Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Sammelübersicht 62 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 8/3696 —
b) Beratung der Sammelübersicht 63 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 8/3711 —
Das Wort zur Berichterstattung hat der Abgeordnete Dr. von Geldern.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden." Dieses Grundrecht des Art. 17 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland begründet die Arbeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages, über die zu berichten ich heute die Ehre und die Freude habe.Das Petitionsrecht wird in steigendem Maße von den Bürgern in Anspruch genommen. Waren es zu Beginn der 70er Jahre noch 6 000 bis 7 000 Eingaben, die uns erreichten, so haben wir für 1979 eine Verdoppelung auf nahezu 13 000 zu registrieren. Insgesamt haben sich seit dem Bestehen des Deutschen Bundestages in drei Jahrzehnten rund eine Viertel Million Bürger an uns gewandt. Da das, wie gesagt, in steigendem Maße geschieht, dürfen wir darin neben einem wachsenden kritischen Bewußtsein der Öffentlichkeit und neben dem Erfolg einer verstärkten Aufklärungsarbeit, für die ich ganz besonders auch den Medien herzlichen Dank sagen möchte, wohl auch einen Beweis des Vertrauens in die Volksvertretung sehen. Das tut dem Parlament, dem sonst gerne ein Ansehensschwund attestiert wird, wie ich finde, sicherlich gut.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unseres Ausschußbüros möchte ich danken. Sie hatten auch 1979 eine große Arbeitsbelastung zu bewältigen. Wir verzeichneten immerhin rund 25 000 Posteingänge und rund 50 000 Postausgänge.Die personelle Besetzung des Ausschußbüros ist nach wie vor nicht ausreichend, obwohl 1979 der Ausschußhilfsdienst um zwei Mitarbeiter vergrößert werden konnte. Immer noch kommen Petitionen zu spät zur Beratung in den Ausschuß. Das muß geändert werden. Der Mitbürger, der sein Grundrecht auf Anrufung des Deutschen Bundestages in Anspruch nimmt, muß erwarten können, daß er in angemessener Zeit einen Bescheid erhält. Das Sprichwort „Wer schnell gibt, gibt doppelt" hat gerade im Petitionsbereich seinen guten Sinn. Wir müssen dahin kommen, daß wir dieser Maxime, die für alles Handeln in öffentlicher Verantwortung gelten sollte, künftig besser gerecht werden können.
Auch für die Ausschußmitglieder selbst stellt die Arbeit im Petitionsausschuß eine erhebliche, wenn auch gerne übernommene Verpflichtung dar. Die 27 Ausschußmitglieder nahmen im vergangenen Jahr in 2 700 Fällen die verantwortungsvolle Aufgabe der Berichterstattung wahr. Wenn Sie bedenken, wie viele persönliche Hoffnungen, Wünsche, Sorgen, Nöte der Bürger hinter diesen statistischen Zahlen stecken, dann wird Ihnen sicher die Bedeutung und Belastung, aber auch das Erfreuliche an dieser Tätigkeit für die Mitbürger bewußt.Die Statistik weist auch aus, daß 1979 rund 1 000 Anregungen zur Gesetzgebung eingingen. Das zeigt, daß auch diese Möglichkeit, die ebenfalls den vollen Schutz des Grundrechts auf Petitionen genießt, nämlich über den persönlichen Bereich hinaus Vorschläge und Ideen an den Gesetzgeber auf unkomplizierte Weise heranzutragen, von den Bürgern in großem Umfang wahrgenommen wird. Die meisten dieser Bitten zur Gesetzgebung überweist der Ausschuß der Bundesregierung als Material für die künftige Gesetzgebung. Bezieht sich eine Eingabe aber auf einen bereits im Deutschen Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf, so leiten wir sie dem zuständigen Fachausschuß zu. Hier wollen wir für die Zukunft durch eine entsprechende Formulierung in der neuen Geschäftsordnung sicherstellen, daß der Petent nicht nur eine Mitteilung über diese
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Dr. von GeldernAbgabe an den Fachausschuß erhält, sondern auch darüber unterrichtet wird, ob und wieweit seine Eingabe bei den Gesetzgebungsberatungen berücksichtigt werden konnte. Dies wird zwar sowohl für den Petitionsausschuß als auch für die Fachausschüsse eine gewisse Mehrarbeit mit sich bringen. Wir meinen aber, daß es der Bedeutung des Petitionsrechts auch auf dem Gebiet der Gesetzgebung gerecht wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun kurz über die wichtigsten Ereignisse aus der Ausschußarbeit der letzten Wochen berichten. Am 23. Januar haben wir uns eingehend mit verschiedenen Petitionen beschäftigt, in denen Kritik an dem medizinischen Gutachterwesen in der Sozialversicherung geübt worden war. Die hier aufgetretenen Mängel hatten uns veranlaßt, diese Fälle in Anwesenheit des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung sowie mit Spitzenvertretern der Rentenversicherungsträger ausführlich zu erörtern. Bei dieser Sitzung haben wir drei Fallgruppen angesprochen. Zum ersten handelte es sich um Fälle, in denen die Sozialversicherungsträger Leistungsanträge des Versicherten auf Grund eines von ihnen selbst erstellten bzw. eingeholten medizinischen Gutachtens abgelehnt hatten, in denen dann aber im anschließenden Sozialgerichtsverfahren auf Grund erneuter Begutachtung eine Leistungsverpflichtung festgestellt wurde.Die in der Sitzung aufgeworfene Frage nach der Häufigkeit solcher Fälle konnte zwar noch nicht eindeutig beantwortet werden, da eine spezielle Statistik hierfür noch nicht vorliegt; sie wurde uns allerdings für die Zukunft zugesagt. Immerhin gewann der Ausschuß den Eindruck, daß die Zahl erfolgreicher Klagen zu hoch sei und durch verbesserte Begutachtung im Verwaltungsverfahren manche Klagen überflüssig gemacht werden könnten.Das Schwergewicht unserer Beratung lag auf dem zweiten Komplex, nämlich der Dauer der Gutachterverfahren. Hier ist wieder der wichtige Zeitfaktor angesprochen. Wir haben die Rentenversicherungsträger darauf hingewiesen, daß die lange Dauer mancher Gutachterverfahren teilweise an Rechtsverweigerung grenzt. Wenn über einen Antrag auf Feststellung der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit erst nach Jahren entschieden wird, kann der Betroffene in der Zwischenzeit nicht den Rechtsweg beschreiten, ganz abgesehen von den erheblichen finanziellen Nachteilen. Die Sozialversicherungsträger haben hier organisatorische Verbesserungen in Aussicht gestellt. Vor allem soll mit größerem Nachdruck auf die rechtzeitige Vorlage der medizinischen Gutachten gedrängt werden.Im letzten Teil unserer Beratung ging es um Nachteile, die manche Rentenantragsteller dadurch erleiden, daß bereits vorliegende Gutachten anderer Leistungsträger nicht oder nicht rechtzeitig beigezogen werden. In einem Fall ist monatelang über einen Antrag nicht entschieden worden, weil die Akte in einem anderen Verfahren benötigt wurde. Auch hier ist uns zugesichert worden, daß die Mängel durch organisatorische Maßnahmen abgestellt werden.Insgesamt hat die Sitzung eine Reihe von erfreulichen Klärungen gebracht, die den Versicherten zugute kommen werden, die Anspruch auf Erwerbsoder Berufsunfähigkeitsrente haben. Wir meinen, daß ein Sozialstaat gerade diesen Mitbürgern beistehen muß, die zum einen mit ihrer Erkrankung, zum anderen mit den finanziellen Nachteilen der Arbeitsunfähigkeit fertig werden müssen.
Meine Damen und Herren, an einer anderen Petition, deren Bearbeitung immerhin 15 Monate in Anspruch nahm, möchte ich Ihnen zeigen, daß gegenüber den Behörden manchmal große Hartnäckigkeit notwendig ist und schließlich zum Erfolg führt. Ein junger Mann war von der Deutschen Bundesbahn als Anwärter für den mittleren Dienst eingestellt und zwei Jahre später zum Beamten auf Probe ernannt worden. Danach leistete er den Wehrdienst ab. Seine anschließende Einstellung als Lebenszeitbeamter wurde aber zunächst zweimal verschoben und schließlich ganz abgelehnt, und zwar mit der Begründung, der Mann sei auf einem Ohr schwerhörig — durch den Wehrdienst bei der Bundesmarine verursacht oder verschlimmert — und könne deshalb bei der Bundesbahn, wo es sehr viel Außendienst gebe, nicht voll eingesetzt werden. Die Bundesbahn wollte den Beamten daher entlassen.Die Entscheidung schien auf den ersten Blick gerechtfertigt zu sein. Dennoch habe ich mich als Berichterstatter dafür eingesetzt, hier nach einer Lösungsmöglichkeit zu suchen. Meines Erachtens war es nicht vertretbar, einen Mann, der bereits fünf Jahre lang im Dienst der Deutschen Bundesbahn gestanden und sich dort untadelig gezeigt hatte, wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung aus dem Dienst zu entlassen, die sich während des Wehrdienstes ergeben hatte. Wir haben uns daher eingehend mit diesem Fall beschäftigt und schließlich den Präsidenten der zuständigen Bundesbahndirektion vor den Ausschuß geladen. Die Bundesbahn hat sich nach anfänglichem Zögern bereit erklärt, den Mann zum Beamten auf Lebenszeit zu ernennen. Es hat sich auch eine gute Verwendungsmöglichkeit für ihn gefunden. Wir konnten also helfen.
Aus einem ganz anderen Gebiet stammt eine Eingabe, die wir im Dezember 1979 teilweise der Bundesregierung zur Erwägung überwiesen haben. Ein Mitbürger hatte vorgeschlagen, für die Insassen von Flugzeugen privater Luftfahrzeughalter eine gesetzliche Unfallversicherung zu schaffen. Eine derartige Pflicht besteht außerhalb des gewerblichen Flugverkehrs nicht. Die privaten Flugzeughalter haben daher in der Regel keine Unfallversicherung zugunsten der Fluggäste abgeschlossen. Dies gilt vor allem bei kostenloser Mitnahme, also bei Gefälligkeitsflügen. Hier wird in der Regel jede Haftung gegenüber dem Fluggast ausgeschlossen. Die Insassen wissen aber häufig nicht, daß sie bei diesen
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Dr. von GeldernFlügen nicht versichert sind. Andere Versicherungen ersetzen die bei Flugunfällen entstehenden Schäden nicht, so daß unter Umständen große Kosten von den Betroffenen selbst getragen werden müssen.Der Ausschuß war der Meinung, daß hier zwar aus verschiedenen Gründen kein gesetzliche Versicherungspflicht des Flugzeughalters geschaffen werden sollte; wir haben aber die Bundesregierung aufgefordert, darauf hinzuwirken, daß die Flugzeughalter ihre Fluggäste ausdrücklich darauf hinweisen, daß für sie kein Versicherungsschutz bei Unfällen besteht.
Die Insassen können dann selbst entscheiden, ob sie eine Zusatzversicherung für den Flug abschließen wollen oder nicht. Inzwischen hat sich die Bundesregierung bereit erklärt, in Fachzeitschriften und anderen Publikationen entsprechende Hinweise zu veröffentlichen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte zum Abschluß auf eine Petition zu sprechen kommen, die mich als Berichterstatter ganz besonders berührt hat, die mir unter die Haut gegangen ist. Ich möchte — gerade weil diese Angelegenheit noch nicht abgeschlossen werden konnte — das Problem der rußlanddeutschen Aussiedler ansprechen. Der Petitionsausschuß beschäftigt sich damit seit mehr als zwei Jahren.Die während des Zweiten Weltkrieges aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten in Rußland in das Reichsgebiet umgesiedelten und nach Kriegsende von der sowjetischen Besatzungsmacht verhafteten, zwangsweise nach Rußland verbrachten und bis 1955/56 in Arbeitslagern festgehaltenen Rußlanddeutschen durften sich nach ihrer Entlassung aus der Lagerhaft zwar an anderer Stelle, aber nicht in ihrem früheren Heimatgebiet in der Sowjetunion niederlassen. Durch eine unerwartete Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Häftlingshilfegesetz im Sommer 1977 erhalten diese Deutschen, wenn sie jetzt nach langwierigen, teuren und erniedrigenden Antragstellungen und Verfahren in die Bundesrepublik Deutschland aussiedeln dürfen, nicht mehr die früheren Höchstbeträge der Eingliederungshilfe, weil sie plötzlich nicht mehr als politische Häftlinge im Sinne des Gesetzes gelten.Durch die Einschaltung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages konnte zunächst einmal erreicht werden, daß der Bundesinnenminister für den Fall, daß sich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht erneut — dann zum Positiven — ändert, eine Initiative zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes oder des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes in Aussicht gestellt hat.Als sich aber bei unseren weiteren Beratungen herausstellte, daß die Betroffenen von den zuständigen Verwaltungsbehörden in der Zwischenzeit schlicht ablehnende Bescheide erhielten, auf Grund derer sie befürchten mußten, ihre schwierige Lage werde endgültig sein, hat sich der Ausschuß mit Erfolg dafür eingesetzt, daß die Betroffenen, die es ohnehin schwer genug haben, sich bei uns zurechtzufinden, in offiziellen Begleitbriefen, die den Bescheiden über die Eingliederungshilfe beigefügt werden, über die politische Absicht unterrichtet werden, eine Verbesserung ihrer Lage zu erreichen, eine Verbesserung, die ihnen übrigens rückwirkend zugute kommen soll. Notwendig bleibt die baldige Klärung der unbefriedigenden Situation. Die betroffenen rußlanddeutschen Aussiedler dürfen der Aufmerksamkeit und der Hilfsbereitschaft des Petitionsausschusses gewiß sein.Meine Damen und Herren, ich bitte nunmehr um Ihre Zustimmung zu den Ihnen vorliegenden Sammelübersichten 62 und 63.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Meine Damen und Herren, hierzu liegen Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 8/3696 und 8/3711 vor. Wer den darin enthaltenen Anträgen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Anträge sind einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz gegen Verkehrslärm an Straßen und Schienenwegen — Verkehrslärmschutzgesetz —
— Drucksache 8/1671 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/3731 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Müller
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
— Drucksache 8/3730 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Jobst
Hierzu hat der Berichterstatter, der Herr Abgeordnete Dr. Jobst, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Verkehrslärmschutzgesetz, das Ihnen heute zur Annahme vorliegt, ist von weitreichender Bedeutung für große Teile unseres Volkes in Stadt und Land. In dieser umweltbewußten Zeit fühlen sich immer mehr Menschen in ihrem Wohlbefinden, ja, in ihrer Gesundheit durch den Lärm und die Geräusche unseres technischen Zeitalters beeinträchtigt. Der Ver- kehrslärm hat in vielen Gemeinden einen Grad erreicht, der im Interesse der betroffenen Bürger nicht mehr länger hingenommen werden kann. Jedermann weiß, daß die Lärmbelästigung in Großstädten und Ballungsräumen im allgemeinen größer ist als auf dem flachen Land und daß alte Leute lärmempfindlicher sind als die Jugend. Der Verkehrslärm ist
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Dr. Jobstin der Bundesrepublik heute die bedeutendste Umweltbelästigung überhaupt, und hier ist es wieder der Straßen- und Schienenlärm, der die meisten Bürger stört.Wir müssen davon ausgehen, daß sich ein Viertel bis ein Drittel der Einwohner unseres Landes allein vom Straßenlärm belästigt, zum Teil sogar gequält fühlt; das sind 15 bis 20 Millionen Menschen. Kein Wunder, daß der Straßenverkehrslärm bei uns der Hauptgrund jeder negativen Umweltbewertung ist. Er wird am häufigsten genannt, wenn Bürger nach Gründen ihrer Umzugswünsche gefragt werden, und trägt unzweifelhaft zur Verödung der Innenstädte und Ortskerne bei.Bei dieser Sachlage kann es nicht überraschen, daß der Verkehrslärm auch besonders häufig der Anlaß für die Bildung von Bürgerinitiativen ist, von denen sehr viele die Einstellung oder Umplanung von Straßen- oder Schienenbauten verlangen. Es geht also um die Frage, welche Verkehrslärmbelästigung dem Bürger zugemutet werden kann, der in der Nähe der Verkehrswege wohnt oder arbeitet. Aber auch zunehmenden Lärm an schon vorhandenen Verkehrswegen will der umweltbewußte Bürger immer weniger hinnehmen.Das Immissionsschutzgesetz von 1974 kann die Problematik nicht lösen, weil es keine Lärmgrenzwerte enthält, die für Ärzte und Straßenbauer, für die Bürger und für die Gerichte gleichermaßen verbindlich sind. Es hat sich daher in den letzten Jahren eine erhebliche Unsicherheit breitgemacht, bei den Bürgern ebenso wie bei der planenden Verwaltung von Bund, Ländern und Gemeinden. In welchen Fällen und inwieweit muß der Verkehrslärm hingenommen werden? Wann und in welchem Umfang und in welcher Weise kann der Bürger dagegen besondere Lärmschutzmaßnahmen verlangen? Auch die von den Bürgern angerufenen Gerichte fordern seit Jahren zu solchen Fragen eindeutige Antworten des Gesetzgebers.Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, der Ihnen jetzt vorliegt, soll eine Antwort auf diese Fragen geben. Dabei muß ich aber gleich eine wichtige Einschränkung machen: Das Gesetz regelt im wesentlichen nur Lärmschutzmaßnahmen des Baubereichs, also investive Maßnahmen. Er befaßt sich nicht mit der Bekämpfung des Lärms an der Quelle, d. h. nicht mit der Konstruktion und dem Bau leiserer Fahrzeuge, nicht mit einer besseren Planung und Lenkung des Verkehrsablaufs, auch nicht verstärkter polizeilicher Überwachung des Lärmverhaltens der Verkehrsteilnehmer und mit sonstigen Maßnahmen zur Lärmminderung. Diese Dinge sind Gegenstand eines besonderen Entschließungsantrages an die Bundesregierung, dessen Annahme Ihnen der Verkehrsausschuß empfiehlt. Aber auch mit dieser Einschränkung bleibt das Verkehrslärmschutzgesetz eines der bedeutendsten Gesetze der letzten Jahre. Es gilt, einen Interessenausgleich zwischen den Fragen des Umweltschutzes, der Stadtplanung, dem notwendigen Straßenbau und den finanziellen Möglichkeiten zu finden.Das Gesetz hat seine Grundlage in einem Entwurf der Bundesregierung vom März 1978. Der Entwurf hat im Verlauf des bisherigen Gesetzgebungsverfahrens ungewöhnlich viele und weitgehende Änderungen erfahren. Diese beruhen nicht nur auf abweichenden Anregungen, die schon der Bundesrat gegeben hat, vielmehr haben die insgesamt mit dem Gesetz befaßten fünf Ausschüsse des Hauses aus eigener Initiative eine lange Reihe wesentlicher Verbesserungen und Ergänzungen neu erarbeitet und beschlossen. Sie haben sich ihre Arbeit nicht leichtgemacht. Vom Regierungsentwurf bleiben nur die Berlin-Klausel und die Übergangsregelungen übrig.Zunächst haben sie sich um eine breitere Entscheidungsgrundlage bemüht, indem sie im Sommer und Herbst 1978 eines der größten Anhörungsverfahren veranstaltet haben, das im Deutschen Bundestag bisher durchgeführt wurde. 58 Sachverständige — darunter Gelehrte, Praktiker, Verbandssprecher und Beamte — haben sich zunächst schriftlich zu 70 Fragen geäußert, die ihnen die Ausschüsse dieses Hauses in Form eines Fragebogens gestellt haben. Diese schriftlichen Äußerungen füllten über 1000 Druckseiten. Die Fragen bezogen sich im wesentlichen auf die Gebiete der Medizin, des Umweltschutzes, des Planungsverfahrens, der Bautechnik, der Rechtswissenschaft, der Wirtschaftlichkeit und der Finanzierung.In zwei ganztägigen Anhörungsterminen wurden dann im November 1978 die meisten der befragten Sachverständigen noch einmal mündlich zu den gestellten Fragen gehört. Diese Anhörung hat sich als sehr fruchtbar für die spätere Beratung in den Ausschüssen erwiesen. Sie hat uns viele Zusammenhänge klargemacht und Anregungen gegeben. Als Berichterstatter möchte ich den Sachverständigen, die sich zum Gesetzentwurf geäußert haben, von dieser Stelle aus noch einmal besonders danken.
Meine Damen und Herren, was ist nun der wesentliche Inhalt des Ihnen vorliegenden Gesetzes? Das Gesetz unterscheidet Lärmvorsorge und Lärmsanierung. Unter Lärmvorsorge versteht es Lärmschutzmaßnahmen beim Neubau oder bei wesentlichen Um- und Ausbauten von Straßen- und Schienenwegen. Lärmsanierung im Sinne des Gesetzes sind dagegen nachträgliche Lärmschutzmaßnahmen an bestehenden Straßen.Als wichtigste Regelung enthält das Gesetz Lärmschutzgrenzwerte für bestehende und neu zu bauende Straßen, die nicht überschritten werden dürfen. Diese sind für Lärmvorsorge und Lärmsanierung unterschiedlich. Die Grenzwerte werden in Dezibel ausgedrückt, der international anerkannten Meßeinheit zur Bestimmung des Verkehrslärms.Im Bereich der Lärmvorsorge gibt es jeweils verschiedene Lärmgrenzwerte für bestimmte Gebiete im Sinne des Bundesbaugesetzes, für Straßen und Schienenwege und schließlich für Tag und Nacht. Bei der Lärmsanierung liegen die Grenzwerte höher als bei der Lärmvorsorge; allerdings ist der Unterschied zu den Werten der Lärmvorsorge geringer als im Entwurf der Bundesregierung.
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Dr. JobstFür die Vorsorge und für die Sanierung enthält das Gesetz jetzt Immissionsgrenzwerte, die im wesentlichen um 3 Dezibel niedriger liegen, als im Regierungsentwurf vorgesehen. Das bedeutet eine fühlbare Verbesserung zugunsten der Anwohner, aber natürlich auch eine entsprechend stärkere finanzielle Belastung der öffentlichen Baulastträger.Weitere Verbesserungen bringen die besondere Berücksichtigung der Krankenhäuser, Schulen, Kur- und Altenheime sowie der Umstand, daß die Grenzwerte für Lärmvorsorge an Schienenwegen jetzt im Gesetz selbst festgesetzt sind, und zwar im Regelfall um 5 Dezibel höher als an Straßen. Es handelt sich um echte Grenzwerte. Lärmschutzmaßnahmen sind nämlich zwingend erforderlich, wenn die Werte überschritten werden.Neu in das Gesetz aufgenommen wurde ein allgemeiner Planungsgrundsatz, der die Baulastträger verpflichtet, schon im Planungsstadium Lärmeinwirkungen unter Abwägung aller öffentlichen und privaten Belange möglichst zu vermeiden.Zur Lärmvorsorge beim Bau, Umbau oder Ausbau von Straßen und Schienenwegen haben die Baulastträger alsdann durch bauliche Maßnahmen am Verkehrsweg sicherzustellen, daß die Lärmgrenzwerte für die Anlieger nicht überschritten werden. Stehen solchen Maßnahmen am Verkehrsweg überwiegende öffentliche oder private Belange entgegen, so können sie unterbleiben und durch Baumaßnahmen an den anliegenden Häusern ersetzt werden. Das gilt besonders, wenn der Lärmschutz an der Straße oder Schiene unverhältnismäßig hohe Aufwendungen erfordern würde.Die Vorschriften für die Lärmsanierung an bestehenden Straßen sind in den Ausschußberatungen ganz wesentlich umgestaltet worden.Die wichtigste Entscheidung betraf die Landes- und Gemeindestraßen. Für diese beiden Straßenarten war nach den Vorstellungen der Bundesregierung im Gesetz eine Lärmsanierung nicht vorgesehen. Es sollte der Entscheidung der Bundesländer überlassen bleiben, ob und in welcher Weise sie für ihre Landes- und Gemeindestraßen eine Lärmsanierung ermöglichen wollten. Jetzt gesteht das Gesetz den Anliegern aller Straßen einen förmlichen Rechtsanspruch auf Lärmsanierung zu, sobald die Lärmgrenzwerte überschritten sind. Kein Bürger würde es verstehen, daß der Schutz vor unzumutbarem Verkehrslärm davon abhängig sein soll, an was für einer Straße er zufällig wohnt.Der Anspruch auf Lärmschutz richtet sich gegen den Träger der Straßenbaulast. Dieser muß alle erhobenen und berechtigten Ansprüche nach Dringlichkeit erfüllen. Dabei soll sich die Dringlichkeit nach der Schutzbedürftigkeit des betreffenden Gebäudes, der Stärke des Straßenlärms, der Anzahl der Betroffenen und der Art des Gebietes richten. Alle in den kommenden zehn Jahren erhobenen Ansprüche sind spätestens am 31. Dezember des Jahres 2000 zu erfüllen.
Abweichend von den Vorstellungen des Regierungsentwurfs sieht das Gesetz im Falle der Lärmsanierung vor, daß der Anspruch des anliegenden Eigentümers, soweit er auf Erstattung von Aufwendungen am eigenen Gebäude gerichtet ist, nur 75% der Aufwendungen umfaßt. Die Anlieger sollen also beispielsweise von den Kosten des Einbaus von Schallschutzfenstern 25 % selbst tragen. Die Ausschüsse waren der Meinung, daß in dieser Höhe Ersparnisse des Hauseigentümers bei den Heizkosten und der Grundsatz „Neu für alt" zu berücksichtigen sind.Im Zusammenhang hiermit hat der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau veranlaßt, daß der Regierungsentwurf um zwei Vorschriften ergänzt wurde. Diese Vorschriften betreffen die Auswirkungen des Verkehrslärmschutzgesetzes auf Mietverhältnisse und sein Verhältnis zum Modernisierungs- und zum Energieeinsparungsgesetz. Neu ist schließlich die Ergänzung des Regierungsentwurfs um eine Vorschrift, die den vom Verkehrslärm betroffenen Grundstückseigentümern eine Enteignungsentschädigung zuspricht für den Fall einer schweren und unerträglichen Beeinträchtigung, die durch Lärmschutzmaßnahmen nicht vermieden oder beseitigt werden kann.Ubrigens enthält das Gesetz in der Ihnen vorliegenden Fassung keine Bestimmung über die Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen. Der Verkehrsausschuß meint — so wurde es von den Koalitionsparteien beschlossen —, daß hier eine Entschließung ausreicht, deren Text Ihnen gleichfalls vorliegt. Darin fordert der Bundestag die Bundesregierung auf, für die bestehenden Schienenwege der Deutschen Bundesbahn ein Sonderprogramm vorzulegen, das die Lärmsanierung in Anlehnung an die gesetzliche Regelung für die Straßen ermöglicht.Die Kosten des Lärmschutzes werden mit ca. 1 Milliarde DM jährlich veranschlagt. Auf den Bund werden 360 Millionen DM, auf die Länder 75 Millionen DM und auf die Gemeinden 610 Millionen DM entfallen. Bei den Kommunen ist zu berücksichtigen, daß diese für Lärmschutzmaßnahmen aus Finanzhilfen des Bundes Zuwendungen in Höhe von 60 % der, Aufwendungen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz erhalten können.Meine Damen und Herren, ich habe versucht, Ihnen einen Überblick über die Ausschußberatungen und ihre Ergebnisse zu geben. Wir glauben, daß die Änderungen und Ergänzungen des Regierungsentwurfs wirklich Verbesserungen darstellen, Verbesserungen für die Anwohner unserer Straßen und Schienenwege, Verbesserungen, die sich gleichwohl noch im Rahmen des finanziell Vertretbaren halten.Das Verkehrslärmschutzgesetz ist von weitreichender Bedeutung und hat deshalb sicher einen hohen politischen Stellenwert. Es wird, so hoffe ich, den vom Verkehrslärm geplagten Menschen eine wesentliche Hilfe bringen.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
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16374 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Vizepräsident Frau RengerIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hanz.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor fast genau zwei Jahren wurde hier der Regierungsentwurf zum Verkehrslärmschutzgesetz in erster Lesung beraten. Kaum ein mit der Materie Vertrauter glaubte damals daran, daß dieser Entwurf jemals Gesetz werden könne bzw. in zweiter oder dritter Lesung den Deutschen Bundestag wieder erreichen werde. Daß dies heute doch der Fall ist, verdanken wir am allerwenigsten der Bundesregierung.
Von ihrer Vorlage von vor zwei Jahren blieb nicht viel mehr als die Berlin-Klausel übrig.
Aber auch dies sei hier klar ausgesprochen: Ohne konstruktive Mitarbeit der Unionsfraktion bei der Beratung dieses Gesetzentwurfs gäbe es heute keine zweite und dritte Lesung.
Die vorgenommenen Änderungen stammen fast ausschließlich von der CDU/CSU-Fraktion.
Monatelang waren die Beratungen blockiert, weil sich die Koalitionsparteien zu den Verbesserungsvorschlägen der Union keine Meinung bilden konnten und nicht entscheidungsfähig waren.
Dies führte oft zu etwas peinlichen Positionen für die Mitglieder der Regierungsparteien im federführenden Verkehrsausschuß.
Hier war auf Grund sachlicher Beurteilung oft mehr Übereinstimmung als zwischen den beteiligten Ressorts der Bundesregierung zu finden.
In weiten Bereichen lag die Initiative bei der Ausgestaltung des Gesetzes mehr beim Ausschuß als bei der Bundesregierung, die sich im wesentlichen auf Formulierungshilfen beschränkte. Daß dieses Gesetz heute in zweiter und dritter Lesung beraten werden kann, ist ein Beispiel für ein funktionsfähiges Parlament, aber insbesondere für die konstruktive, verantwortungsbewußte Arbeit der Unionsfraktion.
In der politischen Bewertung des Verkehrslärmschutzgesetzes, das hier und heute zur endgültigen Verabschiedung ansteht, ist ein ganz erstaunlicher Zwiespalt erkennbar. Die Koalitionsfraktionen von SPD und FDP haben dieses Gesetz bereits in den vergangenen Wochen als ein politisches Jahrhundertgesetz — es ragt in der Tat in das Jahr 2000 hinein — zum großen Durchbruch in der Umweltpolitik und gar zum Sieg des Umweltschutzes hochstilisiert. Auf Ihre Superlative in der heutigen Debatte darf man sicher gespannt sein.In merkwürdigem Gegensatz zu diesem Jubelchor von SPD und FDP stehen Kommentare aus der Presse, die von einem sündhaft teuren Flickwerk, von Lärmillusionen, von der fragwürdigen Idee des passiven Lärmschutzes und angesichts der mehr oder minder scheußlichen Lärmbollwerke an unseren Straßen von optischer statt akustischer Umweltverschmutzung sprechen.Die Fraktion der CDU/CSU geht bei ihrer Bewertung des Verkehrslärmschutzgesetzes von der Tatsache aus, daß der Gesetzgeber hier Neuland betritt, mit allen Risiken möglicher Fehleinschätzungen. Die Notwendigkeit dieses Gesetzes im Kampf gegen den Verkehrslärm wird allerdings von uns nicht bestritten. Die Union ist und bleibt jedoch bemüht, das mit diesem Gesetz an Lärmschutz für den Bürger Errreichbare realistisch einzuschätzen und dies dem Bürger auch offen zu sagen. Das Erwecken von Illusionen und das Schaffen von falschen Erwartungshorizonten ist nicht unsere Sache. Den „Tritt vom Pferd, den es in der Koalition bei sogenannten Jahrhundertgesetzen schon gegeben haben soll, wollen wir uns ersparen.In dem Ihnen heute vorliegenden Gesetzentwurf konnte im wesentlichen nur passiver Lärmschutz geregelt werden. Hier sind die Möglichkeiten wirkungsvollerer Eindämmung des Lärms von der Sache her eher begrenzt. Eine endgültige Lösung aller Lärmprobleme kann durch dieses Gesetz deshalb leider nicht gegeben werden. Jedoch ist es ein wichtiger und, wie wir meinen, notwendiger Schritt zur Erreichung dieses Zieles, der von der CDU/CSU- Fraktion stets gefordert wurde. Die durch dieses Gesetz gebotenen Möglichkeiten müssen und sollen voll genutzt werden. Selbst die begrenzten Möglichkeiten des passiven Lärmschutzes müssen soweit wie möglich ausgeschöpft werden. Dies darf aber nicht zu einer Vernachlässigung der Möglichkeiten führen, die auch der aktive Lärmschutz bietet.Die CDU/CSU will darüber hinaus auch alle wirtschaftlich vertretbaren Chancen genutzt wissen, den Verkehrslärm an der Quelle, d. h. am Fahrzeug, abzubauen. Wenn man hört, was auf unseren Straßen bei Tag und Nacht herumjault und -knattert, hat man nicht den Eindruck, daß alle Möglichkeiten des aktiven Lärmschutzes bereits ausgeschöpft sind..
Vielleicht sollten auch jene, die so schnell und leicht vom Versagen des Gesetzgebers beim Lärmschutz daherreden, gelegentlich nachschauen, ob ihre heranwachsenden Sprößlinge den häuslichen Hobbykeller nicht ausgerechnet dazu benutzen, das Moped oder Motorrad auf möglichst vollen Klang zu frisieren.
Verkehrslärm an der Quelle geht aber zunächst die Automobil- und Reifenhersteller sowie die Straßenbauer an. Sie sind gefordert, lärmarme Lkw, Pkw, Motorräder und Mopeds sowie lärmvermindernde Reifen und Straßenbeläge zu entwickeln. Die Kon-
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Hanzstrukteure in diesen Bereichen sollten nach Auffassung der CDU/CSU strenge Maßstäbe des Lärmschutzes nicht ausschließlich unter dem Aspekt des Wettbewerbsnachteils sehen und nicht nur auf gesetzlichen Zwang hin ihr Leistungspotential unter Beweis stellen. Die Kette der Beispiele ist lang, bei denen Pionierarbeit sehr bald als Marktvorteil auf Dauer durchgeschlagen ist.Das Verkehrslärmschutzgesetz geht auch die Verkehrsbehörden vor Ort an und fängt bei der Planung und Lenkung des Verkehrs an. Die Kommunen, die der passive Lärmschutz ohnehin besonders teuer zu stehen kommt, sollten sich mehr denn je veranlaßt sehen, bei ihren Bauplanungen, bei den örtlichen Verkehrsregelungen, bei Ampelschaltungen usw. immer auch das mögliche Minimum an Lärm im Auge zu behalten. Hier wird noch immer dem Lärmschutz oft nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet, wie wir meinen. 50 bis 60 % aller innerörtlichen Straßen eignen sich zur Verkehrsberuhigung. Das haben Experten erst jüngst festgestellt. Hier liegt ein weiter Bereich für eine Alternative zum passiven Lärmschutz, also zur bloßen Lärmabschirmung.Alternativer Lärmschutz, meine Damen und Herren — damit bin ich beim dritten Bereich —, geht schließlich auch uns, die 28 Millionen Kraftfahrer im Lande, an. Sie haben es in der Hand, den Verkehrslärm sofort um ein ganzes Stück abzubauen, wenn sie ihre Fahrweise entsprechend einrichten. Das Hochziehen von Motoren, quietschendes Kurvennehmen, Laufenlassen des Motors im Stand sowie unnötiges Hupen sind Untugenden, die unnötigen Lärm hervorrufen, von dem der Verursacher selbst sonst oft beleidigt ist und gegen den er sich wehrt.Lärm dieser Art kann, wie in Messungen nachgewiesen wurde, schnell an kritische Grenzen heranführen. Gerade wegen der Verantwortung, die auch die Kraftfahrer selber beim Kampf gegen den Verkehrslärm tragen, sollte dies besondere Bedeutung haben. Eine solche Einschätzung führt dann aber dazu, daß den genannten Möglichkeiten des aktiven Lärmschutzes nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit gewidmet wird.Passiver Lärmschutz kann immer nur ein, wenn auch notwendiger und wichtiger Teil umfassender Maßnahmen zur Eindämmung des Lärms sein. Wird dies nicht beachtet, so verlieren wir auf der einen Seite, was wir durch dieses Gesetz auf der anderen Seite gewinnen.Meine Damen und Herren, nach dieser politischen Gesamtbewertung der Bekämpfung des Verkehrslärms, wie sie die CDU/CSU vornimmt, lassen Sie mich nun zum Verkehrslärmschutzgesetz in der hier zur Verabschiedung vorliegenden Fassung noch folgendes sagen.Daß dieser Entwurf noch den Titel „Entwurf der Bundesregierung" trägt, ist blanke Ironie.
Ich sagte es schon: Von dem, was die Bundesregierung nach vierjähriger Vorarbeit im März 1978 demDeutschen Bundestag vorgelegt hat, ist praktisch nur die Berlin-Klausel unverändert übriggeblieben.
— Und die hat sie abgeschrieben!
Dies erwähne ich, um noch einmal zu verdeutlichen, welcher Mühe sich die Beteiligten im Ausschuß des Bundestages unterziehen mußten, um in Detailarbeit über zwei Jahre aus einer völlig desolaten Regierungsvorlage ein brauchbares Gesetz zu machen.Für die CDU/CSU ist immer noch unbegreiflich, wie die Bundesregierung auf die Idee kommen konnte, ein Lärmschutzgesetz nur für die Bundesstraßen und Autobahnen zu machen. Damit hätte man allen Bürgern, die an anderen Verkehrswegen wohnen, den Anspruch auf Schutz vor Verkehrslärm vorenthalten. Umfassender Schutz vor Verkehrslärm für alle Verkehrswege war die erste zentrale Forderung der CDU/CSU bei diesem Gesetz.
Diese unsere Forderung konnte mit wirksamer Unterstützung insbesondere der Kommunen und der kommunalen Spitzenverbände weitgehend durchgesetzt werden. Der zur Verabschiedung vorliegende Gesetzentwurf umfaßt jetzt alle öffentlichen Straßen sowie den Neubau von Schienenwegen. Die CDU/CSU bedauert ausdrücklich, daß sich die Koalition einer gesetzlichen Regelung des Lärmschutzes an bestehenden Schienenwegen widersetzt hat.Bei der gesetzlichen Festlegung der Lärmschutzgrenzwerte waren es die Koalitionsfraktionen der SPD und FDP, die durch einen Kleinkrieg über Monate hin entscheidungsunfähig waren. Die CDU/ CSU begrüßt es, daß es schließlich doch noch möglich war, die jetzt im Gesetzentwurf enthaltenen Lärmgrenzwerte im federführenden Ausschuß einstimmig zu verabschieden. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, daß dieses Gesetz noch in dieser Wahlperiode in Kraft treten kann.Die CDU/CSU ist der Auffassung, daß diese Lärmgrenzwerte angesichts des finanziellen Risikos des im Gesetz vorgesehenen Programms einen wohlabgewogenen Kompromiß zwischen den Belangen des Lärmschutzes und den finanziellen Möglichkeiten der öffentlichen Hand darstellen.Um die finanziellen Handlungsspielräume der öffentlichen Hand nicht zu überfordern, hält es die CDU/CSU ebenfalls für notwendig und gegenüber allen Betroffenen für vertretbar, Schallschutzfenster aus öffentlichen Mitteln nur für Wohnungen, nicht aber für gewerblich genutzte Räume vorzusehen. Darüber hinaus sollen die Hauseigentümer bei diesen Schallschutzfenstern eine Eigenbeteiligung von 25 % übernehmen. Denn Schallschutzfenster sind in der Regel auch wärmedämmend und erspa-
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Hanzren dem Eigentümer übliche Aufwendungen für den Erhalt des Wohnwerts. Insofern liegt in diesen Maßnahmen eine Begünstigung, die über den bloßen Schallschutz hinausgeht.Schließlich sollen die Sanierungsmaßnahmen an bestehenden Straßen in einem Zeitraum von 20 Jahren vorgenommen werden.Zu den finanziellen Problemen und den sich daraus ergebenden Belastungen wird mein Kollege Waffenschmidt noch Ausführungen machen, auf die ich insoweit verweise.Dieses Gesetz ist im wesentlichen von den Unionsparteien geprägt worden.
Deswegen stimmen wir von der CDU/CSU diesem Gesetz in der vorliegenden Ausschußfassung zu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Daubertshäuser.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der zunehmenden Motorisierung ist die Bekämpfung des Verkehrslärms zu einem zentralen gesellschaftspolitischen Problem geworden. Die autogerechte Stadt fordert ihren Tribut durch Verkehrslärm, durch Abgase, durch Lebensbedingungen, die das alte Wort „Stadtluft macht frei schon lange in das Gegenteil verkehrt haben. Dem Ruf nach der autogerechten Stadt,
der durch das steigende Mobilitätsbedürfnis der Bürger bedingt war, haben wir alle abgeschworen. Nun müssen wir uns um ein Konzept bemühen, das den Konflikt zwischen dem Mobilitätsbedürfnis und den daraus entstandenen Belastungen entschärft. Sonst werden sich diese Störungen durch Lärm, durch Unfälle und Abgase weiterhin verstärken.Für den größten Teil der Bevölkerung ist nachweislich die Lärmbelästigung das Umweltproblem Nummer eins. Daher mußte der Schutz vor Verkehrslärm höchste Priorität bekommen. Der Lärmschutz ist nicht nur ein umweltpolitisches Ziel, sondern er besitzt in sehr hohem Maße gesellschaftspolitische Dimensionen. Es sind vor allem die arbeitenden Menschen, die in vielfältiger Hinsicht vom Lärm betroffen sind, häufig sogar durchgängig vom Arbeitsplatz bis hin zur Wohnung. Mit diesem Verkehrslärmschutzgesetz ergreifen wir die Partei jener, die sich vor dem Verkehrslärm nicht aus eigener Kraft schützen können.
Wir wollen eben nicht, daß ungestörtes Wohnen zu einem Luxusartikel wird.Bei den Schwierigkeiten, die jedem sehr schnell klar wurden, der sich mit dieser Materie auseinandersetzen mußte, hat sich aber bald gezeigt, daß niemand ein allseits befriedigendes Patentrezept in der Schublade hatte. Denn zu stark sind die Interessenkonflikte und zu gewaltig die finanziellen Auswirkungen, die mit diesem Gesetz auf die unterschiedlichen politischen Ebenen einwirken. Deshalb orientiert sich unsere politische Zielsetzung des Verkehrslärmschutzgesetzes an der Realität, wenn wir uns von dem Motto leiten lassen: Zurückdrängen des Verkehrslärms auf ein vertretbares Maß und Einsatz eines Maßnahmenbündels zum Schutz gegen unvermeidbaren Verkehrslärm.Wir haben nicht außer acht gelassen, daß es bei der Bekämpfung des Verkehrslärms nicht nur um Humanität geht, sondern auch um die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Wir wissen: deshalb sind Autos notwendig, deshalb sind Verkehrswege notwendig. Wir müssen jedoch das Verhältnis Nutzen/ Schaden so günstig wie irgend möglich gestalten.Dem Lärmschutz mit seinen umwelt- und gesundheitspolitischen Erfordernissen stehen auf der anderen Seite gesamtwirtschaftliche, finanzielle, städtebauliche und kommunalpolitische Notwendigkeiten gegenüber. Dies war das eine große Spannungsfeld, mit dem wir in den parlamentarischen Beratungen zu Rande kommen mußten. Dieses Spannungsfeld wurde dadurch nicht kleiner, daß in unserem föderativ aufgebauten Lande der Umweltschutz eine Aufgabe ist, die von allen Ebenen ihren Beitrag fordert.Ein zweites Spannungsfeld betraf die zu ergreifenden Maßnahmen. Es ist unbestritten, daß die Bekämpfung des Lärms an der Quelle langfristig die sinnvollste Maßnahme gegen den Verkehrslärm darstellt. Deshalb hat die SPD-Fraktion in einem Entschließungsantrag, der vom Verkehrsausschuß einstimmig angenommen wurde, diesen Bereich einer zusätzlichen Würdigung unterzogen.Aber dieses Programm gegen den Lärm an der Quelle greift nur langfristig, deshalb mußte ihm ein mittelfristig wirkendes Konzept der Lärmbekämpfung zur Seite gestellt werden. Das wird in diesem Gesetz durch die aktiven und die passiven Lärmschutzmaßnahmen geregelt. Wir haben also das eine getan, ohne das andere zu lassen. Das Gesetz gibt dem Maßnahmenträger die Möglichkeit, eine optimale Kombination von Instrumenten zu suchen und diese dann auch anzuwenden.Die Höhe der Emissionsgrenzwerte ist so bemessen, daß dadurch langfristig nichts verbaut wird. Mit diesem Gesetz können wir künftig die Probleme an bestehenden Verkehrswegen mildern und sie an neuen Verkehrswegen erst gar nicht entstehen lassen. Das ist der sinnvollste Lärmschutz überhaupt.
Der ursprüngliche Regierungsentwurf hatte eine bescheidenere Zielsetzung.
Er sollte nämlich für die Planung von neuen Straßen klare Lärmschutznormen schaffen, und für bestehende Straßen sah er lediglich eine Bundesregelung vor. Dieser Entwurf ist nun in wesentlichen Punkten verändert, aber in der grundsätzlichen Systematik
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Daubertshäuserist die unterschiedliche Behandlung von Neu- und Altlast beibehalten worden.Herr Kollege Hanz, ich frage mich: Was soll denn dieses Herumkritteln am alten Regierungsentwurf?
Denn er war doch — ausgehend von einem zugegebenermaßen engeren Ansatzpunkt — in sich logisch.
Als Gesetzgeber haben wir dann doch lediglich unsere Pflicht getan, indem wir diesen Gesetzentwurf im Rahmen unserer parlamentarischen Beratungen, und zwar gestützt auf Erkenntnisse eines zweitägigen Anhörungsverfahrens mit Sachverständigen, das ja immerhin von der SPD-Fraktion beantragt wurde, Herr Kollege Hanz, entsprechend bearbeitet haben.
Gestützt auf diese Erkenntnisse haben wir dann diesen Regierungsentwurf auf eine breitere Grundlage gestellt.
— Aber Herr Kollege Tillmann, das können Sie doch nicht leugnen. Dabei haben wir doch sehr gute Unterstützung durch die Bundesregierung erhalten.
Das, was der Kollege Hanz hier soeben so ganz verschämt Formulierungshilfe genannt hat,
ging doch in Wirklichkeit so weit, daß man dies in der Tat als Neufassung des ursprünglichen Entwurfs ansehen konnte.
Wir als SPD-Fraktion sprechen der Bundesregierung dafür unseren ausdrücklichen Dank aus.
Im übrigen, meine Damen und Herren, hat die Opposition doch wahrhaftig keine Veranlassung, mit dem Zeigefinger auf die Bundesregierung zu zeigen. Denn wenn es brenzlig wurde, sind Sie im federführenden Verkehrsausschuß doch immer weggetaucht.
Ich erinnere an die Beratung über die Höhe der Immissionsgrenzwerte, den wesentlichen Punkt dieses Gesetzentwurfs überhaupt. Da haben Sie sich weder an der Diskussion noch an der lediglich weiteren meinungsbildenden Abstimmung beteiligt. Auffälliger konnten Sie Ihre Handlungsunfähigkeit doch wohl nicht demonstrieren. Also, was soll denn das?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lemmrich?
Frau Präsident, es tut mir leid, aber meine Redezeit ist so knapp bemessen, daß ich dann nicht rechtzeitig zu Ende käme.
Bitte sehr, Sie haben das Wort, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, die in einem Zusammenhang miteinander stehenden Probleme wie die Einbeziehung aller bestehenden Straßen, die Höhe der Immissionsgrenzwerte und die Kostenfrage waren doch die Dreh- und Angelpunkte und sicher auch der schwierigste Teil der Beratungen, und zwar deshalb, weil hier die Argumente hinsichtlich der Gesundheitspolitik, des Umweltschutzes, der Finanzierbarkeit, der Wirtschaftlichkeit, der Landschaftsgestaltung und des Städtebaus aufeinanderprallten und in eine Balance gebracht werden mußten. Wir haben dann auch die bestehenden Landes- und Kommunalstraßen in das Gesetz mit einbezogen in dem Wissen, daß dadurch kostenmäßig einiges draufgesattelt wird. Aber uns lag die Forderung der kommunalen Spitzenverbände vor, die ja sicher auch im Wissen um diese Kosten erhoben wurde. Es waren weiterhin die Entscheidungen der Gerichte bekannt, nämlich die Kommunen auch ohne gesetzliche Regelungen zu entsprechenden Schutzmaßnahmen zu zwingen, häufig ohne Berücksichtigung der gesamtpolitischen Zusammenhänge, die wir wiederum zu beachten hatten.Wir haben dann zudem die Immissionsgrenzwerte gesenkt: bei der Neulast um 3 dB , bei der Altlast um 5 dB (A). Dies ist eine gesundheits- und umweltpolitisch bedeutsame Absenkung. Das wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß auf Grund der logarithmischen Maßeinheit bereits 3 dB (A) einer Verdoppelung der Kfz-Menge entsprechen.In der Anhörung ist zum Ausdruck gekommen, daß gesundheitsschädlicher Lärm nicht auf eine einfache Formel zu bringen ist, weil die Übergänge fließend sind. Die Wissenschaft spricht von einer Lärm-
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Daubertshäuserstufe II, die von 60 bis 90 dB reicht; in diesem Bereich spricht sie von einer Gefährdung der Gesundheit. Wir sind mit unseren Werten eindeutig im untersten, also im günstigsten Grenzbereich dieser Stufe.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch etwas zum Schienenbonus sagen. Es ist objektiv falsch, wenn hier gesagt wird, die Bahn solle dadurch einen Wettbewerbsvorteil erhalten. Richtig ist vielmehr, daß die Bahn durch das Meßverfahren benachteiligt wird, und zwar — laut Professor Klosterkötter — um 5 dB . Genau diese Größenordnung gleichen wir durch den Schienenbonus aus.Nun zu dem Punkt: Aufnahme von bestehenden Schienenwegen in das Gesetz. Es ist richtig, Herr Kollege Hanz: Wir haben das abgelehnt und statt dessen in dem dann vom Verkehrsausschuß einstimmig angenommenen Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefordert, hierfür ein Sonderprogramm aufzustellen und zusätzliche Investitionsmittel vorzusehen. Wir sind der Auffassung, daß durch dieses Sonderprogramm für bestehende Schienenwege schneller und effektiver dem Bürger, der vom Lärm betroffen ist, geholfen werden kann.
Damit bin ich nun bei dem Kernproblem dieses Gesetzes angelangt, der Kosten- und Finanzierungsfrage. Das Verkehrslärmschutzgesetz wird uns in den nächsten 20 Jahren jährlich in einer Größenordnung von 1 Milliarde DM belasten. Die Kostenschätzungen waren und sind stets mit einem Unsicherheitsfaktor behaftet. Dies hat viele Gründe und wird nie völlig auszuschließen sein. Aber diese Zahlen zeigen unmißverständlich, daß diejenigen recht hatten, die in den letzten Wochen von einer Trendwende in der Straßenbaupolitik sprachen; denn jährlich 1 Milliarde DM für den Lärmschutz verdeutlicht, daß sich die Prioritätenliste verändert hat und den Aussagen von Verkehrsminister Gscheidle: „Lärmschutz vor Kilometer" und „Qualität vor Quantität" nun auch die entsprechenden Taten folgen. Da sich der Bund nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz mit 60 % an den Kosten für Lärmschutz an kommunalen Straßen beteiligt, wäre es unredlich, diese Auswirkung in den Belastungen zu verschweigen; denn damit trägt der Bund mit 69,4 % bei weitem die Hauptlast der Kosten des Verkehrslärmschutzgesetzes. Der Anteil der Länder liegt bei 7,1 %, der Anteil der Kommunen bei 23,5 %.Ein Blick auf den Einzelplan 12 zeigt, mit welchem Gewicht dieses Gesetz auf die Finanzstruktur des Verkehrshaushalts einwirkt. 1980 sind dort Straßenbauinvestitionen in Höhe von mehr als 8 Milliarden DM vorgesehen. Davon werden ca. 5 Milliarden für Ersatz- und Unterhaltungsmaßnahmen benötigt. Von den verbleibenden 3 Milliarden DM für Neubau- und Verbindungsstrecken sowie für Ortsumgehungen müssen die ca. 700 Millionen DM jährlicher Bundesbelastung für Lärmschutz finanziert werden. Das heißt: Fast 25 % der Neubaumittel des Bundes werden künftig für den Lärmschutz ausgegeben. Diese Zahlen bestätigen die vorhin von mir angesprochene Trendwende. Wer dies mit Vokabeln wie „großer Bluff" abtut, verliert den Anspruch, in der Diskussion ernstgenommen zu werden.
Meine Damen und Herren, diese sehr hohen Kosten für den Verkehrslärmschutz werden jedoch ein überzeugendes Druckmittel sein, um eine Vielzahl Impulse auszulösen, so daß durch eine menschengerechte Stadt- und Verkehrsplanung aus den Fehlern von gestern gelernt wird. Die Finanzbelastung kann mittel- und langfristig dann gemildert werden, wenn es zu einer integrierten Verkehrs- und Lärmschutzplanung kommt. Die Instrumente dazu sind auch über das Straßenverkehrsgesetz und die Straßenverkehrsordnung bekannt. Sie müssen intensiv genutzt werden.Wer jedoch Verkehrslärmschutz über den völligen Stillstand beim Straßenbau betreiben will, befindet sich auf dem Holzweg.
Ortsumgehungen und Neubau entlasten die Ortsdurchfahrten, insbesondere vom umweltfeindlichen Schwerlastverkehr. Sie tragen bei zur Verkehrsberuhigung, zur Lärmminderung und, nicht zu vergessen, zur höheren Verkehrssicherheit.
Es ist nicht möglich, den Verkehrslärm von heute auf morgen aus der Welt zu schaffen. Ein sinnvolles Gesamtkonzept braucht einen längeren Zeitraum. Dieses Gesetz kann nicht schlagartig eine leise Umwelt herbeiführen, aber es setzt Maßstäbe, die eine erhebliche Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes bringen.Es gab Beobachter — der Kollege Hanz hat sie zitiert —, die deshalb meinten, die Umweltpolitiker hätten den Sieg über die Finanzpolitiker davongetragen. Ich sehe dies anders. Ich bin der Auffassung, die Bürger, die gleichzeitig verkehrslärmgeplagt, auf das Kfz angewiesen, aber auch Steuerzahler sind, haben den Sieg davongetragen, weil der Gesetzgeber nach hartem und langem Ringen einen für alle Interessengruppen tragbaren Kompromiß gefunden hat.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoffie.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Wähler wird den Erfolg der Umweltpolitik der FDP daran messen, wie sie das städtische Verkehrslärmproblem und seine weitreichenden Auswirkungen in den Griff bekommt. Das Verkehrslärmproblem ist deshalb das zentrale Problem der Umweltpolitik, weil fast die gesamte Bevölkerung als Verursacher und zugleich Betroffene daran beteiligt ist.Das ist die programmatische Einleitung des Beschlusses der FDP vom Mai des vergangenen Jahres zur Verkehrslärmproblematik. Sie war für uns während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens Zielsetzung und Selbstbindung zugleich. Das ist auch
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Hoffiedie Meßlatte, an der sich der Anspruch der FDP mit der Wirklichkeit prüfen lassen muß, wenn wir dieses Gesetz heute abschließend beraten.Unsere Vorstellungen von einem wirklich greifenden und den Bedürfnissen unserer lärmgeplagten Bürger gerecht werdenden Gesetz waren richtig. Die Anhörungsverfahren haben eindringlich unsere früheren Aussagen unterstrichen, daß sich nämlich 40 % unserer Bürger zeitweise oder gar dauernd eben vorwiegend durch Straßenverkehrslärm belästigt fühlen.Wir wollen die unsozialen Konsequenzen vermeiden bzw. beseitigen, die sich ergeben, wenn immer mehr Menschen, die es sich leisten können, vor Lärm und Abgasen in weniger belastete, immer teurer werdende Gebiete flüchten, sich dagegen aber Alte, sozial Schwache und Ausländer einem gesundheitsschädigenden Umfeld nicht entziehen können. Diese Situation berücksichtigend hat sich die FDP von Anfang an nicht allein darauf beschränkt, die offensichtlichen Schwächen eines Gesetzentwurfes mit SPD und Opposition zu beklagen oder zu kritisieren, Herr Kollege Hanz, eines Gesetzentwurfes, der Lärmschutz nur für neu zu bauende und wesentlich veränderte Straßen und Schienenwege vorsah, sich aber bei bestehenden Verkehrswegen, auf Autobahnen und Bundesstraßen, also auf die reine Zuständigkeit des Bundes beschränkte und die Lärmgrenzwerte nach FDP-Urteil noch dazu viel zu hoch ansetzte.Der auch heute wiederholte Vorwurf der Opposition, die Bundesregierung habe deshalb nicht mehr als einen billigen Torso vorgelegt, trifft jedoch zuallererst diejenigen am härtesten, Herr Kollege Hanz, die im Interesse falsch verstandener Länderegoismen glaubten, die finanziellen Bürden eines weitergehenden Gesetzes in erster Linie dem Bund auferlegen zu können. Vielleicht wird das auch Ihnen, Herr Kollege Hanz, begreiflich.Von daher erklärt sich, daß bei diesem Gesetz wie bei kaum einem anderen das Parlament gefordert war, und zwar von Beginn an, nachdem eine umfassendere, den FDP-Vorstellungen folgende Vorlage des ehemaligen Bundesinnenministers Maihofer bereits im Kabinett nicht nur auf den erklärten Widerstand des Bundesfinanzministers stoßen mußte. Die Halbherzigkeit der Länder zu überwinden und ihre eigene umweltpolitische Konzeption nicht den Befürchtungen von Finanzexperten — mehr Lärmschutz überschreite alle Haushaltsmöglichkeiten — zu opfern, mußte die FDP herausfordern: Sie durfte sich bereits bei der Einbringung des Gesetzes nicht den Fragen und der Rundumkritik von links und rechts anschließen, sondern sie mußte schon damals konkrete Verbesserungen vorschlagen.Auch wenn sich die Beratungen des Gesetzentwurfes in der Tat über fast zwei Jahre hinzogen, bevor Sachverständige gehört, Prüfungen von Verfassungsrechtsbedenken abgeschlossen und nach hartem Ringen — auch innerhalb der Koalition — verkrampfte Positionen in den betroffenen Ressorts überwunden waren, kann heute kurz vor Toresschluß des 8. Deutschen Bundestages sicher übereinstimmend und aufatmend festgestellt werden:Das Ergebnis ist die Stunde des Parlaments und seiner Ausschüsse. Und es ist ein Beweis für die Einsichtsfähigkeit vieler, die zu überzeugen kein leichter Weg war.Nun hat Herr Kollege Hanz behauptet, alle vorgenommenen wesentlichen Änderungen stammten fast vollständig von der Unionsfraktion,
dieses Gesetz sei von den Unionsparteien geprägt. Dieses ist in der Tat eine einmalige und, wie ich meine, .kaum zu überbietende Dreistigkeit. Das wird allein dadurch belegt, daß man die Opposition von dieser Stelle aus einmal fragen muß: Wo waren Sie denn, als im Ausschuß die entscheidenden Verbesserungen zu beraten waren und darüber abzustimmen war, als die FDP verbesserte Grenzwerte gefordert hat? Wo waren Sie da? Da saßen Sie zwar im Ausschuß, aber Sie haben sich nicht einmal an der Abstimmung beteiligt.
Sie haben später in opportunistischer Weise die Werte genommen, auf die sich die Koalitionspartner verständigt hatten.
— Das ist die Wahrheit, und die werden Sie hier nicht wegdiskutieren können. Das werden Sie auch draußen niemandem deutlich machen können.
Wir werden sehen, wie dieses ausgeht, wenn der Bundesrat zu entscheiden hat, ob er sich dieser Meinung anschließt. Wären die wesentlichen Verbesserungen auf Ihre Initiativen zurückzuführen — was in der Tag nicht der Fall ist —, müßte es ihm sehr leicht fallen, mit den Stimmen der CDU/CSU regierten Länder diesem Gesetz sehr schnell und frohen Herzens zuzustimmen. Diese Nagelprobe werden wir ja noch erleben, meine Damen und Herren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.Für die FDP war dieser Weg des Gesetzes nicht nur von den spöttischen Oppositionshinweisen begleitet, wir, die FDP, hätten bei unseren Berechnungen den falschen Rechenschieber benutzt, Herr Kollege Schulte, wenn wir uns erlaubten, Tabellen und Zahlenmaterial in Zweifel zu ziehen und eigene Berechnung vorzulegen, sondern auch von der Erfahrung, im Ausschuß alleinzustehen und von den sozialdemokratischen Befürchtungen überstimmt zu werden, weil mehr als die Regierungsvorlage abzusegnen das Ende solider Haushaltsführung bedeute.
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HoffteDie schon zur Quadratur des Kreises erklärte Problematik aufzulösen, nämlich einerseits das Gesetz spürbar zu verbessern und andererseits den vorgesehenen Finanzrahmen nicht zu sprengen, gelang dennoch! Der von der FDP nach langen Berechnungen und Überprüfungen vorgelegte Vorschlag hieß: 1. Streckung des Lärmschutzprogramms, ausgeweitet auf alle bestehenden Straßen, von 15, auf 20 Jahre; 2. Festsetzung einer Eigenbeteiligung der Hauseigentümer in Höhe von 25 % der notwendigen Lärmschutzaufwendungen; 3. Beschränkung der Schutzmaßnahmen auf Räume, die dem reinen Wohnen dienen.Damit wurde aber der notwendige finanzielle Spielraum erweitert, um ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das den Betroffenen schon bei erheblich geringeren Lärmbelastungen Schutzansprüche sichert. Das heißt für den Bürger im Klartext: Wo künftig Straßen und Schienenwege neu gebaut werden, setzt Lärmschutz schon bei einer um 30 % geringeren Belastung ein, als ursprünglich vorgesehen. Dort, wo an bestehenden Straßen undifferenziert ein Lärmschutz erst ab dem Grenzwert 75 dB tags und 65 dB (A) nachts zum Zuge gekommen wäre, erreichte die FDP die Einführung von Gebietskategorien und die von Anfang an von uns als unverzichtbar bezeichnete Absenkung um 5 Dezibel, also einen Schutzanspruch in Wohngebieten schon bei halbierter Lärmbelastung.Meine Damen und Herren, wir verkennen nicht, daß mehr Umweltschutz auch mehr Geld kostet, aber wir lassen uns auch heute nicht vorwerfen, Bund, Länder und Gemeinden würden dadurch in nicht vertretbarer Weise zur Kasse gebeten und überfordert. Die jährliche Mehrbelastung des Bundes beträgt jetzt ca. 70 Millionen DM, die der Länder und Kreise gut 40 Millionen DM und die der Kommunen knapp 130 Millionen DM in den nächsten 20 Jahren.Wir unterschlagen auch nicht, daß gerade die Belastung der Kommunen das eigentliche Problem war, das sich wie ein roter Faden durch alle Befürchtungen zog, die von der FDP betriebene Verschärfung der Lärmgrenzwerte überfordere die Leistungskraft dieser Gebietskörperschaften. Knapp über 600 Millionen DM p. a. für kommunale Lärmschutzmaßnahmen sind gewiß ein dicker Brocken, denn dies sind immerhin rund 10% der gesamten Investitionssumme, die heute in den Gemeinden für Straßenbau veranschlagt wird. Aber umgekehrt, meine Damen und Herren, werden die Gemeinden künftig nur 4 % weniger für Straßenbau selbst ausgeben können. Das ist eine Rechnung, die erst dann verständlich wird, wenn man weiß, daß der Bund aus dem Mineralölsteueraufkommen über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz 60 % aller kommunalen Lärmschutzaufwendungen bezuschussen wird. Das heißt, die Gemeinden, die ja selbst — wie übrigens auch die Länder — die Einbeziehung der bestehenden Kommunalstraßen in das Lärmschutzprogramm gefordert haben — allerdings auf der undifferenzierten Basis von 75 bzw. 65 dB —, womit Gemeinden und Länder ja schon Finanzierungsbereitschaft gezeigt haben, werden auf Grund des FDP-Vorschlages eine jährliche Mehrbelastung von ungefähr 50 Millionen DM verkraften müssen. Das ist natürlich kein Pappenstil, aber es ist auch kein Betrag, der den Bankrott der Kommunen heraufbeschwören könnte.Eine wirkliche Vorstellung von dem finanziellen Aufwand, der durch das Lärmschutzgesetz ausgelöst wird, erhält man aber wohl erst dann, wenn man sich vor Augen führt, daß die jährlich anfallenden Kosten von rund 1 Milliarde DM nichts anderes bedeuten, als daß künftig von den Straßenbaumitteln jede zehnte Mark für wirkungsvollen Lärmschutz aufgewendet werden muß.Die FDP bekennt sich uneingeschränkt zu dieser Umschichtung, weil sie unverzichtbar ist, wenn wir es wirklich ernst damit meinen, die Bürger vor unzumutbarem Lärm besser zu schützen. Selbst dann, wenn man unserer Aufforderung „Lärmschutz geht vor Kilometern" nicht zu folgen vermag, kann man sich sicherlich nicht der Tatsache verschließen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen eine weltweit beispielhafte Verkehrsinfrastruktur besitzen. Das heißt, wir können den Erfolg von Verkehrspolitik künftig weniger an neuen Autobahnen, an der Länge frischer Asphaltpisten bemessen als vielmehr an unseren Fähigkeiten, mit den unvermeidbaren Negativwirkungen des Verkehrs besser fertig zu werden und die Qualitäten unseres Lebensraums nachhaltig zu verbessern.
