auf dieser Regierungsbank sitzt, wenn von Ihrer Fraktion, Herr Blüm, einzelne Abgeordnete diese Leistung mit „undemokratisch" und sonstigen Beschimpfungen hier kleinmachen.
Dann müssen Sie einmal hier vorkommen und das zurückweisen und nicht nur Sonntagsreden auf Gewerkschaftskongressen halten.
Worum geht es hier eigentlich? Es geht darum, daß diese Regierung 0,8 % der gewählten Betriebsräte mit Rechten auszustatten gedenkt, von denen bereits einer der Vorgänger Ihres jetzigen Bundeskanzlers und auch einer Ihrer Vorgänger in der Sozialpolitik, Herr Blüm, nämlich Jakob Kaiser und Konrad Adenauer, meinten, daß sie nicht die richtige Methode wären, die Ergebnisse von vor dem Zweiten Weltkrieg erneut in deutsche Betriebe einziehen zu lassen.
Merken Sie denn eigentlich gar nicht, was hier auf dem Spiel steht, daß es nicht darum geht, hier 0,8 % zu befriedigen, daß es nicht darum geht, Pluralismus in den Betrieben zu haben? Wenn es um Chancengleichheit geht, warum gehen Sie dann nicht her und machen für die gesamte Arbeitnehmerschaft in der Betriebsverfassung eine neue Chancenrunde auf? Es gibt Chancen zur Verbesserung der Mitbestimmung bei Kündigungen, es gibt Chancen zur Verbesserung der Mitbestimmung bei Einstellungen, es gibt Chancen zur Verbesserung der Mitbestimmung bei Personalplanung, und, Herr Blüm, es gibt Chancen zur Verbesserung der Mitbestimmung bei der Einführung neuer Technologien. Aber machen Sie nicht nur Beschlüsse auf CDAKongressen, sondern machen Sie mit uns Gesetzentwürfe! Wir sind dazu bereit.
Merken Sie eigentlich gar nicht, daß Sie mit diesen 0,8 % alleine stehen?
Die Arbeitgeberverbände sind mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund völlig einer Meinung. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" ist doch sonst eine beliebte Zeitung, die Sie hier zitieren. Darf ich Ihnen die vom 2. Februar einmal vorhalten, Herr Reddemann? Da heißt es wörtlich, daß die Arbeitgeberseite nur die Konkurrenz der Interessenvertretung im Betriebsrat verstärkt sehe, es zu Machtkämpfen führe, radikalen Grüppchen Chancen einräume und so die Arbeit im Betriebsrat erheblich erschwere.
Herr Blüm, Sie haben soeben hier gesagt, die Regierungsfraktionen seien so selbständig, daß sie nicht die Noten der Regierung brauchten. Ich frage Sie: Stehen Sie zu dem Schreiben Ihres Parlamentarischen Staatssekretärs Wolfgang Vogt vom 27. April 1984 an den lieben Adolf — gemeint ist der Kollege Müller —, wo Sie wörtlich schreiben, daß durch die Veränderungen im Wahlvorschlagsrecht einer der wichtigsten Grundsätze der Betriebsverfassung durchbrochen würde, daß die Bildung des Betriebsrats eine interne Angelegenheit der im Betrieb Beschäftigten ist? Stehen Sie noch dazu, oder haben Sie Ihre Meinung im Laufe eines Jahres geändert? Stehen Sie dazu, daß Ihr Haus in einer Expertise erklärt hat, wenn dieser Vorschlag Gesetz werde, müßten Sie auch die Mitbestimmung in den Unternehmen angreifen, also das Mitbestimmungsgesetz von 1976? Stehen Sie noch dazu, daß Ihr Haus am gleichen Tag formuliert hat, daß dieser Vorschlag eine Überrepräsentation von Minderheitengewerkschaften stütze? Ich bitte Sie, das dem Haus hier zu erklären.
Zusammengefaßt: Gewerkschaften wollen es nicht. Unternehmerverbände wollen es nicht. Die Betriebsräte wollen es nicht. Das wollen Leute, Herr Blüm, die Parteipolitik in die Betriebe tragen wollen.
Da rufen wir Sie auf, mit uns gemeinsam, mit den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden dieses Ansinnen zu verhindern.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dreßler, mir ist bisher noch nicht klargeworden, wieso eigentlich Pluralität in einem Betrieb dazu führen soll, daß Parteipolitik gemacht wird.
Dann allerdings muß man sagen: Parteipolitik ist natürlich auch dadurch gemacht worden, daß die meisten Betriebsratsmitglieder der SPD angehören,
für die sie natürlich sehr viel Werbung gemacht haben.Herr Dreßler, ich hoffe, ich habe Sie in einem Punkt falsch verstanden. Hier ist eben an einem
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Frau Dr. Adam-SchwaetzerBeispiel deutlich gemacht worden, daß auch der Christliche Gewerkschaftsbund in den Betrieben durchaus eine Minderheitenposition vertritt. Sie haben mit Ihrem Zitat von Herrn Kaiser den Christlichen Gewerkschaftsbund mit faschistischen Bestrebungen in die gleiche Reihe gestellt.
Ich hoffe, daß Sie das nicht so gemeint haben, und würde Sie bitten, das noch einmal klarzustellen.Es ist darauf hingewiesen worden, daß das Betriebsverfassungsgesetz in den Betrieben eine ganz wichtige Rolle spielt. Wir haben es 1972 mit verabschiedet. Wir tragen es noch heute mit, weil es nämlich dazu dient und immer dazu gedient hat, die Zustände endgültig zu beseitigen, die Herr Kollege Burgmann hier an die Wand gemalt hat und die Gott sei Dank auf Grund der Arbeit der Gewerkschaften in den Betrieben seit langer Zeit überwunden sind.
Das muß man sehr deutlich sagen, daß hier die Gewerkschaften für die Arbeitnehmer sehr viel getan haben. Das müssen sie auch in der Zukunft tun können.Eines hat die Debatte doch wohl sehr deutlich gemacht: Die Sozialdemokraten wollen schlicht nichts anderes als die Machterhaltung der Massengewerkschaft gegen Minderheiten, gegen die Interessen kleinerer Gruppen im Betrieb.
Ihr Einheitsarbeitnehmer, meine Damen und Herren von der SPD, bedeutet doch nichts anderes, als daß Sie einen Meißel ansetzen und alle, die nicht in dieses Passepartout des Einheitsarbeitnehmers fallen, als Abfall hinten herunterfallen.
Denn was Sie wollen, ist doch, Mitspracherechte von Betriebsangehörigen zu verhindern, die sonst keine Vertretung haben.
— In der Tat. Zehn Jahre lang in mehreren Industriebetrieben.
Das können Sie im übrigen auch im Bundestagshandbuch nachlesen.Was Sie verhindern wollen, ist, daß eine gar nicht kleine Gruppe von Arbeitnehmern keine legitime Vertretung ihrer eigenen Rechte bekommt, nämlich die Gruppe der leitenden Angestellten. Der Betriebsrat ist für die Vertretung der Interessen der leitenden Angestellten nicht zuständig. Es ist zwar richtig, daß es derzeit auf freiwilliger Basis Sprecherausschüsse für leitende Angestellte gibt, aber es ist genauso richtig, daß Sie, meine Damen undHerren von der SPD, immer darauf bestehen, daß Ansprüche auch Rechtsansprüche sind. Ein freiwillig eingerichteter Sprecherausschuß kann derzeit zwar arbeiten, aber eben nicht auf einer verbrieften Rechtsgrundlage. Wir möchten überhaupt nichts anderes, als daß eine verbriefte Rechtsgrundlage dafür geschaffen wird. Daß Sie sich darüber so aufregen, kann man allerdings wirklich nur damit erklären, daß Sie es darauf abgesehen haben, nur die Massengewerkschaften zum Zuge kommen zu lassen,
aber eben nicht die anderen Arbeitnehmer eines Betriebes.Der Gesetzentwurf wird von den Koalitionsfraktionen vorbereitet. Insofern gehen Ihre Prügel an den Arbeitsminister und an das Arbeitsministerium natürlich fehl. Dies ist keine Gesetzesinitiative des Ministeriums, sondern eine Gesetzesinitiative der Koalitionsfraktionen. Es offenbart eigentlich Ihr autoritäres Verständnis, daß Sie sich überhaupt nicht mehr vorstellen können, daß Koalitionsfraktionen eigene Gesetzesentwürfe entwerfen und auch einbringen. Ich bin sicher, daß wir damit Zustimmung bei all denen finden werden, denen es selbst darauf ankommt, die Pluralität unserer Gesellschaft nicht nur anzuerkennen, sondern Mitsprachemöglichkeiten, Mitwirkungsmöglichkeiten unterschiedlichen Gruppen zuzugestehen. Das wollen wir mit dieser Gesetzesinitiative erreichen. Ich bin sicher, daß wir damit die Zustimmung bei all denen finden werden, die gelernt haben, in die Zukunft zu denken, und die sehen, daß die Zukunft keinen Einheitsarbeitnehmer bringt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Rappe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einer der Vorredner der CDU/CSU-Fraktion hat erklärt, das, was wir an Gefahren sähen, sei doch alles gar nicht so; denn die Betriebe seien von spontanen Gruppierungen, Gruppierungen radikaler Art ganz oder relativ frei. Meine Damen und Herren, das ist so, weil es die integrative und auch konsensfähige Position der Einheitsgewerkschaft und der Industriegewerkschaften in Betrieb und Verwaltung heute gibt.
Wenn Sie nun — möglicherweise aus sehr vordergründigen, wie ich glaube: parteiegoistischen Gesichtspunkten — dieses Feld auflösen, dann werden wir binnen kurzem Verhältnisse bekommen, die wir aus anderen Ländern rund um die Bundesrepublik im Westen kennen.
Sie müssen dann allerdings damit aufhören, unsauf Gewerkschaftskongressen oder bei anderen Ge-legenheiten mit der Funktion des Ordnungsfaktors
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8902 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Rappe
und der Aufgaben, die wir daraus hätten, zu belegen. Die sind dann nicht mehr zu erfüllen.
Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, daß die Betriebsversammlung, der Betriebsrat selbst, die Betriebsrätevollversammlung, die Gremien der freigestellten Betriebsräte, die Betriebsrätevollversammlungen, die die Aufsichtsräte nach dem Montangesetz wählen, von diesen Gruppierungen mit dem durchgehenden Minderheitenschutz, den Sie ja wollen, auch besetzt werden. Da kommen ja die Bedenken auch der Arbeitgeberverbände her. Die Bedenken der Arbeitgeberverbände kommen j a nicht aus Liebe zum Deutschen Gewerkschaftsbund,
sondern kommen aus diesen Überlegungen, wie man mit dem Betrieb denn umzugehen hat. So weit dazu.Ein zweiter Gesichtspunkt zur Frage der „Leitenden": Ich weiß, daß die FDP hier ihre besondere Möglichkeit sieht.
Aber ich sage Ihnen eines voraus: Die bis jetzt auf freiwilliger Basis gebildeten Ausschüsse für diese soziologische Gruppe, um die es da geht, erfüllen ihre Aufgabe auf freiwilliger Basis ganz vernünftig, und da gibt's auch keine großen Spannungen. Wenn Sie aber ein Gesetzesgerippe dafür schaffen, dann werden sich, weil es nur um diese gesellschaftspolitische Gruppe mit hohen Aufstiegserwartungen geht, in diesen gesetzlich verankerten Gremien die Zukurzgekommenen melden, und Sie werden eine Gruppenvertretung bekommen, wie Sie sie in den Gremien der auf freiwilliger Basis gebildeten Ausschüsse nicht haben. Gucken Sie sich die Betriebe an und reden Sie mit den Betroffenen selber, auch mit den Betriebsleitungen.
Eine ganz andere Struktur und ein ganz neues Bild werden sich da auftun. Dann stehen Sie sowieso zwischen Skylla und Charybdis. Entweder Sie geben denen neue Rechte — dann haben Sie zwei Vertretungen im Betrieb —, oder Sie geben ihnen keine Rechte und nur das gesetzliche Gerippe — dann tritt das ein, was ich soeben beschrieben habe.Im übrigen, meine Damen und Herren, ist das eine Stunde, die im Deutschen Gewerkschaftsbund registriert werden wird. Was hier heute vor sich geht,
das neue Bündnis zwischen CGB, dem rechten Flügel der FDP und den GRÜNEN im Bundestag, das ist eine feine Zusammenarbeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Lohmann .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Drei Minuten habe ich noch. Herr Kollege Rappe, ich kann mir vorstellen, daß Sie heute ein ungewöhnlich angenehmes Gefühl hatten, hier auftreten zu können, nachdem Sie sich seit mehreren Monaten wieder einmal im Schoß Ihrer Fraktion hier artikulieren konnten.
Das hat Ihnen sicher gutgetan.
Meine Damen und Herren, in nachmittäglicher Stunde wird hier ein Sturm im Wasserglas entfacht. Hier wird sogar davon gesprochen — wie der Kollege Reimann es getan hat —, ob wir aus dem Niedergang der Weimarer Republik nichts gelernt hätten. Was wir aus dem Niedergang der Weimarer Republik hätten lernen müssen, wäre eigentlich, daß diesen Niedergang die Parteien verschuldet haben, die sich gegenseitig in unglaublicher Weise diffamiert haben, so wie auch Sie das heute getan haben. Mit solchen Unterstellungen sollten wir aufhören. Ich gebe allerdings zu, der Kollege Rappe hat in seiner Stellungnahme einen wohltuenden Unterschied deutlich werden lassen zu den Äußerungen, die wir hier z. B. von Herrn Dreßler haben hören müssen.
Sie haben gefordert: Demokratie darf nicht am Werkstor enden. Lassen Sie sie doch auch nicht enden, sondern wenden Sie sich den Minderheiten zu und geben Sie zu, daß es in der Vergangenheit eine Reihe von — ich sage es vorsichtig — Ausfallerscheinungen gegeben hat. Vielleicht komme ich Ihnen damit näher. Deswegen bitte ich Sie herzlich: Unterstützen Sie nicht diesen Alleinvertretungsanspruch, der heute wieder hervorkommt, und diese Intoleranz, die sich darin äußert,
sondern geben Sie die Polemik auf, setzen Sie sich für die Arbeitnehmerrechte ein, und zwar für die Rechte aller Arbeitnehmer, auch der Minderheiten.
Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aktuellen Stunde. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Punkten 2a und 2b der Tagesordnung zurück. Die Debatte darüber war durch die Mittagspause unterbrochen worden und setzt sich jetzt fort.
Dazu hat als erster das Wort der Abgeordnete Burgmann.
Zurück zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, der eigentlich zu einer Jubelfeier hier in diesem Hause werden
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8903
Burgmannsollte, der aber dann doch mehr zu einem Trauerspiel ausgeartet ist.
Dieses Trauerspiel deutete sich an, als die Arbeitslosenzahl im Januar auf über 2,6 Millionen gestiegen ist. Es wurde aber zweifelsohne fortgesetzt durch Herrn Bangemann, der sich verzweifelt bemüht hat, durch die Auslegung der Statistik daraus trotzdem noch einen Erfolg zu gestalten. Dieses Trauerspiel gipfelte schließlich in der Rede von Herrn Blüm, der meiner Meinung nach eine tragikomische Figur in dieser Regierung darstellt — tragikomisch deswegen, weil er als Büttenredner offenbar nicht lustig genug ist und weil ihm für den Arbeitsminister, meine ich, die notwendige Ernsthaftigkeit fehlt. Die hat er auch heute vormittag vermissen lassen.
Man braucht sich nur anzusehen, wie leichtfertig er über die Zahlen hinweggegangen ist, wie er sich am Rande der Debatte bewegt hat, mit Beispielen im „Bild"-Zeitungs-Stil. Es geht hier um eine sehr ernste Sache, Herr Blüm. Es geht um das Schicksal von über 2,6 Millionen arbeitslosen Menschen. Insgesamt sind es 3,7 Millionen Menschen, die in diesem Lande Arbeit suchen.Die so ziemlich einzigen Vorschläge, die diese Regierung in diesem Zusammenhang anzubieten hat, laufen auf mehr Flexibilität hinaus. Die Menschen sollen sich immer mehr an die Produktion und an die Maschinen anpassen, statt daß die Maschinen für den Menschen gebaut und konstruiert werden. Ich darf sagen, daß wir uns entschieden gegen diese Flexibilität zugunsten der Maschinen aussprechen. In unserem Arbeitszeitgesetzentwurf haben wir uns ganz bewußt für mehr Flexibilität im Interesse der Menschen ausgesprochen. Wir sind entschieden gegen die Rotation der Arbeitnehmer und treten für eine Rotation der Politiker ein; wir glauben, da ist sie an der richtigen Stelle.
Die Ursachen für die Arbeitslosigkeit, die Sie, Herr Haussmann und Herr Wissmann, angesprochen haben, liegen, glaube ich, ganz woanders. Ich möchte in den wenigen Minuten, die ich Zeit habe, versuchen, das an einem Beispiel aufzuzeigen. Ich möchte deutlich machen, wo die falsche Wirtschaftspolitik ihre Ursachen hat.Vor zwei Wochen hat diese Bundesregierung beschlossen, in der Bundesrepublik eine Wiederaufbereitungsanlage zu bauen. Inzwischen ist als Standort Wackersdorf bei Schwandorf festgelegt worden. Diese Wiederaufbereitungsanlage wird mit größter Wahrscheinlichkeit rund 10 Milliarden DM kosten. Sie wird höchstens 1 500, wahrscheinlich bloß 800 Arbeitsplätze schaffen. Das bedeutet, daß ein Arbeitsplatz rund 10 Millionen DM, auf jeden Fall 6,6 Millionen DM, kosten wird. Damit ist die laufende Bestrahlung der Menschen am Arbeitsplatz verbunden, eine laufende Gefährdung, aber auch eine laufende Bestrahlung der Umwelt. Damit ist die Gefahr von großen Katastrophen verbunden. Heute schon ist ein riesiges Polizeiaufgebot notwendig, um diese Technologie überhaupt durchzusetzen.Das ist zwar eine Spitze, aber das ist typisch für viele dieser neuen Technologien, die immer teurer werden, die immer weniger Arbeitsplätze nur mit immer mehr Geld zu schaffen erlauben. Meistens sind das auch inhumanere Arbeitsplätze. Es sind ausgesprochen inhumane Arbeitsplätze in dieser Wiederaufbereitungsanlage. Sie bringen immer mehr Gefahren für die Menschen und die Umwelt mit sich.Meine Freunde in der Oberpfalz dagegen haben ein Konzept zur umweltfreundlichen Energieversorgung der Oberpfalz entwickelt. Da könnten mit dem halben Geld 15 000 Arbeitsplätze, also mehr als zehnmal mehr, geschaffen werden. Und wir hätten hier wirklich einen Ansatz für eine neue Wirtschaftspolitik.Wenn wir eine neue Wirtschaftspolitik beginnen, müssen wir bei einem neuen Strukturkonzept anfangen, aufbauend auf einer gesunden Landwirtschaft mit der Weiterverarbeitung vor Ort, Fremdenverkehr, dezentrale Energieversorgung, Sonnenkollektoren, Biogas, Kraft-Wärme-Kopplung, Recycling der natürlichen Rohstoffe. Im Bereich der Oberpfalz wäre auch eine sinnvolle Einbeziehung der Maxhütte in diese Struktur angebracht. Wir würden eine neue regionale Struktur schaffen, die Arbeitsplätze schafft, die die Umwelt in Ordnung hält und die Voraussetzungen dafür bietet, daß wir in Zukunft wieder mehr auf unsere Binnenstruktur vertrauen können, die Menschen dort, wo sie leben, ihre Bedürfnisse befriedigen können und Arbeit finden. Das würde uns von immer weiteren Exportsteigerungen unabhängig machen, die Not und letzten Endes Arbeitslosigkeit in die Dritte Welt brächten.Die Debatte heute hat gezeigt, daß diese Regierung diese Politik nicht verwirklichen wird. Wir werden diese Politik gegen diese Regierung und gegen die Großkonzerne, die mit ihr verbunden sind, durchsetzen müssen. Deshalb begrüßen wir auch den Widerstand der Bevölkerung gegen diese Wiederaufbereitungsanlage und die Demonstration, die für den 16. Februar in Schwandorf geplant ist. Der Widerstand gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Schwandorf ist ein Kampf gegen diese gigantische und zerstörerische Einrichtung und gleichzeitig ein Kampf gegen eine gigantische und zerstörerische Wirtschaft, ein Kampf für eine lebenserhaltende und gesunde Struktur in diesem Lande.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kreile.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Sachverständigengutachten, im Jahreswirtschaftsbericht — Themen, über die wir heute diskutieren sollten — nimmt die Finanzpolitik einen zentralen Platz ein.
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8904 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Dr. KreileDeswegen sollte sie auch in der heutigen Debatte, in der es darum geht, wie es mit der Wirtschaft weitergehen soll, noch ein wenig vertieft werden.Verständlicherweise nimmt die Finanzpolitik in diesen beiden wichtigen Dokumenten, die wir diskutieren, einen zentralen Platz ein, denn die Aufgabe des Staates in der Finanzpolitik besteht darin, die richtigen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaffen, sie stets auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und Fehler zu korrigieren. Nicht Einzelaktionen zu betreiben, ist die Aufgabe des Staates, sondern Rahmenbedingungen zu setzen.Der Grundfehler der Finanzpolitik des letzten Jahrzehnts war, Wünsche durch Schulden, vermeintliche Wohltaten durch Kredite, nicht greifende Arbeitsbeschaffungsprogramme durch Steuererhöhungen — und seien es auch nur die heimlichen Steuererhöhungen — zu finanzieren, die Zinsbelastung dafür aber weder zu bedenken, noch die Einnahmen zu haben, die Zinsen zu bezahlen.In dieser Situation war und ist es die dringendste Aufgabe der Finanzpolitik, den Staatshaushalt auf jeder Ebene zu konsolidieren.
Konsolidierung ist für uns in der Zwischenzeit zwar kein Fremdwort mehr, aber man muß einmal wieder auf Deutsch sagen, um was es hier geht: um die Rückführung überzogener Ansprüche auf das real Erreichbare.
Damit haben wir in unserer Finanzpolitik der letzten beiden Jahre begonnen. Wir haben Wesentliches erreicht, denn die Möglichkeiten und Leistungen stehen wieder in einem realistischen Verhältnis zueinander.
Der Jahreswirtschaftsbericht und das Sachverständigengutachten belegen die Erfolge der Finanzpolitik dieser Koalition eindrucksvoll.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Bitte schön.
Herr Kollege, würden Sie dem Hause verraten, auf welche Art Sie die Ansprüche derer, die im letzten Jahr 29 Milliarden DM übrig hatten, um sie in Manhattan anzulegen, auf das reale Maß der anderen zurückführen wollen?
Herr Kollege Ehrenberg, Sie haben diese Frage heute schon einem meiner Vorredner gestellt.
— Der hat sie ganz trefflich beantwortet. Das ist nicht das Problem, um das es hier geht.
Ich wiederhole: Das ist nicht das Problem, um das es hier geht. Daß ein internationaler Kapitalaustausch stattfindet, ist ein Faktum jeglicher Wirtschaftspolitik. Das war ein Faktum zu Ihrer Zeit.
Wir benötigen auf der einen Seite den Kapitalexport und auf der anderen Seite den Kapitalimport. Nur dann hat die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ihren Sinn, ebenso aber auch die internationale Arbeitsverflechtung, um die es Ihnen ging, als Sie an der Regierung waren, und um die es uns. auch heute geht.
Ich darf auf die Konsolidierung zurückkommen. Natürlich versteht niemand bei uns die Konsolidierung als ein Sparen um des Sparens willen. Nur: Wir haben sehr frühzeitig begriffen, und wir wollen — wie es j a auch das Sachverständigengutachten in ganz hervorragender Weise getan hat — allen hier und draußen begreiflich machen, daß Konsolidierungspolitik die wohl wichtigste Einzelmaßnahme zur Wiederbelebung der Wirtschaft, zur Stärkung des privaten Sektors, des produktiven Sektors unserer Volkswirtschaft und damit zur Schaffung von Dauerarbeitsplätzen ist.Wie immer ist auch hier der Blick über den Zaun sehr nützlich. Als hierzulande die Konsolidierungspolitik noch als verfehlt, wachstumsfeindlich, arbeitsplatzgefährdend usw. kritisiert wurde —
das, was Sie heute hier machen, ist bloß noch ein Nachschlag von längst überwundenen Theorien —,
hatten ausländische Beobachter — insbesondere des Internationalen Währungsfonds — die volkswirtschaftlich günstigen Folgen unserer Wirtschaftspolitik, unserer Konsolidierungspolitik längst erkannt. Sie haben uns zu dieser Politik ermutigt; sie tun dies auch weiterhin. Denn nur auf der Grundlage einer erfolgreichen Konsolidierungspolitik kann eine gerechte und wachstumsfördernde Steuerpolitik konzipiert und betrieben werden.Für diese Konzeption hat das Sachverständigengutachten Leitlinien aufgestellt, die es wert sind, immer wieder zitiert und, Herr Ehrenberg, auch angehört zu werden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8905
Dr. Kreile— Ich rede hier von dem Sachverständigengutachten,
verehrte Frau Kollegin, das auch Sie gelegentlich gelobt haben.
— Ich habe Sie nachgelesen. Es ist auch in diesem Punkt richtig wie in dem Zitat, das ich Ihnen jetzt vorlese. Die Sachverständigen sagen:Nicht nur die Höhe, sondern nicht minder die Struktur der Steuerbelastung— also Höhe und Steuerbelastung —in der Bundesrepublik Deutschland ist reformbedürftig. Die strukturellen Mängel betreffen sowohl die Zusammensetzung der Steuerarten als auch den Aufbau der einzelnen Abgaben. So werden ganze Steuern, aber auch einzelne Regelungen beibehalten, die nach modernen Lastverteilungsgrundsätzen nicht mehr zu rechtfertigen sind oder die ordnungspolitische Bedenken erregen, weil sie — wie die Kapitalverkehrsteuern oder die Wechselsteuer — bestimmte Finanzierungsvorgänge diskriminieren.Für die Einkommensteuer und die Steuerprogression gehen die Sachverständigen davon aus, daß sich zwar das richtige Maß des Zugriffs nicht wissenschaftlich, sondern nur politisch bestimmen läßt. Wohl aber läßt sich mit genügender wissenschaftlicher Deutlichkeit folgendes klarmachen — ich darf erneut zitieren und bitte Sie erneut zuzuhören —:Da aber davon ausgegangen werden muß, daß die Leistungsbereitschaft der meisten Menschen durch den Anstieg und die absolute Höhe der Grenzsteuersätze, die auf ihrem Einkommen lasten, bestimmt wird und daß die Besteuerung auch des investiv verwendeten Einkommens die Bedingungen für das Investieren beeinträchtigt, ergibt sich eine Konkurrenz zwischen den Zielsetzungen der Wachstumspolitik und der Steuerlastverteilung nach der Leistungsfähigkeit ... Die Entscheidung— so meinen die Sachverständigen —sollte in einer Situation nicht schwerfallen, in der eine bedrückend hohe — und verteilungspolitisch ihrerseits problematische — Arbeitslosigkeit besteht, die nur durch ein kraftvolles Wirtschaftswachstum spürbar abgebaut werden kann. Die Steuerpolitik hat eine Chance, hierzu beizutragen ...In der Erkenntnis dieser Leitlinien und der Chancen, welche die Steuerpolitik für die Wiederherstellung der Sozialen Marktwirtschaft hat, haben wir nach den notwendigsten Reparaturen, den gezielten Steuerentlastungen der Unternehmen Anfang 1983 und Anfang 1984 nunmehr den schwierigen Versuch unternommen, in der Besteuerung der Einkommen eine Tendenzwende einzuleiten. Der Steuertarif muß wieder leistungsfördernd wirken. Ich halte nichts von dem, wie ich meine, künstlichen Gegensatz zwischen familienfreundlich und leistungsfördernd. Familien mit Kindern sind gleichzeitig auch die Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Ihre steuerliche Entlastung ist damit also selbstverständlich leistungsfördernd. Wir werden deswegen den Grundsatz durchsetzen: Familien mit Kindern sollen deutlich weniger Steuern zahlen als Familien ohne Kinder.
Ebenso unangemessen, j a unsolide ist es, mit absoluten Zahlen über die Entlastungswirkung so eine Art Sozialneid anzufachen. Wer auf der einen Seite die Steuerprogression will, muß auf der anderen Seite akzeptieren, daß die Entlastung ebenso progressiv stattfindet, wie die Belastung stattgefunden hat.
Wie geht es nun mit unserer Steuerpolitik weiter? Mit dem Steuersenkungspaket 1986/88 ist der finanzielle Spielraum für diese Legislaturperiode im wesentlichen erschöpft. Aber was wir jetzt tun müssen, ist, die Zielrichtung unserer weiteren steuerlichen Maßnahmen anzupeilen, möglichst bald Prioritäten zu schaffen.Man mag einwenden, es handele sich hier um ein mittelfristiges Problem. Gerade deswegen müssen wir — jetzt spreche ich unsere Koalition an —, wenn wir in der nächsten Legislaturperiode die richtigen Entscheidungen fällen müssen, die sehr schwierigen Überlegungen noch in dieser Legislaturperiode vorbereiten. Wertvolle Vorarbeiten sind hier durchaus geleistet worden. Unser Kollege Hansjörg Häfele hat mit einem, wie ich finde, famosen Denkansatz die Grundlagen der Einkommensteuer erneut herausgearbeitet und sie von manchem nachkeynesianischen Ballast befreit. Auf mittlere Frist kann man ihm nur zustimmen, wenn er sagt: „In der kommenden Legislaturperiode kann der Steuersatz bei der Körperschaftsteuer kein politisches Tabu sein, auch hier muß die Richtung lauten: Runter mit dem Steuersatz,
dafür weniger Sonderabschreibungen und sonstige Steuererleichterungen." Frau Kollegin, bevor Sie Ihre Stimme allzusehr mit Zwischenrufen strapazieren, stelle ich klar, daß ich hier im Moment noch von der Körperschaftsteuer gesprochen habe, die nur einen einheitlichen Steuersatz hat.
Aber ich komme natürlich durchaus auch auf die Parallelauswirkungen der Einkommensteuer zu sprechen, und natürlich werden wir dieses im Rahmen unserer weiteren Überlegungen zur Steuerreform auch zu bedenken haben. Dabei ist es manch-
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8906 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Dr. Kreilemal ganz hilfreich, einen Blick in alte und neue Lehrbücher der Finanzwissenschaft zu tun, um festzustellen, daß alte wie junge Ökonomen, Moraltheologen — das waren die ganz frühen Ökonomen — wie nunmehr aufgeklärte Ökonomen sich in dem Satz finden: Es verstößt, von außergewöhnlichen Zeiten abgesehen, gegen die Natur des Menschen, wenn der Staat vom Leistungseinkommen mehr als 50 % wegsteuert.