Trotz der äußersten finanziellen Anstrengungen, die wir mit der Verabschiedung des vorliegenden, völlig überarbeiteten Gesetzentwurfs unternehmen, um ein Lärmschutzgesetz zu schaffen, das seinem Namen gerecht wird, müssen wir offen eingestehen, daß unsere Bemühungen dennoch in einem gewissen Umfange unvollkommen sind, da ein noch besseres und umfassenderes Lösungspaket vorstellbar ist. Ich meine nicht noch weitere Senkung der Lärmgrenzwerte, die ja wegen ihrer finanz- und haushaltspolitischen Realitätsferne in den Bereich apolitischen Wunschdenkens verwiesen werden müßte. Nein, meine Damen und Herren, es geht darum, daß Lärm, ist er erst einmal entstanden, nur schwer zu bekämpfen ist.Deshalb liegt es nicht nur nahe, sondern sollte auch vorrangige Aufgabe des Staates sein, mit den Lärmbekämpfungsmaßnahmen beim Verursacher, in erster Linie bei den Fahrzeugen selbst, anzufangen, und das allein schon deshalb, weil Landschaft und Städte nicht in unerträglicher Weise und auch unnötig mit Lärmschutzwänden und -wällen durchschnitten und durchzogen werden sollten. Die technischen Möglichkeiten, Lärm schon an der Quelle einzudämmen, sind bekannt, und sie sind vorhanden. Sie könnten bei maßvoller Kostensteigerung der Produkte auch auf den Markt gebracht werden. Aber gerade auf diesem wichtigen Teilgebiet sind uns die Hände praktisch gebunden. Mit den baulichen Lärmschutzmaßnahmen können wir nur die eine Seite der Medaille prägen, während die andere das Zeichen der europäischen Harmonisierung trägt. Mit den EG-Verträgen hat die Bundesrepublik ihre Rechte für die Lärmbekämpfung bei Pkws, bei
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16381
HoffieBussen, bei Lastkraftwagen und Motorrädern an Brüssel abgegeben. Sie kann also einen nationalen Alleingang nicht machen, ohne vertragsbrüchig und vor den Europäischen Gerichtshof zitiert und wegen der Verletzung der Wettbewerbsgesetze verurteilt zu werden. Dies ist gewiß ein sehr hoher Preis für Europa! Aber auch ein immer gewollter und notwendiger Tribut an die europäische Solidarität und Partnerschaft.Daß es ein hartes Stück Überzeugungsarbeit bei allen unseren europäischen Partnern fordern wird, bessere Lärmbekämpfung an der Quelle auf Gemeinschaftsebene durchzusetzen, ist schon beinahe selbstredend, wo doch in den südlichen Ländern Straßenlärm durchaus auch als Ausdruck von Vitalität, ja, von Lebensqualität empfunden wird; für uns eigentlich kaum faßbar.Um so höher ist der Stellenwert des Entschließungsantrags zu bewerten, der das Gesetz flankiert. Er fordert nämlich neue und strengere Zielwerte für die Lärmemissionen aller Fahrzeuge und verschärft sie für die Mofas, für die Mopeds und Kleinkrafträder um jeweils 3 bis 5 Dezibel, dem einzigen Sektor übrigens, für den die Lärmgrenzwerte noch von uns selbst bestimmt werden können. Ich meine, das ist um so wichtiger, als gerade die Lärmentwicklung dieser kleinen Zweiradfahrzeuge der Hauptgrund der Klagen aller Lärmbelästigten ist — neben den Lkws und der ungezügelten Fahrweise einzelner. Die intensive Weiterentwicklung zu leiseren Reifen und geräuscharmen Fahrbahnbelägen ist ein ebenso hilfreiches Instrument wie die gerade gesetzlich geschaffenen Möglichkeiten zur Anlage verkehrsberuhigter Wohnzonen oder anderer verkehrsbeeinflussender Maßnahmen.Wir können mit der Opposition sicher noch lange darüber diskutieren, ob neben den neuen auch die bestehenden Schienenwege in den Maßnahmenkatalog des Gesetzes hätten aufgenommen werden sollen. Wir meinen, daß mit unserer Forderung im Entschließungsantrag, ein großzügiges Sonderprogramm für Sanierungsmaßnahmen in Härtefällen aufzulegen, dem betroffenen Bürger schneller und effektiver Schutz gebracht wird.Alles in allem, meine Damen und Herren, ist das ein sehr ausgewogenes, entgegen allen Unkenrufen nachweisbar solide finanzierbares und an der berechtigten Interessenlage aller Bürger orientiertes Gesetz, das seinen Beitrag für ein menschenwürdigeres Leben auch in Ballungsräumen nicht verfehlen wird.Meine Damen und Herren, der Bundestag hat seine Arbeit geleistet. Nun wird der Bundesrat zeigen müssen, ob er gleichermaßen bereit ist, die äußersten auch finanziellen Anstrengungen zu unternehmen, um den großen Worten und Forderungen nun endlich Taten folgen zu lassen. Für die Freien Demokraten jedenfalls fügt sich diese wichtige Gesetzgebung nahtlos in ihre Umweltschutzpolitik ein, die sie in ihren Freiburger Thesen 1971 als erste Partei in einem geschlossenen Programm formuliert und in Regierungsverantwortung systematisch wie konsequent verwirklicht hat. Bis auf das Umweltchemikaliengesetz, das sich ja mitten in der parlamentarischen Beratung befindet, sind damit die rechtlichen Grundlagen im Umweltschutz praktisch vollständig — und das, nachdem Liberale die Umweltvorsorge schon vor einem Vierteljahrhundert zur politischen Pflichtaufgabe gemacht haben.Sie weiter zu verbessern, wird die große politische Herausforderung für die FDP auch in der Zukunft bleiben. Mit Erleichterung und guten Gewissens können die Freien Demokraten diesem Gesetz zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bisher war der Schutz vor Verkehrslärm im Vierten Teil des Bundes-Immissionsschutzgesetzes von 1974 geregelt. Durch § 43 dieses Gesetzes wurde die Regierung ermächtigt, nach Anhörung der beteiligten Kreise und nach Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung Vorschriften über bestimmte Grenzwerte und bestimmte technische Anforderungen zu erlassen. Die Bundesregierung war ebenfalls berechtigt, danach über notwendige Schallschutzmaßnahmen an baulichen Anlagen zu entscheiden. Da gerade die Regierung 1974 bei der Beratung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes einen so großen Wert auf diese Möglichkeit zum Erlaß von Rechtsverordnungen legte, konnte angenommen werden, daß sie davon auch Gebrauch machen würde. Aber das, meine Damen und Herren, war ein großer Irrtum. Darum muß heute hier die Frage gestellt werden, warum die Bundesregierung seit 1974, seit sechs Jahren, von diesser Möglichkeit des § 43 keinen Gebrauch gemacht hat.
In einem Aktionsprogramm — „Lärmschutz für Straße und Schiene" — vom 6. Juni 1979 heißt es u. a.:
Das Bundes-Immissionsschutzgesetz vom 1. April 1974 hat wesentliche Akzente gesetzt für einen wirksamen Schutz vor Verkehrslärm, der von Straßen und von Schienen ausgeht. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zum Schutz gegen Verkehrslärm von Straßen und Schienen vom 21. Dezember 1977
— so heißt es weiter —
will die Bundesregierung den eingeschlagenen Weg fortsetzen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schäfer?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Volmer, wenn Sie an die damaligen Beratungen zur Verabschiedung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und an die Bestimmungen dieses Gesetzes erinnern, dann muß ich Sie heute fragen: Hat Ihre
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Dr. Schäfer
Nachprüfung nicht auch ergeben, daß wir damals mit der Bestimmung des § 43 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes die Verfassung überstrapaziert haben, indem wir der Regierung das Recht gaben, eine Sache durch Rechtsverordnung zu regeln, die sich bei näherer Betrachtung nur durch ein Gesetz regeln läßt?
Herr Kollege Schäfer, ich muß dazu sagen, daß das gerade die Forderung des Verkehrsministeriums war. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu überprüfen, ob die Verfassung nach Ihrer Auffassung strapaziert wird. Dazu wäre die Regierung berufener als wir. —Ich darf also nochmals wiederholen:Mit dem Entwurf eines Gesetzes zum Schutz gegen Verkehrslärm von Straßen und Schienen vom 21. Dezember 1977 will die Bundesregierung den eingeschlagenen Weg fortsetzen.Und nun, Herr Kollege Schäfer, wird der Weg aufgehoben. Wenn die Ausschüsse den Entwurf so verabschiedet hätten, wie ihn die Regierung vor über zwei Jahren eingebracht hat, wäre der bisherige Weg tatsächlich fortgesetzt worden, d. h., auf diesem Sektor wäre absolut nichts geschehen. Und so weiß man nicht recht, ob man mit einem neuen Gesetz doch nicht nur die Versäumnisse bezüglich § 43 Bundes-Immissionsschutzgesetz vergessen machen will.In jedem Fall, meine Damen und Herren, bringt der vorliegende Gesetzentwurf hinsichtlich des Anwendungsbereiches einen Rückschritt gegenüber dem Vierten Teil des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Während es in diesem Bundes-Immissionsschutzgesetz um die Bekämpfung des Verkehrslärms an Straßen-, Schienen-, Wasser- und Luftfahrzeugen ging, heißt es im sogenannten Verkehrslärmschutzgesetz, daß es den Verkehrslärm an Straßen abschließend regele. Dagegen ist der Schienenlärm nur in der Vorsorge, nicht aber in der Sanierung erfaßt. Dieses hat der Verkehrsausschuß richtig erkannt. Darum heißt es in der Beschlußempfehlung unter Nr. 3:Die Bundesregierung wird dazu aufgefordert, zur Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen der Deutschen Bundesbahn, insbesondere an Hauptbahnen und Rangierbahnhöfen, nach Inkrafttreten. des Verkehrslärmschutzgesetzes ein Sonderprogramm vorzulegen.Sieht man sich, meine Damen und Herren, diese Forderung einmal bei Lichte an, verblaßt ihr Inhalt. Was heißt denn eigentlich „Sonderprogramm"? Davon haben wir doch mittlerweile genug. Die Sonderprogramme verpflichten zu nichts, schaffen keinen Rechtsanspruch und lassen der Regierung jede Zeit, diesen Dingen nachzugehen. Aus dieser Sicht hat das Verkehrslärmschutzgesetz einen Namen, der für seinen Inhalt viel zu anspruchsvoll ist.Wenn auch die meisten Menschen in erster Linie vom Straßenverkehrslärm unangenehm betroffen werden, so müssen auch Flug- und Schiffslärm mit besseren Schutzvorschriften bekämpft werden. In vielen Fällen kommt es zu einer Addition von Lärm aus verschiedenen Quellen. Die Regelungen zurBekämpfung des Lärms finden sich aber in unterschiedlichen Gesetzen, wie dem vorliegenden Gesetzentwurf, dem .Gesetz zum Schutz vor Fluglärm, dem Gesetz zum Schutz vor Baumaschienenlärm. Wo aber, meine Damen und Herren, ist der Fall geregelt, daß z. B. Lärm aus diesen drei genannten Lärmquellen, der jeweils die Höchstwerte erreicht hat, zusammentrifft? Auch aus dieser Tatsache heraus ergibt sich die Forderung nach einem umfassenden Lärmschutzgesetz.In Ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Koalition erklärt die Bundesregierung, daß der Lärm negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Menschen habe. So sieht die Bundesregierung im Verkehrslärm einen Risikofaktor wie Diabetes oder Übergewicht im Hinblick auf das Herz-KreislaufSystem. Auf 16 DIN-A 4-Seiten befaßt sich die Regierung dann mit der Lärmbelästigung. So erklärt die Bundesregierung unter anderem, daß die Abwanderung aus innerstädtischen Bereichen in hohem Maße mit lärmbedingt verringertem Wohlbefinden motiviert sei. Wenn die Bundesregierung aber diese Erkenntnisse hat, muß man fragen, warum sie dann einen so mageren Gesetzentwurf vorgelegt hat, wie das übereinstimmend von allen bisherigen Rednern bestätigt wurde. Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der Regierung ist ohnehin im Laufe der Ausschußberatungen zweimal so stark verändert worden, daß der gesamte Gesetzestext neu vorgelegt werden mußte.Bei der Beratung in den Ausschüssen konnten die Berichterstatter feststellen, daß die Bundesregierung mit drei Zungen sprach. Die beteiligten Ministerien gingen ausnahmslos von anderen Zahlen aus. Nur der Hartnäckigkeit der Berichterstatter war es zu danken, daß es zu einer Annäherung der Zahlen und damit auch zu kostengünstigeren Werten kam. Dabei konnten sich die Berichterstatter der Erfahrungen der Länder Bayern und Hessen bedienen, die, wie auch einige andere Bundesländer, bereits Lärmsanierungen durchführen. So wäre das Gesetz bald an der Disharmonie beteiligter Ministerien gescheitert.
Dieses Gesetz ist keine Glanzleistung der Regierung. Viele Fragen sind offengeblieben, und davon darf ich einige ansprechen. § 10 Abs. 3 spricht davon, daß die Lärmsanierung in Lärmschutzmaßnahmen an der Straße besteht. Wenn diesen aber überwiegende öffentliche oder private Belange entgegenstehen oder wenn die Aufwendungen unverhältnismäßig hoch sind, können auch Lärmschutzmaßnahmen an den baulichen Anlagen durchgeführt werden.Zunächst muß festgestellt werden, daß sich der Lärmschutz nur auf das Wohnungsinnere bei geschlossenem Fenster bezieht. Das geöffnete Fenster und die Freibereiche menschlichen Wohnens, wie Balkon, Terrasse, Hausgarten, gehören nicht dazu.
Das Umweltbundesamt hat sich nach dem Hearingauch mit diesen Fragen befaßt und erklärt, daß derBürger auch bei einem spaltbreit geöffneten Fenster
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Volmerbefriedigende Schlafbedingungen finden muß. Die Formulierung des § 10 Abs. 3 ist geradezu geeignet, permanente rechtliche Auseinandersetzungen zwischen Baulastträger und Bürger nach sich zu ziehen.Dasselbe gilt für § 11 Abs. 2, wo es dem Träger der Straßenbaulast überlassen ist, die Ansprüche nach Dringlichkeit zu erfüllen. Dieses zwingt die Gemeinden dazu, die betroffenen Straßen in Dringlichkeitsstufen einzuordnen und entsprechende Sanierungsprogramme zu erarbeiten. Wenn es dann zwischen dem Baulastträger und dem Eigentümer der baulichen Anlage zu keiner Einigung kommt, ist nach dem Gesetz über den Anspruch durch schriftlichen Bescheid oder Planfeststellungsbeschluß zu entscheiden. Welcher Umstand!Nach welchen Gesichtspunkten soll dieses Verfahren überhaupt laufen? Was heißt hier „Einigung über einen Anspruch? Ich fürchte, daß diese Punkte insbesondere dann zu einem Dauerbrenner aller Gemeinderatssitzungen werden, wenn, wie in Nordrhein-Westfalen, über Beschwerden der Bürger in öffentlicher Ratssitzung entschieden werden muß.Auch § 12 Abs. 3 Satz 3 ist wenig praktikabel. Hier wird festgelegt, daß den Anspruchsberechtigten die notwendigen Aufwendungen — allerdings nur zu 75 % — erstattet werden. Welche Aufwendungen notwendig sind, entscheidet die Gemeinde. Wenn keine Einigung erzielt werden kann, entscheidet die Behörde, die nach Landesrecht zuständig ist. Das heißt, daß durch Landesrecht erst noch die Behörde bestimmt werden muß, die dann entscheidet.Wer will den Gemeinden die durch dieses umständliche Verfahren zusätzlich entstehenden Mehrkosten ersetzen? Bei zu hohen Kosten werden die Gemeinden keine übergroße Eile entwickeln; nach dem Gesetz können sie sich auch bis zum Jahr 2000 Zeit lassen. Das Jahr 2000 scheint im Gesetz überhaupt die einzige Zukunftsperspektive zu sein.
Um den Gemeinden hier zu helfen, hat die CDU/ CSU im Innenausschuß den Antrag gestellt, die im Haushaltsstrukturgesetz beim Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz vorgenommene Kürzung um 10 % aufzuheben. Leider haben SPD und FDP diesen Antrag abgelehnt. In diesem Zusammenhang darf ich auf das zurückkommen, was vorhergehende Redner gesagt haben, und auf die Ausschußvorlage des Verkehrsausschusses 271 verweisen, wo in neun Punkten Anliegen der CDU/CSU-Fraktion fast ausnahmslos ohne Beteiligung der SPD diskutiert und verabschiedet werden mußten.Über die Lärmbekämpfung an der Quelle sagt das Gesetz nichts aus, und gerade hier gibt es Möglichkeiten der Lärmminderung. Nun sagt die Regierung selbst, daß das Gesetz zwar fühlbare Entlastung bringt, die jedoch in ihrer räumlichen Auswirkung sehr begrenzt ist. Warum, so frage ich, schlägt sich diese Erkenntnis der Regierung nicht in der Vorlage eines besseren Entwurfs nieder?Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum Abschluß feststellen, daß dieses Gesetz wie viele andere vor ihm den Namen „Reformgesetz" nicht verdient. Es kaschiert zum Teil das Nichttätigwerden der Regierung nach § 43 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Wenn die CDU/CSU diesem inhaltlich mageren Gesetzentwurf trotzdem zustimmt, dann deshalb, weil es vornehmlich durch Initiative meiner Parteifreunde gelungen ist, die Altstraßen in die Sanierung einzubeziehen. Außerdem konnten im Rahmen der Ausschußberatungen die Grenzwerte für die Lärmbelästigung um 3 dB gesenkt werden. Das entspricht allerdings nicht den Wünschen der Politiker — ich sage jetzt: aus allen Fraktionen —, die vorher in der Öffentlichkeit immer von einer Senkung um 5 dB (A) gesprochen haben. Die Koalitionsvereinbarung hat diesen Wert offensichtlich nicht zugelassen, obwohl in verschiedenen Ländern bei Straßenneubauten niedrigere Werte angewendet werden.Von daher, meine Damen und Herren, wird sich niemand über dieses Gesetz freuen können, wenn es auch ein wenig mehr ist als die nichterlassenen Rechtsverordnungen zu § 43 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hartenstein.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen Hanz veranlassen mich, jetzt gleich etwas zu sagen, worauf ich eigentlich erst am Schluß eingehen wollte.Herr Kollege Hanz, das Verkehrslärmschutzgesetz ist in seiner vorliegenden Form ein gutes und hilfreiches Gesetz,
wenn auch nicht alle Blütenträume der Umweltschützer gereift sind. Es gehört in die lange Reihe der großen Umweltgesetze, die seit Beginn der sozialliberalen Koalition geschaffen wurden.
— Jawohl! Das Fluglärmgesetz, das Benzinbleigesetz, das Bundes-Immissionsschutzgesetz waren wichtige Schritte nach vorn, zu mehr Lebensqualität und mehr Schutz der Gesundheit.
Viele im Lande — lassen Sie mich das gleich hinzufügen —, die sich heute so sehr um die Erhaltung von Natur und Umwelt sorgen, wissen nur, was ihnen nicht gefällt. Die wenigsten wissen, was tatsächlich geleistet worden ist. Nach der Verabschiedung des Umweltprogramms der Bundesregierung 1971 wurden Zug um Zug die notwendigen Gesetzgebungsverfahren verwirklicht, um die riesige Umwelthypothek abzutragen, die sich nach 20 Jahren sorglosen Draufloswirtschaftens angehäuft hatte. Das haben wir in Angriff genommen, nicht Sie.Auch von einem Rückschritt, Herr Kollege Volmer, kann, was das Bundes-Immissionsschutzge-
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Frau Dr. Hartensteinsetz betrifft, keine Rede sein. Die Problematik des Lärms an bestehenden Schienenwegen ist in dem auch von Ihnen mitgetragenen Entschließungsantrag voll aufgefangen worden und wird entsprechend geregelt werden.Meine Damen und Heren, wenn man den Statistiken glauben will, dann hat sich der Lärm in unserem Land seit 1950 versiebenfacht. Der Löwenanteil davon geht auf das Konto des Straßenverkehrs. Heute tummeln sich rund 25 Millionen Kraftfahrzeuge auf unseren Straßen: Personenwagen, Motorräder, dröhnende Lastwagen, nervenzermürbende Mopeds.Nun hat das Anwachsen des Individualverkehrs natürlich auch seine positiven Seiten. Es ist ein Ausweis für den errungenen hohen Lebensstandard, ein Ausweis dafür, daß nicht nur einige wenige Leute, sondern breite Schichten unserer Bevölkerung an diesem hohen Lebensstandard teilhaben können. Dies ist ohne Zweifel ein großer Erfolg, dies ist politisch so gewollt. Und seien wir doch ehrlich: Wir fahren alle gern Auto, keiner will auf sein geliebtes Vehikel verzichten.Nur: Die Kehrseite der Medaille, die Kehrseite der glänzenden Blechlawine zeigt mittlerweile immer häßlichere Konturen. Neben der Verpestung der Luft durch Abgase, neben der Konzentration von Schadstoffen in den Innenstädten haben wir eine unglaubliche Lärmüberflutung bis in die Wohnungen hinein, ganz abgesehen von den erschreckend hohen Unfallzahlen. Die Unwohnlichkeit und die Unwirtlichkeit unserer Städte, die Alexander Mitscherlich schon Anfang der 60er Jahre prophezeit hat, sind leider in vielen Fällen Wirklichkeit geworden. Heute müssen wir erkennen: Es war ein Fehler, ohne Rücksicht auf menschliche Wohnstätten und gewachsene Stadtbilder breite Schneisen durch die Städte zu hauen und Schnellstraßen nicht selten auf der Höhe der Wohn- oder Schlafzimmerfenster der Häuser vorbeizuführen; und es war ein falsches Ideal, daß jede Dorfstraße zur Rennstrecke ausgebaut werden mußte.Jeder zweite Bürger in der Bundesrepublik gibt bei Befragungen an, daß er unter Lärm leide. Etwa 15 bis 20 Millionen Menschen sind auch in ihrem Wohnbereich ständig durch Verkehrslärm beeinträchtigt. Die Mediziner nennen zwar keine genauen Grenzen, bei deren Überschreiten die Lärmbelastung zu Gesundheitsschäden führt. Aber sie lassen keinen Zweifel daran, daß Dauerlärm Herz-und Kreislauferkrankungen verursacht, Gefäßveränderungen und erhöhten Blutdruck hervorruft und das Nervensystem empfindlich angreift. Kurzum: Lärm macht die Menschen krank.Am härtesten sind in aller Regel die betroffen, die in eng bebauten Ortskernen oder in dicht bevölkerten Siedlungen wohnen, weil sie nicht das nötige Geld haben, um sich ein Häuschen im Grünen leisten zu können. Ebenso hart betroffen sind viele Arbeitnehmer, die häufig einer Doppelbelastung ausgesetzt sind: zum einen durch Streß und Lärm am Arbeitsplatz, zum anderen durch ähnlich belastende Bedingungen in ihrem Wohnumfeld. Hier muß dringend etwas geschehen, und zwar rasch und effektiv.Das Verkehrslärmschutzgesetz tut dies. Es ist ein mutiges Gesetz. Es packt die Frage der Lärmvorsorge und der Lärmsanierung gleichzeitig an. Durch die niedrigeren Werte an Neustraßen und Schienenwegen soll verhindert werden, daß die schlimmen Entwicklungen der Vergangenheit sich wiederholen können. Das bedeutet auch, daß künftig neue Maßstäbe beim Verkehrswegebau überhaupt angelegt werden müssen.Es ist keine Frage, daß das zu einer teureren Bauweise führt: Trassen in Tieflage, Überdeckelungen, Grünbrücken, Tunnelbauten machen den Straßenbau insgesamt teurer. Das müssen wir aber in Kauf nehmen. Nach einer INFAS-Umfrage von 1977 haben 75 % der Bevölkerung der Leitlinie des Bundesverkehrsministers „Lärmschutz geht vor Kilometern" zugestimmt. In den Zielvorgaben für den Straßenbau, die im neuen Bundesverkehrswegeplan 1980 enthalten sind, hat der Bundesverkehrsminister dies ebenfalls berücksichtigt, indem er unmittelbar nach dem Kriterium „Verkehrssicherheit" das Kriterium „Lärmschutz" verankert.Verkehrslärmschutz erfordert eine gewaltige Kraftanstrengung, auch in finanzieller Hinsicht. Da der Bund dabei den Hauptbrocken zu verdauen hat, sei den Finanzpolitikern, an der Spitze dem Finanzminister, der die Verantwortung für das Haushaltsbuch der Nation trägt, an dieser Stelle ausdrücklich dafür gedankt, daß in so erheblichem Maß umweltfreundliche Verbesserungen möglich waren.
Eigentlich aber dürfte es letztlich gar nicht so sehr darum gehen, möglichst viel Geld auszugeben, Herr Waffenschmidt. Ganz im Gegenteil. Städte und Gemeinden sollten ihren Ehrgeiz darein setzen, möglichst wenig ausgeben zu müssen — nicht durch kleinliche Handhabung der Vorschriften, sondern dadurch, daß sie das tun, was gar nicht im Gesetz steht, nämlich neue Konzeptionen des Städtebaus und neue Konzeptionen der Verkehrsplanung zu entwickeln, die darauf abzielen, wieder eine Stadt für Menschen zu schaffen statt eine Drehscheibe für Blechkarossen.
Wenn das Gesetz im Hinblick auf diese sogenannten flankierenden Maßnahmen eine Initialzündung auslöst, dann hat es schon einen großen Teil seines Zwecks erreicht. Wenn die Instrumente der Verkehrslenkung, der Verkehrsbündelung und der Verkehrsberuhigung systematisch eingesetzt werden, dann wird — ich wage, es auszusprechen — das Ganze im Endeffekt vielleicht sogar billiger als heute angenommen. Lärmschutzwände, -mauern und -wälle sind ja nicht der Weisheit letzter Schluß, genausowenig wie Schallschutzfenster — da gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege Volmer —; sie sind Hilfskonstruktionen, eine Notlösung überall da, wo es nicht anders geht.
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Frau Dr. HartensteinNichts wäre schlimmer, als wenn das Verkehrslärmschutzgesetz als ein bloßes Reparaturinstrument mißverstanden würde. Es soll vielmehr Mut machen, neue Prioritäten zu setzen; Mut ein regelrechtes System von Einbahnstraßen, Sackgassen, Wohn- und Spielstraßen einzurichten; Mut, Fußgänger, Radfahrer, Motorradfahrer und Autofahrer als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer zu behandeln; Stolperschwellen einzubauen, wo es nötig ist, und insbesondere in fußgängersensiblen Bereichen einen Rückbau von Straßenflächen vorzunehmen — Beispiele gibt es bereits in Holland, in Frankreich, in Schweden und auch in der Bundesrepublik —; Mut auch, die öffentlichen Nahverkehrsmittel so zu fördern, so auszubauen und so attraktiv zu machen, daß sie vom Bürger angenommen werden.Das vorrangige Ziel muß sein, den Durchgangsverkehr und insbesondere den Schwerlastverkehr überall da herauszunehmen, wo er nichts zu suchen hat. Es ist doch ein inhumaner Zustand, daß heute viele den Nachbarn auf der anderen Straßenseite nicht mehr ohne Lebensgefahr aufsuchen können, daß ältere Menschen im Straßenverkehr enorm gefährdet sind, daß unsere Kinder von früh an einem Disziplinierungsstreß unterworfen werden müssen und keinen spontanen, sprich: unbedachten Schritt außerhalb des Hauses mehr tun können. Die Stadt muß wieder den Menschen gehören.
Die Bundesregierung hat im Juni 1979 ein Aktionsprogramm „Lärmschutz" beschlossen. Es zeigt, daß dem Gesamtkomplex „Lärmbekämpfung" nur mit einer umfassenden „Paketlösung" beizukommen ist. Das heute zu verabschiedende Gesetz ist nur ein Teil dieses Pakets, aber ein wichtiger Teil, weil er sofort greift und sofort hilft. Mit Recht nennt die Bundesregierung an erster Stelle die Lärmreduzierung an der Quelle, also am Fahrzeug selbst. Nach dem Verursacherprinzip — einem der Eckpfeiler unserer Umweltpolitik — wäre dies auch der richtige Ansatz. Technisch ist heute bereits eine beträchtliche Verminderung der Emissionen am Fahrzeug möglich, bei Lastwagen und Omnibussen sogar bis zu einer Halbierung des Lärms. Eindrucksvolle Beispiele gab es übrigens im Februar auf der Umweltmesse in Düsseldorf zu hören und zu sehen.
— Ich bin sofort fertig.
Wegen der notwendigen Abstimmung innerhalb der EG ist dieses Ziel allerdings nur mittelfristig erreichbar. Bis 1985 wird die Bundesregierung Zielwerte vorschlagen, die erheblich unter den heute zulässigen Lärmgrenzwerten liegen. Der beste Lärmschutz ist natürlich, weniger Lärm zu erzeugen. Das ist eine simple Logik. In der Luftfahrt gäbe es heute keinen Airbus und keine „flüsternden Riesen" wie den Jumbo-Jet, wenn nicht der weltweite Aufschrei geplagter Menschen in der Umgebung von Flughäfen die Industrie und die Luftverkehrsgesellschaften dazu gezwungen hätten, in dieser Richtung tätig zu werden.
Frau Abgeordnete, ich bitte Sie, Ihre Rede zu beenden.
Also ist der Einsatz des Schweißes der Edlen wert.
Lassen Sie mich abschließen. Wenn ein bekannter Slogan sagt: „Eine mobile Gesellschaft braucht Straßen", dann möchten wir hinzufügen: Eine humane Gesellschaft braucht auch eine menschenwürdige Umwelt. Das Verkehrslärmschutzgesetz wird dazu einen guten Beitrag leisten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Paterna.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe fünf Minuten Zeit, um die wesentlichen Elemente der Wohnungs- und Städtebaupolitik im Rahmen dieses Verkehrslärmschutzgesetzes darzustellen.Erstens. Wir haben klargestellt, daß beim Bau neuer Verkehrswege in der Nähe vorhandener Wohnbebauung oder umgekehrt neuer Wohnbebauung in der Nähe vorhandener Verkehrswege eine solche Planung Vorrang hat, die störenden Lärm von vornherein vermeidet. Erst in zweiter Linie kommt aktiver Schutz durch Lärmschutzwälle und -wände, durch Einschnitte und Tunnelungen in Frage. Nur wo nichts anderes übrigbleibt, sind Schutzmaßnahmen am Gebäude selbst vorzunehmen. Diese Rangfolge ist für Stadt- und Verkehrsplaner verbindlich und für die Bewohner unserer Städte und Gemeinden von besonderer Bedeutung.Zweitens. Die Lärmsanierung an bestehenden Landes- und Kommunalstraßen ist eine noch erheblich weiter reichende Ergänzung dieses Regierungsentwurfs. Ich will Ihnen das an Zahlen aus Hamburg verdeutlichen. In Hamburg gibt es 190 Straßenzüge mit vier- bis sechsgeschossiger Bebauung und einer Grenze oberhalb 75 dB am Tag und 65 dB (A) nachts. Auf der Basis der Annahme einer 50%igen Eigenbeteiligung sind in Hamburg Kosten für die öffentliche Hand in Höhe von 450 Millionen DM errechnet worden. Da wir die Grenzwerte jetzt erheblich herabgesetzt und die Eigenbeteiligung auf 25 begrenzt haben, kann man mit etwa den doppelten Kosten für die öffentlichen Hände rechnen — eine wahrhaft gigantische Aufgabe!Drittens. Bund, Länder und Gemeinden werden darauf zu achten haben, daß die Lärmsanierung an Altstraßen nicht zu einem Fensterindustrie-Subventionierungsprogramm degeneriert. Der Wohn- und Freizeitwert unserer Städte muß umfassend verbessert werden. Deshalb bleibt — darauf haben die Vorredner hingewiesen — die Bekämpfung von Lärm und Abgasen an der Quelle vorrangig. Dazu gehören: verschärfte Baunormen für Fahrzeuge und deren Überwachung, verkehrslenkende und -beschränkende Maßnahmen, Priorität für den öffentlichen Personennahverkehr, insbesondere während der Zeiten des Berufsverkehrs, Annäherung von Wohn-, Einkaufs- und Arbeitsstätten, Ausbau der Radwege und vieles mehr. Mit anderen Worten: . Das Verkehrslärmschutzgesetz darf nicht zu einer Hängematte für Politiker degenerieren; auch darf es nicht als Allheilmittel betrachtet werden. Die Städte
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Paternaund Dörfer haben Probleme, die nicht nur den Bundesgesetzgeber herausfordern, sondern in besonderem Maße auch die Kommunalpolitiker und -verwaltungen, und zwar im engen Zusammenwirken — darauf sollten wir Wert legen — mit den betroffenen Bürgern.
Viertens. Lärmschutzfenster sind auch wärmedämmende Fenster. Insofern war es unsere Aufgabe, die Förderung nach dem Verkehrslärmschutzgesetz mit der Förderung nach dem Wohnungsmodernisierungs- und Energieeinsparungsgesetz zu verbinden. Es kam darauf an, Doppelförderung zu vermeiden; dies ist uns gelungen. Es kam weiter darauf an, Mieter möglichst nicht zusätzlich zu belasten. Denn diejenigen Mieter, die an besonders lärmbelasteten Straßen wohnen, gehören bekanntlich nicht zu den besonders reichen Leuten.Nun gab es hier eine Kollision zwischen dem Wünschbaren und Finanzierbaren. Wir sehen jetzt folgende Regelung vor: Wenn ein Vermieter eine volle Erstattung nach § 4 Verkehrslärmschutzgesetz in Anspruch nimmt, dann kann er nicht über § 3 Miethöhegesetz Kosten auf die Mieter überwälzen. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß Vermieter Erhöhungsspielräume nutzen, soweit diese im Rahmen der ortsüblichen Vergleichsmiete zugelassen sind oder neu eröffnet werden. Nehmen die Vermieter die Erstattung nach § 12 Verkehrslärmschutzgesetz in Anspruch, dürfen sie die Eigenbeteiligung — das ist das restliche Viertel der Kosten — nur mit höchstens 11 % jährlich auf die Mieter umlegen. Damit hat der Gesetzgeber auch in diesem sozial besonders empfindlichen Bereich für größtmögliche Klarheit gesorgt.Lassen Sie mich abschließend folgendes feststellen: Die Fraktionen haben in einem erfreulich großen Maß konstruktiv zusammengearbeitet. Deshalb, Herr Kollege Hanz, möchte ich doch um folgendes bitten: Da wir hier wirklich gut und konstruktiv zusammengearbeitet haben, sollten wir dies hier im Plenum des Deutschen Bundestages auch sagen
und dem Bürger nicht wieder einmal ein von Profilneurosen geprägtes Verhalten präsentieren. Dies allerdings tun Sie, indem Sie sagen: Der Gesetzentwurf der Regierung hat gar nichts getaugt, wir erst haben daraus ein hervorragendes Gesetz gemacht.
Und dann kommt der Herr Kollege Volmer und sagt: Daran wird kein Mensch seine Freude haben. So geht's ja wohl nicht!
Denn dann haben wir in der Verkehrspolitik nicht nur die Sankt-Florian-Methode, sondern auch noch die Aschenputtel-Methode. Also, wir haben hier konstruktiv zusammengearbeitet.
— Frau Präsidentin, ein letzter Satz, mit dem ichmich nicht nur bei den Kollegen der Opposition,sondern auch bei den Beamten der Häuser Justiz, Verkehr und Bau bedanken möchte.
Die Beamten dieser Häuser haben in den letzten Wochen mit den Kollegen aller Fraktionen im Wohnungsbauausschuß in hervorragender, konstruktiver und schöpferischer Weise zusammengearbeitet. Ohne diese Zusammenarbeit wäre das Gesetz — gerade in bezug auf die Mieter — nicht so gut geworden. Auch dafür herzlichen Dank!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wolfgramm.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Auf die kritischen Ausführungen des Kollegen Hanz brauche ich nicht weiter einzugehen; der Kollege Hoffie hat da schon entsprechend gekontert. Aber ich meine, eine Anmerkung ist noch aufzuklären.Herr Kollege Hanz, Sie haben der Regierung vorgeworfen, sie habe ihren Gesetzentwurf nicht auf die bestehenden Straßen ausgerichtet. Der Kollege Volmer hat beklagt, daß die Regierung keinen Gebrauch von der Verordnungsermächtigung gemacht hat. Die Verordnungsermächtigung aber bezieht sich nur auf neue und auf wesentlich veränderte Straßen. Ich bitte die Opposition, ihre Kritikstrategie zu vereinheitlichen, damit sie hier nicht mit zwei Zungen spricht.
Ich meine, dies ist ein gutes Gesetz, und wir haben wirklich viel Mühe darauf verwandt — alle Ausschüsse, die federführend und mitberatend an diesem Gesetz gearbeitet haben. Auch ein Blick auf die Gesetzgebung im Ausland, der ja hin und wieder hilfreich ist, zeigt, daß wir an der Spitze der Umweltschutzgesetzgebung marschieren. Nur in den Niederlanden gibt es ein ähnliches Lärmschutzrecht. Schweden hat einen entsprechenden Gesetzentwurf in Vorbereitung. Die Schweiz hat einen Kommissionsbeschluß, aber mit sehr viel geringerem Inhalt. Ich darf auch einen kurzen Blick über die Grenzen nach Osten werfen. Das Karpov-Institut hat den Bewohnern der UdSSR empfohlen, sich der dort entwickelten Ohrenpfropfen zu bedienen — weich und leicht —; damit würden sie den Lärm um etwa 30 dB mindern. Weiter ist dort noch nichts in Arbeit.Über den Einfluß des Umweltschutzes haben sich meine Vorredner hier schon intensiv geäußert. Wir sollten es begrüßen, daß jetzt auch die Investitionshemmnisse — die Beratung des Gesetzes hat ja zu einem Projektstau geführt — beseitigt werden können. Allerdings werden wir — als umweltpolitischer Sprecher der Fraktion kann ich das nur unterstreichen — eine Projektkürzung in diesem Bereich haben. Bei einem Aufwand von 700 Millionen DM pro Jahr für Lärmschutzmaßnahmen läßt sich das nicht vermeiden. Das bedeutet aber, daß wir uns gleichzeitig auch mit dem Zielkonflikt beschäftigen müssen. Für diesen Zielkonflikt zwischen dem Ausbau der
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Wolfgramm
Verkehrswege und damit einer verbesserten Mobilität für den einzelnen auf der einen Seite und der Beeinträchtigung der Umwelt auf der anderen Seite wird es keine Patentlösung geben. Aber wir werden den öffentlichen Massenverkehr ausbauen und verstärken, ihm eine erhöhte Attraktivität geben müssen.Ich darf hier den niedersächsischen Dichter Wilhelm Busch zitieren: „Doch oh, wie sehr kann man sich täuschen: Es fehlt auch hier nicht an Geräuschen' Deswegen haben wir hier — zu Recht, meine ich — einen Schienenbonus eingeführt, damit die angestrebte Attraktivität nicht durch andere Maßnahmen wieder beseitigt wird.Es ist ferner auch wichtig und nützlich, daß wir im Hinblick auf die Ausdehnung auf 20 Jahre die Eigenbeteiligung von 25 % nach § 3 des Mietbindungsgesetzes als freiwillige Leistung anrechnen und damit auch umlagefähig machen. Das bedeutet, daß die Eigentümer, die ja auch Vorleistungen erbringen können, diese Möglichkeiten selber im Vorgriff wahrnehmen können; dies bringt eine schnellere Umsetzung des Lärmschutzes.Auch die flankierenden Maßnahmen sind angesprochen worden. Über das, was unmittelbar am Auto, an den Straßen und an den Reifen geschehen kann, hinaus werden wir uns auch mit der Auto-Ideologie stärker beschäftigen müssen. Wir werden die Bürger auffordern, von dieser Ideologie Abschied zu nehmen und sich mehr mit den Möglichkeiten zu befassen, die wir anbieten: öffentlicher Nahverkehr, Ausbau der Radwege, bessere Ausnutzung des Kraftfahrzeuges im Berufsverkehr.Die Freien Demokraten stimmen diesem Gesetzentwurf gern zu. Wir werden auch in Zukunft dafür eintreten, daß der Lärmschutz im nationalen Bereich und innerhalb der EG vorankommt.
Das Wort hat Herr Bundesminister Gscheidle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung ist sich darüber im klaren, daß sie bei der Behandlung dieses Gesetzes geprüft wird, inwieweit sie ihre Zusagen in der Regierungserklärung von 1976 erfüllt hat: schrittweise, zu zögernd, ausreichend oder nicht ausreichend. Ich denke, das hier vorliegende Ergebnis ist bei allen kritischen Untertönen, die hier angeklungen sind, auf jeden Fall befriedigend.
Es gibt der Bundesregierung Anlaß, sich zu bedanken für die Kooperation, die hier sowohl zwischen Bund und Ländern stattgefunden hat, sich verdichtend in einem Gespräch des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten, als auch zwischen den Ressorts innerhalb der Bundesregierung als auch zwischen den Fraktionen des Deutschen Bundestages.Wenn man sich zu diesem Thema äußert, ist es, glaube ich, richtig, nicht nur an den notwendigen Zusammenhang aller Maßnahmen, die dem Ziel des Schutzes des Bürgers dienen, und daran zu erinnern, was dazugehört, sondern auch den Nachweis zu führen — das gilt gerade für die Bundesregierung —, daß man sich der Verpflichtungen nicht nur bewußt ist, sondern ihnen Rechnung zu tragen hat. Es handelt sich im wesentlichen um drei Maßnahmebündel, die zusammen gesehen werden müssen: Maßnahmen am Fahrzeug zur Verringerung der Emissionen — das, was in der Debatte schon mit der Kurzbemerkung Bekämpfung des Lärms an der Quelle eingeführt wurde —; verkehrslenkende und verkehrsordnende Vorschriften; schließlich investive Maßnahmen an Verkehrswegen und Wohnungen.Ich darf in Stichworten in Erinnerung bringen, was seitens der Bundesregierung in den letzten Jahren im Zusammenhang mit diesen drei Punkten gemacht wurde. Zum ersten Teil, zu den Maßnahmen am Fahrzeug: Memorandum der Bundesregierung vom 25. Juli 1979 an die EG, in dem die für 1985 von der Regierung vorgeschlagenen Zielwerte enthalten sind. Ich darf mir ersparen, sie vorzulesen. Aber wenn Sie die Freundlichkeit hätten, gelegentlich die Werte zu prüfen, die wir 1970 hatten, die wir jetzt haben und die die Bundesregierung für 1985 vorschlägt, werden Sie die führende Rolle der Bundesrepublik beim Zustandekommen der EG-Entscheidungen eindeutig erkennen.Mit der EG-Richtlinie vom 23. November 1978 wurden z. B. die Grenzwerte für Krafträder um 5 Dezibel reduziert. Die Bundesregierung geht mit ihren Zielwerten für 1985 jedoch schon wieder einen Schritt weiter. Die Änderung der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung, die vorbereitet wird, wird für eine wesentliche Reduzierung des Lärms bei Mofas, Mopeds und Kleinkrafträdern sorgen. Vor allem wird durch die umweltfreundlichen Leichtkrafträder, die unsere Industrie entwickelt, auf diesem Gebiet ein weiterer Beitrag geleistet.Zum zweiten Punkt, zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes. Die Kolleginnen und Kollegen erinnern sich sicherlich an die in diesem Zusammenhang geführten Erörterungen in den letzten Wochen. Mit der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Änderung wird die Einrichtung verkehrsberuhigter Wohngebiete gefördert. Das vorgesehene Lkw-Parkverbot in Wohngebieten trägt dem angestrebten Ziel ebenfalls Rechnung. Schließlich wird die Parkbevorrechtigung der Anwohner die Fahrzeugbewegungen in der Innenstadt in erheblicher Zahl reduzieren.Zum dritten Punkt, dem Verkehrslärmschutzgesetz, das heute zur Beratung ansteht. Hier wird ein Kompromiß zwischen den Zielen, den Forderungen hinsichtlich des Lärmschutzes und dem gesucht, was dem Staat zu finanzieren möglich ist. Natürlich macht sich die Formulierung gut, daß von dem ehemaligen Entwurf der Bundesregierung nach den Beratungen außer der Berlin-Klausel nichts mehr zu erkennen sei. Solche flotten Formulierungen haben natürlich den Vorteil, daß sie im Gedächtnis haften
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16388 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Bundesminister Gscheidlebleiben. Dabei wird allerdings weniger berücksichtigt, ob unser kritischer Verstand solche flotten Formulierungen eigentlich gestattet.Wenn Sie den Gesetzentwurf der Bundesregierung und die Beschlüsse des Ausschusses einmal in Ruhe vergleichen — was in einer auf Auseinandersetzung angelegten Debatte kaum möglich ist —, werden Sie zu dem Ergebnis kommen, daß Sie den Beweis für Ihre Behauptung nicht antreten können; denn wesentliche Kernbereiche des Regierungsentwurfs sind natürlich erhalten geblieben. Ich bringe sie Ihnen in Erinnerung. Die Lärmvorsorge bei allen Straßen und die Sanierung bei Bundesfernstraßen ist unverändert Bestandteil des Gesetzes. Die Festlegung von Immissionsgrenzwerten nach Baugebieten ist unverändert Bestandteil ebenso wie die Definition der wesentlichen Änderung von Straßen und Schienenwegen, ein außerordentlich wichtiger Punkt innerhalb des Gesetzes. Gleichfalls sind die Behandlung beim Zusammentreffen mehrerer Verkehrslärmquellen und natürlich — es war ja nicht uninteressant, daß Sie den Teil von Ihrer Kritik ausgenommen haben — die Berechnung der Mittelungspegel bei Straßen und Schienen unverändert Bestandteil des Gesetzes.Nun gebe ich zu: Wer nicht gerade Ingenieurwissenschaften als Hobby betreibt oder darin tätig ist wie der Vorsitzende, tut sich schwer mit dieser Anlage. Aber Sie werden zur Kenntnis nehmen müssen, daß dieser schwierige Teil des Gesetzes bezüglich der tatsächlichen Planungskenngrößen — das ist der wichtigste Teil des Gesetzes — heute noch unverändert in Punkt und Komma gilt. Das sage ich schon im Interesse der Fachbeamten, die sich Mühe gegeben haben, ein gutes Gesetz zu machen.
Ich glaube, daß zu einer Darstellung aus der Sicht der Bundesregierung auch der Hinweis gehört, daß wir uns im Umsetzen unserer Führungsrolle — im Sinne der besten Schutzbestimmungen gegen Verkehrslärm nach Verabschiedung dieses Gesetzes in der EG — außerordentlich schwertun. Ich darf die Damen und Herren des Bundestages aus diesem Anlaß bitten, dort, wo sie die Möglichkeit haben, bei ihren Auslandsreisen etwas stimulierend auf Nachbarländer einzuwirken, dies doch zu tun. Einige der Dinge, die auf Initiative der Bundesregierung in 1973 zurückgehen, haben durch eine andere Vorstellung, durch eine andere Gewichtung der einzelnen Werte in unseren Nachbarländern teilweise derart lange Laufzeiten, daß das Bemühen, unsere alten Werte umzusetzen, beispielsweise durch eine ganz andere Wertung der Zielgrößen in Italien zu einer Projizierung unserer jetzigen Lärmschutzbestimmungen in das Jahr 1984 hinein führt. Damit wird deutlich, wie schwer so etwas innerhalb der EG durchzusetzen ist. Dessenungeachtet werden wir uns darum weiter bemühen.Ich glaube, es gehört aber auch zu unserem sonstigen Handeln, dort, wo wir die Zuständigkeit dazu haben, flankierend alles zu versuchen, um dem Kernziel näherzukommen, nämlich die Lebensqualität unserer Städte zu fördern, um die Bewegungen, die wir registrieren müssen — das ist schon in derDebatte angeklungen: es sind unter anderem Bewegungen, die durch zunehmenden Lärm ausgelöst werden —, in Grenzen halten zu können.Ich will Ihnen ein Beispiel dafür nennen, was ich darunter verstehe. Die Deutsche Reichspost hatte in den 20er Jahren schon einmal ihre Paketzustellung mit Elektrofahrzeugen vorgenommen. Daß diese Entwicklung unterbrochen wurde, hatte auch mit der Erhöhung der Durchschnittsgeschwindigkeit in den Städten zu tun. Ich habe vor wenigen Wochen Anlaß genommen, in einer Ausschreibung den Ingenieuren von drei großen Pkw-Herstellern in unserem Lande die Aufgabe zu stellen, solche Elektrofahrzeuge wieder zu entwickeln,
die natürlich bestimmte Erfordernisse zu erfüllen haben, z. B. eine Geschwindigkeit von 70 km/h, eine Nutzlast zwischen 1,25 und 1,5 t, ferner einige sonst noch im heutigen Stadtverkehr zu stellende Bedingungen wie Anzugsgeschwindigkeit und dergleichen.Ich kann Ihnen sagen: Alle drei Hersteller sehen sich nach Gesprächen mit ihren Chefingenieuren in der Lage, dies zu erfüllen. Wir hoffen, daß wir Ihnen bald, und zwar für die Abgeordneten des Deutschen Bundestags augenscheinlich, bei der Paketzustellung in Bonn einmal vorführen können, wie das aussieht, wie insbesondere eine Verminderung nicht nur der Geräusche, sondern auch sonstiger Emissionen eintritt. Dahinter steht natürlich die Absicht, durch einen Großauftraggeber wie die Deutsche Bundespost in die deutsche Industrie hinein einen solchen Anstoß zu geben, der dann auch die Exportmöglichkeiten der Industrie stärkt, da solche Fahrzeuge gesucht sein werden.Eine abschließende Bemerkung: Aus vielen Gesprächen nicht nur mit der deutschen Automobilindustrie, sondern auch mit den wichtigsten Automobilherstellern der Welt weiß ich, daß sich die Ingenieure, gerade in der Bundesrepublik mit großem Engagement und mit viel Erfolg der Aufgabe gestellt haben, unsere Forderungen des Immissionsschutzgesetzes und des Lärmschutzes zu erfüllen. Wir dürfen natürlich nicht je nach Aktualität einmal den Sicherheitsaspekt mit erster Priorität versehen, ein anderes Mal das Energiesparen, dann den Lärmschutz, dann die Abgase. Wir müssen den Ingenieuren die Möglichkeit belassen, die Aufgaben zu erfüllen. Das heißt: die Priorität ergibt sich nach dem, was von seiten der Ingenieure in einer sinnvollen Gewichtung der Ziele getan werden kann.Ich denke, wir haben bei dieser Gelegenheit Anlaß, unseren Ingenieuren Dank zu sagen, den Ingenieuren, die sich übrigens über ein solches Wort — nicht nur dann, wenn es hier, sondern auch dann, wenn es an anderer Stelle gesprochen wird — freuen, denn es ist nicht leicht, ein Fahrzeug leichter und gleichzeitig sicherer zu machen, den Benzinverbrauch zu reduzieren und dabei auch noch die Abgase zu reduzieren. Dies ist in einer Optimierung schon möglich, aber es hilft nicht, wenn der eine sagt: jetzt muß das Fahrzeug noch sicherer werden, wenn am anderen Tag ein anderer sagt: jetzt muß es
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Bundesminister Gscheidlenoch leichter werden, und wenn am übernächsten Tag eine andere Forderung erhoben wird.Ich denke, wenn wir unsererseits der deutschen Ingenieurleistungskraft durch das politische Bemühen behilflich sind, zunächst europaweit, aber mit der Absicht, schließlich auch weltweit zu gewissen Normierungen zu kommen, ist dies die beste Voraussetzung dafür, daß nicht derjenige, der in Erfüllung der politischen Forderungen konstruktiv am weitesten geht, auf dem Weltmarkt dadurch bestraft wird, daß sein Fahrzeug, weil er die Forderungen erfüllt, schlechter absetzbar ist als andere.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und seitens der Bundesregierung noch einmal herzlichen Dank an alle Beteiligten — natürlich verbunden mit dem Appell an den Bundesrat, seinerseits durch eine schnelle Beratung des Gesetzentwurfes hilfreich zu wirken.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gruhl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gerade in den letzten Ausführungen ist sehr richtig gesagt worden, daß Lärmbekämpfung mit großem Erfolg eigentlich nur an der Quelle erfolgen kann, nämlich durch Lärmminderung schon bei den Fahrzeugen. Da höre ich nun seit zehn Jahren immer wieder die Klage: Die EG hindert uns daran, etwas zu tun. Ich habe die Befürchtung, auch noch im Jahre 2000 werden wir die Klage hören, die EG gestatte uns nicht, hier an der Quelle neue Vorschriften einzuführen.Herr Hoffie hat gesagt, dies sei wegen der Solidarität mit den anderen Ländern so. Man muß sich einmal fragen, ob hier nicht die Solidarität zu weit getrieben worden ist, denn andere Länder verhalten sich auch nicht immer so solidarisch. Ich erinnere an verschiedene Verhaltensweisen der Franzosen bei anderen Problemen.
Nun ist doch die Frage zu stellen, was hier Vorrang hat. Haben auf Ewigkeit europäische Statuten den Vorrang, oder haben den Vorrang die Menschen, die vor dem Lärm zu schützen sind? Ich frage heute: Was hat die Bundesregierung in diesen zehn Jahren bei der EG Energisches getan, um die anderen Länder davon zu überzeugen, daß eine andere Regelung nötig ist? Und ich kann auch die Opposition fragen, was sie getan hat.
— Ich habe hier doch schon vor acht Jahren die Frage gestellt, was nun mit der EG ist. Sie haben mich aber damals zu wenig unterstützt.Es klang etwas hilflos, als der Herr Minister eben bat, man möge doch stimulieren, jeder Abgeordnete möge irgendwo tätig werden usw. Es ist schon eine Art Resignation, die da herauszuhören war.Wir sind also bei den entscheidenden Problemen angeblich durch die EG-Statuten in unseren Möglichkeiten beschnitten.
— Dann müssen wir diese Statuten eben einmal ändern. Es ist eines unserer Ziele, sie nun wirklich einmal zu ändern.
Nun greifen wir also zu einem Hilfsmittel; wir versuchen, die Bewohner vor dem Lärm auf den Straßen zu schützen. Es würde mich sehr, sehr freuen, wenn ich dazu etwas Positives sagen könnte, nur kann ich das nicht, denn bei der Verabschiedung des Bundes-Immmissionsschutzgesetzes 1974 wurde uns, auch von der Regierung, zuverlässig versichert: Das regelt man alles am besten durch Verordnungen.Herr Kollege Volmer hat heute darauf hingewiesen, daß sechs Jahre vergangen sind, ohne daß eine Verordnung ergangen ist. Jetzt entdeckt man plötzlich, daß man dazu ein Gesetz beschließen muß: genau das Gegenteil von früher.Was sagt z. B. der Deutsche Anwaltverein dazu? Er sagt in seiner Stellungnahme:Der Gesetzgeber will sich zur Aufhebung der §§ 41 bis 43 Bundes-Immissionsschutzgesetz und zur Regelung in einem selbständigen Gesetz erkennbar deshalb entschließen, weil die jetzt im Gesetzentwurf vorgesehenen. Lärmgrenzwerte als Inhalt der Verordnung voraussichtlich von der Rechtsprechung nicht akzeptiert worden wären.Das heißt — klarer gesagt —: die Rechtsprechung hat viel schärfere Grenzwerte gefordert, so in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Mai 1976, wo festgestellt wird, 55 Dezibel am Tage und 45 in der Nacht seien die zumutbare Grenze.
Jetzt fahre ich fort in der Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins:Der Gesetzgeber muß deshalb wissen, daß das Verkehrslärmschutzgesetz gegenüber dem Bundes-Immissionsschutzgesetz den ersten großen Rückschritt darstellt. Ob er dies will, wird er zu entscheiden haben.Juristisch gesehen ist es ja in dieser neuen Regelung durch ein Gesetz so, daß nicht so sehr der Mensch vor dem Lärm geschützt werden soll, sondern der Lärm vor den Ansprüchen der Menschen. Das ist ein wesentlicher Punkt. Das ergibt sich auch aus der Stellungnahme des Anwaltvereins.Nun ging der Streit hauptsächlich um die Kostengesichtspunkte und um die Höhe des Grenzwertes.
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Dr. GruhlDie Bundesregierung hatte eine noch schlechtere Regelung vorgeschlagen. Das weiß jeder. Ich bin der Überzeugung, wenn nicht sobald eine Bundestagswahl anstünde, wäre das Gesetz wahrscheinlich auch in der Fassung der Bundesregierung verabschiedet worden. Aber in letzter Zeit geben sich alle Fraktionen sehr umweltbewußt. Die Gründe sind sehr einsichtig.
— Herr Schulte, gut, daß Sie einen Zuruf machen. Je mehr Stimmen die Grünen in Baden-Württemberg haben werden, um so umweltbewußter werden Sie hier auch. Das ist ein Erfolg, den ich mit Zufriedenheit verbuche.Drei Dezibel sind sehr, sehr wenig, und man kann dafür nicht noch Lorbeeren einheimsen wollen. Ich hätte gern folgendes: eine deutlichere Herabsetzung der Grenze mit höheren Aufwendungen für Lärmschutzmaßnahmen, dafür Jahr für Jahr weniger Straßen. Was wollen wir eigentlich noch mit den vielen Straßen? Sie werden doch wohl auch einiges darüber gehört haben, mit welchen Benzinpreisen wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu rechnen haben. Dann werden wir viel zuviel Straßen haben. Das Straßenbauprogramm ist eigentlich am Ende angelangt. Man sollte mehr an den Bau von Radfahrwegen denken.
Das wird die zukunftsträchtigere Methode des Verkehrs sein. — Es ist nicht abzustreiten, daß Ortsumgehungen und dergleichen noch gebaut werden müssen. Dazu braucht man aber nicht die Milliarden, die hier angesetzt sind.Im übrigen schaffen die zusätzlichen Aufwendungen für den Lärmschutz Arbeitsplätze. Das ist eine zusätzliche Maßnahme, die arbeitsintensiv ist. Durch Streckung der Mittel kann man dies dann auch bezahlen.Ein Wort noch zum Sonderprogramm Schiene. Hier ist schon gesagt worden, das sei eine verbale Erklärung, die überhaupt nichts einbringe. Der Berichterstatter hat doch einen Witz gemacht, als er sagte, die Aufwendungen für die Verminderung des Schienenverkehrslärms könnten ja durch die Erträge der Verkehrsträger gedeckt werden, denn jeder Mensch weiß, daß die Bundesbahn, der wichtige Schienenverkehrsträger, schon seit Jahrzehnten keine Erträge mehr erwirtschaftet.Angesichts der kurzen Redezeit, die mir zur Verfügung steht, kann ich nur kurze Ausführungen machen. Zur Kritik des Gesetzes ließe sich natürlich noch eine Menge sagen, aber die kurze Debattenzeit ist ja auch schon ein Beweis dafür, daß man das Gesetz in seiner Bedeutung nicht so hoch einstuft. Darum kann ich den Streit darüber, welche Fraktion nun wirklich etwas an dem Entwurf verbessert hat, nicht so ganz begreifen — angesichts der Wahl allerdings schon. Aber statt sich hier im Hinblick auf die Änderungen des Entwurfs viel zugute zu halten, sollte man sich gegenseitige Vorwürfe ersparen; denn dieser Streit ist eigentlich ein Streit um den Zipfel einer leeren Wurst.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe die Art. 1 bis 22, Einleitung und Uberschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gegen vier Stimmen ist das Gesetz in zweiter Beratung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein.
Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Das Wort zur Abgabe einer Erklärung zur Abstimmung nach § 59 der Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Niegel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erkenne zweifellos die Verbesserungen des Gesetzentwurfs an, die vor allem meine Freunde im Verkehrsausschuß durchgesetzt haben. Als Mitglied des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau mußte ich mich ebenfalls sehr intensiv mit diesem Gesetz befassen. Aus dieser Sicht kann ich dem Gesetz meine Zustimmung, insbesondere wegen der Beteiligung der Eigentümer nach § 12 dieses Gesetzes, nicht geben.
Erstens. Hier wird das Verursacherprinzip umgedreht. Man ist bisher immer von dem Grundsatz ausgegangen, daß eine Lösung der Umweltfragen nur unter Beachtung des Verursacherprinzips erfolgen könne. Jetzt wird fundamental gegen diesen Grundsatz verstoßen.
Zweitens. Die Eigenbeteiligung bei passiven Sanierungsmaßnahmen führt zu einer beträchtlichen Verteuerung des Wohnens, und zwar gerade in den Gebieten, die sowieso schon von ihrer Lage her benachteiligt sind. Bereits jetzt haben die Mieter eine erhebliche Belastung durch den Anstieg der Mietnebenkosten hinzunehmen. Ich darf nur an die Verteuerung der Energie erinnern.
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, die Geschäftsordnung besagt, daß Sie hier eine kurze Erklärung abgeben können, aber keine Begründung. Ich bitte, eine Erklärung abzugeben.
Ich begründe mein Nein, Herr Präsident. Ich habe dazu vier Punkte vorzutragen.
Sie können hier die Geschäftsordnung nicht anders interpretieren.
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Ich bin auch deswegen dagegen, weil die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme seinerzeit gesagt hat,
daß sie eine Eigenbeteiligung deswegen ablehne, weil dies zu sozialen Ungerechtigkeiten führe.
Drittens ist in vielen Fallen nur ein fiktiver Vorteilsausgleich möglich. Es erfolgt lediglich eine teilweise Minderung erheblicher Nachteile.
Herr `Abgeordneter, Ich bitte Sie, sich an die Geschäftsordnung zu halten, da ich Ihnen sonst das Wort entziehen muß.
Ich darf daran erinnern, daß in vielen Fällen, Herr Präsident, .. .
Sie haben hier an gar nichts zu erinnern, Herr Abgeordneter.
... gerade von Mitgliedern der SPD-Fraktion sehr lange Erklärungen abgegeben wurden.
Herr Abgeordneter, Sie haben sich an die Geschäftsordnung zu halten. Sie haben hier nur eine Erklärung abzugeben, aber nicht die Geschäftsordnung zu interpretieren.
Ich bitte, zum Schluß zu kommen.
Ich darf darauf hinweisen, daß durch die Anrechnung eines fiktiven Vorteilsausgleichs eine angemessene Nutzung des Wohnumfeldes nicht ermöglicht wird.
— Ich bedanke mich für die Belehrung, Herr Wehner. Ich komme in der Rangfolge gleich nach Ihnen.
Viertens. Das Gesetz wird auch nicht für Gesetzesklarheit sorgen, da zu viele ungeklärte Begriffe für öffentlich- und mietpreisrechtliche Fragen darin enthalten sind.
Ich lehne aus diesen Gründen ab.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist gegen vier Stimmen angenommen.
Meine Damen und Herren, wir haben noch über drei Beschlußempfehlungen des Ausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/3730 unter Nr. 2, die eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Der Ausschuß empfiehlt außerdem auf Drucksache 8/3730 unter den Nrn. 3 und 4 die Annahme von Entschließungen. Wer diesen Entschließungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? = Einstimmig so beschlossen. Die Beschlußempfehlungen des Ausschusses sind damit angenommen.
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung des von den Abgeordneten Lemmrich, Dr. Jobst, Dr. Waffenschmidt, Dr. Schneider, Dr. Möller, Dr. Schulte , Dr. Waigel, Kiechle, Glos, Spranger, Regenspurger, Biehle, Dr. Riedl (München), Weber (Heidelberg), Hartmann, Dr. Voss, Dr. Wittmann (München), Niegel, Schwarz, Schartz (Trier), Hanz, Dr. George, Neuhaus, Dr. Laufs, Susset, Dr. Jenninger und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes
— Drucksache 8/1147 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/3723 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Müller
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
— Drucksache 8/3614 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Wiefel
Wünscht einer der Herren Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Herr Abgeordneter Waffenschmidt hat das Wort. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes hat durch die eben erfolgte Verabschiedung des Entwurfs eines Verkehrslärmschutzgesetzes ganz besondere Bedeutung bekommen. Beides hat, wie sich heute auch in dieser Debatte und während aller Ausschußberatungen zeigte, einen engen Zusammenhang.Für meine Fraktion möchte ich um Zustimmung zu dieser unserer Initiative bitten. Ich hoffe, daß alle diejenigen, die eben für den Entwurf eines Verkehrslärmschutzgesetzes gestimmt haben, jetzt auch unserer Initiative zustimmen; denn für die Auf-
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16392 Deutscher Bundestag -- 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Dr. Waffenschmidtgaben, die wir beschlossen haben, muß auch die notwendige Finanzierung gesichert werden.
Das Verkehrslärmschutzgesetz führt zu großen finanziellen Belastungen bei den Städten, Gemeinden und Kreisen. Das wurde heute schon angesprochen. Nach mehreren Kostenrechnungen, die inzwischen vorliegen, wird der kommunale Bereich jährlich mit über 600 Millionen DM belastet.Wenn nun, Herr Staatssekretär Haehser, das Finanzministerium gleich die möglichen Finanzhilfen des Bundes abzieht, um damit eine kleinere Summe an Belastungen für die Gemeinden darzustellen, so führt das meines Erachtens zu völlig unrealistischen Angaben, die letztendlich zu Lasten der Gemeinden gehen, weil die Zuschüsse nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz nur bewilligt werden, so lange der knappe Finanzvorrat reicht. Weil er nicht ausreichend ist, darum ist unsere Gesetzesinitiative heute so notwendig.Die CDU/CSU-Fraktion hat von Anfang an darauf bestanden, daß für die Aufgaben in den Gemeinden nach diesem Verkehrslärmschutzgesetz Finanzhilfen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz bewilligt werden sollen. Leider war der Regierungsentwurf — das muß man noch einmal sagen — in diesem Bereich völlig unzulänglich, weil alle bestehenden kommunalen Straßen herausgelassen wurden. Wenn wir im Hinblick auf Verkehrslärmschutz und GVFG dem Regierungsentwurf gefolgt wären, hätten wir heute in dieser Beratung einen Torso, dann würde der Bürger an einer Bundesstraße Verkehrslärmschutz bekommen, während er an einer kommunalen Straße vielleicht nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz klagen müßte. Ich finde, es ist eine gute Sache — es ist ein sehr wichtiger Erfolg meiner Fraktion, daß wir dies haben klar regeln können —, daß jetzt auch die bestehenden Straßen in den Städten und Gemeinden dabei sind.
— Herr Kollege Hoffie, weil Sie so nett zwischenrufen und das auch soeben anklang, muß ich in diesem Zusammenhang den Vertretern der Koalition noch einmal in Erinnerung rufen, daß es unser Verkehrsausschußvorsitzender war, der uns immer wieder die neuen Kernfragen vorgelegt hat. Es läßt sich nicht leugnen, meine Damen und Herren von der Koalition, daß Sie bei einer ganzen Anzahl von Sitzungen gar nicht in der Lage waren, diese Kernfragen aus Ihrer Sicht zu beantworten. So war es im Verkehrsausschuß.
Weil Sie so nett zwischenrufen, Herr Hoffie, möchte ich auch noch in Erinnerung bringen, daß Sie in der Koalition bei einer Abstimmung so durcheinander waren, daß die SPD auch die FDP in einer wichtigen Frage niedergestimmt hat.
Wir wollen die Dinge doch so betrachten, wie sie waren!Unsere Initiative zielt darauf ab, daß jährlich 260 Millionen DM aus dem Mineralölsteueraufkommen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz zusätzlich in diesen Fonds kommen, aus dem der Lärmschutz dann bezahlt werden soll. Die Kürzungen nach dem Haushaltsstrukturgesetz 1975 sollen rückgängig gemacht werden, damit wir im kommunalen Bereich auch wirklich finanzieren können. Für meine Fraktion möchte ich hier sagen: Wenn wir nun alle miteinander — das hat die Schlußabstimmung erbracht — vom Bund aus den Lärmschutz auch für den kommunalen Bereich wollen, dann müssen wir auch im kommunalen Bereich helfen, diesen Lärmschutz wenigstens zu einem Teil zu finanzieren,
und dürfen dabei die Städte und Gemeinden nicht allein lassen. Das ist der Grund für unsere Initiative.
Nicht nur der Bundesrat — das wurde schon erwähnt —, sondern auch der Wirtschaftsausschuß unseres Hauses hat sich in den Beratungen zu diesem Gesetzentwurf, über den ich gerade spreche, in der Richtung geäußert, daß hier etwas geschehen müsse. So beschloß der Wirtschaftsausschuß einstimmig die Bitte an die Bundesregierung, im Hinblick auf die kommenden Lärmschutzaufgaben zu prüfen, ob die Mittel für den kommunalen Straßenbau erhöht werden können. Die kommunalen Spitzenverbände haben in mehreren begründeten Eingaben darauf hingewiesen, daß die Aufstockung der Mittel im Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz dringend erforderlich ist, um den Lärmschutz praktisch auch wirklich sicherstellen zu können. Die kommunalen Vertreter aus allen im Bundestag vertretenen Parteien sind sich aus überzeugenden, uns mitgeteilten Gründen in dieser Frage völlig einig.Als CDU/CSU-Bundestagsfraktion vertreten wir auch zu diesem Gesetz mit allem Nachdruck den Standpunkt: Wenn hier durch Bundesgesetze finanzielle Lasten für die Städte, Gemeinden und Kreise beschlossen werden, dann muß sich der Bund um die Mitfinanzierung dieser Aufgaben bemühen; es dürfen nicht einfach Gesetze zu Lasten der kommunalen Körperschaften beschlossen werden.Demgegenüber vertritt die Bundesregierung die Meinung — auch die Koalition hat das heute gesagt —: Den gesamten Lärmschutz an den kommunalen Straßen werden wir aus dem jetzigen Finanzvolumen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes finanzieren. Dies ist — das muß man hier heute sagen — eine völlig unrealistische Rechnung. Das ist erneut ein Verhalten zu Lasten der Aufgaben, die in den Städten anstehen. Denn in dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz heißt es nicht einfach: weniger Kilometer Straße und dafür jetzt mehr Lärmschutz, sondern aus diesem Gesetz müssen im gemeindlichen Bereich eine ganze Fülle von verkehrspolitischen Aufgaben erfüllt werden. Immer wieder haben sich die Fraktionen in diesem
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Dr. WaffenschmidtHause zu diesen Aufgaben bekannt bis hin zu den Busspuren für den öffentlichen Nahverkehr, der heute mehrfach angesprochen wurde. Für viele dieser Aufgaben wird künftig weniger oder gar kein Geld zur Verfügung stehen, wenn aus der Finanzmasse alles finanziert werden soll, ohne daß man das wieder hineintut, was in diesem Haus ursprünglich dafür beschlossen worden ist.Meine Damen und Herren, ich habe in diesen Tagen gehört: Das wird alles gehen; bei den Bewilligungsbehörden werden Haushaltsreste sein. Es wird noch mehr dergleichen gesagt. Nachdem ich mich gerade gestern noch erkundigt habe, muß ich Ihnen aber sagen: Wer jetzt mit Haushaltsresten operiert, unterliegt einem Irrtum. Es ist so, daß die Mittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz verfügt sind, auf Jahre geplant ist, Ermächtigungen gegeben wurden und Haushaltsverpflichtungen für kommende Jahre eingegangen wurden. Das muß man heute hier aussprechen.Ich meine, es wäre eine ganz schlechte Sache, wenn die Koalition heute bei ihrem Nein zu dieser unserer Initiative bliebe. Dann hätten wir nämlich folgende Lage. Dann wäre zwar ein Verkehrslärmschutzgesetz verabschiedet, aber mit Blick auf die wichtigen Aufgaben in den Gemeinden würde schon heute festgelegt, daß ein großer Teil einfach nicht laufen kann, weil die Mittel nicht zur Verfügung stehen. Ich meine, es ist eine unrealistische und auch unredliche Politik, wenn man Ansprüche beschließt, sich aber bezüglich der Finanzierung nicht bemüht, realistisch zu handeln; dann betreiben wir eine Irreführung der Bürger, meine Damen und Herren.
Auch wir wissen natürlich — das will ich hier bewußt ansprechen —, daß auf Grund der weltpolitischen Situation neue Anforderungen an den Bundeshaushalt gestellt werden. Das hat mit Blick auf diese Initiative in diesen Tagen die Regierung öfters gesagt. Aber, meine Damen und Herren, all die Überlegungen im Zusammenhang mit unserer Mitverantwortung im Blick auf die Aufgaben, die für die Sicherheit unseres Landes erfüllt werden müssen, was Auswirkungen auf den Bundeshaushalt haben muß, dürfen die Bundesregierung und die Koalition jetzt nicht dazu veranlassen zu sagen — was sie am laufenden Band tun —: Jetzt brauchen wir das ganze Geld, und Länder und Gemeinden müssen zur Kasse treten!Meine Damen und Herren, es ist ja nicht so, als wäre das Gesetz, das wir heute verabschieden, das einzige, das Lasten für Länder und Gemeinden bringt. Wir werden hier in wenigen Wochen das Jugendhilferecht beraten. Wir haben eine Novelle zum Sozialhilfegesetz. Überall versuchen Bundesregierung und Koalition zu sagen: Das wollen wir alles beschließen, aber vor allen Dingen die Gemeinden sollen es bezahlen.Meine Damen und Herren, Politik darf nicht so aussehen, daß man schöne Sachen für die Bürger beschließt, die Koalition die Propaganda dafür macht, aber die Gemeinden sehen müssen, wie sie das Geld dafür herbeischaffen. So kann man Politik nicht machen.
Ich muß Ihnen auch sagen, meine Damen und Herren von der Koalition: Wenn Sie Pläne haben, wenn Sie große Programme aufstellen wollen, sogar für Themen, für die Sie gar nicht zuständig sind, dann haben Sie immer Geld im Bundeshaushalt, dann finden Sie das Geld immer, und dann wird die Sache finanziert.
— Ja. Die Ministerpräsidenten mehrerer Bundesländer haben gerade in den letzten Wochen etliche Beispiele zusammengetragen.
— Herr Kollege Wehner, daß Sie so aufgeregt sind,
zeigt mir, daß ich ein Thema angesprochen haben, mit dem ich offenbar ins Schwarze treffe.
Ich will zum Schluß gerade wegen der Finanzsorgen auch im Hinblick auf die Realisierung der Lärmschutzmaßnahmen in den Städten und Gemeinden einen Appell aussprechen. Meine Damen und Herren, wir bitten die Städte und Gemeinden, das Ihre zu tun. Wir bitten aber auch die Bürger mitzuhelfen. Wir werden eine Fülle von Maßnahmen durchführen müssen. Ich will aber auch dies sagen: Wenn wir den Lärmschutz erreichen wollen, dann darf sich nicht die erste Bürgerinitiative gegen den Lärm und die zweite gegen den Lärmschutz wenden. Vielmehr müssen uns die Bürger helfen, die Dinge zu realisieren, die wir uns vornehmen. Dazu werden auch flankierende Maßnahmen für verkehrsberuhigte Wohnzonen und manches andere gehören.Mit diesem Gesetzentwurf, den ich für meine Fraktion erläutern durfte, ist für alle Fraktionen hier im Bundestag wieder einmal eine Nagelprobe gegeben. Wenn wir eben zu einer Aufgabe, die wir gemeinsam als wichtig erkannt haben, A gesagt haben, dann müssen wir jetzt auch B sagen und denen, die dafür am meisten bezahlen müssen, wenigstens in einem gewissen Bereich das, was sie brauchen, finanziell sicherstellen. Wenn die Koalition das heute nicht tut, muß jeder wissen, daß damit gleich an dem Tag, an dem das Verkehrslärmschutzgesetz verabschiedet wurde, wesentliche Hindernisse gegen seine Durchführung aufgerichtet wurden.Die Städte und Gemeinden sind willens, hier zu helfen. Geben Sie wenigstens im Rahmen des Möglichen — und für uns erscheint das möglich und ist das errechenbar möglich — das Notwendige, damit die Städte und Gemeinden ihren Beitrag zur Verbes-
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Dr. Waffenschmidtserung des Lärmschutzes für die Bürger leisten können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wiefel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Waffenschmidt, Sie haben gemeint, Sie hätten hier ins Schwarze getroffen. Mir scheint, das ist nicht der Fall gewesen. Sie haben mit der charmanten Dreistigkeit, die Ihnen eigen ist, einige Behauptungen aufgestellt, denen wir absolut nicht zu folgen vermögen und die wir zurückweisen müssen.
Die Opposition hat sich mit dem Antrag, ich möchte einmal sagen, einen alten Hut mit neuen Federn aufgestülpt. Der Drucksache 8/3614 geht ja ein Gesetzentwurf der CDU/CSU vom 9. November 1977 auf der Drucksache 8/1147 voraus, wie Sie wissen. Schon damals wollte man den Bundeshaushalt mit 200 Millionen DM belasten und aus konjunkturellen Gründen zur Ankurbelung der Tiefbauwirtschaft den kommunalen Straßenbau forcieren. Jetzt kommt die Neuauflage in einer anderen Richtung. Von der damaligen Begründung wird jetzt abgerückt, da sie nicht mehr aktuell sei, wobei darauf hingewiesen wird, nunmehr stehe das Verkehrslärmschutzgesetz im Vordergrund.
Das hört sich gut an: 260 Millionen den Gemeinden für diese Zwecke zu geben und dem Bund aus den Rippen zu schneiden.
Die Mitglieder der SPD-Fraktion und der FDP- Fraktion haben den Antrag im Ausschuß abgelehnt, weil durch das Haushaltsstrukturgesetz 1975 der Bundeshaushalt — das haben wir damals sehr deutlich gesagt — auf Dauer stabilisiert werden soll und weil es mit diesem Ziel unvereinbar ist, einzelne Bestimmungen aufzuheben oder zu durchlöchern, da Berufungsfälle mit erheblichen finanziellen Auswirkungen eine unausbleibliche Folge wären. So war unsere damalige Begründung.
Auch heute läßt es die Haushaltslage des Bundes nicht zu, daß die Kürzung der Mittel des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes zurückgenommen wird; denn dadurch entstünden dem Bund zusätzliche Ausgaben.
Man kann dieses Oppositionsbegehren nicht recht begreifen. Sprecher aller Parteien, besonders der Opposition, haben bei der Beratung des Bundeshaushalts Ende letzten Jahres die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung herausgestellt. Trotz der Schwierigkeiten in der ganzen Welt läuft unsere konjunkturelle Entwicklung durchaus zufriedenstellend. Den Ohren der Opposition, Herr Kollege Waffenschmidt, dürften doch die Argumente des Finanzministers und auch die des bayerischen Ministerpräsidenten nicht entgangen sein, die Chance einer kräftigen Reduzierung der Nettoneuverschuldung nicht aufs Spiel zu setzen.
Dies ist der Prüfstein für die Ernsthaftigkeit Ihrer ständigen Konsolidierungsbekenntnisse, meine Damen und Herren von der Opposition.
Erst in der vergangenen Woche ist uns an dieser Stelle mehrmals vor Augen geführt worden, welche zusätzlichen Anforderungen auf den Bundeshaushalt zukommen werden. 17,5 Milliarden DM Steuerentlastung für die Bevölkerung sind schließlich nicht etwas, was man finanzpolitisch einmal so nebenher machen kann.
— Darauf komme ich noch.
Ich erinnere mich an die gestrige Debatte im Verteidigungsausschuß. Man ist sich ja über bestimmte Notwendigkeiten wie das Zurverfügungstellen von eben einmal 270 Millionen DM für Treibstoffmehrkosten im klaren. Ich sage gar nichts von Munitionsbevorratung — Stichwort: Verteidigungsbereitschaft —, die Ihnen ja auch so am Herzen liegt. Unter diesem Rubrum läuft dann vor dem Hintergrund der in dieser Debatte nicht bis ins einzelne zu erklärenden Entwicklung auch die Forderung nach Realsteigerung des Verteidigungshaushalts um 3 %. Da gibt es Leute — auch von Ihnen —, die sagen: Dies hat aber nichts mit Sicherheitssonderleistungen z. B. für die Türkei zu tun. Nun, wir werden sehen, was Bundesfinanzminister Matthöfer aus Washington an Neuigkeiten mitbringt. Wir wissen, er ist ein verläßlicher und harter Unterhändler, dem Sie allerdings mit solchen Eskapaden das Leben nicht gerade leicht machen. Aber dies ist ja auch nicht Aufgabe der Opposition.
Man kann jedoch nicht ständig Stabilität fordern und wie weiland Max und Moritz hinter des Müllers Mehl jetzt hinter des Finanzministers Geldsack sich als Sackaufschlitzer betätigen und hämisch warten, wie er die Löcher dann stopft.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Es soll nach Ihrem Willen rieseln, und nicht nur hier. Das sieht mir so ein bißchen nach Sonthofen-Strategie aus.
Herr Abgeordneter Wiefel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte gern meine zehn Minuten nutzen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16395
Wiefel— So sieht das aus. Wir kennen Ihre Taktik. — Wir werden das verhindern, weil wir die Haushaltsstabilitätsfolgen nicht unverantwortlich außen vorlassen wie offensichtlich Sie.Ihre Begründung für die Rücknahme der Sperre nach dem Haushaltsstrukturgesetz wegen der Belastung der Gemeinden durch das Verkehrslärmschutzgesetz kann in keiner Weise überzeugen. Im Bericht des Haushaltsausschusses ist klar dargestellt: Der Bund trägt bei weitem die finanzielle Hauptlast — das will ich Ihnen ins Gedächtnis zurückrufen — für den Lärmschutz an Straßen in Höhe von 993 Millionen DM /667 Millionen DM jährlich
— das ist keine Milchmädchenrechnung —, für den Lärmschutz an neuen Schienenwegen 55 Millionen DM von 58 Millionen DM im Jahr. Er trägt deshalb die Hauptlast der Kosten, weil er neben dem Lärmschutz an den Straßen in seiner, in des Bundes Baulast nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, wie es jetzt beschlossen ist, auch noch für 60 v. H. der Kosten des Lärmschutzes an den Straßen in der Baulast der Gemeinden aufkommen muß. Grob gesprochen sind es 70 % der Kosten des Gesetzes, die der Bund insgesamt zu tragen hat. Das muß man wissen. Man darf nicht so tun, als seien das die Leistungen der Gemeinden alleine, wie man meinen könnte, wenn man bei oberflächlicher Betrachtung Ihnen zuhört.Daß wegen der Lärmschutzkosten in Zukunft erhebliche Abstriche bei neuen Projekten gemacht werden müssen, ist doch nichts Neues, Herr Gruhl.
Hier kommt eben die Qualität auf Kosten der Quantität auch im Verkehrswegebau zum Tragen. Das gilt für Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam.
Von einer besonderen Belastung der Gemeinden in diesem Zusammenhang kann hier gar nicht die Rede sein. Der Bund ist bei der Finanzierung seiner Ausgaben über Kredite weitaus schlechter daran als die Gemeinden. Darum ist diese finanzielle Gewichtsverschiebung nicht einzusehen. Man kann bei den Vorteilen, die da entstehen, auch ein gewisses Maß an Opferbereitschaft verlangen.Zum Schluß noch folgendes. Für mich stellt sich die Haltung der CDU/CSU in diesem Zusammenhang folgendermaßen dar. Während ihre Vertreter einerseits bei der Frage der Umsatzsteuerverteilung dem Bund zusätzliche Anteile verweigern, fordern sie andererseits Entscheidungen, welche die Finanzlage des Bundes zugunsten der anderen Ebenen noch weiter verschlechtern. Während sie einerseits bei den Haushaltsberatungen hier im Bundestag, aber auch im Bundesrat nachdrücklich eine globale Verminderung der Bundesausgaben verlangen, sprechen sie sich andererseits für zusätzliche Bundesausgaben aus, ohne dafür eine seriöse Deckung anbieten zu können. Daß eine derartige Argumentation in sich widersprüchlich und staatspolitisch unverantwortlich ist, müßte jedem Mitglied dieses Hauses klar und deutlich sein. Darum muß uns diese Ihre Haltung veranlassen, Ihren Antrag abzulehnen, Herr Dr. Waffenschmidt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Merker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Würde der Bundestag dem von der CDU/ CSU-Fraktion vorgelegten Antrag auf Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes folgen, erlebten wir in einer konjunkturellen Hochphase einen zusätzlichen Investitionsschub, der selbst die Wirtschaftsexperten der Opposition unruhig werden lassen müßte, wenn sie die Verantwortung trüge.
Daß sich die Opposition dieser Wirkung bewußt ist, zeigt ja die Tatsache, daß dieser Antrag bereits im Jahre 1977 mit genau dieser konjunkturellen Zielsetzung hier auf den Tisch gelegt worden ist. Er ist jetzt von Ihnen mit der Begründung, wegen des Verkehrslärmschutzgesetzes etwas mehr für die Gemeinden tun zu wollen, wieder aus der Klamottenkiste hervorgeholt worden. Damals wie heute war und ist der Opposition bekannt, daß die Investitionen der Städte und Gemeinden im großen und ganzen prozyklisch und nicht antizyklisch greifen. Die Hintergründe dafür sind bekannt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden.Die Opposition beschäftigt uns hier also mit einem Gesetzentwurf, von dem sie selbst, wäre sie verantwortungsvoll, gar nicht wollen kann, daß er von diesem Hause akzeptiert wird. Aber Opposition zu betreiben, je nachdem, ob das eine oder das andere gerade opportun ist, ist ja bei der CDU/CSU-Fraktion von einer Stilfrage zu einem grundsätzlichen Verhaltensmuster geworden. Da fügt sich dieser Antrag denn auch glänzend in die Wahlkampfargumentation zum Haushalt 1980 ein, hinsichtlich dessen Sie erklären, daß es möglich sei, die öffentliche Verschuldung insgesamt abzubauen, die Steuern schon 1980 zu senken und die Ausgaben in mehreren Bereichen zu erhöhen. Nur, bei Politikern, die in der Verantwortung stehen, zieht das nicht. Aber das wissen Sie ja auch, und darum geht es Ihnen im Prinzip ja auch gar nicht. Sie haben diesen Vorschlag nur deswegen wieder herausgekramt, weil es Ihnen um Wahlkampfmunition geht. Sie wollen sich hier mit der Gloriole der Gemeindefreundlichkeit umgeben
und Ihre hier vorgetragenen Klagelieder über die notleidenden Kommunen dann flugs den Kommunalpolitikern zuleiten mit der Verbitterung und Enttäuschung darüber, daß sie von der sozialliberalen
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16396 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
MerkerKoalition wieder einmal im Stich gelassen worden sind.
Mit der Vervielfältigung dieser Meinungsmache in den Rathäusern erhoffen Sie sich die richtige Einstimmung für die vor uns liegenden Landtags- und Bundestagswahlen. Meine Damen und Herren, dies ist keine scharfe Munition, die Sie sich da gebastelt haben, dies ist nicht einmal Schreckschußmunition. Seifenblasen werden dabei herauskommen, die platzen werden, wenn die rauhere Luft der Realität ihnen auch nur ein wenig nahekommt.
— Herr Kollege Waffenschmidt, ich sage jetzt etwas zur Sache. — Die FDP unterstützt die Standfestigkeit der Regierung, die die Finanzen des Bundes trotz der anstehenden Wahlen solide verwalten und langfristig sichern wird.
Wir werden es nicht zulassen, daß das Haushaltsstrukturgesetz durchlöchert wird. Wenn hier die ersten Einbrüche erfolgen, dann werden Begehrlichkeiten geweckt, die von uns allen nicht mehr zu steuern sind.
In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Waffenschmidt, darf ich mit Erlaubnis des Präsidenten einmal aus einer Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände zitieren:Ein Scheitern des Gesetzes— des Verkehrslärmschutzgesetzes —hätte langfristig für die Städte, Gemeinden und Kreise wegen der uneinheitlichen Rechtsprechung nicht nur unkalkulierbare finanzielle Folgen, sondern würde zu einem weiteren erheblichen Investitionsstau im Bereich des Verkehrswegebaus führen.Ich darf noch einmal betonen, daß die Bundesvereinigung sagt: „Ein Scheitern ... hätte ... nicht nur unkalkulierbare finanzielle Folgen,"
— eben, Sie wollen in der Argumentation zur Sache etwas von mir hören — „sondern würde zu einem weiteren erheblichen Investitionsstau ... führen".Das Verkehrslärmschutzgesetz ist eben in dritter Lesung verabschiedet worden. Wir haben, meinen wir, damit dieser berechtigten Sorge Ihrer Vereinigung Rechnung getragen.
Und weiter sagt die Bundesvereinigung:
Die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände hat mit Befriedigung den Beschluß des Verkehrsausschusses zur Kenntnis genommen, auch bestehende Kommunalstraßen ineine Lärmsanierungsregelung einzubeziehen und das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz dafür zu öffnen.
— Dies haben wir gemeinsam im Ausschuß beschlossen, Herr Kollege Waffenschmidt, wie Sie sich erinnern.Hiermit hat der Ausschuß einer langjährigen Forderung der kommunalen Spitzenverbände entsprochen.
Die kommunalen Spitzenverbände haben erhebliche Zweifel, ob die vom Bundestag verschärften Anforderungen an den Verkehrslärmschutz die öffentlichen Haushalte tatsächlich nur mit rund 1 Milliarde DM jährlich belasten werden.Deswegen sind wir auch der Forderung nachgekommen, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz für diese Maßnahme zu öffnen, so daß sich die Belastung der öffentlichen Haushalte in jedem Fall proportional gestaltet. Es kommt uns darauf an, daß die Lasten, die aus diesem Gesetz erwachsen, von allen getragen werden.Natürlich wissen wir, daß sich die Bestimmungen des Verkehrslärmschutzgesetzes in einer verminderten Kilometerleistung im Straßen- und Autobahnbau bemerkbar machen werden. Natürlich wissen wir, daß davon auch die Gemeinden betroffen werden. Natürlich wissen wir, daß dies auch weniger Kommunalstraßen bedeutet. Aber das ist keine unbillige Härte gegenüber den Kommunen, sondern die Konsequenz aus dem, was wir alle gemeinsam unter dem Begriff „mehr Qualität statt Quantität" beschlossen haben.Die Kommunen und die Länder sind ja viel weiter als die Opposition dieses Hauses. Deswegen habe ich sehr viel Verständnis für die Pflichtübung
— Herr Kollege Waffenschmidt —, die Sie heute morgen pro domo haben abhalten müssen Ich habe das als eine Pflichtübung in Ihrer Funktion betrachtet. Ich habe dafür Verständnis. Das war eine Pflichtübung, eine Kürleistung war das noch lange nicht.
Während die Opposition hier nach dem Motto verfährt: Wer die Ubersicht verloren hat, muß wenigstens den Mut zur Entscheidung haben, haben die Kommunalpolitiker in diesem Lande keineswegs die Ubersicht verloren.Genau das, was die Spitzenverbände in der Vergangenheit erwartet haben, nämlich ein Bündel von aufeinander abgestimmten Maßnahmen in diesem Bereich, haben wir mit dem Entschließungsantrag
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Merkergefordert, der aber nicht von Ihnen, sondern von den Koalitonsfraktionen der SPD und der FDP vorgelegt worden ist.
Mit den Entschließungsanträgen, die wir soeben verabschiedet haben, wird die Bundesregierung aufgefordert, dieses gesamte Bündel von Maßnahmen vorzulegen, die eine Reduzierung des Lärms an der Quelle sowohl national wie international zum Ziele haben. Dieses Bündel in Verbindung mit den teils schon erheblichen Leistungen von Ländern und Kommunen im Bereich des Verkehrslärmschutzes, die gesicherte Öffnung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes für Sanierungsmaßnahmen, die Möglichkeiten der Kommunen über das Kommunalabgabengesetz und das Bundesbaugesetz garantieren eine Verbesserung des Lärmschutzes in allen Bereichen unseres Landes, ohne dem verfassungsrechtlich bedenklichen, der Optik wegen gestellten Antrag der CDU/CSU folgen zu müssen. Die FDP lehnt diesen Antrag deshalb ab.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/3614, den Gesetzentwurf der Abgeordneten Lemmrich, Dr. Jobst, Dr. Waffenschmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/1147 abzulehnen. Wird Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung gewünscht, oder können wir über diese Beschlußempfehlung abstimmen?
— Gut. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 8/3614 ab. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das erste war die Mehrheit. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Punkte 5 bis 7 der Tagesordnung auf:
5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Laufs, Erhard , Spranger, Gerster (Mainz), Schwarz, Berger (Herne), Volmer, Broll, Regenspurger, Dr. Langguth, Dr. Jentsch (Wiesbaden), Gerlach (Obernau), Krey, Dr. Wittmann (München), Biechele, Dr. Lenz (Bergstraße), Dr. Klein (Göttingen), Dr. George und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Datenschutzgesetzes
— Drucksache 8/3608 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Forschung und Technologie Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
6. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes
— Drucksache 8/3703 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Forschung und Technologie
7. Beratung des Zweiten Tätigkeitsberichts des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 des Bundesdatenschutzgesetzes
— Drucksache 8/3570 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Forschung und Technologie
Im Ältestenrat ist verbundene Debatte zu diesen Tagesordnungspunkten vereinbart worden.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat am 12. November 1976 bei der Verabschiedung des Bundesdatenschutzgesetzes im Bundesrat erklärt, eine Novellierung des Gesetzes in dieser Legislaturperiode könne sich durchaus als notwendig erweisen, wie das immer der Fall sei, wenn gesetzgeberisches Neuland betreten werde.In der Tat, seit seiner Verkündung erhält dieses Gesetz von allen Seiten schlechte Noten. Inzwischen liegt eine Fülle praktischer Erfahrungen vor, die eine Novellierung mit wesentlichen Verbesserungen unumgänglich machen. Die Bundesregierung bestätigte bei der Datenschutzdebatte am 28. Juni vergangenen Jahres selbst: Die Zeit zum Handeln ist gekommen. Aber sie handelt nicht. Sie schaut untätig zu, wie CDU und CSU Thesen zur Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes zur Diskussion stellen und einen umfangreichen Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag einbringen. Sie überläßt es nunmehr SPD und FDP, ihr Handlungsdefizit mit einer eilig zusammengestellten Verlegenheitslösung zu überspielen, die man nach allen wohltönenden Absichtserklärungen der SPD und FDP nicht anders als dürftig, als enttäuschend und in Teilen als von zweifelhaftem Wert bezeichnen kann.
Das Datenschutzrecht als ein neues Rechtsgebiet muß schrittweise ausgestaltet werden. Aber mit solchen Schritten der SPD und FDP kann man nicht einmal die Datenschutzgesetzgebung der Länder einholen. Wir meinen, die datenschutzbewußten Bürger sollten nicht mit geringfügigen, dem schönen Schein dienenden Korrekturen abgespeist werden.
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16398 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Dr. LaufsWenn die CDU/CSU, die 1976 dem Bundesdatenschutzgesetz ihre Zustimmung versagt hat, nunmehr einen umfassenden Änderungsentwurf zu diesem Gesetz vorlegt, so will sie es damit nicht in seiner Konzeption als bewährt und richtungweisend anerkennen, sondern seinen Mängeln und seiner Unvollkommenheit abhelfen. Die Union weiß sich dabei an die Kontinuität des Rechts gebunden und ist im System der bisherigen Datenschutzgesetzgebung geblieben, obwohl wesentliche Geburtsfehler nicht behebbar sind. Wir sind auch davon ausgegangen, daß eine völlige Neufassung des Gesetzes, welche die formalen Umwege bei der Bestimmung des Schutzbereiches durch materielle Regelungen ersetzt, in dieser Legislaturperiode schon aus zeitlichen Gründen nicht machbar ist. Es kann also nur um eine Schwerpunktlösung im Rahmen des geltenden Rechts gehen.Ein erstes Anliegen des CDU/CSU-Novellierungsentwurfs ist die einleuchtendere und zweckmäßigere Abgrenzung des Anwendungsbereiches. Das erfordert eine Neudefinition der Begriffe Datenverarbeitung und Datei, die im geltenden Gesetz unglücklich gewählt wurden. Es ist nicht begreiflich zu machen, daß der Persönlichkeitsschutz auf die vier Grundverarbeitungsarten Speicherung, Übermittlung, Veränderung und Löschung beschränkt sein soll und auch nur dann besteht, wenn personenbezogene Daten in Dateien verarbeitet werden, die ganz bestimmte Voraussetzungen ihres technischen Aufbaus erfüllen.Die Tatsache, auf die der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in seinem Tätigkeitsbericht zutreffend hinweist, daß viele Anwender die Bestimmungen großzügig auslegen und ihre Datenverarbeitung den Datenschutzregelungen auch dann unterwerfen, wenn sie es nach den Buchstaben des Gesetzes nicht müßten, enthebt uns nicht der Pflicht, Rechtsklarheit zu schaffen.
Darüber hinaus werden moderne Entwicklungen der Datenverarbeitung wie Rastertechnik, Bild- und Textverarbeitung vom geltenden Recht nicht mehr ausreichend erfaßt.Der CDU/CSU-Entwurf sieht den umfassenden Schutz personenbezogener Daten vor, die in automatisierten Verfahren, in Karteien sowie in automatisch erschlossenen Aktensammlungen verarbeitet werden. Der Schutz wird nicht auf bestimmte Verarbeitungsvorgänge eingeschränkt. Auf den Dateibegriff wird gänzlich verzichtet. In den Schutzbereich wird die Datenerhebung ausdrücklich einbezogen. Sie wird an die Zulässigkeit der Datenverarbeitung geknüpft.Ein zweiter Schwerpunkt des CDU/CSU-Gesetzentwurfs ist die schärfere Fassung der Zulässigkeitskriterien für die Datenverarbeitung der Behörden und sonstigen öffentlichen Stellen. Die Absicht ist, rechtsfreie Räume zu beseitigen, in denen Daten gesammelt und verarbeitet werden können. Behörden sollen personenbezogene Daten nur verarbeiten dürfen, wenn es zur rechtmäßigen Erfüllung der in der Zuständigkeit der betreffenden Stelle liegenden Aufgaben erforderlich ist und wenn diese Aufgaben durch Rechtsnorm geregelt sind. Dies ist ein erster wichtiger Schritt hin zur Gesetzmäßigkeit der öffentlichen Informationsverarbeitung mit allen ihren einzelnen Vorgängen.Es geht uns um den Abbau und das Verhindern überflüssiger Datensammlungen und des unnötigen Datenaustauschs zwischen öffentlichen Stellen. Wir wollen jeder Behördenneigung entgegentreten, mehr Daten über Bürger festzuhalten, als in deren Interesse erforderlich ist. Für die dafür notwendige Durchforstung der öffentlichen Datenbestände ist eine angemessene Frist vorgesehen. Wir erwarten von dieser Durchforstung eine Entbürokratisierung, eine bereinigende Wirkung. Wir sind sicher, daß auch im öffentlichen Bereich eine Vielzahl von veralteten und überflüssigen Datensammlungen vorhanden sind, wie die Beispiele aus den Tätigkeitsberichten der öffentlichen Datenschutzbeauftragten zeigen.Von diesem Rechtsnormvorbehalt sollte aber die Datenverarbeitung der Sicherheitsdienste zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausgenommen werden. Eine gesetzliche Regelung der Dienste kann nicht allein aus dem Blickwinkel des Datenschutzes beurteilt werden.
Es ist bemerkenswert, daß im September vergangenen Jahres der Sozialdemokratische Pressedienst unter zehn Punkten zur Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes die Forderung der Gesetzmäßigkeit öffentlicher Datenverarbeitung von Herrn Kollegen Wernitz verbreitet hat. Wörtlich hieß es dort:Jede regelmäßige Übermittlung von Daten bedarf einer besonderen rechtlichen Regelung.Dies wäre in der Tat eine außerordentlich weitreichende Verschärfung des Datenschutzes in Behörden. Aber der SPD/FDP-Entwurf enthält absolut gar nichts zu diesem Zweck. Veröffentlichter Anspruch und parlamentarische Wirklichkeit klaffen wieder einmal weit auseinander.
Der eigentliche Schwerpunkt des CDU/CSU-Entwurfs ist die Verstärkung der Rechte des Bürgers auf Schutz vor Schaden, auf Unterrichtung und Auskunft sowie auf Zweckbestimmung bei der Nutzung seiner Daten. Die Einführung eines Schadenersatzanspruchs ohne Verschuldensnachweis gegenüber der öffentlichen Hand ist zwischen den Fraktionen unstrittig. Seine praktische Auswirkung dürfte sich jedoch in engen Grenzen halten. Die Ausdehnung eines solchen Anspruchs im SPD/FDP-Entwurf auch auf die private Verarbeitung personenbezogener Daten und der Verzicht auf die betragsmäßige Begrenzung einer solchen Gefährdungshaftung ist in ihren Auswirkungen unkalkulierbar und kann gegenwärtig nicht bejaht werden. Spezialgesetzliche Gefährdungshaftung ist im übrigen regelmäßig der Höhe nach beschränkt.Von größerer praktischer Bedeutung wird die CDU/CSU-Regelung sein, die Bürger besser über
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16399
Dr. Laufsdie Verwendung ihrer Daten durch Behörden zu unterrichten. Die erstmalige Speicherung ist von Amts wegen mitzuteilen, falls sie nicht auf andere Weise bekannt wurde. Verlangt der Bürger Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten, so soll sie kostenfrei sein. Stellt der Bürger fest, daß Daten unrichtig sind, so soll er nun einen Anspruch darauf erhalten, daß die Stelle, der die Unrichtigkeit bekannt ist, alle anderen Behörden und sonstigen Stellen davon verständigt, denen im Rahmen einer regelmäßigen Datenübermittlung die unrichtigen Daten mitgeteilt wurden. Schließlich soll der Bürger gegenüber den Behörden den Anspruch haben, daß seine Daten gelöscht werden, sobald ihre Kenntnis für die betreffende Stelle nicht mehr erforderlich ist.Die von CDU und CSU vorgesehene Regelung zur Zweckbindung bei Datenübermittlungen an Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs ist wörtlich in den SPD/FDP-Entwurf übernommen worden.Auch für den nichtöffentlichen Bereich enthält der CDU/CSU-Entwurf wichtige Verbesserungen des Datenschutzrechts, neben denen die SPD/FDPAbsichten mager und unzweckmäßig aussehen.
Die Union schlägt vor: Daten sollen nur für den Zweck verwendet werden, zu dessen Erfüllung sie übermittelt worden sind. Des weiteren soll der betroffene Bürger der Weitergabe seiner Daten an Dritte für Zwecke der Werbung oder der Markt- und Meinungsforschung widersprechen können. Die vom Adressenhandel bereits freiwillig erbrachte Dienstleistung — unter der Bezeichnung „Robinsonliste" einem gewissen Interessentenkreis bekannt — soll verrechtlicht werden, auch wenn voraussichtlich nur ein kleiner Prozentsatz der betroffenen Bürger das Widerspruchsrecht in Anspruch nehmen wird.Die Regelungen für freie Daten sollten bei der Datenverarbeitung für eigene wie für geschäftgsmäßige Zwecke gleich sein. Bei der geschäftsmäßigen Datenverarbeitung schafft der Unionsentwurf dadurch größere Transparenz, daß übermittelte Daten dem betroffenen Bürger mitzuteilen sind, wenn sie für ihn beeinträchtigende Folgen haben. Wird also auf Grund einer Auskunft z. B. eine negative Kreditentscheidung getroffen, ist die Auskunft offenzulegen.Meine Damen und Herren, der CDU/CSU-Katalog zur Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes ist sehr umfangreich; ich muß mich auf die wesentlichen Punkte beschränken. Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur Datenschutzkontrolle machen. Wir sind der Meinung, daß die Eingriffsbefugnisse der zuständigen Landesbehörden insofern zu erweitern sind, als diese Behörden aus gegebenem Anlaß in der Lage sein müssen, Maßnahmen der Datensicherung anzuordnen oder Verarbeitungsverfahren, die den Erfordernissen des Datenschutzes nicht genügen, zu untersagen.CDU und CSU lehnen es jedoch entschieden ab, neue Strukturen für ständige staatliche Kontrollen des privaten Bereichs, die über die Anlaßaufsicht hinausgehen, aufzubauen. Datenschutz darf nicht zum Selbstzweck und nicht zum Anlaß für weitere unproduktive Reglementierungen werden. Wir brauchen ein besseres Datenschutzrecht, aber keine neue Datenschutzbürokratie.Genau diese Tendenz aber finden wir in den SPD/ FDP-Vorschlägen, die Aufsichtsbehörden mit einer ständigen Überwachungsfunktion auszustatten und die Behörden, wenn sie den Aufbau von Informationssystemen planen, gegenüber dem Bundesdatenschutzbeauftragten meldepflichtig zu machen. Beide Regelungen sind nach allen bisherigen Erfahrungen nicht erforderlich. Auf diese Weise kann auch die Stellung des Bundesbeauftragten nicht gestärkt werden. Wir sind für die klare Abgrenzung der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen Verwaltung und Kontrollorgan.Zu weiteren Vorschlägen des SPD/FDP-Entwurfs möchte ich noch folgendes bemerken. Die vorgesehene generelle Beseitigung eines Anspruchs auf Entgelt für Auskünfte im Rahmen der Datenverarbeitung nichtöffentlicher Stellen erscheint als unzumutbar. Es sollte in der Hand der privaten Anwender bleiben, auf ein Entgelt für Auskünfte zu verzichten; sie sind dazu ja in großem Umfange bereit.Schließlich wollen SPD und FDP dem betrieblichen Vollzeitdatenschutzbeauftragten einen noch besseren Kündigungsschutz einräumen und ihn dabei den Mitgliedern des Betriebsrates gleichstellen. Wir fragen: Warum eigentlich? Genügt das geltende Recht nicht, das ihn auf dem Gebiet des Datenschutzes von Weisungen freihält und feststellt, daß er wegen der Erfüllung seiner Aufgaben nicht benachteiligt werden darf? Es sind keine Konfliktfälle bekanntgeworden.Wir fragen außerdem: Gibt es Gründe des Datenschutzes, die vielen externen und Teilzeitdatenschutzbeauftragten demgegenüber anders zu behandeln? Solche Regelungen, die zur Umgehung geradezu einladen, dienen dem Datenschutz nicht.Meine Damen und Herren, wir fordern die Fraktionen von SPD und FDP auf, gemeinsam mit der CDU/CSU eine Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes zu unternehmen, die den Erfahrungen der Praxis und den Schutzinteressen der Bürger voll gerecht wird. Mit halbherzigen Lösungen sollten wir uns nicht zufrieden geben.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wernitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundesdatenschutzgesetz hat in der kurzen Zeit seines Bestehens viel Kritik hinnehmen müssen — eben klang es wieder an —, aber auch Zustimmung gefunden. Gewisse Schwächen des Gesetzes hat man seinerzeit bei der Verabschiedung, ohne sie zu verschweigen oder zu beschönigen, bewußt in Kauf genommen, um erst einmal einen Einstieg in diese neue und ungewöhnlich schwierige Materie zu sichern. Diese Entscheidung hat sich rückblickend insgesamt als notwendig und richtig erwiesen. Das Bundesdatenschutzgesetz hat sich in den zwei Jahren seiner Anwendung seit sei-
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Dr. Wernitznem Inkrafttreten im Januar 1978 grundsätzlich bewährt. Das Parlament hat zugleich nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Fortentwicklung des Datenschutzrechtes zu den ständigen Aufgaben der Legislative gehört.Das Datenschutzsystem in der Bundesrepublik setzt sich neben den landesrechtlichen Bestimmungen aus den Normen des Bundesdatenschutzgesetzes und den bereichsspezifischen Vorschriften zusammen. Eine Fortentwicklung und Verbesserung des Datenschutzrechtes muß also beide Ansätze verfolgen bzw. im Auge behalten.Dem Datenschutzgesetz kommt ohne Zweifel auch eine besondere richtungweisende Funktion für datenschutzrechtliche Vorschriften zu. Seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes sind zwei Jahre vergangen, in denen zusätzliche praktische Erfahrungen im Bund selbst, aber auch mit Weiterentwicklungen im Datenschutzrecht der Länder gesammelt werden konnten. Die Diskussionen in Theorie, Wissenschaft, Politik und Praxis über Schwachstellen und Regelungsdefizite in diesem Gesetz sind zwar in vollem Gange, bevor aber eine durchgreifende und umfassende Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes in Angriff genommen wird, sollten über den Zeitraum der bisherigen zwei Jahre hinaus hinreichende Erfahrungen gesammelt, solide verarbeitet und auf solcherart abgesicherter Grundlage dann gesetzlich umgesetzt werden. Legt man diesen vernünftigen Maßstab an, dann kann es jetzt in der verbleibenden Zeit der Legislaturperiode lediglich um vergleichsweise bescheidene, aber dennoch für den Bürger und den Betroffenen wichtige und bereits heute weitgehend unstrittig vollziehbare Korrekturen dieses Gesetzes gehen. Auf eine in diesem Sinn begrenzte Novellierung des Datenschutzgesetzes stellt der von der sozialliberalen Koalition — auch aus Zeitgründen, damit wir die Zeit nutzen und noch zur Verabschiedung kommen — vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes ab.Im einzelnen geht es uns um folgende Korrekturen:Punkt 1: Einführung eines verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruchs. Hierbei handelt es sich um einen jener Punkte, die wir bei den seinerzeitigen Beratungen zum Bundesdatenschutzgesetz im Innenausschuß bereits positiv regeln wollten, auf Anregung des Rechtsausschusses dann jedoch bis zu einer späteren Novellierung hinausgeschoben haben. Inzwischen sind auch die meisten Bundesländer für ihren Kompetenzbereich durch datenschutzgesetzliche Regelungen zur Gefährdungshaftung übergegangen. Der verschuldensunabhängige Schadensersatzanspruch soll sich künftig auf alle öffentlichen und privaten Anwendungsbereiche des Bundesdatenschutzgesetzes erstrecken und enthält keine summenmäßige Höchstgrenze. Hinter diesem Vorschlag bleibt die Opposition leider zurück.Zweiter Punkt: Abschaffung der Entgeltlichkeit der Auskunfterteilung an den betroffenen Bürger. Das Auskunftsrecht gehört unbestreitbar zu den grundlegenden Datenschutzrechten des Bürgers.Erst über die Auskunft wird er in die Lage versetzt, von seinen weiteren Rechten gegen unrichtige oder unzulässige Datenverarbeitung Gebrauch zu machen.Dementsprechend stand die Frage nach Erhebung einer Auskunftsgebühr von den Betroffenen bereits bei den damaligen Beratungen zum Bundesdatenschutzgesetz im Widerstreit der Meinungen. Die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre belegen zweifelsfrei, daß die Belastung der speichernden Stellen durch Auskunftsersuchen gering ist.Meine Damen und Herren, wir sind der Auffassung, daß auf die Erhebung einer Gebühr sowohl im öffentlichen Bereich als auch grundsätzlich im privaten Bereich verzichtet werden muß. Demgegenüber will die Opposition von vornherein das unentgeltliche Auskunftsrecht des betroffenen Bürgers auf die Behörden und Teilbereiche der Wirtschaft begrenzen. Es ist eine sehr berechtigte Frage, ob man dies — das eine Auge auf, das andere Auge zu — draußen dem Bürger gegenüber vertreten kann. Wir werden in den Ausschußberatungen darüber zu diskutieren haben.Dritter Punkt: Konkretisierung des Tatbestandes der Datenübermittlung im öffentlichen Bereich bzw. für die Übermittlung personenbezogener Daten aus dem öffentlichen in den privaten Bereich. Hierzu schlagen wir vor: Der Empfänger darf die übermittelten Daten nur für den Zweck verwenden, zu dessen Erfüllung sie ihm übermittelt wurden. Während Koalition und Opposition in diesem Punkt übereinstimmen, schlagen Sie — Sie haben das angedeutet — auch noch eine Regelung für die Datenübermittlung innerhalb der privaten Bereiche vor. Wir werden sicher im Ausschuß und in den mitberatenden Ausschüssen über diese Thematik reden können und reden müssen.Vierter Punkt: Verbesserung der Position der Kontrollorgane. Hier schlagen wir vor, daß der Bundesbeauftragte für den Datenschutz von den Bundesbehörden über den geplanten Aufbau personenbezogener automatisierter Informationssysteme zu unterrichten ist. Dies verstärkt die Rechtsstellung des Datenschutzbeauftragten. Es lassen sich insbesondere dann, wenn diese frühzeitige Kommunikation Praxis wird, Meinungsverschiedenheiten und Konfliktsituationen zum Teil vom Ansatz her vermeiden. Dies kann bei einer vernünftigen pragmatischen Verhaltensweise sogar zu weniger Bürokratie und rechtzeitigem Durchsetzen datenschutzgerechter Regelungen führen.Ober die Stellung des betrieblichen Datenschutzbeauftragten ist bereits bei den seinerzeitigen Beratungen zum Datenschutzgesetz kontrovers diskutiert worden. Die inzwischen gesammelten Erfahrungen haben jedenfalls belegt, daß diese Einrichtung gestärkt werden muß, wenn auch — das ist zuzugeben — unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, wie dies konkret aussehen bzw. wieweit diese Stärkung gehen sollte.Der Koalitionsentwurf zielt darauf ab, die Position des betrieblichen Datenschutzbeauftragten in bestimmten Fällen durch verbesserten Kündigungs-
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Dr. Wernitzschutz zu verstärken. Sie haben hier auch sehr kritisch darauf Bezug genommen. Ich mache kein Geheimnis daraus, daß es hier bei der SPD sehr gute und vernünftige weitergehende Vorstellungen gibt. Wir werden darüber auch zu reden und dann zu entscheiden haben, ob durch Bedenken, die hier insbesondere aus dem gewerkschaftlichen Bereich vorgetragen wurden, eine weitgehende, durchgreifende, vernünftige Regelung im Rahmen einer zukünftigen Novellierung des Datenschutzgesetzes blockiert werden könnte. Dies werden wir, wie gesagt, zu prüfen und dann zu entscheiden haben. Insofern ist dies eine Diskussionsgrundlage.Schließlich soll den Aufsichtsbehörden künftig das Recht eingeräumt werden, von Amts wegen, d. h. auf Grund eigener Initiative, tätig zu werden. Dadurch wird die Datenschutzkontrolle im nichtöffentlichen Bereich verschärft und effektiver gestaltet.Der Koalitionsentwurf beschränkt sich, wie schon betont, weitgehend auf die Regelung solcher Tatbestände, die bereits jetzt regelungsbedürftig und regelungsfähig sind. Gleiches kann, meine Damen und Herren, für einige Vorschläge der CDU/CSU nicht gesagt werden. Die Opposition schlägt nämlich darüber hinaus eine Reihe zusätzlicher Regelungen vor, von denen sie zwar behauptet, sie gewährleisten eine Verbesserung des Datenschutzes, die aber keineswegs als problemlos oder als unumstritten gelten können.Außerordentlich problematisch ist insbesondere der Versuch der CDU/CSU, bestehende Schwierigkeiten mit dem Dateibegriff durch die ersatzlose Streichung dieses Begriffs zu lösen. Die Klarheit dieser wichtigen Rechtsnorm wird durch den Unionsvorschlag nicht erhöht, sondern eher gemindert. Eine Verwirklichung dieses Vorschlages würde nur zu neuen Problemen und zusätzlicher Verunsicherung führen.
Über die Konsequenzen einer ensprechenden Neuregelung muß also sorgfältig nachgedacht und gründlich beraten werden. Heute hier bereits von Entscheidungsreife zu sprechen, wäre, meine Damen und Herren, unverantwortlich.In diesem Zusammenhang darf ich auch auf die Feststellungen im zweiten Tätigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten verweisen und zitieren:Auch der völlige Verzicht auf den Dateibegriff, wie er verschiedentlich vorgeschlagen worden ist, dürfte nicht zu einer praktikablen Regelung führen, da der Anwendungsbereich des Datenschutzgesetzes dann nicht mehr überschaubar wäre. Ein korrekter Gesetzesvollzug und eine wirksame Datenschutzkontrolle mit vertretbarem Aufwand könnten nicht mehr gewährleistet werden.Dem habe ich zu diesem Punkt nichts hinzuzufügen.Aber auch bezüglich des einen oder anderen hier nicht mehr einzeln erwähnten Unionsvorschlages, der angeblich einer schnellen und problemlosen Novellierung zugeführt werden kann, sind Vorbehalte und Skepsis geboten, wenn man sich am Ziel praktikabler, rechtssicherer und datenschutzgerechter Lösungen orientiert.Im übrigen ist es selbstverständlich, daß in die sorgfältige parlamentarische Beratung der beiden Gesetzentwürfe auch die Beiträge und Anregungen der Beteiligten und Betroffenen einzubeziehen sind.Entsprechendes gilt schließlich auch für die parlamentarische Erörterung des Themas Grundrecht auf Datenschutz. Die Meinungspalette in Wissenschaft und Politik, in Theorie und Praxis reicht derzeit vom entschiedenen, engagierten Ja, bis zum rigorosen Nein. Für beide Positionen gibt es durchaus respektable Argumente. Ich darf in diesem Zusammenhang an die einschlägigen Passagen im ersten Tätigkeitsbericht des Datenschutzbeauftragten erinnern, wo das Pro und Contra eines Grundrechtes auf Datenschutz umrissen wurde. Mit Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes muß behutsam und zurückhaltend umgegangen werden. Deshalb muß auch in der Frage eines Grundrechtes auf Datenschutz das Für und Wider gründlich und umfassend ausgelotet werden. Wir wollen deshalb hierzu in einer Anhörung den Rat von Sachverständigen einholen, um damit die verfassungsrechtliche und -politische Diskussion weiterzuführen.Im Rahmen meiner bisherigen Ausführungen zu den vorliegenden Gesetzentwürfen zur Novellierung des Datenschutzgesetzes habe ich bereits mehrfach auf den zweiten Tätigkeitsbericht von Professor Bull Bezug genommen. Ich möchte ihm an dieser Stelle, nachdem der Bericht Grundlage der heutigen Beratung ist, noch einmal ausdrücklich namens der SPD-Fraktion für seine umfassend angelegte und inhaltsreiche Dokumentation zu aktuellen, grundsätzlichen und bereichsspezifischen Fragen des Datenschutzes Dank sagen.Meine Damen und Herren, zusammen mit dem ersten Tätigkeitsbericht liegen hier unverzichtbare Materialien für die laufende und für die künftige Gesetzgebungsarbeit auf dem Gebiet des Datenschutzrechtes vor. Aus der Palette des in dem zweiten Tätigkeitsbericht Ausgebreiteten möchte ich hier nur vier grundsätzliche Aspekte herausheben.Erstens. Die grundsätzliche Feststellung des Datenschutzbeauftragten, daß es die bestehenden Informationssysteme nicht rechtfertigen, die Bundesrepublik Deutschland einen „Überwachungsstaat" zu nennen. Ich halte dies für eine wichtige Aussage.Zum zweiten muß die Feststellung nachdrücklich unterstrichen werden, daß die fortschreitende Anwendung der Informationstechnik einerseits faszinierenden technischen Fortschritt mit vielfältigem gesellschaftlichem Nutzen, aber andererseits eben auch Risiken für die Individualrechte bringt. Angesichts der Entwicklungen auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologie bis hin zu den Mikro-Technologien müssen wir im politisch-parlamentarischen Bereich angemessene und
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16402 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Dr. Wernitzumfassende politische Konzepte für einen wirksamen Schutz der persönlichen Rechte auch in der Zukunft entwickeln.Hervorheben möchte ich drittens die Feststellung im Tätigkeitsbericht, daß bei allen wichtigen Sicherheitsbehörden des Bundes bereits neue Bestimmungen über den Datenschutz in Kraft gesetzt sind. Von dem oft befürchteten Zusammenschluß aller Datensysteme der Sicherheitsbehörden könne keine Rede sein. Wörtlich sagte der Datenschutzbeauftragte:Wenn behauptet wird, die Sicherheitsbehörden würden allmählich die Bundesrepublik mit einem alles übergreifenden Netz überziehen, so trifft dies nach meinen Erfahrungen nicht zu.Im übrigen schneide die Bundesrepublik bei einem Vergleich mit dem Datenschutz im Bereich der Sicherheitsbehörden des Auslands günstig ab. Solche Aussagen sind insbesondere vor dem Hintergrund ganz anders akzentuierter öffentlicher Debatten der letzten Jahre notwendige und hilfreiche Beiträge zur Versachlichung der Diskussion, ohne bestehende und sich abzeichnende Probleme zu verniedlichen.
Schließlich belegen viertens die ausführlichen Beiträge im Zweiten Tätigkeitsbericht zu mehreren Bereichen von Verwaltung und Wirtschaft einmal mehr die Dringlichkeit konkreter bereichsspezifischer Datenschutznormen. Nach wie vor stehen deshalb die Gesetzgebung zum Sozialdatenschutz und ein datenschutzfreundliches Melderecht auf der Tagesordnung und bedürfen dringlich einer Regelung. Auch der Zweite Tätigkeitsbericht des Datenschutzbeauftragten — lassen Sie mich dies zum Schluß sagen — würde es verdienen, von möglichst vielen innerhalb und außerhalb dieses Hauses gründlich beachtet und gut verarbeitet zu werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wendig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Fraktion der FDP kann ich es nur auf das lebhafteste begrüßen, daß es heute auf der Grundlage des Entwurfs der Koalitionsfraktionen, eines Entwurfs der Opposition und des Zweiten Tätigkeitsberichts des Bundesbeauftragten für Datenschutz zu. einer umfassenden Debatte des Datenschutzrechts kommt. Ich kann nur hoffen, daß am Ende dieses heutigen Einstiegs noch in dieser Legislaturperiode eine überzeugende Verbesserung des geltenden Datenschutzrechtes stehen wird. Dies setzt allerdings voraus, daß wir alle, und zwar unabhängig von der Einigkeit über das angestrebte Ziel, das ich bei allen voraussetze, und unabhängig von heute noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten, uns der Mühe unterziehen, einige allgemeine Grundsätze des Gesetzgebers zur künftigen Datenschutzpolitik deutlich werden zu lassen.Es nutzt in diesem Zusammenhang überhaupt nichts, wenn die Opposition — nicht so sehr der Herr Kollege Laufs, sondern vielmehr Herr Kollege Erhard — in einer Presseerklärung, die ich hier habe, nach dem Motto „Haltet den Dieb! den Entwurf der sozialliberalen Koalition als eine Übernahme eigener Vorstellungen nur deswegen glaubt betrachten zu müssen, weil ihr Entwurf kurze Zeit vor dem Koalitionsentwurf im Bundestag eingebracht worden ist.Für mich und für meine Fraktion darf ich nur auf die sehr konkreten Beschlüsse und Erklärungen der FDP, z. B. auf dem Bundesparteitag in Bremen im vergangenen Jahr, auf den schon im Herbst des vergangenen Jahres der Öffentlichkeit vorgestellten Diskussionsentwurf und schließlich auch auf einige eigene Erklärungen in dieser Sache verweisen. Dies beweist das Gegenteil. Aber ich will mich auf ein solches Spiel nicht einlassen, könnte es doch nach draußen den Eindruck erwecken, hier würde im Parlament keine seriöse Verbesserung des geltenden Datenschutzrechtes angestrebt, sondern der Öffentlichkeit im Wahljahr nur ein am Ende unverbindliches Wortgeplänkel vorgespielt.
— Ich meinte soeben auch nicht Sie, Herr Laufs. Das sollten wir im Interesse der Sache nicht tun.Ich gehe deshalb — lassen wir einmal das Vorspiel beiseite — davon aus, daß allen an einer wirksamen Verbesserung des Datenschutzrechtes ernstlich gelegen ist. Dies haben wir alle nötig. Bei Anerkennung des Interesses, das ein gutes und wirksames Datenschutzrecht in der Öffentlichkeit zunehmend gewinnt, gibt es doch viele und auch ernst zu nehmende Stimmen, die meinen: Ein erst vor wenigen Jahren in Kraft getretenes Gesetz sollte nach einer so kurzen Zeit nicht schon wieder geändert werden. Dieser Gedanke ist, wenn ich ihn auf Gesetzgebung und Rechtspolitik generell ausweite, sogar unbestreitbar richtig.Ich meine aber, mit gutem Grund haben wir alle schon bei der Verabschiedung des geltenden Gesetzes zum Ausdruck gebracht, daß sich nach gründlichen Erfahrungen hinsichtlich der Anwendungspraxis mit ziemlicher Sicherheit Ergänzungen, Veränderungen und Verbesserungen als notwendig erweisen würden, dies aber nicht deshalb, weil wir im Jahre 1976 etwa gemeint hätten, ein schlechtes Gesetz geschaffen zu haben. Alle, die an diesem Gesetz in jahrelanger Kleinarbeit mitgearbeitet haben, wußten doch sehr genau, daß mit dem Gesetz der Einstieg in damals noch rechtspolitisches Neuland erfolgte. Deshalb mußte in manchen Fällen vorsichtiger formuliert werden; denn die Auswirkungen nach der einen oder anderen Seite waren nicht klar zu übersehen. Aber man kann dieses Gesetz auch nicht ganz verreißen. Es hat eine wichtige Grundlage geschaffen und sich in wesentlichen Positionen bewährt.Aber zu dieser damaligen Erkenntnis, meine Damen und Herren, sollten wir auch heute stehen. Inzwischen liegen neue Gesetze in anderen Ländern
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Dr. Wendigvor. Wir beraten den Zweiten Tätigkeitsbericht des Bundestagsbeauftragten für Datenschutz und verfügen deshalb in vielen Punkten über gesichertere Erkenntnisse, als es noch im Jahre 1976 der Fall war.Schon an dieser Stelle ein Wort zum Grundrecht auf Datenschutz. Die FDP ist der Auffassung, daß die Einfügung eines Grundrechts in unsere Verfassung ein sehr gewichtiger Schritt ist, der verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch nach allen Seiten sehr gründlich zu bedenken ist. Wir glauben dies aber auch getan zu haben.Zu einer solchen Überlegung gehört ohne Zweifel auch die Frage, ob nicht schon die jetzt im Grundgesetz enthaltenen Grundrechte, die den Persönlichkeitsschutz garantieren, auch im Hinblick auf die Entwicklung der Elektronischen Datenverarbeitung in allen Bereichen von Verwaltung und Wirtschaft ausreichen. Ist man der Auffassung, daß die geltenden Grundrechtsbestimmungen alle Probleme des Persönlichkeitsschutzes heute und in Zukunft befriedigend lösen können, wäre man in der Tat gut beraten, von der Einführung eines neuen Grundrechts abzusehen. Nur haben wir das anders gesehen. Richtig ist, daß Erfassung, Sammlung und Weitergabe persönlicher Daten durch staatliche Stellen dem Schutz der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes unterfallen.Wir, die Fraktion der FDP, halten dies jedoch nicht für einen angemessenen Grundrechtsschutz, weil die Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung neue Dimensionen der Gefährdung von Persönlichkeitsrechten eröffnet und damit neue Fakten gesetzt werden. Es erscheint uns deshalb angezeigt, den Datenschutz zu einem eigenen Grundrecht zu erheben. Nach unserer Auffassung muß dem Gesetzgeber durch die Verfassung zur Pflicht gemacht werden, auf die sich stürmisch entwickelnde Datenverarbeitung — das ist ein Prozeß, der vielleicht sogar erst angefangen hat — durch geeignete Schutzmaßnahmen zu reagieren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner?
Meinen Sie denn, Herr Kollege, daß es sinnvoll wäre, das Grundgesetz in seinen grundlegenden Bestimmungen zu einem Katalog werden zu lassen, der jeweils wie die Jahreskataloge von Firmen im nächsten Jahr ergänzt wird?
Das ist, Herr Kollege Wehner, nicht meine Meinung. Ich wollte dazu auch noch einiges sagen.
Gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Broll?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Dr. Wendig, darf ich Ihnen, da ich Ihnen in diesem Fall überhaupt nicht zustimmen kann, Herrn Kollegen Wehner dagegen voll zustimmen muß, bei der Gelegenheit wenigstens die herzlichen Glückwünsche zu der Tatsache übermitteln, daß Sie heute in dieser Legislaturperiode Ihre 50. Rede halten?
Ich habe hier unsere Position aufgezeigt. Ich wollte aber ausführen, was danach kommt.Die Opposition irrt, wenn sie meint, die Koalitionsfraktionen seien in Fragen des Datenschutzes heillos zerstritten. Wir, die FDP, haben Verständnis für diejenigen, die die Notwendigkeit eines zusätzlichen Grundrechtsschutzes noch eingehender diskutiert und geprüft wissen wollen. Deshalb sind wir damit einverstanden, ja, wir halten es für eine nützliche Sache, daß diese Frage in einem öffentlichen Hearing noch einmal unter allen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Aspekten erörtert wird. Da es uns dabei weder um eine Prestigefrage— das möchte ich ausdrücklich betonen — noch um ein spektakuläres Flaggenhissen geht, hat es für uns sicher keinen Sinn, eine Vorlage einzubringen, die in diesem Haus gegenwärtig nicht die erforderliche Mehrheit finden würde.