In dieser Situation scheint es notwendig zu sein, auch wieder einmal einen Blick über den Zaun zu tun und zu sehen und zu prüfen, was in den USA, was ganz neuerdings in der Finanz- und Steuerpolitik in Großbritannien, ja was in den Niederlanden und in der Zwischenzeit in Frankreich getan wurde, getan wird und dort gedacht wird. Sicherlich werden wir nicht alles übernehmen können, was dort geschieht; aber wir werden sehr eingehend prüfen, was dort für die investitionsfördernde Seite der Unternehmensbesteuerung gedacht und umgesetzt wird.So wird denn, um vom Mittelfristigen zum Kürzerfristigen zurückzukehren, das steuerpolitische Vorhaben der nächsten Jahre sein, die Überprüfung der Besteuerung der Unternehmen, der Gemeindefinanzen und damit selbstverständlich auch der Gewerbesteuer einzuleiten und fortzuführen sowie weitere Fortschritte beim Einkommensteuertarif anzupeilen. Es darf dabei nicht aus den Augen verloren werden, daß dies alles zusammenhängt, daß mit punktuellen Entlastungen, weder bei der einen noch bei der anderen Steuerart, nichts getan ist. Dieses Steuersystem, das in den vergangenen Jahren leider immer unsystematischer geworden ist, muß zusammen gesehen werden, damit wir zu einer neuen Gestaltung unseres Steuerrechts kommen.Weil dies alles so zusammenhängt, muß auch das Prinzip der Steuervereinfachung gründlicher beachtet werden, als dies bisher — sehr zum Leidwesen der Steuerpolitiker — getan worden ist. Hier muß ich allerdings an die Adresse aller Beteiligten sagen, daß sich jedes Reden von Vereinfachung als weitgehend nutzlos erweist, wenn das Steuerrecht immer wieder als oft einziges Mittel zur Erreichung nichtfiskalischer Ziele eingesetzt wird. Deswegen ist meine dringende Bitte diesmal keine Bitte an die Opposition, sondern an die Regierung, an unsere eigenen Fraktionen, an die eigenen Parteien und damit natürlich auch eine Bitte an die Opposition: mutiger und innovativer über Lösungen und Probleme außerhalb des Steuerrechts nachzudenken, das Steuerrecht nicht immer zum Hilfsbüttel für sonstige wirtschaftspolitische Überlegungen oder andere politische Überlegungen heranzuziehen. Dies gilt vor allen Dingen für die Feinsteuerung von erwünschtem oder unerwünschtem Verhalten der Bürger. Hierfür ist das Steuerrecht kein geeignetes Instrumentarium. Nach unseren Vorstellungen kann und soll hingegen unser Steuerrecht eingesetzt werden, um allgemeinen Leistungswillen, Risikobereitschaft und eigenverantwortliches Handeln zu stärken. Das werden wir bei der jetzigenTarifabsenkung beachten müssen, noch mehr aber bei der weiteren, auf mittlere Frist vorgesehenen Tarifreform. Sie wird viel Geld kosten, wenn ihr Ziel, leistungsfördernd zu sein, erreicht werden soll. Neben dem durchgehend linearen Anstieg der Grenzbelastung in der Progressionszone stehen auch die Anhebung von Freibeträgen, insbesondere die Harmonisierung der Grundfreibeträge — auch für Kinder — mit dem Sozialhilfeniveau — also auch eine Anhebung der Grundfreibeträge —, sowie der sanftere Anstieg in der Progressionszone zur Diskussion.Wer aber das alles erreichen will — ich meine, daß es hier links wie rechts ein gemeinsames Ziel ist, das zu erreichen —, der muß dann auch bereit sein, gleichzeitig massiv an die Steuersubventionen heranzugehen.Nichts wäre für unsere bisherige erfolgreiche Finanzpolitik schädlicher, als wenn durch voreilige Versprechungen nichtfinanzierbare Erwartungen geweckt würden. Aber der Finanzminister und die Bundesregierung können darauf vertrauen, daß sie von den Finanzpolitikern der CDU/CSU auf dem eingeschlagenen Weg einer soliden, an den Realitäten orientierten Finanzpolitik unterstützt werden.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Ungerechtigkeit der Steuerreform werden wir in diesem Hause sicherlich noch ausführlich zu diskutieren haben. Ich komme zurück zu dem Thema, das uns heute beschäftigt, zum Jahreswirtschaftsbericht.
Wir stehen vor drei wichtigen Landtagswahlen. Da ist es Taktik der Regierungsparteien, groß in Optimismus zu machen. Der Jahreswirtschaftsbericht ist aus meiner Sicht wirklich verdächtig, den Literaturpreis für Wortgeklingel zu bekommen.
Es wird nicht gesagt, wie die eklatant hohe Zahl der Arbeitslosen — registriert waren 2,6 Millionen im Januar dieses Jahres — reduziert werden soll. Selbst wenn man berücksichtigt, daß wir in der Tat einen besonders strengen Winter hatten, dann muß man immer noch feststellen: Saisonbereinigt ist die Zahl der Arbeitslosen um 30 000 bis 40 000 gestiegen. Das ist eine erschreckende Entwicklung.
Ich kann mir gut vorstellen, daß die Regierungsparteien über dieses Thema nicht reden wollen. Aber das werden wir als Opposition nicht zulassen.
Ich füge hier schon hinzu: Mit Rezepten der 60erJahre, die ja schon einmal gescheitert sind, mit radikalen Kürzungen der sozialen Errungenschaften,
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Dr. Jensmit Zureden und mit Appellen sind die Probleme der 80er Jahre nicht mehr zu lösen.
Ich wollte in meinen knappen Ausführungen auf zwei besondere Fragen eingehen: erstens auf das Problem, daß sich die Einkommensverteilung, seitdem diese Regierung dran ist, erheblich verschlechtert hat, und zweitens auf das Problem, daß die Konzentration in unserer Wirtschaft enorm zugenommen hat.
Ich komme zur ungerechten Einkommensverteilung. Wenn man die Daten zusammenrechnet, die vom Statistischen Bundesamt geliefert wurden, so müssen wir feststellen: Seit 1982 haben die Einkommen aus unselbständiger Arbeit nominal um 7 % und die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 27 % zugenommen. Ich weiß sehr wohl, daß am Anfang eines Aufschwunges immer einer Verzerrung in dieser Entwicklung ist. Aber die Lohnquote hat mittlerweile wieder den niedrigsten Stand seit Anfang der 60er Jahre erreicht. Diese Entwicklung werden wir nicht mehr hinnehmen.
Dagegen — das hat mein Kollege Roth schon gesagt — haben die privaten Investitionen nicht oder kaum zugenommen. Die Anlageninvestitionen haben sich 1984 lediglich um 1,5 % erhöht, obgleich der Sachverständigenrat glaubte, es würden 7 % mehr.Wir stellen hier einmal mehr fest, meine Damen und Herren: Wir sind davon überzeugt, daß das Streben nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille sind. Beides gehört für Sozialdemokraten unbedingt zusammen.
80 Milliarden DM Einkommenszuwachs hat es im Bereich der Unternehmertätigkeit und des Vermögens gegeben; 80 Milliarden DM! Aber nur ein ganz minimaler Teil davon floß in kleine und mittlere Unternehmen. Die große Summe ist den Großkonzernen zugegangen. Das ist eine Entwicklung, die auch uns mit Sorge erfüllt.16 600 Unternehmenszusammenbrüche — das ist ein einsamer Rekord, den wir in diesem Lande ebenfalls noch nie zu verzeichnen hatten.
Die Konzentration nimmt zu. Selbst die Monopolkommission stellt dieses einmal mehr fest. Jetzt steht unmittelbar bevor, daß der Waffenkonzern MBB in München das Flick-Unternehmen KraussMaffei erwerben will. Er will das Kartellrecht aushöhlen, indem er nur 24,95 % von Kraus-Maffei erwirbt. Wir werden demnächst einen Antrag vorlegen, wonach diese Eingriffsschwelle auf 10 % reduziert werden soll, damit auf diese Art und Weise derKonzentrationsentwicklung entgegengewirkt werden kann.
Ich hoffe, Sie unterstützen diesen Antrag.Auch die Konzentration im Handel, Kollege Hauser, hat enorme Ausmaße angenommen. Ich stimme Ihnen übrigens ausdrücklich zu: Wir müssen herangehen, das Kartellrecht zu novellieren, um dieser Entwicklung entgegenzutreten. Wir müssen mit dem Bundeswirtschaftsminister Tacheles reden, damit er endlich aus den Fängen seiner Beamten befreit wird.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung kann aus meiner Sicht ihre eklatanten Fehler in der Wirtschaftspolitik nicht ungeschehen machen. Es gab radikale Kürzungen bei den öffentlichen Investitionen, und zwar 1984/85 um real 25 %. Dieses hat mit dazu beigetragen, daß die Arbeitslosigkeit gestiegen ist. Ich stelle fest, daß es mittlerweile in Ihren Reihen schon wieder Stimmen gibt, die sagen, daß die öffentlichen Investitionen stärker gefahren werden müssen.
Ich begrüße dieses ausdrücklich. Man kann das auch nicht den Gemeinden überlassen, Kollege Lattmann, sondern hier ist die Bundesregierung gefordert. Sie muß mit gutem Beipsiel vorangehen; sie ist für die Konjunkturpolitik verantwortlich.
Das Wachstum ausschließlich vom Export abhängig zu machen, wie es von dieser Regierung getan wird, fördert den Protektionismus, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Das Röhrenembargo hat Arbeitsplätze in der deutschen Stahl- und Röhrenindustrie vernichtet.Herr Bundeswirtschaftsminister, die Deutsche Bundesbank verfährt wohl mit Ihnen genauso, wie sie mit uns umgegangen ist. Sie hatten noch einen Tag vor der Lombardsatzerhöhung verkündet, daß eine derartige Maßnahme fehl am Platze sei. Einen Tag später tat es die Deutsche Bundesbank. Man fragt sich natürlich unwillkürlich: Wer regiert eigentlich in diesem Lande? Sie oder die Deutsche Bundesbank?
Über eineinhalb Jahre, Herr Bundeswirtschaftsminister, läuft die Diskussion über die Einführung des Abgaskatalysators. Der Produktionsausfall durch Verunsicherung der Käufer hat ungeahnte Ausmaße angenommen.
Was die Bundesregierung hier geliefert hat, ist ein Fall von schlimmem Dilettantismus.
Die Bürger werden immer wieder von Ihnen darauf hingewiesen, daß die Preise stabil sind. Ich finde das schön; ich bin auch für stabile Preise! Wir
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8908 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Dr. Jensalle sind dafür. Aber man muß doch die wichtigsten Ziele zusammen betrachten: stabile Preise, Arbeitslosigkeit und Vollbeschäftigung. Wenn Sie diese Ziele einmal addieren, müssen Sie feststellen: Österreich, Schweden, die Schweiz und Japan haben diese Ziele besser erreicht als die Bundesrepublik. Das sind die Tatsachen.
Länder, die die Politik des sozialen Konsenses betrieben haben, so wie wir Sozialdemokraten es gern möchten, sind besser durch die Krise gekommen als Länder, die eine Konfrontationspolitik betreiben, wie es diese Bundesregierung tut.Ich plädiere deshalb für eine Art konzertierte Aktion. Alle Träger der Wirtschaftspolitik sind aufgerufen, etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu tun und die Preisstabilität nicht zu vergessen. Dazu gehören:Erstens. Öffentliche Investitionen im Umweltschutz und für die Verbesserung der Infrastruktur.Zweitens. Eine Forschungs- und Technologiepolitik als Innovationspolitik, um vor allem kapitalintensive und risikoreiche Innovationen bei kleinen und mittleren Unternehmen voranzubringen. Unser technischer Rückstand besonders bei den Informationstechnologien gegenüber Japan und den Vereinigten Staaten darf nicht weiter wachsen.Drittens. Mehr Dienstleistungen im öffentlichen und im privaten Bereich sind möglich.Viertens. Kürzere und flexibler gestaltete Arbeitszeit ist eine ständige Aufgabe der Gegenwart.
Selbst die Wissenschaftler halten mittlerweile nicht allzu viel von dem Jahreswirtschaftsbericht, den wir heute diskutieren. Das Kieler Institut, das sonst immer sehr konservativ ist, hat festgestellt, daß eine weniger rosarote Sicht der Dinge eigentlich angebracht wäre. Aber das Wirtschaftsministerium hat gemeint, die wissenschaftlichen Institute würden offenbar schon wieder von Vorurteilen geleitet. Ich finde, das ist keine Art, mit Wissenschaftlern umzugehen.
Hier spricht aus meiner Sicht die Arroganz der Macht.
Die konservative Regierung ist schon wieder davon überzeugt, daß der Staat ihr gehört. Aber das werden wir zu verhindern wissen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Arroganz der Macht" — man muß darüber nachdenken, Herr Jens, was Sie in dem Zusammenhang, in dem Sie das erwähnt haben, damit zum Ausdruck bringen wollen. Man braucht nicht allzu lange nachzudenken. Es ging Ihnen beim Nachdenken über Ihre Rede mehr um eine wirkungsvolle Schlußpointe als um eine ernsthafte Behauptung. Und weil Sie selber nicht daran glauben, nehmen Sie es sicher nicht übel, daß ich nicht allzu sehr darauf eingehe.
Herr Jens hat mit der Erklärung angefangen, es sei Taktik der Regierung, Optimismus zu verbreiten. Nein! Die Regierung — und das ist gut so — ist ein Spiegelbild dessen, was in der Bevölkerung vorhanden ist, nämlich Optimismus.
— Sehen Sie: Wenn Sie jetzt lachen, Herr Walther, dann kennen Sie seriöse Umfragen wirklich nicht.
Und wenn Sie lachen, lachen Sie über Ihre eigenen Wähler. Das entspricht genau dem Stil, den wir als CDU/CSU nicht mitmachen. Bei einer viel zu hohen Arbeitslosigkeit und bei dem gemeinsamen Ringen — und dieses zumindest wollen wir einander ja mal zugestehen — um den richtigen Weg des Abbaus, wo wir verschiedener Meinung sind, versuchen Sie, eine Verelendungskampagne,
die Ihnen nicht einer draußen abnimmt; Sie sind vielmehr dabei, sich durch die Übertreibung draußen lächerlich zu machen. Dies müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Der Motor unserer Wirtschaftsentwicklung ist zur Zeit weiterhin der Export. Die breit gefächerte Erholung der Weltwirtschaft eröffnet der deutschen Industrie neue Absatzmöglichkeiten. Es ist positiv zu sehen, daß sich wie ein roter Faden die Probleme der Außenwirtschaft und der Weltwirtschaft durch den Jahreswirtschaftsbericht ziehen.
Herr Abgeordneter Kittelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Walther?
Herr Walther, ich bitte Sie um Verständnis. — — Aber bitte, stellen Sie sie.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Kittelmann. Nachdem Sie über den weit verbreiteten Optimismus in der Bevölkerung gesprochen haben, darf ich Sie fragen, welche optimistische Stimmung die Rentner haben müssen, die über die katastrophale Lage der Rentenversicherung informiert worden sind.
Lieber Herr Walther, wenn Sie dazu beitragen würden, da gerade in Ihrer
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KittelmannRegierungszeit schwere Fehler in der Rentenpolitik gemacht worden sind, die wir heute ausbaden,
die Rentner nicht jeden Tag neu zu verunsichern und durch neue Katastrophenmeldungen Angst zu erzeugen, würden Sie wesentlich mehr tun, als wenn Sie diese Fragen hier im Bundestag stellen.
— Herr Ehrenberg, irgendwann muß Ihnen doch einmal auffallen, daß Sie durch Ihre Zwischenrufe und durch Ihre Reden mehr Leute aus dem Saal hinausgraulen, als Sie hereinbringen.
Meine Damen und Herren, gerade die Bundesregierung als Gastgeber des Weltwirtschaftsgipfels, den wir hier im Mai haben werden, hat eine große Verantwortung,
wenn es um das wesentliche Thema geht, das uns, was unsere Befürchtungen in bezug auf die Außenwirtschaft betrifft, eint, nämlich um den Protektionismus.Meine Damen und Herren, wir alle wissen — deswegen hat die CDU/CSU in den letzten Monaten jede Chance genutzt, auch hier im Plenum des Deutschen Bundestages auf dieses Thema hinzuweisen —, wie lebenswichtig es für alle Staaten der Welt ist, daß der Protektionismus abgebaut wird.
Dieses Thema in seinen vielfältigen Verzweigungen muß Schwerpunkt unserer Politik sein. Ich begrüße daher, daß wir uns diesem Thema, nachdem der Jahreswirtschaftsbericht davon gesprochen hat, auch hier widmen können.Ich benutze die heutige Diskussion dazu, die Bundesregierung aufzufordern, dafür zu sorgen, daß es, wie es in der politischen Zielvorgabe geplant ist, eine neue GATT-Runde gibt. Wir begrüßen, daß sich die Bundesregierung zum liberalen Welthandel bekennt. Wir wissen, daß offener Welthandel für ein exportabhängiges und rohstoffarmes Land, wie wir es sind, von existentieller Bedeutung ist. Deshalb hoffe ich, daß es möglich ist, beim Abbau protektionistischer Tendenzen Erfolge zu erzielen.Wir stellen mit Erstaunen fest — Herr Jens, Sie haben das heute wieder anklingen lassen, und ich nehme an, daß noch einige Redner von Ihnen darauf eingehen —, daß die SPD die USA als Ursache allen Übels, jetzt auch des wirtschaftspolitischen Übels, hinstellt. Zugegeben, die Neigung zum Protektionismus in den USA ist ernst zu nehmen. Wenn aber der Kollege Jens, wie er es kürzlich im „Handelsblatt" getan hat, davon ausgeht, daß die USA ein handelspolitisches Diktat ausüben und damit eine Tragödie verursachen, zeigt dies mehr die Fähigkeit der SPD zur künstlichen Dramatisierung als die Fähigkeit, die Probleme realistisch und fair zu betrachten.
Wie unsere jetzigen Einfuhren in die USA beweisen, ist der hohe Dollarkurs zu einer konjunkturellen Stütze auch für unsere Wirtschaft geworden. Dies gilt auch für andere, insbesondere für Japan. Das hat die inneramerikanische Diskussion dahin gebracht, daß sich viele amerikanische Unternehmen bei der amerikanischen Regierung Hilfe gegen einen Importdruck erhoffen, der nicht nur auf technologischen Fähigkeiten der internationalen Konkurrenz beruht, sondern im wesentlichen Folge des Dollarkurses ist.Es ist nachweisbar, daß sich die amerikanische Administration unter Präsident Reagan im Rahmen ihrer innenpolitischen Möglichkeiten gegen diese protektionistischen Forderungen zur Wehr gesetzt hat. Ich darf daran erinnern, daß auch ein neues Handelsgesetz verabschiedet worden ist, das diese Versuche mehr oder weniger erfolgreich unterstützt hat.Ich könnte das Thema noch vertiefen, möchte darauf aber nur noch einen Nebensatz verwenden. Wir warnen davor, daß nach der Methode „Haltet den Dieb" durch Verzerrung und Übertreibung das handelspolitische Klima gegenüber den USA vergiftet wird. Ich darf die SPD bei dieser Problematik daran erinnern, daß die meisten der protektionistischen Gesetzentwürfe im US-Kongreß von Abgeordneten der Demokraten stammen
und daß es Herr Mondale ist, der Spitzenreiter des Protektionismus im Wahlkampf gewesen ist, und das ist wohl der Mann, zu dem die Sozialdemokraten eine gewisse Affinität haben.
Meine Damen und Herren, wir würden in dieser Frage zweiter Sieger werden! Herr Ehrenberg, ich glaube, Sie waren es — aber ich sehe, er hat gerade den Saal verlassen —, der einmal öffentlich die Abkopplung vom Dollar forderte. Inzwischen hat man ihn da wohl wieder zurückgeholt.Meine Damen und Herren, vor allen Dingen die EG ist gefordert, konsequenter gegen protektionistische Regelungen vorzugehen. Ich finde, daß wir gerade vor der eigenen Haustür aufpassen müssen. Wir müssen z. B. aufpassen, daß die Franzosen nicht alle antiprotektionistischen Maßnahmen unterlaufen, indem sie z. B. für junge Industrien Hochzölle verlangen, die zu einer weiteren Abschirmung führen. Wir müssen dafür sorgen, daß es nicht weiter möglich ist, daß — vor allen Dingen auf Drittmärkten — EG-Agrarprodukte subventioniert und in Ländern vertrieben werden, die für uns auf anderen Gebieten wieder wichtig sind, woraus auf dem Weltmarkt eine Stimmung entsteht, an der die EG nicht unschuldig ist. Ich sage das vor allen Dingen deshalb, weil in der Außenwirtschaft die EG die
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8910 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
KittelmannZuständigkeit hat und man sich dessen auch bewußt sein muß.Meine Damen und Herren, es ist auch so, daß sich in der EG viele Länder gegen eine GATT-Runde stemmen. Wenn die USA, Japan und die Bundesrepublik Deutschland dafür sind, müssen wir in der EG dafür sorgen, daß z. B. die Franzosen dieses wichtige Anliegen unterstützen.Meine Damen und Herren, in der Außenwirtschaft ist in dieser Frage noch sehr viel zu tun. Ich betone das deshalb, weil wir Parlamentarier hier quer durch alle Fraktionen eine besondere, wichtige Verantwortung haben, der wir nur dadurch gerecht werden, daß wir vor allen Dingen hier unsere Regierung ermuntern, keinen Konflikt zu scheuen, wenn es darum geht, Protektionismus zu bekämpfen.Ich freue mich, auf ein weiteres Beispiel eingehen zu können, das positiv gewürdigt werden kann. Sie wissen, daß auch in der Wirtschaftspolitik unsere Aufmerksamkeit immer einer besondere Spielart des Protektionismus, nämlich den Subventionen, gilt. Auch der Jahreswirtschaftsbericht hat sich dieses Themas angenommen. Ich freue mich deshalb, auf eine positive Umsetzung von gewährten Subventionen eingehen zu können. Ich meine Berlin. Es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, die Lebensfähigkeit dieser Stadt zu sichern. Es gehört zu den gemeinsamen Grundüberzeugungen der großen Mehrheit des Deutschen Bundestages — ich hoffe, aller Fraktionen — die gesicherte Existenz Berlins als nationale Aufgabe zu begreifen. Dies ist auch der Grundkonsens, der erfreulicherweise viele Teile aller gesellschaftlichen Gruppen in Berlin trotz vieler Differenzen im Detail beherrscht.Anfang der Woche haben die Sozialdemokraten und die FDP Gelegenheit gehabt, im Rahmen ihrer Fraktionssitzung in Berlin unmittelbar vor Ort Erfahrungen zu sammeln. Die CDU/CSU war eine Woche vorher in Berlin. Wir haben Gelegenheit genommen, in einer Anhörung zur Berliner Wirtschaft die Wirtschaftsverbände und auch den DGB, vertreten durch Herrn Michael Pagels, anzuhören. Vor allen Dingen die eindringliche Warnung von Michael Pagels war beeindruckend, daß Berlin eine nationale Aufgabe bleiben muß und daß nach den Wahlen am 10. März diese Stadt nicht unregierbar werden darf. Wenn Sie gestern das Fernsehen gesehen haben, konnten Sie dieses durch Herrn Michael Pagels noch schärfer formuliert hören. Er sagte, es darf in Berlin keine hessischen Verhältnisse geben. Ich glaube, unter dem Strich ist das auch die Vorstellung dieses Hauses, egal welche politischen Mehrheitsverhältnisse Sie sich wünschen.Berlins wirtschaftliche Lage hat sich konsolidiert. Sein Ruf als verlängerte Werkbank, als von industrieller Auszehrung gekennzeichneter Standort, gehört der Vergangenheit an. Im Jahreswirtschaftsbericht führt die Bundesregierung aus, daß sich die wirtschaftlichen Perspektiven Berlins nachhaltig verbessert haben und daß sich als Folge der Berliner Struktur- und Innovationspolitik bereits 1984 positive Auswirkungen in Form von mehr Investitionen und vor allen Dingen einer Steigerung der Beschäftigung gezeigt haben. So ist es. In den 70erJahren gingen pro Jahr durchschnittlich 8700 industrielle Arbeitsplätze verloren. Das sind mehr als doppelt soviel wie in der Bundesrepublik. Von Januar bis November 1984 gab es jedoch mit 3 400 zusätzlichen Arbeitsplätzen eine so starke Zunahme in Berlin wie seit 15 Jahren nicht mehr. Auch insgesamt hat die Zahl der Arbeitsplätze in Berlin deutlich zugenommen, und zwar bereits seit 1983. Überall geht es in der wirtschaftlichen Frage in Berlin aufwärts: eine bessere Beschäftigungsentwicklung auch im Handel und im Gastgewerbe, nochmals mehr Arbeitsplätze im Handwerk.Wie attraktiv Berlin geworden ist, zeigt der starke Wanderungsgewinn bei den deutschen Erwerbspersonen seit 1983, nachdem in den gesamten 70er Jahren mehr Deutsche fort- als zugezogen sind.
— Ich lasse keine Zwischenfrage mehr zu. Damit in Berlin die Beschäftigungschancen besser werden, gibt es viele Initiativen, die positive Wirkungen haben. Sie erinnern sich alle: Berlin, eine sterbende Stadt. Diese Horrorvision der 70er Jahre gehört der Vergangenheit an. Trotz des starken Zuwanderungsgewinns nahm die Arbeitslosigkeit in Berlin mit einem Minus von 2,4 % bereits 1984 ein gutes Stück ab.Die Berliner Erfolge — dieses halte ich für wesentlich — beruhen nicht auf einem Mehr an Subventionen; vielmehr wurden Subventionen so umgeschaltet, daß starke Anreize für mehr Eigeninitiative zum Zuge kommen. Mit der Refom des Berlinförderungsgesetzes, die j a Gott sei Dank einstimmig in diesem Hause verabschiedet worden ist, und mit dem Strukturprogramm setzt Berlin auf eine Politik für mehr Qualität bei den Arbeitsplätzen, für mehr Ausbildungsplätze und für Dienstleistungen, die in Berlin erbracht werden. Eine modellhafte Strukturpolitik hat ein günstiges Klima geschaffen. Ich nenne hier beispielsweise das inzwischen sagenumwobene BIG, den Innovationsassistenten und die Tatsache, daß private Venture-Capital-Gesellschaften begründet worden sind.Meine Damen und Herren, es liegt im Interesse der Politik des Deutschen Bundestages, daß Berlin wieder mehr Selbstvertrauen gewonnen hat. Es ist dankbar für die Hilfen des Bundes, aber es setzt sie auch positiv um.
Nach den riesigen Verlusten der 70er Jahre ist Berlin allerdings noch dabei, das aufzuholen, was es verloren hat. Die ersten Erfolge zeigen allerdings — das mag manchem Bundesland Anlaß zum Nachdenken geben —, wie schnell selbst eine altindustrialisierte Region mit großen Strukturproblemen durch konsequente Strukturpolitik zur Modernisierung ihrer Wirtschaft gebracht werden kann. Dies ist in erster Linie ein Erfolg der Berliner, aber auch ein Beispiel dafür, wie durch gute politische Führung Kräfte freigesetzt werden, an deren Vorhan-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8911
Kittelmanndensein viele in der Vergangenheit schon anfingen zu zweifeln.
Der Deutsche Bundestag sollte in seiner Gesamtheit mit Befriedigung zur Kenntnis nehmen, daß es möglich ist, sich in einem nicht einfachen wirtschaftspolitischen Umfeld nicht nur zu behaupten, sondern auch positive Daten zu setzen. Es ist gute Tradition der CDU/CSU, auf unsere Verpflichtung gegenüber der Berliner Wirtschaft in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht einzugehen. Wir freuen uns, daß sir heute dafür so viel Positives sagen können, und sind überzeugt, daß das auch im nächsten Jahr der Fall wird.Schönen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Mitzscherling.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kittelmann hat eben ein Bild der Lage der Berliner Wirtschaft gezeichnet, das bestimmte Entwicklungstendenzen in einer Weise verschönt, die von der Berliner Arbeitnehmerschaft in dieser Form, glaube ich, nicht zur Kenntnis genommen werden.
Unbestritten ist sicherlich, daß, ausgehend von einem äußerst tiefen Niveau, das zu unterschreiten die Berliner Arbeitnehmerschaft tatsächlich stark getroffen hätte, Steigerungsraten irgendwann einmal eintreten müssen. Das ist jetzt der Fall, und zwar im Gefolge einer wirtschaftlichen Belebung im Bundesgebiet. Tun Sie doch bitte nicht so, als ob es möglich wäre, daß die Berliner Wirtschaft losgelöst von den volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die auch für die gesamte Wirtschaft des Bundes gelten, eine isolierte Wirtschaftspolitik betreibt.
Dies ist nicht der Fall.
Wir haben in Berlin nach wie vor große Probleme. Wir haben einen Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst. Wir haben eine Ausweitung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Das ist auch richtig so. Das ist eine Fortführung begonnener Maßnahmen, die bereits von alten Senaten eingeleitet worden sind, sowohl im Sektor der Berufsausbildung als auch in der Bereitstellung von Arbeitsplätzen, als auch in der Gründung innovativer Technik-Einrichtungen, die schon der damalige Wissenschaftssenator Glotz in Berlin entwickelt hat.
Aber, lieber Herr Kittelmann, ich glaube wir sind uns sicherlich darin einig, daß das Berlin-Förderungsgesetz, dessen Novellierung wir in diesem Hause beschlossen haben und das auf einen Auftrag zurückgeht, den der alte Senat noch an das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vergeben hatte, positive Wirkungen zeigt. Da ist unbestritten. Wir freuen uns darüber, daß die Maßnahmen, die eingeleitet worden sind, tatsächlich auch die erwünschte Richtung einschlagen, daß nämlich Dienstleistungen wie Forschung und Entwicklung zunehmend nach Berlin zurückkommen, nachdem sie die deutschen Unternehmen über Jahrzehnte hinweg von Berlin abgezogen hatten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Reetz?
Ich möchte ungern nein sagen. Aber ich habe nur eine ganz begrenzte Zahl von Minuten.
Die Frage selbst wird nicht angerechnet, Herr Abgeordneter.
Bitte.
Herr Kollege, ziehen Sie dabei auch in Betracht, daß durch die Berlin-Förderung Arbeitsplätze im Bundesgebiet verlorengehen, z. B. in der Zigarettenindustrie, die jetzt sehr stark nach Berlin verlagert hat und in meinem Wahlkreis
— ich nenne die Firma Schwarzhändle in Lahr — eine große Zahl von Arbeitsplatzverlusten bewirkt hat?
— Aber hier geht es um Arbeitsplätze.
Frau Kollegin, in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten konkurrieren Wirtschaftsförderungsmaßnahmen von Regionen miteinander. Das ist in diesem Fall zugunsten von Berlin ausgegangen. In allen früheren Zeiten, so auch im letzten Jahrzehnt, sind derartige Förderungsmaßnahmen zu Lasten Berlins ausgegangen. Als Berliner begrüße ich die gegenwärtige Entwicklung; das werden Sie verstehen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt zum Jahreswirtschaftsbericht zurückkehren. Als die Sprecher der Regierungskoalition die konjunkturelle Erholung der letzten Jahre als eine Bewährungsprobe bezeichnet haben, die sie bestanden hätten, als einen Erfolg der Neuorientierung der Wirtschaftspolitik, mußte man sich natürlich fragen, was das eigentlich bedeuten kann. Was ist eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik? Das, was Sie als Neuorientierung bezeichnen, meine Damen und Herren, ist im Grunde, im Kern der Weg zu einer reinen Angebotspolitik, wie der Sachverständigenrat sie seit Jahren fordert. Ihr Ziel war — und ist es wohl ausschließlich — die Stärkung der privaten Investitionstätigkeit über eine Erhöhung der Unternehmensgewinne
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8912 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Dr. Mitzscherlingund über den Abbau des Staatsanteils auf — das haben wir heute gehört — sogar unter 40 % in der Hoffnung, daß irgendwann am Ende dadurch auch Arbeitsplätze geschaffen werden. So einfach ist das also nach Ihren Rezepten.Aber, meine Damen und Herren, was hat denn diese Ihre Politik, was hat Haushaltskonsolidierung, was haben Vermögensteuersenkungen, was hat der Verkauf der heute zitierten VEBA-Aktien, was hat die bisherige Senkung der Staatsquote 1984 gebracht? Sie hat nicht nur die seit der Währungsreform höchste Arbeitslosenzahl herbeigeführt, sondern sie hat auch — darauf hat mein Kollege Jens soeben hingewiesen — eine Steigerung der Investitionen von ganzen 1,3 % real in diesem Jahr zur Folge gehabt.
Ihre Hoffnungen auf einen Investitionsboom sind offensichtlich enttäuscht worden, und die Verbesserung der sogenannten Rahmenbedingungen, also dieses Angebots, hat offensichtlich nichts genutzt. Die Unternehmen haben zwar erhebliche Gewinnzuwächse erzielt, aber sie haben ihre Investitionen trotzdem nicht aufgestockt. Ihre wirtschaftspolitische Neuorientierung, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, hat die Bewährungsprobe also nicht bestanden. Ich würde das als ein Versagen der Angebotspolitik bezeichnen, das nur deshalb nicht zum Tragen gekommen, zutage getreten ist, weil der steigende Dollar Ihnen einen Exportboom beschert hat, der, wie Herr Strauß kürzlich gesagt hat, wie ein mittleres, fast hervorragendes Konjunkturprogramm wirkte.Immerhin: 4 % reales Exportwachstum hatte der Sachverständigenrat für 1984 erhofft, und es sind mehr als 7 % daraus geworden, weil der Wert der D-Mark gegenüber dem Dollar und dem Yen ins Bodenlose gefallen ist und weil die deutschen Unternehmen deshalb nicht nur auf dem US-Markt, sondern auch auf allen anderen Märkten Erfolge erzielt haben, auf denen sie gegen amerikanische und japanische Konkurrenten angetreten sind. Niemand hatte einen solchen Wertverfall der D-Mark im Jahre 1984 erwartet, und niemand hatte mit einer so starken Exportzunahme gerechnet, auch Sie nicht, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien. Sie haben sich doch stets beklagt, daß die Löhne in Deutschland zu hoch seien, daß die Arbeit zu teuer sei. Dabei hatten wir eine Lohnstückkostenentlastung von 0,5 % und einen Handelsbilanzüberschuß von mehr als 50 Milliarden DM. Ist das eine angeschlagene Wettbewerbsfähigkeit?
Nun, jetzt hoffen Sie auf 1985. Ausrüstungen und gewerbliche Bauten sollen real um 6 % bis 7 % steigen. Was berechtigt Sie eigentlich zu der Hoffnung, daß die Unternehmen in diesem Jahr den großen Investitionsboom in Gang setzen? Ihre Überlegung ist vermutlich: Wir haben die Tränke gefüllt, jetzt haben wir die Pferde an die Tränke geführt, nun müßten sie eigentlich irgendwann einmal zu saufen beginnen. Meine Damen und Herren, ich hoffe sehr, daß Sie recht behalten und daß dieser Investitionsboom tatsächlich eintritt, nur, ich sage Ihnen ganz offen, ich habe die allergrößten Zweifel daran, daß dies tatsächlich so sein wird. Denn noch immer sind Finanzanlagen eine attraktive Alternative zu Sachinvestitionen; das ist heute schon mehrfach betont worden. In der Landwirtschaft, im Handel und in der Bauwirtschaft werden die Investitionen im Jahre 1985 eher zurückgehen. Die Reallohnentwicklung läßt für den privaten Konsum 1985 wenig, fast engen Expansionsspielraum. Der Wohnungsbau wird durch hohe Zinsen, durch hohe Grundstücks-und Baupreise und geringe Hoffnung der Interessenten auf künftige Einkommensteigerungen gebremst.Bei den öffentlichen Investitionen, die Sie nun — das sagte Kollege Jens schon — Gott sei Dank auch entdeckt haben, können Sie sich offensichtlich nicht einigen. Herr Strauß fordert mehr öffentliche Investitionen vom Bund, der Herr Blüm auch. Die Regierung fordert die Länder und Gemeinden dazu auf. Und der Herr Mischnick fordert das auch, erklärt aber gleichzeitig, man dürfe nicht die Dummheit begehen, ein Konjunkturprogramm zu fordern. Nun frage ich Sie: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Forderung nach mehr öffentlichen Investitionen und einem Konjunkturprogramm, das mehr öffentliche Investitionen vorsieht?Eines ist klar, meine Damen und Herren: Mehr Investitionen zur Erweiterung der Produktionskapazitäten, die zum Abbau der Arbeitslosigkeit führen könnten, werden die Unternehmen nur dann vornehmen, wenn — erstens — die Ertragslage stimmt — und die stimmt wirklich — und wenn — zweitens — günstige Absatz- und Ertragsmöglichkeiten für die Zukunft erwartet werden.Aber ich muß sagen: Die Entwicklung 1984 gibt den Unternehmen kaum Anlaß, die Chancen für einen Absatz auf dem Inlandsmarkt 1985 positiv einzuschätzen. Denn die private Nachfrage wird eng begrenzt bleiben.Heute ist mir eine Prognose des Ifo-Instituts auf den Tisch gekommen. Die Schlagzeilen dieser Konjunkturperspektiven lauten: „Bauwirtschaft: Auftragsreserven im Wohnungsbau auf neuem Tiefstand", „Großhandel: Geschäftsabschwächung bei Konsumgütern", „Einzelhandel: Nachfrage weiter zurückhaltend". Warum also, so frage ich Sie, sollen die Unternehmen ihre Kapazitäten ausbauen? Für den Export? Hierzu zeigt das Ifo in seiner Perspektive für die Industrie als Schlagzeile auf: „Exporterwartungen weniger optimistisch".Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Unternehmen den derzeitigen massiv überhöhten Dollarkurs als für die nächsten Jahre gültig ansehen. Wenn aber nicht 3,20 DM oder darüber, welchen Kurs sollen sie eigentlich ihrer Absatzplanung und ihrer Investitionsplanung zugrunde legen? Keiner — auch Sie nicht — weiß darauf eine Antwort. Die Unternehmen werden also eher rationalisieren. Sie werden aber nicht die Kapazitäten ausbauen, weil die sich nämlich bei einem möglichen Absacken des Dollars sehr schnell als Überkapazitäten, als Fehlinvestitionen herausstellen könnten. Die Unterneh-
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Dr. Mitzscherlingmen werden deshalb vorsichtig sein, und Vorsicht ist in der gegenwärtigen Situation eine Investitionsbremse.Damit stellt sich zwangsläufig die Frage: Wenn der Investitionsmotor auch 1985 noch nicht anspringen sollte, können Sie dann darauf hoffen, daß der Export nochmals das Versagen Ihrer Angebotspolitik überdeckt? Die meisten Sachverständigen rechnen damit, daß sich der Zuwachs des Welthandels 1985 halbieren wird und daß sich unsere Exportsteigerungen im zweiten Halbjahr 1985 abschwächen. Genau weiß das niemand. Das weiß auch nicht der Herr Bundeswirtschaftsminister. Vor allem weiß niemand, was mit der US-Konjunktur geschieht und welche Bocksprünge der Dollar noch machen wird.Meine Damen und Herren, alle Industrieländer laden zur Zeit alles, was sie nur irgendwie verkaufen können, auf dem amerikanischen Markt ab. Die Folge ist ein Handelsbilanzdefizit der USA von nunmehr über 120 Milliarden Dollar. Glauben Sie denn ernsthaft, daß das so weitergehen kann? In den USA liegt eine Fülle protektionistischer Forderungen auf dem Tisch. Herr Kittelmann hat das schon angesprochen. Der US-Notenbank-Chef, Paul Volcker, warnt davor, daß ein anhaltendes Riesenhandelsdefizit der USA die Gefahr eines Handelskrieges heraufbeschwört. Und da reden Sie davon, daß die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen heute so gut wie seit Jahren nicht mehr sind. Ich gestehe der amerikanischen Administration durchaus zu, daß sie in den Monaten vor der Wahl vieles von dem, was an protektionistischen Forderungen aus dem Kongreß gekommen war, in dem neuen Gesetz gleichsam erledigt hat. Aber sie steht erneut unter Druck, und dieser Druck verstärkt sich. Diesmal steht keine Wiederwahl vor der Tür. Irgendwann müssen die Vereinigten Staaten von ihrem Handelsdefizit herunter. Das bedeutet nichts anderes, als daß die Handelspartner der USA von ihren Handelsüberschüssen Abschied nehmen müssen. Wollen diese Handelspartner keinen konjunkturellen Einbruch erleben, dann müssen Japan und Europa ihr binnenwirtschaftliches Wachstum anstoßen. Nichts führt daran vorbei.
Ich hoffe sehr, meine Damen und Herren, daß Ihre Optimismus-Kampagne Sie für diese Zusammenhänge nicht blind gemacht hat. Immerhin, Sie fangen ja jetzt an, über mehr öffentliche Investitionen zur Stärkung der Binnenkonkunktur nachzudenken. Ich fordere Sie auf: Belassen Sie es nicht beim Nachdenken. Handeln Sie. Sie können nicht auf einen dauerhaften Exportboom setzen. Stärken Sie die Binnennachfrage.
Dazu gehört auch eine konjunkturgerechte und strukturgerechte Gestaltung der Tarifreform. Es ist heute bereits darauf hingewiesen worden, wie diese strukturelle Verteilung der Steuersenkungen aussieht, Herr Kreile. Bitte achten Sie auch darauf, daß bei dieser Gestaltung konjunkturelle Gesichtspunkte und Sozialgerechtigkeitsgesichtspunkte Eingang finden.Stärken Sie den Binnenmarkt. Es gibt einen großen Bedarf an öffentlichen Investitionen.
Nutzen Sie die Investitionsansätze, die Ihnen die Haushaltspläne bieten, wenigstens aus. Im letzten Jahr sind öffentliche Investitionen in Höhe von 2 Milliarden DM überhaupt nicht getätigt worden.
Vor allem: Nutzen Sie aus und stocken Sie auf die Mittel für den Umweltschutz.
Dazu gehört: Verschärfen Sie die Umweltauflagen. Wenden Sie künftig das Verursacherprinzip im Umweltschutz auch tatsächlich strikt an, und geben Sie gleichzeitig Anreize für mehr Investitionen, wie wir das mit unserem Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" vorgeschlagen haben.Sie, meine Damen und Herren, begnügen sich mit Zuschauen, mit Gestaltung der Rahmenbedingungen und dem Hoffen darauf, daß alles irgendwie doch irgendwann mal gut werde. Handeln Sie endlich, wenn Sie morgen keine bösen Überraschungen erleben wollen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kronenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Mitzscherling, Sie haben auf die Ausführung meines Kollegen Kittelmann gemeint, daß die Berliner Arbeitnehmer von den wirtschaftspolitischen Erfolgen des Senates dort noch nicht recht hätten Kenntnis nehmen können, jedenfalls seien das die Erfahrungen in der Sitzung Ihrer Fraktion gewesen. Wir waren kurz vorher in Berlin und haben ganz andere Erfahrungen gemacht. Der Berliner DGB-Vorsitzende hat dort Ausführungen gemacht, wobei er eingangs sagte, er befürchte, daß er bei uns kein Heimspiel habe. Er hatte ein Heimspiel. Er hat mehrfach Beifall von uns bekommen. Er hat in seinen Ausführungen die Erfolge der Berliner Wirtschaftspolitik durchaus anerkannt.
Vielleicht müßte man mehr an die Basis in Berlin gehen, um festzustellen, wie dort die Stimmung wirklich ist.
Ich möchte gegen Schluß dieser Debatte hier zum Stichwort Arbeitslosigkeit zurückkehren. Ich rede also über das Thema, Herr Kollege Jens, von dem Sie gemeint haben, daß es hier noch mehr eingebracht werden müsse. Ich tue das auch deswegen, weil ich den Eindruck habe, daß sich hier für die kommenden Beratungen so etwas wie ein funda-
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Dr. Kronenbergmentaler Dissens zwischen der Koalition und der Opposition abzeichnet, der sicherlich bedauerlich, aber wohl nicht zu ändern ist.Die jüngsten Zahlen über die Entwicklung am Arbeitsmarkt haben uns alle betroffen gemacht. Unsere Betroffenheit wird sich in verstärkte Anstrengungen umsetzen, beschleunigt die Beiträge zu leisten, die der Politik möglich sind. Daher stimmt meine Fraktion der Bundesregierung zu, daß die Überwindung der hohen Arbeitslosigkeit zentrales Problem bleibt. Trotz des Einbruches am Arbeitsmarkt im Januar bleibt die Feststellung richtig, daß wir Teilerfolge bei der Überwindung der Arbeitslosigkeit erzielt haben.
Im Grunde sieht das ja auch die SPD so, denn wie anders will sie erklären, daß die von ihr vor zwei Jahren prophezeiten Zahlen gewaltig unterschritten wurden? Das sind gegenüber Ihren Prognosen, die Sie selbst gestellt haben, doch wohl auch aus Ihrer Sicht Teilerfolge,
ganz zu schweigen von den Erfolgen, die heute morgen von Vertretern der Koalition hier verkündet worden sind.
— Herr Ehrenberg, falsch ist allerdings die Unterstellung, wir würden Massenarbeitslosigkeit tolerieren.
Ich verweise auf Ihren Entschließungsantrag zur Einführung des Arbeitsmarktberichtes, in dem diese Unterstellung enthalten ist. Wir tolerieren keine Arbeitslosigkeit, aber Sie haben zur Entstehung dieser Arbeitslosigkeit erheblich beigetragen. Daran sollten Sie sich erinnern, wenn Sie hier solch unsinnige Unterstellungen in die Debatte einführen.
Meine Damen und Herren, wir sollten doch eines nicht tun: Wir sollten uns gegenseitig nicht den guten Willen, ja, die Entschlossenheit absprechen, die Arbeitslosigkeit nach Kräften wirksam zu bekämpfen.
Niemand findet sich mit der Arbeitslosigkeit ab,
weder die Opposition noch die Koalition und auch nicht die Regierung. — Frau Fuchs, ich stelle fest, daß Sie uns nach wie vor den guten Willen absprechen.
Das macht die Debatte weiß Gott nicht leichter,denn sich mit der Arbeitslosigkeit abzufinden wärewirtschaftspolitisch grober Unfug und ethisch äußerst verwerflich.
Wir sind uns mit Ihnen — selbst wenn Sie das nicht akzeptieren — in dem Ziel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einig. Wir streiten über den Weg. Was diesen Weg betrifft, so halten wir die von der SPD immer wieder propagierten staatlichen Beschäftigungsprogramme, die nur durch zusätzliche Staatsverschuldung zu finanzieren sind, unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Bedingungen nicht für einen Weg, der zum Ziel führt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrenberg?
Wenn das nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Die Frage wird nicht angerechnet.
Bitte schön.
Herr Kollege, da hier immer wieder die angeblich wirkungslosen staatlichen Programme hervorgehoben werden: bestreiten Sie, daß das Investitionsprogramm von 1977 mit einem Umfang von 16 Milliarden DM zwischen 1977 und 1980 zur Vermehrung der Zahl der Beschäftigten um etwas mehr als 1 Million geführt hat?
Herr Ehrenberg, Sie haben in Ihrer Regierungszeit mehrere Beschäftigungsprogramme gemacht.
— Es waren 13 solcher Programme, danke schön. — Am Ende Ihrer Regierungszeit hatten Sie 1,8 Millionen Arbeitslose.
Das hängt damit zusammen, daß solche Programme als konjunkturpolitische Mittel geeignet sind, aber nicht als Mittel der Strukturpolitik. Demgegenüber ist unsere Arbeitsmarktpolitik ganz überwiegend auf die Beseitigung der strukturellen Arbeitslosigkeit angelegt. Die strukturelle Arbeitslosigkeit hat ihre Ursachen in vielen Versäumnissen der Vergangenheit, für die Sie weithin verantwortlich sind. Als Mittel der Strukturpolitik scheiden staatliche Ausgabenprogramme aber weitgehend aus.Das gilt insbesondere dann, wenn über viele Jahre hinweg durch eine hohe Staatsverschuldung der notwendige Finanzierungsspielraum sozusagen auf Null gebracht wird. Wir können unseren Kindern doch nicht weiterhin zumuten, daß sie heutige Arbeitseinkommen später in Form von Zinsen und Tilgung bezahlen. Wir können unseren Kindern doch nicht aufbürden, was wir heute auf Kredit
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Dr. Kronenbergkonsumieren. Meine Damen und Herren, langfristig führt eben kein anderer Weg zur Überwindung der Arbeitslosigkeit als der Weg, der durch folgende Wegmarken gekennzeichnet ist: Preisstabilität, niedrige Kapitalmarktzinsen, Investitionen, maßvolle Lohnabschlüsse, Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt,
ausgeglichene Leistungsbilanz, Zurückführung der immer noch zu hohen Staatsverschuldung und nicht zuletzt wirtschaftliches Wachstum.
Die Koalition wird ihre Anstrengungen verstärken, um am Arbeitsmarkt für Entlastung zu sorgen. Wir halten daher eine beschleunigte Beratung und Verabschiedung des Entwurfs eines Beschäftigungsförderungsgesetzes für dringend geboten. Die hier vorgeschlagene Flexibilisierung wird dazu führen, Arbeitslosigkeit durch befristete Arbeit zu ersetzen, wobei die Frist möglichst bis auf zwei Jahre ausgedehnt werden sollte,
Teilzeitarbeit für die attraktiver zu machen, die Teilzeitarbeit wünschen, und Überstunden, die heute in unverantwortlich hohem Maße geleistet werden, dadurch abzubauen, daß befristete Arbeitsverträge und mehr Arbeitnehmerüberlassungen als heute möglich sind, zum Zuge kommen.Wir bitten Sie in der Opposition, sich unserem Wunsch nach Beschleunigung der Beratungen nicht entgegenzustellen.
Viele Arbeitslose, Herr Ehrenberg, warten auf die Chance, die wir ihnen durch dieses Gesetz ermöglichen.
Der Politik einer pauschalen und generellen Arbeitszeitverkürzung, wie sie die SPD vertritt, setzen wir unser Konzept der Flexibilisierung entgegen. Teilzeitarbeit und Arbeitsplatzteilung sind ein entscheidender Beitrag zur Neuverteilung von Arbeit, auch zur Verkürzung der Arbeitszeit übrigens, allerdings ohne den entsprechenden Lohnausgleich.
Hier liegt der springende Punkt. Wir können nicht die Arbeit anders verteilen, aber das bisherige Einkommen als heiligen Besitzstand verteidigen. Wer Arbeit abgibt, muß auch das entsprechende Einkommen abgeben. Dieser Grundsatz gilt bei der Arbeitsplatzteilung, bei der Teilzeitarbeit und auch bei der Verkürzung von Wochenarbeitszeit, soweit diese Verkürzung überhaupt sinnvoll ist.
Solidarisch verhält sich nur, wer Arbeit und Lohn abgibt. Wer nur Arbeit abgibt und den Lohn behält, der verweigert dem, der die Arbeit übernimmt, den gerechten Lohn.
Manche arbeitsrechtlichen und sozialrechtlichen Vorschriften sind Schutzräume für die, die Arbeit haben, und gleichzeitig Hürden für die, die ohne Arbeit sind. Lassen Sie uns, meine Damen und Herren, die Schutzzäune so ziehen, daß sie den Arbeitslosen nicht zur unübersteigbaren Hürde werden. Arbeitslose erwarten unsere Hilfe, damit sie am Arbeitsmarkt nicht ausgegrenzt werden. Das Beschäftigungsförderungsgesetz ist Ausdruck unserer Solidarität mit den Arbeitslosen.
Helfen wir schnell! Wer schnell hilft, hilft doppelt! Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfram.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit will ich drei Punkte ansprechen. Der erste ist der Bereich der öffentlichen Investitionen.Herr Bundeswirtschaftsminister, in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht wie auch in Ihren Ausführungen haben wir vergeblich darauf gewartet, daß Sie mit Deutlichkeit und Klarheit sagen, wie Sie Ihren Auftrag erfüllen wollen, die Investitionen des Bundes so weit wie möglich auszuweiten und auszufahren. Wir haben von Ihnen in den letzten Wochen nichts anderes gehört als einen Appell an die Städte und Gemeinden mehr zu investieren. Im Unterton schwang immer eine Art Schuldzuweisung mit.Ich will Sie zunächst auf Widersprüchlichkeiten aufmerksam machen. Es ist gar nicht lange her, daß aus Ihren politischen Reihen den Gemeinden vorgeworfen worden ist, sie würden in Infrastrukturmaßnahmen investieren, die überflüssig sind, es würden Folgekosten entstehen, die nicht zu verantworten sind, die Gemeinden würden mit ihrer Kreditaufnahme den Kapitalmarkt zu stark in Anspruch nehmen und auf diese Art und Weise Privaten die notwendigen Kreditmöglichkeiten versperren. Nachdem die Gemeinden eine erfolgreiche Konsolidierungspolitik betrieben haben, halten sie Ihnen das wieder vor. Das ist natürlich verkehrt, denn das, was diese Bundesregierung für sich in Anspruch nimmt, nämlich den Bundeshaushalt zu konsolidieren — wobei jeder weiß, das geschieht ja in Bonn zu Lasten der Kleinen und Mittleren,
der sozial Schwachen, der Rentner, der Städte und Gemeinden.
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8916 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Wolfram
— Natürlich, das sind die Fakten, und das ist die Wahrheit. Das tut weh, aber man muß es Ihnen immer wieder sagen. — Nachdem Sie das für sich in Anspruch nehmen, müssen Sie auch den Gemeinden zubilligen, daß es richtig war, daß sie eine Konsolidierungspolitik betrieben haben, offensichtlich erfolgreicher als Bonn.
Wir haben auf vielen Gebieten gespart, wir mußten manche freiwillige Leistung einsparen, was uns sehr, sehr weh getan hat. Wir haben Gott sei Dank auch im Personalbereich gespart und unnötige Zuwächse vermieden; ich würde mir wünschen, daß der Bund das ähnlich getan hätte. Wir haben eine verantwortungsbewußte Politik betrieben.Ich beklage auch, daß die Investitionen der Gemeinden in den letzten Jahren zurückgegangen sind. Es ist unstrittig, daß rund 10 Milliarden DM weniger investiert worden sind. Wenn Sie dem aber gegenüberhalten, daß die Gemeinden allein in den letzten zwei bis drei Jahren mit über 7 Milliarden DM zusätzlichen Sozialhilfeleistungen belastet worden sind,
dann haben Sie sehr schnell die Erklärung.
— Herr Präsident des Gemeindebundes, Sie sollten doch auf meiner Seite sein;
denn wenn es um die Interessen der Städte und Gemeinden geht,
dann geht es nicht um Rote oder Schwarze, sondern eben um die berechtigten Interessen der Gemeinden, die bei dieser Bundesregierung untergebuttert werden. Darum geht es, und da müßten Sie auf unserer Seite sein.
Ich kann Ihnen und der Bundesregierung versichern: Jede Mark, die wir morgen für Sozialleistungen weniger ausgeben müssen, wird übermorgen doppelt investiert.
Sorgen Sie doch dafür, daß wir nicht mit den Lasten Ihrer verfehlten Arbeitsmarkt-, Beschäftigungsund Wirtschafts- und Konjunkturpolitik belastet werden!
Im übrigen finde ich es schon ein tolles Stück, daß diese Bundesregierung meint, sich in die Autonomie der Gemeinden einmischen zu müssen. Ich hätte eigentlich aus dem Kreise der Kommunalpolitiker der Koalitionsfraktionen erwartet, daß sie das wie ich zurückweisen. Die Kommunalparlamente und die Kommunalpolitiker wissen, was sie verantworten können, sie wissen, was sie zu leisten haben. Sie brauchen in dieser Beziehung aus Bonn keinen Nachhilfeunterricht.In diesem Zusammenhang darf ich folgendes feststellen. Wenn wir durch Ihre Politik, vor allem auch durch Ihre Steuer- und Finanzpolitik, entlastet würden, dann würden wir sicherlich manches zusätzlich mehr tun können.
Genauso, Herr Bundeswirtschaftsminister und Herr Bundesfinanzminister, ist es völlig abwegig, immer nur von den Gemeinden zu reden. Es gibt sehr differenzierte Verhältnisse. Es war z. B. ein Sündenfall, daß wir die Lohnsummensteuer abgeschafft haben.
Aber wer jetzt an die Gewerbesteuer geht, der begeht schon wieder die nächste Sünde. Jeder weiß, daß die süddeutschen Städte beim ersten Sündenfall profitiert haben, während die nord- und westdeutschen Städte heute noch die Opfer bezahlen.
Ich habe doch gesagt, es war ein Sündenfall. Ich schließe uns da gar nicht aus, und jeder weiß, auf wessen Drängen und welchen Druck das zurückzuführen ist.
— Nein, nein; der Beifall von rechts beweist, wer verantwortlich ist. Das wissen Sie auch. Sie, Herr Unland, und Ihre politischen Freunde haben ja auch mit Nachdruck die Abschaffung der Lohnsummensteuer gefordert und das auch im Bundesrat vertreten.
Allerdings ist dadurch kein einziger neuer Arbeitsplatz in den betroffenen Städten und Gemeindenzusätzlich geschaffen worden. Das sind die Fakten.
Machen Sie im übrigen Schluß mit der Unsicherheit, mit der Verunsicherung. Wir würden in den Gemeinden sicherlich manche Million zusätzlich investieren, wenn wir wüßten, wie die Steuerreform für die Gemeinden ausgeht. Wir müssen heute befürchten, daß wir demnächst 750 Millionen DM weniger für Städte und Gemeinden verfügbar haben, wenn die Pläne der Koalition zur Steuerreform aufgehen.
Für die Zurückhaltung gibt es eine Vielzahl von Erklärungen: Der Verschiebebahnhof im sozialen Bereich, die Unsicherheit, die Wechselbäder, die uns bei den Einnahmen verabreicht werden. Das
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Wolfram
alles führt dazu, daß die eine oder andere Investitionsentscheidung unterbleibt.Ich will noch ein Wort zum Herrn Bundeswirtschaftsminister sagen, der in Übereinstimmung mit dem Kollegen Hauser so getan hat, als wären die sozialdemokratisch geführten Städte höher verschuldet und die schwarz oder blau-gelb regierten Städte — letztere gibt es keine mehr; die FDP verschwindet zunehmend von der kommunalpolitischen Bildfläche — die Besseren. Wissen Sie, wer an der Spitze der Verschuldung steht? Es ist die noch von Ihrem Renommierkommunalpolitiker Wallmann regierte Stadt Frankfurt.
Frankfurt ist einsamer Spitzenreiter. Neuss — regiert — CDU steht an 16. Stelle, Mönchengladbach 23. Stelle, die Stadt, in der Herr Hauser lange Zeit Oberbürgermeister war, Krefeld, an 23. Stelle, Essen — sozialdemokratisch — an 108. Stelle, Gelsenkirchen an 170. Stelle, Oberhausen an 177. Stelle, und die Stadt, in der ich Ratsvorsitzender bin, steht an 272. Stelle. So gut wirtschaften wir!
Es ließe sich zu diesem Thema noch vieles sagen. Dazu fehlt mir die Zeit.Ich will noch zwei Bereiche im Telegrammstil ansprechen. Ich hoffe, daß der verehrte Dr. Köhler mit mir einer Meinung ist, wenn ich sage: Es ist eigentlich traurig, daß der Jahreswirtschaftsbericht ganze drei knappe Kapitel bzw. Absätze zur Stahlpolitik enthält. Wir hatten in dieser Situation von Ihnen Herr Bundesminister eigentlich erwartet, daß Sie ein Wort zur Lage der Stahlindustrie gesagt hätten und daß Sie Ihrer Führungsaufgabe gerecht geworden wären. Wir warten auf ein Stahlkonzept der Bundesregierung, das die Billigung und Zustimmung von Stahlindustrie und IG Metall findet. Auf diesem Gebiete ist leider totale Funkstille.Wenn der Bundeswirtschaftsminister zur Energiepolitik feststellt, es bestehe kein Handlungsbedarf, dann kann ich Ihnen nur sagen: Wie traurig, daß Sie noch nicht einmal aus der Erfahrung gerade der letzten Kälteperiode gelernt haben.Wir sind der Energiewirtschaft dankbar, daß sie ihren Versorgungsauftrag erfüllt hat. Aber es hätte auch anders kommen können. Es gibt viele Schlußfolgerungen, die aus der angespannten Lage zu ziehen waren. Das ist nicht zum Lachen, Herr Bundesminister. Ich kann das leider nicht näher ausführen, weil die Zeit fehlt. Kommen Sie in den Wirtschaftsausschuß; dort können wir das Thema konkretisieren und die Debatte darüber fortsetzen. Sie waren ja letzten Mittwoch, als wir im Wirtschaftsausschuß über die Energiepolitik gesprochen haben, leider nicht dort. Sie hatten sicherlich gute Gründe.Aber ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie Ihre energiepolitischen Aktivitäten auf den Verstromungsvertrag verengen, an dem süddeutsche, CDU/ CSU-regierte Länder nach wie vor rütteln — diese wollen ja gern zusätzlich Strom aus Frankreich einführen, obwohl wir gerade jetzt erfahren mußten, daß die Franzosen abschalten; wir mußten sogar zusätzlich Strom nach Frankreich liefern, damit die Südfranzosen nicht frieren —, wenn Sie nicht bereit sind, jetzt schon ein klares Wort dazu zu sagen, daß die Kokskohlenbeihilfe als Instrument für Inlandsabsatz und für Exporte in die EG-Länder weiter gewährt wird — das ist die Voraussetzung für einen sinnvollen Anschluß an den auslaufenden Hüttenvertrag, und das würde die Verhandlungen zwischen Stahlindustrie und Bergbau sicherlich positiv beeinflussen —,
wenn Sie nicht bereit sind mitzuhelfen, daß die Kohle auf dem Wärmemarkt eine bessere Chance bekommt, obwohl es Frankreich, England und viele andere EG-Länder tun — das wäre sinnvoll, weil wir heute Technologien haben, auf Grund derer die Kohle im Bereich der Nah- und Fernwärme umweltfreundlich eingesetzt werden kann —, wenn Sie nicht bereit sind, das Fernwärmeprogramm ZIP 2 zu verlängern und die Mittel aufzustocken, dann handeln Sie gegen die berechtigten energiepolitischen Interessen, dann gefährden Sie eben die Sicherheit der Versorgung und tun nicht genug für den Umweltschutz.Eine letzte Bemerkung. Wenn Sie uns Sozialdemokraten schon nicht unser Programm „Arbeit und Umwelt" abnehmen wollen, was ich nicht begreife; denn es ist ja ein sachgerechtes Programm, mit dem allen Städten und Gemeinden unter beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten geholfen werden könnte — —
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist um.
— ich führe den Satz nur zu Ende —, dann gucken Sie doch einmal in das jüngst von der IG Bau, Steine, Erden vorgelegte Programm „Bauen und Umwelt". Ich würde von Ihnen dann gern hören, was Sie von den Forderungen, die in dem Programm niedergelegt sind, ablehnen. Wenn Sie fair wären, müßten Sie sagen: Vieles ist richtig. Sie müßten nur bereit sein, mit uns zu handeln.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lattmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte um den Jahreswirtschaftsbericht bietet die Chance, die wechselseitigen und unterschiedlichen Positionen gegeneinander abzugrenzen und noch einmal sehr deutlich herauszuarbeiten. Wenn das jedoch ertragreich gestaltet werden soll, dann setzt das ein gewisses Maß an intellektueller Redlichkeit voraus. Wenn man sich einmal anguckt, wie diese Debatte gelaufen ist, ergibt sich folgendes. Die SPD argumentiert in etwa so: Erstens tut die Bundesregierung nichts, sie hat kein Konzept.
Zweitens ist das Konzept schlecht; die Taten sind unausgewogen und unsozial.
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8918 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
LattmannWissen Sie, ein Konzept, das man nicht hat, kann im Grunde genommen auch nicht schlecht sein. Wir sollten uns doch auf diese vordergründige Art der Argumentation nun wirklich nicht einlassen. Wir sollten vielmehr die Sachpositionen — es gibt ja eine Fülle — gegeneinander abwägen, ausdiskutieren und die Erfolge, die diese Politik hat, der Beurteilung durch den Wähler überlassen. Er mag entscheiden, welche Positionen die besseren sind.Nun hat Herr Mitzscherling auf einige Grundsatzfragen hingewiesen und gesagt, wir betrieben eine reine angebotsorientierte Politik, und das sei ganz schlecht. Deshalb müßten wir davon abkommen. Herr Mitzscherling, Sie haben unrecht. Wir sind uns natürlich völlig klar darüber, daß ein Angebot, dem keine Nachfrage gegenübersteht, genausowenig funktioniert wie eine Nachfrage, für die es kein Angebot gibt. Für uns ist das keine ideologische, sondern eine ganz pragmatische Frage. Wir wissen, daß sowohl das eine als auch das andere notwendig ist. Aber wir wissen auch, daß eines nicht funktioniert — und das haben Sie mit Ihrer Politik deutlich gemacht —: eine Nachfrage, die ausschließlich auf Pump finanziert ist.
Nun spielen — wen könnte das wundern, gerade auch in Anbetracht der aktuellen Zahlen — natürlich das Thema Arbeitslosigkeit und die Frage, was man dagegen tun kann, eine entscheidende Rolle. Ich muß mich ein bißchen wundern, daß Sie, wenn Sie dieses Thema ansprechen, immer erst 1982 beginnen — das ist für Sie die Stunde Null — und dann über die Jahre 1982 folgende diskutieren. Das, was davor stattgefunden hat, unterliegt einem großen Verdrängungswettbewerb.Meine Damen und Herren, wenn wir redlich miteinander umgingen, müßten wir doch wenigstens eingestehen, daß Arbeitslosigkeit, die strukturell bedingt ist — und um diese geht es hier —, sich über einen langen Zeitraum aufbaut und auch fortwirkt. Sie ist natürlich nicht erst 1982 entstanden und konnte auch nicht 1982 angehalten werden. Das ist einem Auto vergleichbar, in dem Sie sitzen und erkennen, daß Sie auf dem verkehrten Weg sind. Wenn Sie dann bremsen, bleibt das Auto auch nicht auf der Stelle stehen oder fährt den Berg wieder hinauf, sondern es fährt natürlich noch ein Stück weiter. In dieser Situation befinden wir uns bedauerlicherweise.Aber eines haben wir erreicht — das beweisen alle verfügbaren Daten —: daß die Fahrt zunächst deutlich verlangsamt wurde und jetzt nach einigen Schwankungen zum Stillstand gekommen ist. Nun geht es darum, den Weg in die andere Richtung einzuleiten.Nun ist — das muß an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich gesagt werden — Arbeitslosigkeit natürlich ein Thema der Wirtschaftspolitik. Ihren ganzen Unkenrufen zum Trotz haben wir ja auch in diesem Zusammenhang eine Fülle von Maßnahmen eingeleitet. Wir haben dazu das Notwendige gesagt. Ich bin ganz sicher, wir könnten hier noch einen ganzen Katalog herunterbeten, und sie würden immer noch behaupten, wir täten nichts. Das ist eine politische Standardaussage, die Sie durch keine Fakten erschüttern lassen wollen.Arbeitslosigkeit ist selbstverständlich ein Thema der Wirtschaftspolitik. Aber wenn man über diese Frage seriös diskutiert, muß man auch deutlich machen, daß eine große und ganz wichtige Rolle im Zusammenhang mit den Arbeitsplätzen und ihrer Sicherung die Tarifpartner spielen. Meine Damen und Herren, wir sind eines der wenigen Länder in der Welt, in denen es eine Tarifautonomie gibt. Das bedeutet natürlich nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, und diese müssen wahrgenommen werden.