— Ach, Herr Erhard! Das ist keine Entschuldigung. Das ist eine ganz klare Darlegung unserer Position, die ja wohl fällig war, nachdem die FDP zu diesem Punkt schon früher ihre Meinung nach außen kundgetan hatte.Wir halten im übrigen den von uns, der SPD und der FDP, eingebrachten Entwurf zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand für wirksam und ausgewogen.Die Einführung eines verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruchs — er war, wie gesagt, schon 1976 in der Debatte — geht über den Antrag der Opposition hinaus, die eine solche Regelung nur für den Bereich der öffentlichen Verwaltung treffen will. Das gleiche gilt hinsichtlich der Absicht, die Entgeltlichkeit der Auskunftserteilung grundsätzlich abzuschaffen. Dabei möchten wir, was diesen Abschnitt des Gesetzentwurfs angeht, unsere letzte Entscheidung sicher auch von dem Ergebnis der Beratungen abhängig machen.Die Übermittlung von Daten im öffentlichen Bereich soll nach unseren Vorschlägen konkreter gefaßt werden. Ich will das jetzt nicht näher ausführen. Die Kompetenzen des Bundesbeauftragten für den Datenschutz werden dadurch erweitert, daß ihm auch über den geplanten Aufbau personenbezogener automatischer Informationssysteme Nachricht zu geben ist. Wir halten dies sehr wohl für eine wirksame Verbesserung und Ausweitung der Kompetenzen des Bundesbeauftragten für den Datenschutz.Der betriebliche Datenschutzbeauftragte genießt einen besonderen Kündigungsschutz, soweit er ausschließlich mit dieser Funktion betraut ist. Die nach Landesrecht zuständige Aufsichtsbehörde soll sich nicht wie bisher lediglich auf die Antragsauf-
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Dr. Wendigsicht beschränken. Das ist, Herr Kollege Laufs, das Problem des § 30. Dabei kann man in der Diskussion sicher noch darüber reden, ob hier die eine oder andere Konkretisierung einer solchen Regelung möglich ist. Da sind wir offen.Zu dem Entwurf der CDU/CSU will ich in der ersten Lesung nur in wenigen Punkten Stellung beziehen. Sie weiten in § 1 den Begriff der Datenverarbeitung über die bisherigen vier Phasen — Speicherung, Übermittlung, Veränderung, Löschung — hinaus aus, ohne daß deutlich wird, was in Zukunft Datenverarbeitung konkret sein soll. Sie lehnen darüber hinaus den bisherigen Datei-Begriff als zu unbestimmt ab. Darüber kann man vielleicht reden. Dabei bleibt hier aber offen, wie durch die Streichung eine klare Definition bewirkt werden kann.Im öffentlichen Bereich wollen Sie das Speichern, Verändern und t Übermitteln personenbezogener Daten u. a. daran binden, daß dies zu den in einer Rechtsnorm geregelten Aufgaben der Behörde gehört.
Dies erweist sich indessen mehr als ein Inaussichtstellen, wenn man lesen muß, daß diese Regelung erst am 1. Januar 1984 in Kraft treten soll.Nun haben Sie dafür eine Begründung gegeben, Herr Laufs. Ich bin mit Ihnen der Meinung und auch uns ist daran gelegen, daß die Zahl und der Umfang der Dateien, die im öffentlichen Bereich geführt werden, und der Daten, die gespeichert werden, sicher sehr kritisch überprüft werden müssen. Ihr Vorschlag eröffnet noch nicht den Weg hierzu. Nur das wollte ich hierzu bemerken.Nachdem wir unsere Kritik ausgetauscht haben, soll es für mich in der ersten Lesung genug sein. Deshalb will ich auf die Vorschläge der CDU/CSU für den dritten und vor allem den vierten Abschnitt nicht näher eingehen und insbesondere nicht die Frage stellen, ob ihre Position hier überall genügend durchdacht und jedenfalls in einer kürzeren Frist — ich betone: in einer kürzeren Frist — zu verwirklichen ist. Aber ich wiederhole meine Versicherung, daß wir in der Beratung offen und vorurteilsfrei jeden auf den Tisch gelegten Vorschlag sorgfältig prüfen werden. Wir gehen davon aus — ich habe es vorhin schon einmal gesagt —, daß jede Seite um eine seriös abgewogene Verbesserung der geltenden Bestimmungen des Datenschutzrechts bemüht ist.Zum Zweiten Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz nur wenige Sätze. Wir sind dem Bundesbeauftragten, Professor Bull, für seinen gründlichen und ausgewogenen Bericht dankbar, der uns über die heute anstehenden Änderungsvorschläge hinaus noch tiefer in die Problematik des Datenschutzes und seiner Verwirklichung nach geltendem und zukünftigem Recht einführt. Deshalb wird ohne Zweifel in einer späteren Diskussion über den Datei-Begriff und die Zulässigkeit der Datenerhebung noch gründlich nachgedacht werden müssen, und zwar über die Vorstellungen hinaus, die im Entwurf der CDU/CSU enthalten sind.Mit besonderer Befriedigung nehmen wir von der zentralen Bedeutung Kenntnis, die der Bundesbeauftragte für Datenschutz dem Ausbau des bereichsspezifischen Datenschutzes beimißt. Dies ist exakt auch unsere Position. Einen ersten Einstieg haben wir im Parlament mit dem neuen Personalausweisgesetz gefunden. Ich hoffe sehr, daß es uns— entgegen den bisherigen Vorschlägen des Bundesrates — auch gelingen wird, in einem künftigen Melderechtsrahmengesetz der Forderung nach einem bereichsspezifischen Datenschutz noch in dieser Legislaturperiode gerecht zu werden.Im Bereich der Sicherheitsbehörden sind wir mit dem Datenschutzbeauftragten der Auffassung, daß die Probleme trotz zu verzeichnender Fortschritte— ich möchte das unterstreichen — nicht alle von heute auf morgen zu lösen sind. Leider sind bei der Beratung über eine Neufassung von § 35 des Sozialgesetzbuchs Fortschritte für einen verbesserten Schutz der sozialen Daten für mich im Augenblick nicht erkennbar. Ich möchte mir wünschen, daß wir noch in dieser Legislaturperiode auch hier zu einem positiven Abschluß kommen.Die Diskussion um den bereichsspezifischen Datenschutz macht einiges deutlich, vor allem dieses: die zukünftige Entwicklung des Datenschutzrechts wird, wie ich meine, eher im Bereich des bereichsspezifischen Datenschutzes stattfinden als im Bundesdatenschutzgesetz selbst. Diese Tendenz ist unverkennbar. Sie ist auch überzeugend zu begründen. Eine besondere Schwäche des zentralen Bundesdatenschutzgesetzes liegt doch offenbar darin, daß es zwangsläufig ein Zuviel an Generalklauseln und an unbestimmten Rechtsbegriffen enthält — wohl auch enthalten muß, so wie es konstruiert ist. Wirksam kann man diesen Mangel letzlich nur durch einen breit gefächerten bereichsspezifischen Datenschutz beheben oder wenigstens mildern.Die Diskussion um den Datenschutz geht weiter, auch wenn in der einen oder anderen Fassung die heute eingebrachten Änderungsgesetze verabschiedet sein werden. Bei der Beratung des Ersten Tätigkeitsberichts im vergangenen Jahr habe ich von der Sorge gesprochen, daß eine technologische Entwicklung schneller weiterläuft, als der Gesetzgeber sie erfassen kann. Diese Sorge besteht fort. Wir müssen sie, wo es um die Freiheitsrechte, um die Persönlichkeitsrechte des einzelnen geht, sicher mehr als ernst nehmen.Dies muß nun keineswegs bedeuten, daß alle paar Jahre neue Gesetze kommen müssen. Je tiefer wir in die Problematik des Datenschutzes einsteigen — eine Problematik, die sich in dem Spannungsverhältnis zwischen Informationsfreiheit und Freiheit des einzelnen als Ausfluß des Persönlichkeitsrechts darstellt —, desto leichter wird es werden, komplizierte Tatbestände durchsichtiger zu machen und mit einfacheren und klareren Normen gesetzlich zu regeln.Ich möchte noch einen Hinweis auf das Grundrecht anfügen. Ich meine, daß ein im Grundgesetz verankertes Grundrecht auf Datenschutz eine solche Entwicklung beträchtlich erleichtern würde.
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Dr. WendigDiese Debatte, der von uns heute eingebrachte Entwurf, aber auch die Diskussion um die Einführung eines Grundrechts sind ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Sicher werden auch nach diesem Gesetzgebungsakt noch eine Reihe weiterer Fragen offenbleiben, deren Regelung zu einem späteren Zeitpunkt in Angriff zu nehmen ist. Ich stimme dem Herrn Kollegen Wernitz voll zu, daß es in vielen Bereichen noch weiterer Erfahrungen bedarf. Wer heute schon und dann mit dem Ziel bis Juni dieses Jahres zuviel regeln will, wird am Ende erleben, daß er gar nichts regelt. Was die Fraktionen von FDP und SPD Ihnen als eine Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes vorlegen, ist eine in sich abgewogene Teillösung. Sie ist dringlich. Deshalb sollte sie zügig beraten und verabschiedet werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erhard.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die moderne Computertechnik ist grundsätzlich gut. Sie ist aus unserem Industriezeitalter auch nicht wegzudenken. Ohne Computer- und Rechenzentren hätte keine Mondlandung stattgefunden. Diese Technik ermöglicht eine wesentliche Erleichterung und Beschleunigung von Arbeitsabläufen. Wir sind durch sie in der Lage, wesentliche Sachverhalte zu erkennen und für unsere Entscheidungen nutzbar zu machen. Je mehr man weiß, um so richtiger kann man gegebenenfalls entscheiden. Viele Verwaltungsabläufe werden verkürzt, und manches läßt sich im täglichen Lebensablauf angenehmer und schneller erledigen. Es ist deshalb richtig, so meinen wir, wenn Computersysteme auch mit Hilfe von Forschungsmitteln der Bundesregierung weiterentwikkelt werden.Es kann nicht verwundern, daß so breite und schnelle Informationsmöglichkeiten auch zu Mißbrauch führen können. Deshalb brauchen wir den Datenschutz. Der Datenschutz ist nichts anderes als ein Oberbegriff für die Bemühungen, Mißbräuchen bei der Verwendung von modernen Datensammlungen zu begegnen. Unsere Rechtsordnung kennt vielfältige Vorschriften zum Schutz der persönlichen Sphäre des einzelnen Menschen. Der Datenschutz will diese Regelungen den modernen Verhältnissen und Wandlungen anpassen. Herr Kollege Wendig, Sie scheinen zu übersehen, daß dieser Personen- und Persönlichkeitsschutz, den wir an vielen Stellen unserer Rechtsordnung haben, auch ohne ein neues Grundrecht auf der Grundlage unseres Grundgesetzes durchaus möglich war und ist.
Wir von der Union haben den Schutz der Person vor möglichen Mißbräuchen — gerade auch durch die öffentliche Hand — schon immer sehr ernst genommen, ich habe sogar die Freiheit, zu sagen: ernster als die Verwaltung, die die Bundesregierung führt und der sie vorsteht. Wir haben — daran möchte ich erinnern — bereits bei der Vorlage und Beratung eines Bundesmeldegesetzes in der vorigenPeriode dieses Gesetz, in dem die Personenkennziffer — ohne entsprechenden Datenschutz — vorgesehen war mit all den Folgen, die man daraus ableiten mußte, wegen nicht hinreichenden Datenschutzes abgelehnt. Wir haben bei der Beratung des Datenschutzgesetzes in der vorigen Wahlperiode eine ganze Reihe von wesentlichen Änderungen vorgeschlagen, bis in den Vermittlungsausschuß hinein. In diesem Ausschuß hat dann der damalige Parlamentarische Staatssekretär Baum, der heutige Innenminister, zugesagt, unmittelbar nach der Bundestagswahl werde die Novellierung in Angriff genommen und vorgelegt werden.
— Er ist dann Minister geworden und hat nunmehr die Verantwortung für diesen Sachbereich. Das, was bis heute bei allen diesen vielen Versprechungen und Reden, die er in der letzten Zeit gemacht bzw. gehalten hat, seitens der Regierung, speziell des Innenministeriums herausgekommen ist, sind Worte, nichts als Worte.
Kürzlich hat nun Herr Baum der staunenden Öffentlichkeit ein neues Melderechtsrahmengesetz präsentiert. Der Entwurf war aber offenbar so schlecht, daß sämtliche Länder im Bundesrat — quer durch die Fraktionen und Parteien — diesen Gesetzentwurf geradezu in der Luft zerrissen haben. Andererseits hat Herr Baum durch Reden und Presseverlautbarungen häufig den Eindruck erweckt, als verletzten ausgerechnet die ihm nachgeordneten Behörden im Sicherheitsbereich die Persönlichkeitssphäre in unzulässiger oder gar gesetzwidriger Weise. Er hat sich nicht einmal gescheut, den Vorwurf auch dann zu erheben, wenn die Beamten nichts anderes getan hatten, als einen Erlaß des Bundesinnenministers zu befolgen; natürlich war dieser bereits von seinem Vorgänger herausgegeben worden.
Damit hat Herr Baum, der heute offenbar nicht da sein kann, was ich bedaure, die Öffentlichkeit getäuscht und die Beamten nachhaltig verunsichert.Seit nunmehr fast drei Jahren ist der Datenschutzbeauftragte, Herr Professor Bull, im Amt und nimmt den Datenschutz sehr ernst. Er übt ein sehr wichtiges Amt aus. Denn die Einhaltung der Vorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes muß von jemandem kontrolliert werden, weil der betroffene Bürger es ja nicht erfährt, wenn seine Rechte verletzt werden. Ohne Kontrolle gibt es keinen wirksamen Datenschutz. Herr Professor Bull hat sich mit großem Eifer und bemerkenswertem Engagement für die Beachtung der persönlichen Schutzzonen, die durch das Datenschutzgesetz verletzt werden könnten, eingesetzt. Hierfür soll ihm von dieser Stelle auch von seiten der Opposition Dank gesagt werden.
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Erhard
In seinem zweiten Bericht betont er, ein wichtiger Schwerpunkt seiner Tätigkeit sei die Öffentlichkeitsarbeit. Wir stimmen ihm grundsätzlich zu. Aufklärung der Öffentlichkeit über die Notwendigkeiten des Datenschutzes ist angesichts der auch heute noch vorhandenen Informationsdefizite wichtig. Trotzdem sollten Sie, Herr Bull, die Akzente Ihrer Tätigkeit mehr auf die Ihnen durch das Gesetz zugewiesenen Aufgaben legen; denn danach ist nicht die Öffentlichkeitsarbeit, sondern die Kontrolltätigkeit die Hauptaufgabe.
Bei den zahlreichen und, wie wir unterstellen, sicher wohlgemeinten öffentlichen Äußerungen sind auch einige nicht unbeträchtliche Verwirrungen entstanden, z. B. als Sie zu Unrecht von bestimmten Tätigkeiten des Bundeskriminalamts öffentlich gesprochen oder Unrechtshandlungen des Bundeskriminalamts öffentlich kritisiert haben. Diese Äußerungen haben dem Ansehen des Datenschutzes nicht immer genutzt.
Der vorliegende Tätigkeitsbericht gibt einen interessanten und umfassenden Überblick über die Probleme des Datenschutzes. Er macht mit bemerkenswerter Klarheit zahlreiche Schwächen und Lücken in unserem vorhandenen Bundesdatenschutzgesetz deutlich. Ein Großteil der Anregungen deckt sich mit den Vorstellungen, die wir in unserem Gesetzentwurf hier vorgelegt haben und die deshalb Gegenstand der Beratungen sind. Wir begrüßen aber auch weiterhin, daß Sie, Herr Bull, Ihre Kontrolltätigkeit nicht auf die Sicherheitsbehörden beschränkt, sondern auch andere wichtige Bereiche wie z. B. die Sozialverwaltung und das Gesundheitswesen angesprochen haben. In den letztgenannten Bereichen sollten die Aktivitäten aber noch erheblich gesteigert werden, um die Millionen gespeicherter Daten, die oft die intimsten Einzelheiten über die einzelnen Personen enthalten, wirksam zu schützen.In diesem Zusammenhang erkläre ich im Namen meiner Fraktion: So nötig der Schutz der Gesundheitsdaten ist, sowenig kann man im Handstreich umfangreiche Änderungen im Sozialgesetzbuch be. schließen. In dieser Woche wurden dem zuständigen Ausschuß Bündel von Vorschriften vorgelegt. Die beteiligten mitberatenden Ausschüsse haben die Vorlagen noch gar nicht, sollen aber bis zum Ende der nächsten Woche abschließend darüber beraten haben. So läßt sich verantwortliche Gesetzgebung nicht machen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Liedtke?
Herr Präsident, es ist jetzt gleich ein Uhr.
Es liegt in Ihrem Ermessen; ich frage Sie nur.
Ich will das auch begründen. Ich möchte, daß wir möglichst bald in die Mittagspause kommen; nur aus diesem Grunde möchte ich die Zwischenfrage jetzt nicht zulassen.Auch die von Herrn Professor Bull angesprochenen Probleme der Amtshilfe müssen bald geklärt werden. Der Bundesinnenminister soll nicht immer nur darüber reden, sondern auch einen brauchbaren Vorschlag machen. Den vermissen wir seit Monaten.
Nicht angesprochen ist das Problem der sogenannten Rasterfahndung. Hier ist in der Öffentlichkeit in der jüngsten Vergangenheit durch zahlreiche, wie ich meine, törichte Äußerungen großes Unheil angerichtet worden. Der Datenschutzbeauftragte sollte ab und zu auch in die Strafprozeßordnung schauen. Dann weiß er, was die Kriminalpolizei tun muß. Hierzu sollte sich der Bundesbeauftragte noch eingehend äußern.Herr Professor Bull fordert Gesetze für den Bundesnachrichtendienst und den MAD. Hierzu hat sich die Bundesregierung zu äußern, meinen wir, und wir warten auf diese Äußerung. Des weiteren sollte sich die Bundesregierung zu der Behauptung des Datenschutzbeauftragten äußern, die Übermittlung von Ausweispapieren durch den Bundesgrenzschutz an den Bundesnachrichtendienst sei rechtlich nicht zulässig.Bedenklich sind Kompetenzüberschreitungen. Herr Professor Bull, Sie machen einige davon in Ihrem Bericht deutlich. Für den Bereich der Kreditsicherung z. B. machen Sie Ausführungen, die in erster Linie in die Kompetenz der Datenschutzbeauftragten der Länder fallen. So kritisieren Sie z. B. die von den Aufsichtsbehörden mit den Vertretern der Kreditwirtschaft erzielten Vereinbarungen bezüglich der Schufa. Das verwundert deshalb um so-mehr, als Sie selbst an diesen Beratungen beteiligt waren. Die Arbeit der Aufsichtsbehörden, die mangels konkreter Durchsetzungsrechte in erster Linie auf freiwillige Vereinbarungen angewiesen sind, wird durch derartige Stellungnahmen nicht erleichtert.Ich will im Plenum nicht auf die weiteren Einzelheiten eingehen. Die Kleinarbeit muß sowieso noch in den Ausschüssen stattfinden. Aber ich möchte doch uneingeschränkt sagen: Wir danken Ihnen, Herr Bull, für Ihre Tätigkeit, für den Fleiß und die Umsicht, mit der Sie uns auch in den Stand setzen, über viel mehr Einzelheiten etwas zu erfahren, als wir es ohne Ihren Bericht jeweils könnten.Zum Schluß möchte ich noch zwei Punkte ansprechen, die von der FDP landauf, landab als die große Errungenschaft zur Fortentwicklung des Datenschutzes angesprochen werden. Ich meine das sogenannte Grundrecht auf Datenschutz und das sogenannte allgemeine Akteneinsichtsrecht.
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Erhard
Ich will das Ergebnis vorwegnehmen. Die FDP betätigt sich hier leider als Roßtäuscher. Beide Vorschläge bringen dem Bürger überhaupt nichts.
— Ich wiederhole: überhaupt nichts.Alle ernst zu nehmenden Datenschutzexperten, einschließlich Herr Professor Bull, haben zu Recht darauf hingewiesen, daß die geltenden Grundrechte auch einen umfassenden Datenschutz gewähren. Durch eine Grundrechtsinflation würde das Gegenteil des Ziels der Grundrechte erreicht. Der Grundrechtsschutz würde verringert.Typisch für den Show-Charakter dieses Vorschlags ist die Tatsache, daß die Koalitionsfraktionen, in dieser Frage ja uneins, ein Hearing veranstalten, anstatt einen konkreten Gesetzesvorschlag vorzulegen. Denn wann soll denn ein Gesetzesvorschlag, das Grundgesetz zu ändern, verabschiedet werden, wo wir doch alle wissen, daß dieses Parlament Ende Juni auseinandergeht?Der Vorschlag auf Einführung eines allgemeinen Akteneinsichtsrechtes ist gleichfalls reine Spiegelfechterei. Die geltenden Gesetze gewähren dem Bürger das Recht auf Einsicht in die Akten, wenn er ein berechtigtes Interesse hat und dieses nachweist. Das ist geltendes Recht. Das uneingeschränkte Akteneinsichtsrecht ohne Nachweis eigenen Interesses würde, abgesehen von zusätzlichem Aufwand, vorhandenen Datenschutz abbauen. Durch das Schnüffeln in anderer Leute Akten, die den einzelnen ja gar nichts angehen, können deren Persönlichkeitsrechte nämlich verletzt werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wendig?
Ich bin gleich fertig. Nein.
Es ist bemerkenswert, daß sogar die SPD angesichts dieser durchschaubaren und nicht gerade seriösen Vorschläge kalte Füße bekommen hat und nicht mitmachen will.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD und von der FDP, Ihren internen Streit über des Kaisers Bart — hier über das sogenannte Grundrecht auf Datenschutz — beenden und sich den wirklichen Problemen des Datenschutzes zuwenden, könnte der Weg zur Verabschiedung der Verbesserungen im Datenschutzgesetz frei sein. Sie sind nach unserer Auffassung notwendig und vordringlich.
Ich darf darauf hinweisen, daß nach Pressemitteilungen — in diesem Fall der „Welt" von gestern — in Koalitionskreisen eingeräumt werde, daß auch der Entwurf der Union Vorschläge für einen verbesserten Datenschutz enthalte, denen man zustimmen könne. Ideal wäre es, unsere Vorstellungen und die
Ihren zusammenzufassen und zu verabschieden. Sie müßten aber, wenn das gelingen soll, einige Schritte weiter gehen, als Sie bis jetzt zu tun bereit sind. Wir wären andererseits durchaus bereit, eine Zeitlang auf Sie zu warten, damit der fatale Eindruck beseitigt wird, die Politiker hätten wieder nur ein Scheingefecht inszeniert und den Bürger an der Nase herumgeführt.
Wir sollten uns vor solchen Scheingefechten und vor dem Erzeugen falscher Eindrücke allesamt hüten. Das sollten wir in den nächsten Wochen besonders beachten.
Das Wort hat zu einem Kurzbeitrag der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich für die Gelegenheit, noch vor Eintritt in die Mittagspause kurz auf die Vorwürfe eingehen zu können, die Herr Kollege Erhard an die Adresse des Bundesinnenministers hat.
Herr Kollege Erhard, das, was Sie gesagt haben, kann ich mir nur dadurch erklären, daß Sie sich überwiegend mit dem rechtspolitischen Bereich beschäftigen und Ihnen daher die Tatsachen im innenpolitischen Bereich jedenfalls in den Details manchmal verborgen bleiben.
Deshalb folgende Bemerkungen: Erstens. Die Bundesregierung hat niemals für den Beginn dieser Legislaturperiode eine Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes angekündigt. Sie hat vielmehr wiederholt erklärt, daß die Erfahrungen mit diesem Gesetz abgewartet werden sollten und die ersten Berichte des Bundesbeauftragten für den Datenschutz in eine Novellierung einfließen könnten. Dieser Zeitpunkt ist jetzt da und nicht früher.
— Ich habe nur zwei Minuten Zeit, Herr Kollege Erhard. Wenn es mir nicht auf die Zeit angerechnet wird, ja.
Keine Zwischenfrage. Es handelt sich um einen Kurzbeitrag.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zweite Bemerkung. Das Melderechtsrahmengesetz, das die Bundesregierung vorgelegt hat, ist der ernsthafte Versuch, Datenschutz im Meldewesen einzuführen. Ich wäre froh und dankbar, wenn das ganze Parlament, das diese Forderungen mit an die Adresse der Bundesregierung erhoben hat, diesem Versuch zum Durchbruch verhilft. Ich sehe auch nach den Beratungen des Bundesrats im ersten Durchgang eine Chance dafür, dieses Ziel zu erreichen. Jedenfalls sollte das Parlament deutlich machen, was es in diesem zentralen Bereich der Datenverarbeitung will.
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16408 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Parl. Staatssekretär von SchoelerDritte Bemerkung. Es ist Herrn Kollegen Erhard offensichtlich verborgen geblieben, was der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Herr Professor Bull, zur Rasterfahndung tatsächlich gesagt hat. Herrn Professor Bull Schweigen zu dieser Materie vorzuwerfen heißt nur, daß nicht einmal die Schlagzeilen der Zeitungen gelesen worden sind. Herr Professor Bull hat ganz klar und eindeutig das Ergebnis seiner Überprüfungen in diesem Bereich der Öffentlichkeit mitgeteilt und festgestellt — ich kann es hier nur sinngemäß zitieren —, daß er keine Beanstandungen vorzunehmen hatte. Das hat für die ganze Diskussion eine versachlichende Wirkung gehabt, weil Herr Professor Bull hier seine Kontrollmöglichkeiten einsetzen konnte.Vierte und letzte Bemerkung. Herr Kollege Erhard, was Sie zum Akteneinsichtsrecht gesagt haben, zeigt, daß Sie die Beschlüsse der FDP nicht gelesen haben.
— Ich rede hier für die Bundesregierung. Ich will das nur zum Anlaß nehmen, um auf das hinzuweisen, was Herr Professor Bull zu diesem Thema in seinem zweiten Jahresbericht ausgeführt hat. Das weist aus, daß es bei der Frage des Aktenzugangsrechts um eine ernsthafte Frage geht, mit der wir uns beschäftigen sollten. Das Bundesministerium des Innern hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die die Fragen aufarbeiten soll. Selbstverständlich geht es nicht, daß Herr Müller in der Akte von Frau Meier herumguckt. Das wäre ein klarer und glatter Widerspruch zu allem, was mit dem Datenschutz in Verbindung steht. Das will aber auch niemand. Es geht darum, wie das Informationsübergewicht der Exekutive gegenüber dem Bürger korrigiert werden kann. Das ist die zukunftsweisende Diskussion. Hier ist ein Ansatzpunkt im Jahresbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz.Man sollte es sich nicht so einfach machen, die Tatsachen zu verwischen, falsche Behauptungen in die Welt zu setzen und dadurch einen Prügelknaben zu haben, auf den man kräftig einhauen kann, um sich der Lösung der tatsächlichen Probleme zu entziehen. Diese Lösung der tatsächlichen Probleme sollte bei der anstehenden Novellierung der Vorschläge zum Bundesdatenschutzgesetz im Mittelpunkt unserer Diskussionen stehen.
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr. Wir treten in die Mittagspause ein.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 8/3738 —
Ich rufe die Fragen 52 und 53 des Abgeordneten Dr. Freiherr Spies von Büllesheim auf. Der Fragesteller bittet um schriftliche Beantwortung; die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zu den Fragen 54 und 55 des Abgeordneten Meininghaus. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet, und die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Frage 56 des Abgeordneten Lintner ist vom Fragesteller zurückgezogen worden*).
Ich rufe die Frage 57 des Abgeordneten Dr. Jobst auf. — Auch er ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet, und die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 58 des Abgeordneten Dr. Stark auf:
Ist es zutreffend, daß seit Ende 1979 Eritreer mit gefälschten Pässen aus dem Sudan insbesondere über die Flughäfen Stuttgart und Frankfurt/Main eingereist sind, und welche Maßnahmen haben die zuständigen Grenzbehörden des Bundes hinsichtlich der eingereisten Personen und hinsichtlich der gefälschten Pässe getroffen?
Zur Beantwortung Herr Staatsekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Dr. Stark, es trifft zu, daß seit Ende 1979 einige Hundert Eritreer — zum großen Teil aus dem Sudan kommend — mit gefälschten Pässen ins Bundesgebiet eingereist sind. Soweit die Eritreer an Grenzschutzstellen Schutz vor politischer Verfolgung in Äthiopien begehrt haben, ist das Vorliegen gefälschter Reisedokumente für das Asylgesuch unbeachtlich. Den Eritreern wurde die Einreise gestattet, wenn bei der Grenzkontrolle nicht festgestellt wurde, daß sie bereits in einem anderen Staat Schutz vor Verfolgung gefunden hatten.
Über die Anerkennung als Asylberechtigte entscheidet nicht die Grenzdienststelle, sondern nach § 29 des Ausländergesetzes das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge.
In Fällen, in denen zweifelsfrei anderweitig Schutz vor Verfolgung gewährt worden war, sind Asylbewerber entsprechend den ausländerrechtlichen Bestimmungen zurückgewiesen worden. Der mit der Kontrolle beauftragte Grenzschutzeinzeldienst hat allerdings in Fällen festgestellter Paßfälschung Strafanzeige bei den zuständigen Staatsanwaltschaften erstattet.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, wie weit machen die Grenzschutzbehörden im Augenblick überhaupt von ihrem Vorprüfungsrecht Gebrauch?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stark, es gibt nicht den geringsten Anlaß dafür, daran zu zweifeln, daß die Grenzbeamten ihren Wei-') Die Frage 56 wird später doch beantwortet; vgl. S. 16411
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16409
Parl. Staatssekretär von Schoelersungen, die seit Jahren unverändert sind, so nachkommen, wie das der Rechtslage und der Erlaßlage entspricht. Es hat sich hier nichts geändert.
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte sehr.
Trifft es also nicht zu, daß von seiten Ihres Hauses, des Ministeriums, mündlich oder schriftlich eine Art Anweisung gegeben wurde, die Dinge im Augenblick sehr liberal zu handhaben?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stark, dies trifft nicht zu, und das ist der Öffentlichkeit bereits am 4. Februar 1980 mitgeteilt worden. Diese Behauptungen sind völlig aus der Luft gegriffen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Spranger.
Herr Staatssekretär, was gedenkt die Bundesregierung dann, wenn nach Ihrer Auffassung die Rechtslage unzureichend ist, zu tun, um durch Änderung und Verbesserung der Rechtslage diese unerträgliche Situation zu ändern?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spranger, ich habe gar nicht behauptet, daß die Rechtslage unzureichend wäre. Deswegen verstehe ich den Ansatzpunkt Ihrer Frage nicht. Sie können doch nicht die Antwort auf die Frage, ob hier jemandem Schutz vor politischer Verfolgung gewährt werden kann, davon abhängig machen, ob er einen ordnungsgemäßen Paß hat, denn gerade diejenigen, die politisch verfolgt sind, werden eben unter Umständen nicht in der Lage sein, einen ordnungsgemäßen Paß vorzuweisen. Das kann bei einem Asylgesuch nicht das entscheidende Kriterium sein. Es ist es auch nicht.
Ich habe nicht behauptet, daß die Rechtslage insoweit änderungsbedürftig wäre. Ich habe sie nur dargestellt und sehe keinen Anlaß, sie zu kritisieren.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Frage 59 des Abgeordneten Spranger wird vom Fragesteller zurückgezogen*).
Der Abgeordnete Dr. Steger bittet um schriftliche Beantwortung der Frage 60. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Frage 61 des Kollegen Dr. Steger ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Ich rufe Frage B 28 des Abgeordneten Dr. Linde auf:
War der Bundesregierung der in der Monitorsendung der ARD am 26. Februar 1980 dargestellte Sachverhalt über die Belastung des Raums Oker/Harlingerode mit Schwermetall bekannt, und wenn ja, welche Möglichkeiten hat die Bundesregierung, auf eine Sanierung des Gebiets hinzuwirken?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
1 Die Frage 59 wird später doch beantwortet; vgl. S. 16414A
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Ich wäre dem Kollegen dankbar, wenn ich die beiden Fragen zusammenfassend beantworten könnte.
Einverstanden. Ich rufe auch noch Frage B 29 des Abgeordneten Dr. Linde auf:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung dazu bisher getroffen, und welche Planungen bestehen in diesem Zusammenhang?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung ist von den niedersächsischen Landesbehörden auf die Problematik des Raumes Oker/Harlingerode erstmals im Zusammenhang mit der Festlegung von Immissionswerten für Blei und Cadium in der Technischen Anleitung Luft im Jahre 1978 hingewiesen worden. Die rechtlichen Möglichkeiten, Sanierungsmaßnahmen einzuleiten, stehen mit dem Bundes-Immissionsschutzgesetz und den von der Bundesregierung erlassenen Durchführungsvorschriften zur Verfügung. Zuständig für die Entscheidung hierüber sind allein die niedersächsischen Landesbehörden.
Ungeachtet dieser Zuständigkeiten hat der Bundesminister des Innern zugesagt, im Rahmen des Altanlagenprogramms derartige Sanierungsmaßnahmen zu fördern. Als erste Teilmaßnahme hat der Bundesminister des Innern Mittel bereitgestellt, mit denen die Emissionen der Freilager von schwermetallhaltigen Zwischenprodukten bei der Preußag AG beseitigt werden. Voraussetzung für ein umfassendes Verbesserungsprogramm an den Anlagen in dem betroffenen Gebiet ist eine gründliche Emissionserhebung. Diese ist auf Veranlassung des Landes Niedersachsen vom TÜV Hannover durchgeführt worden. Die Ergebnisse werden zur Zeit von den zuständigen Landesbehörden ausgewertet. Der Bundesminister des Innern ist bereit, auf der Grundlage der von Anlagenbetreibern zu stellenden Anträge alle Vorhaben aus dem Altanlagenprogramm zu fördern, soweit die Voraussetzungen erfüllt sind.
Der Bundesminister des Innern hat im vergangenen Jahr bei der niedersächsischen Landesregierung angeregt, die Möglichkeiten eines umfassenden ökologischen Sanierungsprogramms für die Region zu untersuchen, und hat hierzu die Unterstützung durch Institutionen des Bundes angeboten.
Eine Zusatzfrage, Kollege Dr. Linde.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, wie hat eigentlich das ursprüngliche Angebot des Bundes ausgesehen?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das Angebot des Bundes bezieht sich darauf, in diesem Gebiet im Rahmen von Demonstrationsvorhaben nachzuweisen, daß eine nachhaltige Verbesserung der über lange Zeit hinweg entstandenen Situation möglich ist, und zwar durch technische Maßnahmen zur Verminderung der Emissionen in den Anlagen der Hütte und durch die Erstellung eines ökologischen Gesamtplans mit dem Ziel der Strukturverbesserung in dieser Gegend.
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16410 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Linde.
Welchen Inhalt hätte eigentlich ein solches umfassendes ökologisches Verbesserungsprogramm als Demonstrativvorhaben haben müssen, und was bedeutet eigentlich das Angebot „Demonstrativvorhaben" in diesem Zusammenhang?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Neben dem, was der Bund angeboten und gemacht hat, nämlich der Einbeziehung dieser Verbesserungsmaßnahmen zur Emissionsminderung bei der Preußag in Oker/ Harlingerode, also neben dieser sofort wirkenden Maßnahme, käme noch dieses Demonstrationsvorhaben in Betracht. Das war Teil des Angebotes. In einem solchen Fall besteht die Aufgabe eines solchen Demonstrationsvorhabens darin, zunächst die Grundlagen und auch geeignete Maßnahmen zu ermitteln, mit denen man langfristig zu einer Sanierung dieses Gebietes kommen kann. Erst auf der Grundlage solcher Untersuchungen, eines solchen Planes kann der Inhalt eines Verbesserungsprogramms im einzelnen festgelegt werden. Erst dann kann gesagt werden, was auf dem Gebiet der Raumordnung im einzelnen gemacht werden kann, auf dem Gebiet der Landschaftsgestaltung, des Naturschutzes, des Städtebaus oder der Stadtsanierung und der Flächennutzung. Dies sind verschiedene Elemente, die als Mittel eingesetzt werden können, um zu einer langfristigen Sanierung dieses Raumes zu kommen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Linde.
Wenn das so ist, dann bitte ich, doch noch einmal klarzustellen, wer für die Aufstellung und Durchführung eines derartigen Programms zuständig ist.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Die ausschließliche und alleinige Zuständigkeit für die Durchführung der Maßnahmen, die hier möglich sind, liegt bei den niedersächsischen Landesbehörden. Dabei müssen selbstverständlich die kommunalen Gebietskörperschaften mitwirken. Der Bund kann hier nur unterstützend tätig werden. Das ist der Inhalt des Angebotes, das die Bundesregierung gemacht hat.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Linde.
Wenn das nun so ist, Herr Staatssekretär, dann frage ich Sie: Hat denn nun wirklich die Zusammenarbeit mit den niedersächsischen Stellen im Sinne einer umfassenden ökologischen Bereinigung in Oker/Harlingerode geklappt?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Linde, die Gespräche mit der niedersächsischen Landesregierung werden fortgesetzt. Das nächste Gespräch wird morgen stattfinden. Die niedersächsische Landesregierung hat uns mitgeteilt, daß sie bei dem morgigen Gespräch weitere Maßnahmen von ihrer Seite aus vorschlagen will.
Ich möchte Ihre Frage zum Anlaß nehmen, zu betonen, daß wir ein sehr großes Interesse daran haben, daß die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet gut funktioniert, weil wir — nicht zuletzt auch deshalb ist das unser Interesse — ohne eine solche Zusammenarbeit, da wir ja keine Zuständigkeit haben, auch keinerlei Möglichkeiten hätten, dabei mitzuhelfen, daß es zu langfristigen Verbesserungen in diesem Bereich kommt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Sprung.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß Ihr Ministerium am 2. März dieses Jahres, also vor vier Tagen, ein Fernschreiben an das niedersächsische Sozialministerium geschickt hat, in dem es unter anderem heißt — ich zitiere —:
Auf diesem Wege möchte ich Ihnen
— also dem niedersächsischen Sozialministerium —
nochmals bestätigen, daß in der jahrelangen Zusammenarbeit Niedersachsens mit dem Bund auf den Gebieten des Immissionsschutzes, des ökologischen Bodenschutzes und insbesondere bei der Durchführung der EG-Bleikampagne keinerlei Schwierigkeiten oder Verzögerungen aufgetreten sind, die von der niedersächsischen Landesregierung zu vertreten gewesen wären.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann das bestätigen. Das Fernschreiben enthält darüber hinaus auch einige Aussagen zu dem, von dem wir glauben, daß es im Rahmen der Zusammenarbeit gemeinsam auf die Beine gestellt werden könnte. Dazu sind in dem Fernschreiben auch Vorschläge enthalten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Wendig.
Herr Staatssekretär, es spielt in der Debatte mit der niedersächsischen Landesregierung die Behauptung eine Rolle, die Angebote des Bundesministers des Innern bezüglich eines solchen Sanierungsprogramms seien nicht bestimmt oder nicht konkret genug gewesen, so daß allein die Landesregierung daraufhin noch nichts hätte veranlassen können. Können Sie dies bestätigen, oder wie ist die Sachlage?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Ich weise zunächst noch einmal darauf hin, daß es die alleinige ausschließliche Zuständigkeit der niedersächsischen Landesregierung ist, dort Maßnahmen zu treffen. Das einzige, was die Bundesregierung tun kann, ist, ihre Anregungen in die Diskussion einzubringen, ihre Unterstützung anzubieten und gegebenenfalls auch finanzielle Förderung zu gewähren. Zu allen drei Punkten hat die Bundesregierung ihre Bereitschaft erklärt, helfend zur Seite zu stehen. Nur: Dieses Hilfsangebot kann natürlich die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Land nicht aufheben und nun etwa bedeuten, daß der Bund plötzlich zuständig wäre. Wir wollen jemand anderem
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Parl. Staatssekretär von Schoelerhelfen, der zuständig ist, und das ist die niedersächsische Landesregierung.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Kühbacher.
Herr Staatssekretär, berechtigen die seit gut eineinhalb Jahren laufenden Gespräche nach Ihrer Erkenntnis die niedersächsische Landesregierung zu plötzlichen Sofortmaßnahmen wie Umsiedlung und ähnlichen Vorschlägen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es kann nicht meine Aufgabe sein — da bitte ich um Verständnis —, Einzelheiten der Maßnahmen, die die niedersächsische Landesregierung in ihrem Zuständigkeitsbereich anordnet, hier seitens der Bundesregierung zu bewerten und zu beurteilen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Kühbacher.
Herr Staatssekretär, haben das Umweltbundesamt oder das Bundesgesundheitsamt auf Grund der medizinischen Erkenntnisse, die zwischenzeitlich gewonnen wurden, von der niedersächsischen Landesregierung sofortige Umsiedlungsmaßnahmen gefordert oder haben diese Ämter solche Maßnahmen angeregt?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, da es sich um eine Diskussion handelt, die, wie Sie wissen, schon seit langer Zeit geführt wird, bin ich im Augenblick nicht in der Lage, Ihnen umfassend zu antworten oder etwa auszuschließen, daß so etwas passiert ist. Ich weiß das nicht, kann Ihnen aber gern schriftlich mitteilen, ob etwas derartiges vorgekommen ist; ich glaube das nicht.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Frau von Bothmer.
Herr Staatssekretär, wäre es im Interesse der Bevölkerung nicht besser, wenn die zuständigen Behörden in Fällen giftiger Emissionen, die ja schließlich bekannt sind, zur rechten Zeit Maßnahmen ergreifen würden, bevor Schadensfälle eingetreten sind, ganz unabhängig davon, daß die Regierung ja dann zur Hilfeleistung bereitsteht, wie Sie soeben ausgeführt haben?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Dafür gibt es ein umfangreiches Instrumentarium im Bundes-Immissionsschutzgesetz. Solche Gebiete können zu Belastungsgebieten erklärt werden. Es müssen dann Luftreinhaltepläne aufgestellt werden, es müssen Emissionskataster errichtet werden — um nur einige Beispiele aus dem breiten Instrumentarium des Bundes-Immissionsschutzgesetzes zu nennen.
Ich kann nur noch einmal wiederholen: Nachdem die Bundesregierung Ende 1978 Kenntnis von diesen Dingen bekommen hat, hat sie ihrerseits alles angeboten, was sie anbieten konnte. Eine Maßnahme davon ist bisher realisiert worden, die Einbeziehung der Preußag AG, Oker/Harlingerode, in das Altanlagenprogramm des Bundesministers des Innern, mit dem Ergebnis, daß hier einige Millionen DM investiert worden sind, um die Emissionen zu begrenzen. Das alleine reicht sicherlich noch nicht aus. Aber das ist ein Anstoß, den wir gegeben haben.
Eine weitere Zusatzfrage, Abgeordneter Oostergetelo.
Herr Staatssekretär, gibt es Untersuchungen oder Erkenntnisse darüber, was das für die Landwirtschaft in diesen Räumen bedeutet?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die gibt es. Ich würde Ihnen aber gern eine schriftliche Auskunft geben, weil das sehr in fachliche Details hinein geht. Ich möchte Ihnen jetzt hier nichts Falsches sagen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, stimmt es, daß auch im Lande Bremen, in Bremerhaven, Untersuchungen des Blutbleigehalts bei Kindern vorgenommen werden, und, wenn ja, was ist die Veranlassung?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, im Augenblick werden in allen Bundesländern im Rahmen der bereits erwähnten Blutblei-Kampagne Untersuchungen und Erhebungen angestellt. Die Länder haben jeweils Standorte für solche Untersuchungen aus ihrer Sicht genannt. Das hat also keinerlei Zusammenhang mit den Problemen im Raum Oker/Harlingerode, sondern es handelt sich um einen Teil der im Augenblick in allen Bundesländern durchgeführten Aktionen im Zusammenhang mit einer EG-Kampagne.
Keine weiteren Zusatzfragen zu den Fragen 28 und 29.
Ist es zutreffend, daß die Dauer des Asylanerkennungsverfahrens früher 2 ½ Jahre betragen hat und jetzt in der Regel auf ein Fünftel, nämlich sechs Monate, reduziert worden ist, wie dies von Bundesinnenminister Baum in der Stuttgarter Zeitung vom 13. Februar 1980 geäußert worden ist? von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Dauer des Verwaltungsverfahrens beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge konnte nach Wegfall des Widerspruchsverfahrens im Asylrecht sowie durch organisatorische und personelle Maßnahmen dahin ge-
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Parl. Staatssekretär von Schoelerhend verkürzt werden, daß der Bearbeitungszeitraum in der Regel ein halbes Jahr beträgt. Über die rechnerische Verfahrensdauer, bei der auch die Fälle zu berücksichtigen sind, in denen umfangreiche Ermittlungen angestellt werden müssen oder in denen die Mitwirkung des Ausländers bzw. seines Bevollmächtigten nicht in dem notwendigen Umfange gegeben ist, wird die Bundesregierung in Kürze in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion betreffend Asylverfahren und Unterbringung der Asylbewerber — Drucksache 8/3681 — berichten.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Lintner.
Herr Staatssekretär, wie kam es dann zur Antwort des Bundesinnenministers Baum auf die Kleine Anfrage im vorigen Sommer, wonach die durchschnittliche Dauer nach wie vor 18 Monate beträgt?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie erwähnen die Anfrage aus dem letzten Sommer. Unsere damalige Antwort berücksichtigt schon den Wegfall des Widerspruchsverfahrens, also einen Teil der Beschleunigungsmaßnahmen. Im übrigen weise ich auf die Drucksache 8/448 des Deutschen Bundestages hin, in der für die Jahre 1967 bis 1977 die durchschnittlichen Verfahrensdauern in den einzelnen Instanzen genannt worden sind. Sie werden feststellen, daß die durchschnittliche Verfahrensdauer in der Verwaltungsinstanz in Zirndorf bei Anerkennungsausschuß und Widerspruchsausschuß in der Spitze bis zu 34 Monaten betragen hatte, nämlich im Jahre 1974, und daß es als Auswirkung des Beschleunigungsgesetzes und als Ergebnis der Personalverstärkungsmaßnahmen gelungen ist, diese Bearbeitungsdauer drastisch zu reduzieren.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Spranger.
Herr Staatssekretär, steht das Bundesinnenministerium mit dem Bundesamt in Zirndorf dergestalt in Verbindung, daß ihm die Klagen der dortigen Beamten über die jetzige Situation vorgetragen werden, denn die Zahl der Asylanten, die im Jahre 1979 in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, ist derart groß, daß trotz der Vermehrung der Zahl der Ausschüsse viele Akten liegen bleiben müssen und eine so schnelle Bearbeitung, wie Sie sie verkünden, nicht zu schaffen ist?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spranger, es gibt natürlich einen ständigen Kontakt zwischen dem Bundesinnenministerium und dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Die Bundesregierung war in den vergangenen Jahren bemüht — und sie wird auch in Zukunft bemüht sein —, durch Personalverstärkungsmaßnahmen alle etwaigen Engpässe, die es dort gibt, zu beseitigen. Das hat sie in der Vergangenheit getan, und dabei war sie auch erfolgreich, wie die Antwort auf die erste Frage ausweist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stark.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, wie lange im Augenblick das Asylanerkennungsverfahren unter Berücksichtigung aller möglichen Rechtswege, die der Asylant beschreiten kann, dauert?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär, Herr Kollege Stark, diese Zahlen werden zur Zeit im Zusammenhang mit der Erarbeitung der Antwort auf die Kleine Anfrage der Opposition, die ich bereits erwähnt habe, errechnet. Ich kann sie Ihnen erst dann mitteilen, wenn sie vorliegen. Das wird in wenigen Tagen oder Wochen der Fall sein, wenn Ihre Anfrage beantwortet werden kann.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatssekretär, nur zur Klarstellung möchte ich nochmals fragen, ob Sie bestätigen können, daß sich die verkürzten Zeiten lediglich auf das Verwaltungsverfahren beziehen und daß zu diesen Zeiten die Zeiten der von den allermeisten Asylantragstellern in Anspruch genommenen gerichtlichen Rechtsbehelfe hinzukommen.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, ich kann das bestätigen, aber ich muß darauf hinweisen, daß die Bundesregierung nur auf das Verwaltungsverfahren einen unmittelbaren Einfluß hat. Was an Beschleunigungsmaßnahmen im Bereich der Gerichte geschehen muß und kann, unterliegt der alleinigen Zuständigkeit der Länder. Sie sind beispielsweise für die Personalaufstockungsmaßnahmen bei den Verwaltungsgerichten zuständig. Die Bundesregierung würde es begrüßen, wenn entsprechende Personalverstärkungsmaßnahmen, wie sie im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge stattgefunden haben, mit ähnlichen Beschleunigungseffekten auch im Bereich der Justiz ergriffen werden könnten.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß in den Ländern auf dem Feld der Gerichte Personalverstärkungsmaßnahmen so durchgefügrt werden, wie das im Verwaltungsverfahren der Bundesregierung geschehen ist, und kann man damit rechnen, daß gerade von dieser Personalverstärkungsmaßnahme eine Beschleunigung der gesamten Abwicklung bewirkt wird?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Was im Bereich der Landesregierungen im Bereich der Justiz passiert ist und passieren soll, wird auch Beratungsgegenstand der Arbeitsgruppe sein, die die Regierungschefs des Bundes und der Länder am letzten Freitag bei ihrer Konferenz eingesetzt haben. Im Augenblick kann ich Ihnen nur sagen, daß mir nicht bekannt ist, daß es ein Land gäbe, das im Bereich der
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Parl. Staatssekretär von SchoelerJustiz prozentual ähnlich hohe Personalverstärkungsmaßnahmen vorgenommen hat, wie das im Bereich des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge der Fall ist.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 59 des Herrn Abgeordneten Spranger auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung von Bundesinnenminister Baum, der am 28. November 1979 erklärt hat, der Zuwachs von Asylbewerbern habe sich im Jahr 1979 abgeflacht, obwohl im Jahr 1979 nach offiziellen Angaben 51 493 Asylbewerber registriert waren und nach vollständiger Erfassung aller Anträge mit mindestens 60000 Asylbewerbern im Jahr 1979 zu rechnen ist?
Bitte sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spranger, Bundesinnenminister Baum hat in der Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 28. November 1979 wörtlich ausgeführt:
Im übrigen ist die Asylantensituation so, daß wir von 1976 an eine stark steigende Tendenz haben. Das ist hier schon wiederholt diskutiert worden. 1979 ist der Zuwachs leicht abgeflacht. Er ist immer noch hoch, etwa auf dem Stand von 1978, wenn man die Vietnam-Flüchtlinge abzieht. Ein dramatischer Zuwachs hat 1979 nicht stattgefunden.
Diese Aussage war auf Grund der bis zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden statistischen Unterlagen zutreffend und ist auch nach den vorliegenden Jahresergebnissen richtig. Ich weise noch einmal darauf hin, daß die Erklärung im November 1979 abgegeben worden ist. Sie wissen, daß wir in den letzten Wochen und Monaten des Jahres 1979 einen starken Anstieg hatten. Diese Tendenz war in den ersten Monaten des Jahres 1979 nicht zu verzeichnen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Spranger.
Herr Staatssekretär, würden Sie bei der Bewertung, 1979 sei eine Abflachung gewesen und eine dramatische Entwicklung sei nicht zu prognostizieren, auch angesichts der Tatsache verbleiben, daß die Zunahme der Zahl der Asylbewerber im Jahre 1979 im Vergleich zu 1978 etwa 100 % beträgt?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spranger, wir haben im Jahre 1979 zweifellos eine Zunahme der Zahl der Asylbewerber gehabt. Ich weise aber darauf hin, daß der Ausgangspunkt Ihrer Frage ein ganz anderer war. Sie haben eine Erklärung aus dem letzten Quartal 1979 zitiert, in der Minister Baum Auskunft über den damaligen Stand der Steigerungszahlen gegeben hat. Dieser Stand entsprach Ihrer Bewertung nicht. Ich muß mich gegen den Versuch wehren, eine Aussage vom damaligen Zeitpunkt in die heutige Zeit zu übertragen und zum Gegenstand der politischen Diskussion zu machen. Es gibt niemanden, der behaupten würde, 1979 habe es kein Ansteigen der Asylbewerberzahlen gegeben.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Kollege Spranger.
Herr Staatssekretär, würden Sie dennoch die Bewertung, es gebe keine dramatische Entwicklung, aufrechterhalten angesichts der Tatsache, daß im Januar 1980 über 11000 Asylbewerber in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, was einer Zunahme von 500 % im Vergleich zum Januar 1979 entspricht?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spranger, die Situation ist nach Auffassung der Bundesregierung so, daß alle Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung ergriffen werden müssen. Die Bundesregierung hat dies für ihren Bereich durch die bereits erwähnte Personalaufstockung und durch Verfahrensverkürzung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge getan. Sie wird in der von den Regierungschefs von Bund und Ländern gemeinsam eingesetzten Arbeitsgruppe mit den Ländern darüber sprechen, was in ihrem Bereich getan werden kann. Im übrigen wird sich diese Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit allen Fragen beschäftigen, die in diesem Zusammenhang auftauchen.
Nachdem vor wenigen Tagen eine solche Arbeitsgruppe eingesetzt worden ist, sehe ich keinen Anlaß, jetzt eine heftige Debatte darüber vom Zaun zu brechen, was als Ergebnis dieser Arbeitsgruppe unter Umständen vorgelegt werden könnte.
Zu einer Zusatzfrage Herr Kollege Jäger .
Herr Staatssekretär, sind Sie in der Lage, uns zu sagen, ob der Herr Bundesinnenminister wenigstens nach dem Vorliegen der jetzt bekannten Zahlen zuzugeben bereit ist, daß er sich die Situation im November viel zu optimistisch vorgestellt hat — das ist offensichtlich — und daß jetzt um die notwendige Bereitschaft aller Beteiligten zur Hilfe und zur Ergreifung der notwendigen Maßnahmen zu bewirken, durchaus von einer dramatischen Entwicklung gesprochen werden sollte?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, der Bundesminister des Innern hat im letzten Jahr und in den Jahren davor in seinem Bereich die Maßnahmen eingeleitet, die zu der Verfahrensverkürzung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge geführt haben. Wären wir erst vor wenigen Monaten aktiv geworden, hätten wir diese Bilanz im Augenblick nicht vorzuweisen.Wir sind ständig bemüht, durch Verfahrensverkürzung im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und durch Personalverstärkung dafür zu sorgen, daß die Verfahren so zügig wie möglich abgeschlossen werden können. Wir werden aber eines nicht tun: Wir werden Forderungen — die es auch gibt — nach einer Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl nicht zustimmen.
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16414 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Broll.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß sich unter den eben genannten Asylantragstellern auch solche Inder befinden, die als Anhänger Indira Gandhis vorgegeben haben, von ihren Gegnern in der damaligen Regierung verfolgt zu werden, oder Personen, die als Anhänger Demirels vorgegeben haben, von der Regierung Ecevit verfolgt zu werden, und daß diese Bewerber ihren Antrag auch heute noch aufrechterhalten, obwohl sich die Verhältnisse in den Ländern grundlegend geändert haben?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Das kann durchaus sein, Herr Kollege.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Kollege Brandt.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß sowohl die Bundesregierung als auch der Innenausschuß des Bundestages das Problem im Jahre 1978 schon sehr deutlich erkannt und versucht haben, eine Beschleunigung durch Dezentralisierung der Verwaltungsgerichte zum 1. Januar 1979 in Gang zu setzen, was durchaus möglich gewesen wäre, daß dies aber am Einspruch der Länder gescheitert ist, so daß wir bezüglich des Beschleunigungseffekts ein ganzes Jahr verloren haben?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Brandt, es trifft zu, daß der Bundesinnenminister und auch die Innenminister der Länder die Landesjustizminister gebeten haben, der vorgesehenen und vom Parlament bereits beschlossenen Dezentralisierung der Verwaltungsgerichtszuständigkeit nicht nur zuzustimmen, sondern sie vorzuziehen. Die Landesjustizverwaltungen haben sich dazu nicht in der Lage gesehen. Wir wären heute bei der Realisierung des Beschleunigungseffekts im Zusammenhang mit der Novelle aus dem Jahre 1978 bereits wesentlich weiter, wenn dieses letzte Teilstück nicht erst zum 1. Januar 1980 in Kraft getreten wäre, sondern hätte früher in Kraft treten können, wie es dem Willen auch der Bundesregierung entsprach.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Stark.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß es nicht nur darum geht, eine Beschleunigung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf zu erreichen, sondern auch darum, eine wesentliche Beschleunigung und Straffung bei den Rechtsverfahren zu erreichen, und sind Sie bereit, von der Bundesregierung aus auf diesem Gebiet Aktivitäten zu entfalten oder die Vorschläge der Opposition hier in diesem Hause nachdrücklich zu unterstützen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stark, die Opposition hat nicht nur die Möglichkeit, in diesem Bereich Vorschläge zu machen, sondern sie hat auch die Möglichkeit, diese Vorschläge dort zu realisieren, wo sie die Landesregierung stellt.
Der wirksamste Beschleunigungseffekt ginge von einer Verstärkung der Gerichte in diesem Bereich aus. Ich wiederhole: Wenn die Personalverstärkungsmaßnahmen, die die Bundesregierung im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge durchgeführt hat, auch im Bereich der Gerichte durchgeführt worden wären, wären die Verfahren heute insgesamt wesentlich kürzer. Dazu kommt der Gesichtspunkt, den der Kollege Brandt in seiner Frage erwähnt hat: Wenn darüber hinaus die Dezentralisierung der Verwaltungsgerichte früher hätte in Kraft treten können, wie es dem Willen der Bundesregierung entsprach, wäre dieser Beschleunigungseffekt nicht nur größer geworden, sondern auch früher eingetreten.
Ich möchte also diese Fragestunde durchaus zu dem Appell an alle, die in Ländern und Gemeinden Verantwortung tragen, benutzen, das ihnen Mögliche zu tun, um zur Beschleunigung der Verfahren zu kommen. Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß der Bundestag heute nachmittag anhand eines Entwurfs der CDU/CSU-Fraktion über dieses Thema diskutieren wird. Ich hatte ursprünglich angenommen, Herr Präsident, dies sei der Grund dafür, daß die beiden Fragen nicht in der heutigen Fragestunde behandelt werden sollten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Urbaniak.
Herr Staatssekretär, hat sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Beschleunigung dieser Fragen ein Zeitlimit gesetzt, und ist es, falls dies zutrifft, von den Ländern vorgeschlagen worden?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist gemeinsam beschlossen worden, daß die BundLänder-Gruppe ihre Ergebnisse bis Juni 1980 vorlegen soll. Ich möchte aber betonen: Ich schließe nicht aus, daß gemeinsam gefundene Zwischenergebnisse bereits vorher verwaltungsmäßig umgesetzt werden können. Denn das wäre wünschenswert. Mögliche Beschleunigungseffekte möglichst schnell zu realisieren, ist unser Ziel.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Lintner.
Herr Staatssekretär, um wieviel hätte sich denn nach Ihrer Schätzung das Verfahren beschleunigt, wenn diese Dezentralisierung durchgeführt worden wäre?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist eine spekulative Frage, die zudem in den Zu-
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Parl. Staatssekretär von Schoelerständigkeitsbereich der Länder fällt. Ich bitte Sie, sie an eine Landesregierung zu richten.
Herr Kollege Lintner, ich kann Ihnen das Wort nur zu einer einzigen Zusatzfrage geben. Die Fülle der Zusatzfragesteller ist so groß, daß wir mit Rücksicht auf die Geschäftsordnung hier keine Ausnahme machen können. — Zu einer — einer! — Zusatzfrage Graf Huyn.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß diese Angelegenheit nicht durch eine Aufblähung des Personals in Verwaltung oder Judikatur geregelt werden sollte, sondern im Gegenteil durch eine verbesserte gesetzliche Regelung, wie sie von der Union bereits mehrmals vorgeschlagen worden ist?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, gegen einige Vorschläge, die die Opposition in diesem Zusammenhang eingebracht hat, bestehen seitens der Bundesregierung ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken. Ich möchte noch einmal betonen, daß es nicht möglich ist, das Grundrecht auf Asyl, das Art. 16 unserer Verfassung verbürgt, auszuhöhlen und sich damit Verpflichtungen zur Beschleunigung des Verfahrens im Bereich der Verwaltung und der Gerichte zu entziehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Penner.
Herr Staatssekretär, würden Sie es für eine Art Arbeitsteilung halten, wenn der CDU-Ministerpräsident Albrecht der Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen das Wort redet, der CDU-Ministerpräsident Späth aber abschreckend wirken will, um Flüchtlinge loszuwerden?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Penner, das Wort Arbeitsteilung wäre mir in diesem Zusammenhang vielleicht etwas zu neutral.
Aber diese Tendenz scheint mir durchaus gegeben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß in Baden-Württemberg mindestens sechs neue Kammern errichtet worden sind — drei in Stuttgart, drei in Karlsruhe — und daß sie nicht voll ausgelastet sind, weil durch das Nadelöhr Zirndorf nicht genügend Verfahren an diese Kammern kommen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Czaja, das Nadelöhr im Verfahren liegt nicht beim
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf. Das zum zweiten Teil Ihrer Frage.
Zum ersten Teil Ihrer Frage ist festzustellen, daß Baden-Württemberg die Zahl der Richterstellen erhöht hat, daß aber diese Erhöhung nicht so stark ist, wie die Personalverstärkungsmaßnahmen in dem der Bundesregierung unterstehenden Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge waren. Darauf habe ich vorhin hingewiesen.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Kollege Voss.
Herr Staatssekretär, vermögen Sie mir zu sagen, welche konkreten Beschleunigungseffekte Sie sich seitens der Länder denn vorstellen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Voss, die Frage habe ich bereits mehrfach beantwortet. Deswegen erübrigt sich eine zusätzliche Bemerkung.
Keine weiteren Zusatzfragen mehr. — Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Die Frage 83 aus dem Bereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes wird auf Bitte des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Ich heiße Sie zur Beantwortung willkommen, Frau Staatsminister Dr. Hamm-Brücher.
Ich rufe Frage 84 des Herrn Abgeordneten Josten — auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Artikel „Deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR — Ein Historiker dokumentiert, wie es wirklich war" in der Septemberausgabe 1979 der von der Botschaft der UdSSR herausgegebenen Zeitschrift .Sowjetunion heute", in dem grobe Unwahrheiten fiber das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen verbreitet werden?
Bitte sehr, Frau Staatsminister.
Herr Kollege, die Bundesregierung sieht, wie Sie wissen, an dieser Stelle davon ab, Bücher oder Artikel zu rezensieren. Das heißt jedoch nicht, daß die Bundesregierung die in den genannten Veröffentlichungen dargestellten Auffassungen teilt.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Josten.
Frau Minister, ist Ihnen oder Ihrem Ministerium der Artikel aus der Zeitung „Der Heimkehrer" vom 15. Februar dieses Jahres bekannt, der die Überschrift trägt „Eine sowjetische Antikriegsgefangenen-Dokumentation"?Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Ja, Herr Kollege, die Veröffentlichung in dem Verbandsorgan „Der Heimkehrer" ist uns bekannt.
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16416 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Josten.
Frau Staatsminister, teilen Sie mit mir die Meinung: „Die Bundesrepublik Deutschland war die Schutzmacht der deutschen Kriegsgefangenen und ist auch heute noch die Schutzmacht der seit dem Zweiten Weltkrieg zurückgehaltenen Deutschen im Ausland"?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Ja, die Meinung teilt die Bundesregierung.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger .
Frau Staatsminister, hält es die Bundesregierung für einen Beitrag zur deutsch-sowjetischen Verständigung, wenn in einer Zeitschrift, die von sowjetischen Dienststellen verantwortet wird, offenkundig und offensichtlich unwahre Darstellungen über die Behandlung deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion nach den Zweiten Weltkrieg verbreitet werden?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die sowjetische Seite bemüht sein sollte, historische Vorgänge objektiv darzustellen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Dann rufe ich Frage 85 des Herrn Abgeordneten Josten auf:
Trifft es zu, daß diese Zeitschrift auch an deutschen Schulen zur Verteilung gelangt, und wenn ja, was gedenkt die Bundesregierung gegen derartige, gezielt verteilte, geschichtsfälschende Darstellungen zu unternehmen, damit unsere Jugend objektiver durch echte Dokumentation über die Leiden der deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischer Gefangenschaft informiert und aufgeklärt wird?
Bitte, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, nach dem Grundgesetz fällt diese Frage in den Zuständigkeitsbereich der Bundesländer.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Josten.
Frau Ministerin, würden Sie dann Gelegenheit nehmen, darauf hinzuwirken, daß die Wahrheit auch bis zu unseren Schulen dringt, und würden Sie sich gegebenenfalls mit den Ländern in Verbindung setzen, zumal doch die Bundesregierung einen Auftrag gegeben hat — in 22 Bänden ist die Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen zusammengefaßt worden; darin ist die Wahrheit enthalten —, damit nicht unsere Jugend die Unwahrheit über das Leid der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion etwa an den Schulen aus diesen sowjetischen Informationszeitschriften entnehmen muß?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung geht davon aus, daß die Bundesländer verantwortungsbewußt genug sind, um für das Sorge zu tragen, was Sie eben zum Ausdruck gebracht haben.
Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Josten.