Da darf man schon einmal auf den heute morgen als Vordenker der SPD apostrophierten Herrn Glotz hinweisen, der in einer bemerkenswerten Offenheit — nicht hier, aber in einem anderen Bereich — deutlich gemacht hat, Arbeit in Deutschland sei zu teuer geworden. Wir sind uns ja alle einig: Das heißt nicht, daß wir dem einzelnen den Betrag in der Lohntüte nicht gönnen, sondern daß dies zu einem erheblichen Teil die Lohnnebenkosten betrifft.Wenn man über diese Frage diskutiert und der Meinung ist, daß hier etwas im argen liegt, dann muß man natürlich auch darüber sprechen, wie man dem entgegentreten kann. Eines geht nicht: daß man auf der einen Seite diese Situation beklagt, aber jede Maßnahme, die geeignet ist, sie zu ändern, als sozialen Kahlschlag diffamiert.
Müssen wir Sie denn wirklich immer wieder auf die Ausführungen Ihres früheren Bundeskanzlers Schmidt vom Sommer 1982 hinweisen? Viele von Ihnen waren dabei, als er gesagt hat, daß eine entscheidende Verbesserung der Situation voraussetzt, daß noch viel tiefere Einschnitte ins soziale Netz erfolgen.Wir tun das nicht aus Jux und Dollerei und aus Freude, sondern weil wir mit Schmidt und vielen anderen erkannt haben, daß hier in der Tat einiges passieren muß, wenn wir deutliche Verbesserungen erreichen wollen.Es wurden die öffentlichen Investitionen angesprochen. Man muß zunächst darauf hinweisen — damit keine falschen Erwartungen geweckt werden, was Sie permanent tun —, daß der Anteil der öffentlichen Investitionen gerade 15% ausmacht. 85 % der Investitionen aber finden im privaten Sektor statt. Wenn man allein diese Relationen betrachtet, sieht man, daß mit Beschäftigungsprogrammen à la SPD das Problem einfach nicht zu lösen ist.
Das heißt natürlich nicht, daß dieser Bereich der öffentlichen Investitionen nicht wichtig sei.
— Entschuldigen Sie bitte, Frau Fuchs: Sie haben inallen Reden immer gefordert: Wir brauchen jetzt
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Lattmannein Beschäftigungsprogramm. Wenn Sie nun sagen, Sie wollen keines, dann ist das eine neue Situation.
Natürlich ist die Frage der öffentlichen Investitionen eine wichtige Frage, und wir wünschen uns in der Tat, daß sich hier mehr bewegt. Aber wenn man das schon diskutiert und wenn gerade Sie das ansprechen, müssen wir auch darauf hinweisen, daß es die Regierung Schmidt war, die hier zu einer deutlichen Reduzierung der Investitionen im Bundeshaushalt beigetragen hat.
Wir würden gern einen größeren Beitrag leisten, und wir werden dies auch tun, sobald wir auf Grund der fortgeschrittenen Konsolidierungsfolge die Möglichkeit dazu haben, diesen Anteil wieder deutlich auszuweiten. Wenn der Appell, den wir sowohl an uns selbst als auch an die Gemeinden gerichtet haben, zu der Frage veranlaßt, was denn hier der Unterschied zum Beschäftigungsprogramm sei, dann ist eines doch sehr deutlich: Das, was Sie immer getan haben und jetzt auch wieder fordern, ist der Versuch, durch zusätzliche Mehrbelastungen irgendwelcher Steuerzahler oder Beitragszahler oder von wem auch immer ein solches Programm auf den Weg zu bringen. Demgegenüber ist es bei uns eine ganz alte Forderung, im Haushalt eine Umschichtung vom konsumtiven Bereich zu den Investitionen vorzunehmen.
Und genau dabei bleiben wir auch heute. Das ist eine Fortsetzung der Politik, die wir immer betrieben haben.Wenn wir nun die Gemeinden zwar nicht belehren wollen — oder wie auch immer Sie das formuliert haben, Herr Wolfram — wohl aber bitten, daß sie uns hier auf diesem Weg helfen, dann geht es doch um eine schlichte Selbstverständlichkeit. Denn es ist einfach festzustellen, daß die Gemeinden mit ihren Konsolidierungsergebnissen weiter als wir und deshalb eher in der Lage sind, in diesem Bereich etwas zu tun.Lassen Sie mich noch auf einen Gesichtspunkt hinweisen, den Herr Ehrenberg hier heute mehrmals bemüht hat. Er hat ganz richtig festgestellt und in mehreren Zwischenfragen zum Ausdruck gebracht, daß ein großer umfassender Geldabfluß aus der Bundesrepublik ins Ausland stattfindet. Er hat sich bloß selbst und auch uns nicht die Frage gestellt, warum das eigentlich so ist. Wir haben die Situation, daß es nach wie vor günstiger ist, vorhandenes Geld in Kapitalanlagen als in Investitionen unterzubringen. Und warum ist dies so? Weil unter Ihrer politischen Führung die Belastung der Unternehmen in Deutschland sprunghaft hochgeschraubt worden ist und weil wir leider auf Grund der verheerenden Kassenlage bis heute nicht in der Lage waren, sie so deutlich herunterzuschrauben, daß es wieder besser wird.
Deshalb ist das schon eine sehr merkwürdige Argumentation, wenn ausgerechnet Sie uns nun vorwerfen, daß hier Geld abfließt. Wir beklagen das mit Ihnen. Wir werden dafür sorgen, daß sich das verbessert.
Dazu brauchen wir aber den finanziellen Spielraum.Zum Schluß dies. Bei dem Streit über die Konzepte oder die Maßnahmen oder die Wege, die jetzt zu gehen sind, haben wir es relativ leicht. Das, was Sie an polischer Weisheit anzubieten haben, haben Sie 13 Jahre praktiziert. Es hat nicht funktioniert. Ganz im Gegenteil: es hat zwei Millionen Leute um Lohn und Brot gebracht.
Das Ergebnis steht fest. Nun lassen Sie uns einmal in aller Sorgfalt beobachten, wie es mit unserer Politik weitergeht. In drei wichtigen Punkten des Stabilitätsgesetzes — —
Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf aufmerksam machen: Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja, ich komme zum Schluß. In drei wichtigen Punkten des Stabilitätsgesetzes sind wir zum Erfolg gekommen. Den vierten werden wir auch noch schaffen, weil wir nicht auf das umfassende Wissen des Staates und der Bürokratie, sondern auf die Kreativität des einzelnen setzen. Damit werden wir Erfolg haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Sperling.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lattmann, mein Kompliment! Was der Jahreswirtschaftsbericht der Regierung vermissen läßt, haben Sie in Ansätzen gezeigt: Problembewußtsein.Im Jahreswirtschaftsbericht kommt das, worüber ich sprechen möchte, ein bißchen exemplarisch in einem kleinen Absatz vor: die Bauwirtschaft. Ich bin froh darüber, daß Herr Schneider noch dasitzt. Herr Schneider, dieser Sorge sind Sie ledig. Bauwirtschaftsminister sind Sie seit etwa zwei Jahren nicht mehr. Das waren Sie im ersten halben Jahr Ihrer Amtszeit; da waren Sie es mit Freuden, weil die Auftragsziffern stiegen und weil — wie Sie hier auch stolz verkündet haben; nachträglich hat sich dann herausgestellt: nur saisonal — die Arbeitslosigkeit in der Bauwirtschaft sank.Heute stehen wir erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik vor 300 000 arbeitslosen Bauarbeitern und 100 000 kurzarbeitenden Beschäftigten der
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8920 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Dr. SperlingBauwirtschaft, und diese Arbeitslosen und Kurzbeschäfigten sind — Herr Bangemann, nicht mehr Herr Schneider — Ihre, nicht mehr unsere.Herr Lattmann, was die 13 Jahre angeht: Mit Herrn Friderichs war es möglich, ein Zukunftsinvestitionenprogramm zu machen und für diejenigen, um die es mir jetzt geht, auch durch Jahre hindurch Arbeitsplatzsicherung zu betreiben. Mit Herrn Lambsdorff hatte man einen offenen und rational argumentierenden Gegner, auch im Kabinett. Die Handlungsfähigkeit war durch ihn — im Gegensatz zu Herrn Friderichs — schon erheblich eingeschränkt.Herr Schneider, daß Sie das Ressortvermächtnis Bauwirtschaft gewissermaßen an Herrn Bangemann übergeben mußten, wird Sie inzwischen schon sehr gereut haben, denn damit ist beschäftigungspolitisch wirklich die Ohnmacht eingezogen. Herr Bangemann, ich sage es ehrlich: Ich bin riesenfroh, daß ich nicht mit Ihnen Regierungsverantwortung teilen muß. Wir hätten nichts als Ärger miteinander.
Ich füge hinzu, Herr Bangemann: Ich bin sicher, Herr Schneider teilt meine Hoffnung, daß Sie von der Dreipunktepartei endlich den Schlußpunkt setzen.
Nun zu dem, was mich eigentlich ermutigt hat, hier heraufzugehen, denn manches, was Herr Lattmann sagt, verweist ja auf die 13 Jahre; immer wieder diese schöne Redensweise. Ich wäre nicht hier, wenn nicht meine Fraktion in den zwei Jahren Oppositionszeit Schularbeiten gerade im Bauwirtschaftsbereich gemacht hätte, Schularbeiten, Vorarbeiten für eine künftige Regierung, Arbeiten, die wir lieber noch im Amt gemacht hätten, aber, gehindert durch Herrn Lambsdorff, nicht machen konnten.
Jetzt schauen Sie sich den armen Herrn Schneider an: Tapfer hat er gekämpft.
Tapfer hat er für das Voranziehen der Steuerbegünstigungsmöglichkeiten für selbstgenutztes Wohneigentum gekämpft. Was ist aus ihm gestern im Kabinett geworden? Sie können es nirgendwo lesen, denn hätte er gewonnen, hätten wir doch Pressemeldungen darüber. Nein, er hat im Kabinett verloren.Was ist infolgedessen passiert? Der sogenannte Attentismus — so heißt das unfreundliche Fremdwort — in der Bauwirtschaft wird bleiben. Fragen wir danach, warum es denn in der Bauwirtschaft so völlig anders gekommen ist, als es der Sachverständigenrat — bei aller korrekten Zustandsbeschreibung, die er gibt — erwartet hatte. Statt 7 % Wachstum der Bauinvestitionen gab es im Jahre 1984 gerade 1,5%. Wo sind denn die anderen Prozente geblieben, warum sind die nicht gekommen? Wenn man danach fragt, kann man feststellen, daß das Kalkulieren mit dem Geld in den Händen von möglichen Investoren nicht ausreicht, wenn die Investitionen keine Erträge versprechen, die hinlänglich hoch sind. Gehen wir das für die Bauwirtschaft einmal durch: 50% der Bauwirtschaft im Hochbau leben von Wohnungsbauinvestitionen, und es gibt keinen Wohnungsbau ohne Steuerbegünstigung. Weder Mietwohnungsbau noch selbstgenutztes Wohneigentum entsteht in diesem Land ohne massive Steuerbegünstigung.Die Begünstigung für das Bauherrenmodell, eine sinnlose Form der Steuerbegünstigung im Sozialstaat, ist weg, läuft Gott sei Dank aus.
Über die andere Form der Steuerbegünstigung für den Mietwohnungsbau als Investitionsmaßnahme — ohne Bauherrenmodell — braucht man nicht zu reden. Die Mieten, die dann erzielt werden müßten, kann niemand zahlen. Deswegen ist j a auch sozialer Mietwohnungsbau in Grenzen noch nötig. Für die investierenden Eigenheimer oder Eigentumswohnungsbesitzer braucht es steuerrechtliche Regelungen, die für die nicht Versorgten taugen, und das sind die mit den niedrigeren Einkommen, die, deren Einkommen im vergangenen Jahr nicht gestiegen, sondern gesunken sind. Bei sinkenden Realeinkommen sind die mittleren und kleinen Verdiener nicht in der Lage, selbstgenutztes Wohneigentum im Neubau zu erstellen oder im Altkauf zu erwerben. Von daher kann für die Bauwirtschaft kein Investitionsimpuls ausgehen, wenn gleichzeitig Einkommenskürzungen und das Verzögern von steuerlichen Begünstigungen aufeinandertreffen. Natürlich werden sie abwarten: erstens bis die Einkommen wieder steigen und zweitens bis die Steuerbegünstigungsphase tatsächlich erreicht ist. Vor 1987 läuft doch nichts mehr.Aber, Herr Bangemann, die Kapazitäten werden dann gebraucht, damit die Preissteigerungsraten niedrig bleiben. Deswegen lohnt es doch, zu fragen, ob der Sachverständigenrat nicht recht hatte, wenn er meinte, 7 % Zuwachs an Bauinvestitionen würden eigentlich gebraucht und gefragt sein. Sollte man nicht die Kapazitäten für ein solches Investitionswachstum bewahren? Muß man dann nicht versuchen, für die Bauwirtschaft kapazitätserhaltende Perspektiven zu schaffen und zu handeln?
Herr Lattmann, das geht nicht mit Beschäftigungsprogrammen. Sie wenden sich bei uns an die falsche Adresse, wenn Sie dauernd von Beschäftigungsprogrammen reden. „Arbeit und Umwelt" ist kein Beschäftigungsprogramm der klassischen Art. „Arbeit und Umwelt" ist ein Versuch, ein mittelfristiges Investitionsprogramm für Umweltschutz und Stadterneuerung zu schaffen, und zwar weitgehend zugunsten derjenigen Gemeinden, die auch durch die beste Ermutigung, die Sie aussprechen können, nicht das Geld in die Finger bekommen, um für
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Dr. SperlingUmweltschutz die entsprechenden Investitionen zu finanzieren.Damit sind wir bei Ihrem zweiten Versäumnis. Es betrifft einen Punkt, bei dem wir die Schularbeiten gemacht haben. Unser Gesetzentwurf betreffend selbstgenutztes Wohnungseigentum und Steuervergünstigung liegt vor. Er sollte nach einem Entwurf des Landes Nordrhein-Westfalen bereits zum 1. Januar 1985 in Kraft treten. Ihn hat der Bundesrat absaufen lassen. Unser Gesetzentwurf liegt vor, wird verzögert und soll nicht behandelt werden, bis die Regierung überkommt. Aber sie kommt noch immer nicht über.„Arbeit und Umwelt" liegt vor und wird von Ihnen nach meinem Eindruck j a bewußt mißverstanden als ein klassisches Beschäftigungsprogramm, damit Sie sich gar nicht mit der Ernsthaftigkeit dieser Idee auseinandersetzen müssen.
Das, was da gebraucht würde, ist Geld für jene Kommunen, denen es schwerfällt, aus Ihrem Steueraufkommen und bei der zu erwartenden Finanzknappheit, die entsteht, wenn erst einmal die Mindereinnahmen als Folge der größten Steuerreform zwischen Bund, Ländern und Gemeinden eintreten, Investitionen zu tätigen. Man weiß j a auch nicht, wieviel die Kommunen am Ende weniger in der Kasse haben werden, wenn Sie Ihre Steuerreform einmal durchgebracht haben. Wie sollen sie denn langfristige Investitionen tätigen, möglicherweise mit Folgekosten, wenn sie nicht wissen, wie es nachher in den Kassen aussieht?Da wäre dieses Programm „Arbeit und Umwelt" mit einem anderen Finanzierungsmechanismus, der über 15 Jahre lang angelegt ist, in der Tat nötig. Von mir aus können Sie es über 20 Jahre anlegen. Es gibt gar keine Begrenzung. Sie können die Zahlen in diesem Programm ändern. Sie können es sich zueigen machen. Sie können es völlig umwandeln. Sie können jedenfalls von der Idee her etwas tun, was notwendige Kapazitäten der Bauwirtschaft erhält.Wir kommen um den Umweltschutz nicht herum, weder um Sanierungsbauten noch um Schutzbauten für die Zukunft. Sich Preissteigerungen einzuhandeln, indem man die Betriebe jetzt kaputtgehen läßt, scheint mir eigentlich von der wirtschaftspolitischen Vernunft her gesehen heller Wahnsinn zu sein.
Wie behandeln Sie dies nun? Sie reden davon, das sei der alte Hut. Dann schicken Sie uns Herrn Wissmann hierher, der uns etwas von neuen Bauaufgaben vorschwärmt. Da Sie dessen Rede noch in Erinnerung haben, mache ich es kurz: Wenn das für ihn neu ist, muß ich sagen: Ein alter Hut ist es zwar nicht, aber wir haben den Hut, den er uns vorgetragen hat, schon ein paarmal durchgeschwitzt.So neu ist das nicht, daß mit Dorferneuerung, Stadterneuerung, Wohnungsmodernisierung riesige Bauaufgaben der Zukunft auf uns zukommen. In der Tat geht es mit dem Neubau zu Ende. In der Tat muß die Bauwirtschaft umstrukturieren. Aber, Herr Bangemann, warum hat Ihr Kollege Norbert Blüm nichts gesagt, ais Herr Schneider zu Recht ankündigte, 200 000 Beschäftigte der Bauwirtschaft würden in der nächsten Zeit im Zuge der Umstrukturierung gehen müssen? Warum macht man nicht Umschulungsprogramme für sie, damit sie von dem Rohbau herunterkommen und zu Modernisierungs-, Ausbau- und Instandsetzungsbaumaßnahmen, also ins Ausbaugewerbe, kommen? Dahin müßte man die doch überführen. Dann muß man doch dafür sorgen, daß einem die Kapazität nicht kaputtgeht. Sonst wird dieses Modernisieren, Instandsetzen, Stadterneuern und Dorferneuern doch auch zu teuer.Nein, meine Damen und Herren, das, was Sie uns mit dem Jahreswirtschaftsbericht geboten haben, und das, was Sie an Beiträgen in der Debatte dazu geboten haben, läßt für die jetzt vorhandenen 2,6 Millionen Arbeitslosen wenig Hoffnung übrig. Diese Debatte wäre, wenn Sie darüber vorher nachgedacht hätten, doch wohl besser erst im März gelaufen; denn dann wären die Zahlen des Arbeitsmarkts vielleicht schon wieder etwas günstiger gewesen, Herr Bangemann.Gewiß ist ein Teil der Arbeitslosigkeit saisonal bedingt. Aber wenn Sie von struktureller Arbeitslosigkeit reden — ein Teil von Ihnen tut das ja —, dann muß man doch fragen: Welche Strukturen müssen wir uns erhalten, damit das nicht noch schlimmer wird?Ich sehe, daß so, wie Sie Wirtschaftspolitik für die Menschen in unserem Land angehen, die seit längerer Zeit Arbeitslosigkeit erlebt haben, und für diejenigen, die unter ihrer Bedrohung leben müssen, von Ihnen keine Hoffnung ausgeht.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 10/2541 und 2817 an die in der gedruckten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß Punkt 3 der Tagesordnung auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung erst nach Punkt 7 aufgerufen wird.Deshalb rufe ich jetzt Tagesordnungspunkt 4 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes
— Drucksache 10/2720 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für Jugend, Familie und GesundheitMeine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu zehn Minuten
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8922 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Vizepräsident Westphalfür jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Herr Bundesminister der Justiz, bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Institut der Strafaussetzung zur Bewährung hat sich bewährt. Die guten Erfahrungen, die wir in den zurückliegenden Jahren gemacht haben, lassen es angezeigt erscheinen, seinen Anwendungsbereich in behutsamer Weise zu erweitern. Vor allem hat sich gezeigt, daß die Aussetzung eines Strafrestes in geeigneten Fällen wesentlich zu einer Resozialisierung des Verurteilten beizutragen und damit einer Rückfallkriminalität ganz entscheidend entgegenzuwirken vermag.
Allerdings hängt der Erfolg in diesem Bereich vor allem davon ab, daß erweiterte Aussetzungsmöglichkeiten allein in den hierfür wirklich geeigneten Fällen in Betracht gezogen werden.
Die Bundesregierung will deshalb mit dieser Gesetzesinitiative ein differenziertes und die unterschiedlichen Gegebenheiten berücksichtigendes Vorgehen gewährleisten. So sollen künftig Verurteilte, die erstmals eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren verbüßen, schon nach Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe bedingt zur Bewährung entlassen werden können, wenn sie eine gute Sozialprognose aufzuweisen haben. Handelt es sich dagegen bei einem Verurteilten um einen Wiederholungstäter, der sich bereits früher einmal in Haft befunden hat, so kommt eine Aussetzung des Strafrestes nach Halbzeitverbüßung nur unter besonderen Umständen in Betracht. Damit geht der Entwurf einen Weg, der stärker als bisher nach den einzelnen Fallgruppen differenziert.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch ein Wort zu dem SPD-Entwurf sagen. Dieser möchte den Anwendungsbereich der Strafaussetzung nicht nur für die Fälle der bedingten Entlassung, sondern ebenso für die Aussetzung der Freiheitsstrafe durch das erkennende Gericht in einer Weise erweitern, die jedenfalls nicht mehr als behutsam bezeichnet werden kann und die sich kriminalpolitisch nicht hinreichend begründen läßt.
Auch wenn die Bundesregierung mit der Opposition in dem Ziel durchaus einig ist, den Strafvollzug zu entlasten, so darf dessen Entlastung doch nicht auf Kosten der verbrechensverhütenden Wirkung der Strafe, nicht auf Kosten des Vertrauens der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts
und nicht auf Kosten der auch mittels der Strafe zu erhaltenden Rechtstreue der Allgemeinheit erfolgen. Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren generell — so will es Ihr Entwurf — und bis zu drei Jahren bei Vorliegen besonderer Umstände voll zur Bewährung auszusetzen, sofern der Verurteilte eine gute Sozialprognose aufweist, würde für sehr viele Täter,
nicht zuletzt etwa in dem j a auch von Ihnen als zentral und wichtig angesehenen Bereich der Wirtschaftskriminalität, bedeuten, daß trotz gravierender Delikte von den Verurteilten nicht mehr mit einer Strafverbüßung gerechnet werden müßte.
Eine derartig weitgehende Änderung des geltenden Rechts würde von der ganz breiten Mehrheit der Bevölkerung kaum verstanden werden; eine entsprechende Kriminalpolitik würde von ihr auch nicht mitgetragen werden. Auf die damit verbundene Gefahr einer Erschütterung der Rechtstreue habe ich bei der seinerzeitigen Debatte im vergangenen Jahr bereits hingewiesen. Dies möchte ich heute noch einmal sehr nachdrücklich unterstreichen.
Dabei sind wir in dem Bemühen, den Strafvollzug, wo es angebracht und möglich ist, zu entlasten, durchaus einig. Die Bundesregierung bemüht sich, auch diesem Ziel zu dienen. Die verstärkte Einschaltung der Gerichtshilfe soll dazu beitragen, den Widerruf der Strafaussetzung, wo irgend möglich, zu vermeiden. Die Möglichkeiten für eine Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch Leistung freier Arbeit werden verbessert, nicht zuletzt auch unter Berücksichtigung der bei hoher Arbeitslosigkeit hier von manchen als Problem gesehenen Umstände. Hier wird ein Weg eröffnet, der ganz wesentlich zur Zurückdrängung der Ersatzfreiheitsstrafe und damit zur Entlastung des Strafvollzuges beitragen kann.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, in diesem sehr sensiblen Bereich der Rechtspolitik den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Weg einer zugleich maßvollen, behutsamen, aber, wie ich meine, auch wirksamen Novellierung des Gesetzes zu unterstützen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 4. Oktober letzten Jahren haben wir hier bereits über die Strafaussetzung zur Bewährung debattiert, damals über eine Vorlage der SPD-Bundestagsfraktion. Der Entwurf der Bundesregierung, der heute zur ersten Lesung ansteht, Herr Minister, war damals zwar schon in der Welt, nämlich im Bundesrat, aber erst heute wissen wir wirklich, wie weit die Bundesregierung gegenüber dem geltenden Recht gehen will.Es ist, so muß ich leider sagen, wie so oft: Die Bundesregierung zieht nach, und ob sie etwas will, weiß sie selbst nicht genau. Ich zitiere, um das zu belegen, aus der Begründung. Dort heißt es:Ob und gegebenenfalls in welchem Maße sich die vorgesehenen Änderungen der §§ 56 und 57 StGB auf die Aussetzungspraxis der Instanzgerichte, insbesondere aber auch auf die Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern
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Dr. de Withüber die Aussetzung eines Strafrestes ... auswirken werden, läßt sich zur Zeit schwer vorhersagen.Und, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wenn der Bundesrat schon einmal — was selten genug ist — das Fähnlein des Fortschritts in die Hand nimmt, nämlich hier beim hälftigen Straferlaß, und wenigstens etwas, ein wenig vorangeht, bremst der liberale Bundesminister der Justiz — hurtig, möchte ich sagen —, indem er dort ausführt:Die Bundesregierung erhebt gegen die vorgeschlagene Anderung Bedenken;— wohlgemerkt, des Bundesrates —sie könnte bei potentiellen Straftätern leicht den — objektiv unrichtigen — Eindruck erwekken, sie hätten im Falle einer Verurteilung regelmäßig nur mit einer Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe zu rechnen.Günter Grass hat einmal gesagt, wie Sie wissen: Der Fortschritt ist eine Schnecke. Ihnen, Herr Justizminister, ist es bei aller Ihrer großen persönlichen Liebenswürdigkeit vorbehalten geblieben, hinter diesem Symbol der Langsamkeit noch meilenweit zurückzubleiben — Sie reden selbst von Behutsamkeit — oder, um es anders auszudrücken, den Unterschieden zwischen Gehen und Stehen auf ein bisher nicht bekanntes Mindestmaß herabzuschrauben.Bei jener Debatte am 4. Oktober waren wir uns alle über drei Punkte einig.Erstens. Die Einrichtung der Strafaussetzung zur Bewährung hat sich bewährt. Das haben Sie, Herr Minister, eben noch einmal unterstrichen.Zweitens. In der Bundesrepublik ist die Zahl der Inhaftierten, gemessen pro hunderttausend der Bevölkerung, zu hoch. Darauf hat Herr Seesing seinerzeit mit Nachdruck hingewiesen. Nach der neuesten Statistik stehen wir mit Österreich und — man höre und staune — mit der Türkei einsam an der Spitze. Unsere Gefängnisse quellen über.Drittens. Entlastungsmaßnahmen zugunsten der Betroffenen, aber auch von Staat und Gesellschaft, sind angezeigt.Die Konsequenzen, die die Bundesregierung hier nun vorgeschlagen hat, sind unzureichend. Sie schlägt im Grunde genommen nur zweierlei vor. Einmal will sie bei der schon jetzt möglichen Strafaussetzung zur Bewährung bei denen, die bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe erhalten haben, die Rechtsprechung lediglich kodifizieren. Bisher heißt es:Das Gericht kann ... zur Bewährung aussetzen, wenn besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen.Sie, die Bundesregierung, will wie folgt ändern:Das Gericht kann ... zur Bewährung aussetzen, wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen.Diesen Unterschied — meine sehr verehrten Damen und Herren, das werden Sie wohl einräumen — muß man sich auf der Zunge zergehen lassen.
— So ist es, in der Tat.Bei der schon jetzt möglichen hälftigen Strafaussetzung öffnet die Bundesregierung zum anderen lediglich die Möglichkeit für diejenigen, die bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe erhalten haben, und in einem weiteren neuen Absatz, was die von der Bundesregierung verkündete Gesetzesvereinfachung widerspiegelt — ich darf das so formulieren —, für den Rest derart minimal, daß es kaum darzustellen ist.Wir, die Sozialdemokraten, haben dagegen vorgeschlagen, die bisherige Regelbewährung bei einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf die auszudehnen, die eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren erhalten haben. und die bisherige Ausnahmeregelung, die für die galt, die eine Freiheitsstrafe von einem bis zu zwei Jahren erhalten haben, um ein weiteres Jahr auszudehnen, und zwar für Erwachsene und für Jugendliche.Was Sie vorschlagen, ist eine Minimalerweiterung nur für Erwachsene und nicht für Jugendliche. Sie vertrösten uns in Ihren Erklärungen darauf, daß das Jugendgerichtsgesetz noch käme. Bisher war es in der Rechtspolitik in unserem Land immer so, Herr Minister, daß Vorreiter das Jugendgerichtsgesetz war und dem das Erwachsenenrecht folgte. Ich meine, deswegen ist es nur recht und billig, wenn hier eine Erweiterung zumindest gleichzeitig erfolgt, für die Erwachsenen und für die Jugendlichen. Ich fordere Sie deshalb auf, Herr Bundesminister der Justiz, diesen im Ausland bereits fast überall vollzogenen Schritt mit uns zu gehen und den roten Faden aufzunehmen und all den Schwarzmalern eine Absage zu erteilen.
Ich fordere Sie zu einem weiteren Schritt auf. Ich denke, daß gerade diese Vorlage hierzu guten Anlaß bietet, weil nämlich auch in Ihrer Vorlage eine Vorschrift angesprochen wird, die mit der gemeinnützigen Arbeit zu tun hat. Ich fordere Sie auf, mit uns Sozialdemokraten in einen Dialog einzutreten über die Fortentwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems.
Die Beseitigung der Zuchthausstrafe, die Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe, die Einführung der heute gültigen Regelungen der Strafaussetzung zur Bewährung und des Tagessatzsystems bei Geldstrafen, das waren Ergebnisse der Großen Koalition. Dafür steht Gustav Heinemann.Heute müssen wir erkennen — und das sage ich auch ganz selbstkritisch —, daß trotz der im Bundesstrafvollzugsgesetz aus dem Jahre 1976 getroffenen Regelungen das Wort von Eberhard Schmidt — Sie alle kennen es — von den „steingewordenen
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Dr. de WithRiesenirrtümern" — und damit meint er die Gefängnisse — noch immer über uns lastet, besonders, wenn wir die Rückfallquote anschauen, wobei wir selbstverständlich gern sehen, daß sich hier etwas gebessert hat, aber beileibe noch nicht genug.Nun, die Freiheitsstrafe — um das zu unterstreichen — wollen wir keineswegs abschaffen. Sie ist nötig. Und wir sagen auch mit Nachdruck: Sie darf keineswegs nur auf dem Papiere stehen. Nur — und das ist der Punkt —, es gilt zu überlegen, ob wir das Sanktionensystem vor der Strafverbüßung nicht zu einem breiteren und differenzierteren Angebot umgestalten sollten, um so bessere Wirkungen gegen den Rückfall, ich sage aber auch, für die Rechtstreue der Bevölkerung zu gewinnen.
In diesem Zusammenhang wären als Vorschlag zu nennen:Erstens. Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153, 153a, StPO — geringe Schuld —, auch dann, wenn der Täter den Schaden wiedergutmacht. Ich erinnere an das Schlagwort vom Täter-Opfer-Ausgleich.Zweitens. Einführung der gemeinnützigen Arbeit auf freiwilliger Basis durch Bundesgesetz. Jetzt ist das allein den Ländern vorbehalten.Drittens. Einführung der schlichten Verwarnung, der Verwarnung mit Auflagen unter Bewährung und der Verwarnung mit Auflagen, z. B. auch gemeinnützige Arbeit.Viertens. Aussetzung auch für die Beitreibung der Geldstrafe.Fünftens. Nachträgliche Herabsetzung der Höhe der Tagessätze bei der Geldstrafe, z. B. bei Arbeitslosigkeit, bei Krankheit oder bei Unfällen.Sechstens — ein gewichtiger Vorschlag, über den wir sicher länger diskutieren werden —: Einführung des offenen Vollzugs als Regelerstvollzug, allerdings unter streng abgegrenzten Voraussetzungen.Der Katalog, meine sehr verehrten Damen und Herren, mag ergänzungsbedürftig sein.
Die Diskussion ist sicher nötig. Aber — und das müssen wir doch alle, die wir aus der Praxis kommen, einräumen — bei der seltenen Anwendung der Verwarnung mit Strafvorbehalt, bei der Schwierigkeit der Vollziehung der Ersatzfreiheitsstrafe — das ist einer der Gründe, warum unsere Strafanstalten überquellen —, aber auch bei der deutlichen Sensibilität gegenüber der Freiheitsstrafe erscheint es an der Zeit, über die Erweiterung der Spanne der Sanktionen zwischen Einstellung des Verfahrens und der Freiheitsstrafe in einen Dialog einzutreten, freilich mit dem Ziel alsbaldiger Vorschläge.Vielen Dank für die Geduld.