Frau Ministerin, ich darf folgendes fragen. Es gibt in dieser von der sowjetischen Botschaft verbreiteten Zeitschrift, die unter der Firmierung „Sowjetunion heute" läuft, beispielsweise einen Satz, in dem es heißt: „Die humane Behandlung der Kriegsgefangenen wurde auch durch die bei uns geltenden Kriegsgesetze vorgeschrieben. Jeder von uns aus der Kriegsgeneration weiß, daß es zwar vorgeschrieben war, aber nicht praktiziert wurde. Ist es da nicht auch notwendig, daß die Bundesregierung gegen solche Unwahrheiten auftritt und für entsprechende Aufklärung sorgt?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Letzteres ganz gewiß, Herr Kollege, unabhängig davon, was ich zunächst auf Ihre erste Frage geantwortet habe. '
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Frau Staatsminister, wird die Bundesregierung die doch offenkundig erheblich verbreitete Zeitschrift mit dem Artikel, der Gegenstand der Fragen des Kollegen Josten ist, zum Anlaß nehmen, um — entsprechend ihrer auch sonst geübten Praxis der Herausgabe umfassender Informationsschriften an die Bevölkerung — in den Schulen und auf andere geeignete Weise die Wahrheit über die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion zu verbreiten?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich möchte noch einmal wiederholen: Erstens. Die Bundesregierung hat keine Gelegenheit, Materialien in die Schulen zu geben. Zweitens. Es gibt eine Fülle von historisch belegten Publikationen über die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischer Gefangenschaft. Drittens. Die Bundesregierung wird sicherlich prüfen, ob es auf Grund dieser Veröffentlichung angezeigt ist, in geeigneter Weise zu intervenieren.
Zu einer Zusatzfrage, Herr Kollege Czaja.
Wie erklären Sie, Frau Staatsminister, den Widerspruch, der darin besteht, daß die Bundesregierung sich auf der einen Seite um die Einführung der Braunschweiger Schulbuchempfehlungen außerordentlich bemüht und diese auch verbreitet, sich also hier eine Zuständigkeit zuschreibt, auf der anderen Seite aber die Abgabe von Stellungnahmen zu geschichtsverfälschenden Darstellungen — und deren Verbreitung in der Schule — über deutsche Kriegsgefangene als nicht in ihre Zuständigkeit fallend bezeichnet?
Herr Kollege, nach der Geschäftsordnung sollen Sie eine kurze Frage stellen, aber nicht eine ausführliche Feststellung treffen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16417
Bitte sehr, Frau Minister.Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung hat sich in den deutschpolnischen Verträgen verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß die Schulbuchempfehlungen in den Ländern eingeführt werden. Mehr tut die Bundesregierung nicht, mehr kann sie auch verfassungsmäßig nicht tun. Im übrigen hat die Frage der Schulbuchempfehlungen, so glaube ich, mit der Veröffentlichung in der genannten Zeitschrift überhaupt nichts zu tun.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Berger .
Frau Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, den Kultusministern der Länder ihre Auffassung in dem Sinne, in dem Sie dem Kollegen Josten soeben geantwortet haben, zukommen zu lassen und sie entsprechend zu informieren?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß die Kultusminister aufmerksam genug beobachten, was in ihren Schulen vorgeht, und dann einschreiten, wenn sie es für nötig halten.
Keine weiteren Zusatzfragen mehr.
Die Fragen 86 und 87 sind vom Fragesteller, dem Abgeordneten Dr. Voss, zurückgezogen worden.
Ich rufe dann die Frage 88 des Abgeordneten Graf Huyn auf:
Wird die Bundesregierung in Fragen des Osthandels als Folge des sowjetischen Einfalls in Afghanistan volle Solidarität mit der amerikanischen Regierung üben, auch wenn es im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft oder von COCOM nicht zu einer einheitlichen Haltung kommen sollte?
Zur Beantwortung, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Die amerikanische Regierung hat eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um die Sowjetunion nachhaltig darauf aufmerksam zu machen, daß eine Verletzung der Völkerrechtsordnung nicht ohne Folgen bleiben kann. Die US-Regierung hat ihre Partner aufgefordert, sich entsprechend zu verhalten. Die Bundesregierung hat bereits wiederholt erklärt, daß sie dies tun wird. Dabei ist sie sich mit der US-Regierung einig, daß wegen der unterschiedlichen Interessenlagen ein differenziertes Vorgehen notwendig sein kann. Im übrigen hat die Bundesregierung — gemeinsam mit den Regierungen der anderen EG-Länder — bereits Maßnahmen getroffen.
Zu hypothetischen Annahmen, wie sie im zweiten Teil Ihrer Frage anklingen, Herr Kollege, gibt die Bundesregierung wie immer keine Stellungnahme ab.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Graf Huyn.
Frau Staatsminister, mir geht es in dieser Frage gerade darum — vielleicht darf ich das kurz begründen —, daß Bundesminister Graf Lambsdorff, wenn ich mich recht erinnere, im Namen der Bundesregierung erklärt hat ...
Graf Huyn, das gibt keine Frage, das ist eine Feststellung.
... — doch, das gibt eine Frage, Herr Präsident —, daß die Bundesregierung bereit sei, die COCOM-Liste Amerikas unbesehen zu übernehmen. Gerade deswegen ergibt sich die Frage: Wie wird die Bundesregierung dann, wenn in der. COCOM-Sitzung Einstimmigkeit nicht erzielt wird, handeln?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, das ist eben doch eine hypothetische Frage, auf die ich nicht antworten kann.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Broll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatsminister, gehört zu den Maßnahmen, von denen Sie soeben sagten, sie seien von der Bundesregierung bereits getroffen worden, auch so etwas wie die Einschränkung des Handels mit dem Ostblock, etwa der UdSSR, oder die Beschränkung der Kredite?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, wir haben am 5. Februar auf der EG-Ratstagung gemeinsam beschlossen, daß hinsichtlich der Gewährung von Exportkrediten an die Sowjetunion ohne Ausnahme der gegenwärtige OECD-Consensus anzuwenden ist; und der EG-Außenministerrat hat am 15. Januar für Getreideexporte den Grundsatz beschlossen, daß Lieferungen aus der Gemeinschaft weder direkt noch indirekt an die Stelle der US-Lieferungen an die UdSSR treten sollen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Lintner.
Frau Staatsminister, was gedenkt die Bundesregierung zu tun, wenn die erforderliche Einstimmigkeit im COCOM-Verfahren nicht herzustellen ist?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann nur zum dritten Male wiederholen: Hypothetische Fragen, „was wäre wenn", kann die Bundesregierung grundsätzlich nicht beantworten.
Keine weiteren Zusatzfragen.Ich rufe die Frage 89 des Abgeordneten Graf Huyn auf:
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16418 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Bitte sehr, Frau Staatsminister.Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die von Ihnen genannten Fälle erfüllen auch die Bundesregierung, wie Sie wissen, mit großer Sorge. Ich verweise auf die laufende Sitzung der VN-Kommission in Genf, auf der die Bundesregierung zusammen mit vielen anderen Ländern Menschenrechtsverletzungen in der Welt verurteilt. Ich erinnere Sie auch an meine Rede zur Eröffnung des Wissenschaftsforums in Hamburg am 18. Februar dieses Jahres. Ich erinnere schließlich an die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Februar dieses Jahres, die anläßlich der Verbannung Professor Sacharows nach Gorki angenommen wurde, die aber nicht nur auf diesen einen Fall beschränkt ist, sondern sich allgemein besorgt über die zunehmenden Repressionen all derjenigen durch den sowjetischen Staat äußert, die sich für die Wahrung und Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR einsetzen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Frau Staatsminister, ich hatte gefragt — und möchte diese Frage nunmehr wiederholen —, was die Bundesregierung weiterhin unternehmen wird, zumal in den in meiner Frage ausdrücklich mit Namen genannten Fällen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, Sie wissen genauso wie ich, daß die Bundesregierung die Sowjetunion nicht zwingen kann, ihre Haltung zu ändern. Und Sie haben sicher genauso wie wir festgestellt, daß es im Zuge der außenpolitischen Spannungen eher schwieriger als leichter geworden ist, in solchen Fällen erfolgreich zu intervenieren — ein Beweis dafür, wie wichtig der Entspannungsprozeß für die Menschen gerade in der Sowjetunion ist.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Frau Staatsminister, gerade in Anbetracht Ihrer letzten Antwort möchte ich Sie doch bitten, mir zu sagen, ob Sie meine Meinung teilen, daß nichtsdestoweniger eine Intervention auch durch Erklärungen und Reden, wie Sie selbst in Hamburg eine gehalten haben, in keinem Fall gegen eine Politik der Entspannung gerichtet sein kann.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Das bestätige ich Ihnen gern. Festigkeit in der Frage der Menschenrechte ist ein wichtiges Prinzip der Bundesregierung.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
Frau Staatsminister, hat sich denn die Bundesregierung — oder falls nicht: wird sie es tun — bei der Sowjetunion offiziell für Andrej Sacharow und für den Priester Dudko mit Rücksicht darauf verwendet, daß die Bundesregierung selbst in der Antwort auf die Große Anfrage zu den Menschenrechtspakten erklärt hat, daß solches gegenüber den Vertragspartnern der Menschenrechtspakte möglich sei und daß dem auch nicht der Einwand der verbotenen Einmischung entgegengehalten werden könne?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung hat — und sie wird es auch in Zukunft tun — bei jeder Gelegenheit auf derartige Menschenrechtsverletzungen hingewiesen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 90 des Abgeordneten Walkhoff auf:
Trifft es zu, daß die Bundesrepublik Deutschland in Vietnam lebenden Angehörigen von bereits in unserem Land ansässigen Flüchtlingen so lange die Aufnahme zu verweigern beabsichtigt, bis die vietnamesischen Behörden einem wesentlichen Teil der Personen, die bereits eine Einreisegenehmigung für die Bundesrepublik Deutschland besitzen, die Ausreise erlauben?
Bitte, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, das Auswärtige Amt hat 1979 nur zeitweise Anträge auf Familienzusammenführung aus Vietnam zurückgestellt, weil den betreffenden Personen trotz der Bewilligung der Einreise die Ausreise nicht gestattet wurde. Eine fortgesetzte weitere Erteilung von Einreisegenehmigungen hätte zu einer Blockierung der sehr beschränkten Quoten geführt. Damit wäre dann die Familienzusammenführung aus Lagern in entsprechendem Umfang verhindert worden.
Als ab November 1979 insgesamt 145 Personen die Ausreise aus Vietnam gestattet wurde, hat das Auswärtige Amt darin eine Neuorientierung der vietnamesischen Haltung zur Ausreise gesehen und hat seitdem alle Antragsteller, die die eng umschriebenen verwandtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen, positiv beschieden.
Eine Zusatzfrage, Kollege Walkhoff.
Sehr geehrte Frau Minister, wie beurteilen Sie auf der Grundlage Ihrer Aussage die Tatsache, daß mir ein Brief des Auswärtigen Amtes vom 27. Dezember 1979 vorliegt, in dem die Antragsteller beschieden werden, daß leider keine Familienzusammenführungen mehr durchgeführt werden könnten bzw. das Auswärtige Amt keine Einreisen erlauben könne, solange sich die vietnamesischen Behörden weigerten, Ausreisegenehmigungen zu erteilen?Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege Walkhoff, ich kann mir das überhaupt nur so erklären, daß sich das gerade gekreuzt hat; denn mir liegt dieses Schreiben des Auswärtigen Amtes vor, das im Hinblick auf die von mir vorhin beschriebene
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16419
Staatsminister Frau Dr. Hamm-BrücherGefahr der Blockierung anderer Einreisemöglichkeiten zunächst einmal bremsen mußte. Aber als die ersten Genehmigungen seitens der vietnamesischen Regierung erfolgt sind, haben wir diese Blokkierung aufgehoben. Seither sind, glaube ich, über 500 Vietnamesen — ich kann dazu bei der Beantwortung der nächsten Frage auch noch konkrete Zahlen nennen — zur Familienzusammenführung aus Vietnam in die Bundesrepublik eingereist.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Walkhoff.
Wären Sie bereit, gnädige Frau, sich dieser Fälle anzunehmen — sie betreffen Paderborn —, von denen ich sprach? Denn die Paderborner — nicht nur die betroffenen Vietnamesen, auch die Familien, die bereit waren, Vietnamesen aufzunehmen, und die Gemeinde — sind auf Grund der früheren Auskunft etwas deprimiert.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich bitte Sie, mir den Vorgang zukommen zu lassen. Wir werden das dann prüfen und Sie verständigen.
Keine weiteren Zusatzfragen. — Dann rufe ich die Frage 91 des Abgeordneten Neumann auf:
Sind der Bundesregierung die Gründe dafür bekannt, daß bis zum 8. Februar 1980 von dem vereinbarten Kontingent von 20000 Indochinaflüchtlingen nur insgesamt 12 810 in der Bundesrepublik Deutschland eingetroffen sind und konkrete Aufnahmezusagen nur für 2700 weitere Flüchtlinge vorliegen, obwohl in den Flüchtlingslagern der ASEAN-Staaten und Hongkong Flüchtlinge auf die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland warten?
Bitte, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege Neumann, ich möchte vorausschicken, daß das Gesamtkontingent — die von Ihnen genannte Zahl 20 000 — tatsächlich noch nicht verfügbar ist. Die Bundesländer haben derzeit insgesamt nur 18 812 Plätze angeboten, die sie zudem nur nach Maßgabe freier Kapazitäten in ihren Aufnahmestätten freigeben.
Die Einreiseerlaubnis für einen Flüchtling wird von der. deutschen Auslandsvertretung dem Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen mitgeteilt. Dieser besorgt dann die Vorbereitung der Ausreise. Zu dieser Vorbereitung, die etwa vier bis acht Wochen dauert, gehören u. a. die medizinische Untersuchung, die Registrierung, die Übernahme vom Lager zum Abflugplatz usw.
Eine einmalige Verzögerung bei der Einreise ergab sich in der Weihnachtszeit, als die Bundesländer baten, von Transporten abzusehen. Besondere Verzögerungen ergeben sich, wie ich vorhin schon bei der Beantwortung der vorigen Frage sagte, in ca. 1 200 Fällen der Familienzusammenführung aus der Volksrepublik Vietnam. In diesen Fällen liegen die Zustimmung zur Ausreise und die Schnelligkeit ihrer Verwirklichung bei den vietnamesischen Behörden.
Eine Zusatzfrage, Kollege Neumann.
Frau Staatsminister, können Sie mir sagen, welche Bundesländer bisher ihren Anteil an der vereinbarten Quote nicht zur Verfügung gestellt haben?
Frau Dr. Hamm-Brücher: Herr Kollege, ich kann Ihnen das im Augenblick leider nicht sagen. Ich werde Ihnen das gern schriftlich beantworten.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Frau Minister, welche Kriterien sind für die .Zusage oder die Ablehnung der Aufnahme von Flüchtlingen aus Vietnam maßgebend, und was wird insbesondere unter Härtefällen unter Berücksichtigung der Tatsache verstanden, daß ein Antrag wegen der großen Zahl von täglich neu eingehenden Anträgen und mit Hinweis auf Härtefälle abgelehnt worden ist, es sich in dem konkreten Fall aber um einen Kambodschaner und nicht um einen Vietnamesen handelte?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann Ihnen das hier an einem Einzelfall auch nicht erklären. Ich würde Sie bitten, mir das zuzuleiten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein.
Frau Staatsminister, sehen Sie sich imstande, uns schon heute zu sagen, mit welcher Zahl von Flüchtlingen Sie im Jahre 1980 rechnen, die im Rahmen des neuen Kontingents hier in der Bundesrepublik aufgenommen werden?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Nein, Herr Kollege. Ich kann Ihnen nur den Überblick geben, daß es zur Zeit 18 818 bereitgestellte Plätze gibt, von denen 17 076 bereits vergeben sind. Es bleibt eine völlig frei verfügbare Quote von zunächst 1 742. Ob die Länder bereit sind, weitere Kapazitäten zu schaffen, muß man zunächst einmal abwarten. Es wäre nach der Zahl der Bewerber gewiß wünschenswert.
Keine weiteren Zusatzfragen zu Frage 91. Dann rufe ich die Frage 92 des Herrn Abgeordneten Neumann auf:Kann die Bundesregierung Berichte bestätigen, wonach in Ost-Timor 300000 Menschen in Gefahr sind, an Unterernährung zu- gru g, Beitrag le de Bundesrepublik Deutscndehlanzud, umehen einerund sichwelchen dort anbahnenden istet Katastrophedesre zu begegnen?Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege Neumann, die Bundesregierung kann die von Ihnen zitierten Berichte Gott sei Dank nicht bestätigen. Es ist allerdings zutreffend, daß noch im vergangenen Jahr Hungersnot und Krankheiten in Ost-Timor viele Todesopfer gefordert haben. Die Bundesregierung hat deshalb aus Mitteln der humanitären Hilfe des Auswärtigen Amts umgehend einen Betrag von 200 000 DM zur Verfügung gestellt. Inzwischen hat sich die Situation in Ost-Timor offenkundig nach Angaben von Vertretern karitativer Organisationen, von Diplomaten und Jouralisten, die aus
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16420 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Staatsminister Frau Dr. Hamm-BrücherTimor ausreisen konnten, sehr entspannt. Zwar ist noch immer eine hohe Sterblichkeitsrate auf Grund von Unterernährung zu beklagen; dennoch konnten die ärztliche Versorgung und die Verpflegung spürbar verbessert werden, so daß die schlimmsten Gefahren gebannt zu sein scheinen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Neumann.
Frau Staatsminister, ist es der deutschen Botschaft möglich, selbst vor Ort zu überprüfen, ob die Berichte, die in verschiedenen Zeitungen über die Katastrophe in Ost-Timor gestanden haben, wahr sind oder nicht stimmen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die deutsche Botschaft in Djakarta überprüft, soweit es ihr möglich ist, laufend die Situation. Das ist ja auch der Grund, weshalb wir humanitäre Hilfe geleistet haben und selbstverständlich auch prüfen werden, weiter humaitäre Hilfe zu leisten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Neumann.
Frau Staatsminister, wie verträgt sich diese Antwort mit der Aussage aus Ihrem Ministerium vor dem Unterausschuß „Humanitäre Hilfe" vom gestrigen Tage, daß die deutsche Botschaft selber vor Ort, in Ost-Timor, die Situation noch nicht überprüfen konnte?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, wenn die deutsche Botschaft keine Gelegenheit hatte hinzureisen, so kann sie sich doch informieren und durch andere zuverlässige Personen überprüfen, die dort gewesen sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Josten.
Frau Staatsminister, nachdem wir über die Not, die dort herrscht, informiert sind, frage ich Sie: Sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, durch weitere Soforthilfe tätig zu werden, nachdem wir als deutsches Volk in großer Not auch Hilfe von anderen Ländern fanden?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, selbstverständlich werden wir das überprüfen. Wir werden sicher zu einem positiven Ergebnis kommen.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Erler.
Frau Staatsminister, da die deutsche Botschaft in Djakarta sitzt und sich vermutlich auf indonesische Quellen stützt: Könnte man nicht unterstellen, daß die Indonesier bewußt die Lage dort anders darstellen, als sie in Wirklichkeit ist?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Frau Kollegin, die Botschaft in Djakarta stützt sich selbstverständlich nicht nur auf offizielle indonesische Berichte, sondern sie hat vor allem Kontakt mit den karitativen Organisationen, die in Ost-Timor tätig sind. Hierzu liegen uns Berichte vor. Nur auf diese Berichte habe ich meine Stellungnahme gestützt.
Es ist keinesfalls so, daß die Gefahr gebannt ist. Aber die Sorge, daß Hunderttausende dort zu verhungern in Gefahr sind, scheint nach Aussage des Internationalen Roten Kreuzes und anderer karitativer Organisationen gottlob gebannt zu sein.
Keine weitere Zusatzfrage zu Frage 92.
Ich rufe die Frage 93 der Frau Abgeordneten von Bothmer auf:
Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, daß gelegentliche Sitzungen des Ministerkomitees des Europarats auch außerhalb Frankreichs geeignet wären, in dem jeweiligen Gastland größere Aufmerksamkeit und mehr Interesse für die Arbeit des Europarats zu wekken und beispielsweise auch Bonn oder Berlin als Tagungsorte in Frage kämen?
Bitte, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß gelegentliche Sitzungen des Ministerkomitees des Europarats außerhalb des Sitzes des Europarats in einer der Hauptstädte eines der Mitgliedstaaten durchaus dazu geeignet sind, in dem jeweiligen Gastland die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in stärkerem Maße auf die Aktivitäten des Europarats und insbesondere des Ministerkomitees zu lenken und damit allgemein zu einer breiteren Kenntnis über den Europarat beizutragen. Allerdings ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Einberufung von Sitzungen des Ministerkomitees außerhalb Straßburgs nicht zuletzt angesichts der damit verbundenen Kosten und des Verwaltungsaufwandes die Ausnahme bleiben sollte.
Mit der Erstellung des neuen Europaratsgebäudes wurde den Organen des Europarates und dem Sekretariat in Straßburg ein adäquater Rahmen geschaffen, der nach Möglichkeit für die Veranstaltungen des Europarates auch genutzt werden sollte. Eine Einladung des Ministerkomitees zu einer Sitzung außerhalb Straßburgs sollte von der jeweiligen Präsidentschaft den Mitgliedstaaten zur Entscheidung vorgelegt werden und käme daher für die Bundesregierung selber frühestens zur 77. Sitzung des Ministerkomitees — und die findet, Frau Kollegin, 1985 statt — in Betracht. Konkrete Überlegungen insbesondere zur Frage eines denkbaren Tagungsortes während der deutschen Präsidentschaft erscheinen daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt als verfrüht.
Eine Zusatzfrage, Frau von Bothmer.
Frau Staatsminister, sieht sich die Bundesregierung, obgleich es also bis zu ihrer nächsten Präsidentschaft noch gute Weile hat, denn in der Lage, einmal diese Anregung im Ministerkomitee zu geben und darüber zu sprechen, zumal ja auch meine Anregung nicht auf der Vorstellung beruht, daß das Ministerkomitee ständig auf Reisen sein sollte, sondern auf dem Gedanken, daß dies, wie in meiner Frage auch steht, gelegentlich der Fall sein könnte?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Frau Kollegin, weil Ihre Frage mir wirklich wichtig zu sein scheint, habe ich mich einmal erkundigt. Es hat bisher — abgesehen von dem Wechsel zwischen Paris und Straßburg in der Zeit, als das Gebäude noch nicht fertiggestellt war — nur einmal in London eine Tagung stattgefunden, und die zweite Ausnahme wird es jetzt im April mit der Tagung des Ministerkomitees in Lissabon geben. Dem haben wir zugestimmt. Es wird von Fall zu Fall zu prüfen sein, ob eine auswärtige Sitzung im Sinne der Tätigkeit des Europarates zweckmäßig ist, und dann wird man zwischen den damit verbundenen Kosten und der politischen Notwendigkeit abwägen müssen.
Wünschen Sie eine zweite Zusatzfrage zu stellen? — Bitte sehr, Frau von Bothmer.
Frau Staatsminister, das ist sehr verständlich, und dem stimme ich im Grundsatz auch zu. Darf ich aber doch noch einmal fragen, ob man bei den Überlegungen hinsichtlich der Kosten nicht ein wenig großzügiger sein kann, weil eigentlich wohl die Existenz des Europarates im Blick auf das neugewählte Europäische Parlament auf dem Spiel steht.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Frau Kollegin, vielleicht wird man unabhängig von der Frage des Tagungsortes des Ministerkomitees Überlegungen darüber anstellen müssen, wie man die Tätigkeit und die Bedeutung des Europarates und seiner 21 Mitglieder im Bewußtsein der Bürger der Mitgliedstaaten stärken kann. Hierzu muß man allerdings einen neuen Anlauf nehmen.
Das Wort zu weiteren Zusatzfragen wird nicht gewünscht.
Die Frage 94 des Abgeordneten Dr. Hupka wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage .95 des Abgeordneten Thüsing auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die derzeitige Lage im mittelamerikanischen Staat El Salvador?
Bitte, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung ist über die Lage in El Salvador beunruhigt. Nach dem Staatsstreich gegen General Romero im Oktober 1979 ist es bisher weder Junta noch Regierung gelungen, das Land zu befrieden und die angekündigten sozialen Reformen durchzuführen. Die im Januar 1980 aus Militärs und Christdemokraten gebildete neue Junta hat eine Regierung eingesetzt, die sich bisher als äußerst schwach erwiesen hat. -
Die Polarisierung und der politische Terror sind inzwischen so weit vorangeschritten, daß das Land auf einen Bürgerkrieg zuzusteuern scheint. Trotzdem ist nicht auszuschließen, daß die Regierung mit ihrem Reformprogramm einen Mindesterfolg erzielt, wodurch sich die Situation des Landes wieder etwas stabilisieren könnte.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Thüsing.
Frau Staatsminister, wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Schließung der Botschaft der Bundesrepublik?
Frau Dr. Hamm-Brücher: Herr Kollege, der einzige Grund dafür, daß wir das tun mußten, war die Frage der Sicherheit der Botschaftsangehörigen. Die Sicherheit war nicht mehr gewährleistet. In diesem Falle sind wir verpflichtet, unserer Fürsorgepflicht nachzukommen und die Botschaftsangehörigen in Sicherheit zu bringen.
Eine Zusatzfrage, Kollege Hennig.
Frau Staatsminister, ist es wirklich nötig gewesen, die Botschaft in einer so demonstrativen Art zu schließen, was natürlich auch zu einer politischen Schwächung dieser Regierung geführt hat?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, wir haben die Botschaft nicht demonstrativ geschlossen, sondern haben dasselbe getan, was andere westliche Botschaften auch getan haben. Wir haben unsere Botschaftsangehörigen nach Guatemala zurückgenommen und um eine Doppelakkreditierung unseres Botschafters in Guatemala ersucht. Von „demonstrativ" kann also wirklich keine Rede sein.
Keine weiteren Zusatzfragen mehr.
Ich rufe Frage 96 des Abgeordneten Thüsing auf:
Teilt die Bundesregierung die Befürchtung, daß Waffenlieferungen an die Militärjunta in El Salvador gegen die Bevölkerung eingesetzt würden und deshalb unterbleiben sollten?
Bitte, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich beantworte die Frage mit einem klaren Ja.
Wünschen Sie eine weitere Zusatzfrage zu stellen, Herr Thüsing?
: Danke schön!)
— Keine Zusatzfrage.Ich rufe Frage 97 des Abgeordneten Niegel auf:Ist die Bundesregierung bereit, die von mir gestellten Fragen detailliert so zu beantworten, wie sie gestellt wurden, insbesondere genau anzuführen, welche Zahlungen die erwähnten „Schriftsteller" im einzelnen von ihr erhalten haben?Bitte sehr, Frau Staatsminister.Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege Niegel, ich bin bereit, Ihre Frage detailliert zu beantworten. Danach hatten Sie mich ja auch gefragt.
— Herr Kollege, ich habe gesagt, daß ich bereit bin, Ihre Frage zu beantworten. Beim vorletzten Mal war ich nicht zuständig.
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16422 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Staatsminister Frau Dr. Hamm-BrücherZu Ihrer Frage nach den Rechtsverhältnissen in bezug auf die Goethe-Institute: Das Goethe-Institut ist als privatrechtlicher Verein gegründet worden. 1969 gab sich der Verein eine neue Satzung. Im gleichen Jahr schloß das Auswärtige Amt mit dem Goethe-Institut einen Vertrag ab. Die Satzung und der Vertrag blieben mit geringfügigen Änderungen bis 1976 in Kraft. Dann wurde ein neuer Vertrag abgeschlossen. Beide Verträge sahen Mitwirkungsrechte des Auswärtigen Amtes vor.Nach der Satzung war die Bestätigung des Präsidenten des Goethe-Instituts und die Zustimmung des Auswärtigen Amtes zur Ernennung des dreiköpfigen Vorstandes sowie zweier Abteilungsleiter vorgesehen. Nach dem Vertrag konnte das Auswärtige Amt an den Vorstandssitzungen des Goethe-Instituts teilnehmen und in den Ausschüssen mitwirken. Im Einzelfall konnte das Auswärtige Amt aus politischen Gründen erforderlichenfalls eine Entscheidung fällen. Darüber hinaus war es eine vertraglich festgelegte Pflicht der Auslandsvertretungen und der Zweigstellenleiter, loyal zusammenzuarbeiten. Diese Bestimmungen ermöglichten — und ermöglichen —, daß die Arbeit der Zweigstellenleiter des Goethe-Instituts im Ausland mit der vom Auswärtigen Amt formulierten auswärtigen Kulturpolitik koordiniert wurde.Zu Ihrer Frage bezüglich der Veranstaltungen mit bestimmten Schriftstellern und Künstlern: Die Zentralverwaltung des Goethe-Instituts hat mitgeteilt, daß Herr Enzensberger zu sieben Lesungen oder Symposien, Herr Böll zu vier Lesungen und Herr Wallraff zu sechs Vorträgen bzw. Podiumsdiskussionen eingeladen waren, ferner Herr Staeck zu vier Ausstellungen. Der Schriftsteller Bernt Engelmann hat an Veranstaltungen, die die Zentralverwaltung des Goethe-Instituts arrangiert hat, nicht mitgewirkt.Die Zahlungen des Goethe-Instituts an die Künstler betreffen Honorare und Reisekostenerstattungen auf Grund von allgemeinen Regelungen, die vom Präsidium des Goethe-Instituts und in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt festgelegt wurden.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Niegel.
Frau Staatsminister, kann ein Zweigstellenleiter oder Institutsleiter eines GoetheInstituts in einem Land, in dem er akkreditiert ist und in dem er loyal mit seinem Botschafter zusammenarbeiten soll, dort eine nach eigenem Gutdünken und nach eigener Weltanschauung ausgerichtete Kulturpolitik betreiben?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, der Direktor einer Zweigstelle eines GoetheInstituts muß sein Programm rechtzeitig mit dem Leiter der diplomatischen Vertretung abstimmen. Dieses geschieht auch in der Praxis.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Niegel.
Frau Staatsminister, gibt es Fälle, in denen Botschafter nicht einverstanden waren oder nur notgedrungen, so quasi mit der Hand in der Hosentasche, zusehen mußten, wie Institutsleiter ihre nach eigenem Gutdünken und eigener Weltanschauung ausgerichtete auswärtige Kulturpolitik machten?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin nicht imstande und befugt, in die Hosentaschen unserer Botschafter zu gucken.
Bisher hat es immer wieder einmal Fälle gegeben, in denen unterschiedliche Meinungen bestanden. Wer wollte das verhehlen? Deshalb haben wir ja die Unabhängigkeit der Goethe-Institute geschaffen. Aber eigentlich ist noch jeder Fall ein Lernprozeß gewesen, und zwar für beide Seiten: Beide Seiten haben davon profitiert, daß man zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Schäfer.
Frau Staatsminister, sind Sie mit mir der Meinung, daß angesichts der Tatsache, daß Herr Abgeordneter Niegel in seiner Fragestellung den Begriff Schriftsteller in Anführungszeichen setzt, in bezug auf die Namen, die Sie vorhin genannt haben, der sattsam bekannte unrühmliche Versuch fortgesetzt wird, diese Schriftsteller zu desavoieren und zu diskriminieren?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege Schäfer, ich kann natürlich nicht interpretieren, weshalb Herr Niegel den Begriff Schriftsteller in Anführungszeichen gesetzt hat; ich muß nur davon ausgehen, daß der Nobelpreisträger für Literatur, Böll, in der ganzen Welt ein großes Ansehen genießt und die anderen genannten Schriftsteller — ohne Anführungszeichen — desgleichen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Thüsing.
Frau Staatsminister, teilen Sie angesichts der berechtigten Empörung vieler Bürger in diesem Lande die Meinung, daß wir es bei der Tatsache, daß führende lebende deutsche Schriftsteller in den Fragen des Abgeordneten Niegel, die er in der letzten Woche und in dieser Woche gestellt hat, nur noch in Anführungszeichen genannt werden — —
Herr Kollege Thüsing, Sie stellen keine Frage mehr, sondern Sie wollen etwas feststellen.
Nein, ich stelle eine Frage. — Ich wollte fragen, ob Sie mit mir der Meinung sind, daß wir es hier mit einer Fortsetzung der „Ratten- und Schmeißfliegen"-Kampagne auf parlamentarischer Ebene zu tun haben.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16423
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, dazu möchte ich mich wirklich nicht äußern.
Noch weitere Zusatzfragen? — Bitte sehr, Herr Kollege Hoffmann.
Frau Staatsminister, können Sie sich vorstellen, daß Ihr Ministerium im Rahmen der Kulturpolitik des Goethe-Instituts bei der Auswahl der Schriftsteller parteipolitisch vorginge und daß sozusagen nur offiziell genehmigte Schriftsteller die Kulturpolitik der Bundesrepublik im Ausland vertreten dürften?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ein klares Nein. Wir haben einen Vertrag mit dem Goethe-Institut, in dem das Verfahren der Selbständigkeit, das Verfahren der Koordinierung und der loyalen Zusammenarbeit festgelegt wurde. Seit 1976 hat sich dieser Vertrag im großen und ganzen bewährt, und ich glaube, jedes Amt und jede Regierung in einem freien Staat sollte sich jedes Werturteils enthalten, welcher Schriftsteller seine Werke und seine Vorstellungen im Ausland im Sinne unserer Kulturbeziehungen repräsentieren kann.
Keine weitere Zusatzfrage mehr? —
Dann rufe ich Frage 98 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Wie lauten die einzelnen Passagen in den Arbeitsverträgen der Institutsleiter der Goethe-Institute von 1969 bis 1976 und ab 1976, nach denen gesichert sein soll, daß diese Institutsleiter die Kulturpolitik im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vertreten?
Bitte, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Abgeordneter, das Goethe-Institut schließt mit seinen Mitarbeitern kurze Formularverträge, wie es für Angestellte, die nach dem BAT entlohnt werden, weitgehend üblich ist. Die Dienstpflichten werden darin nicht. aufgeführt. Diese ergeben sich aus der Geschäftsordnung des Goethe-Instituts und die Anweisungen der Zentralverwaltung an die Zweigstellen des Goethe-Instituts im Ausland, die im Rundschreiben enthalten sind. Der Rahmenvertrag aus dem Jahre 1976 ist den Zweigstellen mit einem Rundschreiben zur Kenntnis gebracht worden.
Es ist und war auch in der Zeit von 1969 bis 1976 Gegenstand der Dienstpflicht jedes Mitarbeiters des Goethe-Instituts, die Richtlinien des Goethe-Instituts für seine Arbeit zu beachten. Dazu gehört auch die Einhaltung der Pflichten, die sich aus dem Rahmenvertrag mit dem Auswärtigen Amt ergeben. Hierin ist die Verpflichtung enthalten, die Richtlinien für die auswärtige Kulturpolitik zu beachten und die Programme mit den jeweils zuständigen Auslandsvertretungen im Planungsstadium zu beraten.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Niegel.
Frau Staatsminister, können Sie mir dann in Ergänzung dazu sagen, welche Richtlinien das Auswärtige Amt erlassen hat, die hier einzuhalten sind?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, für das Auswärtige Amt gilt der Vertrag, und die eigentlichen Richtlinien verfaßt das Goethe-Institut selber.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Niegel. Bitte sehr.
Ist Ihnen bekannt, Frau Kollegin, daß ein Leiter eines Goethe-Instituts in einem Buch, das kürzlich erschienen ist, das Auswärtige Amt, den deutschen Botschafter und die deutsche Kulturpolitik verhöhnt und darauf hingewiesen hat, daß er nach eigenem Gutdünken, eigener Weltanschauung eigene Kulturpolitik betreibt und er vor allem Staeck und andere „Künstler" vergleichbarer Richtung bewußt eingeladen hat?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich weiß nicht, welches Buch und welchen Verfasser Sie meinen.
— Sie könnten mir das gelegentlich einmal zuleiten.
Keine weiteren Zusatzfragen mehr. Ich rufe die Frage 99 der Frau Abgeordneten Erler auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, ob der deutsche Honorargeneralkonsul Juan Hoffmann in seiner Eigenschaft als Generalkonsul Hilfestellung bei der Finanzierung der Acción Democrática Espanola (ADE) geleistet hat (vgl. Spiegel Nr. 9 vom 25. Februar 1980), und wenn ja, gehört eine derartige Tätigkeit zu den Aufgaben des Generalkonsuls?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Frau Kollegin, der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß der Honorarkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Malaga in seiner Eigenschaft als Generalkonsul Hilfestellung bei der Finanzierung der Accón Democràtica Espanola geleistet hat.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Erler.
Frau Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, den „Spiegel" zu lesen und einem darin abgedruckten Dokument, auf dem oben offiziell steht: Juan Hoffmann, Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland, zu entnehmen, daß dieser Konsul Hilfestellung geleistet hat bei der — —
Frau Kollegin Erler, Ihre Frage lautete, ob die Bundesregierung bereit sie, den „Spiegel" zu lesen.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Frau Kollegin, die Bundesregierung hat den „Spiegel" gelesen und hat unseren Botschafter in Madrid als die vorgesetzte Dienststelle auf die Darstellung hingewiesen. Der Botschafter hat seinerseits Herrn Hoffmann an
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16424 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Staatsminister Frau Dr. Hamm-Brücherdie für seine Amtsführung geltenden Grundsätze erinnert.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin Erler.
Frau Staatsminister, sieht die Bundesregierung eine solche Tätigkeit eines Generalkonsuls — selbst wenn es in seiner Freizeit passiert — nicht als für das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland schädlich an?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Frau Kollegin, ich möchte noch einmal wiederholen: Der Umfang der Tätigkeit eines Honorarkonsuls wird durch die ihm bei politischer Betätigung auferlegte Zurückhaltung begrenzt. Hier ist der § 177 des Bundesbeamtengesetzes einschlägig. Genau daran hat der Botschafter den Generalkonsul erinnert.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Thüsing.
Gibt es Möglichkeiten, den bundesrepublikanischen Generalkonsul auf die von Ihnen genannten Bestimmungen etwas nachdrücklicher aufmerksam zu machen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, das Auswärtige Amt wird das prüfen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Dann ist auch die Frage 99 erledigt.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen beantwortet. Ich danke Ihnen, Frau Staatsminister, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Ich begrüße zur Beantwortung Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Haehser.
Ich rufe die Frage 62 des Herrn Abgeordneten Kolb auf:
Kann die Bundesregierung darüber Auskunft geben, welche Kosten insgesamt für die OttoHahn-Gedenkmünze angefallen sind, wobei für den Materialwert der Zeitpunkt des Einkaufs und nicht der vorgesehene Ausgabetag anzusetzen wäre, und wie hoch die Kosten für das Einschmelzen der geprägten Münzen wären?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, die Kosten der Silberausführung der Otto-Hahn-Gedenkmünze mit einer Auflage von 8,35 Millionen Stück betragen insgesamt ca. 20,9 Millionen DM. Hiervon entfallen ca. 18 Millionen DM auf den Wert des Materials, wenn für Silber ein Einstandspreis von durchschnittlich etwa 300 DM pro Kilogramm zugrunde gelegt wird. Genauere Angaben bezüglich des Einstandspreises sind nicht verfügbar, da für die Herstellung der Münzen Silber verwendet wurde, das aus dem Umtausch der alten 5-DM-Umlaufmünzen aus Silber in Münzen aus Dreischichtenwerkstoff zur Verfügung stand. Das Silber hierfür wurde zu den jeweiligen
Marktpreisen der Jahre 1951 bis 1974 beschafft. 2,9 Millionen DM der Gesamtkosten von 20,9 Millionen DM beziehen sich auf die Herstellung der Münze. Die Kosten für die Einschmelzung betragen ca. 0,1 Millionen DM, und die Kosten für die Silberrückgewinnung belaufen sich auf rund 1 Million DM, so daß Kosten in Höhe von 1,1 Millionen DM entstehen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Kolb.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung die Möglichkeit geprüft, diese Münzen nicht als Münzen im Nennwert laufen zu lassen, sondern so zu verkaufen, was auf jeden Fall einen Gewinn von über 20 Millionen DM ergeben hätte, während die Neuherstellung auf jeden Fall 4 Millionen DM und nicht 2 Millionen DM kostet?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, selbstverständlich hat die Bundesregierung dies geprüft. Sie hat auch — das will ich gern einmal hinzufügen — zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung bekommen. Ich bin sicher, daß der eine oder andere Hinweis auch lautete, man möge ein Loch durch die Münzen bohren und sie dann herausgeben. All diese Überlegungen vertragen sich nicht mit der Medaillenverordnung, die wir im Bundesgesetzblatt, Teil I, Seite 3520 des Jahres 1974, veröffentlicht haben. Diese Medaillenverordnung verbietet nämlich die Herstellung und den Vertrieb von Medaillen — hierum hätte es sich in dem Fall, den Sie, Herr Kollege, im Auge haben, gehandelt —, wenn diese den Durchmesser von Bundesmünzen haben, den Bundesadler tragen oder die Bezeichnung einer Gattung gültiger Bundesmünzen oder die Angabe eines Geldwertes enthalten. Hierdurch soll der Zahlungsverkehr vor geldähnlichen Gebilden geschützt werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Kolb.
Herr Staatssekretär, nach der überschlägigen Rechnung hätten wir auf jeden Fall 21 Millionen DM für die Bundeskasse übrig gehabt, die natürlich durch den steigenden Silberwert nach außen aufgehoben wären. Was geschieht jetzt eigentlich mit dem gewonnenen Silber?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen, daß man nicht nur dann reich ist, wenn man Geld in der Tasche hat, sondern z. B. auch dann reich sein kann, wenn man Silber auf der Bank hat.
Keine weitere Zusatzfrage.Dann rufe ich die Frage 63 des Herrn Abgeordneten Dr. Sprung auf:Wie hoch sind die Kosten der Herstellung der Otto-Hahn-Gedenkmünze gewesen, und wie hoch sind die Kosten der Wiedereinschmelzung und der Silberrückgewinnung?Bitte, Herr Staatssekretär.Haehser, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Herstellungskosten der Silberausführung der Otto-Hahn-Gedenkmünze betragen ohne Material-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16425
Parl. Staatssekretär Haehserkosten ca. 2,9 Millionen DM. Ausgaben für die Beschaffung des benötigten Silbers und Kupfers sind dem Bund deshalb nicht entstanden, weil diese Metalle im Zusammenhang mit dem Umtausch der alten 5-DM-Umlaufmünzen aus Silber in die neuen Münzen aus Dreischichtenwerkstoff zur Verfügung standen. Die Kosten für die Einschmelzung — ich habe das soeben schon sagen dürfen, Herr Kollege Dr. Sprung — belaufen sich auf etwa 1,1 Millionen DM.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Sprung.
Herr Staatssekretär, wäre es nicht möglich gewesen, durch Gesetz einen Verkauf der Münzen über pari zu ermöglichen? Warum mußte dieser kostspielige Weg gegangen werden, der jetzt vorgesehen ist?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Durch Gesetz ist sicher sehr viel möglich. Aber ich wage es zu bezweifeln, daß es dem Ansehen unseres Geldes gedient hätte, wenn wir ein 5-DM-Stück durch Gesetz z. B. in ein 10-DM-Stück umgewandelt hätten, obwohl weiter „5 DM" darauf gestanden hätte. Herr Kollege Dr. Sprung, übersehen Sie bei den Überlegungen, die in Ihrer Frage und in den Fragen anderer Kollegen eine Rolle spielen, bitte nicht, daß wir eine neue Otto-Hahn-Münze herausgeben wollen und daß Münzgewinn in größerer Höhe entstehen wird, als wir durch die Herausgabe des Silberstücks erzielt hätten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Sprung.
Herr Staatssekretär, wo steht geschrieben, daß die Ausgabe von Münzen über pari rechtlich nicht zulässig ist?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Ich weiß nicht, ob es irgendwo geschrieben steht; aber eigentlich führt strenges Nachdenken dazu, daß man ein 5-DMStück, das in der Bundesrepublik Deutschland gültiges Zahlungsmittel ist, nicht über pari verkaufen sollte.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung angesichts dieser Situation die Hoffnung gehabt, daß ein solches Geldstück als Zahlungsmittel verwandt wird?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Ja, selbstverständlich, Herr Kollege. Der Silberpreis ist doch nach der Entscheidung, die Otto-Hahn-Münze in der üblichen Form, d. h., in Silber, herauszugeben, auf die Höhen geklettert, die Sie kennen.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 64 des Abgeordneten Dr. Sprung auf:
Welche Kosten entstehen durch eine Ersatzprägung der Otto-HahnGedenkmünze aus dem Dreischichtenwerkstoff nach Art der Umlaufmünzen, und warum hat die Bundesregierung die Gedenkmünze nicht zur Sammlermünze gemacht und zu einem Preis, der die derzeitigen Kosten decken würde, dem Markt angeboten?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Sprung, die Gesamtkosten der Neuprägung der Münze in Dreischichtenwerkstoff betragen bei einer Auflage von 5,35 Millionen Stück einschließlich Materialkosten ca. 2,9 Millionen DM.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage kann ich auf das verweisen, was ich vorhin auf die Frage des Kollegen Kolb gesagt habe. Ich wiederhole es aber gern: Nach der Medaillenverordnung sind Herstellung und Vertrieb von Medaillen, die den Durchmesser von Münzen haben, den Bundesadler tragen oder die Bezeichnung einer Gattung gültiger Bundesmünzen oder die Angabe eines Geldwertes enthalten, nicht möglich.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Sprung.
Herr Staatssekretär, ich knüpfe an eine Frage von eben an: Wäre es nicht möglich gewesen, die Medaillenverordnung zu ändern, um zu erreichen, daß die zusätzlichen Kosten, die Sie eben genannt haben, nicht entstanden wären?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihnen dazu nur noch einmal sagen, daß man natürlich auch eine Verordnung ändern kann. Aber ich muß erneut den Zusammenhang zwischen einem als Fünfmarkstück geprägten Geldstück und der Medaillenverordnung herstellen. Man kann nicht erklären, daß ein Geldstück plötzlich keines mehr sei.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Sprung.
Herr Staatssekretär, haben wir nicht andere Umlaufmünzen mit einem aufgedruckten Wert, die heute weit über pari gehandelt werden und noch gültig sind?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Fünfmarkstücke alter Art sind in der Tat zu mehr Geld zu verkaufen, als man selber dafür ausgegeben hat. Aber wenn Sie in ein Geschäft gehen und Bonbons kaufen wollen, dann kriegen Sie für das alte Fünfmarkstück nicht mehr Bonbons als für ein neues Fünfmarkstück.
— Ihnen gibt man mehr, Herr Kollege.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Broll.
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Herr Staatssekretär, ich will Ihren Gedanken von eben aufnehmen: Kann man nicht unter Änderung der Medaillenverordnung eine Medaille zu einer Münze machen, obwohl man es ursprünglich nicht vorgehabt hat?Haehser, Parl. Staatssekretär: Die Frage lautete bisher umgekehrt: ob man eine Münze zu einer Me-
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Parl. Staatssekretär Haehserdaille machen könne. Ich will aber gern auch dieser Frage nachgehen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kolb.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie die neue Dreischichtengedenkmünze nur in einer Auflage von 5,35 Millionen Stück herausbringen wollen, während die jetzige mit 8,35 Millionen Stück vorgesehen war, oder war das ein Lesefehler?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Das war kein Lesefehler.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Frage 65 des Abgeordneten Bahner wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 66 des Abgeordneten Haase auf:
In welchen Fallen hat die Bundesregierung seit 1969 in welcher Höhe Bundeshilfen im weitesten Sinne an Unternehmen (außer Bundesunternehmen) gewährt oder für die Zukunft in Aussicht gestellt, in deren Vorstand oder Aufsichtsrat im Zeitpunkt der Zusage der Bundeshilfe frühere Bundesminister oder Staatssekretäre saßen?
Herr Staatssekretär.
Haehser, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Haase, Bundeshilfen werden nach bestimmten Kriterien, insbesondere auf Grund gesetzlicher Bestimmungen, gewährt, und zwar in Tausenden von Fällen. Erinnert sei nur an die vielen Bürgschaften für Bankkredite, an die Mittelstandskredite, an die Ausfuhrbürgschaften sowie an die Zuschüsse für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben. Die Herkunft einzelner Mitglieder von Vorständen bzw. von Aufsichtsräten ist für die Vergabe derartiger Hilfen ohne jeglichen Belang.
Die Bundesregierung verfügt deshalb auch nicht über eine Zusammenstellung von Hilfen an diejenigen Unternehmen, in denen ehemalige Minister oder Staatssekretäre im Aufsichtsrat oder im Vorstand saßen, weder seit 1969 noch vor 1969.
Die Bundesregierung ist auch nicht der Meinung, daß eine solche Zusammenstellung, wenn wir sie hätten, irgendwelche aussagekräftigen Erkenntnisse für die Förderpraxis bieten könnte.
Keine Zusatzfrage.
Die Fragen 67 und 68 des Abgeordneten Metz sowie die Frage 69 des Abgeordneten Dr. Jentsch werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen erledigt. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Meine Damen und Herren, die Zeit für die Fragestunde ist abgelaufen. Die nicht behandelten Fragen werden schriftlich beantwortet.
Wir setzen die unterbrochene Debatte zu den Tagesordnungspunkten 5 bis 7 fort.
Ich frage das Haus, ob weiter das Wort zur Debatte gewünscht wird. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 8/3608 und 8/3703 und der Vorlage auf Drucksache 8/3570 an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge im einzelnen ersehen Sie aus der Tagesordnung. Ist das Haus mit diesen Vorschlägen für die Überweisung einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes
— Drucksache 8/3360 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/3729 —
Berichterstatter:
Abgeordneter
Hauser
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses
— Drucksache 8/3728 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Gerstl de Terra
Interfraktionell ist für die Aussprache ein Kurzbeitrag für jede Fraktion vereinbart worden. Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten de Terra.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Soldatengesetzes: Ist das ein gutes Gesetz? Ist das ein schlechtes Gesetz? Präziser muß ich fragen: Wird das ein gutes Gesetz? Wird es ein schlechtes Gesetz? Müssen wir etwa bei der Zahl 13 als abergläubische Aufgeklärte der Massenwohlfahrtsgesellschaft pflichtgemäß einen kalten Hauch des Unheils verspüren? Ich verneine diese Frage. Es wird, so meine ich, ein gutes Gesetz.Es ist allerdings ein Gesetz, mit dem wir nicht ganz zufrieden sein können, was das Gesetzestechnische, das Handwerkliche angeht. Dies ist zwar nicht ausschließlich schlecht. Es gibt Teile, die durchaus und sogar sehr zu loben sind. Die sorgfältig erarbeitete Begründung ist dafür ein Beispiel. Der von mir erhobene Vorwurf trifft nicht allein die Verfasser des Entwurfs, die Ministerialen, sondern im Grunde uns alle, weil wir nicht die Kraft haben oder uns nicht die Zeit nehmen, in das Gestrüpp der Verflechtungen Schneisen zu schlagen und wieder klare, lesbare, aus sich selbst verständliche Gesetze zu machen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16427
de TerraIch komme zum Inhalt des Gesetzes. Das Gesetz hat vier Zielsetzungen. Dabei sind in der Drucksache 8/3360 die unter den Nrn. 1 und 4 der „Zielsetzung" aufgeführten Regelungen die Eckpfeiler, die entscheidenden Bestimmungen.Der erste Eckpfeiler ist die Gleichstellung der Kampfbeobachter in strahlgetriebenen Flugzeugen mit den Strahlflugzeugführern. Hier ist ein kleiner Personenkreis betroffen, bei dem aber für den einzelnen Soldaten hohe Ausbildungskosten aufgewendet worden sind. Wir begrüßen die vorgesehene gesetzliche Regelung. Wir halten sie für dringend notwendig. Die Begründung des Gesetzentwurfs ist ausführlich und überzeugend. Wir finden im alten Art. 4 darüber hinaus ein, wie ich meine, gutes Beispiel dafür, daß das dienstliche Erfordernis und die Fürsorge für den Soldaten deckungsgleich sind. Die ausführlichen Darlegungen der Begründung zeigen auch das überzeugend.Wir haben ferner die Regelung, daß Soldaten mit mindestens zweijähriger Verpflichtung wieder vom Tag der Ernennung an Besoldung erhalten. Ich kann es in einem Satz zusammenfassen: Die Sünden des Haushaltsstrukturgesetzes werden abgebüßt; präziser gesagt: werden in Raten abgebüßt. Denn schon durch ein Gesetz von 1977 war diese Regelung für zwei Jahre suspendiert. Nun entfällt sie endgültig. Wir können das nur sehr begrüßen. Der Verteidigungsausschuß hatte in seiner Gesamtheit schon beim Haushaltsstrukturgesetz Bedenken. Er hielt auch die Regelung von 1977 nicht für richtig, weil das endgültige Entfallen dieser Vorschrift notwendig ist. Nun sind wir also soweit, daß die Soldaten mit mindestens zweijähriger Verpflichtung wieder ab dem Tag der Ernennung Besoldung erhalten. Die 100 Millionen DM, die dafür aufzuwenden sind, sind gut angelegt. Die Vergangenheit zeigt uns, daß wir sonst Kosten für die Werbung von Soldaten aufwenden müßten.Wir haben weiter die Verlängerung der Dienstzeit für Sanitätsoffiziere auf Zeit von — ich nehme das Ergebnis vorweg — 15 auf 20 Jahre. Wir halten die Regelung für gut und richtig. Derjenige, der hier eine so spezielle und gute Ausbildung genossen hat, muß auch in einer angemessenen, längeren Zeit diese Fähigkeiten für die Bundeswehr zur Verfügung stellen.Schließlich haben wir eine Regelung, die die Mitglieder des Deutschen Bundestages betrifft. Sie besagt, daß Mitglieder des Bundestages, deren Rechte und Pflichten als Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit auf Grund ihrer Parlamentszugehörigkeit ruhen, unter denselben Voraussetzungen Wehrübungen ableisten sollen wie diejenigen Abgeordneten, die Angehörige der Reserve sind. Wir haben diese Bestimmung in den Beratungen des Ausschusses hinsichtlich des Personenkreises erheblich erweitert, wir haben sie auch präziser, und wir haben sie jetzt so gestaltet, daß sie, so meinen wir, dem Verfassungsprinzip des freien Mandats in der Ausprägung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 1975 und des Abgeordnetengesetzes vom 18. Februar 1977 nach unserer Auffassung weitestgehend entspricht.Wir wissen, daß die Mängel, die zu beseitigen waren, daran lagen, daß die vorgesehene Bestimmung dem Wehrpflichtgesetz nachgebildet war. Wir haben daher konsequenterweise das Wehrpflichtgesetz ändern müssen; auch dies ist in unserem Gesetzentwurf eingearbeitet. Wir haben nunmehr eine Regelung getroffen, die eindeutig festhält, daß die Mitglieder des Deutschen Bundestages, der Länderparlamente und des Europäischen Parlaments, deren Rechte und Pflichten als Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit auf Grund ihrer Parlamentszugehörigkeit ruhen, unter denselben Voraussetzungen wie die Abgeordneten, die Angehörige der Reserve sind, Wehrübungen leisten können. Sie können dies aber nur auf eigenen Antrag tun. Es ist jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß die Exekutive von sich aus in die Ausübung des freien Mandats eingreifen kann. Die im Gesetz festgesetzte Begrenzung auf drei Monate betrifft nur die einzelne Übung. Die Anzahl der Wehrübungen, die der Abgeordnete insgesamt in der Periode bzw. in der Zeit seiner Parlamentszugehörigkeit ableisten will, haben wir bewußt offengelassen.Es bleibt allerdings ein gewisses Unbehagen; das darf ich als Randbemerkung anmerken. Ich befürchte zwar nicht, daß diese Bestimmung von dem einzelnen Abgeordneten extrem ausgenutzt wird. Denn er wird sich mit aller Kraft der Ausübung seines Mandats widmen. Er wird auch immer nur diejenigen Wehrübungen leisten können, die auf seinen Antrag genehmigt werden. Ich will auch nicht auf die hier deutlich zutage tretende Vermengung von Exekutive und Legislative eingehen; das wehrübende Mitglied des Parlaments wird ja doch wieder in die Hierarchie eingefügt, er wird Befehl und Gehorsam unterworfen, es besteht die disziplinäre Abhängigkeit, er ist vielleicht selber Disziplinarvorgesetzter.Aber man muß noch einen Punkt sehen. Bei dieser Regelung kann derjenige, der Berufssoldat ist, nicht während der Zeit seiner Wehrübung befördert werden, wie es beim Reserveoffizier der Fall ist, der nicht Berufssoldat ist. Das kann bei langjähriger Zugehörigkeit zu Diskrepanzen führen, zu einem Auseinanderklaffen, das auf die Dauer nicht gut ist. Wir müßten noch einmal überprüfen, ob wir hier die beste Lösung gefunden haben.Darüber hinaus haben wir eine Fülle von Textkorrekturen vornehmen müssen, Änderungen aus terminologischen und redaktionellen Gründen. Wir haben auch eine weitere Ergänzung des Wehrpflichtgesetzes vorgesehen, und zwar in Verfolg der Feststellung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, der uns in seinem zweiten Tätigkeitsbericht auf eine Lücke hingewiesen hat, die wir nun gefüllt haben.Ich habe das Technische des Gesetzes angesprochen. Ich will das noch durch ein paar Sätze vertiefen. Das Gesetz trägt die Bezeichnung „Änderung des Soldatengesetzes", aber in Wirklichkeit werden fünf Gesetze geändert: das Soldatengesetz, das Soldatenversorgungsgesetz, das Bundesbesoldungsgesetz, das Siebente Gesetz zur Änderung des Soldatengesetzes und das Wehrpflichtgesetz. Dies ist
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16428 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
de Terratechnisch und handwerklich keine gute Lösung, besonders im Hinblick auf das Siebente Gesetz zur Änderung des Soldatengesetzes, das seinerseits durch das Zehnte Gesetz zur Änderung des Soldatengesetzes geändert wurde. Wenn Sie dann noch die Daten vergleichen und feststellen, daß wir sehr viel später eine neue Fassung des Soldatengesetzes gefunden haben, ist das verwirrend. Trotzdem haben wir keine Neufassung des Soldatengesetzes beantragt, weil wir wissen, daß in anderen Bereichen erneut Änderungen des Soldatengesetzes behandelt werden. Wir meinen aber, daß wir sobald wie möglich eine neue Bekanntmachung des Soldatengesetzes bringen sollten, die die Arbeit der damit befaßten Stellen wesentlich erleichtern wird.Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Gesetzentwurf zustimmen.
Als nächster Redner hat der Herr Abgeordnete Gerstl das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das zur Abschlußberatung anstehende Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Soldatengesetzes soll technischen, wirtschaftlichen, taktischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen bei der Bundeswehr Rechnung tragen. Internationale Vergleiche, die stark zurückgegangenen Unfallzahlen und jährliche taktische Überprüfungen beweisen, daß die fliegenden Kampfverbände auch dadurch leistungsfähig und einsatzbereit sind, daß sich die Piloten in diesen Verbänden freiwillig der. besonderen Altersgrenze von 40 Jahren — seit dem Haushaltsstrukturgesetz von 41 Jahren — unterwerfen.Zum Zeitpunkt der Einführung der besonderen Altersgrenze von 40 Jahren waren in diesen Kampfverbänden ausschließlich einsitzige Luftfahrzeugmuster vorhanden. Technische Möglichkeiten und neue Einsatzkonzeptionen führten dazu, daß neue Flugzeugmuster zum Einsatz kamen. Eine wesentliche Erweiterung der elektronischen und navigatorischen Ausrüstung, der Einbau moderner Waffen und die Vielseitigkeit der Verwendung im Einsatz mußten zu einer Arbeitsteilung führen, um sachgerechte Bedienung und damit eine möglichst effektive Nutzung zu garantieren. Die Luftwaffe trug der veränderten Situation mit der Einführung des Waffensystems Phantom Rechnung und stellte darüber hinaus in Zusammenarbeit mit der britischen und italienischen Luftwaffe die Forderung nach Entwicklung des Waffensystems Tornado, auch unter dem Namen MRCA bekannt, auf. Das letztgenannte Muster wird ab 1980 in der Bundeswehr eingesetzt.Diese neuen modernen Waffensysteme werden durch Strahlflugzeugführer und einen Kampfbeobachter geflogen und bedient. Der Kampfbeobachter hat seine Hauptaufgabe — neben den Anteilen für die Bordkommunikation, die Flugzeugsystembedienung und den Sprechfunk — in der Navigation und in der Waffenbedienung. Ein im Flugmedizinischen Institut der Luftwaffe erarbeitetes Gutachten über die psychophysische Belastung der Kampfbeobachter bestätigt die militärische Erkenntnis, daß die körperliche Belastung und Beanspruchung bei den Besatzungsmitgliedern gleich sind, daß das Aufgabenpensum zwar unterschiedlich, in qualitativer und quantitativer Hinsicht aber vergleichbar ist und daß der psychische Streß beider Besatzungsmitglieder gleich ist. Die dienstrechtliche Gleichstellung von Kampfbeobachtern und Strahlflugzeugführern war deshalb logisch notwendig.Untersuchungen dazu ergaben, daß eine Anschlußverwendung von Kampfbeobachtern nur für etwa ein Drittel der vorhandenen Offiziere gegeben ist. Deshalb sieht dieses Gesetz vor, daß Kampfbeobachter mit 41 Jahren aus dem Dienst des Bundes ausscheiden können.Hier darf ich darauf hinweisen, daß in der Ausschußberatung der dringende Wunsch an das Verteidigungsministerium gerichtet wurde, ernsthaft zu prüfen, ob nicht noch mehr als 30% der Piloten und der Kampfbeobachter in das Verhältnis eines Berufsoffiziers übernommen werden können. Gleichzeitig müßte noch geprüft werden, ob nicht Zeitsoldaten-Regelungen mit 20 Jahren Dienstzeit oder ähnliche rechtliche Formen das Problem besser lösen könnten. Der nicht in Details eingeweihten Öffentlichkeit kann nur sehr schwer vermittelt werden, daß Offiziere mit hoher Qualifikation mit 41 Jahren beim Bund ausscheiden müssen. Pensionsanspruch und Zuverdienstmöglichkeiten bringen Konflikte im sozialpolitischen Bereich. Deshalb bleiben Parlament und Regierung aufgefordert, das Gesamtproblem zu gegebener Zeit erneut zu diskutieren und nach Lösungen zu suchen, die sowohl für die Betroffenen, den Dienstherrn und im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen bessere Regelungen bringen.Ein anderer Teil der Gesetzesvorlage befaßt sich mit der Situation der Sanitätsoffiziere. Der durch Vermittlung eines Studienplatzes, bezahlte Ausbildung und Aussicht auf Weiterbildung zum Allgemeinarzt, zum Spezialisten, z. B. auf flieger-, taucheroder sportmedizinischem Gebiet, oder zum Facharzt gewonnene Sanitätsoffiziersanwärter muß nach Ausschöpfung der ihm gebotenen Vorteile lange genug im Dienst verbleiben. Durch die relativ gute Ausbildung, Vermittlung von umfassendem Verständnis für organisatorische Fragen unterliegt dieser Sanitätsoffizier einem gewissen Abwerbungsdruck. Bei einer Gesamtausbildungszeit von ca. zehn Jahren muß eine etwa gleichlange Verwendungszeit in der Truppe angestrebt werden. Deshalb sollen diese Sanitätsoffiziere nach dem vorliegenden Gesetz auf 20 Jahre verpflichtet werden können.Mit der Novelle wird auch eine Gleichbehandlung von Mitgliedern dieses Hauses, die als Berufsoder Zeitsoldaten wegen ihrer Mitgliedschaft im Bundestag in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurden, herbeigeführt. Während die derzeitige rechtliche Situation es zuläßt, daß Mitglieder des Bundestages, die Angehörige der Reserve sind, Wehrübungen ableisten dürfen, ist dies den aus dem Verhältnis des aktiven Berufs- oder Zeitsoldaten kommenden Mitgliedern des Bundestages zur Zeit
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16429
Gerstlnicht möglich. Die Gleichbehandlung gebietet, daß hier die rechtlichen Barrieren beseitigt werden, um auch den aktiven Soldaten, die Mitglieder dieses Hauses sind, auf Antrag Wehrübungen zu ermöglichen.Eine Anregung des Niedersächsischen Landtages auf Gleichbehandlung der Abgeordneten der Landtage und des Europaparlaments in dieser Novelle konnte berücksichtigt werden.Das vorliegende Artikelgesetz bringt auch eine Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes. Am 22. Dezember 1977 haben die Mitglieder dieses Hauses das Haushaltsstrukturgesetz, soweit es die Besoldung der Zeitsoldaten betrifft, vorläufig auf die Dauer von zwei Jahren korrigiert. Nach dieser Entscheidung wurde in den letzten zwei Jahren den Soldaten auf Zeit, die sich für mindestens zwei Jahre verpflichtet haben, die Besoldung wieder vom ersten Tag des Verpflichtungsmonats an gezahlt. Die Verpflichtungsbereitschaft der besonders für das Heer wichtigen Soldaten darf nicht negativ beeinflußt werden. Deshalb ist die unbefristete Weitergeltung dieser für die letzten zwei Jahre wiedereingeführten Regelung unerläßlich.Die letzten Jahre waren geprägt durch die Anschaffung hochwertigen kampfwirksamen Geräts und von Waffen. Dieses Gesetz leitet eine Reihe weiterer Gesetze ein, die sich mit den Menschen in unseren Streitkräften befassen. Wir lösen damit gegenüber unseren Soldaten ein Versprechen ein, die sozialen Probleme unserer Soldaten, und zwar sowohl der Wehrpflichtigen als auch der Zeit- und Berufssoldaten, aller Waffengattungen im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten zügig zu lösen.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu.