Das Wort hat der Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes enthält eine Vielzahl von Bestimmungen, die den Bereich der Strafaussetzung zur Bewährung, wie es dort heißt, behutsam erweitern, und zwar nur für die Erwachsenen. Ich gehe davon aus, daß wir uns in einigen Monaten, wenn hier ein neues Jugendgerichtsgesetz vorgelegt werden wird, mit dem Jugendteil zu beschäftigen haben.Nun kann nach dem geltenden Recht die Vollstreckung von Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr und unter nur ganz bestimmten Voraussetzungen bis zu zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Ich glaube, es ist übereinstimmende Meinung des Hauses, daß sich dieses Mittel der Rechtspflege bewährt hat, denn es dient ja dazu, in Fällen minder schwerer Kriminalität den Vollzug einer Freiheitsstrafe zu vermeiden oder die Strafzeit in bestimmten Fällen abzukürzen. Voraussetzung hiefür ist allerdings, daß der Täter die Verhängung einer Freiheitsstrafe als Warnung annimmt, vielleicht auch durch die Drohung beeindruckt wird, daß die Strafe bei Nichtbewährung voll und ganz abzuleisten ist.Nun muß man sich eigentlich fragen: Was wollen wir eigentlich mit Strafe, insbesondere mit einer Freiheitsstrafe erreichen? Soll Strafe nur der Vorbeugung dienen? Man muß sich fragen, ob man alle möglichen Täter von strafbaren Handlungen und die bereits straffällig Gewordenen von einem Rückfall abhalten kann, indem man ihnen nur einfach die unangenehmen Folgen in ihrer Schwere möglichst deutlich vor Augen führt. Ich fürchte, daß die gewollte Abschreckung nicht zwangsläufig dazu führt, daß die Vernunft beim möglichen Täter die Oberhand vor Impulsen aus dem Gefühlsleben behält. Es gibt auch heute noch Leute, die glauben, man brauche die straffällig Gewordenen nur möglichst lange Zeit einzusperren, vielleicht auf Dauer einzusperren, und dann werde die Gesellschaft schon Ruhe vor ihnen haben. Wenn das nur ein Grund für Strafe sein kann, dann bräuchten wir uns über Strafaussetzung nicht zu unterhalten. Ich glaube, wir müssen dieses Instrument sehr viel intensiver betrachten.Mir geht es darum, die Zahl der Kriminaltäter durch Verhinderung von Straftaten langfristig zu senken. Es wird viele geben, die durch die Strafandrohung von Untaten auch abgehalten werden, aber es wird immer auch eine Vielzahl von Straffälligen geben, für die eine Strafaussetzung zur Bewährung ein Mittel ist, um mit Hilfe anderer Menschen einen neuen Weg der Lebensbewältigung zu finden. Ich sehe hier auch eine soziale Aufgabe unserer Gesellschaft. Es stellt sich jedoch die Frage, wie weit wir dabei gehen können.Ich kann mich immer noch nicht den recht weitgehenden Vorstellungen der Kollegen der SPDFraktion anschließen, wie sie in dem Gesetzentwurf vom 4. Oktober zum Ausdruck kommen.Ich halte es für notwendig, die Vergünstigung der Strafaussetzung dort zu beenden, wo die Schwere
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Seesingder begangenen Tat die Verhängung einer längeren Freiheitsstrafe erforderlich macht. Nun glauben viele, man könne dem Problem der Überfüllung der Haftanstalten durch eine Ausweitung der Möglichkeiten der Strafaussetzung zur Bewährung beikommen. Ich möchte hier vor übertriebenen Vorstellungen warnen. Das wird nur in einem gewissen Umfange möglich sein.Allerdings sollten wir uns bei den anstehenden Beratungen im Rechtsausschuß auch die Zeit nehmen — Herr Dr. de With fordert es auch —, die Frage zu diskutieren, warum bei uns so viel mehr Menschen in Gefängnissen einsitzen als in anderen Ländern dieser Erde.
Die Zahl, mit der wir einsam an der Spitze stehen, habe ich hier vor einiger Zeit ja schon genannt.Ich möchte auch grundsätzlich klarstellen, daß wir einerseits nicht über die hohen Kosten des Strafvollzuges lamentieren, aber andererseits nach einer Verschärfung des Strafvollzuges rufen können. Das muß sich die Waage halten.
Ebenso notwendig wird es sein, über den Vorwurf nachzudenken, in der Bundesrepublik Deutschland werde zu schnell und zu viel verhaftet. Nachweislich wird nur die Hälfte der Untersuchungshäftlinge zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.Wenn wir über die Fragen der Strafaussetzung zur Bewährung diskutieren, sollten wir auch etwas mehr über den Gedanken der Haftverschonung sprechen.
Schlimmer allerdings scheint es mir noch zu sein — das nur als Randbemerkung —, daß ein System außergerichtlicher Vorverurteilungen unser Rechtswesen auch in einem hohen Maße beeinflussen könnte.Ich möchte jedoch noch etwas zu den Schwerpunkten des Gesetzentwurfes der Bundesregierung sagen.Erstens. Verurteilte, die erstmals eine Freiheitsstrafe von höchstens zwei Jahren verbüßen, können schon nach der Hälfte der Strafzeit aus der Haft zur Bewährung entlassen werden. Hier geht es um die gute Sozialprognose. Auch auf dieses Problem möchte ich hinweisen. Es muß sichergestellt sein, daß solche Prognosen keine Momentaufnahmen sind, sondern möglichst auf Beobachtungen über einen längeren Zeitraum hinweg beruhen.Zweitens. Bei Verurteilten, die mehr als zwei Jahre Freiheitsstrafe zu verbüßen haben, und bei Wiederholungstätern, die schon einmal in Haft waren, soll nach einer Mindesthaftzeit von sechs Monaten eine bedingte Haftentlassung nur bei Vorliegen besonderer Umstände in Betracht kommen. Wir werden über diesen Satz noch etwas mehr nachdenken müssen.Drittens. Die Gerichte sollen die Entscheidung über die Aussetzung der Strafvollstreckung so rechtzeitig vor der Haftentlassung treffen können, daß eine sachgerechte Vorbereitung des Betroffenen für das Leben in Freiheit und damit für eine Eingliederung in die Gemeinschaft geleistet werden kann.Viertens. Das Gericht setzt die Vollstreckung der Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr zur Bewährung aus. Es kann auch eine höhere Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen. Ich glaube, hier — das steht auch schon im § 56 des Strafgesetzbuches — liegt ein erheblicher Unterschied zu dem Vorschlag der SPD-Fraktion, der eine Strafaussetzung ja, wie vorhin gesagt, bei Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren vorsieht.Fünftens. Weitere Maßnahmen sollen dazu dienen, einen Widerruf der Strafaussetzung zu vermeiden. Der Herr Minister hat vorhin davon gesprochen, daß hier die Bewährungshelfer verstärkt eingeschaltet werden sollen, um mögliche Alternativen zur Strafvollstreckung aufzuzeigen.Sechstens. Das Zusammentreffen mehrerer lebenslanger oder lebenslanger und zeitiger Freiheitsstrafen muß gesetzlich geregelt werden, um zu einer einheitlichen Praxis der Gerichte bei einer Strafaussetzung zu kommen.Daneben werden nun noch zahlreiche Detailfragen angesprochen, die auf Grund der seit der Strafrechtsreform gewonnenen Erfahrungen zu regeln sind. Ich halte es ebenfalls für dringend erforderlich, daß wir uns im Rahmen der kommenden Beratungen eingehend mit den Fragen beschäftigen, die das Instrument der freien, also gemeinnützigen Arbeit zur Abwendung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe statt einer nicht eintreibbaren Geldstrafe, das Instrument auch der Führungsaufsicht und das Instrument der Bewährungshilfe aufwerfen. Ich glaube, die Zeit müssen wir uns auch in diesen Beratungen nehmen.Nun ein paar statistische Bemerkungen zum Schluß. Der Bundesrat hat zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zwei Bemerkungen gemacht, die Bundesregierung in 14 Punkten um eine Prüfung bestimmter Vorschläge gebeten und 20 einzelne Änderungen bzw. Erweiterungen vorgeschlagen. Aus der Stellungnahme geht hervor, daß die Bundesregierung nur drei Vorschläge schon jetzt ablehnt, 10 Vorschlägen zustimmt und in 14 Fällen mit weiteren Einzelfragen eine Überprüfung zugesichert hat.
Dazu kommen noch die Überlegungen, die auf Grund des Gesetzentwurfs der SPD-Fraktion zu diskutieren sind, und die Überlegung, die Herr Dr. de With vorhin in die Diskussion eingeführt hat. Wir werden das alles im Rechtsausschuß zu bearbeiten haben. Ich meine, es ist eine wichtige und notwendige Arbeit.
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8926 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Reetz.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! In meiner ersten Rede zu diesem Thema im Oktober letzten Jahres habe ich Skepsis angemeldet, weil der angekündigte Regierungsentwurf mit „behutsame Ausweitung" apostrophiert worden war, und tatsächlich, in der Bundestagsdrucksache, die uns heute vorliegt, heißt es:Eine behutsame Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 57 Abs. 2 StGB ... erscheint nach den positiven Erfahrungen mit dem Institut der Aussetzung des Strafrestes angezeigt.Aber aus den unter C genannten Alternativen geht klarer hervor, unter welchem Druck, abgesehen von der SPD-Vorlage, der Justizminister bei der Abfassung des Regierungsentwurfs gestanden hat. Die Länder, vor allem Nordrhein-Westfalen, fordern energisch — dies geht auch aus der Stellungnahme des Bundesrates zu dem jetzigen Gesetzentwurf der Bundesregierung hervor — eine stärkere Ausweitung des Anwendungsbereichs der Vorschriften über die Strafaussetzung zur Bewährung.Die Haftanstalten sind katastrophal überfüllt. Vor einiger Zeit mußten die Gerichte Gefangenen der JVA Werl recht geben, die sich gegen die Mehrfachbelegung ihrer Zellen gewehrt hatten. Es ist besser, Strafaussetzung zur Bewährung gesetzlich zu verankern, als, wie auch aus Hessen bekannt, Gefängnisneubauten zu planen.Der Regierungsentwurf weist auf die nicht unerhebliche Kostenersparnis hin, was der heute morgen so eindrucksvoll hier vertretenen Leitlinie der industriellen Wettbewerbsfähigkeit entspricht — der industriellen, nicht der sozialen.104 Gefängnisinsassen pro 1 000 Verurteilten bei uns stehen in Holland 30 Gefangene gegenüber. Die Frage ist, ob wirklich auf Dauer weniger Verurteilte inhaftiert werden oder ob nicht vielmehr der zur Bewährungsstrafe Verurteilte von heute nach Widerruf der Strafaussetzung der Strafgefangene von morgen sein wird.Wir sind der Meinung, wie auch im SPD-Entwurf gesagt, daß die Obergrenzen in § 56 auf zwei bzw. drei Jahre angehoben werden sollten. Die im Regierungsentwurf geforderte behutsame Erweiterung ist eben zu behutsam. Wir versprechen uns keine Wirkung dieser Maßnahme. Wir sind auch für eine Halbstrafenregelung in § 57 Abs. 1 StGB. Es sollte auch die Möglichkeit bestehen, bereits nach einem Drittel der Freiheitsstrafe deren Rest zur Bewährung auszusetzen.Der entscheidende Gesichtspunkt ist der der Resozialisierung des Täters. Wenn man den Täter oder die Täterin in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt, erweisen sich die derzeitigen gesetzlichen Regelungen als zu starr. Ungeachtet unserer grundsätzlich positiven Einstellung zur Strafaussetzung zur Bewährung und zur Aussetzung des Strafrechtes befürchten wir, daß bei der Resozialisierung die Probleme einer starken sozialen Kontrolle des Betroffenen auftauchen. Zwar ist die Bewährung eine weichere Form der staatlichen Sozialkontrolle als der Strafvollzug selbst, aber die Strafaussetzung zur Bewährung bzw. die Aussetzung des Strafrestes sollen unserer Vorstellung nach dazu führen, daß weniger Bürger als Straftäter überhaupt inhaftiert bzw. mehr früher aus der Haft entlassen werden.Damit dieses Ziel erreicht wird, darf man jedoch nicht nur die Anforderungen an die Strafaussetzung zur Bewährung senken — dies würde eine Problemverkürzung darstellen. Insbesondere muß vermieden werden, daß die Senkung der gesetzlichen Anforderungen für die Strafaussetzung zur Bewährung zu einer Erhöhung der verbüßten einzelnen Strafzeiten führt. Dies kann eintreten, weil nach der statistischen Wahrscheinlichkeit eine Verurteilung zu einer bedingten oder unbedingten Freiheitsstrafe nicht die Begehung neuer Straftaten verhindert. Deswegen kann der Widerruf der Strafaussetzung plus Neuverurteilung im Ergebnis dazu führen, daß eine längere Haftstrafe verhängt wird, insbesondere auch weil möglicherweise bei den Richtern durch die gesenkten Anforderungen an die Strafaussetzung zur Bewährung die Hemmschwelle für die Verhängung höherer Haftstrafen gesenkt wird. Um solchen Gefahren zu begegnen, aber auch um prinzipiell die Strafaussetzung zur Bewährung zu einem effektiven resozialisierenden Institut zu machen, j a um die Verhängung von Haftstrafen grundsätzlich zu vermeiden, müssen wir Maßnahmen zur Entkriminalisierung diskutieren.Die im Strafgesetzbuch festgelegten Strafbestimmungen und die damit geschützten Rechtsgüter verstehen sich ja nicht von selbst; sie bedürfen der ständigen Legitimation und der Überprüfung. Deswegen muß darüber nachgedacht werden, ob Delikte aus dem Bereich der Kleinkriminalität aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden können. Ich denke z. B. an Kaufhausdiebstähle. Kaufhauskonzerne entwickeln psychologisch ausgeklügelte Systeme, um die Kaufreizschwelle der Konsumenten systematisch zu senken. Damit geht selbstverständlich auch einher, daß die Gefahr von Diebstählen steigt. Dieses Risiko gehen die Kaufhauskonzerne einseitig zu Lasten von angeblichen Tätern ein. Die Verbannung solcher Delikte aus dem Strafrecht würde bewirken, daß die Kaufhauskonzerne ihre Verkaufsstrategien überdenken müssen. Sie wären dann selbst daran interessiert, nicht unnötige Anreize zu schaffen. Bei der derzeitigen Lage können sie dagegen darauf vertrauen, daß der Staat ihnen über das Strafrecht zur Seite steht und sie nichts zu ändern brauchen. Der Kaufhausdiebstahl sei nur als Beispiel angeführt. Es bedarf sicherlich der genaueren Überprüfung in diesem Bereich und der systematischen Durchforstung des gesamten Strafrechts nach Delikten, die nicht ins Strafrecht gehören.Die im Strafgesetzbuch in den einzelnen Bestimmungen ausgesprochenen Strafen verstehen sich ebenfalls nicht von selbst, sondern bedürfen der beständigen Überprüfung im Hinblick auf bestimmte Deliktsgruppen. Nach unserer Ansicht sind die Strafandrohungen für solche Gruppen oft unverhältnismäßig hoch, wodurch ein Automatismus veranlaßt wird, der für viele Bürger Haft bedeutet.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8927
Frau ReetzWenn man etwa bedenkt, daß bei einem Diebstahl eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren verhängt werden kann, so ist diese Strafandrohung jedenfalls dann als drakonisch zu bezeichnen, wenn man sie etwa zu den Strafandrohungen ins Verhältnis setzt, die erfolgen, wenn einem Arbeitnehmer ungerechtfertigt gekündigt wird oder eine Frau diskriminiert wird. In beiden Fällen geschieht dem Täter mangels Tatbestand nichts, obwohl das sozial Schädliche der Tat dem Diebstahl sicher nicht nachsteht. Ich selbst komme z. B. über den Tatbestand nicht hinweg, daß sich der Bundespostminister nicht moralisch betroffen und sozialschädlich fühlt und seinen Hut nimmt, weil die in seinem Familienbesitz befindliche Firma Sonnenschein zu den schlimmsten Umweltsündern in Berlin gehört und mit einer um das 1 675fache höheren als der zulässigen Bleikonzentration einen Kinderspielplatz und die umliegenden Wohngebiete vergiftet.
Ein weiterer wichtiger Punkt für uns ist die Stellung des Bewährungshelfers. Nach der derzeitigen gesetzlichen Regelung wird der Bewährungshelfer vom Gericht bestellt und führt als Beauftragter des Gerichts nach dessen Weisung sein Amt. Diese gesetzlich fixierte Stellung des Bewährungshelfers ist unseres Erachtens nicht zur Problemlösung geeignet. Der Bewährungshelfer kann seine resozialisierende Funktion nur dann erfüllen, wenn er in seiner Stellung nicht mit der des Gerichtes identisch ist. Der Bewährungshelfer kann seine Funktion — Beratung — erfüllen, wenn er im Bewußtsein des Probanden keine sanktionierende Funktion ausübt.Formal hat der Bewährungshelfer zwar keine Befugnis, Sanktionen auszusprechen. Aber durch seine Anbindung an das Gericht ist er in den Augen des Probanden Teil des Justizapparates. Der Proband wird mit ihm taktisch umgehen, weil untaktisches Vorgehen, d. h. das Offenbaren seiner wirklichen Probleme, den Verlust der Bewährung zur Folge haben kann. Es ist leider das Dilemma vieler Bewährungshelfer, daß sie zu dem Probanden keinen Zugang finden und die Bewährungshilfe zu einer formalen Ämterwahrnehmung gerät.Unsere Vorstellungen gehen dahin, das Amt des Bewährungshelfers zu trennen von der Institution des Gerichtes. Das setzt auch voraus, daß der Bewährungshelfer ein Zeugnisverweigerungsrecht hat. Die Entkoppelung der Funktion der Bewährungshilfe von der gerichtlichen Funktion, die Stärkung der Stellung der Bewährungshilfe durch ein Zeugnisverweigerungsrecht setzen Bedingungen, die es dem Probanden gestatten, wirklich Vertrauen zu dem Bewährungshelfer zu fassen.Wir stimmen dem Überweisungsvorschlag des Ältestenrates zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf wird von meiner Fraktion nachhaltig begrüßt. Wir sind dem Bundesjustizminister dankbar, daß er nach intensiver Zusammenarbeit mit den Landesjustizverwaltungen diese ausgewogene Lösung vorgelegt hat.
Wir sind in der Tat sehr froh darüber, Herr Kollege, daß wir hier einen Fortschritt erreicht haben, ohne daß wir zu Lösungen kommen, deren Folgen wir nicht überblicken können.Insbesondere die Neuregelung der Strafaussetzung zur Bewährung stellt in unseren Augen eine sachgerechte Ausweitung dieses Rechtsinstituts dar. Nach unserer Auffassung ist ein ausgewogener Kompromiß gefunden worden, der sich — da bin ich sicher — auch in der Praxis bewähren wird.Nun wird dem Entwurf ja vorgehalten, er stelle eine halbherzige Lösung dar, und man habe es auch versäumt, die „Bremse" des § 56 Abs. 2 des Strafgesetzbuches endlich fallenzulassen. Dem Bundesjustizminister wird vorgeworfen, er habe nicht den Mut aufgebracht, das System der bedingten Verurteilung einer grundlegenden Änderung zu unterziehen. Nein, meine Damen und Herren, ich bin da ganz anderer Auffassung. Für mich gehört mehr Mut dazu, sich den angeblichen Sachzwängen zu verweigern, als ihnen mit Radikallösungen auf den Leib zu rücken.
Ich wiederhole, was ich in der letzten Debatte über dieses Thema an dieser Stelle gesagt habe. Die Überbelegung im Strafvollzug kann nicht als Argument für eine Radikallösung dieses sensiblen Interessenkonflikts herhalten. Der Entlastung der Strafanstalten muß im Rahmen der Diskussion um die Strafaussetzung zur Bewährung untergeordnete Bedeutung zukommen.
Wir verkennen nicht, daß alles unternommen werden muß, die Situation in den Strafanstalten zu verbessern. Insbesondere sind wir uns auch bewußt, daß die Bewährungshilfe die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht hat. Wir hoffen aber, daß es den Länderjustizverwaltungen unter Mithilfe des Bundesjustizministers gelingt, im Rahmen der zur Verfügung stehenden Finanzmittel hier zumindest teilweise Abhilfe zu schaffen.Ich bin auch der Auffassung, daß eine extensive Auslegung des Rechtsinstituts der Strafaussetzung zur Bewährung gerade nicht geeignet ist, die Überbelegung der Strafanstalten zu vermeiden. Eher das Gegenteil wird nach meiner Meinung der Fall sein: denn langfristig ist die Verkürzung der Bewährungszeit, wie sie von der SPD vorgeschlagen wird, nicht geeignet, die Überbelastung der Haftanstalten zu verringern. Wir meinen, daß der dadurch entstehende Mangel an Nachbetreuung der Strafgefangenen sich zum Nachteil der Erfolgsaussichten der Resozialisierung auswirken würde.
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8928 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
BeckmannDavon abgesehen, meine Damen und Herren, muß es aber dabei bleiben, daß diese wichtige Abwägung zwischen der generalpräventiven Verteidigung unserer Rechtsordnung und den Belangen der betroffenen Straftäter nicht von Sachzwängen abhängig gemacht werden darf. Dies würde sich schon mit dem Sinn und Zweck des Rechtsinstituts der Strafaussetzung zur Bewährung nicht vereinbaren lassen. Grundgedanke der Strafaussetzung ist es j a, dem Täter die Möglichkeit zu bieten, sich durch sein straffreies Verhalten nach der Verurteilung den Straferlaß sozusagen zu verdienen.Dieses Angebot der staatlichen Gemeinschaft an den Verurteilten findet seine Rechtfertigung sowohl im Präventiven als auch in Gerechtigkeitsüberlegungen. Die Reaktion des Staates auf strafbares Verhalten besteht in der Verhängung einer Strafe, die die erzwungene Sühne für das begangene Unrecht darstellt. Diese Sühne kann aber nicht nur durch das Erdulden der Strafe, sondern auch durch eigene positive Leistungen des Täters erbracht werden. Hierzu zählt insbesondere die Bewährung des Straffälligen. Mit der Strafaussetzung zur Bewährung wird dem Verurteilten also die Gelegenheit gegeben, auf den Boden der Rechtsordnung zurückzukommen, sich zu bewähren. Ob er dieses Angebot annimmt oder nicht, liegt allein in der Entscheidungsgewalt des Betroffenen. Er ist für sein weiteres Schicksal innerhalb der staatlichen Gemeinschaft selbst verantwortlich. Dies ist der Grundgedanke der Strafaussetzung zur Bewährung. Alle Veränderungen, alle Neuerungen haben sich hieran zu orientieren.Letztlich geht es also, meine Damen und Herren, um die Frage, inwieweit der Staat auf die Vollstrekkung von Freiheitsstrafen verzichten kann, ohne die Effektivität der Strafrechtspflege zu gefährden. Hierauf ist die vorgenommene behutsame Erweiterung der Strafaussetzung eine ausgewogene Antwort.Gerade auf die Behutsamkeit der Rechtsfortentwicklung legt die FDP, legt meine Fraktion großen Wert. Ich danke dem Bundesjustizminister Engelhard besonders dafür, daß er mit Ruhe und Bedacht die rechtspolitischen Vorstellungen dieser Koalition umsetzt
und nicht, Herr Kollege de With, mit vermeintlich fortschrittlichen Siebenmeilenstiefeln die sorgsam zu pflegenden Pflanzen des Rechtsbewußtseins unserer Mitbürger zertritt.
Meine Damen und Herren, die Änderungen stellen sich als konsequente Fortschreibung der durch die Strafrechtsreform geschaffenen Rechtslage dar. Insbesondere wurde der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Rechnung getragen, die die Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit in den Vordergrund ihrer Betrachtungen gestellt hat.Der Entwurf enthält darüber hinaus eine weitere wichtige Änderung, die im Zusammenhang mit der Aussetzungsproblematik gesehen werden muß. Die ersatzlose Streichung des § 48 StGB ist eine wichtige Ergänzung der Bemühungen um eine erfolgreiche Resozialisierung von Straftätern. Die Regelung hat sich in der praktischen Anwendung nicht bewährt. Besonders bei Bagatelldelikten hat sie zu nicht mehr vertretbaren Ergebnissen geführt. Die oft als allzu hart empfundene Strafe gegenüber der Geringwertigkeit des verletzten Rechtsguts hat sich negativ auf die Einstellung des Straffälligen zu seiner Resozialisierung ausgewirkt. Dieser Zustand wird nunmehr beseitigt. Auch insoweit wird also die Situation ebenfalls verbessert.Dieser Entwurf ist sicherlich nicht der Endpunkt in der Entwicklung unserer Strafrechtspflege auf diesem Gebiet. Letztlich muß die praktische Anwendung dieser Neuerung zeigen, ob eine weitere Ausweitung der Strafaussetzung zur Bewährung befürwortet werden kann.Wir werden der Überweisung dieses Entwurfs an die Ausschüsse zur weiteren Beratung zustimmen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/2720 zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist beschlossen.Ich rufe die Punkte 5 und 6 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten Bachmaier, Dr. Emmerlich, Fischer , Klein (Dieburg), Dr. Kübler, Lambinus, Schmidt (München), Schröder (Hannover), Dr. Schwenk (Stade), Stiegler, Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — § 129 a StGB — (... StrÄndG)— Drucksache 10/1883 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
InnenausschußErste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Strafrechtsänderungsgesetzes
— Drucksache 10/2396 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
InnenausschußIm Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 5 und 6 und ein Beitrag bis zu zehn Minuten je Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8929
Vizepräsident WestphalWird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Bachmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß heute über unseren Gesetzentwurf beraten wird, geht nicht auf unseren Wunsch, sondern auf das Verlangen der CDU/CSU und der GRÜNEN zurück.
— Hören Sie zu! — Unser Gesetzentwurf liegt schon seit dem 20. August 1984 dem Parlament vor, ohne daß die CDU/CSU bisher davon besondere Notiz genommen hätte.
Es blieb dem Bundeskanzler vorbehalten, willkürlich einen Zusammenhang zwischen unserem Gesetzentwurf und den Geschehnissen der letzten Tage herzustellen.
In einer Stunde, wo die Gemeinsamkeit aller Demokraten gefordert ist, bricht der Bundeskanzler einen unsachlichen Streit vom Zaun, weil er sich davon parteipolitische Vorteile verspricht.
Wir werden uns durch diese unsachlichen Angriffe
— zuhören, Herr Kollege; wir tun das auch bei Ihnen! — des Bundeskanzlers nicht in unserem Bemühen beirren lassen, die Auseinandersetzung um mögliche Verbesserungen oder Änderungen von Gesetzen mit sachlichen Argumenten zu führen.
Das in den 70er Jahren zur Bekämpfung des Terrorismus geschaffene gesetzliche Instrumentarium hat sich im wesentlichen bewährt. Es hat dazu beigetragen, daß der Staat den ersten Wellen des Terrorismus in eben diesen 70er Jahren gewachsen war.
Bei diesen Gesetzen gilt aber das gleiche wie für jedes andere Gesetz: Es muß ständig auf Grund der praktischen Erfahrungen darüber nachgedacht werden, ob Verbesserungen möglich und notwendig sind.Wir haben es daher begrüßt, daß die Bundesregierung auf Grund der Erfahrungen in der Vergangenheit schon einige Verbesserungen vorgeschlagen hat. Ich denke — jetzt müssen Sie genau zuhören — an Ihre Initiativen zur Reform der Kontaktsperre und zur Einschränkung des Verbots der Mehrfachverteidigung. Es waren Ihre Initiativen, meine Damen und Herren!
Bisher haben Sie diese vorliegenden Gesetzentwürfe nicht zurückgezogen oder in Frage gestellt.
Wir halten dies für richtig und unterstützen Sie dabei. Es handelt sich nämlich um Schritte in die richtige Richtung. Wohlerwogene und für richtig gehaltene Maßnahmen darf man auch unter dem aktuellen Eindruck terroristischer Gewalttaten nicht unterlassen.
Wir, nicht die Terroristen, müssen das Gesetz des Handelns bestimmen!
— Auf welcher gesetzlichen Grundlage arbeiten Sie denn?Auf dieser Linie liegt auch der von uns eingebrachte Gesetzentwurf zur Änderung des § 129 a StGB. Die Behauptung des Bundeskanzlers, dadurch solle die Antiterrorismusgesetzgebung beseitigt oder ausgehöhlt werden, ist, um es gelinde auszudrücken, unwahr. Der Gesetzentwurf soll nur dem Willen des Gesetzgebers bei der Verabschiedung des § 129 a StGB Geltung verschaffen, nur dem damaligen Willen des Gesetzgebers! Entgegen diesem Willen des Gesetzgebers hat nämlich die Rechtsprechung auch die reine Sympathiewerbung, z. B. den Einsatz für verbesserte Haftbedingungen, als Werben für eine terroristische Vereinigung angesehen.Wie sich aus den Protokollen des Strafrechtssonderausschusses ergibt, bestand jedoch bei der Verabschiedung des § 129a StGB in seiner heute noch gültigen Fassung unter allen politischen Kräften — Berichterstatter für die CDU/CSU war übrigens damals der jetzige Justizminister des Landes BadenWürttemberg, Ihr früherer Kollege Dr. Eyrich — Einigkeit darüber, daß die Sympathiewerbung gerade nicht durch § 129 a StGB erfaßt werden sollte; denn der Staat, so die damalige Argumentation, muß sich auch im Bereich der Terrorismusbekämpfung durch Augenmaß leiten lassen. Staatliche Überreaktionen führen nur zu unnötigen Solidarisierungen und treiben der terroristischen Szene neue Anhänger und Aktivisten zu.
Deshalb war der Gesetzgeber damals einhellig der Auffassung, die bloße Sympathiewerbung sollte nicht mit dem scharfen Schwert des Strafrechts bekämpft und geahndet werden.Nun hat der Bundesgerichtshof im letzten Jahr zwar seine alte Rechtsprechung zur Sympathiewerbung präzisiert und sich dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers wieder angenähert, leider aber noch nicht vollständig. Deshalb ist unser Gesetzentwurf noch notwendig, um eben diesem Willen des Gesetzgebers wieder Geltung zu verschaffen. Der Entwurf soll u. a. verhindern, daß durch unverhältnismäßige strafrechtliche Reaktionen des Staates die Bekämpfung des Terrorismus im Ergebnis eher erschwert als erleichtert wird.
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8930 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
BachmaierDie SPD wird sich darüber hinaus auch in Zukunft der Aufgabe stellen, jedes Gesetz — ich betone: jedes Gesetz — ständig auf dem Hintergrund der praktischen Erfahrungen auf Verbesserungsmöglichkeiten zu überprüfen.Wir treten jedoch allen Versuchen entschieden entgegen, unserem Rechtsstaat das notwendige rechtsstaatliche Instrumentarium zu einer effektiven Bekämpfung des Terrorismus zu verweigern.
Deshalb, meine Damen und Herren, lehnen wir den Gesetzentwurf der GRÜNEN ab, der pauschal und ohne differenzierte sachliche Prüfung die gesamte Antiterrorismusgesetzgebung beseitigen will.
Im Interesse unserer Demokratie und unseres Staates werden wir die Strafverfolgungsorgane bei der Bekämpfung des Terrorismus unterstützen und jedem Versuch entschieden entgegentreten, diese Bekämpfung durch Blauäugigkeit oder durch geschürte Hysterie zu gefährden.
Wir werden aber auch dafür Sorge tragen, daß sich unsere gemeinsam geschaffenen rechtsstaatlichen Grundprinzipien in schwierigen Zeiten bewähren und nicht über Bord geworfen werden.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Abgeordnete Saurin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns liegen hier zwei Gesetzentwürfe von der SPD und von den GRÜNEN vor, die, obwohl sie sicherlich hinsichtlich der Lockerungen der Terrorismusgesetzgebung, die vorgesehen sind, Unterschiede aufweisen, doch eines gemeinsam haben: Sie passen beide derzeit nicht in die Landschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Erzählen Sie das, was Sie derzeit vorhaben, einmal dem normalen Arbeiter z. B. der MTU-Fabrik! Wenn Sie derzeit, weil Ihnen der Zeitpunkt nicht paßt, versuchen, mit falschen Schuldzuweisungen auf die CDU das Thema umzudrehen, daß Sie einen solchen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht haben, dann zeigt das nur sehr deutlich, daß Sie befürchten, daß das, was Sie vorgeschlagen haben, draußen beim Wähler nicht ankommt.