Als nächster Redner hat der Abgeordnete Jung das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes berührt, wie meine Kollegen schon gesagt haben, eine Reihe von Gesetzen. Es ist also ein Artikelgesetz. Ich meine, diese Beratung ist mehr eine Formsache, denn die einzelnen Punkte des Gesetzentwurfs sind ja bereits ohne Kontroverse im Verteidigungsausschuß und auch in den drei Fraktionen beraten worden. Das Wesentliche ist von meinen Vorrednern bereits gesagt; es genügt daher, wenn ich noch einmal kurz unseren Standpunkt darlege.Wir Freien Demokraten hätten der Festsetzung einer besonderen Altersgrenze für Kampfbeobachter in strahlgetriebenen Kampfflugzeugen wohl nicht zugestimmt — wenn wir auf der anderen Seite auch einsehen, daß die physische und psychische Belastung für einen Kampfbeobachter nicht geringer ist als die des Strahlflugzeugführers, für den die besondere Altersgrenze von ebenfalls 40 Jahren bereits festgelegt ist —, wenn es zu dieser Lösung eine andere, kostengünstigere Alternative gegeben hätte. Aber die gibt es eben nicht. Wir haben uns — wie die anderen Fraktionen — auch davon überzeugen lassen, daß ein Verbleiben im Dienst nur für etwa 30 % der betroffenen Personen möglich ist und daß eine Weiterverwendung von Hauptleuten und Majoren im Alter von 41 Jahren über den genannten Prozentsatz hinaus die bereits bestehenden und sattsam bekannten Strukturprobleme im Personalbereich der Bundeswehr, allgemein bekannt als Beförderungs- und Verwendungsstau, noch verstärkt hätte und letzten Endes sehr viel größere Kosten verursachen würde als die Lösung, der wir alle zugestimmt haben. Auch eine Zusatzausbildung und das Ablegen einer Prüfung für den gehobenen Dienst unter gleichen Bedingungen wie für 20jährige ist für Männer im Alter von 41 Jahren nicht mehr zumutbar. Im übrigen ist das Verhältnis von Ausbildungskosten und Restverwendungszeit ungünstig und daher dem Steuerzahler nicht zumutbar.Schließlich scheidet auch die Möglichkeit aus, Zeitsoldaten für die Verwendung eines Kampfbeobachters zu verpflichten, zumal die Bewerberzahlen schon in den letzten Jahren bei günstigeren Bedingungen rückläufig waren. Sicher spielt hierbei auch die Tatsache eine Rolle, daß an den einzelnen Bewerber hohe Anforderungen gestellt werden. Ich darf daran erinnern, daß seit Bestehen des BO 40, seit zehn Jahren also, 160 Flugzeugabstürze mit tödlichem Ausgang zu verzeichnen waren. Diese Zahl hat uns davon Abstand nehmen lassen, die Anforderungen herabzusetzen.Abschließend darf ich auf parallele Regelungen innerhalb der NATO und in anderen Staaten hinweisen, die der nunmehr zu beschließenden entsprechen.Zur Heranziehung von Abgeordneten zu Wehrübungen möchte ich nur eine kurze Bemerkung machen. Wir halten es für richtig — die Kollegen haben bereits darauf hingewisen —, daß das nicht nur für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gilt, die Berufsoffiziere und Zeitsoldaten sind, sondern daß diese Regelung natürlich auf die Mitglieder der Landtage und des Europäischen Parlaments ausgeweitet werden muß. Die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Unterscheidung zwischen Ferienzeit und Sitzungszeit konnte bei unserem Parlamentsverständnis natürlich auch nicht hingenommen werden.Ich möchte Herrn de Terra widersprechen, der meint, die Regelung sei wegen der Beförderungspraxis unbefriedigend. Ich glaube, es ist nicht nötig, in der bisherigen Weise zu verfahren, wonach Berufs- und Zeitsoldaten, die ein Mandat haben und auf Antrag eine Wehrübung leisten, während der Zeit der Wehrübung befördert werden können; denn wenn sie ihre Tätigkeit als Abgeordnete später nicht mehr ausüben und in die Bundeswehr zurückgehen, müßten sie entsprechend dem inzwischen erworbenen Reservedienstgrad befördert werden. Das wäre im Hinblick auf die Kollegen, die aus dem Berufsbeamtentum kommen und denen diese Möglichkeit der zwischenzeitlichen Beförderung ja auch nicht gegeben ist, einfach ungerecht. Insofern ist
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16430 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Jungdiese Regelung, wenn ich auf die bisherige Praxis zurückblicke, sicher von uns allen vertretbar.Die Notwendigkeit der weiteren Verpflichtung von Sanitätsoffizieren auf Zeit auf 20 Jahre ist offensichtlich; denn diesen Soldaten wird eine Zusatzausbildung als Facharzt gewährt. Diesem Vorschlag stimmen wir daher zu. Diese Regelung sind wir nicht zuletzt auch dem Steuerzahler schuldig.Die Freien Demokraten stimmen ebenfalls der Besoldung der Z-2-Soldaten zu; denn in den Bereichen der SaZ 2 sind qualifizierte Kräfte notwendig. Sie sind jedoch ohne Motivierung, d. h. ohne entsprechende Besoldung nicht zu bekommen, wie die Praxis in der Vergangenheit gezeigt hat.Die Argumente für diese Gesetzgebung liegen auf der Hand. Sie sind lange genug öffentlich erörtert worden. Sie bedürfen keiner Ergänzung mehr, zumal sie von meinem Vorredner bereits in ausreichender Weise dargelegt worden. sind.Die Freien Demokraten stimmen dem Gesetzentwurf zu.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe Art. 1 bis 7, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke schön. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Das Gesetz ist in zweiter Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein. Ich frage: Wird das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Danke sehr. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und des Gesetzes über die Pfandbriefe und verwandten Schuldverschreibungen öffentlich-rechtlicher Kreditanstalten— Drucksache 8/3264 —Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 8/3715 —Berichterstatter:Abgeordneter Rapp
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. — Das Wort wird auch anderweitig nicht gewünscht.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke schön. Wer wünscht, dagegen zu stimmen? — Wer enthält sich der Stimme? — Niemand. Das Gesetz ist in zweiter Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein. — Das Wort wird nicht gewünscht.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, möge sich erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einmütig angenommen worden.Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zu den beiden Gedenkstättenabkommen vom 5. März 1956— Drucksache 8/3359 —Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
— Drucksache 8/3721 —Berichterstatter: Abgeordneter Amrehn
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Der Berichterstatter wünscht nicht das Wort. — Das Wort wird auch anderweitig nicht gewünscht.Wir kommen dann zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Niemand. Das Gesetz ist in zweiter Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein. Wird das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht gewünscht.Wir kommen dann zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, möge sich erheben. — Ich danke sehr. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Das Gesetz ist in dritter Lesung einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 4. April 1979 zwischen der Bundesrepublik
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Vizepräsident LeberDeutschland und der Föderativen Republik Brasilien über den Seeverkehr— Drucksache 8/3553 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
— Drucksache 8/3724 —Berichterstatter: Abgeordneter Dreyer
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Der Berichterstatter wünscht das Wort nicht. — Das Wort wird auch anderweitig nicht gewünscht.Wir kommen zur Einzelberatung in zweiter Beratung und zur Schlußabstimmung. Ich rufe Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Die Abstimmung hierüber wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, möge sich erheben. — Ich danke sehr. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme?— Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Protokoll vom 30. November 1978 zu dem Abkommen vom 11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksache 8/3223 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 8/3737 —Berichterstatter: Abgeordneter Löfflerb) Beschlußempfehlung und Bericht desFinanzausschusses
— Drucksache 8/3736 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Kreile
Wünscht einer der Herren Berichterstatter das Wort? — Ich sehe, das ist nicht der Fall. — Das Wort wird auch anderweitig nicht gewünscht.Wir kommen dann zur Einzelberatung in zweiter Lesung und zur Schlußabstimmung. Ich rufe Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Die Abstimmung hierüber wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, möge sich erheben. — Ich danke sehr. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme?— Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Protokoll vom 22. September 1978 zu dem Abkommen vom 17. April 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Schweden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener anderer Steuern— Drucksache 8/3225 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 8/3735 —Berichterstatter: Abgeordneter Löfflerb) Beschlußempfehlung und Bericht desFinanzausschusses
— Drucksache 8/3734 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Kreile
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. — Das Wort wird auch anderweitig nicht gewünscht.Wir kommen dann zur Einzelberatung in zweiter Beratung und zur Schlußabstimmung. Ich rufe Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Die Abstimmung hierüber wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer demnach dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Danke sehr. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Langguth, Franke, Frau Dr. Wex, Frau Verhülsdonk; Broll, Dr. George, Spranger, Dr. Laufs, Frau Schleicher, Burger, Dr. Miltner, Dr. Stark , Gerster (Mainz), Neuhaus, Berger (Herne), Regenspurger, Krey, Volmer, Biechele, Dr. Hoffacker, Dr. Kunz (Weiden), Dr. Meyer zu Bentrup, Höpfinger, Niegel und Genossen und der Fraktion der CDU/CSUGrundprobleme der Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland— Drucksachen 8/3069, 8/3299 —Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Langguth.
Herr Präsident! Die Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu den Grundproblemen der Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland war not-
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Dr. Langguthwendig, um die Regierung dazu zu zwingen, endlich zu diesem für unsere Zukunft wichtigen Problem Stellung zu nehmen. Hier wie sonst ist es Kennzeichen der Regierungspolitik und des Bundeskanzlers, zu zentralen Fragen entweder entschlossen zu schweigen oder öffentlich nur dann zu reagieren, wenn es sich — wie z. B. bei einer solchen Anfrage — gar nicht vermeiden läßt.
Worum geht es uns mit dieser Großen Anfrage? Wir wollen auf die Situation der Familien mit Kindern aufmerksam machen. Diese hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, und zwar nicht nur finanziell. Kinderreichtum bedeutet sehr häufig sozialen Abstieg. Dies ist unsozial.Wir wollen die Regierung und die deutsche Öffentlichkeit auf den dramatischen Geburtenrückgang und seine Folgen hinweisen. Wenn jetzt erstmals seit sechs Jahren die Wohnbevölkerung leicht zunahm, geschah dies auf Grund der ansteigenden Zuwanderung aus dem Ausland.Wir wollen eine politische Debatte darüber auslösen, ob wir in unserer Gesellschaft eigentlich genug für unsere Zukunft — konkret: für unsere Kinder und Kindeskinder — tun, denn auch dies ist zu einem Zeichen der SPD und der FDP geworden: Sie leben vom Kapital der Vergangenheit und auf Kosten der Zukunft. Sie betreiben eine eindimensionale Politik, die nur auf die Interessen der Gegenwart fixiert ist.Was sind die Fakten? Seit Ende der 60er Jahre sieht sich die Bundesrepublik Deutschland mit einem dramatischen Geburtenrückgang konfrontiert. Wurden im Jahre 1965 noch 1 044 000 Lebendgeborene registriert, so waren es 1978 nur noch etwa die Hälfte, nämlich 576 000, davon etwa 75 000 Ausländerkinder. 1978 überstieg die Zahl der Sterbefälle jene der Geburten um etwa 150 000. Die deutsche Bevölkerung hat seit 1972 insgesamt um etwa 1 Million abgenommen.Das gegenwärtige generative Verhalten auch künftig vorausgesetzt, geht die deutsche Bevölkerung bis zum Jahre 2000 auf 52 Millionen und bis zum Jahre 2030 auf 39 Millionen zurück. Bei einem weiteren Absinken der Geburtenhäufigkeit auf das heutige Niveau einer Reihe von Großstädten ist für das Jahr 2030 sogar mit nicht sehr viel mehr als 30 Millionen Menschen zu rechnen.
Gegenwärtig haben wir rund 57 Millionen deutsche Einwohner und ca. 4 Millionen ausländische Einwohner.Manche Verharmloser argumentieren, die Situation sei nicht beunruhigend, denn im August 1939 hätten wir auf dem heutigen Gebiet der Bundesrepublik die gleiche Bevölkerungszahl gehabt. Eine solche Aussage ist eine bewußte Irreführung, weil es nicht auf die absolute Einwohnerzahl als solche, sondern auf die Struktur einer Bevölkerung, auf den Bevölkerungsaufbau, ankommt. Die Bevölkerungsentwicklung hat zur Zeit sehr stark abnehmendeTendenz mit all den negativen Begleiterscheinungen, z. B. einer langfristigen Überalterung einer Gesellschaft. Hinzu kommt, daß wir im Jahre 1950 etwa 8 Millionen Vertriebene hatten und zum Zeitpunkt des Jahres 1961 3,1 Millionen DDR-Flüchtlinge.Meine Damen und Herren, von dem Phänomen des Geburtenrückganges ist die Bundedsrepublik Deutschland von allen Industrienationen am stärkstèn betroffen. Die Bundesregierung schweigt sich aber aus, auch in der Antwort auf unsere Große Anfrage, warum dies so ist. Ich würde mich freuen, wenn der Herr Bundesminister des Innern nachher auch dazu Stellung nehmen würde.
Die Ursachen des Bevölkerungsrückganges sind vielschichtig und nicht nur mit einem einzigen Argument belegbar. Es ist ein ganzes Bündel von Argumenten, von individuellen und gesellschaftlichen Einflüssen. Ich will hier nur einige nennen: Kinder stellen heute nicht mehr wie in früheren Generationen eine Form der direkten Alterssicherung dar. An die Stelle der Alterssicherung durch die Kinder ist unterdessen der Generationenvertrag getreten. Kinder bedeuten häufig für die Eltern Konsumverzicht in einer konsumorientierten Gesellschaft, auch Einengung der Bewegungsfreiheit der Eltern. Die Rolle der Frau hat sich geändert, erfreulicherweise in der Regel auch der Bildungsstand. Hieraus resultiert auch künftig ein Rollenkonflikt der Frau zwischen Familie und Beruf. Die Wohnverhältnisse erlauben nach heutigen Lebensansprüchen häufig keine größere Kinderzahl. Diese und andere Gründe wären hier zu nennen. Evangelische und katholische Kirche fordern in der Bundesrepublik Deutschland schon seit langem eine langfristige Konzeption zur Bevölkerungsentwicklung.Die Bundesregierung tabuisiert dieses Thema jedoch, obwohl beispielsweise auf einer UN- Weltbevölkerungskonferenz im Jahre 1974 in Bukarest den Regierungen ausdrücklich empfohlen wurde, bevölkerungspolitische Zielsetzungen zu entwickeln und Maßnahmen zu deren Durchsetzung zu ergreifen. Ähnliche Empfehlungen sprach auch der Europarat aus. Auch zahlreiche Regierungen in Europa haben sich dieses Themas angenommen, nicht zuletzt Frankreich, von woher eine sehr harsche Kritik des Staatspräsidenten an der Politik der Bundesregierung geäußert wurde.Meine Damen und Herren, die Diskussion um die Bevölkerungsentwicklung ist in der Bundesrepublik mit Vorurteilen belastet. Dieses Thema ist von den Nationalsozialisten mißbraucht worden, die Bevölkerungspolitik unter rassistischen Zielsetzungen betrieben haben. Im Ausland ist die Diskussion über diese Frage anders gelagert und selbstverständlich. Auch deshalb stünde es dieser Debatte gut an, wenn in der nachfolgenden Diskussion die Vertreter der Regierungsparteien nicht der Opposition unterstellten, sie wollte eine Politik des Mutterkreuzes einführen. Bezeichnend für die Politik des Bundeskanzlers in diesem Zusammenhang sind die Aussagen seines Chefideologen in Fragen der Bevölkerungs-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16433
Dr. Langguthentwicklung, des Leiters der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt, der sich darin gefällt, ständig Diffamierungen gegen die Opposition herauszuschleudern und ständig von „völkischem Denken" und anderem zu sprechen.Meine Damen und Herren, es ist einfach unredlich, der Opposition zu unterschieben, sie wolle die Freiheit und die freie Entfaltung der Ehepartner beeinflussen und regiere in die Ehebetten hinein.
Wir wollen jedem Ehepaar die freie Entscheidung über die Kinderzahl ermöglichen. Wir wollen, daß die Politik solche Rahmenbedingungen setzt, daß der Wunsch nach mehr Kindern nicht länger behindert wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wann haben Sie ein einziges Mal in einer öffentlichen Rede auf die Probleme der Bevölkerungsentwicklung Bezug genommen und darüber gesprochen?
Ich stelle Ihnen diese Frage auch als dem Minister, der für das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden zuständig ist. In diesem Bundesinstitut wird eine gute Arbeit geleistet. Es ist aber rein quantitativ von der Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter her nach unserer Auffassung gar nicht in der Lage, seiner wichtigen Aufgabe voll nachkommen zu können. Aus diesem Grunde haben wir einen Entschließungsantrag eingebracht, mit dem wir die Regierung auffordern, geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Bevölkerungswissenschaft und die Bevölkerungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland auszubauen, insbesondere bezüglich des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Darüber hinaus sind wir der Auffassung, daß die bisherigen Modellrechnungen unter Zugrundelegung der jüngsten Daten detailliert fortgeschrieben werden müssen.Aber, wenn Sie, Herr Bundesminister des Innern,
in Ihrem eigenen Bericht, in Ihrer Antwort auf die Große Anfrage erhebliche Forschungsdefizite in Sachen Bevölkerungsforschung zugegeben haben, dann ist diese Anwort doch eigentlich eine massive Selbstkritik an Ihrem Hause, weil Sie das Forschungsinstitut in Wiesbaden nicht in die Lage versetzt haben, diese Aufgabe zu leisten.
Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal, um alle Mißverständnisse auszuschließen: Oberste Zielsetzung jedes staatlichen Handelns muß die Erhaltung der Entscheidungsfreiheit des einzelnen und der Ehepartner sein, auch die Freiheit zu einer Entscheidung zur Kinderlosigkeit. Es ist aber legitim, daß der Staat bevölkerungspolitische Zielsetzungen entwickelt, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Realisierung des Wunsches nach Kin-dern erleichtert wird.Was ist die Antwort der Regierung auf diese drängenden Fragen? Sie verharmlost die Probleme, verweigert die politische Antwort auf unsere Fragen, redet sich mit den vorhin schon genannten Forschungsdefiziten heraus, konstruiert Scheinalternativen und arbeitet auch, wie vorhin aufgezeigt, mit Unterstellungen gegen die Opposition. Damit isoliert sich die Regierung nicht nur von der wissenschaftlichen und publizistischen Diskussion, sondern sie entfernt sich auch von der Bevölkerung, denn die Menschen denken ganz anders über den Geburtenrückgang und seine Folgen.Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach sehen mehr als zwei Drittel aller Befragten in dem Geburtenrückgang mehr Nachteile als Vorteile für die Zukunft unseres Landes.Meine Damen und Herren, ich greife einige Sätze aus der Antwort der Bundesregierung heraus. Ich zitiere:Familienpolitik hat für sie — die Bundesregierung —eine eigenständige Bedeutung.Mit dieser Aussage wird suggeriert, daß dies für die Opposition anders sei. Gleichzeitig wird der entscheidende Sachverhalt verschwiegen: Wenn sich die Situation der Familien verschlechtert, wenn sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können, dann hat dies Ursachen, die auch außerhalb der Familien liegen, und es hat Folgen nicht nur für die Familien, sondern auch für die ganze Gesellschaft.Es ist eine Tatsache, daß die meisten Eltern weniger Kinder haben, als sie sich selbst wünschen, und dies aus Gründen, die zum großen Teil auch politisch beeinflußbar sind. Angesichts dieser Tatsache wirkt die Auffassung der Regierung — so richtig diese Aussage auch ist — zynisch, wenn sie formuliert, daß die „Entscheidungsfreiheit der Eltern über Zahl der Kinder und den Zeitpunkt ihrer Geburt gewährleistet sein muß". Die Regierung sieht die „Pflicht des Staates" darin, den demographischen Entwicklungen durch flankierende Maßnahmen Rechnung zu tragen. Wer die Probleme so verharmlost, handelt kurzsichtig und verantwortungslos, denn jedermann weiß, daß beispielsweise die demographisch bedingten Rentenprobleme im Jahre 2030 eine Dimension haben werden, gegen die die heutigen harmlos wirken und bei denen flankierende Maßnahmen nicht mehr greifen. Doch die Regierung handelt nach der Devise: erst einmal gibt es mehr Parkplätze, und ob und wie wir später die Renten bezahlen, können wir uns dann immer noch überlegen.Die Regierung verweist darauf — ich zitiere —, „daß sich die auch in der vorliegenden Anfrage unterstellte Sicherheit und Eindeutigkeit der Erkennt-
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Dr. Langguthnisse über Ursachen und Folgen der demographischen Entwicklung bei näherer Analyse nicht bestätigt". In diesem Hinweis kann ich nur eine Ausrede für das Nichtstun erblicken. Das wirkt besonders unglaubwürdig bei einer Koalition, die vor zehn Jahren mit dem Anspruch angetreten ist, ihre Politik rationaler und langfristig zu begründen.Auf anderen Gebieten wie z. B. der Wirtschaftspolitik, wo wir über wesentlich geringe Prognosemöglichkeiten verfügen, üben die Regierung und vor allem die SPD keineswegs diese keusche Zurückhaltung. Vorausschauende Strukturpolitik, Investitionslenkung seien hier nur einmal als Beispiele genannt. Dort, wo es der SPD ideologisch paßt, hat sie diese Bedenken nicht.Bei den Folgen des Geburtenrückganges will sie aber auf weitere Forschungsergebnisse warten, obwohl die Kinder, die in 50 Jahren in die Rente gehen werden, heute schon geboren sind. Das heißt, auf demographischem Gebiete sind Prognosen zuverlässiger als sonst. Wir wissen, was geschieht, wenn nichts geschieht.In einigen Zeitungsinterviews verharmloste der Bundeskanzler die Probleme der Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik und warf in bewährter Manier der Union Katastrophen-Stimmungsmache vor.
Zwar kann nicht bestritten werden, daß der Geburtenrückgang kurzfristig einige materielle Vorteile bringt. Sinkende Ausgaben etwa für das Kindergeld, Kindergärten und das Bildungssystem können die öffentlichen Kassen — damit auch die Steuerzahler — zunächst entlasten. Diesen kurzfristigen Vorteilen stehen jedoch in langfristiger Perspektive schwere Nachteile und Probleme gegenüber. Ich will einige nennen.Erstes Beispiel ist die Sozialpolitik, wo sich aus dem Geburtenrückgang für die gesetzliche Rentenversicherung ernsthafte Probleme ergeben werden, weil deren Finanzierung im Umlageverfahren erfolgt. In Zukunft stehen immer weniger Beitragszahlern immer mehr Rentner gegenüber.
Untersuchungen haben ergeben, daß der sogenannte Rentenlastquotient ständig zunimmt und sich im Jahre 2030, wenn sich die heutige junge Generation im Pensionsalter befindet, eine erhebliche Belastung für die dann arbeitsfähige Generation ergibt. Kamen nach neueren Berechnungen im Jahre 1975 auf 100 deutsche Erwerbspersonen 41,6 Renten, so werden es im Jahre 2030 82,2 Renten sein. Im negativsten Falle werden wir — wie eine neuere Rechnung ausweist — im Jahre 2030 sogar die Situation haben, daß auf jeden Erwerbstätigen eine Rente kommt.Es ist eine Notwendigkeit, auf solche Fakten hinzuweisen, was Aufgabe einer vorausschauenden Analyse sein muß. Diese Analyse mit dem Slogan „Babys der Rente wegen" zu versehen, ist unredlich und ungehörig.
Zweitens. Auch für die Infrastruktur ergeben sich durch den Geburtenrückgang zwangsläufig Konsequenzen, die von ernst zu nehmenden Wissenschaftlern vorhergesagt werden. Es wird darauf hingewiesen, daß gerade die ländlich geprägten und peripher gelegenen Regionen von beträchtlichen Einwohnerrückgängen betroffen sein werden. Von daher steht schon mittelfristig eine Landflucht zu erwarten, weil bei Rückgang der Bevölkerungszahl ein Arbeitskräftemangel vor allem in den Ballungsgebieten eintreten wird, und zwar ab dem Jahre 1990, wenn die geburtenschwachen Jahrgänge ins Erwerbsleben eintreten.Ein Beispiel für die Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges gerade für den ländlichen Raum sei genannt: Schon kurzfristig bedroht der zu erwartende Rückgang des Schülerverkehrs im ländlichen Raum, der das Rückgrat der öffentlichen Verkehrsbedienung darstellt, die Aufrechterhaltung des öffentlichen Personennahverkehrs. Eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung wird also aller Voraussicht nach zu einer ernsthaften Verschlechterung der Erreichbarkeit vieler ländlicher Gemeinden führen.Drittens. Vorausschätzungen haben ergeben, daß bei Anhalten des Bevölkerungsrückganges der letzten zehn Jahre der Arbeitskräftebedarf künftig nur dann gedeckt werden kann, wenn noch viel mehr Ausländer als Arbeitnehmer in der Bundesrepublik eine Arbeitsstätte und damit sehr häufig eine dauernde Bleibe erhalten. Hieraus resultiert jedoch eine Fülle von Problemen, da nach unserer Auffassung — ich sage dies auch vor dem Hintergrund der Asylanten-Frage — die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland sein kann. Hier muß vor allem auf die Probleme verschiedenartiger Kulturen und Sprachen hingewiesen werden. Gerade in Großstädten ist der sogenannte Kreuzberg-Effekt bei weiter zunehmendem Geburtenrückgang die mittel- und langfristige Folge. Freiwerdende Wohnungen und Wohnbezirke werden von Ausländern, die neu zuwandern, in Anspruch genommen. Die Gefahr einer Ghetto-Bildung wird damit heraufbeschworen. Die Lücke auf dem Arbeitsmarkt wird also durch viele neu einflutende Ausländer gefüllt werden. Der jetzt voraussehbare Geburtenrückgang ist so stark, daß die sinkende Bevölkerungszahl auch dann nicht ausgeglichen werden kann, wenn jährlich 100 000 Ausländer neu in die Bundesrepublik zuziehen. Im Jahre 2030 werden nach einem Rechenmodell, das die Bundesregierung selbst veröffentlichte, möglicherweise rund 12 Millionen Ausländer bei einer deutschen Bevölkerungszahl von etwa 32 Millionen in der Bundesrepublik leben.Viertens. Ein weitaus ernsthafteres Problem sehe ich darin, daß die Bevölkerung „altert", d. h., daß der prozentuale Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung laufend abnimmt. Die Bundesregierung ist nicht bereit anzuerkennen, daß die eines Tages eintretende Überaltererung unserer Gesellschaft auch zu einer Verschärfung des Generationenkonfliktes führen kann.Fünftens. Der für mich und meine Fraktion wichtigste Aspekt sind jedoch die sozial-psychologi-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16435
Dr. Langguthschen Folgen des Bevölkerungsrückganges, die zu sozialen und emotionalen Defiziten bei vielen Einzelkindern und vielen kinderlosen Familien führen können, zu einem Verlust an Wärme, Hoffnung und Zukunft in einer mehr und mehr kinderlosen Gesellschaft. So wird z. B. in der „Zeit" durch Joachim Nawrocki auf die Sorge hingewiesen — ich zitiere —, „daß Einzelkinder Emotions- und Sozialisationsdefizite und letztlich Neurosen produzieren könnten. Ähnliches gilt auch für Kinder, deren beide Eltern voll erwerbstätig sind".In diesem Zusammenhang müssen nicht nur die absoluten Zahlen des Bevölkerungsrückganges, sondern auch die Tatsache bedacht werden, daß immer stärker die Tendenz zu Einkinderfamilien und zu kinderlosen Familien festzustellen ist. So hat in den Jahren von 1964 bis 1974 die Zahl der Erstkinder um 18%, die der Zweitkinder um 28%, die der Drittkinder um 47 % und die der vierten und weiteren Kinder um 65 % abgenommen.
Ich will sechstens auf den scheinbaren Zwiespalt zwischen einem schrumpfenden Volk hier und einer hohen Kinderzahl an anderen Stellen der Welt eingehen. Ein Vergleich mit Entwicklungsländern hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung ist abwegig. Wir können unsere Verantwortung der Dritten Welt gegenüber nur dann wahrnehmen, wenn wir eine wirtschaftspolitisch stabile Situation haben und auch hinsichtlich des Know-how weiterhin an der Spitze des Fortschritts stehen. Die Bevölkerungsabnahme kann aber auch hier zu schwerwiegenden Folgen führen.Was ist die Position der CDU/CSU? Der Geburtenrückgang, der bei uns dramatischer als in anderen Ländern ist, ist eines von vielen Zeichen dafür, daß die Familie bei uns nicht mehr jene Unterstützung erhält, die sie verdient. Damit meine ich keineswegs nur die finanzielle Seite, sondern auch die geringe öffentliche Anerkennung, wie sie im Reden und Handeln der Regierungsparteien zum Ausdruck kommt.
Welches ist der Unterschied zwischen SPD/FDP und CDU/CSU? Die Regierungsparteien weisen darauf hin, daß die Familie partiell funktionsunfähig sei oder, wie Peter Glotz jüngst im „Rheinischen Merkur", daß nur die bürgerliche Kleinfamilie bestimmte Leistungen erbringen könne. Unser Ziel ist es, jede Familie so zu unterstützen, daß sie aus sich heraus funktionsfähig ist. Was wir heute an den Familien sparen, werden wir mittel- und langfristig nicht nur finanziell, sondern auch menschlich teuer bezahlen müssen. Die ökonomischen und sozialen Folgen sind schlimm genug; aber vielleicht sind die psychologischen Folgen noch schlimmer. Wenn der Generationenvertrag seine demographische Grundlage verliert und in einen Generationenkonflikt umzuschlagen droht, ist dies mehr als nur ein ökonomisches oder sozialpolitisches Problem. Eine kinderlose ist eine seelisch arme Gesellschaft. In einer überalterten Gesellschaft wird sich der Konflikt zwischen den Generationen verschärfen, und die Jugend, der nun nicht mehr selbstverständlich die Zukunft gehört, möglicherweise radikalisieren oder resignieren.Eine solide Familienpolitik muß vor allem der veränderten Rolle der Frau Beachtung schenken. Wir wollen eine Politik, die den Frauen echte Wahlfreiheit schafft. Das bedeutet, daß ihnen auch der Übergang vom Beruf zur Familie oder umgekehrt erleichtert wird. Wichtig erscheint vor allem auch die Schaffung neuer Berufsfelder für Frauen. Wir wollen mehr Entfaltungschancen für die Frau. Sie hat unter doppelter oder gar unter dreifacher Belastung, im Beruf, als Hausfrau und Mutter, zu leiden, und sie findet zu wenig Anerkennung. Unsere Gesellschaft hat von den Frauen viel erwartet und ihnen viel aufgebürdet, aber zu wenig für sie getan. Die SPD hat diesen Mißstand aus ideologischen Gründen verschärft. Ausgehend von einem materialistischen Menschenbild, vertritt sie die Irrlehre, die Befreiung der Frau erfordert notwendigerweise ihre Eingliederung in den industriellen Arbeitsprozeß.
Das Ergebnis dieser Form von „Emanzipation" ist, daß der Frau erneut eine einseitige Rolle zugewiesen wird. Wir wollen die Diskriminierung der Hausfrauentätigkeit und der Kindererziehung beseitigen.
Deshalb anerkennen wir diese Aufgaben als Berufstätigkeit und werden sie schrittweise sozial absichern.Es ist auch notwendig, die Gleichberechtigung von Frau und Mann im Rentenrecht sicherzustellen. Ich plädiere für die rentensteigernde Anrechnung von Erziehungsjahren.Wir treten auch dafür ein, daß das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst erhöht wird.Gerade weil Kinder nicht nur Freude schenken, sondern von den Eltern auch manche Opfer verlangen, wollen wir Familien mit Kindern nicht links liegenlassen. Die meisten Eltern wünschen sich mehr Kinder, als sie haben. Eltern sind nach wie vor zu Opfern ihren Kindern zuliebe bereit. Aber es dürfen ihnen kiene unzumutbaren Opfer abverlangt werden; denn in einer anonymen, arbeitsteiligen Gesellschaft ist die Familie der Ort, wo sich der einzelne als Person entfalten kann, wo Vertrauen, Toleranz und Pflichterfüllung gelernt und gelebt werden können. Die Familie ist der wichtigste Schutz gegen die zunehmende Vermassung in der Industriegesellschaft und gegen die Kollektivierungstendenzen sozialistischer Ideologien.
Ich fasse zusammen. Es geht nicht darum, ein bestimmtes Bevölkerungswachstum, einen bestimmten Bestand der Bevölkerung als Selbstzweck anzustreben. Das wäre nicht vernünftig, nicht nötig und nicht möglich.
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16436 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Dr. LangguthEs geht um zweierlei.Erstens: Die Politik muß die Folgen des Geburtenrückgangs für die verschiedenen Bereiche erkennen und sich rechtzeitig darauf einstellen. Später ist es zu spät. Sonst werden die Systeme der sozialen Sicherung großen, irreparablen Schaden nehmen. Sich rechtzeitig darauf einzustellen, ist ein Gebot der politischen Klugheit.Zweitens. Die Politik muß kinder- und familienfreundlich sein und damit dazu beitragen, daß die Eltern ihren Kinderwunsch realisieren können. Dies erfordert eine freiheitliche und soziale Politik.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Brandt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Große Anfrage war schon ein recht herzig Ding. Die Begründung war eigentlich noch etwas merkwürdiger.Die Opposition will mit dieser Großen Anfrage wissen — das ist durchaus legitim —, wie sich die Bevölkerung entwickelt hat, wieviel Kinder geboren wurden — je Jahr, je Familie, je Ehe — und ähnliches mehr. Das ist alles interessant und in Ordnung.
Man kann das aus der Statistik herauslesen; überall kann man das lesen.
Nur ist das ja wohl nicht das Anliegen gewesen. Auch nach der Begründung wird ganz deutlich, daß es das unbezweifelbare Anliegen war, etwas, was in einer Entwicklung seit hundert Jahren liegt, was sich seit dieser Zeit in allen industriellen Staaten entwickelt hat,
der hier zehn Jahre regierenden sozialliberalen Koalition ans Bein zu binden, sonst nichts. Das ist der einzige Zweck der Übung gewesen.
Nur war das lange nicht gut genug, um uns davon zu überzeugen, meine Damen und Herren, daß dies alles richtig wäre.Im übrigen machen Sie sich keine Sorge! Wenn Sie meinen, Eltern mit Kindern würden hier links liegengelassen, dann sage ich: Wir sind der Meinung, sie sind links ganz gut aufgehoben.
Ich möchte die Antwort der Bundesregierung in einem Punkt zitieren:Die Bundesregierung beobachtet die Bevölkerungsentwicklung mit großer Aufmerksamkeit und ist sich der daraus folgenden Probleme und Möglichkeiten bewußt. Sie kann auf der Grundlage bisher vorliegender Untersuchungen weder einer einseitig negativen Beurteilung der Entwicklung selbst noch einer dramatischen Einschätzung ihrer Folgen zustimmen. Sie ist der Auffassung, daß die Entscheidungsfreiheit der Eltern über Zahl und Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder gewährleistet sein muß.Wir sagen dazu, die Bundesregierung hat recht, und unterstützen sie in diesem Bemühen.
Es gibt kein taugliches Mittel, die — wie es heißt — Nettoproduktionsrate zu beeinflussen. Zwischendurch, wenn Sie wissen wollen, was eine Nettoproduktionsrate ist: Bei der Berechnung der Nettoproduktionsrate geht man von der Fragestellung aus, ob die derzeit lebenden Frauen so viele Mädchen zur Welt bringen, daß diese bei den gegebenen Sterblichkeitsverhältnissen ihre Mütter in der nächsten Generation zahlenmäßig ersetzen können.
Das ist eine Nettoproduktionsrate.
Ich sehe kein taugliches Mittel, diese Nettoreproduktionsrate, wie es heißt — Entschuldigung! —, oder auch das generative Verhalten, mitunter auch regeneratives Verhalten genannt — damit wir uns gleich richtig verstehen —, der Menschen durch staatliche Maßnahmen, beispielsweise vielleicht sogar gegen den Willen dieser Menschen, zu beeinflussen. Das kann ja wohl nicht sein.Dazu muß ich sagen: Hier muß sich die Bundesregierung auch nicht entschuldigen, das Forschungsdefizit in den Fragen der Ursachen und Folgen des Verhältnisses der Menschen zueinander sei immer noch beachtlich. Ich hoffe — so kann ich für mein Teil nur hinzufügen —, daß bleibt so.
Wenn es in der Antwort weiter heißt, die Bundesregierung bemühe sich, seit Jahren bestehende Erkenntnislücken zu beseitigen, so kann ich nur anfügen: Hoffentlich gelingt es ihr nicht.Das ist ja das Merkwürdige. Da wollen nun ausgerechnet die, die im selben Atemzug mitunter die staatliche Planung und überhaupt die Planung als etwas ganz Schlimmes ansehen, ihre Planungsvorhaben just in diesen Bereich hineinbringen.
Das ist eine der Merkwürdigkeiten. Diejenigen, die so oft die Freiheit in Gefahr sehen, verlangen auch zu wissen, was im Jahr 2030 sei. Warum 2030, mag der Himmel wissen.
Die Oppsosition bekommt darauf von der Bundesregierung die lichtvolle Antwort: Für wesentlich längere Zeiträume als für etwa 10 bis 15 Jahre, beispielsweise für die nächsten 50 Jahre, seien echte Bevölkerungsvorausschätzungen nicht möglich.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16437
Brandt
Dies ergebe sich besonders daraus, daß diejenigen Personen, die in 20 bis 50 Jahren das Alter erreichten, in dem sie Eltern werden könnten, zum Zeitpunkt der Berechnung noch nicht geboren seien. Wie wahr! Für diesen Personenkreis bestehe dann eine doppelte Unsicherheit. Zum einen seien eben die Geburtsjahrgänge noch nicht bekannt, zum anderen wisse man auch noch nicht, welche Bestimmungsfaktoren des generativen Verhaltens dann für diese künftigen Generationen maßgebend sein würden und in welchen konkreten Kinderzahlen sie sich niederschlagen würden. Das ist eine wahrhaft umständliche Umschreibung der simplen Erkenntnis, daß wir nicht wissen und gegenwärtig auch nicht wissen können, was im Jahr 2030 sein wird.Im übrigen ist auch hier einer der Ausdrücke dabei, die ich etwas spitz anfasse: „generatives Verhalten". Da gibt es eine Definition. Als generatives Verhalten werden alle Handlungen und Unterlassungen eines Menschen bezeichnet, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Fortpflanzung stehen.
Das mit den Handlungen verstehe ich noch. Aber bei Gelegenheit muß mich einmal einer aufklären, was Unterlassungen sind, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Fortpflanzung stehen.
Vielleicht ist mir dabei etwas entgangen.
Jedenfalls halte ich es für eine Merkwürdigkeit, vielleicht sogar Unmöglichkeit, Bevölkerungszahlen für das Jahr 2030 zu schätzen, zu prognostizieren, vorauszusagen, die bei der deutschen Wohnbevölkerung dann angeblich bei 39 Millionen liegen, und daraus jetzt weitreichende Schlußfolgerungen zu ziehen.Und wenn es so wäre — was wir nicht genau wissen können —: Der Staat hätte die freie Entscheidung der Menschen, ob und wie viele Kinder sie haben wollen, hinzunehmen und sie zur Grundlage seiner Entscheidungen zu machen.
— Ich komme gleich darauf, Frau Dr. Wex; warum ich dies sage, wird gleich deutlich. — „Die Würde des Menschen ist unantastbar.' Dieser Satz unseres Grundgesetzes, der ja viele Ausdeutungen erfährt, gilt jedenfalls für den hier in Rede stehenden Zusammenhang auch. Sie ist und bleibt nach unserer Auffassung dem Staat vorgegeben. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Wir halten die Befürchtung, die Deutschen stürben aus, für unsinnig. Mit dem gleichen Recht könnte man das von vielen anderen Nationen sagen, die sich diese Sorgen zur Zeit nicht machen; denn die Entwicklungstendenzen sind überall gleich, zumindest sehr ähnlich.Das alles heißt nicht, daß es nicht eine Aufgabe wäre — damit greife ich das auf, was Herr Dr. Langguth gesagt hat —, eine der großen politischen Aufgaben wäre — auch Sie werden gleich merken, warum es gesagt wird —, eine aktive, fürsorgliche Politik für die Familie zu treiben. Dann können wir uns über die Einzelmaßnahmen streiten; das aber um der Familie willen, der ein eigener Wert zukommt. Familienpolitik darf aber nicht Mittel zum Zweck der Bevölkerungspolitik sein.
Die Antwort zeigt doch, daß wir uns mit den familienpolitischen Maßnahmen auch im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen können.Mir macht es ein bißchen Sorge — bei dem, was ich jetzt gehört habe —, daß wir kürzlich im Innenausschuß eine Diskussion gehabt haben, die mich hellhörig gemacht hat, eine Diskussion — in einem anderen Zusammenhang, nicht in diesem Zusammenhang —, in der von Kollegen von der CDU/CSU die fehlende Wertsetzung des Staates für die Familie beklagt worden ist. Wir haben uns dagegen gewehrt — ich glaube, mit Recht —, daß der Staat sich anmaßt, Wertsetzungen für die Familie vorzunehmen. Das ist deren Sache und niemandes anderen Sache. Der Staat hat dies zu akzeptieren.
— Nein, im Grundgesetz steht etwas anderes, Frau Dr. Wex. Im Grundgesetz steht, daß Ehe und Familie unter dem Schutz der staatlichen Ordnung stehen. Das ist etwas völlig anderes als eine Wertsetzung für die Familie.
Ein zweiter Gesichtspunkt noch: Wenn es um Kinder, um Kinderfreundlichkeit und Jugendfreundlichkeit geht, kann man sagen: Auch dies ist ein eigener Wert für sich. Darauf muß man hinweisen. Es gibt in unserer Gesellschaft sicherlich Kinderfeindlichkeit genug, die wir beklagen können. Aber diese schaffen wir mit keinem Gesetz aus der Welt. Wir können uns Baugesetze auf die Kinder-und Jugendfreundlichkeit hin angucken, wir können uns andere Gesetze daraufhin angucken. Aber wir können damit nicht das Bewußtsein in der Gesellschaft ändern, das für die Kinderfreundlichkeit und die Jugendfreundlichkeit notwendig ist. Das ist die Aufgabe jedes einzelnen.Was schließlich die Frauen betrifft, so weigere ich mich, anzunehmen, sie seien die Generatoren des generativen Verhaltens. Da ist doch mittlerweile in der Gesellschaft etwas passiert, da hat sich doch etwas verändert. Die Frau hat doch ihre Eigenständigkeit, ihre eigene Rolle auch gefunden. Das kann die der Mutter sein; dies ist eine unterstützenswerte, auch vom Staat unterstützenswerte Rolle. Sie wird ja auch unterstützt — oder nicht?
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16438 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Brandt
— Gut darüber kann man immer noch streiten: nicht genügend. Aber „nicht genug" ist keine Antwort zur Lösung von Problemen. Dann muß man auch andere Dinge noch in Betracht ziehen, z. B. die Möglichkeiten der Finanzierbarkeit.Nun, auch diese Rolle hat sich geändert und ist ein Wert für sich geworden. Sie, die Frau, will — so verstehe ich das — ernst genommen sein als Subjekt, und nicht ein Objekt für etwas anderes — sei es auch die Bevölkerungspolitik — sein.
— Dann wäre ich sehr dankbar, Herr Dr. Langguth, wenn wir dies nicht unter das Stichwort „Bevölkerungspolitik" setzten.
— Sie haben Ihren ersten Satz so eingeleitet, daß es hier um Bevölkerungspolitik gehe. Lesen Sie das nach! Ich habe es mir gut gemerkt.
Dabei mache ich auf folgendes aufmerksam. Damit wir hier nicht in eine falsche Frontstellung kommen, möchte ich es kurz definieren und auch sagen, warum dies alles von mir noch einmal aufgewiesen worden ist. Bevölkerungspolitik ist immer eine Politik, die beispielsweise Familienpolitik, Kinderpolitik, Frauenpolitik — von mir aus auch Männerpolitik — für andere Zwecke als eben für die Politik für die Familie, für die Kinder oder für die Frauen instrumentalisiert.
Diesen instrumentalen Charakter — sei es nun für die Sicherung der Rente, sei es für die militärische Sicherung, sei es in anderen Zusammenhängen, etwa für die Rassensicherung; Sie haben darauf hingewiesen, daß auch dieser Gesichtspunkt einmal eine Rolle gespielt hat; ich will das nicht weiter aufnehmen — hat Bevölkerungspolitik immer gehabt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden über dieses Thema hier noch mehr zu sprechen haben. Nur eines möchte ich zum Schluß noch sagen: Über Jahrzehnte hinweg konnte bei uns in Deutschland eine Angstpsychose erzeugt und politisch genutzt werden unter dem Schlagwort „Volk ohne Raum", das dann für eine bestimmte Politik herhalten mußte. Ersetzen Sie dies jetzt nicht durch eine andere und auch anders motivierte Angstpsychose unter dem Schlagwort „Raum ohne Volk",
denn diese könnte genauso verhängnisvoll werden. Jedenfalls wäre sie imstande, ebenfalls eine Fülle von Irrationalitäten hochzubringen, an denen uns nicht gelegen sein kann.
Das Wort. hat der Herr Abgeordnete Eimer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Sach- und Sprechregister weist aus, daß das Thema „Bevölkerungspolitik" in dieser Legislaturperiode in mehr als zehn Sitzungen angesprochen wurde. Ich meine, die Argumente sind weitgehend ausgetauscht. Dies hier ist im Grunde genommen eine Zusammenfassung längst bekannter Aussagen. Die Regierung braucht sich hier also deshalb nicht in Zugzwang bringen zu lassen. Ich habe ohnehin den Eindruck, daß diese Debatte nur deshalb inszeniert wurde, um hier wieder Wahlkampfargumente loszuwerden.
In der Begründung spricht die Opposition von dramatischem Geburtenrückgang und von schwerwiegenden Folgen. Unterschwellig wird die Angst erzeugt, die Deutschen stürben aus. Im Lande draußen wird es auch deutlich gesagt. Wenn man diese Fragen untersucht, dann muß man dies aber in mehrerlei Hinsicht tun. Erstens: Ist das Vorhergesagte wirklich so schlecht? Sind die Zahlen wirklich so schlecht? Zweitens: Wie zuverlässig sind diese Zahlen? Zum ersten Punkt muß ich das wiederholen, was ich bereits in der 199. Sitzung für die FDP gesagt habe: Selbst wenn man die vorgelegten Modellrechnungen als richtig anerkennen sollte und dabei die Modellrechnung mit der geringsten Bevölkerungszahl zugrunde legt, dann haben wir im Jahre 2000 mit 52 Millionen Deutschen immer noch mehr Deutsche, nämlich 11 Millionen mehr, als im Jahre 1933, als man uns einreden wollte, wir seien ein Volk ohne Raum.
Unter Zugrundelegung dieser pessimistischen Vorhersagen werden wir erst um das Jahr 2030 so wenige deutsche Bundesbürger auf dem Gebiet der Bundesrepublik haben wie 1933, und auch damals galten wir schon als zu dicht besiedelt. Im übrigen habe ich in meiner damaligen Rede darauf hingewiesen, Herr Kollege, daß es uns auch darum geht, daß die Bevölkerungspyramide bei der derzeitigen Entwicklung durcheinanderkommt. Wenn das Ihre Aussage gewesen wäre, dann hätten wir uns einigen können.Vorhersagen über die Bevölkerungsentwicklung kann man aber einigermaßen zuverlässig nur für 10 bis 15 Jahre machen.
— Und Sie werden doch zugeben, daß die Sterberaten die Bevölkerungsentwicklung nur zu einem Teil beeinflussen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16439
Eimer
Wenn man Modellrechnungen bis ins Jahr 2030 vornimmt, muß man sehen, daß diese Modellrechnungen so zuverlässig sind wie das Lesen der Zukunft aus dem Kaffeesatz; denn im Jahre 2030 werden die Kinder geboren, deren Großeltern heute entweder noch gar nicht geboren sind oder noch in den Windeln liegen.Die Belastungsquote kann aber einigermaßen zuverlässig vorausgesagt werden, d. h. die Zahl der 0-bis 15jährigen und über 65jährigen, die von hundert 15- bis 65jährigen ernährt werden müssen. Bei allen Modellrechnungen — das haben Sie unterschlagen — sinkt bis zum Jahre 2000 diese Quote von jetzt 58 mehr oder weniger deutlich ab. Die Belastung der Arbeitenden wird also nicht größer, sondern geringer. Auch bei der „Kaffeesatzleserei bis ins Jahr 2030 steigt sie nicht über die heutige Belastung. Es gibt ein einziges Modell, das eine Ausnahme macht. Das ist ausgerechnet das Modell, bei dem ein Bevölkerungswachstum vorhergesagt wird.Wo sind die Ursachen für die absinkende Geburtenentwicklung zu suchen? — Es gibt zunächt einmal eine längerfristige Entwicklung seit Beginn der Industrialisierung in allen Industrienationen. Es gibt weiter Ursachen in der Bevölkerungsstruktur, wie sie heute besteht. Ich darf daran erinnern, daß in den Jahren 1942 bis 1945 besonders wenige Kinder geboren worden sind. Als diese Personengruppe in das gebärfähige Alter kam, begann auch prompt die Geburtenzahl zu sinken. Nicht geborene Elternkönnen nun einmal auch keine Kinder gebären.
Die Geburtenzahl stieg bis zum Jahre 1964, und erst dann sank sie wieder ab. 1967 hatten wir erstmals weniger als eine Million neugeborene Kinder, und jeder weiß, wer damals Bundeskanzler war. Wir sind der Meinung, daß man derartige Vorwürfe der Regierung nicht anlasten kann. Wenn sich Rahmenbedingungen verändert, verschlechtert haben, dann hat diese Verschlechterung schon damals begonnen.
Es gibt aber auch noch eine kurzfristige Änderung des generativen Verhaltens, das zu einer geringeren Geburtenrate führt. Frauen haben heute eine längere Ausbildung. Sie wollen von dieser längeren und auch besseren Ausbildung Gebrauch machen. Sie entscheiden sich heute sehr oft erst später dazu, ein Kind zu bekommen. Wenn Sie sich in Ihrem eigenen Bekanntenkreis umschauen, werden Sie feststellen, wie viele Frauen heute erst mit 30 Jahren ihr erstes Kind bekommen. Sie werden weiter feststellen, daß die Ursache des Geburtenrückgangs zu ungefähr 30 % in dieser Entwicklung liegt.Es steht aber für mich außer Zweifel, daß auch die Rahmenbedingungen der Familien auf die Entwicklung der Geburtenzahlen einen wichtigen Einfluß haben. Der Bund hat aber auf sehr wichtige Rahmenbedingungen keinen oder nur einen geringen Einfluß. Ich nenne hier nur die Kultushoheit der Länder, die Schulpolitik, die Kommunalpolitik. Ich habe noch nicht feststellen können, daß in den Bundesländern, die von der CDU/CSU regiert werden, die Geburtenentwicklung anders verläuft als im übrigen Bundesgebiet.Ich will an einem Beispiel weiter belegen, daß die Politik der CDU/CSU, was die Rahmenbedingungen betrifft, kein gutes Vorbild gibt. Fragt man junge Eheleute nach der gewünschten Kinderzahl, so wollen diese meist mehrere Kinder. Die Zahl der Einkinderfamilien bestätigt den Kinderwunsch. Aber die zweiten und dritten Kinder lassen auf sich warten. Junge Paare entdecken erschrocken die materielle Belastung und die Einengung der persönlichen Freiheit. Waren vorher zwei Einkommen vorhanden, die für zwei Personen ausreichten, ist es jetzt nur noch ein Einkommen für drei Personen. Pro Person sinkt das Einkommen also um ca. 60 % ab. Der Rückgang beim zweiten Kind ist dagegen nicht so gravierend.Diese erschreckende Erkenntnis wird von den Wissenschaftlern im allgemeinen als ErstkinderSchock bezeichnet. Er kann gemildert werden, wenn man vor allem das erste Kind fördert. Deswegen legen wir Freien Demokraten darauf Wert, daß in Zukunft bei der Erhöhung des Kindergeldes in erster Linie das Kindergeld für das erste Kind berücksichtigt wird. Mehr-Kinder-Familien erleiden durch diese Berücksichtigung keinen Nachteil. Aber durch die spezielle Förderung des ersten Kindes, durch die Erhöhung des Kindergeldes für das erste Kind wird gerade der Erstkinder-Schock entscheidend gemildert.
— Das ist ganz klar. Ich glaube, Sie haben nicht zugehört. Gerade bei der Geburt des ersten Kindes tritt der Erstkinder-Schock ein.
Wir können diesen Erstkinder-Schock nur dann mildern, wenn wir dafür sorgen, daß schon für das erste Kind genügend Kindergeld geleistet wird.Ich will aber noch ein zweites Beispiel bringen, das zeigt, wie diese Koalition Rahmenbedingungen entscheidend verbessern wollte. Wir haben vor kurzem das Wohnungsbauänderungsgesetz verabschiedet. Folgender Fall möge zur Veranschaulichung dienen. Ein Ehepaar will ein Haus bauen und will nach dem Wohnungsbauänderungsgesetz ein Regionaldarlehen beanspruchen. Dabei gelten folgende Einkommensgrenzen: für den Haushaltsvorstand 21 600 DM, für den Ehepartner 10 300 DM und für jede weitere Person, also im allgemeinen für Kinder, 6 300 DM. Will dieses Ehepaar nun ein Elternteil, also Oma oder Opa, in das Haus aufnehmen, so fällt es aus der Förderung heraus, wenn dieser Elternteil eine Rente hat, die höher ist als 6 300 DM im Jahr, also 525 DM im Monat.Meine Fraktion hatte nun vorgeschlagen, bei der Aufnahme eines Elternteils nicht den Freibetrag für Kinder von 6 300 DM, sondern den Freibetrag für
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16440 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Eimer
Ehepartner in Höhe von 10 300 DM zu gewähren. Das bringt für alle Vorteile. Das bringt erstens Vorteile für die Erziehung der Kinder. Das bringt zweitens mehr Freiraum für Eltern, vor allem für die Frauen, die nicht immer nur an das Haus gefesselt sind. Drittens ist es humaner, weil die alten Menschen nicht mehr in Heime abgeschoben werden müssen. Viertens ist es für die Gesellschaft, vor allem aber auch für die alten Menschen billiger.Die Koalition hat den FDP-Vorschlag auf bessere Förderung der Familien übernommen und im Rahmen des Wohnungsbauänderungsgesetzes im Bundestag verabschiedet. Die CDU/CSU hat diese familienfreundliche Regelung über Bundesrat und über Vermittlungsausschuß zu Fall gebracht. Es gilt also das alte Verfahren, das die Generationen separiert und die Rahmenbedingungen für Familien, Frauen und damit für Kinder nicht verbessert. Das ist eben der Unterschied zwischen den Reden landauf, landab und den Taten der Opposition in der praktischen Politik.
In der Debatte zum letzten Familienbericht bin ich auf die allgemeinen Rahmenbedingungen für Kinder eingegangen. Ich glaube, ich brauche das nicht zu wiederholen. Die Rahmenbedingungen werden aber auch dadurch bestimmt, wie Familienpolitik in der Auseinandersetzung zwischen den Parteien betrieben wird: ob im sachlichen Ringen um bessere Lösungen, ob als Vehikel für den Wahlkampf, ob Angst und Panik erzeugt werden. Davon hängt die Grundstimmung für oder gegen die Familie ab, davon hängt es ab, ob Angst oder Sicherheit entstehen. Gerade vor diesem Hintergrund möchte ich die Opposition fragen, ob es nicht an der Zeit wäre, ihr eigenes Verhalten im Umgang mit dem politisch Andersdenkenden gerade in der Familienpolitik zu überdenken.
Wenn es uns um Rahmenbedingungen für Familien geht, die besser werden müssen, dann dürfen wir uns nicht verstecken, wenn in der Öfentlichkeit Kinderfeindlichkeit herrscht. Wir müssen uns vielmehr auch dann äußern, wenn tins das von denen, die Kinder vielleicht als lästig empfinden, böse Briefe einbringen sollte. Ich habe noch nicht festgestellt, daß die Opposition diesen Mut aufgebracht und von diesem Pult aus speziell solche Themen angesprochen hätte. Es ist weniger risikoreich, den politischen Gegener anzugreifen. Das haben Sie bisher ja auch in ausreichendem Maße getan. Wir müssen allen klarmachen, daß bei aller Belastung auch noch gilt, daß Kinder ein Stück Lebensqualität sind.
Das Wort hat der Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir haben Anlaß zu einer sachlichen Debatte; denn das Problem, mit dem wir uns hier auseinandersetzen, ist komplex und schwierig genug. Sie,Herr Langguth, haben sich mit dieser Frage lange genug befaßt, jedenfalls solange, daß Sie hier eigentlich nicht guten Gewissens den Vorwurf erheben können, die Bundesregierung habe das Problem vernachlässigt. Das hat sie auf keinen Fall getan. Eine Fülle von Aktivitäten der letzten Jahre weisen dies aus.
Ich halte auch überhaupt nichts davon, Herr Langguth, daß Sie den Versuch unternommen haben, die Situation zu dramatisieren. Ich bin dagegen, sie zu verharmlosen. Wir müssen uns mit der Bevölkerungsentwicklung auseinandersetzen. Das tun wir auch ohne Ihre Anstöße, Herr Langguth. Das müssen Sie uns zugestehen. Herr Genscher hat 1973 dieses Institut, von dem Sie sprachen, von sich aus gegründet, um diese Entwicklung zu erforschen.Wir haben sehr früh — und zwar 1974 — einen Kreis von Politikern und Wissenschaftlern zusammengeführt, den sogenannten Bad-Sodener-Kreis, auf dem jetzt unsere Analysen fußen, der die Vorarbeiten geleistet hat, die uns überhaupt zu einer so fundierten Debatte führen. Sie haben ja auch als Opposition an diesen Vorarbeiten partizipiert.Sie haben ganz eindeutig, Herr Langguth, die Analyse hier nicht zu Ende geführt. Ich werde jetzt auf einige Punkte eingehen. Sie haben die negativen Folgen kraß überzeichnet. Sie haben die positiven Folgen, die es ja auch gibt, überhaupt nicht genannt. Die Tatsache, daß es weniger Menschen gibt, hat ja auch positive Folgen. Ich will gar nicht sagen, daß ich das will, aber Sie müssen doch objektiv würdigen, daß weniger Menschen z. B. in den Schulen auch die positive Folge ist. Das haben Sie überhaupt nicht genannt. Das hätte aber in eine redliche Situationsanalyse hineingehört.Sie haben leider, Herr Langguth, nach dieser dramatischen Situationsschilderung nicht gesagt, was Sie eigentlich tun wollen; jedenfalls haben Sie es nur angedeutet. Das muß ich aber von Ihnen verlangen, wenn Sie zu einer solchen Dramatisierung kommen. Ich beurteile die Situation sehr viel nüchterner und sehr viel ruhiger. Ich bin Herrn Kollegen Brandt sehr dankbar, daß er ein beruhigendes Element in die Debatte hineingebracht hat.
Herr Kollege Langguth, ich habe soeben schon gesagt, daß wir eine fülle von Maßnahmen ergriffen haben, um Erkenntnisse über die Bestimmungsgründe und die Auswirkungen der demographischen Entwicklung zu bekommen. Sie wissen, daß ich im Herbst 1978 dem Bundeskabinett einen Zwischenbericht über die Bevölkerungsentwicklung vorgelegt habe.
— Diese Frage ist berechtigt. Ende April wird die Bundesregierung auf der Grundlage einer Sachverständigenanhörung vom November des letzten Jahres eine umfassende Analyse der Situation vorlegen. Über 20 Sachverständige des In- und Auslands sind
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16441
Bundesminister Baumim November auf meine Einladung hin zusammengekommen. Das Wortprotokoll steht zur Verfügung. Sie können sich daraus vergewissern, Herr Kollege Langguth, daß wir keineswegs Schlußlichter bei der Bewertung eines Phänomens sind, das nicht auf unser Land beschränkt ist, sondern daß unser Erkenntnisstand internationales Niveau hat. Zu Vorwürfen gegenüber der Bundesregierung besteht also überhaupt kein Anlaß.Bis in die jüngste Zeit konnte man trotz eines sich schon seit einem Jahrhundert abzeichnenden Geburtenrückgangs von einer insgesamt noch wachsenden Bevölkerungszahl ausgehen. Das lag anfangs an dem Rückgang der Sterblichkeit und einer günstigen Altersstruktur sowie an einem Übermaß an Zuzügen in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Fortzügen vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.Als Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre vorübergehend zusätzlich eine relativ hohe Geburtenhäufigkeit auftrat, wurde nach offiziellen Schätzungen für den Zeitpunkt, in dem wir uns heute befinden, noch eine starke Bevölkerungszunahme geschätzt. Das heißt, vor kurzer Zeit nahm man noch an, daß wir im Jahre 1980 eine erhebliche Bevölkerungszunahme hätten.In einem für die Demographie außerordentlich kurzen Zeitraum hat sich die Entwicklung verändert. Auf Grund einer seinerzeit auch für die Bevölkerungswissenschaftler unerwarteten Verstärkung des Geburtenrückgangs sinkt, wie wir alle wissen, in der Bundesrepublik Deutschland die Zahl der Deutschen seit Anfang der 70er Jahre. Nicht Bevölkerungswachstum — wie noch vor etwa einem Jahrzehnt vorausgesagt —, sondern Bevölkerungsrückgang ist heute das Thema.Erste Reaktion auf diese Entwicklung muß es sein, Erkenntnisse über ihre Ursachen zu gewinnen. Obwohl sich das Wissen um demographische Zusammenhänge in den letzten Jahren durch eine Reihe von Untersuchungen, an denen auch das Institut, das Sie genannt haben, das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, beteiligt war, verbreitert hat, gibt es in der Tat — dies haben wir in der Antwort zum Ausdruck gebracht — ein erhebliches Erkenntnisdefizit, und ich füge im Sinne des Kollegen Brandt hinzu: Wir werden dieses Erkenntnisdefizit überhaupt nicht beseitigen können. Wir können es mindern, aber wir können ein Erkenntnisdefizit bezüglich eines unberechenbaren menschlichen Verhaltens nicht beseitigen, und ich möchte es auch nicht beseitigen. Dieses Verhalten des Menschen ist eben nicht — so sehr wir das vielleicht wünschen — auszuloten.
Bei dieser Sachlage und diesem Wissensstand war es ein Gebot politischer Vernunft und Redlichkeit, sich bei der Beurteilung der Bevölkerungsentwicklung und der Auswirkungen dieser Entwicklung auf die verschiedenen Politikbereiche und erst recht hinsichtlich etwaiger Anpassungs- und Gegenmaßnahmen zurückzuhalten.Eines, Herr Kollege Langguth, können Sie, wie ich meine, nicht tun: Sie können uns nicht vorwerfen, daß wir an einem Erkenntnisdefizit schuld sind, und uns hier gleichzeitig dafür verantwortlich machen, daß wir nicht handeln. Denn Sie selber, Herr Kollege Langguth, wissen ja ganz genau, daß dieses Erkenntnisdefizit hier wie in anderen Bereichen Europas ohne weiteres gar nicht auszugleichen ist.
— Um auf diese Frage einzugehen, Herr Langguth: Das Bundesinstitut hat sicherlich nicht genügend Mitarbeiter. Dies hat die Bundesregierung, hat das Bundesinnenministerium dem Parlament vorgetragen. Ich habe aber die Entscheidung des Haushaltsausschusses — in diesem Falle auch die Entscheidung der Opposition, denn die Opposition hat diese Entscheidung des Parlaments, des Souveräns über den Haushalt, mitgetragen — zu respektieren. Herr Langguth, Sie können sich nicht einerseits im Haushaltsausschuß so verhalten und andererseits hier beklagen, daß es nicht mehr Stellen gibt.Schon die Beschaffung der wichtigsten Daten über die weitere Entwicklung der Bevölkerung als Grundlage von Planungen setzt voraus, daß die Ursachen der bisherigen Entwicklung bekannt sind und hinreichend genau analysiert werden können. Sowohl bei der Erforschung der zurückliegenden Ursachen als auch bei Voraussagen über künftige Entwicklungen stößt man — ich wiederhole das — an die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit.Bei der Erforschung des sogenannten generativen Verhaltens — Herr Kollege Brandt hat ausgeführt, was das ist — begibt man sich in den Bereich der Verhaltensforschung, und es macht immer noch das Wesen des Menschen aus, daß sich sein Verhalten eben nicht bis ins letzte bestimmen läßt. Das gilt in verstärktem Maße für sein Verhalten in der Zukunft, weil dann zu unbekannten Größen der Vergangenheit die Ungewißheit bezüglich künftig eintretender Einwirkungsfaktoren hinzukommt.Auch wenn der Forschung damit Grenzen gesetzt sind, möchte ich nicht leugnen, daß wir weiterhin Anstrengungen auf diesem Gebiet unternehmen werden.