Sie versuchen darzulegen, Sie hätten diesen Gesetzentwurf schon vor geraumer Zeit eingebracht. Aber der Gesetzesantrag der SPD läßt sich auch nicht dadurch entschuldigen, daß er bereits vor einem halben Jahr eingebracht wurde und damals die jetzt stattfindende terroristische Bedrohung nicht absehbar gewesen sei. Tatsache ist doch, daß alle Sicherheitsorgane der Bundesrepublik Deutschland die ganzen letzten Jahre nachdrücklich vor dem Fortbestehen einer Bedrohung unserer Sicherheit durch den Terrorismus gewarnt haben. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben diese Warnungen nicht ernstgenommen. Ihr Irrtum wird leider durch Bombenattentate und Mord bestätigt.
Deshalb versuchen Sie, Ihren Gesetzentwurf jetzt zu verharmlosen.
Das Werben für eine terroristische Vereinigung muß weiterhin ein Straftatbestand bleiben.
Die heutige Schlagkraft der Terrororganisationen in der Bundesrepublik Deutschland wäre nicht möglich, wenn nicht in den letzten Monaten und Jahren eine massive Werbung neuer Mitglieder und Sympathisanten stattgefunden hätte.
— Herr Kollege Emmerlich, da ich nur zehn Minuten habe, bitte ich, meine Ausführungen ohne Zwischenfrage zu Ende bringen zu können.
Herr Kollege, es wird nach neuen Regeln des Präsidiums verfahren. Wenn Sie wollen, können Sie die Zwischenfrage beantworten. Bei so kurzen Redebeiträgen wird das von Ihrer Zeit nicht abgerechnet.
Bitte, Herr Kollege Emmerlich.
Herr Kollege Saurin, ist es richtig, daß die Koalition eine Lockerung des Kontaktsperregesetzes vereinbart hat, und wie ist dieser Sachverhalt mit Ihren vorherigen Ausführungen zu vereinbaren?
Herr Kollege Emmerlich, das sind doch zwei vollkommen verschiedene Tatbestände. Wir werden das andere demnächst in aller Ausführlichkeit beraten.
Es geht heute um folgendes: Sie wollen einen Straftatbestand, das Werben für eine terroristische Vereinigung, in Zukunft aus der Strafgesetzgebung herausstreichen.
Gerade die Sympathiewerbung, das Werben neuer Mitglieder ist eine der entscheidenden Zielrichtungen, die die Terrorismusbewegung in der Bundesrepublik Deutschland derzeit verfolgt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8931
SaurinWer einen solchen Straftatbestand
angesichts des ständigen Anwachsens der Zahl der Sympathisanten und der Anhänger des Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland herausstreichen will, der schafft damit Möglichkeiten, daß die Terrorbewegung in der Zukunft noch stärker wird, daß noch mehr Bomben gelegt werden, daß noch mehr Morde in der Bundesrepublik Deutschland passieren.
Wir haben erlebt, daß das, was heute möglich ist, nur möglich gewesen ist, weil in den letzten Jahren eine ganz entscheidende Werbung von Terroristen und ihren Anhängern stattgefunden hat.
Wir haben erlebt, daß wir zwischenzeitlich sogar eine neue Qualität von Anhängern des Terrorismus haben. Diese beschränken sich nicht mehr darauf, bei den Repräsentanten des Systems halt zu machen, sondern sie bedrohen das Leben der einfachen Bürger, sie nehmen sich willkürlich Manager der deutschen Industrie und richten diese kaltblütig hin.Ihre Begründung, die Sie für Ihren Antrag gegeben haben — die Rechtsprechung habe den Begriff des Werbens in § 129 a des Strafgesetzbuches so extensiv ausgelegt, daß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr ausreichend Rechnung getragen werde —, ist ja ebenfalls falsch. Der Bundesgerichtshof hat ausdrücklich am 25. Juli 1984 in seinem Urteil herausgestellt:Der Umstand, daß es auch verhältnismäßig wenig gefährliche Sympathiebekundungen mit werbendem Charakter gibt, spricht für eine eingeschränkte Auslegung.Er fährt dann sehr sorgsam fort, daß eben von der Rechtsprechung nur eine einschränkende Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals vorgenommen wird.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben sich im Zeitpunkt der Einbringung Ihres Gesetzentwurfes über das Fortbestehen der Gefahren des Terrorismus geirrt. Gestehen Sie diesen Irrtum ein! Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf, der nicht in die politische Landschaft der Bundesrepublik Deutschland paßt, zurück!
Dann schaffen Sie Klarheit und brauchen hier keine Eiertänze aufzuführen.
Kehren Sie zurück zur Gemeinsamkeit der Demokraten, der demokratischen Parteien CDU/CSU, FDP und SPD
in einer wirksamen Terrorismusbekämpfung!Daß ich in diesem Zusammenhang die GRÜNEN bewußt nicht aufgeführt habe, liegt daran, daß ihr Gesetzentwurf nach meiner Überzeugung zeigt, daß sie an einer ernsthaften Bekämpfung des Terrorismus überhaupt nicht interessiert sind und zum zweiten den Terrorismus mittlerweile sogar in einer gefährlichen Form verharmlosen. Es ist zu hoffen, daß die Öffentlichkeit endlich von der Haltung der GRÜNEN zum Terrorismus Kenntnis nimmt. Wenn die GRÜNEN die Strafbarkeit der Bildung einer kriminellen terroristischen Vereinigung ganz aufheben wollen und die Abschaffung sämtlicher Gesetze und Maßnahmen fordern, die in den letzten Jahren zur wirksamen Terrorismusbekämpfung verabschiedet worden sind, dann versuchen sie, die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland elementar auszuhöhlen, und nehmen dabei die Gefährdung von Leben, Gesundheit und Eigentum der Bürger bewußt in Kauf.
Damit der Unsinn auch Methode bekommt, wird darüber hinaus gefordert, daß auch die Bildung krimineller Banden, die Raubüberfälle begehen, organisierten Rauschgifthandel betreiben und sonstige Formen organisierten Verbrechens planen, nicht mehr strafbar sein soll. Wer angesichts der Zunahme des organisierten Verbrechens und des Wiederauflebens des Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland derartige Vorschläge unterbreitet, verläßt bewußt das System unserer Rechtsordnung.
Der Sprachgebrauch und die Handlungen der GRÜNEN zeigen, wie sehr sie der Gefahr unterliegen, sich mit dem Umfeld der Terroristen zu solidarisieren. Ihre Wortwahl im Zusammenhang mit der Terroristenbekämpfung stellt eine unverantwortliche Verharmlosung der terroristischen Gefahren und der terroristischen Ziele dar.In der Begründung ihres Gesetzentwurfs sprechend die GRÜNEN im Zusammenhang mit der Antiterrorismusgesetzgebung von einer Verrechtlichung der Entrechtung. Sie sprechen davon, daß die Haftbedingungen der Terroristen mit Folter verglichen werden könnten.
Obwohl die internen Strategiepapiere der Terroristen und die Informationen, die den Sicherheitsorganen vorliegen und auch den GRÜNEN bekannt sind, eindeutig widerlegen, daß der Hungerstreik der Terroristen gegen die Haftbedingungen zielte, verbreiten die GRÜNEN diese Propaganda der Terroristen bewußt weiter.
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8932 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
SaurinIch fordere Sie auf: Geben Sie diese Parolen endlich auf! In der Bundesrepublik Deutschland werden auch terroristische Straftäter rechtsstaatlich korrekt behandelt. Wir werden aber keinem Abbau von Straf- und Verfahrensrechten zur Terrorismusbekämpfung zustimmen, der Erleichterungen und Annehmlichkeiten für bombende und mordende Terroristen schafft und dadurch die Sicherheit des Staates und der Bürger aufs Spiel setzt.Die GRÜNEN, die gegenüber anderen Parteien so häufig von Bürgernähe sprechen, sollten einmal die Bürger in unserem Land fragen, was sie von ihren Vorschlägen halten. Das Ergebnis des Gesetzentwurfs der GRÜNEN wäre, daß die Rote-ArmeeFraktion ihren Terror ungehinderter und besser organisieren könnte.Ich möchte einen zweiten Gesichtspunkt ansprechen. Offenkundig dient der Gesetzentwurf der GRÜNEN wohl auch einer Amnestie für ihre Europaabgeordneten Härlin und Klöckner. Diese beiden grünen Europaparlamentarier sind — noch nicht rechtskräftig — in erster Instanz wegen Nachdrucks von Bekennerbriefen und Papieren der revolutionären Zellen in Berlin zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden. Während die GRÜNEN seit Monaten gegen eine von den Finanz- und Strafgerichten zu entscheidende rückwirkende Anwendung des neuen Parteienfinanzierungsgesetzes Sturm laufen, fordern sie für ihre Europaabgeordneten einfach die Streichung der einschlägigen Straftatbestände, um die beim Bundesgerichtshof anhängige Revision zu beeinflussen. Und weil es so praktisch ist, wurde der Gesetzentwurf nach der „Frankfurter Rundschau" auch gleich von den Verteidigern des Herrn Härlin formuliert. Hier liegt ein typischer Fall grüner doppelter Moral vor. Für die Amnestie der eigenen Europaparlamentarier geben die GRÜNEN die innere Sicherheit der Bürger in unserem Land preis.Auch einige andere Punkte werfen ein bezeichnendes Licht auf die Haltung der GRÜNEN. Über Platz 2 der Liste der GRÜNEN kam Brigitte Heinrich, die zu 21 Monaten Haft verurteilt wurde, weil sie Explosivwaffen für eine Nachfolgeorganisation der RAF illegal eingeführt hatte, in das Europäische Parlament.Die Berliner Alternative Liste nominierte den 31jährigen Gerald Klöpper als Kandidaten zur Wahl zum Abgeordnetenhaus. Klöpper wurde wegen Geiselnahme und Menschenraubs zu elf Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt,
weil er zu den Terroristen gehörte, die den damaligen CDU-Landesvorsitzenden Peter Lorenz entführt haben.Wissen Sie, so etwas kann man nicht mit einem symbolischen Akt abtun. Das ist nach meiner Überzeugung eine Mißachtung des Willens der großen Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land, die mit Terrorismus nichts zu tun haben will.
In Frankfurt tolerieren die GRÜNEN die Benutzung ihres Büros durch RAF-Sympathisanten, und die Alternative Liste in Berlin diente in den letzten Tagen als Info-Stelle zur Verteilung von Parolen für die hungerstreikenden Terroristen. Zwischenzeitlich liegt sogar ein weiterer Gesetzentwurf von Ihnen vor, der zum Verbot unmenschlicher Haftbedingungen auffordert, d. h., insbesondere das Ziel der Hafterleichterung für Terroristen erreichen will.Es ist endlich an der Zeit, daß die GRÜNEN eindeutig und unmißverständlich klarmachen, daß sie sich von der Sympathisanten-Szene des Terrorismus distanzieren,
und aufhören, den Terrorismus zu verharmlosen. Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, denken Sie nicht immer nur an Erleichterungen für Terroristen, sondern überlegen Sie vielleicht auch einmal, daß auch die Bürger einen Anspruch darauf haben, vor Bomben und Mordattentaten geschützt zu werden.
Die Fraktion der CDU/CSU wird allen Versuchen, die innere Sicherheit abzubauen, entschieden entgegentreten. Wir werden uns für den Schutz der Bürger und des Staates auch weiterhin einsetzen, da dies ein vorrangiges Ziel unserer Politik ist und bleiben wird.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren! Bundeskanzler Kohl hat gestern einen öffentlichen Appell an die Presse gegeben, in dem er die GRÜNEN aufforderte, ihr makabres Ansinnen aufzugeben.
Damit meinte er unser Ansinnen, am Tage der Beerdigung von Dr. Zimmermann eine Initiative zur Streichung der Antiterrorgesetze einbringen zu wollen. Herr Bundeskanzler, ich kann Ihnen nur sagen: Sparen Sie sich Ihre künstliche Empörung! Das sollte Demokraten auszeichnen: daß sie in schwierigen Zeiten über schwierige Themen mit Anstand reden können.
Weiter möchte ich den Bundeskanzler daran erinnern, daß die Aufsetzung von Tagesordnungspunkten hier in diesem Hohen Hause in aller Regel einvernehmlich beschlossen wird. So ist das auch mit diesem Tagesordnungspunkt vor zwei Wochen passiert.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8933
Frau NickelsDer Bundeskanzler hat auch auf Pietät und Mitgefühl mit den Verwandten von Herrn Dr. Zimmermann verwiesen. Ich habe Verständnis dafür. Darum habe ich den anderen Geschäftsführern auch vorgeschlagen, diese Debatte auf morgen zu vertagen.
Wenn Ihnen die Pietät und das Mitgefühl mit den Angehörigen wirklich so wichtig gewesen wären, dann hätten Sie diesen Vorschlag angenommen. Das haben Sie nicht getan. Sie haben Pietät und Mitgefühl als Vorwand für Ihre machtpolitischen Mätzchen mißbraucht. Das erbittert mich allerdings sehr.
Diesen Mißbrauch haben Sie wegen eines durchsichtigen Interesses begangen: Sie wollten die Opposition als Befürworter von Gewalt darstellen.Noch einmal klipp und klar: Wir lehnen Gewalt ab. Mord bleibt Mord; Gewalt erzeugt immer nur Schmerz, Leid, Trauer und neue Gewalt. Und der Weg, den man zu einem Ziel hin beschreitet, prägt das Ziel immer entscheidend mit.
Ebenso wahr bleibt aber auch, daß die Prinzipien des Rechtsstaats für alle Bürger unterschiedslos zu gelten haben, ganz gleich, was sie denken, was sie planen, was sie tun oder getan haben. Egal, wie nobel und menschenfreundlich oder aber wie gemein und niederträchtig jemand gehandelt haben mag, der Rechtsstaat ist unteilbar. Terrorakte dürfen unserer Auffassung nach darum auch kein Grund dafür sein, daß an Freiheit und Liberalität das untergraben wird, was einen Rechtsstaat wesentlich kennzeichnet.
Dazu zählen für uns: der Schutz allgemein anerkannter bedrohter Rechtsgüter, das Prinzip eines gerechten Verfahrens für jeden Beschuldigten und menschenwürdige Haftbedingungen.Gegenstand unserer heutigen Debatte ist ein erster Schritt zur Revision der sogenannen Antiterrorismusgesetze.
Dazu liegt ein von unserer Fraktion am 19. November 1984 eingebrachter Gesetzentwurf vor. Der am 4. Dezember 1984 von den Gefangenen der RAF begonnene Hungerstreik und die Welle von Terroranschlägen in den letzten Wochen geben der politischen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus eine schreckliche Aktualität. Heute, am Tag der Beerdigung von Dr. Ernst Zimmermann, fällt eine nüchterne und sachliche Auseinandersetzung mit den Argumenten unseres Gesetzentwurfes besonders schwer. Aber gerade darum muß man heute klar und deutlich feststellen, daß diese Gesetze — in einer gewalttätigen Zeit, in den 70er Jahren, in teils atemberaubender Geschwindigkeit im Parlament durchgepeitscht — eben nicht geeignet sind,den Rechtsstaat und seine Bürger besser zu schützen als das gewöhnlich geltende Recht.
Der Antiterrorismusgesetzgebung liegt der Gedanke zugrunde, der Rechtsstaat müsse — ich zitiere hier den ehemaligen rheinland-pfälzischen Justizminister Theisen — „auf die konkrete Situation abgestimmt werden".Helmut Schmidt gab nach dem Überfall auf die Deutsche Botschaft in Stockholm am 24. April 1974 die Devise aus:Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, der muß innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist.Dem halten wir entgegen: Die normalen Gebote und Gesetze des Rechtsstaates wurden nicht für eine Schönwetterdemokratie geschaffen, sondern auch und gerade zur Bewährung in außergewöhnlichen Situationen.
Wir sind davon überzeugt, daß ein freiheitlicher Rechtsstaat auch außergewöhnliche Herausforderungen, wie z. B. die Anschläge der „Rote-ArmeeFraktion", in aller Regel mit dem gewöhnlich geltenden Recht bewältigen kann. Den Rechtsstaat zum Büttel des Tagesgeschehens zu machen, kann eben auch bedeuten, ihn zu Tode zu schützen.
Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, daß die von 1974 bis 1978 unter dem Vorzeichen der Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetze weit über den Regelungsanlaß hinaus in das alltägliche Strafverfahren hineinwirken. Die Balance des Strafprozesses hat sich zugunsten der Staatsanwaltschaft und zu Lasten des angeklagten Bürgers und seines Verteidigers verschoben. Dies ist in unserem Entwurf im einzelnen aufgeführt. Ich nenne beispielhaft nur die §§ 163a, 161a, 231a und b, 138a und b und 146 der Strafprozeßordnung.Ich will das am praktischen Beispiel verdeutlichen. Was bedeutet es z. B. in der Realität, daß der Staatsanwalt neuerdings einen Bürger jederzeit als Zeugen oder Beschuldigten vorladen und dessen Erscheinen auch erzwingen kann? So ist es z. B. in München vorgekommen, daß unter Berufung auf diese Vorschriften Zeugen in einem Ermittlungsverfahren morgens von der Polizei aus dem Bett geholt und mit Gewaltandrohung zur Staatsanwaltschaft geschafft worden sind, wo sie dann vor der Alternative standen, aussagen zu müssen oder in die Beugehaft zu wandern. Das ist eine Vorgehensweise, die nicht nur elementare Rechte des Zeugen auf anwaltliche Beratung und Beistand verletzt, sondern auch massenweise neue Verfahren gegen die derart überrumpelten Zeugen entweder wegen falschen Aussagens, wegen Begünstigung oder wegen eigener Verwicklung in die Tat, über die sie zur Aussage gezwungen worden sind, provoziert. Das Fatale dabei ist, daß die den Rechtsstaat aushöhlenden Verfahrensänderungen die Tendenz haben, auf
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8934 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Frau Nickelsdie übrigen Bereiche des Rechtslebens auszustrahlen.Es hat sich gezeigt, daß es keine Ausnahmevorschriften für bestimmte Tätergruppen geben kann, ohne daß das Recht insgesamt leidet.
Andererseits muß man in diesem Zusammenhang auch die Sonderhaftbedingungen für §-129-und §-129-a-Gefangene nennen. Mittlerweile sind die überall mit gewaltigen Geldmitteln errichteten Isolationshafttrakte Disziplinierungselemente für den Normalvollzug geworden. Auch hier zeigt sich ganz deutlich, wie sich die Entrechtung einer Gruppe von Gefangenen durchweg negativ auf den gesamten Strafvollzug auswirkt.
Hochsicherheitstrakte neben den Antiterroristengesetzen waren das zweite Standbein für den Staat im Kampf gegen die terroristische Gewalt. Leider muß ich sagen, daß trotz gegenteiliger Beteuerung die Haftbedingungen für viele inhaftierte RAF-Mitglieder immer noch ein Hohn auf die Menschenwürde und eine Absage gegenüber rechtsstaatlichen Minimalgarantien für Häftlinge sind.
Verschärfte Einzelhaft über Jahre hinweg, schallisolierte Einzelzellen, Trennscheiben bei Besuchen, andauernde entwürdigende körperliche Durchsuchung, Zerstörung der menschlichen Kontakte nach außen, Isolierung innerhalb der Gefangenen und die permanente, Tag und Nacht währende Kontrolle jeder Lebensäußerung sind geeignet, die Persönlichkeit eines Menschen zu brechen.
— Das sind keine Märchen. Dafür liegen uns konkrete Informationen vor.
Ein Rechtsstaat, der das Verfassungsgebot „Die Würde des Menschen ist unantastbar"
für seine Feinde außer Kraft setzt, legt die Axt an seine eigenen Wurzeln.
Ein Staat, der Täter zu Opfern macht, trägt nicht zur Überwindung von Gewalttaten bei.
Zum Schluß möchte ich noch etwas sagen, was mir hier besonders schmerzlich aufgestoßen ist. Das ist die Tatsache, daß diejenigen, die immer das Ideal von der freiesten und besten Demokratie, die wir je hatten, im Munde führen, offensichtlich zweifelhaften Gesetzen und inhumanen Haftbedingungen mehr Überzeugungskraft zutrauen als der Anziehungskraft und dem Glanz einer wirklich lebendigen Demokratie.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe sehr gehofft, Frau Nickels, daß Sie es mir etwas erleichtern würden, hier zur Sache zu sprechen.
Ich hatte mir erhofft, daß Sie, und wenn auch nur mit einem Wort, Ihren Abscheu vor dem Mord an Herrn Zimmermann, den Sie hier zitiert haben, zum Ausdruck gebracht hätten.
Aber nichts dergleichen ist geschehen. Ich will Ihnen überhaupt nichts unterstellen. Wir haben hier aber einen Antrag Ihrer Fraktion, der ein Bündel von Verweigerung rechtsstaatlicher Prozeduren ist, die nun mindestens erforderlich sind, um unsere Bürger zu schützen. Das ist das Mindeste, was wir brauchen.
Und dieses Bündel legen Sie uns am heutigen Tage auf den Tisch und sagen, Sie hätten ja Verständnis für die Familie gehabt, aber leider habe man auf Ihre Äußerungen nicht eingehen wollen.
Ich will von Ihnen wissen, ob Sie zu der Sache stehen oder nicht.
Wir müssen mal den jungen Leuten, denen Sie etwas von Frieden erzählen, eindeutig klarmachen, ob Sie für Frieden sind oder ob Sie für eine Gesellschaftsveränderung sind, deren Ende Sie selbst nicht absehen können, und dafür jede Gewalttätigkeit in Kauf nehmen und deshalb auch noch unser Rechtssystem unterhöhlen wollen. Das möchte ich mal von Ihnen ganz genau wissen.
Nun ist heute der Tag dieser Beerdigung gewesen,
Sie hatten diese Gelegenheit, und ich hatte darauf gehofft, daß Sie ein Wort finden würden, um sich zu distanzieren.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8935
Eine Fraktion im Deutschen Bundestag, die sagt: Wir fordern die Leute auf, ihren Hungerstreik abzubrechen — was sie ehrt, was ich unter mehreren Gesichtspunkten sehr vernünftig finde —, die dann von ihrem Parteivorstand gesagt kriegt: Das hätte die Fraktion so nicht sagen dürfen,
in einer Auseinandersetzung, die doch ganz offensichtlich, mit Händen greifbar, darauf hinläuft, daß es zur Aufheizung in der verbliebenen Sympathisantenszene kommt und schließlich auch zu Mord kommen kann, eine solche Fraktion — ich habe den ersten Teil ihrer Handlungsweise hier ausdrücklich respektiert — hätte doch wirlich alle Veranlassung, uns gerade am heutigen Tage, wenn es denn nun so gekommen ist mit der Tagesordnung, hier zu erklären, was nach ihrer Meinung wirklich Sache ist.Wir haben es mit einer Gruppe von Verbrechern, von ganz gemeinen Verbrechern und Mördern, zu tun.
Wir haben zusammen mit der sozialdemokratischen Fraktion, wobei wir als Freie Demokraten damals ein klein wenig zögerlich waren, als unser Koalitionspartner in einigen Einzelheiten, die ich hier nicht erwähnen will — —
Wir haben in der Verantwortung für das, was in solchen Lagen zu geschehen hat, gemeinsam gehandelt, die Sozialdemokratie und die Freien Demokraten. Und die christlich-demokratische Fraktion hat diese Bemühungen seinerzeit unterstützt. Wir haben gemeinsam gehandelt. — So.Und nun haben wir hier eine neue Fraktion. Ich bin ganz offen. Dazu bin ich ja liberal. Ich gucke mir alles an, was Sie so machen.
Aber wenn Sie es nicht einmal fertigkriegen, am Tage der Beerdigung von Herrn Dr. Zimmermann hier ein Wort zu der Sache zu sagen, müssen Sie sich leider gefallen lassen, daß ich mir dieses Konvolut von Aushöhlung von rechtsstaatlichen und sehr sauber und sehr sorgfältig von allen Fraktionen des Hauses erwogenen strafprozessualen Bestimmungen nicht gefallen lasse. Dann müssen Sie sich obendrein noch gefallen lassen, daß ich Ihnen sage: Es besteht der dringende Verdacht, daß Sie dieses vorschlagen, damit es nicht unmöglich wird, daß solche Dinge geschehen.
Das geht uns allerdings zu weit. Das geht uns entschieden zu weit!
— Ja, mein lieber Herr „Unverschämtheit", was glauben Sie denn, wie solche Morde zustande kommen? Glauben Sie denn, der einsame Verrückte, der einen erschießt, weil er in dem Übermut seiner 25 Jahre meint, er müsse die Welt bewegen,
den ich nur bedauern kann, glauben Sie denn, dieser Mann würde zu einer solchen Tat getrieben ohne ein Umfeld, das von denen geschaffen wird,
die wie Sie hier sitzen und uns erzählen, wie wir die Strafprozeßordnung ändern sollen, damit die Prozesse noch mehr verzögert werden und damit noch länger gewartet werden muß, bis Recht gesprochen wird, bis nichts weiter als Recht gesprochen wird, damit das alles noch länger dauert? Glauben Sie denn, daß wir Ihnen das abnehmen? Nein, das können wir Ihnen nicht abnehmen.Frau Nickels, Sie hatten soeben eine Chance, und Sie haben sie nicht genutzt. Das bleibt nun leider mal bei Ihnen.Der Entwurf der SPD-Fraktion, der im Laufe des heutigen Tages mehrfach als gestellt und nicht gestellt behandelt wurde,
interessiert mich in dem Zusammenhang nun wirklich nicht. Ich meine, mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofes — ich schließe mich dabei Herrn Saurin an — ist inzwischen einiges, was vielleicht zu weit und zu locker war, eingefangen. Damit hat sich ein vor langer Zeit angekündigter Entwurf überholt, erledigt.Aber ich bin doch nicht Mitglied des Deutschen Bundestages, um hier sogenannte Kollegen zu sehen, die nicht in der Lage sind, an einem solchen Tag ein klares Wort zu sagen, sondern uns statt dessen einen Entwurf vorlegen, der rechtshistorisch recht angenehm zu lesen ist, aber genau darauf abzielt, Umtriebe zu ermöglichen, die nun wirklich nicht zur demokratischen Auseinandersetzung gehören, sondern die Mord sind, die kriminell sind und die wir alle, wie wir hier sind, bekämpfen wollen. Dazu möchte ich bei der Gelegenheit von Ihnen gerne einmal etwas Deutliches hören.
Ich habe nicht die geringste Veranlassung, hier auf die Fülle von Einzelheiten einzugehen, wie Verteidiger in der Lage sind, schon mit unserem geltenden Recht Prozesse zu verschleppen, Verfahren zu behindern und Gerichte fast ad absurdum zu führen. Mit welcher erstaunlichen Geduld unsere Richter damit fertigwerden, ist eine Sache. Aber die ganz andere Sache ist, daß Sie uns das vorlegen und so
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8936 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Kleinert
tun, als wüßten Sie nichts von der Geschichte, als wüßten Sie nicht, wie die Kommunikation zwischen den Zellen stattfindet.
Wenn ich das Wort Isolationsfolter höre, dann werde ich allerdings etwas allergisch, weil es nämlich eine Unverschämtheit ist, bei der Fülle von Kommunikationsmöglichkeiten und bei einem offensichtlich abgestimmten Verhalten sämtlicher Häftlinge mit freundlicher Nachhilfe ihrer sämtlichen Verteidiger hier noch von Isolationsfolter zu sprechen. Sie sollten — alle, die hier sitzen — die Vorschläge angreifen, weil sie gestatten, daß Verabredungen zum Mord aus unseren Gefängnissen heraus möglich sind. Was Sie tun, ist allerdings eine Umdrehung der Tatsachen, die ich ungeheuerlich finde.
Dazu müssen Sie sich bekennen, bevor Sie wieder so grün, so friedlich und so freundlich vor Ihre jugendlichen verführten Wähler treten können, wie Sie das dauernd versuchen.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn zwei Gesetzentwürfe, die sich mit der Bestimmung befassen, die die Bildung einer terroristischen Vereinigung unter Strafe stellt, in Wochen wie diesen und an einem Tag wie diesem diskutiert werden, dann fällt es schwer, dem zu folgen, was Frau Nickels glaubte, uns hier vortragen zu können, nämlich daß es Aufgabe von Demokraten sei, über die Schwierigkeiten des Tages hinaus — allein an der Sache und an sonst nichts ausgerichtet — die Dinge mit Nüchternheit abzuhandeln. Ich sage Ihnen, es geht nicht an, daß hier Gelegenheit genommen wird, sich an dem Herrn Bundeskanzler zu reiben, der das,
was Millionen in diesen Stunden bewegt,
knapp und kurz zum Ausdruck gebracht hat.Wir haben den Entwurf der SPD-Fraktion. Ich will hier fein säuberlich trennen. Mich verwundert dieser Entwurf, weil in der Vergangenheit ja in der sozialliberalen Koalition bei ähnlichen Überlegungen der Streichung des Werbens jeweils von meinen Vorgängern im Amte eine sehr deutliche Absage erteilt worden ist. Nun haben wir mittlerweile— darauf hat auch Kollege Bachmaier hingewiesen— den erfreulichen Umstand, daß die Rechtsprechung restriktiver geworden ist.
Deswegen wird eine Veränderung des Tatbestandes unter diesen Umständen derzeit nicht mehr notwendig sein.Ein ganz anderer Punkt ist der Antrag der GRÜNEN. Hier waren diejenigen, die an der Konzipierung dieses Antrages mitgewirkt haben, wirklich von allen guten Geistern verlassen, so Sie je von solchen Geistern beseelt gewesen sein mögen.
Da wird ja die generelle Streichung verschiedener Bestimmungen gefordert, Bestimmungen, die die Bildung einer kriminellen, Bestimmungen, die die Bildung einer terroristischen Vereinigung unter Strafe stellen. Das ist das eine. Aber das Schlimmere ist, was in der Begründung für ein gedanklicher Fundus, für geistige Ausgangspunkte deutlich werden. Da wird ja der Eindruck erweckt, als würden diese Bestimmungen in unserem Strafgesetzbuch darauf hinzielen, ganz legitime, vielleicht der politischen Mehrheit politisch mißliebige Aktivitäten unter Strafe zu stellen.Da ist es ja interessant, wenn in der Begründung auf das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 Bezug genommen wird und man glaubt, dazu Parallelen ziehen und dem Bürger weismachen zu können, es sei irgendein Zusammenhang gegeben zwischen einer damals teilweise noch obrigkeitsstaatlich geprägten Haltung, die politische Mißliebigkeiten auch strafrechtlich unter Kontrolle stellte, und unserem Rechtsstaat, der, wo es notwendig ist, auch mit den Mitteln des Strafrechts ganz ordinären Verbrechern — und um nichts anderes geht es — entgegentritt, die darauf ausgehen, den Schutz des Bürgers in unserem Lande bis hin zur staatlichen Ordnung abzubauen, zu unterwühlen und zu unterminieren.Wer dann so spricht wie Sie, Frau Nickels,
und dem Worte wie „Sonderhaftbedingungen", „Isolationstrakte" so locker von den Lippen gehen, der wird sich fragen lassen müssen, wie er zu diesem Staat steht. Er wird den Bürgern Rede und Antwort stehen müssen, und er wird sich fragen lassen müssen, in welcher Welt er eigentlich lebt.
Da werden wir nicht antreten, wie Sie das erwarten, da werden wir nicht vordergründig, leichtfertig vielleicht nicht beweisbare Beschuldigungen gegen Sie richten, nein, wir werden Sie fragen, und zwar deutlich und ganz gnadenlos, wie Ihr Verhältnis zu diesem unserem Gemeinwesen und der Gemeinschaft seiner Bürger ist.
Sie dürfen sicher sein, daß dieser Rechtsstaat ein starker Staat ist
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8937
Bundesminister Engelhardund daß diese Bundesregierung und die Mehrheit dieses Parlaments in der ganzen Breite dieser vorhandenen Mehrheit dafür Sorge tragen werden, daß dieser Rechtsstaat in der Abwehr von Schwerstkriminalität bereitsteht.