— Natürlich müssen wir diese Anstrengungen unternehmen. Die Forschung ist nie am Ende, Frau Kollegin. Aber Sie können es uns doch nicht vorwerfen, wenn die Wissenschaft noch nicht so weit ist, daß wir alle im Parlament daraus Erkenntnisse ziehen könnten.Ich betone diese Zusammenhänge, um voreiligen Beurteilungen und raschen Schlußfolgerungen entgegenzuwirken. Ich habe deshalb dem Bundeskabinett vorgeschlagen, stufenweise vorzugehen und sich bei der Überarbeitung zunächst auf den Analyseteil zu konzentrieren. Dieser Analyseteil ist für das erste Drittel dieses Jahres angekündigt; er wird
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16442 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Bundesminister Baumim April dieses Jahres dem Kabinett vorgelegt werden. Er enthält eine Darstellung der bisherigen Bevölkerungsentwicklung, einen Vergleich mit dem Ausland, eine Analyse der Ursachen sowie Modellrechnungen für eine mögliche künftige Entwicklung. Dieser Berichtsteil stellt logischerweise die Grundlage für die weiteren Schritte dar, die sich mit den Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die verschiedenen Politikbereiche befassen werden.Meine Damen und Herren, ich meine, daß hier die Gründlichkeit der Analyse gegenüber der Schnelligkeit Priorität haben muß, und ich füge hinzu: Es gibt wohl zur Zeit kein politisches Feld, auf dem mit unfertigen Situationsanalysen und unfertigen Ursachenvermutungen so viel politischer Mißbrauch getrieben wird wie in diesem Bereich, über den wir heute diskutieren.
Um auch den neuesten Erkenntnisstand der Bevölkerungswissenschaft einbeziehen zu können, habe ich — ich wiederhole das — die anerkannten Wissenschaftler auf diesem Gebiet zusammengeführt. Sie haben ihre Auffassung zu unserem bisherigen Erkenntnisstand dargelegt. Nach ihrem Urteil ist unsere Analyse erschöpfend und im wesentlichen zutreffend. Die ausländischen Experten bestätigen, daß die Darstellung der demographischen Situation in der Bundesrepublik internationales Niveau hat.Wenn man über die Bevölkerungsentwicklung diskutiert, dann verkürzt sich die Erörterung oftmals vorschnell auf die Geburtenentwicklung, und die beiden anderen Komponenten unserer Bevölkerungsentwicklung, nämlich der Rückgang der Sterblichkeit und die Wanderungsgewinne bleiben außer Betracht. Trotz einer seit einhundert Jahren abnehmenden Geburtenhäufigkeit hat sich in dieser Zeit die im heutigen Bundesgebiet lebende Bevölkerung etwa verdreifacht, von 20,4 Millionen Einwohnern im Jahre 1871 auf über 62 Millionen im Jahre 1974. Wir müssen uns das einmal vor Augen halten: im Jahre 1871 20,4 Millionen! Das lag u. a. daran, daß die Sterblichkeit, insbesondere die der Kinder, bis zum 1. Weltkrieg deutlich zurückging und daß wir vor allem seit dem 2. Weltkrieg starke Wanderungsgewinne Deutscher zu verzeichnen haben. Seit 1971 sinkt die Zahl der Deutschen im Bundesgebiet, weil das mittlerweile erreichte niedrige Geburtenniveau weder durch demographisch nennenswerte Zuwanderung von Deutschen noch durch einen weiteren deutlichen Rückgang der Sterblichkeit ausgeglichen wird.Ich weise noch einmal darauf hin: bitte, starren wir nicht allein auf die Geburtenzahlen, sondern ziehen wir die anderen Komponenten mit in Betracht.Es ist heute die Geburtenentwicklung zu einem bestimmenden Faktor für die Entwicklung der deutschen Bevölkerung geworden. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hatten die Ehen in Deutschland durchschnittlich sechs lebendgeborene Kinder, die um die Jahrhundertwende geschlossenen Ehen nur noch vier. Bis zu den um 1925 geschlossenen Ehen ging die endgültige Kinderzahl auf 2,2 zurück. Von 1925 bis zu den in den 50er Jahren geschlossenen Ehen sank die Kinderzahl bis auf etwas über 2 langsam weiter ab. Bei den seit Beginn der 60er Jahre geschlossenen Ehen zeigt sich ein weiterer Rückgang der Kinderzahl, der für die zwischen 1968 und 1972 geschlossenen Ehen schätzungsweise durchschnittlich 1,6 Kinder erwarten läßt.Die Auswertung der Daten ergibt somit für das Bundesgebiet den schon genannten seit einhundert Jahren anhaltenden Geburtenrückgang, der zwar Phasen relativer Stabilität, aber niemals eine Trendumkehr aufgezeigt hat. Der Trend — ich habe ihn an Zahlen aufgezeigt — ist seit hundert Jahren, Herr Kollege Langguth, seit der Industrialisierung, seit der Verstädterung feststellbar.
Auch die hohen Geborenenzahlen in der ersten Hälfte der 60er Jahre stellen keine Umkehr des langfristigen Trends dar — das war eine Schwankung —, sie sind vielmehr auf das Zusammentreffen mehrerer einmaliger Faktoren zurückzuführen, z. B. früheres Heiratsalter und günstigere Altersstruktur.Über die Geburtenentwicklung des vergangenen Jahres, die in der Presse stark beachtet wurde, läßt sich derzeit nur eine Angabe zur Zahl der insgesamt Geborenen, also Deutscher und Ausländer, machen. Diese Zahl war um 5 250 höher als 1978, also um 0,9 %. Nach Deutschen und Ausländern getrennt, liegen für den Zeitraum des ganzen vergangenen Jahres noch keine Angaben vor. Deshalb ist eine Schlußfolgerung hinsichtlich einer etwaigen Veränderung des generativen Verhaltens der deutschen Bevölkerung heute noch nicht möglich.Allerdings waren nach der 5. koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung wegen Veränderung in der Altersstruktur bei gleichbleibendem generativen Verhalten 6 700 Geburten deutscher Kinder mehr zu erwarten als im Jahre 1978.Die Entwicklung in den letzten 100 Jahren zu kleineren Kinderzahlen in den Familien ist nicht auf Deutschland beschränkt. In den meisten europäischen Staaten zeigt sich seit etwa 1870 ein kontinuierlicher, wenn auch teilweise von Schwankungen unterbrochener Trend zur Verringerung der Geburtenhäufigkeit. Sie reduzierte sich in ganz Europa zwischen 1870 und 1930 durchschnittlich um mehr als 50 %.Ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland gab es in der Nachkriegszeit in vielen Staaten eine Geburtenzunahme, die zumeist zu Beginn bis Mitte der 60er Jahre ihren Höhepunkt erreichte, dem ein weiteres Sinken der Geburtenhäufigkeit folgte. In der Entwicklung der Geburtenhäufigkeit seit Beginn der 50er Jahre zeigt sich eine weitgehende Parallelität in den meisten industrialisierten Staaten. Seit dem Jahre 1968 ist die Geburtenhäufigkeit in einer beträchtlichen Zahl von Staaten unter das Maß gesunken, das eine langfristig ausgeglichene Bevöl-
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Bundesminister Baumkerungsentwicklung zur Folge hat. Das gilt — außer in den beiden deutschen Staaten — für Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Osterreich, die Schweiz, Schweden, Großbritannien und die USA.Die Frage nach den Einflußfaktoren des generativen Verhaltens, meine Damen und Herren, ist weder in unserem Lande noch in den Ländern, die ich genannt habe, eindeutig geklärt, und ich habe meine Zweifel, ob wir die Einflußfaktoren überhaupt eines Tages eindeutig klären können. Es gibt kein übergreifendes, alle wesentlichen und bedeutsamen Aspekte zusammenfassendes Erklärungsmodell des generativen Verhaltens in westlichen Industriegesellschaften, so daß es nicht möglich ist, die einzelnen Erklärungsbeiträge, die es gibt — einige haben Sie erwähnt, einige sind hier schon von meinen Vorrednern genannt worden —, hinsichtlich ihrer absoluten und relativen Bedeutung zu gewichten. Wir wissen also nicht — wenn wir schon davon ausgehen können, daß ein Faktor wie etwa die Verstädterung Bedeutung hat —, welche quantitative Bedeutung er hat. Wir wissen aber, daß der Geburtenrückgang in Deutschland, der beim Übergang von einer traditionellen agrarischen Gesellschaft zu einer hochentwickelten Industriegesellschaft einsetzte, auf einem Wandel des Familienbildungsverhaltens im Sinne einer Beschränkung der Kinderzahlen beruht. Zahlreiche gesellschaftliche Veränderungen, die Voraussetzung, Folge oder Begleiterscheinung der Modernisierung sind, schufen Bedingungskonstellationen, denen es entspricht, weniger Kinder zu bekommen als vorher.Ich nenne nur einige dieser Bedingungskonstellationen, so z. B. die Säkularisierung; auch sie hat eine Wirkung gehabt, wie uns die Wissenschaftler ganz eindeutig sagen. Ich nenne die zunehmende räumlich und soziale Mobilität. Ich nenne die Zunahme der weiblichen, insbesondere außerhäuslichen Erwerbstätigkeit bei unverändert hoher Erwerbsbeteiligung der Männer. Wollen wir das ändern? Das ist eine Entwicklung, die wir nüchtern feststellen müssen. Ich nenne die zunehmende Verstädterung. Es gibt immer noch deutliche Unterschiede zwischen dem generativen Verhalten der auf dem Lande lebenden Bevölkerung und der Bevölkerung in den Städten. Wollei Sie dafür die Bundesregierung verantwortlich machen, Herr Kollege Langguth? Ich nenne auch die wachsende Bildungsbeteiligung. Sie ist ebenfalls einer der Bestimmungsfaktoren. Wir sind sicherlich hier gemeinsam der Meinung, daß wir die Bildungsbeteiligung nicht zurückdrehen wollen. Ich nenne die zunehmend wachsenden Möglichkeiten, das individuelle Leben auch anders als durch die Erziehung von Kindern zu gestalten; also die Formen der Lebenserfüllung ohne Kinder. Ich nenne schließlich die Verbesserung der Methoden der Familienplanung, die es den Partnern mehr und mehr möglich macht, die beabsichtigten Kinderzahlen nicht zu überschreiten.Meine Damen und Herren, unabhängig von weiterhin zu gewinnenden Erkenntnissen lassen sich die Aussagen der Bundesregierung zu diesem Fragenkomplex wie folgt zusammenfassen:Erstens. Wir haben es national wie international mit langfristigen, schwer überschaubaren und schwer prognostizierbaren Entwicklungen zu tun, die Auswirkungen auf die Strukturierung staatlicher Aufgaben haben können. Wir müssen uns also auf die veränderte Bevölkerungszahl einstellen. Wir dürfen nicht angstmachen, Herr Kollege Langguth, sondern wir müssen uns darauf einstellen, darauf Rücksicht nehmen.
Voreilige Schlüsse und Maßnahmen schaden eher, als sie nützen. Auf keinem anderen politischen Gebiet wird gegenwärtig mit unfertigen Situationsanalysen und unfertigen Vermutungen über Ursachen soviel politischer Mißbrauch getrieben wie gerade hier. Zur Dramatisierung besteht kein Anlaß.Zweitens. Die Analyse zeigt, daß wir es mit einem seit 100 Jahren anhaltenden Geburtenrückgang zu tun haben, der jetzt, da weder demographisch nenneswerte Zuwanderungen von Deutschen erfolgen noch sich die Sterblichkeitsverhältnisse bedeutend weiter verbessern, die Entwicklung der deutschen Bevölkerung maßgeblich bestimmt.Drittens. Es gibt kein übergreifendes, alle wesentlichen Aspekte des generativen Verhaltens in den westlichen Industriegesellschaften zusammenfassendes Erklärungsmodell. Dies wird wahrscheinlich auch in Zukunft kaum möglich sein. Wir werden wahrscheinlich in der Lage sein, einige Faktoren besser zu erkennen, ein perfektes Erklärungsmodell wird es aber nicht geben.Viertens. Die demographische Entwicklung und die Verschiebungen der Altersschichtungen sind bereits jetzt bei politischen Entscheidungen von Bund, Ländern und Gemeinden zu berücksichtigen und werden zukünftig in noch verstärktem Maße Eingang in staatliche Entscheidungsprozesse finden müssen.Fünftens. Diè in der öffentlichen Diskussion im Mittelpunkt des Interesses stehenden Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die Familienpolitik und die Altersversorgung — auch Sie haben eine Rede über die Altersversorgung gehalten, Herr Kollege Langguth — sind in der Tat wichtige Teilaspekte. Sie sind aber nur Teilaspekte. Sie geben auf absehbare Zeit — wie von der Bundesregierung wiederholt belegt worden ist — keinen Anlaß zur Besorgnis.Sechstens. Etwaige negative Auswirkungen in einem späteren, noch nicht überschaubaren Zeitraum können vermieden oder zumindest abgeschwächt werden, wenn ihnen rechtzeitig begegnet wird. Mit den in Gang gesetzten Arbeiten, insbesondere mit der gründlichen Analyse der Bevölkerungsentwicklung, die die Bundesregierung nach Anhörung einer Anzahl von Sachverständigen im April 1980 vorlegen wird, ist eine bessere, eine sichere Grundlage für solche Entscheidungen gegeben.
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16444 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Bundesminister BaumSiebtens und letztens. Sosehr es notwendig ist, auf Bedingungen Einfluß zu nehmen, auf familienfreundliche und kinderfreundliche Bedingungen — darüber wird meine Kollegin, Frau Huber, in dieser Debatte noch etwas sagen —, bleibt die Bundesregierung ganz konsequent bei ihrer Auffassung, daß die Entscheidungsfreiheit der Eltern über Zahl und Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder unbedingt gewährleistet sein muß. Ich weise entschieden den Vorwurf zurück, die Bundesregierung treibe eine Politik der Familienfeindlichkeit. Familienpolitik ja — ich wehre mich aber ganz entschieden dagegen, Familienpolitik zum Instrument einer Bevölkerungspolitik zu degradieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Braun.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Als die Bundesregierung im Oktober 1979 die Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion betreffend Grundprobleme der Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt hatte, machten Sprecher unserer Fraktion schon deutlich, daß die Stellungnahme der Bundesregierung keine ausreichende Basis für eine objektive Beurteilung des Problems darstellt. Dies wird auch dadurch deutlich, daß die Bundesregierung offensichtlich noch nicht einmal Vorstellungen über Mindestzielsetzungen der Bevölkerungsentwicklung bei der Inlandsbevölkerung hat und in welchem Ausmaß es ihr vertretbar erscheint, Defizite beim Erwerbspotential der deutschen Bevölkerung durch eine langfristig angelegte Ausländerpolitik auszugleichen.In dieser Debatte geht es im wesentlichen um die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsentwicklung und Lebenssituation der Familien, aber auch um die ergänzende Komponente der Ausländerpolitik als Teilelement einer Bevölkerungspolitik.Familienpolitik und Bevölkerungspolitik haben unterschiedliche Qualität. Beiden Bereichen liegen unterschiedliche Motivationen zugrunde. Familienpolitik leiten wir hauptsächlich aus unserem Verständnis über die Sinnerfüllung des Lebens des Menschen ab, die im Regelfall auch die Entscheidung zu Familie und Kindern beinhaltet.
Staat und Gesellschaft haben dementsprechend die gesellschaftliche Wertung der Institution Ehe und Familie, ihren Schutz in der gesamten Rechtsordnung und ihre wirtschaftliche Lebens- und. Funktionsfähigkeit zu sichern und zu fördern. Es handelt sich um die Gewährleistung von Rahmenbedingungen, die eine grundsätzlich vorhandene Bereitschaft zum Kind fördern, nicht jedoch Einzelentscheidungen manipulieren sollen. Vor allem sind aber auch Ausländerpolitik im allgemeinen und Ausländerbeschäftigungspolitik im besonderen als spezielles Problem, aber auch das Asylrecht Bereiche von hoher bevölkerungspolitischer Relevanz.Diese Debatte dient dem Ziel, gesellschaftspolitische Konsequenzen aus der zurückliegenden und zu erwartenden Bevölkerungsentwicklung zu ziehen. Dafür ist es notwendig, die jüngste demographische Entwicklung zu beleuchten. Ich muß Sie jetzt leider mit einigen konkreten Zahlen belasten, weil sie eine wichtige Basis auch für alle interessierten Kräfte unserer Gesellschaft sind, die diese Debatte auswerten und sich selbst Gedanken über die Gestaltung der Zukunft machen möchten.Erstens. Die Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik Deutschland lag mit zirka 61,4 Millionen am 30. September 1979 erstmalig seit 1976 wieder um 70 000 höher als zum entsprechenden Stichtag des Vorjahres. Die deutsche Wohnbevölkerung ging dabei trotz Zuwanderung von Aussiedlern um rund 93 000 auf zirka 57,2 Millionen zurück. Die Zahl der Ausländer stieg um 163 000 auf 4 144 000, wovon etwa 100 000 auf Einwanderungsüberschüsse, einschließlich der Zuzüge Asylsuchender, und etwas mehr als 60 000 auf Geburtenüberschüsse der ausländischen Bevölkerung entfielen.Die ungeheuer starke Zuwanderung aus Ländern außerhalb der Europäischen Gemeinschaft und insbesondere das Anwachsen der Zahl der Asylsuchenden auf eine Jahresrate von über 50 000 machen die Probleme deutlich, die sich durch das Anwachsen des Ausländeranteils an der Gesamtbevölkerung entwickeln werden.Die Bundesregierung betont, daß sie die uneingeschränkte Aufrechterhaltung des Anwerbstopps für unverzichtbar hält. Sie betont in der Antwort zu Recht den Vorrang der Integration der zur Zeit bei uns lebenden Ausländer. Die Praxis dieser Politik sieht aber anders aus. Zum Beispiel wuchs die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer von Ende Juni 1978 bis Ende Juni 1979 um rund 60 400 auf 1 933 700 an. Dieses Wachstum — ich glaube, das müssen wir klar sehen — geht zu einem großen Teil auf Asylbewerber zurück. Diese Politik hat sich als Gegenteil dessen erwiesen, was die Bundesregierung als Zielsetzung ihrer Ausländerpolitik verbal betont hat.
Die Zeche wird teilweise von der zweiten und dritten Ausländergeneration bezahlt. Annähernd 1,5 Millionen Kinder unter 18 Jahren von Ausländern, die bei uns leben, erwarten eine bessere Integration in das Bildungssystem, in das berufliche, soziale, gesellschaftliche und kulturelle Leben in unserem Land. Wir werden unsere Aufgaben gegenüber diesen Kindern nicht lösen können, wenn wir die unkontrollierte Zuwanderung nicht stoppen. Wir bejahen politisches Asyl für politisch Verfolgte, nicht jedoch die unbegrenzte Zuwanderung von Scharen von Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen und vielfach regelrecht hier eingeschleust werden.
Zweitens. Die demographische Entwicklung im Jahre 1979 berechtigt keineswegs zu dem Optimismus, den einige Presseberichte in den letzten Wochen ausgelöst haben. Die Zahl der Eheschließungen im Jahr 1979 mit 344 178 zwar um knapp 5 % höher als 1978, aber immer noch unter dem
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BraunStand von 1977. Seit 1976 müßten wir nach der Altersschichtung eigentlich steigende Eheschließungszahlen haben. Geht man von 386 681 Eheschließungen im Jahr 1975 aus, so hätten wir bei unveränderter Einstellung der Bevölkerung zur Eheschließung heute schon eine Zahl von über 402 000 je Jahr haben müssen. Die tatsächliche Zahl liegt um etwa 14 % unter diesem Niveau.Meine Damen und Herren, einen erfreulichen Rückgang können wir wie bereits im Vorjahr bei der Zahl der Verstorbenen feststellen. Von den 710 360 Sterbefällen dürften rund 700 000 auf die deutsche Bevölkerung entfallen. Noch in der fünften koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung wurden für die deutsche Bevölkerung 779 500 Sterbefälle erwartet. Bei niedrigeren Geburtenraten und -zahlen wird sich der Überalterungsprozeß noch stärker beschleunigen, als ursprünglich angenommen wurde.Es gibt keine Rechtfertigung für die Verharmlosung der Geburtenrückgänge der letzten Jahre. Wir haben vielmehr alle Veranlassung, die Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen die Bereitschaft zur Ehe, zur Familie und zu Kindern wieder zunimmt. Es geht um die gesellschaftliche und ideelle Höherbewertung der Familie, den rechtlichen Schutz der Institutionen Ehe und Familie, aber auch um die bessere materielle Förderung der Familien, besonders der kinderreichen und der jungen.
Es geht aber auch um den verbesserten Schutz des ungeborenen Lebens. Die Zahl der gemeldeten Schwangerschaftsabbrüche von 82 788 für das Jahr 1979 weist schon wieder eine Steigerung von 12,6gegenüber dem Vorjahr aus.
Wenn über 70 % der gemeldeten Fälle auf die soziale Indikation entfallen, dann ist das, meine Damen und Herren, einfach ein Skandal.
Unwiderlegbar ist aber auch die materielle Deklassierung der Familien gegenüber anderen Personengruppen. Wenn viele Arbeitnehmer, die Alleinernährer von Mehrkinderfamilien sind, vielfach auch unter Berücksichtigung des Kindergeldes und eines eventuellen Wohngeldes nicht einmal die Sozialhilfeschwelle erreichen, dann darf man sich nicht wundern, daß die Bereitschaft zu Kindern so stark zurückgegangen ist.Das gleiche gilt hinsichtlich der Bewertung bzw. der Diskriminierung der Hausfrauenehen, die nach der Geburt eines Kindes keine Leistungen erhalten, welche den Leistungen von Arbeitnehmerinnen entsprechen, die einen Mutterschaftsurlaub beanspruchen können. Wir haben nie Verständnis dafür gehabt, meine Damen und Herren, daß die Regierungsmehrheit und die Koalitionsparteien unsere Vorschläge zur Einführung eines Familiengeldes abgelehnt haben, das sicher mancher Familie die Entscheidung zu einem weiteren Kind erleichtert hätte.
Ein wichtiger Punkt ist auch die Gestaltung der Familienkomponenten im Rahmen der Reform der Hinterbliebenensicherung im Jahre 1984. Die Unionsparteien werden sich im Rahmen dieser Reform für eine großzügige Berücksichtigung der Erziehungszeiten im Rentenrecht einsetzen. Angemessen sind fünf Erziehungsjahre für die nach der Reform geborenen Kinder.
Aber auch für die bis 1984 geborenen Kinder werden wir uns für mindestens zwei Erziehungsjahre je Kind einsetzen. Eine zukunftsorientierte Lösung der Reform der Hinterbliebenensicherung ist Grundvoraussetzung für die Bereitschaft nachwachsender Generationen, im Interesse der Kindererziehung zeitweilig auf Erwerbstätigkeit zu verzichten.Die Sicherung einer ausgewogenen Altersstruktur auch in den nächsten Jahrzehnten und für die nächsten Generationen ist eine Aufgabe, die von lebensentscheidender Bedeutung für die Angehörigen der jungen Generation ist. Der junge Mensch von heute muß sich darauf verlassen können, daß der Generationenvertrag auch für ihn noch gültig ist.
Die Altersstruktur hat sich verändert. Ab dem 75. Lebensjahr ergibt sich daher auch ein wesentlich erhöhter Bedarf an Altenpflegeplätzen. Bei steigenden Zahlen der sehr alten Mitbürger kommt es darauf an, daß die Erwerbsgeneration zahlenmäßig stark genug ist, um für einen menschenwürdigen Lebensabend zu sorgen. Dazu gehört, daß bald eine Kostenregelung für die Pflege in einem Altenpflegeheim erfolgt, und zwar im Rahmen der Sozialversicherung, nicht der Sozialhilfe, wie es, so hoffe ich, den Vorstellungen aller Parteien in diesem Hohen Haus entspricht. Den derzeitigen unerträglichen Zustand zu überwinden, ist ein dringendes sozialpolitisches Anliegen. Aber es kostet seinen Preis. Er kann auf die Dauer nur gezahlt werden, wenn langfristig eine ausgewogene Alters- und Erwerbsstruktur gesichert ist.
Alle genannten Probleme werfen die Frage auf, ob der Staat nicht Mindestzielsetzungen für die Bevölkerungsentwicklung festlegen und dadurch entsprechende Rahmenbedingungen gewährleisten sollte. Mein Kollege Heinz Franke hat schon vor zwei Jahren in mehreren Publikationen gefordert, daß wenigstens 85 bis 90 % der Geburten gewährleistet sein sollten, die an sich zur Bestandserhaltung der Bevölkerung notwendig sind. Diese begrenzte Zielsetzung, die für die deutsche Bevölkerung nicht einmal das Nullwachstum gewährleisten würde, würde wenigstens sicherstellen, daß sich der Prozeß des überproportionalen Anwachsens der Zahl der Angehörigen älterer Jahrgänge verlangsamt. Aber selbst bei einer solchen Zielsetzung müßten in den nächsten Jahren bei der deutschen Bevölkerung die Geburtenzahlen von jetzt rund 500 000 auf 700 000 bis 800 000 ansteigen.Wir von der Unionsfraktion wünschen, daß die Bundesregierung ihren Standpunkt zu dieser Frage
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Braunpräzis darlegt und begründet. Es könnte dann vielleicht zu einer Verständigung zwischen Regierung und Opposition über die zu ziehenden gesellschaftlichen Konsequenzen kommen.Schließlich bitte ich Sie, zuzustimmen, daß — ich beantrage dies, Herr Präsident — der Entschließungsantrag dem Innenausschuß zur federführenden Beratung und dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zur Mitberatung überwiesen wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte den Kollegen Langguth vorhin schon ausdrücklich im Kreis der Familienpolitiker in diesem Hohen Haus willkommen heißen, weil er offenbar angefangen hat, sich mit dieser Problematik zu befassen. Wir hätten ihn natürlich bei früheren familienpolitischen Debatten auch ganz gern gesehen. Aber vielleicht wird sich das ändern, so daß er dann mit mehr Sachkunde als heute über diese Fragen mitdiskutieren kann. Wir hatten nämlich gerade im letzten halben Jahr, Herr Kollege Langguth, mindestens drei mehrstündige familienpolitische Debatten in diesem Haus.
Viel von dem, was Sie vorhin gesagt und der Bundesregierung vorgeworfen haben, ist in diesem Haus bereits mehrmals mit guten Gründen zurückgewiesen worden, Herr Kollege Langguth.
Dennoch freuen wir uns über Ihr Engagement in dieser Sache.
Bloß, eines hat uns überhaupt nicht gefallen: daß ein neugeborener Familienpolitiker sozusagen als erste Amtshandlung in seinem neuen Bereich Familienpolitik und Bevölkerungspolitik in denselben Topf wirft, darin dreimal herumrührt und sich dann wundert, daß wir den Einheitsbrei, den er uns bietet, als — erlauben Sie — eine Vermischung von Tatsachen, die nichts miteinander zu tun haben, kennzeichnen
und daran die Bemerkung knüpfen müssen, daß Ihre Beteuerungen, für Sie sei Familienpolitik ausschließlich an der Lage und den Problemen der Familien orientiert und nicht nur ein Instrument der Bevölkerungspolitik, nicht ernst nehmen können und ihnen keinen Glauben schenken können.
Die Familienpolitik der SPD will die Lebensbedingungen der Familien und Kinder verbessern. Das geschieht um der Familien selbst willen und nicht zur Erhöhung der Geburtenzahl. Wir wollen niemand vorschreiben, wieviel Kinder er eigentlich ha
ben sollte oder müßte. Wir wollen auch keinen moralischen Druck ausüben.
Wir werden auch Ihre mehr oder weniger offene Kampagne gegen die berufstätigen Frauen nicht mitmachen.
— Herr Kollege Dr. Hammans, die Tatsache, daß Sie nach Bevölkerungspolitik fragen und auf Familienpolitik übergehen, läßt doch den Schluß zu, verpflichtet uns gerade zu dem Schluß, daß für Sie beides zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Das machen wir nicht mit.
— Herr Kollege Hasinger, wir werden auch Ihre kurzschlüssige Argumentation nicht mitmachen, daß der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik Ergebnis einer angeblich familienfeindlichen Politik sei.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hammans?
Herr Kuhlwein, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß wir nicht gegen die berufstätige Frau sind, sondern daß wir nur erreichen wollen, daß die nichtberufstätige Frau genauso wie die berufstätige behandelt wird? Da vermissen wir bei Ihnen einige Ansätze.
Herr Kollege Dr. Hammans, das ist hier überhaupt nicht die Frage, die diskutiert wird. In den Vorschlägen, die Sie machen, steckt der Vorwurf an die Frauen, die berufstätig sind, daß sie nicht zu Hause sitzen und sich um ihre Kinder kümmern.
Sie versuchen, bei diesen Frauen ein schlechtes Gewissen zu erzeugen. Das ist das, was wir nicht mitmachen.Ihre kurzschlüssige Argumentation, der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik sei Ergebnis einer angeblich familienfeindlichen Politik, ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern auch eine höchst durchsichtige Wahlkampfpolemik. Hier ist schon darauf hingewisen worden, daß wir es mit einer Entwicklung zu tun haben, die in fast allen entwickelten Industrieländern eingesetzt hat, unabhängig von politischen Systemen, von Familienlastenausgleich, elterlichem Sorgerecht, Bildungspolitik oder Ehescheidungsgesetzen. Denn wenn Sie die Tabelle auf Seite 8 nachlesen, finden Sie eine Reihe von Ländern mit den verschiedensten Systemen, den verschiedensten Rechtsordnungen, den verschiedensten materiellen Förderungssystemen für Familien. Dennoch läßt sich feststellen, daß in allen diesen Ländern die Nettoreproduktionsrate — um dieses
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Kuhlweinschreckliche technische Wort zu benutzen, das dort steht — seit Anfang bis Mitte der 60er Jahre erheblich zurückgegangen ist, also unabhängig von dem jeweiligen System.Natürlich ist es bevölkerungswissenschaftlich reizvoll, den Ursachen für diese Entwicklung auf den Grund zu gehen. Das kann man völlig unabhängig davon tun, wie man diese Entwicklung bewertet. Die meisten Wissenschaftler sagen, zu den Ursachen gehörten 1. der zunehmende Wunsch von Frauen, berufstätig zu sein, 2. ein Wandel der Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft — hin zu einer Steigerung der Lebensansprüche — und auch zu alternativer Sinnerfüllung der Ehe als Partnerschaft, auch ohne oder mit wenigen Kindern, 3. der Wunsch nach Sicherung des eigenen sozialen Status, auch für die Kinder, was dann bedeutet: nicht so viele Kinder aufziehen zu wollen und zu können, 4. ein Verzicht auf Nachwuchs wegen pessimistischer Einschätzung der Zukunftsaussichten — auch das gibt es — und 5. eine überfüllte Wohnumwelt, die Kindern die Entfaltung in erheblichem Umfang erschwert.Wenn man diese fünf Beweggründe — sicher gibt es noch mehr Motivationen —, die einige Wahrscheinlichkeit für sich haben, zu bewerten versucht, komme zumindest ich zu dem Schluß, daß ich den Leuten, die aus solchen Gründen weniger Kinder oder keine Kinder haben, daraus keinen moralischen Vorwurf machen will und kann.
— Warum fühlen Sie sich denn immer auf den Schlips getreten? Ich freue mich ja, wenn wir wenigstens in einer Frage übereinstimmen, Herr Kollege Dr. Hammans.Während über das Bündel von Ursachen in der Wissenschaft noch einigermaßen Übereinstimmung besteht, sind bisher für diejenigen, die gegensteuern wollen, keine schlüssigen Patentrezepte entwickelt worden. Die Erfahrungen mit bevölkerungspolitischen Maßnahmen sind sehr unterschiedlich. Niemand kann sagen, Herr Kollege Franke, welche Humaninvestitionen — um dieses von Ihnen erfundene schreckliche Wort zu gebrauchen — den gewünschten Erfolg zeitigen würden, wenn man mehr Kinder haben will.Herr Kollege Braun, Mindestzielsetzungen für die Bevölkerungsentwicklung? Dann sollten Sie uns sagen, wie das denn funktionieren soll, ohne direkt in die Familie einzugreifen? Wo sind denn bisher nachgewiesene Zusammenhänge zwischen einer Erhöhung des Kindergeldes für das erste Kind um 50 DM und der Steigerung der Geburtenrate im Jahr um 50000? Überall dort, wo man in der Welt Familienpolitik, Familienlastenausgleich analysiert, kommt man bei den unterschiedlichsten Maßnahmen zu den unterschiedlichsten Ergebnissen. Vielleicht haben Sie daran gedacht, daß man einmal einen Black out im Sinne des New Yorker Black out herbeiführen sollte, um die Geburtenrate in die Höhe zu treiben.
— Aber das hat Erfolg gehabt, Herr Kollge George!— Vielleicht haben Sie auch daran gedacht, die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Streik beim privaten britischen Fernsehen aufzunehmen, der auch zu einer Geburtensteigerung geführt hat, wobei wir dann einmal unter medienpolitischen Aspekten diskutieren können, ob Sie der Meinung sind, daß mehr Fernsehprogramme mehr Kinder zur Folge haben werden.
Meine Damen und Herren, abgesehen davon: Wir Sozialdemokraten wollen keine Bevölkerungspolitik, wir brauchen auch keine Bevölkerungspolitik. Wir wollen doch nicht Kinder erziehen, um die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik zu sichern. Wir wollen auch nicht Kinder erziehen, um den Generationenvertrag in der Rentenversicherung zu garantieren, wobei dann sofort die Frage auftaucht: Was ist eigentlich, wenn ein zur Sicherung des Generationenvertrages in der Rentenversicherung gezeugtes Kind nachher Beamter wird und keine Beiträge zur Rentenversicherung bezahlt?
Wer garantiert uns, wenn wir auf diesen Argumentationszusammenhang abstellen, daß dies auch Realität wird?Wir brauchen auch keine Bevölkerungspolitik, um den Arbeitsmarkt mit Arbeitskräften zu versorgen oder um genügend Konsumenten von produzierten Massengütern zu haben. Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik zählt heute mit 249 Einwohnern pro Quadratkilometer zu den am dichtesten besiedelten Industrienationen. Bei gleichbleibender Geburtenrate würden im Jahre 2000 immer noch mehr Menschen bei uns leben als 1961, nämlich 56,3 Millionen. Die Bevölkerung des Jahres 2030 dürfte nach den üblichen Schätzungen immer noch größer sein als die deutsche Bevölkerung in den Grenzen des Bundesgebiets im Jahre 1939.Niemand, meine Damen und Herren, kann den Beweis dafür antreten, warum eine solche Entwicklung gefährlich sein sollte. Herr Kollege Langguth hat gesagt, es gebe Probleme im ländlichen Raum; er werde noch dünner besiedelt sein. Probleme gibt's; sicher, da wird es einen Strukturwandel geben. Wir werden rechtzeitig politische Antworten darauf entwickeln müssen. Bloß, das Beispiel, das Sie angeführt haben, daß nämlich die Schulbusse, mit denen unsere Kinder transportiert werden, dann zu leer werden könnten, ist nach allen Erfahrungen, die El-
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Kuhlweintern mit Schulbussen bisher gemacht haben, wirklich hanebüchen.
Die Kinder sitzen und stehen heute in diesen Bussen wie in der Sardinenbüchse. Ich glaube, daß es für diese Kinder mehr Freiheit, mehr Lebensqualität bedeuten würde, wenn es davon ein bißchen weniger gäbe.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Langguth?
Ja, bitte.
Sind Sie bereit, zuzugeben, daß das Beispiel betreffend die Schulbusse im ländlichen Bereich einem interministeriellen Bericht der gegenwärtigen Bundesregierung entnommen ist und daß Sie Ihre Kritik deswegen an den Herrn Bundesinnenminister, der zur Zeit nicht mehr da ist, richten müßten?
Ich habe immer gedacht, Herr Kollege Langguth, daß Sie dann, wenn Sie sich mit fremden Federn schmücken, auch zitieren.
— Und das war besonders geschmackvoll.Wieso eigentlich soll es in einer immer hektischer gewordenen Welt von Nachteil sein, wenn sich etwas weniger Menschen gegenseitig auf die Füße treten? Meine Damen und Herren, Psychologen haben längst nachgewiesen, daß es beim Zusammengedrängtsein vieler Menschen auf engem Raum zwangsläufig zu Aggressionen kommt. Wieso eigentlich soll es für den Arbeitsmarkt von Nachteil sein, wenn die Rationalisierung durch Mikroprozessoren nicht mehr zu verstärkter Arbeitslosigkeit führen muß? Oder: Wieso eigentlich sollten kleine Klassen in den Schulen, ausreichend große Wohnungen, weniger überfüllte Freizeiteinrichtungen uns Sorgen machen? Der Bevölkerungswissenschaftler Professor Schubnell hat in dem Zusammenhang auch noch die überfüllten Skipisten erwähnt und den interessanten Gedanken in die Diskussion geworfen, ob nicht gerade eine dünner besiedelte Bundesrepublik mit mehr Freiraum für Kinder Eltern wieder dazu bewegen könnte, mehr Kinder haben zu wollen. Aber diese Situation haben wir heute nicht. Manchmal habe ich durchaus den Eindruck, daß wir uns in unserer Umwelt in vielen Lebenssituationen bereits gegenseitig auf die Füße treten. Wir sind ganz bestimmt sehr weit davon entfernt, ein Raum ohne Volk zu sein.Meine Damen und Herren, es bleibt das Problem der Rentenversicherung zu diskutieren. Wer denBeitragszahlern von heute Angst macht, der Geburtenrückgang gefährde ihre Renten, handelt verantwortungslos. Alle angestellten Rechnungen halten einer kritischen Überprüfung nicht stand.
— Richtig ist, Herr Kollege Franke, daß nach den Hochrechnungen der Anteil der über 65jährigen in der Gesellschaft bis zum Jahr 2000 geringfügig, dann bis zum Jahr 2030 kräftig steigen wird. Einverstanden? Genauso richtig ist aber, daß im selben Zeitraum der Anteil der unter 15jährigen an der Gesamtbevölkerung erheblich zurückgehen wird. Das ist ja das, was beklagt wird. Erhöhten Ausgaben für die Alterssicherung stehen daher entsprechende Einsparungen bei den Kosten für die Kindererziehung gegenüber. Bis zum Jahre 2030 liegt die Gesamtlastquote, wie das so technokratisch heißt, wobei man da eine „Kinderlastquote" und eine „Altenlastquote" addiert,
niedriger als 1975.
Nach den Berechnungen des Karl-Bräuer-Instituts, das ja nun wirklich nicht im Verdacht steht, der Regierung oder uns besonders nahe zu stehen, wird die Gesamtlastquote von 58 % im Jahre 1975 bis zum Jahre 2000 auf 46,1 % zurückgehen. Im Jahre 2030 wird mit einem Wert von 56,5 % fast der Ausgangswert des Jahres 1975 erreicht. Dementsprechend ist der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter an der Gesamtbevölkerung im Jahre 2030 nach diesen Berechnungen sogar noch höher als im Jahre 1975. Und das sind diejenigen, die sowohl die „Kinderlast" als auch die „Altenlast" zu finanzieren haben.Nun gibt es natürlich das Problem: Wie polen wir das Geld aus dem Steuersäckel — Kindergarten, Bildungspolitik, Kindergeld — um in die Kassen der Rentenversicherung? Das wollen wir gar nicht leugnen. Aber ich gehe davon aus, meine Damen und Herren, daß unsere Gesellschaft das Problem bewältigen wird, wie diese Einsparungen bei den Kinderkosten zur Finanzierung der erhöhten Ausgaben für die ältere Generation herangezogen werden können. Wir haben da doch Zeit. Wir werden den Zustand, der Schwierigkeiten machen wird, doch erst im Jahre 2030 erreichen. Ich habe immer gedacht, Christdemokraten seien so fortschrittsgläubig und lösungskompetent, daß sie unserem System und seiner Flexibilität so weit vertrauen, daß sie sagen: Diese Sachen werden wir schrittweise in den Griff kriegen. Auf jeden Fall werden uns die Probleme, die heute hier beschworen werden, morgen noch keine Sorgen machen. Aber offensichtlich halten Sie sehr viel mehr von Panikmache, um Beitragzahler und Rentner zu verunsichern und daraus wahltaktisch Kapital zu schlagen.
Meine Damen und Herren, wir wollen den deutschen Familien keine Vorschriften machen. Wir glauben auch nicht, daß es in einer entwickelten Industriegesellschaft ein Ziel von Politik sein kann, die Bevölkerungszahl konstant zu halten oder gar zu
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Kuhlweinerhöhen. Ich glaube auch nicht, daß sich die Völker der entwickelten Welt noch weiteres Wachstum leisten können, solange die Bevölkerung in der Dritten Welt noch in erheblichem Umfang zunimmt und wir das auch nicht drosseln können. Die natürlichen Ressourcen sind nicht beliebig vermehrbar. Wenn wir mit unserem hohen Lebensstandard noch mehr davon in Anspruch nehmen als bisher, geht das zu Lasten der Völker, die ohnehin zuwenig haben, um die nackte Existenz ihrer Bevölkerung zu sichern.Nun hat der Kollege Langguth aus dem Bericht der Weltbevölkerungskonferenz 1974 in Bukarest zitiert. Aber er hat das, was dort steht, etwas mißinterpretiert. Herr Kollege Langguth, die Entwicklungsländer haben sich dort dagegen gewehrt, daß die entwickelten Länder, die einen großen Teil des Kuchens für sich in Anspruch nehmen, ihnen nun auch diktieren wollen, sie sollten eine restriktive Bevölkerungspolitik machen. Sie haben dann in einer sehr flauen Formulierung
— ich habe das hier — einen Konsens gefunden, daß man allgemein Bevölkerungspolitik machen sollte — aber doch nicht in dem Sinne, wie Sie das hier zitiert haben: daß die entwickelten Länder aufgefordert worden wären, mehr Bevölkerung zu schaffen. Wenn Sie das so gelesen haben, haben Sie das falsch interpretiert und haben auch nicht kapiert, was eigentlich dahintersteckt.Familienpolitik hat bei uns nichts mit Bevölkerungspolitik zu tun. Diese Auskunft geben wir gern zum wiederholten Male. Wir wollen den Familien helfen, ihre Kinder chancengleich zu erziehen, und wollen gleichzeitig die Entfaltung der Persönlichkeit von Kindern und Eltern ermöglichen. Meine Partei wird dazu in den nächsten Monaten neue Vorschläge machen.
Über die Verbesserung des Familienlastenausgleichs wird morgen hier im Zusammenhang mit dem Steuerpaket zu reden sein. Hier nur die Bemerkung, meine Damen und Herren, insbesondere an die Adresse der Sozialausschüßler, daß es den Erfindern der Neuen Sozialen Frage schlecht zu Gesicht steht, wenn sie über progressiv wirkende Steuerfreibeträge ausgerechnet höhere Einkommensgruppen beträchtlich von Kinderkosten entlasten wollen.Aber mindestens ebenso wichtig wie die Verbesserung des Familienlastenausgleichs erscheint uns eine bessere Vereinbarkeit von Kindererziehung und Berufstätigkeit. Deshalb wollen wir Müttern oder Vätern, die um der Kindererziehung willen vorübergehend auf eine Erwerbstätigkeit verzichten, danach die Rückkehr an den Arbeitsplatz ermöglichen. Das könnte z. B. durch die arbeitsrechtliche Freistellung der Eltern für Zeiten der Kindererziehung mit Garantie des Arbeitsplatzes geschehen. — Ich sehe schon Herrn George protestieren, der hier gleich ein glühendes Bekenntnis zur Familie ablegen wird. Er wird aber dann im selben Atemzug sagen: Für die Wirtschaft sind solche Vorschläge untragbar.
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Entsprechende Modelle in Form eines zusammenhängenden Elternurlaubs oder in Form von Arbeitszeitverkürzung sind in unserer Partei erarbeitet und auf dem Berliner Parteitag im Dezember vergangenen Jahres zum erstenmal vorgelegt und der Öffentlichkeit zur Diskussion vorgestellt worden.
Im Zusammenhang mit der Reform der Hinterbliebenenversorgung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wollen wir in der Rentenversicherung ein Jahr Kindererziehung als Beitragszeit anerkennen. Auch Sie haben sich nun ja zum Baby-Jahr durchgerungen, das sie 1972 in der damals vorgesehenen Form nicht haben wollten.
Die Generationensolidarität gebietet es, die entsprechenden Rentenerhöhungen auch Rentnern und Witwen zu gewähren, die in der Vergangenheit Kinder erzogen. haben. Die Kosten einer solchen Maßnahme bei einem Baby-Jahr liegen bei insgesamt 3,5 Milliarden DM jährlich. Ich habe soeben Herrn Braun aufmerksam zugehört, der versucht hat, die widersprüchlichen Äußerungen aus dem Lager der Union dazu in den letzten Wochen auf einen Nenner zu bringen. Dabei bin ich nicht sicher, ob der große Zampano aus Bayern das, was Sie hier vorgetragen haben, auch abgesegnet hat.
Aber gehen wir einmal davon aus!
Im selben Atemzug hat Ihr Spitzenkandidat eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben gefordert. Ich weiß nicht, wie man das in einen Kontext bringen soll, wenn Sie hier fünf oder sechs Erziehungsjahre für die Zukunft fordern, von denen jedes 2,1 Milliarden DM Beitragszahlung kostet. Das macht nach meiner Rechnung ungefähr 10 bis 12 Milliarden DM, die der Steuerzahler in die Kassen der Rentenversicherung zahlen müßte, dabei noch zwei Jahre rückwirkend, was zusammen ungefähr 3 Milliarden DM ausmachen würde. Wie Sie 15 Milliarden DM jährlich von 1985 an aus dem Bundeshaushalt aufbringen wollen, um Baby-Jahre in der Rentenversicherung zu finanzieren, auf diese Frage sind Sie uns eine Antwort schuldig.
Aus diesen Gründen bescheiden wir uns, zunächst jedenfalls, mit dem einen Jahr, mit 3,5 Milliarden DM Kosten, das wir aber auch rückwirkend geltend machen wollen. Denn wir sind der Meinung, daß die Frauen, die in schweren Zeiten sehr viele Kinder erzogen haben, auch in den Genuß dieses Baby-Jahres kommen sollen, daß wir da also nicht nur eine in die Zukunft projizierte Reform machen dürfen.
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16450 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
KuhlweinWir glauben, dieses Baby-Jahr in der Rentenversicherung wird auf jeden Fall dazu beitragen, daß Versicherungslücken für Zeiten der Kindererziehung geschlossen werden, daß mehr Frauen Anspruch auf eine eigene Rente bekommen und daß mehr Frauen ihre Rente auf diese Weise erhöhen können.Familienpolitik ist aber auch die von der sozialliberalen Koalition eingeleitete Reform der Jugendhilfe. Erlauben Sie mir als Berichterstatter für dieses Gesetz, das noch nicht auf der Tagesordnung steht, dieses ceterum censeo S): Auch die Reform der Jugendhilfe hat zum Ziel, den Eltern bessere Angebote als bisher an Kindergartenerziehung, an Krippen und Hortplätzen, an Beratungsstellen und Familienbildung zur Verfügung zu stellen.
!)
— Ich weiß, andere sagen ceterum censeo s*). Aber ich habe meine halbhumanistische Bildung in Bayern genossen. Und die Bayern, die ja alles immer ein bißchen anders machen, sagen ceterum censeo *).
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit geht zu Ende.
Ich komme sofort zum Schluß.
Wir haben gestern im zuständigen Ausschuß die Beratungen zu diesem Gesetz abgeschlossen. Ich möchte alle unter Ihnen, die die Situation der Familien in unserer Gesellschaft wirklich interessiert, dringend bitten, in den nächsten Wochen ihren Beitrag dazu zu leisten, daß dieses Gesetz im Bundesgesetzblatt erscheinen kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die flüchtige Durchsicht der Debatten, die dieses Haus zu diesem Thema in der Vergangenheit schon geführt hat, zeigt, daß die Bemühungen des Hauses, Licht in die Ursachenforschung der Bevölkerungsproblematik zu bringen, bisher nicht erfolgreich gewesen sind. Das liegt einfach daran, daß wir keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse über dieses Problem haben. Deshalb und weil ich glaube, daß das Thema sowieso äußerst sensibel und behutsam betrachtet werden sollte, meine ich, Herr Kollege Langguth, daß es keine Polemik verträgt und in Zukunft kein Gegenstand der Polemik sein sollte Es bietet sich zwar leicht für den Wahlkampf an, aber es ist eben kein Thema dafür.
Wir haben in der Debatte bereits aufgezählt, was an familienpolitischen Leistungen erbracht wurde; mein Vorredner hat es noch einmal zusammengefaßt. Ich will noch eine Anmerkung zu dem machen, was der Kollege Brandt schon angesprochen hat,*) gesprochen: zeterum zenseo**) gesprochen: keterum kenseonämlich zum Begriff „Nettoreproduktionsrate". Ich will das deutlicher machen, damit klar wird, daß nicht wir allein, sondern auch die anderen Staaten des westlichen Auslands davon betroffen sind.Ich darf aus einer Untersuchung zitieren:Diese Nettoreproduktionsrate stieg in ganz Europa in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten. Sie sinkt seit 1958 in den Vereinigten Staaten, seit Anfang der 60er Jahre in Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und Östereich, seit 1963 in Großbritannien, Italien, Norwegen, Schweden und der Schweiz, seit 1966 in der DDR und seit 1967 in der Bundesrepublik.Die Schlußfolgerung daraus ist, daß diese geradezu verblüffende Übereinstimmung zweierlei zeigt, nämlich zum einen, daß der Geburtenrückgang in allen Industriestaaten fast gleichzeitig eingesetzt hat. Es gibt dazu übrigens eine interessante Untersuchung von Professor Fuchs aus Aachen, der feststellt, daß in allen Staaten, die aus dem Bereich eines agrarstrukturierten Staates herauskommen und in den Beginn der Industrialisierung hineingehen, ähnliche Entwicklungen zu verzeichnen sind und daß sich das vorläufig bei allen Staaten, die in die Industrialisierung eingetreten sind, nicht geändert hat.Es zeigt zweitens, daß es überhaupt nicht an der Politik dieser Regierung liegt. Ich meine, wir sollten das nüchtern betrachten und diese Erkenntnis, die als einigermaßen gesichert gilt, hier annehmen.Der Bundesinnenminister hat schon dargelegt, daß 1973 die Gründung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden erfolgte und daß man sich dort intensiv bemüht, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Es ist sicher wichtig, daß die personelle Besetzung dieses Instituts verstärkt wird. Ich teile aber nicht Ihre Meinung, Herr Kollege Langguth, daß ein höherer Einsatz von Mitteln und Geld immer und sofort auch eine höhere Effizienz nach sich zieht.
— Das haben Sie praktisch damit ausgedrückt, denn Sie haben gesagt: Wenn da mehr geschehen wäre, hätten wir heute schon entsprechende Ergebnisse.
— Lieber Herr Kollege, lesen sie Ihre eigene Rede einmal nach — ich weiß nicht, ob Sie sie schon korrigiert haben —; Sie stoßen dann auf diesen Passus.
Ich meine, daß sich die Bundesregierung vorbildlich in der internationalen Zusammenarbeit in dieser Frage bewährt. Ich habe gerade vorgetragen, daß alle Staaten im westlichen Bereich von dieser Entwicklung betroffen sind. Das Sachverständigenhearing vom November 1979 — ich meine, das sollten wir ernst nehmen; Sie haben sich damit leider nicht auseinandergesetzt, Herr Kollege Langguth — hat gezeigt, daß auch in Teilbereichen noch keine abschließenden verwertbaren Ergebnisse vorliegen, die uns eine Prognoseentwicklung ermöglichten.
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Wolfgramm
Wir werden sicher Ihren Antrag an den Ausschuß überweisen. Solche zusätzlichen Prognosen aber, die Sie fordern, beinhalten auch noch das Problem der mittelfristigen Planungsexpertise.
Sie wissen, daß sich die Expertisen im wirtschaftlichen Bereich von einem Jahr zum anderen verändern. Um wieviel mehr gilt das in einem Bereich, der der Individualität und Sensibilität des einzelnen nach wie vor überlassen bleiben wird! Wir müssen uns davor hüten, voreilig Schlüsse zu ziehen, zu denen wir erst nach einer intensiven Untersuchung und Betrachtung gelangen können.Ich möchte auch darauf hinweisen, daß diese — sicher notwendigen — Untersuchungen sehr behutsam durchgeführt werden müssen. Sicher ginge eine berechtigte Empörungswelle durch dieses Haus, wenn die einzelnen Mitglieder dieses Hauses danach gefragt würden, was sie selbst auf diesem Gebiet getan oder nicht getan haben und welche Motive sie hatten, sich in der Frage der Bevölkerungspolitik so oder so zu entscheiden. Wir müssen das wirklich — auch in der Ursachenforschung — mit der Diskretion und der Behutsamkeit behandeln, die das Thema verdient.Es gibt sicher eine Menge Überlegungen bezüglich der Sachverhalte, die Ursachen der Entwicklung sein könnten: die veränderten Lebensvorstellungen, das eigenständige Rollenverständnis der Frauen, die wachsenden Bedürfnisse nach Freizeit und Erholung, die weitere Erfülltheit des Lebens durch` Berufsfortbildung usw. All das ist aber Spekulation. Die Position der heilen Welt gibt es nicht mehr. Ich bin jetzt versucht, Ihnen die Situation in dem romantischen Gedicht „Luise" von Johann Heinrich Voss aus dem 18. Jahrhundert zu beschreiben. Da gibt der weißhaarige Vater, Pastor des Ortes, seine Tochter, die Braut, in die Hände des Bräutigams, und damit ist vollständig vorgezeichnet, wie sich dieser Lebensweg — wenn nicht ein schwerer, unvorhergesehener Schicksalsschlag eintritt — erfüllen wird. Aber das alles ist nicht mehr, und das alles können und wollen wir auch gar nicht mehr. Übrigens erhebt sich dabei die Frage, ob denn die anderen, die in der vorindustriellen Zeit nicht privilegiert waren, tatsächlich so gut und so vorbestimmt haben leben können.Die Mobilität unseres Lebens setzt hier doch ganz andere Zäsuren. — Sie sehen, auch ich bewege mich hier ein wenig im Bereich der Spekulationen. Ich möchte aber auf diesem Wege jetzt nicht weitergehen, eben weil es keinerlei gesicherte Aussage gibt.Der frühere Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Herr Professor Schubnell, hat den Hinweis gegeben, daß es im Blick auf Erkenntnisse der Psychologie und insbesondere der Aggressionsforschung sinnvoll sein könnte, einen Rückgang der Bevölkerung hinzunehmen. Dafür nur ein Beispiel: Die Bundesrepublik hat 299 Einwohner pro qkm, Frankreich, das als einziges vergleichbares Land ein gewisses Wachstum zu verzeichnen hat — wobei man sich sicherlich mit der Frage beschäftigen muß, ob die von den Franzosen geschaffenen Rahmenbedingungen darauf möglicherweise Einfluß haben —, hat 92 Einwohner pro qkm. Aus diesen Angaben, die ich hier ja nur unsystematisch zusammentrage, ersehen Sie, daß das Problem vielleicht doch sehr viel komplexer und vielschichtiger ist und daß es eben der Polemik außerordentlich unzugänglich ist.Für die Freien Demokraten möchte ich sagen: Wir sehen natürlich, daß das Wohl des Individuums nicht von dem der Gemeinschaft zu trennen ist. Aber wir wollen so wenig Staat in der Familie wie möglich. Jeder einzelne und jede Familie muß auch in Zukunft selbst entscheiden, wie er bzw. sie sich in dieser Frage verhalten will. Wir können hier nicht mehr tun als eine Hilfe anbieten. Ganz sicher ist es nicht so, wie der Spitzenkandidat der Opposition gesagt hat, daß nämlich die Regierungspolitik zur inneren Aushöhlung der Familie beitrüge und damit bevormundend wäre. Solange die bevölkerungspolitische Begründung Antriebsfeder der Familienpolitik ist, darf man, meine ich, wohl zurückfragen, wer hier wirklich Bevormundung im Sinn hat — wir Freien Demokraten nicht.
Das Wort hat die Frau Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklung der Geburtenzahlen und ihre sozialen Komponenten, der Altersaufbau und die Wanderungsbewegung, sind unter den verschiedensten Aspekten für jedes Volk von Interesse. Im Abstand von einigen Jahren bewegt das Thema regelmäßig die Öffentlichkeit. Auch der Deutsche Bundestag hat sich bei verschiedenen Anlässen — in breiter Debatte zuletzt im Jahre 1975 anläßlich der Beratung der Großen Anfrage zur Situation der Kinder in Deutschland — mit entsprechenden Daten befaßt. Noch nie zuvor aber, meine Damen und Herren, ist die Diskussion mit so eindeutig bevölkerungspolitischem Ansatz herbeigeführt worden wie diesmal mit der Großen Anfrage der CDU/CSU über Grundprobleme der Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb möchte ich in Ergänzung zu dem, was der Innenminister hier vorgetragen hat, zunächst einmal deutlich klarstellen: Auch die Bundesregierung verfolgt die Bevölkerungsentwicklung, sie macht aber keine Bevölkerungspolitik. Es geht nicht um möglichst viele Kinder durch Geburtenprämien, sondern um Familienpolitik mit dem Ziel, unseren Familien und ihren Kindern mit den richtigen Maßnahmen zu möglichst guten Lebensbedingungen und Entwicklungschancen zu verhelfen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf Frage 12 dargelegt, welche finanziellen Leistungen den Familien zugute kommen. Allein der Finanzauf-
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16452 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Bundesminister Frau Huberwand für das Kindergeld hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Die Ausbildungsförderung, die man hier auch nennen muß, hat sich auf das 20fache gesteigert. Das Wohngeld stieg um mehr als 200 %. Eine stärkere Steigerung familienbezogener Leistungen hat es in keinem Jahrzehnt zuvor gegeben. Und nun will das neue Steuerpaket, das wir morgen hier einbringen werden, den Familienlastenausgleich durch den Kindergrundfreibetrag und den Kindergeldzuschlag weiter ausbauen und die Wohngeldregelung noch familienfreundlicher gestalten. Die Bundesregierung tut dies nicht, um Eltern sozusagen in ihren privaten Entscheidungen zu manipulieren, damit bevölkerungspolitisch etwas dabei herauskommt. Auch aus den Reihen der Opposition hört man gelegentlich, eine Politik, deren Ziel eine Steigerung der Geburten um der Bevölkerungszahl willen sei, wäre unmenschlich. Dem stimmen wir zu. Gerade deswegen lehnen wir es aber ab, daß nun wieder wie in Frage 12 nach Maßnahmen gefragt wird, mit denen die Regierung der Bevölkerungsentwicklung entgegensteuern soll. Wir lehnen es ab, daß alles, was der Opposition an der Regierungspolitik mißfällt, zur Ursache des Geburtenrückgangs erklärt wird. In der Frage 8 werden hierfür z. B. Defizite in der Familienpolitik, der Gesellschafts- und Bildungspolitik verantwortlich gemacht, als ob es nicht, wie hier heute schon dargelegt worden ist, einen langfristigen, über 100 Jahre alten Trend zur kleineren Familie gäbe.Der Geburtenrückgang ist Teil einer ins letzte Jahrhundert zurückreichenden historischen Entwicklung, die für alle Industriegesellschaften typisch ist. So ist etwa von 1900 an bis zum Beginn der 60er Jahre die Zahl der Kinder, die durchschnittlich auf 100 Ehen entfallen, um die Hälfte zurückgegangen, nämlich von 400 auf 200. In der Großen Anfrage fragt die Opposition nur nach der Entwicklung der Geburtenzahlen von 1955 bis 1978. Da die Zahl der Geburten vorübergehend bis 1964 wegen mehrerer kurzfristiger Faktoren — Herr Baum hat dazu auch etwas gesagt — anstieg, wird auf diese Weise der Eindruck erweckt, der Geburtenrückgang sei im wesentlichen ein Phänomen der letzten 15 Jahre. 'Ober die Ursachen des langfristigen Prozesses des Geburtenrückganges gibt es bis jetzt nur zahlreiche Vermutungen. In der Wissenschaft werden Bündel von Faktoren aufgezählt, die in einem komplexen Wirkungszusammenhang stehen. Sichere Erkenntnisse gibt es nur insoweit, als es bei der Bevölkerungsentwicklung um grundsätzliche Verhaltensänderungen geht, deren Entstehen weit zurückreicht. Es handelt sich gerade nicht um Abläufe, die sich mit finanziellen Anreizen wirksam beeinflussen oder gar überspielen ließen, selbst wenn man dies wollte.Die Bundesregierung hält es deshalb nicht für sinnvoll, langfristige Strategien und Konzeptionen zur Bevölkerungsentwicklung, sozusagen Babyboom-Strategien zu entwickeln, wie dies in Frage 15 gefordert wird. Das Phänomen des Geburtenrückgangs ist soziologisch von Bedeutung, aber es signalisiert keine Katastrophe. Wie wenig richtig es ist, Modellrechnungen für das Jahr 2030 als zuverlässige Prognosen auszugeben, zeigt z. B. die Tatsache, Herr Langguth, daß das Statistische Bundesamt 1966 eine Bevölkerungsvorausschätzung für das Jahr 2000 gemacht hat, von der es bei seiner Vorausschätzung im Jahre 1972, also nur sechs Jahre später, schon um rund 14 Millionen Köpfe abwich.Ein hervorragendes Beispiel für die Dramatisierung dieses Themas und das, was nachher daraus wurde, haben wir alle, wenn auch meist unbewußt, miterlebt. Der Abgeordnete Petzold von der Wirtschaftspartei sagte nämlich 1925 im Deutschen Reichstag wörtlich:Wir alle wissen, wie außerordentlich gefährlich die geringe Geburtenziffer für unser deutsches Vaterland ist ... Wenn Sie die Broschüre aufmerksam durchlesen ..., werden Sie geradezu grauenvolle Ziffern lesen, und Sie werden daraus die Empfindung schöpfen, daß in absehbarer Zeit das deutsche Volk auch zu den Gewesenen gehören wird.Vier Jahre später, 1929, erklärte der Abgeordnete Trossmann von der Bayerischen Volkspartei ebenfalls im Reichstag:Das deutsche Volk ist tatsächlich ein sterbendes Volk geworden, der Rückgang der Geburtenziffer ist geradezu katastrophal. Wir sind auch deswegen veranlaßt, etwas Besonderes zu tun, weil andere Nationen sich der Fürsorge für die Kinderreichen in einem viel höheren Maße annehmen, als das z. Z. in Deutschland der Fall ist.1930, also nur ein Jahr später, wagte dann der Abgeordnete Strathmann von der Deutschnationalen Volkspartei die folgende Prognose:Es ergibt sich, daß wir von der Mitte der 40er Jahre an unter der Voraussetzung, daß wir die Geburtenfrequenz des Jahres 1928 stabilisieren werden, ein abnehmendes Volk sein werden ... Ich brauche nur daran zu erinnern, daß z. B. der Unterbau für die Sozialversicherung und ihre Aufrechterhaltung in der bisherigen Form dadurch aufs ernstlichste gefährdet ist, und die ganze Sozialversicherung, vor allem die Invalidenversicherung, ins Wanken geraten wird. Die Zersetzungserscheinungen in unserem Volke, mit denen wir es hier zu tun haben, hängen natürlich aufs engste mit dem zusammen, was man wohl als den Verfall der Familie und ihres Bestandes bezeichnen muß .. .So wurde vor über 50 Jahren diskutiert. Das klingt uns irgendwie bekannt. Ich erinnere mich an einige Äußerungen des Herrn Abgeordneten Kohl, die er in den letzten Jahren gemacht hat und in denen ich ganz ähnliche Passagen wiederfinde.Aber nicht nur die Abgeordneten der Weimarer Zeit haben sich getäuscht. 1934 vertrat Curt Thomalla in einem Buch, das mit dem Titel „Warum Bevölkerungspolitik — eine deutsche Schicksalsfrage" bezeichnet ist, die Auffassung, wenn die Geburtenzahl nicht wieder ansteige, würden „bereits in wenigen Jahrzehnten die dann arbeitsfähigen Schichten unseres Volkes, die jetzt noch Kinder sind, erdrückt ... von unsinnig gesteigerten Lasten für die Sozial-
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Bundesminister Frau Huberversicherung, oder wir müßten die alten Leute einfach verhungern lassen".