Wir werden nicht zulassen, daß hier mit Worten — und erst recht nicht mit Taten — dies alles in Frage gestellt wird, in den Dunst der Unverbindlichkeit unter der Glocke einer in diesem Fall verwerflichen Pseudohumanität eingenebelt wird,
sondern hier werden wir uns mit großer Klarheit des Wortes, gegen die Taten der Verbrecher gewandt, auseinanderzusetzen haben. Glauben Sie mir, daß es Ihnen bei dieser Auseinandersetzung nicht möglich sein wird, sich so vorbeizudrücken, wie Sie dies belieben. Dies wird Ihnen bei dieser Auseinandersetzung nicht möglich sein.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 10/1883 und 10/2396 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
— Drucksache 10/1489 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 10/2834 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Kiehm Krey
Dr. Hirsch
b) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/2844 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Kühbacher Gerster
Frau Seiler-Albring
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffnet die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Krey.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heute zu beratende und zu verabschiedende Siebte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes ist sicher keine grundlegende Wahlrechtsreform. Dennoch wird es für viele unserer Mitbürger von großer Bedeutung sein. Schließlich bringt es nach vielen vergeblichen Bemühungen für sie die immer wieder geforderte Beteiligung an einem unverzichtbaren demokratischen Recht, dem Recht, bei der Wahl der Vertretung des deutschen Volkes mitzuwirken. Dieses Bemühen stellt einen langen Weg dar. Für mich ist die Lösung dieses Problems das Kernstück, der wichtigste Teil der vorliegenden Novelle.Seit der 5. Wahlperiode wurden immer wieder Versuche unternommen, im Ausland lebenden Deutschen die Möglichkeit zu geben, unter bestimmten Voraussetzungen an den Wahlen zum Deutschen Bundestag teilzunehmen. Sie alle kennen die vielen Briefe, Sie alle haben im Ausland Erfahrungen im Gespräch mit Mitbürgern gemacht, die wir dort treffen und die uns beschworen haben, nun endlich eine solche Regelung zu treffen. Nach fast 15 Jahren scheint diesem Bemühen nun heute der Erfolg sicher zu sein. Für nahezu 500 000 Mitbürger, die sich auf Zeit, meist aus beruflichen Gründen, im Ausland aufhalten und für die die Vorschriften der Briefwahl viel zu eng gefaßt sind, wird die Wahrnehmung eines demokratischen Grundrechtes eröffnet.
Die jetzt von uns vorgesehene Regelung zielt erstens darauf ab, Deutschen im Bereich des Europarates unbeschränktes Wahlrecht einzuräumen, und zweitens darauf, daß Deutsche außerhalb dieser Regionen dann, wenn sie sich nicht länger als 10 Jahre im Ausland aufhalten und wenn sie vor ihrem Weggang mindestens drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland wohnten, ihre Stimme bei der Wahl zum Deutschen Bundestag abgeben können. Diese Unterscheidung berücksichtigt die weitgehend vorhandene berufliche und wohnliche Freizügigkeit in Westeuropa, auf die im übrigen unser Kollege Dr. Stercken mehrfach mit praktischen und konkreten Beispielen auch aus den Grenzregionen hingewiesen hat.
Die weltweiten Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Bürger, Firmen und Institutionen insbesondere auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet bewirken darüber hinaus, daß immer mehr Bundesbürger zeitlich befristet in aller Welt leben. Mit wenigen Ausnahmen, wie etwa bei den Beamten, führte das bisher zwangsläufig zum Ver-
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Kreylust des Wahlrechtes oder zumindest zu dessen erheblichen Einschränkungen. Da der Aufenthalt im Ausland, so wie ich ihn gerade zu umschreiben versucht habe, in der Regel gesamtstaatlichen Interessen unseres Landes dient, sollte er nicht länger mit dem Entzug staatsbürgerlicher Rechte bestraft werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Klein?
Aber gerne, j a.
Herr Kollege, ist Ihnen bewußt, daß die neue Regelung, die wir jetzt beschließen sollen, auch einschließt, daß Deutsche, die in der Bundesrepublik gelebt haben und heute in der DDR zu Hause sind, die Möglichkeit haben, den nächsten Deutschen Bundestag, den 11. Bundestag, zu wählen, und denken Sie auch daran, daß das mit erheblichen politischen Belastungen verbunden sein kann?
Ich glaube, daß Sie die Beratungen nicht aufmerksam verfolgt haben; sonst hätten Sie diese Frage gar nicht gestellt. Das Gesetz definiert ganz ausdrücklich und eingehend, wer in den neuen, erweiterten Kreis der Wahlberechtigten einzubeziehen ist. Wir haben übrigens in diesem Punkte in den Ausschußberatungen auch gar keinen Dissens gehabt. Soweit ich das erkennen konnte, gab es nur Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der einzuräumenden Fristen. Dazu kann ich Ihnen sagen: Diese Zehnjahresfrist stellt bereits einen Kompromiß dar. Mit beschwörenden Worten haben uns Deutsche, die im Fernen Osten Dienst tun, gesagt, daß die Zehnjahresfrist, gemessen an der Lebenswirklichkeit, eigentlich viel zu kurz sei. Wir haben uns für die zehn Jahre entschieden.
Herr Krey, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein, vielen Dank. Die Redezeit ist kurz. Es ist auch schon spät geworden. Ich möchte an sich einen Beitrag zur Beschleunigung der Debatte leisten.Mit wenigen Ausnahmen — das habe ich eben schon gesagt — können also bisher Menschen, die in diesen Ländern leben und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, demokratische und staatsbürgerliche Rechte nicht wahrnehmen. Wir sind der Auffassung, daß dieses demokratische Rechtsgut so hoch zu bewerten ist, daß ihm formale Schwierigkeiten untergeordnet werden müssen.Zu diesem Punkte — darüber freue ich mich — gibt es eine sehr breite Zustimmung in diesem Hause. Vertreter auch der SPD haben in der Vergangenheit ihre Bereitschaft zu einer solchen Regelung immer bekundet. Um so mehr bedaure ich, daß die SPD unsere Entscheidung nicht mittragen will. Ich habe gerade auf einen der Gründe hingewiesen. Mag es tun, wer es will: Ich kann diese Haltung nicht verstehen. Noch in der 9. Wahlperiode hat die SPD einen ähnlichen Regierungsentwurf mitgetragen. Auch in den Ausschußberatungen hat sie sich konstruktiv beteiligt, wofür ich besonders meinem Kollegen Kiehm an dieser Stelle einmal ganz herzlich danken möchte.Auch in einem weiteren wichtigen Punkt fehlt mir allerdings das Verständnis für die Haltung der SPD. Das Wahlrecht ist ein zu wichtiges Gut, als daß man es je nach Opportunität hoch oder niedrig hängen sollte.
Wahre Liberalität zeigt sich nicht in der Flexibilität, mit der man Auffassungen vorträgt oder sie ändert: heute hü, morgen hott, heute für d'Hondt, morgen für Niemeyer, einmal in Bonn, einmal in diesem oder jenem Land, je nach Lage der Dinge. Ich gestehe ganz offen, daß auch uns die Entscheidung der Änderung des Berechnungsverfahrens nicht leichtfällt, sind wir doch wahrscheinlich die Hauptbetroffenen von dieser Änderung. Aber wir verschließen uns nicht der Erkenntnis, daß bei Wahrung der 5-%-Klausel das Hare-Niemeyer-Verfahren den kleineren Parteien mehr Gerechtigkeit widerfahren läßt, als es bei dem bisherigen System der Fall ist.
In diesem Punkte entspricht die heutige Vorlage weitgehend der Koalitionsvereinbarung vom 24. März 1983 und der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 4. Mai 1983.Lassen Sie mich noch kurz einen wichtigen Punkt ansprechen. Bei den Europawahlen des vergangenen Jahres wurde es deutlich — wir sind ja sicher auch alle darauf angesprochen worden —: Das Umfeld des Wahllokals, der Gang zur Wahlurne droht für Propaganda und Beeinflussung mißbraucht zu werden. Zwar ist es noch nicht zu einer faktischen Gefährdung des Wahlvorgangs gekommen, aber Vorsicht ist geboten. Auch hierüber gab es übrigens eine breite Übereinstimmung. Wir möchten die unbeeinflußte und ungehinderte Wahlausübung sichern. Der Gang zum Wahllokal und zur Wahlurne darf nicht zu einem Spießrutenlaufen durch ein Spalier selbsternannter Volksbefrager oder zu einem Hindernislauf um letzte Informationen werden.
Wir hoffen, mit den jetzt gefundenen Regelungen des Verbots jeder Beeinflussung der Wähler durch Wort, Ton, Schrift oder Bild sowie von Unterschriftensammlungen auf dem Weg in das Wahllokal den Anfängen zur Beseitigung der freien, geheimen und ungehinderten Wahl zu wehren, ohne zum Instrument einer Bannmeile im eigentlichen Sinne greifen zu müssen.Das Gesetz sieht neben einigen weiteren Verbesserungen auch einige wenige Wahlkreiskorrektu-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8939
Kreyren vor. Die Bundeswahlkreiskommission, für deren Arbeit ich ebenso herzlich danke wie für die Hilfe des Bundesministers des Innern und für die Unterstützung der Bundesländer, hatte eine wesentlich größere Veränderung vorgeschlagen. Sie hat auch eine Neuverteilung der Wahlkreise auf die Bundesländer empfohlen. Wir sind dieser Empfehlung nicht gefolgt, soweit es nicht auf Grund der Verfassungsrechtslage und als Folge kommunaler Gebietsveränderungen unerläßlich war. Darüber herrschte im Innenausschuß Einvernehmen. Wir ließen uns dabei von der Erkenntnis leiten, daß erst eine neue Volkszählung gesicherte Daten für eine so tiefgreifende Maßnahme liefern würde.Meine Damen und Herren, das freie Wahlrecht ist eines der wichtigsten demokratischen Grundrechte. Wir sollten alles tun, daß es gesichert bleibt, daß möglichst viele Bürger es aktiv nutzen können und daß das Ergebnis so gerecht wie möglich umgesetzt werden kann. Hierin sollten wir uns alle einig sein. In diesem Sinne appelliere ich noch einmal an die Kolleginnen und Kollegen der SPD, dem Gesetz zuzustimmen, so wie wir es tun werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Kiehm.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will mich in dem Beitrag der SPD-Fraktion auf vier Punkte beschränken. Erstens. Wir begrüßen es, daß die jahrelange Übung auch in diesem Jahr Platz gegriffen hat und die Abgrenzung der Wahlkreise in Übereinstimmung zwischen den Fraktionen geregelt werden konnte.Zweitens. Ich will etwas zum Problem der Ausdehnung des Wahlrechts auf Deutsche, die außerhalb der Bundesrepublik leben, sagen. Der bisherigen Rechtslage liegt der Gedanke zugrunde, daß der Wähler nicht darauf angewiesen sein soll, sich über Dritte, über Medien über das zu informieren, was in seinem Vaterland politisch Sache ist. Er ist Beteiligter und Betroffener in einem sehr differenzierten Prozeß der Meinungsbildung bei sich ständig wandelnden Bedingungen. Deshalb ist die Bindung des Wahlrechts an Wohnung und Aufenthalt im Wahlgebiet durchaus eine sinnvolle Geschichte.Nun wissen wir natürlich, daß es seit vielen Jahren die Debatte gibt, dieses Wahlrecht auszudehnen. Bei Abwägung aller Argumente kann man sich diesen Forderungen auch nicht vollständig entziehen. Allerdings müssen Bedingungen beachtet werden, die für eine sinnvolle politische Meinungs- und Willensbildung notwendig sind. Dazu gehört nach unserer Meinung die räumliche Nähe zur Lebenswelt in der Bundesrepublik oder eine zeitliche Limitierung der Abwesenheit ohne Verlust des Wahlrechts. Das sind für uns die Maßstäbe, die eingehalten werden müssen.Es besteht zwischen den Fraktionen Übereinstimmung über das Erfordernis des dreimonatigen Aufenthalts im Bundesgebiet vor Fortzug. Dies erleichtert nicht nur die technische Prozedur desWählens, sondern, Kollege Klein, das nimmt auch etwas von den Gefahren, die Sie hier offenbar gesehen haben, weil damit Problemfälle ausgeschaltet werden. Wir haben sehr wohl — ich glaube, da bin ich mit dem Kollegen Krey einer Meinung — dieses Problem gewürdigt. Wir denken, daß gerade in der Debatte um die Staatsangehörigkeit in unseren beiden Deutschland dieses Problem auch in aller Deutlichkeit angesprochen werden sollte.
Das Wahlrecht für Deutsche, die in Gebieten der Mitgliedstaaten des Europarats leben, wird von uns mitgetragen. Die Ausgestaltung des Wahlrechts für Deutsche in anderen Gebieten mit der Zehn-JahresFrist erfüllt allerdings nicht unsere Bedingungen. Ursprünglich hat ja auch einmal die CDU/CSU von einer Fünf-Jahres-Frist gesprochen. Wir wären glücklich gewesen, wenn wir sie daran hätten festhalten können. Dieser Regelung werden wir nicht zustimmen.Drittens. Bemerkungen zu dem, was anfangs unter dem Stichwort „Bannmeile" diskutiert worden ist und schließlich als eine technisch akzeptable Änderung des § 32 ausgestaltet wurde: Ausgangspunkt war eine behauptete Beeinträchtigung des Wahlvorgangs bei der Europawahl, und zwar durch die Unterschriftenaktion der Friedensbewegung. Nun bezweifelt niemand, daß es Aktionsformen gibt, die in der Tat geeignet sind, zu einer Beeinträchtigung zu führen. Die Frage, die sich stellt, ist nur, ob allein die behauptete Beeinträchtigung schon eine Notwendigkeit schafft, Schutzvorkehrungen zu treffen, oder ob hier nicht wenigstens eine belegte Beeinträchtigung vorhanden und registrierbar sein muß. Nach den uns vorliegenden Informationen — der Kollege Krey hat ja eben selber darauf hingewiesen — gibt es keine konkreten Erkenntnisse über eine Beeinträchtigung. Offenbar — und das will ich hier in aller Deutlichkeit sagen — ist sich der Wähler in der Bundesrepublik seines Rechts und seiner politischen Meinung so sicher, daß er sich auch durch eine ungewöhnliche und neue Aktionsform nicht beeinträchtigen läßt. Ich habe den Eindruck, daß das teilweise gezeichnete Bild vom verängstigten Wähler mit der Realität in unserem Lande nicht übereinstimmt.Nun kann man sich natürlich auch fragen, ob es vielleicht andere Motive gab, diese Schutzvorrichtung einzuführen. Ich will wirklich nicht hoffen, daß es das inhaltliche Anliegen war, das zu diesem Vorstoß führte, oder daß es etwa die Veranstalter waren. Sollten derartige Erwägungen wo auch immer eine Rolle gespielt haben, bitte ich um eine offene Debatte über diese Fragen. Die Schutzargumentation darf nicht zu einer Verschleierung anderer Ziele herhalten.Viertens. Zum Problem des Berechnungsverfahrens für die Sitzverteilung: Es ist richtig, daß das System Niemeyer wie das Höchstzahlverfahren nach d'Hondt verfassungskonforme Systeme sind. Es ist auch richtig, daß das Motiv, für das eine oder das andere System zu plädieren, auch in den Inter-
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8940 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Kiehmessen der beteiligten Parteien oder in den Abhängigkeiten von Koalitionsabreden liegt.
An dieser Stelle sollten wir uns keinen Illusionen hingeben und sollten wir nicht Eindrücke erwekken, die falsch sind.
Ich kann das an einem Beispiel demonstrieren. Vor Jahren wurde das Höchstzahlverfahren aus Koalitionsrücksichten in Niedersachen durch das Verfahren Niemeyer ersetzt.
Weil dieses Verfahren den Interessen der jetzt allein regierenden CDU nicht mehr entspricht, wurde vor wenigen Wochen das Verfahren Niemeyer verworfen. Niedersachsen kehrt zum Höchstzahlverfahren zurück.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Krey?
Ich will mal den Versuch machen, die Frage vorwegzunehmen, ob nicht auch sozialdemokratische Fraktionen und Regierungen den Pressionen von Fraktionen anderer parteilicher Gruppierungen gefolgt sind.
Gestatten Sie trotzdem die Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Bitte.
Wären Sie bereit, dazu das konkrete Beispiel Nordrhein-Westfalen zu nennen?
Ich kenne die Situation in Nordrhein-Westfalen nicht. Aber ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß auch dort so praktiziert worden ist.
Aber nun will ich mir die Pointe doch nicht wegnehmen lassen. Der näherrückende Wahltermin in Niedersachsen und der offenbar bei der CDU ausbrechende Zweifel an den eigenen Erfolgsaussichten verursachen neue Koalitionsüberlegungen. Der anvisierte Partner fordert den Verzicht auf d'Hondt und die Rückkehr zum Verfahren Niemeyer. Und ich bin sicher, wir werden im Lauf dieses oder des nächsten Jahres die zweite Kehrtwendung der CDU in dieser Frage in Niedersachsen erleben.
Die Koalition könnte also deutlicher programmiert sein, wenn die FDP eine Chance hätte, in den Niedersächsischen Landtag zu kommen.
Neben der interessenbedingten Argumentation gibt es aber auch die Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen der beiden Berechnungsverfahren. Ich will gar nicht leugnen, daß es ein Argument sein kann, daß das Verfahren Niemeyer dem Erfolgswert der für kleine Parteien abgegebenen Stimmen eher gerecht wird. Das hat aber auch seinen Preis. Warum sonst eine Gesetzesbestimmung, die, wie es im Bericht des Ausschusses heißt, eine Modifizierung des Verfahrens der mathematischen Proportion verlangt? Was heißt das? Es ist nicht sicher, daß nach dem Verfahren Niemeyer eine Liste, die mehr als die Hälfte der Gesamtzahl der Zweitstimmen erhält, die absolute Mehrheit der Sitze bekommt. Wahrlich eine makabre Feststellung! Also teilt man dieser vom Verfahren benachteiligten Liste zunächst einen Sitz zur Sicherung der Mehrheit zu, um dann nach Niemeyer verfahren zu können. Halten Sie das für ein glaubwürdiges Verfahren? Offenbar haben alle Parteien das gesehen, waren aber nicht bereit, Konsequenzen zu ziehen.
Nun darf man aber nicht davon ausgehen, daß die Handlungsfähigkeit unseres demokratischen Staatswesens vom Ideal des Erfolgswerts der Stimmen für kleinere Parteien abhängt. Entscheidend ist, ob eine Zustimmung der Mehrheit der Wähler unkompliziert zu einer regierungsfähigen Mehrheit nach Sitzen führt. Das, was hier beschlossen werden soll, bietet in der Sache keine Besserung. Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, diese Regelung hat die Funktion, die Koalition zu stabilisieren, und das müssen Sie schon ohne uns beschließen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Kiehm und Herr Kollege Klein von der SPD, Sie hätten einen Blick in die Vorlage vorn 12. August 1982 werfen sollen; dann hätte sich die Frage z. B. nach dem Status der DDR schon dahin gehend beantwortet, daß wir sie im damaligen Entwurf auf dieselbe Weise gelöst haben, auf die wir sie auch jetzt gelöst haben. Das heißt, es hat sich an den Entwürfen nichts geändert.
Ich habe den Eindruck, daß Sie hier einen doch sehr ansehnlichen und erfreulichen Sprößling, der uns damals gemeinsam erfreut hat, heute nach dem Motto „Grüß mich nicht Unter den Linden" behandeln wollen. In Wahrheit ist j a — außer diesem Zusatz mit der Bannmeile — nichts anderes geändert worden, als daß wir bei den Wahlrechtsmöglichkeiten für Deutsche im Ausland von fünf auf zehn Jahre gegangen sind, wen wir davon absehen, daß diejenigen, die in Ländern des Europarates wohnen, unbeschränkt wählen können.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klein?
Aber mit großem Vergnügen!
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8941
Sind Sie nicht der Meinung, daß manches, was vielleicht im Entwurf von 1982 falsch war, heute nicht unbedingt richtig sein muß? Wir alle sind ja etwas klüger geworden,
und würden Sie mir darin zustimmen, daß wir die politischen Konsequenzen noch nicht zu Ende gedacht haben?
Ich stimme Ihnen da gar nicht zu, lieber Kollege. Ich bin der Meinung, daß wir den richtigen Weg des Entwurfs von 1982 fortgesetzt haben. Der August 1982 liegt ja noch nicht so lange zurück, daß wir uns dessen nicht noch genau erinnern könnten, und wir haben damals gemeinsame Beratungen gepflogen. Sie haben diesen Weg verlassen, weil Sie eben plötzlich der Meinung sind, daß gemeinsame Ideen mit den Liberalen für Sie nicht mehr akzeptierbar oder nicht mehr opportun sind; oder vielleicht lehnen Sie, wie Rochefoucauld sagt, eine gute Idee deswegen ab, weil sie jetzt nicht mehr von Ihnen stammen soll, sondern von anderen.Ich meine, daß wir hier auf dem richtigen Wege sind und daß uns die Verflechtung der modernen Welt, die wir ja mit Medien, mit Zeitungen, mit vielen anderen Informationsmöglichkeiten haben, hier nahelegen kann, daß wir die Frist beim Wahlrecht auf zehn Jahre ausdehnen. Wir haben ja den Schutz eingebaut, daß sich jeder besonders bemühen muß, um dieses Wahlrecht auszunutzen. Es wird ihm ja nicht frei Haus geliefert; es wird ihm nicht nach Tokio oder nach Los Angeles geschickt, sondern jeder muß sich bei seinem letzten Aufenthaltsort in der Bundesrepublik bemühen, muß sich um die ganzen Formalien kümmern und muß sich die Unterlagen zuschicken lassen. Das heißt, wir haben eine für jeden einzelnen mühsame Schranke errichtet, die es verwehrt, daß jemand ohne besonderes Interesse dieses Wahlrecht wahrnehmen kann. Aber ich bin gewiß, es ist ein wichtiger Punkt für die nach Schätzung etwa 400 000 bis 500 000 Auslandsdeutschen, die seit langem auf diese Möglichkeit gewartet haben und die andere Länder immer darum beneidet haben, daß dieses Wahlrecht in Frankreich, in Norwegen, in Schweden, in der Schweiz, in Portugal und in Spanien schon längst Wirklichkeit geworden ist.
Wir freuen uns, daß wir jetzt endlich dazu gekommen sind — die zeitlichen Vorläufer habe ich deutlich gemacht —, daß wir bei diesem Vorsatz geblieben sind und daß wir ihn umsetzen können, um denjenigen, die aktiv Anteil an dem Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland nehmen und die von dem vornehmsten Recht des Bürgers Gebrauch machen sollen, ihr Wahlrecht auszunutzen, dieses zu ermöglichen, und daß wir das jetzt beschließen werden.Der zweite Punkt, der natürlich von besonderem Interesse ist, ist das Berechnungsverfahren und die Änderung desselben von d'Hondt nach Hare-Niemeyer. Ich zitiere einmal aus dem Bundestagshandbuch 1980, ,daß es das Anliegen aller sei, den Stimmen aller Bürger den gleichen Wert zukommen zu lassen'. Genau hierum geht es.
Ich darf das einmal aus der Begründung des Gesetzentwurfes von 1982 zitieren. Es ist ja ganz interessant, wenn man sich auf die j a gar nicht so alten Vorläufer beruft. Da sagt die Begründung:Das d'Hondtsche Verfahren führt allerdings nicht zu proporzgerechten Ergebnissen. Es zeichnet sich durch eine gewisse Begünstigung größerer Parteien aus, die um so stärker wird, je geringer die Zahl der zu vergebenden Sitze ist.Das ist damals gemeinsam von allen Berichterstattern unterschrieben worden. Das weicht erheblich von dem ab, Herr Kollege Kiehm, was Sie uns hier ein bißchen länger und umfangreicher vorzutragen versucht haben. Es hat nicht überzeugt.
Übrigens müßte die SPD ja besonders für Gleichheit sein. Wenn Sie einen Blick in Ihr Wahlprogramm werfen, finden Sie ja dieses Wort fast auf jeder dritten Seite, und bei vielen Debatten führen Sie es ja an. Sie müßten also dafür Sorge tragen, daß die Gewichtung der Stimme des Bürgers bei seinem vornehmsten Recht auch wirklich gleich ist. Das wird jedenfalls mit diesem Verfahren HareNiemeyer mit der Veränderung nach Schepers erreicht.
Übrigens darf ich vielleicht noch nachtragen — Sie haben uns das freundlicherweise, wahrscheinlich unabsichtlich, nehme ich an, nicht mitgeteilt —, daß sich die Sozialdemokraten im Niedersächsischen Landtag fröhlich dazu geäußert, bekannt und dafür gestimmt haben, daß schleunigst das Verfahren Hare-Niemeyer geändert und in d'Hondt umgesetzt wird. Das war nicht nur die Union, wie Sie uns das vorgeführt haben, wobei wir allerdings auch anmerken, daß der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen eben der Versuchung der Macht nicht widerstehen konnte, zu einem ungerechteren System, wie wir eben gehört haben, zurückzugehen.
Er hat ja die Vorlage als Gesetzesvorlage der Regierung eingebracht. Die Unionsfraktion hat es in Niedersachsen quergeschrieben. Das wollen wir dann auch nicht verschweigen, sondern hinzusetzen.Aber schon nach einem Jahr — es hat ja schon eine Prognose dazu gegeben — werden wir nach den nächsten Landtagswahlen in Niedersachsen dafür sorgen, daß sich das wieder ändert. Insofern hat hier nur eine Papierflut stattgefunden, um hinterher festzustellen, daß doch alles wieder so wird, wie wir es für gerecht und richtig halten.Verehrter Herr Kollege Kiehm, Sie müßten schon für dieses bessere System sein. Sie werden größte Mühe haben, zu erklären, warum es das nicht sei.
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8942 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Wolfgramm
Eine bessere Vorlage, als wir sie heute haben, werden wir auch nicht bekommen können. Auf Sie paßt Äsop, der sagt:Ein Hund, der ein Stück Fleisch im Maul trug, überschritt einen Fluß. Dabei sah er seinen Schatten im Wasser und meinte, das sei ein anderer Hund, der ein größeres Stück Fleisch habe. Sofort ließ er das eigene fahren und fuhr auf das Spiegelbild los, um das Fleisch zu rauben. Aber dabei kam nur heraus, daß er beides verlor: das fremde, weil es überhaupt nicht da war, und das eigene, weil es vom Wasser weggetrieben wurde.Was lehrt uns das? Ich glaube, es lehrt uns nach Voltaire, daß dies das beste aller möglichen Gesetze dazu ist. Und wir nehmen es.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe Art. 1 bis 4 sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung und einigen Gegenstimmen ist das Gesetz angenommen.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die verbundene Tagesordnung um den Zusatzpunkt Beratung der Sammelübersicht 66 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen — Drucksache 10/2840 — erweitert werden. — Dazu erhebt sich kein Widerspruch. Ich werde diesen Zusatzpunkt zusammen mit den Tagesordnungspunkten 3 b und 3 c aufrufen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 3 a auf:
Beratung der Sammelübersicht 64 des Petitionsausschusses über einen Antrag zur Petition
— Drucksache 10/2745 —
Hierzu liegt auf Drucksache 10/2838 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Der Ältestenrat empfiehlt eine Aussprache mit einem Beitrag bis zu fünf Minuten je Fraktion. — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wimmer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Petitionsausschuß hat sich mit einem Fall der Milchgarantiemengenregelung zu befassen. Diese Regelung ist seit dem 1. April 1984 gemäß dem Beschluß desEG-Ministerrats in Kraft. Die Petenten fühlen sich durch die nationale Garantiemengenregelung und -verordnung vom 25. Mai 1984 benachteiligt. Ihnen wurde die Zuteilung einer Milchquote versagt, da sie 1979 und 1981 Prämien für die Nichtvermarktung von Milch nach der EWG-Verordnung 1078/ 1077 erhalten hatten und seit dem 29. Juli 1981 keine Milch mehr liefern.Bei dieser Petition steht nicht zur Diskussion, ob die Nichtvermarktung Rechtens war oder nicht und welche Gründe für die Nichtvermarktung maßgebend waren, sondern bei der Petition ist nur zu beurteilen, ob es richtig ist, nach einer zeitlich begrenzten Nichtvermarktung keine Quote zuzuteilen.Der Petent hat sich darauf verlassen, daß im Anschluß an den fünfjährigen Verzicht auf Milchlieferung die Produktion wieder aufgenommen werden kann. Aber das wird ihm durch die jetzige Milchgarantiemengenregelung untersagt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies ist kein Einzelfall. Von den 370 000 milcherzeugenden Betrieben haben sehr, sehr viele Einspruch eingelegt und Anträge auf Anerkennung als Härtefall gestellt. Bis jetzt haben etwa 21 000 Landwirte Einspruch eingelegt, und einige tausend Milcherzeuger haben inzwischen die Gerichte angerufen. Hinter diesen Fällen stehen menschliche Schicksale. Unzählige Bauern sehen sich auch in ihrer Existenz bedroht. Sie fühlen sich ungerecht behandelt und zweifeln an der Gerechtigkeit.Das kann niemand von uns unberührt lassen. Wir müssen feststellen, daß die Milchmengengarantieregelung in der Bundesrepublik seit zehn Monaten in Kraft ist und noch immer Rechtsunsicherheit herrscht. Diese muß im Interesse der betroffenen Menschen so schnell wie möglich beseitigt werden.Die hier zur Diskussion stehende Petition kann deshalb nicht einfach nur als Material überwiesen werden. Das kann auch deshalb nicht sein, weil der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten selbst in seiner Stellungnahme für den Petitionsausschuß zu folgendem bemerkenswerten Schluß kommt — ich zitiere —:Prüfenswert erscheint der Vorwurf, die Garantiemengenregelung verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG.Ein weiterer Absatz in der Stellungnahme des Ministers lautet:Eine Einbeziehung auch dieser Gruppe von Milcherzeugern in die Härtefallregelung bewirkt im Ergebnis eine erhebliche und unvertretbare Ausweitung der Gesamtreferenzmenge. Aus diesem Grunde kann zur Zeit an eine Berücksichtigung dieser Sonderfälle bei der Zuteilung von Referenzmengen nicht gedacht werden.Er betont ausdrücklich: zur Zeit nicht, aber an sich schon Berücksichtigung.Wenn der Verordnungsgeber selbst die Verfassungswidrigkeit seiner Verordnung nicht ausschließt und nur „zur Zeit" eine Berücksichtigung
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8943
Wimmer
nicht vornehmen kann, so müßte, meine ich, allen Betroffenen, auch dem Petenten, eine Materialüberweisung als nicht zufriedenstellend erscheinen.Die Bundesregierung und die Regierungsparteien müssen, so meine ich, auch in dieser Angelegenheit gleiche Positionen beziehen und auch überall die gleiche Sprachregelung treffen. Es geht, bezogen auch auf diesen Petenten, nicht an, daß ein CDU-Bundestagsabgeordneter diese Garantiemengenregelung oft als Erfolg darstellt und diesem Petenten als Präsident eines Bauernverbandes gleichzeitig rät, gegebenenfalls Verfassungsbeschwerde einzulegen.
Hier steht sicherlich die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Man kann nicht einmal hü und einmal hott sagen.
— Er kommt aus Schleswig-Holstein. —
Meine Damen und Herren, die SPD-Bundestagsfraktion kann es nicht akzeptieren, wenn dieser ungeklärte Rechtsfall der Bundesregierung lediglich als Material überwiesen wird. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen die Milchgarantiemengenverordnung und einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung dem Deutschen Bundestag mit der Bitte um Äußerung bis zum 31. März zugestellt. Dies deutet darauf hin, daß die Verfassungsbeschwerde gegen die Milchquotenregelung voraussichtlich angenommen werden wird.Ich bitte deshalb um Zustimmung zu unserem Änderungsantrag, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rumpf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Wimmer, es handelt sich bei dieser vorgelegten Petition, die Sie hier in den Bundestag gebracht haben, so etwa um eine Vorlage, wie man sie öfter beim Fußballspiel hat, daß man also praktisch nur noch ins Tor hineinzuschießen braucht.
Bei der Festlegung der Milchquoten hat es j a viel Ärger gegeben; das wissen wir j a alle. Wir von der FDP hatten diese Quotenregelung ja überhaupt nicht gewollt, sondern ein System einer differenzierten Mitverantwortungsabgabe vorgeschlagen.
Es war der Bauernverband selbst, der die Kontingentierung der Milchablieferung in dieser Form einführen wollte.
Aber wenn man sich schon auf dieses Verfahren geeinigt hat, dann muß es auch konsequent durchgeführt werden. Die Beispiele Schweiz, Österreich und Norwegen zeigen, daß die Milchüberschüsse seit 1976 — trotz Kontingentierung — enorm zugenommen haben. Das liegt daran, daß der politische Druck bei der Festlegung der Quoten oder sogar nach der Festlegung der Quoten enorm zugenommen hat und immer wieder Zugeständnisse gemacht worden sind. Nur in Kanada, wo es seit 18 Jahren eine Milchquote gibt, ist auch die Produktion gesunken, und der Preis ist dort stabil geblieben.
Das kam daher, weil die Quoten — ohne Ausnahme — regional einheitlich festgelegt worden sind und danach frei handelbar blieben, um z. B. aufstockenden Betrieben die Möglichkeit zur Anpassung zu geben.Die vorliegende Petition zielt ziemlich genau auf diesen dargestellten Sachverhalt ab. Es soll nämlich eine Ausnahme für ein bestimmtes Jahr gemacht werden. Die Bundesregierung hat im Rahmen des EG-Abkommens bei der Milchgarantiemengenverordnung als Referenzjahr das Jahr 1983 zugrunde gelegt. Wegen der zeitlichen Nähe konnte man erwarten, daß gerade bei diesem Jahr die geringste Anzahl von Härtefällen entsteht. Eine Härteregelung ist zwar vorgesehen, aber die kann doch, meine Damen und Herren, nur auf Aufbaubetriebe angewendet werden, die noch mitten in der Aufbauphase waren. Ich greife hier das Beispiel eines jungen Landwirtes heraus, der mit staatlichen Mitteln dabei war, einen Milchviehbetrieb aufzubauen und damit 1981 oder 1982 begonnen hatte. Er würde von einer starren Bezugsquote eines Jahres hart betroffen.Wir haben durchgesetzt, daß die Härteregelungen sogar bis ins Jahr 1978 zurückgreifen. Die Regelung erstreckt sich z. B. auf Fälle, bei denen auf Grund höherer Gewalt 1983 keine oder eine geringere Milchablieferung stattgefunden hat. Auch hier ist eine Härteregelung ohne Ausnahme sinnvoll.Aber die Härteregelungen sind so begrenzt, daß sie nur wirkliche Härtefälle betreffen. Im vorliegenden Fall handelt es sich aber um einen Abbaubetrieb. Das heißt, das Ehepaar, Landwirte in Norddeutschland, haben in eigener unternehmerischer Verantwortlichkeit entschieden, daß sie ihren Milchviehbetrieb abschaffen oder auf eine andere Produktion umsteigen. Dafür haben sie 1979 und 1981 auch noch Prämien für die Nichtvermarktung von Milch und Milcherzeugnissen kassiert. Jetzt nachträglich wieder eine Prämie für eine Quote zu verlangen, das kann, gelinde gesagt, als besonders pfiffig bezeichnet werden.Zusammenfassend sei festgestellt: Obwohl wir das System wirklich nicht für glücklich erachten, so
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8944 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Dr. Rumpfmuß doch konsequent gehandelt werden. Wir bleiben deshalb dabei, die Unterlagen nur als Material zu überweisen, vor allem auch deshalb, weil sich in den Petitionsunterlagen auch öfters der Name meines hochverehrten schleswig-holsteinischen Kollegen Eigen befindet, der die Petenten sogar aufgefordert hatte, den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages anzurufen. Dies, meine Damen und Herren, wird den Bundeslandwirtschaftsminister sehr interessieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Göhner.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPD-Fraktion
ist hervorragend geeignet, falsche Weichenstellungen europäischer Agrarpolitik früherer Jahre ebenso deutlich zu machen wie die dringende Notwendigkeit erfolgter Korrekturen.
Zunächst einmal der Fall: Ein 35-Hektar-Betrieb investiert mit Betriebsentwicklungsplänen und staatlichen Zuschüssen über eine Million DM in einen neuen großen Kuhstall, stellt die Milchproduktion wenige Jahre später — Herr Rumpf hat das gesagt — aus eigener unternehmerischer Entscheidung ein, kassiert dafür vom Staat 127 000 DM Abschlachtungsprämie.
Jetzt begehrt bei dieser Konstellation dieser Betrieb die Zuteilung einer Garantiemenge, einer Quote — jetzt wird es besonders spannend —, nicht, um selbst wieder Milch zu produzieren, nein, sondern um diese Quote anschließend bei der Verpachtung des Betriebes verkaufen zu können oder um sie verrenten zu können. Das allerdings ist ein Vorgang, verehrter Herr Kollege Wimmer, wo ich mir nicht vorstellen kann —
das sage ich gerade, weil sich der Kollege Oostergetelo eben zu einer Zwischenfrage gemeldet hat —, daß das allen Ernstes die Agrarpolitik ist, die Sie machen wollen. Ich stelle mir vor, was Sie sagen würden, wenn diese Bundesregierung eine Härtefallregelung geschaffen hätte, die in einem solchen Fall ermöglicht hätte, daß eine Quote geschaffen und anschließend vom Empfänger verkauft worden wäre.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Oostergetelo?
Wenn sie nicht auf die Redezeit angerechnet wird, gerne.
Nein, das wird nicht angerechnet.
Bitte sehr, sehr gern.
Herr Kollege, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß der Vorsitzende der FDP für die Freien Demokraten und Herr Oestmann, der Agrarsprecher der CDU aus Niedersachsen, für die CDU Norddeutschlands heute noch behaupten, daß sie alle gegen die Quotenregelung mit der Härtefallregelung, wie wir sie national ausgestaltet haben, gewesen sind und heute noch sind? Wollen Sie uns vormachen, daß diese Härteregelung, die jeden Kleinbauern, der keine Quoten hat, ausschließt, etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat?
Herr Kollege Oostergetelo, ich halte Ihnen zugute — das wird durch Ihre Frage deutlich —, daß Sie den Sachverhalt dieser Petition ganz offensichtlich nicht kennen.
Denn das, was Ihre Fraktion hier verlangt, ist eine Änderung der Garantiemengenverordnung, wonach dieser Petent eine Quote bekommen würde — nachdem er erst Zuschüsse zur Investition und dann eine Abschlachtungsprämie bekommen hat —, um sie anschließend verkaufen zu können. Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie allen Ernstes diese Forderung nach Änderung der Garantiemengenregelung rechtfertigen wollen.
Es geht aber noch weiter mit den Paradoxien, die Sie hier fordern. Im zweiten Teil der Petition wird eine Änderung von Richtlinien der früheren Bundesregierung gefordert. Nach dieser Regelung, soll derjenige, der eine Abschlachtprämie kassiert hat, nach Prämienannahme zehn Jahre lang von der Subventionierung oder Förderung einer erneuten Milchproduktion ausgenommen sein. Das wird in dieser Petition kritisiert. Und das wollen Sie allen Ernstes unterstützen? Ich glaube Ihnen gar nicht, daß Sie tatsächlich diese Agrarpolitik verfolgen wollen. Ich halte Ihnen geradezu zugute, daß das nicht das Ziel Ihrer Agrarpolitik ist.
Herr Kollege, ich darf Sie fragen, ob Sie eine weitere Zwischenfrage zulassen.
Da es nicht auf die Zeit angerechnet wird, gerne. Vielleicht gibt es wieder eine neue Vorlage.
Abgeordneter Oostergetelo, bitte.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Betriebe, die wie in diesem Fall wie in anderen Fällen, aus welchen Gründen auch immer, jetzt keine Quoten haben, keine Chance haben, neu anzufangen? Hier wird nicht gefragt, was die Ursache ist, sondern hier wird gesagt, daß niemand
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8945
Oostergetelomehr eine Zukunftsperspektive habe. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das auch für diesen Fall gilt?
Herr Kollege, diese Frage macht erneut deutlich, daß Sie den Fall offensichtlich leider nicht kennen, ja auch nicht kennen können. Es ging jetzt um die Änderung einer Richtlinie aus dem Jahre 1980, die Herr Ertl mit den damaligen Landesministern zur Nichtvermarktungsprämie vereinbart hatte. Die hat den Inhalt, daß nicht nach fünf Jahren jemand kommen und sagen kann: Jetzt will ich wieder produzieren und dafür Zuschüsse haben.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie das ändern wollen, Herr Oostergetelo.
Nun will ich Ihnen noch etwas dazu sagen, daß es keine Zukunftsperspektive mehr gäbe. Wohlgemerkt, hier geht es nicht um das Begehren, eine Quote zugeteilt zu bekommen, um eine Zukunftsperspektive auf diesem Hof zu haben. Nein, es geht darum, eine Ergänzung zur Landabgaberente entweder durch Milchrente oder durch Verpachtung oder Verkauf der Quote zu bekommen. Und ich sage noch einmal: Ich bin mir sicher, daß Sie das nicht im Ernst vertreten wollen.
Lassen Sie mich ein Wort zu der verfassungsrechtlichen Problematik sagen, die ich sehr ernst nehme. Die Milchgarantiemengenverordnung mag in einigen Punkten verfassungsmäßig bedenklich sein. Ich selbst habe in einigen Punkten Bedenken. Das Bundesverfassungsgericht wird das klären. Und wenn der Bauernverband einem Mitglied, das rechtliche Zweifel an einer solchen Verordnung hat, empfiehlt, sie gegebenenfalls gerichtlich klären zu lassen, halte ich das nicht nur für legitim, sondern für von der Aufgabe einer solchen Organisation her geradezu geboten.
Aber hier geht es darum, daß Sie Vertrauensschutz für denjenigen geltend machen, der Abschlachtungsprämie kassiert hat, und zwar nicht darauf, daß er wieder Milch produzieren darf, sondern darauf, daß er einen staatlich gestützten bestimmten Milchpreis bekommt.
Diesen Bedenken steht ein anderes verfassungsrechtliches Argument gegenüber: der durch eine Nichtvermarktungsprämie Begünstigte, der also Abschlachtungsprämie bekommen hat, kann doch wohl nach dem Gleichheitsgrundsatz nicht besser stehen als der, der auch keine Quote bekommen hat, und zwar nicht deshalb weil er Abschlachtungsprämie kassiert hat, sondern deshalb, weil er jahrelang keine Milch produziert hat.
Und schließlich: Wenn wir wieder eine Referenzmenge zur Verfügung hätten, die verteilt werden könnte — es wäre zu wünschen —, würden nach unserer Vorstellung vor der Verteilung von Quoten an Empfänger von Nichtvermarktungsprämien die Junglandwirte Vorrang haben, die eine Möglichkeit zur Entwicklung brauchen. Hier sehen wir ein ernstes Anliegen, das wir fördern wollen.
Im übrigen, meine Damen und Herren, die Milchmengengarantieverordnung hat einen entscheidenden politischen Vorteil. Sie bewirkt europaweit eine Produktionsbegrenzung. Wir sind nicht bereit, diesen wichtigen Fortschritt in Frage zu stellen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Meine Damen und Herren, wer dem Änderungsantrag der Faktion der SPD auf Drucksache 10/2838 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, den in der Sammelübersicht 64 enthaltenen Antrag anzunehmen, zuzustimmen wünscht, bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag des Petitionsausschusses ist angenommen.Ich rufe die Punkte 3 b und 3 c sowie den Zusatzpunkt der Tagesordnung auf:Beratung der Sammelübersicht 63 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/2793 —Beratung der Sammelübersicht 65 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen mit Statistik über die beim Deutschen Bundestag in der Zeit vom 29. März 1983 bis 31. Dezember 1984 eingegangenen Petitionen— Drucksache 10/2794 — Zusatzpunkt:Beratung der Sammelübersicht 66 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/2840 — Das Wort wird nicht erbeten.Wir kommen zur Abstimmung. — Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses, die in den Sammelübersichten 63, 65 und 66 enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dies ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf.Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Rheumabericht der Bundesregierung über die eingeleiteten Maßnahmen zur Rheumabekämpfung— Drucksachen 10/850, 10/2736 —Berichterstatter:Abgeordnete Frau Dr. Neumeister Frau Dr. LepsiusEimer
Frau Schoppe
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8946 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Vizepräsident Frau RengerMeine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt einen Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist so beschlossen.Zur Berichterstattung wird das Wort nicht gewünscht. Ich eröffne die Aussprache.Das Wort hat Frau Abgeordnete Lepsius.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren hat die damalige Bundesregierung einen ersten Bericht über Maßnahmen zur Rheumabekämpfung vorgelegt. Diesem Bericht waren parlamentarische Initiativen vorausgegangen, die bis in das Jahr 1974 zurückreichen.Ich möchte hier besonders die Verdienste meiner Kollegin Frau Dr. Neumeister, aber auch meines Kollegen Herrn Immer erwähnen, denn es ist selten, daß solche Initiativen interfraktionell auch tatsächlich Erfolg haben.
Diese Initiative war de facto erfolgreich. 1979 ist ein Unterausschuß zur Untersuchung der Methoden zur Bekämpfung der Rheumakrankheiten eingesetzt worden. — Was haben Sie, Herr Reddemann?
— Sehr gut. Ich dachte, Sie freuen sich über die kollegiale Zusammenarbeit hier im Hause zwischen Abgeordneten aller Fraktionen. —Der Unterausschuß hat in guter parlamentarischer Zusammenarbeit einen ersten Rheumabericht bewirkt. Dieser Geist der parlamentarischen Zusammenarbeit hat auch bei dem jetzt vorliegenden Entschließungsantrag Pate gestanden.Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion möchte ich es ausdrücklich begrüßen, daß die Arbeit bei der Beratung des fortgeschriebenen Rheumaberichts über die eingeleiteten Maßnahmen zur Rheumabekämpfung so einmütig erfolgen konnte. Wir waren uns darüber im klaren, daß in der Versorgung der rheumakranken Patienten noch immer eine ganz große Anzahl von Schwachstellen zu erkennen ist, daß umgekehrt aber auch einige positive Entwicklungen seit der Vorlage des ersten Rheumaberichts 1980 in Gang gesetzt werden konnten. In erster Linie gilt dies für die Selbsthilfegruppen der Deutschen Rheumaliga, für die Entwicklung der Forschung über Grundlagen, Früherkennung und Therapie von rheumatischen Leiden wie aber auch die Spezialisierung von Ärzten im Bereich der Rheumatologie.Lassen Sie mich einige Fragen besonders herausgreifen. Nach unserer Auffassung müßte die Rheumatologie in der ärztlichen Ausbildung stärker berücksichtigt werden. Ich meine, daß dies in der Tat in der in Arbeit befindlichen 5. Novelle zur Approbationsordnung für Ärzte geschehen könnte. Diese Chance sollten wir wahrnehmen.Die Entwicklung und Erprobung von Früherkennungs- und Frühdiagnoseverfahren bei rheumatischen Erkrankungen ist ein weiterer wichtiger Punkt. In kaum einem anderen medizinischen Bereich ist die Notwendigkeit stärkerer präventiver Maßnahmen dringlicher und einleuchtender. Wer die körperlichen Leiden und schmerzhaften Beeinträchtigungen von Rheumapatienten kennt, wird dies wahrscheinlich bestätigen.Dennoch, in wohl kaum einem anderen medizinischen Fachbereich ist die Entwicklung wirksamer präventiver Maßnahmen derzeit noch so ungewiß und unsicher wie in der Rheumatologie. Deshalb messen wir in unserer Entschließung der Entwicklun und Erprobung von Früherkennungsmaßnahmen und -diagnoseverfahren bei den Rheumaerkrankungen eine hohe Priorität bei. Nicht umsonst lautet j a der plausible Satz: Vorbeugen ist besser als Heilen. Das heißt eben nicht: Vorbeugen ist billiger als Heilen. Bei der gesundheitspolitischen Forderung, die Prävention zu verstärken, geht es uns in erster Linie darum, den humanitären Aspekt herauszustellen.Wichtig ist uns Sozialdemokraten auch besonders der Zusammenhang zwischen rheumatischer Erkrankung und Arbeitsplatz. Gibt es kausale Zusammenhänge zwischen der Gestaltung eines Arbeitsplatzes und dem Entstehen von Rheumakrankheiten? Gibt es Arbeitsplätze, die Rheumaerkrankungen bewirken oder ihr Entstehen begünstigen? In welchem Umfang kann eine Umgestaltung von Arbeitsplätzen rheumakranken Bürgern in der Tat helfen und ihr Arbeitsleben erleichtern? Hier wollen wir klar sehen.Nach unserer Auffassung bietet das Programm „Humanisierung des Arbeitslebens" den geeigneten Platz, die hier erforderlichen Forschungsnotwendigkeiten zu realisieren. Hier sollten in Zukunft stärkere Anstrengungen unternommen werden. Das würde vielen der betroffenen Bürger helfen und würde auch deren Selbstbewußtsein stärken.Ich möchte auch das Programm „Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit" hier noch besonders herausstellen, das nämlich die Förderung von Modellvorhaben für eine wohnortnahe und eine kontinuierliche Versorgung von Rheumakranken vorsieht.Ich möchte über die Erfahrungen am Beispiel des Landesrheumakrankenhauses in Baden-Baden berichten, das von dem sehr hochangesehenen Rheumatologen Professor Dr. Franke geleitet wird, der uns auch aus den Beratungen des Rheumaberichts und auch durch seine Mitarbeit in der Rheumaliga sehr wohl bekannt ist. Um Konsequenzen aus dem 1980 vorgelegten Rheumabericht zu ziehen, hatten wir uns damals in Baden-Baden vorgenommen, ein Modellprojekt durchzuführen, das schwerpunktmäßig die Scharniere zwischen stationärer und ambulanter Versorgung von Rheumakranken mit dem Ziel einer flächendeckenden Versorgung auch der ländlichen Regionen untersuchen sollte. Die Voraussetzungen waren, wie wir meinten, geradezu ideal.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985 8947
Frau Dr. LepsiusNun hatte ich angenommen, daß ein solches Modellprojekt auch von der baden-württembergischen Landesregierung unterstützt werden würde. Was aber ist geschehen? Gar nichts ist geschehen. Die Landesregierung in Baden-Württemberg war — aus welchen Gründen, will ich einmal dahingestellt lassen — nicht zu einer finanziellen Unterstützung des Projektes im Wege einer Mischfinanzierung Bund/ Land bereit.Deswegen erlauben Sie mir an diesem systematischen Punkt einen kritischen Hinweis, inwieweit die vom Bund bislang geförderten wichtigen Modellmaßnahmen vorangetrieben werden können. Nach früherem Recht besaß der Bund die Möglichkeit, im Rahmen des Krankenhausfinanzierungsgesetzes Modellmaßnahmen finanziell zu unterstützen. Die Ende des vergangenen Jahres abgeschlossene Novellierung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes macht dies nun in Zukunft unmöglich.Im Zuge des Abbaus der Mischfinanzierung zwischen Bund und Ländern ist dem Bund die Möglichkeit genommen worden, solche Modelle zu fördern. Sie wissen, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion die Aufhebung der Mischfinanzierung abgelehnt hat. Die Mehrheit im Bundesrat und hier in diesem Bundestag hat die Aufhebung dieser Mischfinanzierung in einem Hauruckverfahren durchgepeitscht. Wir bedauern das; ich stelle das hier noch einmal ausdrücklich fest.
Es ist in gewisser Weise eine Ironie der Geschichte; denn gemeinsam mit den Fachleuten bemüht sich der Bund — wir tun das auch hier mit diesem Rheumabericht —, Initialzündungen und überregionale Entwicklungen zu fördern, um hier in diesem Bereich auch aus der Provinzialität herauszukommen. Gleichzeitig kann der Bund nicht mehr auf ständig zur Verfügung stehende Haushaltsmittel nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz zurückgreifen, sondern er muß Projekte — das wird künftig so sein müssen — über einzelne Haushaltsansätze finanzieren.Wir können diese Entwicklung nicht zurückdrehen, aber wir können die Bundesländer und die Bundesregierung mit Nachdruck an ihre Verantwortung erinnern. In unserem Bericht haben wir deshalb ausdrücklich darauf verwiesen, daß es beschleunigt zu einer Neuordnung der Finanzhilfen von Bund und Ländern zur Durchführung von Modellmaßnahmen kommen muß.Damit möchte ich meine Ausführungen abschließen. Wir schulden dies den Patienten, aber wir schulden es genauso den engagierten Ärzten, den Kliniken, den Kommunen, die sich in diesem Bereich tätig einsetzen. Die müssen letzten Endes wissen, woran sie sind. In diesem Sinne stimmt die sozialdemokratische Bundestagsfraktion der Entschließung zu.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Neumeister.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Bundesregierung über die eingeleiteten Maßnahmen zur Rheumabekämpfung zeigt doch sehr deutlich, daß die parlamentarischen Initiativen der 70er Jahre eindeutig dazu beigetragen haben, den für das Gesundheitswesen Verantwortlichen die unbefriedigende Situation der vielen Rheumakranken vor Augen zu führen, sie insgesamt problembewußter zu machen und Wege zu einer Besserung des unhaltbaren Zustandes aufzuzeigen.Das politische Interesse allerdings konnte erst geweckt werden, nachdem angesichts der nicht mehr zu bremsenden Kostenexpansion im Gesundheitswesen auch die volkswirtschaftliche Belastung durch die Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises erkannt wurde. Erst später — gewissermaßen als Nebenprodukt — wuchs die Erkenntnis, daß diese Erkrankungen nicht allein finanzielle Probleme aufwerfen, sondern daß bei den schwer Rheumakranken, die zwar an ihrer Krankheit nicht sterben, infolge der fortschreitenden Behinderung und des lebenslangen Kampfes um die Erhaltung der Funktionen doch erhebliche psychische Gesichtspunkte mitspielen, die die ganze Persönlichkeit des Patienten und seine Biographie betreffen. Es war ein Lernprozeß bei den Politikern notwendig, daß Gesetzesänderungen bei der Beseitigung von Schwachstellen allein nicht ausreichen, sondern daß die menschliche, die mitmenschliche Komponente sowie die Aktivierung des chronisch Kranken durch individuelle Hilfe zur Selbsthilfe nicht vernachlässigt werden dürfen.Die ersten Erfolge waren aber unübersehbar: Die Bundesregierung erarbeitete 1980 einen vielbeachteten Rheumabericht und zeichnete schonungslos vorhandene Schwachstellen auf, die Ärzteschaft beschäftigte sich im Rahmen ihrer Fortbildung vermehrt und ernsthaft mit den Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises und beschloß, die Rheumatologie in ihre Weiterbildung aufzunehmen, und seitdem haben wir jetzt auch die Teilgebietsbezeichnung: Rheumatologie für besonders in einem Fach ausgebildete Ärzte.Die Sozialversicherungsträger schalteten sich verstärkt durch bessere Information wie durch größere Flexibilität bei der Finanzierung spezieller Leistungen für Rheumakranke ein. Da haben wir als letztes, besonders hervorzuhebendes Beispiel die Anerkennung und die Finanzierung gruppentherapeutischer Maßnahmen.Das Forschungsministerium nahm die rheumatischen Erkrankungen als weiteren Schwerpunkt neben Krebs in sein Forschungsprogramm auf. So wurden Projekte entwickelt, die eine koordinierte, wohnortnahe und so weit wie möglich ambulante Versorgung des Rheumakranken ermöglichten.Die Massenmedien wurden aufmerksam und berichteten in Presse, Rundfunk und Fernsehen in ihren Gesundheitsrubriken bzw. -sendungen häufiger und sachlich über die rheumatischen Erkrankungen. Dafür sei ihnen ganz besonderer Dank gesagt.
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8948 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Frau Dr. NeumeisterVor allem aber ist es zu einem sachbezogenen Dialog zwischen Ärzteverbänden verschiedener Disziplinen und zu verstärkter Kooperation mit den sich sowohl zahlenmäßig wie auch aktionsintensiv stürmisch entwickelnden Selbsthilfegruppen der Rheumakranken gekommen, nämlich der Deutschen Rheumaliga.All diese Erfolge aber dürfen uns nicht von den noch bestehenden Schwachstellen ablenken. So hat das Parlament erneut, und zwar in einer einstimmig gefaßten Beschlußempfehlung der Ausschüsse, deutlich auf die Bereiche hingewiesen, in denen auf dem Gebiete der Rheumabekämpfung noch politischer Handlungsbedarf besteht. Ausgehend von der Erkenntnis, daß grundlegende, über organisatorische Maßnahmen hinausgehende Verbesserungen der Versorgung nur durch weitere Aufklärung von Ursachen, also durch wissenschaftliche Forschung erreicht werden, wird eine weitere Verstärkung der Forschungsaktivitäten gefordert. Hierbei wäre es notwendig, das bestehende Schwerpunktprogramm auf einer klar erkennbaren Gesamtkonzeption aufzubauen und in dieser Konzeption eine direkte und intensive Verbindung zwischen Grundlagenforschung und klinisch-rheumatologischer Forschung zu ermöglichen.Da aber auf Grund des Fehlens selbständiger Abteilungen für Rheumakranke in den Universitäten eine klinische Rheumaforschung bisher kaum möglich war, wird eine Intensivierung der Zusammenarbeit von Universitäten und den vorhandenen Rheumakliniken gefordert. Das ist einfach notwendig. Unsere Rheumakliniken liegen vor allen Dingen in den Kurorten und werden sehr häufig nicht als wissenschaftliche Institutionen anerkannt. Es ist notwendig, daß wir auf Grund der Entwicklung, die die Rheumatologie bei uns in der Bundesrepublik Deutschland genommen hat, auch die Kliniken in den Kurorten anerkennen und die intensive Zusammenarbeit mit den Universitäten vorantreiben.Damit könnte dann auch zugleich die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der Rheumatologie in der Ausbildung der Medizinstudenten verwirklicht werden, die auch schon von Frau Lepsius angesprochen wurde. Schließlich ist es notwendig, daß dem jungen niedergelassenen Arzt zumindest ein Basiswissen über die rheumatischen Erkrankungen vermittelt wird. Wir können uns ein gutes Beispiel an der Schweiz nehmen, wo die Rheumatologie dem Studenten als Gesamtprojekt dargestellt und nicht wie bei uns in viele einzelne Fragen aufgeteilt wird, die in dem Fragenkatalog des Multiple-Choice-Verfahrens verschwinden. In der Schweiz ist das also ein Prüfungsfach, und daher beschäftigen sich die Medizinstudenten dort auch intensiver mit diesem Fach.In den für den Rheumabericht zuständigen Ausschüssen wurde beschlossen — das halte ich auch bei knapper Zeit für erwähnenswert —, daß bei allen Forschungsaktivitäten auch unkonventionelle, alternative Behandlungsmethoden Berücksichtigung finden sollen. Ich halte es aber ebenfalls für erforderlich, daß sich die Forschungsförderung nicht allein auf die entzündlichen rheumatischenErkrankungen konzentriert. Die weichteilrheumatischen Erkrankungen, die ja zahlenmäßig gegenüber den entzündlichen weit überwiegen und damit eigentlich die rheumatischen Erkrankungen erst zur sogenannten Volkskrankheit machen, müssen bei der Forschungsförderung mit erfaßt werden.In diesem Zusammenhang beklagte z. B. Professor Zeidler aus Düsseldorf bei einem Hearing im Forschungsministerium die bestehenden Defizite in der epidemiologischen Erforschung sämtlicher rheumatischer Erkrankungen und in der psychosomatischen Erforschung der wichtigen weichteilrheumatischen Syndrome.Sicherlich bietet sich hier auch eine der wenigen Möglichkeiten zur Prävention. Hier komme ich auf dasselbe Thema wie meine Vorrednerin, Frau Dr. Lepsius. Wir sind uns völlig einig, daß wir uns sehr viel mehr dem Arbeitsplatz zuwenden müssen. Viel öfter müßte die Frage gestellt werden, ob die Verhältnisse, unter denen wir arbeiten, nicht gelegentlich zum Entstehen von rheumatischen Symptomen, von Beschwerden oder Krankheiten beitragen, zumal ja bei den Arbeitsplätzen unserer Zeit erheblich stärker die Monotonie und die Stereotypie der Arbeitshaltung und der Arbeitsabläufe als die effektive Belastung im Vordergrund stehen.Wir sprechen sehr viel von der Humanisierung des Arbeitsplatzes, meine Damen und Herren. Wir dürfen dieses Motto nicht zum Schlagwort verkümmern lassen und sollten es lieber praktisch durch eine der Physiologie des Körpers gerechtere Arbeitsplatzgestaltung mit Leben erfüllen. Manche Arbeitsunfähigkeit und schließlich Frühberentung könnte dadurch vermieden werden.Es muß doch möglich sein, die Arbeitsplätze dem Menschen anzupassen und letztendlich so zu gestalten, daß sie ursächlich nicht zu rheumatischen Erkrankungen führen, daß aber auch ein Rheumakranker daran arbeiten kann. Das bedeutet leistungsangepaßte Arbeitsplätze, zugleich aber — das ist ja auch ein Thema unserer Zeit — leistungsangepaßte Arbeitszeiten, also mehr Teilzeitarbeit.In der Beschlußempfehlung wird erneut auf die Notwendigkeit der Kooperation aller an der Versorgung der Rheumakranken beteiligten Berufsgruppen hingewiesen. Nur durch eine solche Zusammenarbeit können die in den vergangenen Jahren auch in diesem Hause immer wieder geforderte kontinuierliche wohnortnahe Versorgung des Rheumakranken und seine aktive Einbindung in dieses Konzept verwirklicht werden.Es bedarf dazu sicherlich des Verständnisses und der Unterstützung einmal durch den Staat, durch Versicherungsträger und in besonderem Maße der Zusammenarbeit mit den Ärzten.Das Wichtigste aber bleibt — daher ist die Forderung nach mehr Information über die rheumatischen Erkrankungen voll zu begrüßen —, daß sich genügend Menschen zur Verfügung stellen, die ehrenamtlich und aus innerer Überzeugung heraus bereit sind, den chronisch Kranken, nämlich den Rheumakranken, die einer lebenslangen Behandlung und Unterstützung bedürfen, Hilfen zu geben
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Frau Dr. Neumeisterund ihnen den Weg zu erleichtern. Nur so werden sie den Mut zur Selbsthilfe aufbringen können. Nur so werden sie davor bewahrt werden, sich in die Isolation abdrängen zu lassen.Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß unser allseitiges Bemühen dazu beitragen wird, daß das Verständnis für die schwierige Situation der chronisch Rheumakranken und zugleich die Bereitschaft, ihnen zu helfen, wachsen. In einem weiteren Rheumabericht Ende 1987 wird hoffentlich über die erfolgreiche Verwirklichung dieser Vorgaben berichtet werden können, wenn Sie, meine Damen und Herren, sich in der vorhandenen riesengroßen Zahl hinter diesen Beschluß stellen.Mit besonderer Freude muß ich immer wieder sagen, daß diese Beschlüsse interfraktionell laufen. Es geht in diesem Hohen Hause also auch so, daß wir uns einig sind.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eimer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Dr. Lepsius und Frau Dr. Neumeister haben zu einem Thema gesprochen, zu dem es keine politischen Differenzen gibt. Ich stimme auch mit den Ausführungen meiner Vorrednerinnen überein, mit Ausnahme dessen, was Frau Dr. Lepsius in einigen Punkten zu dem Thema Modellversuche ausgeführt hat.
Ich meine, daß wir einen klaren Bericht erstattet haben. Deshalb kann ich von mir aus auf längere Ausführungen verzichten.
Vielen Dank.
Das Haus dankt dem verehrten Herrn Kollegen. Ich schließe damit die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit auf Drucksache 10/2736 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmige Annahme.Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes vom 10. Februar 1976 zu dem Übereinkommen vom 2. Dezember 1972 über sichere Container— Drucksache 10/2595 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 10/2795 —Berichterstatter: Abgeordneter Drabiniok
Der Berichterstatter wünscht nicht das Wort. Eine Aussprache wird auch nicht gewünscht.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Oberschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dies ist angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieses Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und anderer Gesetze— Drucksache 10/2652 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Ausschuß für VerkehrDas Wort wird nicht erbeten.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/2652 zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Verkehr zu überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für das Post- und Fernmeldewesen zu dem Antrag der Abgeordneten Liedtke, Paterna, Bernrath, Berschkeit, Kretkowski, Roth, Walther, Amling, Frau Blunck, Büchler (Hof), Daubertshäuser, Ewen, Gerstl (Passau), Heistermann, Huonker, Jahn (Marburg), Jansen, Dr. Jens, Junghans, Jungmann, Kißlinger, Dr. Klejdzinski, Kuhlwein, Lohmann (Witten), Frau Dr. Martiny-Glotz, Meininghaus, Müntefering, Frau Odendahl, Purps, Reuschenbach, Reuter, Dr. Schwenk (Stade), Dr. Soell, Dr. Sperling, Stahl (Kempen), Dr. Steger, Frau Steinhauer, Frau Terborg, Tietjen, Dr. Wernitz, Frau Weyel, von der Wiesche, Wimmer (Neuötting), Wolfram (Recklinghausen), Zeitler, Frau Zutt und der Fraktion der SPD Ausdehnung der Fernsprechnahbereiche— Drucksachen 10/1504, 10/2647 —Berichterstatter:Abgeordneter Bühler
Der Berichterstatter wünscht das Wort nicht. Das Wort zur Aussprache wird auch nicht erbeten.Wer der Beschlußempfehlung des Aussschusses für das Post- und Fernmeldewesen auf Drucksache
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8950 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 120. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1985
Vizepräsident Frau Renger10/2647 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dies ist mit Mehrheit angenommen.Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Siebenundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 10/2361, 10/2796 —Berichterstatter: Abgeordneter KittelmannDer Berichterstatter wünscht nicht das Wort. Auch zur Aussprache wird das Wort nicht erbeten.Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 10/2796 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen.Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Wirtschaft
zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
— Drucksachen 10/2116, 10/2797 —Berichterstatter:Abgeordneter Dr. MitzscherlingDas Wort wird nicht erbeten.Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 10/2797 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen.Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angekommen.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8 Februar 1985, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.