Thomalla hat die Alterslast — das ist nun interessant — für das Jahr 1980 gar nicht überschätzt. Die von ihm prognostizierte Katastrophe hat es jedoch nicht gegeben, weil die nicht vorhersehbare gewaltige Steigerung der Produktivität und der Einkommen dazu geführt haben, daß die erwerbstätige Bevölkerung heute die Alterslast tragen kann — ja, man muß sogar sagen: Die Renten in Deutschland waren nie besser als jetzt.
Eine Vorausschätzung über nur 30 Jahre ist schon ungeheuer schwierig. Das Statistische Bundesamt hat 1953 als wahrscheinliche Bevölkerungszahl für 1982 49,3 Millionen und als optimistische Entwicklung 52,9 Millionen geschätzt. Wir wissen heute, daß vorübergehender Geburtenanstieg und Zuwanderung zu einer sehr viel höheren Zahl geführt haben.Diese Beispiele sollten jedermann deutlich machen, daß eine Dramatisierung der Bevölkerungsentwicklung unverantwortlich ist. Wer das Thema sachlich und nicht polemisch angeht, weiß, daß gültige Voraussagen über einen größeren Zeitraum eben nicht möglich sind und daß es nicht allein von der Altersstruktur abhängt, wie die Mittel für die soziale Sicherung aufgebracht werden.Niemand kann, wie in Frage 17 unterstellt, wirklich sagen, welche Auswirkungen die Bevölkerungsentwicklung 2030 auf Staat und Gesellschaft, d. h. Familie, Wirtschaft, Rente, Infrastruktur und Stadtentwicklung hat. Wir halten es für absolut ungerechtfertigt, wenn die Opposition das Bild einer beängstigenden Zukunft malt, in der die Erwerbstätigen nicht mehr in der Lage seien, die Mittel für die Renten aufzubringen. Und wir halten es für einen Versuch von Volksverdummung, wenn der Öffentlichkeit eingeredet werden soll, die Menschen in der Bundesrepublik seien heute ärmer denn je.Oder wie anders ist denn die Frage 11 zu bewerten, ob die Regierung nicht endlich etwas tun wolle, damit Eltern von Kleinkindern nicht beide gezwungen sind — so allgemein wird das da gefragt —, arbeiten zu gehen.Zugegeben, es arbeiten jetzt mehr Elternpaare, aber nicht deshalb, weil wir so viel ärmer sind als die früheren Generationen. Die Ansprüche an den Lebensstandard sind gestiegen und der Wunsch vieler Frauen nach Berufstätigkeit eben auch.Die Arbeitnehmereinkommen in der Bundesrepublik sind in den letzten 30 Jahren real um über 200 % gestiegen. Unter Berücksichtigung des Kaufkraftverlustes verfügt beispielsweise ein Industriefacharbeiter mit drei Kindern heute über das Zweieinhalbfache des Nettoeinkommens von 1950. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familien können daher wohl kaum die Ursache dafür sein, daß heute mehr Frauen erwerbstätig sind. Tatsächliche Armut ist kein Hauptproblem der Bundesrepublik Deutschland, und das wird auch in dem von Ihnen so gern zitierten Familienbericht bestätigt.Wir versuchen durchaus, etwas für die kleinen Kinder und jungen Mütter zu tun, z. B. mit dem Mutterschaftsurlaub. Aber das Zurückdrängen der Frau auf ihre sogenannten „eigentlichen" Aufgaben am Familienherd halten wir nun einmal nicht für das Rezept, nach dem alle leben bzw. nach dem wir handeln wollen.
Wenn Sie einer Sozialdemokratin nicht glauben, meine Damen und Herren von der Opposition, so kann ich Ihnen empfehlen, den familienpolitischen Grundsatzartikel zu lesen, den die letzte Familienministerin der CDU vor gut zehn Jahren geschrieben hat. Sie ruft darin zu kritischer Wachsamkeit gegenüber unzeitgemäßen Rollenbildern der Frau auf. Solche Töne, wie wir sie damals gehört haben, hören wir heute sehr selten von Ihnen.Für ganz abwegig halten wir die Wiederholung des schon 1977 gestarteten Versuches, die Reform des § 218 als eine Ursache des Geburtenrückgangs herauszustellen. Diese Vermutung ist nicht nur angesichts der Langfristigkeit der Prozesse der Bevölkerungsentwicklung unsinnig, sie unterstellt auch, daß durch die Reform eine Zunahme der Abbrüche — gegenüber den Dunkelziffern der früheren illegalen Aborte — entstanden ist. Dafür gibt es überhaupt keine Belege.
Im Jahre 1979 sind die Zahl der Geburten und die Zahl der Eheschließungen zum erstenmal seit Jahren wieder gestiegen. Dabei ist besonders das Ansteigen der Zahl der Eheschließungen interessant, da die Zunahme um 5 % nur zu einem kleinen Teil, 1,7 %, aus der Zunahme der Besetzung der betreffenden Altersjahrgänge erklärbar ist.In Frage 3 hatte die Opposition die Bundesregierung ausdrücklich aufgefordert, bei ihren Aussagen auch den Rückgang der Zahl der Eheschließungen im Jahr 1979 zu berücksichtigen. 1979 verlief aber anders, als Sie das erwartet hatten, als Sie Ihre Fragen abfaßten. Das ist sicherlich noch kein Beweis für eine Umkehr der Entwicklung — dies behaupte ich nicht. Aber es ist ein Beweis dafür, daß es nicht sinnvoll ist, die politische Diskusion über die Bevölkerungsentwicklung mit den Zahlen für kurze und nicht aussagefähige Zeiträume bestreiten zu wollen.
In der Großen Anfrage bezieht sich die Opposition auch auf die Geburtenentwicklung in der DDR. Es wird behauptet, der Anstieg der Geburtenzahlen in der DDR sei auf gezielte, natürlich das staatlich gelenkte Wirtschaftssystem einschließende bevölkerungspolitische Maßnahmen zurückzuführen. Es ist umstritten, ob die Geburtenzahlen tatsächlich mit langfristiger Wirkung gestiegen oder ob die Geburten nur zeitlich vorverlagert worden sind. Auf jeden Fall wäre aber auch die erste Alternative für mich überhaupt kein Argument; dabei sehe ich einmal ganz von dem politischen Rahmen
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16454 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Bundesminister Frau Huberab, in dem in der DDR Bevölkerungspolitik versucht wird.Ich kann allen, die solche Überlegungen für die Bundesrepublik anstellen, nur dringend raten, die gewaltigen Finanzmittel, die für eine solche pronatalistische Politik benötigt werden, in eine grundsätzlich familien- und kinderfreundliche Politik zu investieren. Eine Politik, die Frauen durch finanzielle Leistungen zum Gebären bewegen will, ist unmenschlich.
Sie könnte außerdem am ehesten ein Anreiz für die wirtschaftlich schwachen Bevölkerungsschichten sein.Die Bundesregierung bejaht dagegen ausdrücklich die Frage 16 aus der Großen Anfrage der Opposition. Der Staat soll systematisch die Lebensbedingungen für die Familien und die Kinder verbessern, und dies tut die Bundesregierung Schritt für Schritt. Wir widmen uns dabei durchaus, Herr Braun, den Problemen der großen Familien, wie Sie bei den letzten Verbesserungen im Steuerrecht gesehen haben, und den Alleinstehenden, für die es in den letzten Jahren ebenfalls mehrere bedeutende Besserstellungen gegeben hat.Wir finden — mit Ihnen — auch, daß die Verantwortung zwischen den Generationen zu stärken ist. Solidarität brauchen nämlich die Alten und die Jungen und — um das anzumerken — auch die Kinder unserer ausländischen Arbeitnehmer. Über das Asylproblem findet ja heute abend noch eine besondere Debatte zum Tagesordnungspunkt 19 statt.Eine positivere Haltung unserer Gesellschaft gegenüber den Familien wünschen auch wir uns. Das habe ich vielfach hier zum Ausdruck gebracht. Junge Paare erfüllen um so lieber ihre ja vorhandenen Kinderwünsche, je mehr wir alle diese Kinder als eine Bereicherung unseres Lebens akzeptieren. Wir werden nicht kinderfreundlicher durch Verordnungen, nicht durch staatliche Geldleistungen und auch nicht durch das Starren auf Tabellen. Aber wenn wir wieder kinderfreundlicher würden, hätten vielleicht auch diejenigen mehr Spaß an der Familiengründung, die heute in der Familientabelle fehlen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. George.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute — bei einem hochsensiblen Gebiet — wieder eine Diskussion, die so verläuft, daß sich der zuständige Minister sehr viel Mühe gibt, uns zu erklären, daß die Sache nicht ganz so dramatisch ist; vermutlich deshalb, weil er am 10. Oktober 1978 einen dicken Bericht versteckt hat, damit uns keine Antwort gegeben wird. Aber dennoch kündigt er heute an, daß im April 20 Wissenschaftler wichtige analytische Erkenntnisse vorlegen.Wir haben als zweites erleben dürfen, daß man die CDU/CSU wieder in die Ecke hineinbringt, daß sieBevölkerungspolitik instrumentalisiert behandelt und daß man dennoch zwei Drittel aller Antworten aus allen anderen politischen Bereichen gibt. Wir haben das Erlebnis gehabt, daß Frau Gesundheitsministerin ein Drittel ihrer Rede mit Weimarer Zitaten und mit Dritten-Reich-Zitaten bestreitet, obwohl sie doch endlich zur Kenntnis nehmen müßte, daß heute Wirtschafts-, Gesellschafts-, Familienpolitik und alle anderen politischen Bereiche so interdependent sind, daß das Wort von der „Panikmache", daß das Wort von „Wahlkampfmunition", daß das Wort von der „Volksverdummung", wie sie es gebraucht hat, der Diskussion und dem Wert der Problematik nicht gerecht werden.
Wer sich mit den sensiblen bevölkerungspolitischen Fragen eingehender — und nicht instrumentalisiert — befaßt, entdeckt in der Literatur aus der Mitte der 70er Jahre bereits zahlreiche warnende Signale, die man für die westliche Industriewelt,, ganz besonders aber für die Bundesrepublik Deutschland, unter dem fragenden Titel zusammenfassen könnte: „Schrumpfende Bevölkerung — Wachsende Problemei Viele warnen mit Recht und mit begründeter Befürchtung vor einer „tickenden Zeitbombe der Entvölkerung" in der westlichen Welt und umgekehrt vor einer „Überbevölkerung" in den Entwicklungsländern.Unser Problem und der Teilaspekt, über den ich heute hier sprechen möchte, ist nicht so sehr der Rückgang der Bevölkerungszahl wie vielmehr der drohende Überalterungsprozeß.Im nationalen Rahmen werden die Probleme inzwischen zunehmend gesehen, offensichtlich auch bei der Bundesregierung und bei den sie tragenden Parteien. In den politisch notwendigen Alternativen jedoch unterscheiden sich die Zielvorstellungen erheblich. Dies gilt noch mehr im Hinblick auf die Analysen der Realitäten. Ich finde, Gerd Langguth hat eine sehr saubere Analyse der Realitäten gegeben, und nur darum geht es heute in der Diskussion.Wenn man die Mannschaft der Verantwortlichen heute danach untersucht, wohin sie gehören, findet man vier Kategorien.Da gibt es einmal die „Zeitenwender". Der SPD-Linke Erhard Eppler steht mit seinem Buch „Ende oder Wender an der Spitze dieser Gruppe.Zweitens gibt es die „Verharmloser". Bundeskanzler Helmut Schmidt steht mit seinem Satz aus der Regierungserklärung vom 17. Mai 1979 für diese Kategorie. Er sagte damals: „Ich vermag darin keine Tragödie zu sehen."Drittens gibt es die „Ideologen". Und hier sind es zwei unterschiedliche Gruppen: die einen wollen „zurück zur Natur", die anderen seitwärts zum „demokratischen Sozialismus", und sei es über den „Orientierungsrahmen '85".
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16455
Dr. GeorgeViertens gibt es diejenigen, die mit dem Konzept der „Neuen Sozialen Frage" dem sozialen Wandel gerecht zu werden versuchen.
In einer intensiven ordnungspolitischen Grundsatzdiskussion
— hören Sie doch zu und versuchen Sie, auch mich zu rubrizieren — bemühen diese sich um die Konturierung einer zukunftsgerechten sozialen Ordnungspolitik.
Meine Damen, meine Herren. Solange es Menschen auf dieser Erde gegeben hat und noch gibt, gibt es demographische Höhen und Täler, seit der Industrialisierung in der Tat mit abflachender Tendenz. Aber die demographischen Veränderungen in den westlichen Industriegesellschaften sind seit Mitte der 60er Jahre abrupt geschehen, wie Sie selber, Herr Bundesinnenminister, in Ihrem Bericht vom 10. Oktober 1978 festgestellt haben. Obwohl sie schwerwiegende Konsequenzen in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft aufwerfen, genießen Bevölkerungsprobleme, generatives Verhalten wie demographische Faktoren, bei weitem noch nicht — wie Sie links und rechts von mir auch heute demonstriert haben — die politische Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Sie versteigen sich sogar teilweise zu einer so lächerlichen Bemerkung wie „New Yorker Stromausfall" und ähnliche Dinge.Wir wollen heute nichts anderes, als das Problembewußtsein von uns allen schärfen, um notwendige politische Alternativen zu stimulieren und Lösungen in Gang zu setzen.Völlig zu Recht weist nämlich die Kammer der Evangelischen Kirche — und viele andere auch — in ihrer Erklärung vom 14. März 1978 darauf hin: „Wichtig bei Bevölkerungsvorgängen ist die lange Anlaufzeit etwaiger Gegenmaßnahmen.' Da klingt es fast wie Hohn, wenn der Herr Bundeskanzler — im unbeirrbaren Glauben an seine Fähigkeiten zum crisis management — wieder behauptet, das sei nicht dramatisch, und wenn er — ganz im Gegensatz zu Ihnen, Herr Bundesinnenminister — die Veränderung für „beherrschbar" erklärt, während Sie vorhin gesagt haben, dies sei „keine Frage der Machbarkeit".Lassen Sie mich nun einige Gedanken zur Alterssicherung ansprechen.Der Überalterungsprozeß verläuft sehr viel schneller, als aus der fünften koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung und aus der modellhaften Weiterschreibung für die Jahre 2030 und 2070 erkennbar ist. Wer hier sagt, das sei „Kaffeesatzleserei", dem sei geantwortet: Das gilt für die Prognosen der Bundesregierung, was das Wachstum, das ja ständig kommen sollte, betrifft. Aber das gilt mit Sicherheit nicht für bevölkerungspolitische Grundtendenzen; denn Menschen, die heute geboren sind, sind da, im Gegensatz zu dem Wachstum, das sie stimulieren wollen und das dennoch nicht kommt.
Die Lebenserwartung von lebendgeborenen Knaben betrug in den Jahren 1970 bis 1972 67,41 Jahre. Sie ist auf 68,99 Jahre in den Jahren 1976/78 angestiegen. Die Lebenserwartung der 60jährigen Männer betrug im gleichen Zeitraum 15,31 und bereits einige Jahre später 16,00 Jahre. Von großem Gewicht ist zusätzlich, daß im gleichen Zeitraum von 100 000 lebendgeborenen Knaben etwa 75 500 mit dem Erleben des 60. Geburtstags rechnen konnten. Bereits 1976/78 waren es schon etwa 79 500. Sie sehen, daß sich das vorausberechnen und in Daten fassen läßt.Die Lebenserwartung lebendgeborener Mädchen stieg von 73,83 Jahren in 1970/1972 auf 75,64 Jahre im Durchschnitt der Jahre 1976/78, die der 60jährigen Frauen in der gleichen Zeitspanne von 19,12 auf 20,19 Jahre. Auf 100 000 lebendgeborene Mädchen stieg im gleichen Zeitraum die Zahl der 60-JahresErwartung von 86 900 auf 88 500.Meine Damen, meine Herren, diese Berechnungen, schwarz auf weiß für jeden von uns nachkontrollierbar, basieren auf der fünften koordinierten Bevölkerungsschätzung. Diese ihrerseits basiert allerdings auf Werten aus den Jahren 1970/72. In fünf Jahren hat sich die Lebenserwartung — und deshalb habe ich uns allen diese Zahlen zugemutet — so dramatisch und so schnell verändert.Vergleicht man die Entwicklung der Lebenserwartung bei den verschiedenen Altersstufen, so kann man unschwer erkennen, daß die Steigerung der Lebenserwartung besonders bei den Angehörigen älterer Jahrgänge sehr stark ist. Da dies nicht nur für die Rentnerjahrgänge, sondern auch für die Jahrgänge der älteren Erwerbstätigen gilt, hat dies für die Alterssicherung zunächst zur Folge, daß einerseits die Ausgaben für die Alterssicherung steigen, andererseits aber auch die Zahl der Erwerbstätigen besonders in den älteren Jahrgängen auf Grund geminderter Sterblichkeit höher ist als früher.Die demographischen Daten für das Jahr 1979 lassen erwarten, daß die Lebenserwartung in allen Alterskategorien noch stärker ansteigt. Ich meine, daraus sollten wir alle Konsequenzen ziehen und uns überlegen, ob und wie wir den Generationenvertrag, zu dem wir uns alle bekennen, dauerhaft absichern können.Wie wichtig es ist, dieses Problem in die Überlegung einzubeziehen, geht u. a. auch aus den Modellrechnungen hervor, die PROGNOS gemacht hat. Sie wissen, auch diese Modellrechnungen stammen aus dem Jahre 1977. Sie haben sich teilweise sogar noch zum Negativen hin verändert. PROGNOS hat in seinen verschiedenen Modellrechnungen unter Zugrundelegung des damals geltenden Rentenrechts für das Jahr 2030 Beitragssätze in der Rentenversicherung von 26,6 bis 41,5 % als notwendig errechnet.
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16456 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Dr. GeorgeIch will hier nicht schwarz malen. Aber ich will uns alle auffordern, darüber nachzudenken, was wir tun müssen. Zumindest müssen wir der Bevölkerung von heute sagen: Wenn wir das alles so laufen lassen, dann wird das in jenen Zeiten so aussehen.In dieser Modellrechnung gibt es eine mittlere Analyse, bei der der Beitragssatz bei konstanten Lebenserwartungen im Jahr 2030 auf 30,3 % ansteigt. Wenn man aber weiterrechnet und ab dem Jahr 2000 ein zusätzliches Jahr Lebenserwartung hinzurechnet, dann kommt ein Beitragssatz von 33,3 % bei einer durchschnittlichen jährlichen Leistungs- und Einkommenserhöhung von 6,5 % heraus. Es steht also jetzt bereits in den Sternen, ob das über Jahre hinweg durchzuhalten ist.Tatsächlich stieg bereits in dieser Zeitspanne, die ich hier genannt habe - sechs Jahre —, die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern um 1,58 Jahre, also eine um 18 Monate erhöhte Rentenlast, und bei Frauen um 1,81 Jahre.Die Unionsparteien haben kein Verständnis dafür, daß dieses Problem von den Koalitionsparteien, so wie es teilweise auch heute geschehen ist, verniedlicht wird. Dies gilt auch für die rentenpolitischen Alternativen der SPD, die einstmals als ,Adler" in die Welt gesetzt wurden und in Stuttgart zu einem „Minispatzen" zusammengeschnitten worden sind.
Was die Rentenversicherung von 1984 angeht
— das Wehnersche eine Babyjahr hin, die eins bis fünf Erziehungsjahre der CDU/CSU her —, so meine ich: unter familien- und bevölkerungspolitischen Aspekten — Sie sehen, ich habe den Mut, dieses Wort trotz Verfemung, trotz Verketzerung in den Mund zu nehmen — —
— Herr Wehner, schönen Dank, daß Sie mich jedesmal angreifen.
— Ich habe mir zum Grundsatz gemacht, einigeDinge nicht anzusprechen. Dazu gehören auch Sie!
Ich finde, daß unter familien- und bevölkerungspolitischen Aspekten die Frauen, die Ehepartner und die Familien zu Recht erwarten, daß dieses Parlament im finanziellen Bereich nicht kleckert, sondern klotzt und daß es im rechtlichen und im gesellschaftspolitischen Bereich die negativen Fakten wirklich wieder ins rechte Lot bringt.
Die Familienkomponenten sind unter Zukunftsperspektiven für die Gestaltung des zukünftigen Rentenrechts wichtiger als die Weckung von Hoffnungen auf ebenfalls kostenträchtige weitere Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze.Im Ergebnis bleibt festzuhalten, unabhängig davon, ob die demographischen Kurven nach Mini-, Midi- oder Maximodellen verlaufen:Erstens. Den Generationenvertrag in der Alterssicherung müssen wir überwiegend aus eigener Kraft bewältigen und zu ihm stehen.Zweitens. Bei der Gestaltung des Rentenrechts 1984 müssen alle politischen Kräfte in unserem Lande gemeinsam dafür sorgen, daß nicht durch falsche Weichenstellung langfristig unlösbare Finanzierungsprobleme geschaffen werden.Drittens — das deutete vorhin ein Kollege der SPD schon an —: Der Versuchung zu überzogenen strukturellen Leistungsverbesserungen muß von uns allen widerstanden werden. Sie ist nämlich in dem vor uns liegenden Jahrzehnt sehr groß, weil das sogenannte Renten-Tal der 80er und 90er Jahre zunächst einmal die Relation zwischen Beitragszahlern und Rentnern verbessert und die daraus folgende Verbesserung der Liquidität Begehrlichkeit wecken könnte.Lassen Sie mich noch ein paar Gedanken zum Arbeitsmarkt einfügen. Es tut mir leid, Herr Kuhlwein, daß ich nicht die Wirtschaftskomponente so bringe, wie Sie sie erwartet haben.Zunächst einmal geht es global darum, daß eine schrumpfende Bevölkerung, wie immer man dazu steht, langfristig Chancen für qualitatives und quantitatives wirtschaftliches Wachstum mindert.
Zurückgehende Absatzerwartungen dämpfen tendenziell auch die Investitionsbereitschaft in allen Bereichen, die von der Zahl der Kinder oder von der Bevölkerungszahl insgesamt abhängig sind.
— Dann müssen wir eben eine andere Entwicklungshilfepolitik machen; einverstanden; aber so wie jetzt, können wir nicht weitermachen.Stille Arbeitszeitverkürzungen von zirka 1 % pro Jahr, wie das in den letzten 20 Jahren gelaufen ist, tarifvertragliche Arbeitszeitverkürzungen — z. B. die 35-Stunden-Woche —, gesetzliche Verkürzung der Lebensarbeitszeit, z. B. Absenkung der flexiblen Altersgrenze oder Verlängerung der Schul- und Ausbildungsdauer, mögen vielleicht dem derzeitigen, noch wachsenden, Arbeitnehmerpotential helfen, in Brot und Arbeit zu kommen. Wissen müssen wir aber, daß wir, wenn die Geburtenzahlen weiter sinken, wie das im Trend der letzten Jahre der Fall ist, möglicherweise sehr bald vor einer Mauer sozialer Besitzstände stehen, die erfahrungsgemäß neue Lösungen erheblich erschwert. Alles über die Produktivität von Mikroprozessoren und technologischen Fortschritten abzufangen, wird nicht gelingen.
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Dr. GeorgeIch möchte das an einem Bild aus dem Arbeitsmarkt plastisch machen. In den bevorstehenden Jahren konkurrieren auf dem Stellenmarkt starke aus dem Ausbildungssystem wachsende Jahrgänge von Jugendlichen mit zusätzlich wachsenden Zahlen — Hunderttausenden — von jüngeren Frauen, die zu Recht auf den Arbeitsmarkt drängen; auch weil sie im Gegensatz zu früheren Jahren nicht vollständig oder zeitweilig durch Kindererziehung aus dem Berufs- oder Erwerbsleben fernbleiben. Wir müssen die Konkurrenz dieser beiden Personengruppen sehen. Viele — auch menschliche — Probleme könnten wir wenigstens annäherungsweise bewältigen, wenn sich die Parlamentarier und alle Verantwortlichen dazu verstünden, die Rahmenbedingungen — und das ist unser Anliegen — dafür zu verbessern, daß die Bereitschaft von Eltern, Kinder zu bekommen, nicht wieder von den Rahmenbedingungen negativiert wird.
Das Schicksal des im Orkus verschwundenen „Nahezu-Geheim-Dokuments" des Innenministeriums und die „Verharmlosungstaktik" der Bundesregierung sind symptomatisch dafür, daß Bundesregierung und Regierungsparteien die sich bereits heute deutlich abzeichnenden Konsequenzen der „Entvölkerungskrise" nicht zur Kenntnis nehmen oder zur Kenntnis nehmen wollen. Erst recht nicht haben sie den Mut, über den Tellerrand der nächsten Bundestagswahl hinweg Strategien zur Überwindung der Krise einzuleiten. Da spricht Frau Minister Huber von einer „Baby-Boom-Strategie". Wer will das denn? Niemand will das. Wir wollen — und jetzt zitiere ich wörtlich aus dem Bericht des Innenministeriums, „Strategie 4"
— in der Tat, Herr Stark, in der Tat —,
nämlich Strategien einer Ehe-, Familien- und Kinderfreundlichkeit.Ich meine, es war ein Verdienst der CDU/CSU, gegen starke Widerstände durchgesetzt zu haben, daß die Langzeitprobleme der negativen Bevölkerungsentwicklung zunehmend in das Bewußtsein von Wissenschaftlern, Verbänden, von Regierungen in Bund und Ländern und, hinsichtlich der Konsequenzen z. B. für die Regionalplanung, auch von Kommunalpolitikern gekommen sind.
Wir hoffen zuversichtlich, daß das teilweise auch in diesem Hause rechts und links der Fall sein wird.Das Jahr 2030, das von manchen zu Unrecht in die Ebene einer uninteressanten — das ist hier wieder geschehen — und zu weiten zeitlichen Ferne gerückt wird, berührt nämlich vital die Interessen sehr vieler heute lebender Mitbürger. Die Schüler von heute werden zum großen Teil die Rentner oder Pensionäre des Jahres 2030 sein.
Die in diesem Jahr Geborenen werden dann 50 Jahre alt sein und — wie sicher auch ein großer Teil der heute noch Zehnjährigen — noch zu den Beitragszahlern gehören. Die Perspektiven der Angehörigen der jüngeren Generation für ihren Lebensabend wären düster, wenn bis zum Jahre 2030 möglicherweise eine Verdoppelung des Anteils der über Sechzigjährigen an der deutschen Bevölkerung droht.Meine Damen, meine Herren, ich darf mit einem Satz des Herrn Bundeskanzlers aus seiner Regierungserklärung vom 17. Mai 1979 schließen, aber nicht „vertröstend" wie er, sondern ich möchte diesen Satz als „verpflichtenden Appell für uns alle" aufgefaßt wissen. Ich zitiere wörtlich mit Genehmigung des Präsidenten:Sie— gemeint sind die demographischen Veränderungen —müssen allerdings rechtzeitig erkannt und in vielen Planungen und Entscheidungen berücksichtigt werden.Diese Diskussion hier noch einmal auszulösen war unser Anliegen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich höre schon die Begleitmusik von seiten der .Opposition auf dem Wege zu diesem Pult. Mein Gehör ist noch ganz gut, obwohl der Weg hier her für mich etwas beschwerlicher ist als für jemand anderen; aber das ist eine Geschmackssache.
Meine Damen und Herren, es geht kein Weg daran vorbei: Die Opposition kann ohne den Mief der Panikmache eine solche Diskussion, wie wir sie heute haben, nicht durchstehen. Der Herr Kollege George hat vorhin versucht, Sozialdemokraten entsprechend einzuordnen. Dazu kann ich nur sagen: Er gehört — er beweist es immer wieder — zu den Panikmachern, zu den Scharfmachern. Dabei versucht er, diese Panikmache und diese Scharfmacherei in ein pseudowissenschaftliches Gewand zu hüllen.
Von Herrn George.
— Ach, wissen Sie, ich kenne Herrn George in dieser Beziehung — ich schätze, besser als Sie — doch aus langjähriger Arbeit im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung; das ist mir ja gar nicht fremd.
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16458 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Ich finde, daß diese Feststellung noch einmal notwendig ist, weil wir das von Herrn Kollegen George immer wieder erleben.
Nun, diese Panikmache, die ja Ausdruck der Politik der Opposition ist, ist — Frau Minister Huber hat das hier ganz deutlich bewiesen — immer auch ein Mittel der Politik der Konservativen in den letzten Jahrzehnten gewesen. Das ist eine ganz kontinuierliche Entwicklung; das ist nichts Neues. Die CDU/ CSU nimmt die Geburtenentwicklung und die zukünftige_ Bevölkerungsentwicklung immer wieder zum Vorwand, Katastrophenmeldungen über die Rentenfinanzen zu verbreiten. Das hat Herr George hier ja auch ganz bewußt und gewollt getan. Ich habe gefragt: Gibt es hier eine rentenpolitische Debatte? Da wurde mir gesagt: Nein. Jetzt haben wir sie natürlich. Deswegen muß bei dieser Gelegenheit auch einiges zum Problem der langfristigen Sicherung der Rentenfinanzen, der Renten gesagt werden. Ich meine, daß das nicht unwidersprochen bleiben kann.Nun ist Herr Kollege George auf die rentenpolitischen Vorstellungen der SPD eingegangen und hat, wenn ich das so richtig in Erinnerung habe, gesagt, aus dem stolzen Adler sei ein kleines Spätzchen geworden.
Ich bin der Überzeugung, daß dieser Spatz, wenn Sie ihn so bezeichnen wollen, in der Hand der Sozialdemokraten viel mehr wert ist als die Taube auf dem Dach der CDU/CSU.
Denn, meine Damen und Herren, von Ihnen haben wir doch wirklich nur Forderungen gehört, die unfinanzierbar sind; den Nachweis der Finanzierbarkeit sind Sie stets schuldig geblieben. Sie haben immer wieder Luftblasen abgelassen und Sprechblasen produziert, und zwar sehr unterschiedliche: einmal Herr Geißler, dann Herr Blüm und dann Herr Kollege Franke.
— Sie haben doch nun wirklich überhaupt keinen blassen Schimmer von diesen Dingen.
Deswegen würde ich mir an Ihrer Stelle diese Zwischenrufe verkneifen.
Dabei können Sie wirklich nur den Kürzeren ziehen. Da müssen Sie in den Zwischenrufen doch mit sachlichen Beiträgen kommen. Wir haben ein rentenpolitisches Programm vorgelegt. Dieses rentenpolitische Programm sollte wirklich dazu angetan sein, sachlich darüber zu sprechen.Ich habe hier eine Agenturmeldung vorliegen mit der Überschrift „Geißler: Neue Sozialpolitik erforderlich". Nun haben wir mit diesem rentenpolitischen Programm 1984 Wege einer neuen Sozialpolitik aufgezeigt. Wie war das Echo der CDU/CSU? — „Weg in die Einheitsrente". Das war das einzige, was wir als Echo gehört haben. Das kann doch nur darauf schließen lassen, daß diejenigen, die das von sich geben, dieses Programm nicht gelesen haben. Denn sonst könnten sie solche Sprüche nicht machen, vor allem Geißler nicht. Geißler ist doch der Erfinder der Neuen Sozialen Frage, die bei uns eine ganz alte soziale Frage ist, zu deren Lösung wir hier, meine ich, zwei brauchbare Vorschläge gemacht haben.Er trifft dann die Feststellung: „Generationenvertrag in Gefahr". Ich glaube, mit keinem Hinweis aus der Rede des Herrn Kollegen George kann bewiesen werden, daß dieser Generationenvertrag in Gefahr ist.Dann sagt er: „Es geht kein Weg vorbei an aktiver Familienpolitik". Wann ist denn in einem vergleichbaren Zeitraum von zehn oder elf Jahren wie von 1969 bis 1980 eine so aktive Familienpolitik in dieser Bundesrepublik geleistet worden? Ich brauche mir da nur die Zeit vor 1969, vor allem die Zeit vor 1966, in der die CDU/CSU die Verantwortung im Lande trug, vor Augen zu halten und sie der Zeit der aktiven Politik der sozialliberalen Koalition auch auf dem Gebiet der Familienpolitik gegenüberzustellen.
Sie haben gesagt, Herr George, wir müßten klotzen statt kleckern. Nun hat der Kollege Kuhlwein schon darauf hingewiesen — Sie sind da ja ein „Klotzerer" —, daß alleine bei Verwirklichung Ihrer Vorstellungen über die Anrechnung der Zeiten der Kindererziehung von fünf Jahren Mehrbelastungen von 15 Milliarden DM eintreten, die der Steuerzahler aufzubringen hätte. Wie das alles mit Ihrer Feststellung in Einklang zu bringen ist, wir sollten keine Besitzstände festschreiben und keine neuen schaffen — diese Aussage haben Sie im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktpolitik gemacht —, kann ich mir nicht recht vorstellen.Aber damit nicht genug. Dazu kommt ja die Erziehungsrente für die ersten drei Jahre von monatlich sage und schreibe 400 DM. Zusätzlich zu den Zeiten der Kindererziehung für fünf Jahre! Nun rechnen Sie einmal diese 15 Milliarden DM hoch. Dann müssen doch allen die Tränen kommen, vor allen denjenigen — das sind vor allem die Arbeitnehmer —, die diese Zeche zu bezahlen haben.
— Die Familie ist uns ja auch einiges wert. Wir haben doch in der praktischen Politik gezeigt, daß sie uns mehr wert ist als Ihnen.
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GlombigWir brauchen uns doch nicht von Ihnen mit solchen Forderungen beschämen zu lassen, die nicht realistisch und nicht finanzierbar sind.Um noch einmal auf den Generationenvertrag und auf Ihre Aussagen zur Rentenfinanzierung zurückzukommen: Die Rentenkonsolidierung hat, wie die jüngsten Zahlen deutlich beweisen, dazu geführt — das wird von Ihnen wohl auch gar nicht bestritten —, daß die Renten ab 1982 wieder bruttolohnbezogen angepaßt werden können und bis in die Mitte der 90er Jahre mit einem Beitragssatz von 18,5% finanzierbar sind. Aus heutiger Sicht ist auch ein Fi- nanzierungsspielraum für die Reform 1984 vorhanden. Und da sprechen Sie in diesem Zusammenhang von Beitragsbelastungen zwischen 26,6 % und 33,3 % bis zum Jahre 2030.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hasinger?
Ich darf das eben zu Ende führen.
Meine Damen und Herren, wir können doch in der Tat nur im Rahmen des Zeitraums von 15 Jahren Vorausberechnungen anstellen. Von allen Rednern, die redlich argumentiert haben, ist immer wieder gesagt worden, daß Prognosen über diesen Zeitraum hinaus überhaupt nicht möglich sind. Ich hoffe, daß das auch bei Ihnen gilt. Diese Aussage gehört zu der Panikmache und der Scharfmacherei, der Sie sich befleißigen.
Das bedeutet, Sie malen Beitragsbelastungen für das Jahr 2030 an die Wand — weil immer vom generativen Verhalten die Rede ist —, die von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern, schätze ich, nicht allein getragen werden können.
Bitte schön, Herr Kollege.
Er hat seine Wortmeldung bereits zurückgezogen.
Das ist auch besser. Die Frage war wohl doch nicht so wichtig. Wollen wir das einmal erledigt sein lassen.Langfristig hängt die Rentenfinanzierung vor allem auch vom Altersaufbau der Bevölkerung ab — das ist unbestritten —, d. h. vom Verhältnis der Zahl der Beitragszahler zur Zahl der Rentner. Ganz zweifellos wird aber ab Mitte der 90er Jahre der Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung stark zunehmen. Auch das ist unbestritten. Es ist auch unbestritten, daß das die Folge des Geburtenrückgangs ist, der nicht erst seit Beginn der sozialliberalen Koalition zu beobachten ist und so abrupt auch nicht eingesetzt hat, wie Sie es dargestellt haben, Herr Kollege George. Er ist im übrigen — darauf ist hingewiesen worden — eine internationale Erscheinung, wie die Bundesregierung gerade in ihrer Antwort auf die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion überzeugend nachgewiesen hat.Wenn sich auch der Anteil der älteren Menschen an der Bevölkerung erhöhen dürfte, so werden daraus vor dem Jahre 2000 doch keine ernstenProbleme für die Rentenfinanzen entstehen. Auch das ist unbestritten. Bevölkerungsprognosen über diesen Zeitpunkt hinaus — auch darauf ist immer wieder hingewiesen worden — haben ohnehin nur den Wert von Spekulationen. Aber auch wenn man die gängigen Bevölkerungsvorausschätzungen, bei denen die heutigen Sterbe- und Geburtsziffern einfach festgeschrieben werden, für bare Münze nimmt — Sie scheinen sie ja für bare Münze zu nehmen, Herr Kollege George —, besteht, meine ich, keinerlei Anlaß zur Panik. Die CDU/CSU unterschlägt nämlich bei ihrer Argumentation — der Kollege Kuhlwein hat bereits darauf hingewiesen —, daß gleichzeitig mit der Zunahme des Anteils der älteren Generation der Anteil der Kinder und Jugendlichen abnimmt und die Ausgaben für das Bildungswesen, das Kindergeld und für viele andere Bereiche zurückgehen werden. Das ist eine der positiven Folgen der Entwicklungen, von denen Herr Innenminister Baum gesprochen hat.Außerdem kommt es für die Finanzierbarkeit der Sozialleistungen nicht nur auf den Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung an, sondern vor allem auf den Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung. Dieser Anteil wird nach den heutigen Berechnungen trotz des Geburtenrückganges langfristig vermutlich nicht sinken. Ich glaube, das ist das Entscheidende. Er wird eher gleich bleiben oder sogar, was ich vermute, steigen, wenn der Trend anhält — und davon können wir ausgehen —, daß Frauen immer häufiger am Erwerbsleben teilnehmen, was Sie-ja grundsätzlich für schädlich halten. Ich meine, man kann den Frauen, die keine Kinder haben, wirklich nur empfehlen, am Erwerbsleben teilzunehmen. Es- ist ja wohl eine Binsenweisheit, wenn ich feststelle: Je weniger Kinder, desto eher sind die Frauen erwerbstätig. Das ist eine Erscheinung, die seit Anfang des Jahrhunderts zu beobachten ist; auch das ist nichts Neues.Es besteht deshalb kein Anlaß zu der Erwartung, daß die Versorgung der alten Menschen eines nicht mehr zu fernen Tages — so wollen Sie das ja darstellen — nicht mehr gewährleistet sein könnte.Die Folgeprobleme der demographischen Entwicklung wären lösbar — nein, ich sage: sind lösbar. Das ist nicht nur eine Hypothese. Aber das erfordert den Mut zu einer Reform der sozialen Sicherung, den Sie nicht haben; denn wir haben von Ihnen bis heute ein Konzept weder gesehen noch gehört.
— Ich kann mich doch nicht nur auf Zeitungsmeldungen stützen, Herr Kollege. Das muß ich doch nun wirklich schwarz auf weiß haben.Ich sage: erfordert den Mut zu Reformen der sozialen Sicherung, d. h., zur Jahrtausendwende können über die kurzfristigen und mittelfristigen Vorstellungen hinaus auch Umstrukturierungen notwendig werden. Das ist unbestritten. Auf jeden Fall aber müssen die für die Altersversorgung zur Verfügung stehenden Mittel rationell und gerecht eingesetzt werden. Wenn wir uns darauf gemeinsam verständigen könnten, wären wir auf dem Wege zu ei-
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Glombigner gerechten Reform, so meine ich, ein Stück weiter.
Wenn Sie zum Ausdruck bringen, Herr George, daß dieses Thema eigentlich eine parteipolitische Auseinandersetzung gar nicht verdient, sondern daß wir uns über die parteipolitischen Grenzen hinweg, wenn ich das richtig verstanden habe, in der Sache zusammenzuraufen versuchen sollten, dann verträgt dieses Thema die Polemik, die von Ihnen ausgegangen ist, nicht.Ich sage hier ganz eindeutig und ohne Hintersinn, daß solche Überlegungen und Reformen natürlich zur Folge haben, daß es Auswirkungen auf den Bundeszuschuß geben wird und geben muß, besonders ab Mitte der 90er Jahre. Ich glaube, wir müssen in einem solchen Zusammenhang auch die finanzpolitischen Probleme sehen. Wir Sozialdemokraten halten nichts davon, die demographischen Probleme zur Wahlkampfmunition umzumünzen, wie es die Opposition fortwährend — auch heute wieder — mit ihrer Verunsicherungstaktik tut.Lassen Sie mich noch ein kurzes Wort zu den Fragen der Bevölkerungsentwicklung im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktsituation sagen. Bei jeder denkbaren Bevölkerungsentwicklung sind verschiedene Trends für den Arbeitsmarkt möglich. Einen direkten Zusammenhang gibt es aber nicht. Im nächsten Jahrzehnt wird das Wirtschaftswachstum durch ein zu enges Arbeitskräfteangebot jedenfalls nicht beeinträchtigt. Ich glaube, daß wir da einer Meinung sind. So jedenfalls ist die weitverbreitete Vermutung. Eher wird mit einem Überangebot an Arbeitskräften gerechnet, das nur durch weitere Arbeitszeitverkürzungen, Herr Kollege George, verringert werden kann. Anders ist das nicht möglich. Ich glaube, daß das auch ein Mittel zur Verbesserung der Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit der Familienpolitik ist.
Engpässe in einzelnen Berufen werden heute schon mit gezielten Umschulungsmaßnahmen abgebaut. Die Umschulung in Mangelberufe ist mit der 5. Novelle des AFG wesentlich verbessert worden.Meine Zeit ist abgelaufen.
— Ja, meine Zeit hier am Rednerpult; vielleicht auch mehr, meine Damen und Herren. Ich möchte deshalb zum Schluß kommen.
— Wo die Bewegung war, ist nicht so interessant.Im übrigen müssen die lautstarken Forderungen der Union nach staatlichen Maßnahmen zur Geburtenförderung sehr skeptisch beurteilt werden. Der Kollege Kuhlwein hat bereits darauf hingewiesen, daß es äußerst fragwürdig ist, ob die Zahl der Geburten durch staatliche Maßnahmen, insbesondere durch finanzielle Zuwendungen, überhaupt nachhaltig beeinflußt werden kann. Jedenfalls läßt sich das mit Beispielen aus dem Ausland nicht belegen. Außerdem müßte uns ein Blick über die Grenzen unseres Landes und unseres Kontinents hinweg auf die gewaltigen Probleme der Weltbevölkerungsexplosion und auf die Welternährungsfrage eigentlich eher betroffen machen. Wäre es denn nicht, so frage ich, eher problematisch, wenn die Industrieländer um jeden Preis ihre Geburten mit Geburtenprämien ankurbelten?Wir haben in den letzten zehn Jahren auf dem Gebiet der Familienpolitik vieles geleistet, was sich sehen lassen kann. Wir Sozialdemokraten sind dennoch für einen besseren Familienausgleich — ich sage: für einen noch verbesserten Familienausgleich —, für noch bessere ergänzende Hilfen für die Kindererziehung der Familie und für die Schaffung kinderfreundlicher Wohn- und Umweltbedingungen. Unser familienpolitisches Programm, das wir bereits in Berlin diskutiert haben und das demnächst verabschiedet wird, und die Diskussion morgen im Zusammenhang mit dem Steuergesetz und den familienpolitischen Maßnahmen machen das noch einmal deutlich. Aber wir sind dafür aus familien- und sozialpolitischen Gründen, nicht aus bevölkerungspolitischen Motiven heraus. Als bevölkerungspolitische Instrumente sind solche Maßnahmen fragwürdig und in ihrer Wirkung ungewiß. Ich glaube auch, daß Maßnahmen aus solchen Motiven diejenigen, die sie erreichen, nicht überzeugen können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erhard .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte hat wieder einmal deutlich gezeigt: Die natürlichste Sache der Welt, das Kinderkriegen — und, so möchte ich natürlich meinen, nicht nur das Kriegen, sondern auch das Nichtkriegen —, ist zum Problem geworden. Es ist eine sichere Erkenntnis, daß ein absoluter Geburten- und Bevölkerungsrückgang in diesem Jahrhundert eine Erscheinung in allen Industrienationen ist. Nur sind wir Deutsche — vor allem in der Bundesrepublik — wieder einmal am gründlichsten gewesen; wir haben seit über einem Jahrzehnt von allen Ländern der Erde prozentual die wenigsten Geburten.Bei aller Unterschiedlichkeit der Meinungen, die wir auch in diesem Punkt bei den Sachverständigen, die sich in Scharen dieses Themas bemächtigt haben, und hier im Hause finden, gibt es zwei feststehende Tatsachen. Erstens. Eine Umkehr des derzeitigen generativen Verhaltens ist unwahrscheinlich, wenn nicht Entscheidendes geschieht. Zweitens. Wegen des seit 15 Jahren anhaltenden Geburtenrückgangs sind bereits unabänderliche Tatsachen entstanden, die unsere Kinder und Enkelkinder noch bitter zu spüren bekommen werden.
Herr Dr. George hat dies eben mit eindrucksvollen Zahlen an einigen Beispielen belegt.
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Erhard
Die Pille ist sicher nicht die Ursache für diese Entwicklung gewesen. Sie bot allenfalls eine gewisse technische Möglichkeit. Vielmehr sind andere Gründe für das Nachlassen des Wunsches nach Kindern und der Erfüllung dieses Wunsches entscheidend. Ein Grund ist das ungünstige gesellschaftliche Klima, in dem wir leben. Im Dritten Familienbericht wird zutreffend darauf hingewiesen, daß die Entscheidung für ein Kind von Optimismus getragen sein muß. Den „Betriebsunfall" meine ich dabei natürlich nicht. Optimismus gedeiht aber nun einmal nur in einem entsprechend positiven Klima. Dieses positive Klima haben wir in der Bundesrepublik weitgehend nicht. Im Gegenteil, — —
— Herr Kollege Penner, mir liegt jetzt etwas auf der Zunge, aber ich erspare mir eine Erwiderung.Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Herr Professor Dr. Nitsch, hat zutreffend festgestellt, daß immer mehr Eltern von zahlreichen Ängsten geplagt werden. Ich meine dabei nicht die Urangst des Menschen. Auch die kann durchschlagen, aber ich meine sie nicht. Die Eltern sehen — so Nitsch — für die allgemeine Zukunft und die Chancen der heranwachsenden Generation schwarz.Sie sehen, so meine ich, die Sicherheit unseres Landes von innen wie von außen nach wie vor bedroht. Sie fürchten zu Recht um die Energieversorgung in der Zukunft und damit auch um die Zukunft ihrer Kinder.
— Ich wiederhole nur das, was Herr Professor Nitsch — ich meine allerdings, zu Recht — feststellt. Er sagt weiter: Die Eltern sind auf dem Gebiet der Erziehung — —
— Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört, und wenn ich mich hier auf Professoren, die sich mit diesen Dingen sehr intensiv beschäftigt haben, beziehe, ist es für Sie vielleicht zweckmäßig, sich das selber auch einmal zu überlegen.
Die Eltern sind, so Herr Nitsch, auf dem Gebiet der Erziehung total verunsichert. Ist ihnen das angesichts der seit mehr als einem Jahrzehnt durch die Lande ziehenden falschen Erziehungspropheten zu verargen? Wie der Rattenfänger von Hameln entfremden sie gezielt die Kinder den Eltern und fordern die Beseitigung der elterlichen Autorität.
Meine Damen und Herren, ist die Unsicherheit der Eltern verwunderlich, wenn mehr und mehr das natürliche Elternrecht durch ein Recht der staatlichen Bevormundung abgelöst wird oder abgelöst werden soll,
nicht nur durch das neue Recht der elterlichen Sorge, sondern auch durch die bestimmte Zielsetzung,die Sie, die Koalition und die Regierung, bei derSchaffung des neuen sogenannten Jugendhilferechts an den Tag gelegt haben?
Wer mischt sich denn da eigentlich in die Familie ein? Wir oder Sie?
Bei vielen Eltern herrscht Unsicherheit über die Schulentwicklung, über das mögliche Schulversagen bei vielen Kindern und die damit verbundene Ratlosigkeit. Wir alle kennen das Durcheinander im Schul- und Bildungswesen und das nicht durchschaubare Labyrinth der zahllosen sogenannten Schul- und Modellversuche.
Herr Abgeordneter gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Im Moment nicht.
Die Mehrheit hat mit der Reform des § 218 — Frau Ministerin, ich weise trotz Ihrer Bedenken auf dieses Problem hin — einen weiteren Schritt zu einer Gesellschaft getan, die nach meiner Ansicht zu Egoismus und zum Teil auch zu Menschenverachtung führt.
Die zunehmende Zahl der Schwangerschaftsabbrüche wegen sogenannter sozialer Indikation, die 1979 nach den veröffentlichten Daten 70% ausmacht, beweist dies eindeutig. Die Richtigkeit dieser These läßt sich an gewissen Beispielen eindrucksvoll weiter belegen.
— Ja, das „Sogenannte" sage ich. Sie kennen Ihr eigenes, von Ihnen selbst beschlossenes Gesetz nicht. Da steht das nämlich gar nicht drin, daß das eine soziale Indikation sei.
Wenn Sie das gemeint haben — in den Berichten wird geschrieben „soziale Indikation", im Gesetz steht das nicht —, sagen Sie es bitte laut, damit es alle verstehen und wissen, daß Sie da eine gesetzliche Täuschung vorgenommen haben.
Die Richtigkeit meiner These von dem notwendigen Klima möchte ich an einigen Beispielen belegen. Angesprochen wurden sie eben schon von der Frau Ministerin, zumindest das eine Beispiel. In den Zeiten wirtschaftlicher Not und allgemeiner Unsicherheit war in der Vergangenheit regelmäßig ein greifbarer Geburtenrückgang festzustellen, am deutlichsten in der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre.
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— Nachdem die Frau Ministerin diese Zeiten mit allen Zahlen zitiert hat, darf ich das wohl auch sagen.
Umgekehrt ist erwiesen, daß in einer Gesellschaft mit positiver Grundeinstellung überhaupt zum Leben und zur Zukunft und mit optimistischer Zukunftserwartung auch eine kinderfreundliche und kinderbejahende Einstellung besteht. Wir haben nämlich in dieser westlichen Welt sehr wohl Beispiele für das, was ich soeben gesagt habe. Ich würde Ihnen empfehlen, sich in aller Ruhe und Nüchternheit einmal einen amerikanischen Staat anzusehen, einen von den über 40, nämlich Utah. Dort ist im Jahre 1978 eine Geburtenrate von 29,6 Geburten auf 10000 Einwohner festgestellt, bei uns nur 9,4 auf 10 000 Einwohner.
Einen Augenblick, meine Herren. Darf ich bitten, die Zwischenrufe nicht so anzuhäufen, daß der Redner daran gehindert ist, seine Ausführungen zu machen.
Herr Präsident, diese Zwischenrufer, die meinen, in Utah gebe es die Vielweiberei, sind jenseits von allen Kenntnissen.
Herr Abgeordneter Erhard, Sie unterstellen aber damit nicht, daß die Zwischenrufe aus den Beweggründen gekommen sind, daß hier das Verlangen auch bestünde?
Herr Präsident, ich kann Ihrer Meinung nicht widersprechen.Meine Damen und Herren, die Verhältnisse in Utah zeichnen sich dadurch aus, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung von deutlicher Religiosität geprägt ist und daß ein im übrigen ausgesprochen günstiges gesellschaftliches Gesamtklima besteht. Es drohen dort weder Gefahren von innen noch von außen. Die wirtschaftlichen Grunddaten sind langfristig in bester Weise in Ordnung. Ich möchte nur ganz kurz darauf hinweisen, daß in Verbindung mit einem gegliederten Schulwesen die Zahl der Abschlüsse von Studenten und Collegebesuchern den höchsten Prozentsatz der gesamten Vereinigten Staaten ausmacht. Das signalisiert Zukunftsmöglichkeiten für junge Menschen und für Eltern.Für das ungünstige kinderfeindliche und kinderunfreundliche Klima in unserem Lande tragen viele Verantwortung, sicher aber auch die Bundesregierung.
Wir stellen gerade bei der jüngeren Generation, die jetzt in das heiratsfähige Alter kommt, eine zunehmende Staatsverdrossenheit fest. Die Bundesregierung hat — das muß mit aller Deutlichkeit auch gesagt werden — der Familie keine Chance gegeben. Bezeichnend ist, daß noch vor kurzem im Kreise der SPD die Familie als — wörtlich — „Keimzelle der Ungleichheit" diffamiert wurde, die in ihrer Bedeutung einzuschränken sei.In die gleiche Richtung geht der Vorwurf von dieser Seite des Hauses, der hinsichtlich des Geburtenrückgangs ängstlich reagierende Zeitgenosse denke nicht in Kategorien des Wohls des Individuums — das sollen wir sein —; er denke in Kategorien der Gruppe, der Horde, des Volkes. Die Familie wird hier mit der archaischen Form der Horde verglichen. Von wem wohl? Ich weiß ja auch, daß Sie nicht alles lesen, was von Ihrer Regierung kommt. Das stammt vom Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt, Herrn Albrecht Müller, aus dem Jahre 1979.
Zum zweiten ist eine wesentliche Ursache für den Geburtenrückgang darin zu sehen, daß auch heute noch der durchschnittlich verdienende Bürger in unserem Lande sein Verhalten an dem Faktum orientieren muß, daß Kinderreichtum mit sozialem Abstieg identisch ist.
Wie anders ist es sonst zu verstehen, wenn junge Eheleute zu Beginn der Ehe den Wunsch nach mehreren Kindern äußern, ihn aber nach der Geburt des ersten Kindes fallenlassen? Sie müssen eben feststellen, daß sie durch die Geburt des Kindes nicht nur in ihrer Mobilität eingeschränkt sind — das waren sie zu allen Zeiten —, sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß sie jetzt erheblich größere finanzielle Einschränkungen auf sich nehmen müssen als vor der Geburt dieses Kindes. Heute kann sich ein durchschnittlich verdienender Arbeitnehmer ein drittes Kind schon gar nicht leisten, will er nicht nahe an oder unter die Sozialhilfeschwelle abrutschen.Es ist auch hier bezeichnend, meine Damen und Herren, daß von seiten der SPD die Tatsachen auf den Kopf gestellt werden. Weil wir, die CDU, uns für die Unterstützung der kinderreichen Familien ausgesprochen haben, wird uns jetzt vorgeworfen, wir würden die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit zwischen reich und arm zu jener zwischen kinderarm und kinderreich verschieben.
Weil die Union sich für die Förderung der Familie ausspricht, wird ihr vorgehalten, wir wollten ihr einen beamtenähnlichen Status verleihen, indem wir Frauen, Familien und Kinder vom Staat besolden lassen wollten.Uns wird vorgeworfen, wir spielten Hausfrauen gegen Berufstätige aus, nur weil wir für eine finanzielle und soziale Verbesserung der Stellung der Hausfrau eintreten, so ebenfalls Herr Müller. Heute haben wir auch ähnliche Töne gehört. In ähnlicher Weise äußert sich auch das „Sozialdemokrat-Magazin" in der November-Ausgabe 1979.
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Erhard
Angesichts dieser ständig wiederholten diskriminierenden Vorwürfe wirkt es wie blanker Hohn, um nicht „scheinheilig" zu sagen
— hören Sie gut zu, Herr Kollege —, wenn offenbar unter der Regie von Herbert Wehner der Parteivorstand der SPD im gleichen Zeitpunkt, nämlich im November 1979, ein Papier unter der Überschrift „Familienpolitik als Gesellschaftspolitik" vorlegte.
Darin heißt es:
Für Sozialdemokraten ist Familienpolitik Teil einer Gesellschaftspolitik.Herr Brandt, ist das nicht einseitige Funktionalisierung der Familie und der Familienpolitik? Und wozu?
Zur Wegbereitung der sozialistischen Gesellschaft.
Aber viele gutklingende Sätze sind in dem Papier zu lesen. Das ist unwidersprochen. Ich wiederhole das: Viele gute Sätze sind zu lesen. Nebel ist das! Denn mit diesen guten Sätzen wird die Absicht versteckt. Man findet dort noch etwas ganz anderes versteckt. Da heißt es:Die Entwicklungschancen der Kinder werden entscheidend geprägt von der Einkommenssituation und den Arbeitsbedingungen der Eltern und von den Bildungschancen, die diese selbst in ihrer Jugend gehabt haben. Damit können Ungerechtigkeiten, Privilegien und Benachteiligungen noch immer von Generation zu Generation übertragen werden.Es sind demnach im wesentlichen die Eltern, die für Ungerechtigkeiten und Privilegien sowie für Benachteiligungen ihrer Kinder die Verantwortung tragen. Das ist, mit anderen Worten ausgesprochen, das, was vorher „Keimzelle der Ungleichheit" genannt wurde.Schließlich darf ein weiterer Faktor im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang nicht übersehen werden. Bei uns hat eine Umkehr der Werte stattgefunden. Die in Jahrhunderten entwickelten ethischen Werte sind heute in Frage gestellt. Wir befinden uns in einem Zustand der geistigen und moralischen Desorientierung. Die überkommenen Wertvorstellungen sind dem „Tanz um das goldene Kalb", sprich: dem materiellen und oft egoistischen Denken geopfert worden. Es ist zwangsläufig, daß dies die Entscheidung für das Kind nicht fördern kann.Wenn ich dieses heikle Thema anspreche, so heißt das nicht, daß ich dazu aufrufe, nun mehr in die Kirche zu gehen. Wichtig ist vielmehr, daß wir uns auf die geistig-sittlichen Grundlagen unserer Kultur Wiederbesinnen.Die angeführten Probleme zeigen, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht von ungefähr an letzter Stelle liegt, was die Geburtenentwicklung angeht. Dies ist auch auf die wenig kinder- und familienfreundliche Situation in unserem Lande zurückzuführen.Die Forderungen der CDU/CSU lassen sich in drei Punkten zusammenfassen.
— Man kann auch einen großen Katalog aufstellen.Erstens. Mit einer langfristig angelegten Politik muß sichergestellt werden, daß die Bundesrepublik Deutschland wieder ein Land wird, das eine insgesamt positive Einstellung zu der Institution der Familie und zu den Kindern hat.Zweitens. Zu diesem Zweck muß die Familie wieder ideell und auch gesellschaftlich aufgewertet werden. Die rechtliche Position von Ehe und Familie muß gestärkt werden. Eine durchgreifende Verbesserung der materiellen Situation von Familien mit Kindern ist dazu auch erforderlich.Drittens. Wir lehnen — und dies betone ich nachdrücklich — jede Art von Gängelei der Familien und der Eltern ab. Die Entscheidung für das Kind ist ausschließlich Angelegenheit der Eltern, und auch die Erziehung ist zuvörderst Angelegenheit der Eltern und nicht irgendwelcher sogenannter amtlicher oder halbamtlicher Jugendhelfer.
Die CDU/CSU würde es sehr begrüßen, meine Damen und Herren, wenn die heutige Debatte im Deutschen Bundestag ein erster Anfang zur Versachlichung der Diskussion wäre.
Die Entwicklung wird uns, die wir hier im Saale sitzen, kaum unmittelbar treffen. Wir tragen aber eine große Verantwortung für die nachfolgenden Generationen. Das sollten sich alle politisch Verantwortlichen bei aller parteipolitisch und weltanschaulich bedingten unterschiedlichen Betrachtunsweise stets vor Augen halten. Meine Damen und Herren, wenn wir uns ehrlich zu unterschiedlichen Elementen bekennen und uns wechselseitig ertragen
und nicht verteufeln, dann wird ein ganz erhebliches Stück auf besseren Wegen gewonnen sein.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/3759 auf. Es ist beantragt, den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU dem Innenausschuß — federführend — und dem Aus-
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16464 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Präsident Stücklenschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mitberatend — zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Keine gegenteilige Meinung. Es ist so beschlossen.Es ist übersehen worden, daß der Punkt 9 der Tagesordnung, zu dem keine Debatte vorgesehen ist, nicht aufgerufen wurde. Ich möchte dies nachholen und rufe nunmehr Punkt 9 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 5. Februar 1979 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über den Bau und die Unterhaltung einer Autobahnbrücke über die Our bei Steinebrück— Drucksache 8/3464 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 8/3722 —Berichterstatter:Abgeordneter Müller
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
—Drucksache 8/3621 —Berichterstatter: Abgeordneter Feinendegen
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.Wir kommen zur Einzelberatung in zweiter Beratung und zur Schlußabstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 4 sowie Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Die Abstimmung hierüber wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 bis 18 auf:16. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und FDP zurBeratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Marx, Dr. Abelein, Jäger , Baron von Wrangel, Böhm (Melsungen), Dr. Gradl, Graf Huyn, Straßmeir, Schmöle, Dr. Hennig und der Fraktion der CDU/CSUWirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in der DDR— Anwendung des am 3. Januar 1976 in Kraft getretenen Menschenrechtspakts der Vereinten Nationen —Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Marx, Dr. Abelein, Jäger , Baron von Wrangel, Böhm (Melsungen), Dr. Gradl, Graf Huyn, Straßmeir, Schmöle, Dr. Hennig und der Fraktion der CDU/CSUSelbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes sowie bürgerliche und politische Rechte in der DDR— Anwendung des am 23. März 1976 in Kraft getretenen Menschenrechtspakts der Vereinten Nationen —— Drucksachen 8/3361, 8/3698 —Berichterstatter:Abgeordnete Baron von Wrangel Hoppe17. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für innerdeutsche Beziehung zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zum Bericht zur Lage der Nation— Drucksachen 8/2860, 8/3500 —Berichterstatter: Abgeordneter Mattick18. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und FDP zum Bericht zur Lage der Nation— Drucksachen 8/2867, 8/3501 —Berichterstatter:Abgeordneter Baron von WrangelInterfraktionell ist vereinbart, daß diese Debatte als verbundene Debatte geführt werden soll.Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete von Wrangel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ihnen vorliegenden Beschlußempfehlungen des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen betreffen, wie Sie gehört haben, mehrere Anträge. Wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit werde ich zu ihnen insgesamt berichten und Stellung nehmen. Ich verweise dabei insbesondere auf die Debatte vom 17. Mai 1979, in der die Fraktionen ausreichend Gelegenheit gehabt haben, sich zu diesem Fragenkomplex zu äußern. Die beiden Beschlußempfehlungen, die ich als Berichterstatter behandeln soll, betreffen Anträge der Koalitionsparteien zur Menschenrechtssituation in der DDR und zu dem Bericht zur Lage der Nation vom vergangenen Jahr. Beide Anträge enthalten Elemente, denen auch die Opposition hätte zustimmen können. Auf der anderen Seite sprechen diese Anträge jedoch Lob und Zustimmung gegenüber der Bundesregierung aus und fordern zu einer Fortsetzung der bisherigen Politik auf. Es liegt auf
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16465
Baron von Wrangelder Hand, daß solche Aussagen von der CDU/CSU nicht getragen werden können.
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß in allen Fällen die Frage einer gemeinsamen Entschließung sehr sorgfältig geprüft worden ist. Im Falle der Entschließungsanträge zur Lage der Nation haben mehrere Gesprächsrunden stattgefunden; ich glaube, der Herr Kollege Mattick wird dies bestätigen können. Der Ausschuß hat dann kontrovers abgestimmt, und ich möchte insgesamt auf die Ihnen vorliegenden Schriftlichen Berichte verweisen.Lassen Sie mich hier die Position der CDU/CSU- Fraktion noch einmal in wenigen Worten ganz deutlich wiedergeben. Wenn wir erklären, daß die Menschenrechtsposition eine besondere Rolle spielt, dann erklären wir gleichzeitig, daß es dem Deutschen Bundestag gut angestanden hätte, hier eine gemeinsame Manifestation zu verabschieden.
Ich glaube, eine solche Gemeinsamkeit hätte gerade im Zeichen internationaler Krisen eine weltweite und eine günstige Bedeutung für die Position der Bundesrepublik Deutschland gehabt.Meine Damen und Herren, ich glaube, auch hier sagen zu müssen, daß Glaubwürdigkeit in der Deutschlandpolitik immer auch ein Stück Glaubwürdigkeit unserer Position in der ganzen Welt ist.Ich möchte dies insbesondere natürlich auch im Blick auf die Entschließungen zur Lage der Nation vom vergangenen Jahr erklären dürfen. Ich bedauere eigentlich sehr, daß wir über die Entschließungen erst heute abschließend beraten können. Auch in diesen Entschließungen gab es Aussagen, die wir hätten mittragen können, aber wiederum auch die Aussage, daß die Bundesregierung in der bisherigen Weise fortfahren solle. Wir sind der Meinung, daß die Bundesregierung entscheidende Änderungen ihrer Politik vornehmen muß, wenn wir hier irgendeiner Sache zustimmen sollen.
So gesehen möchte ich ausdrücklich auch sagen, meine Damen und Herren, daß die Entschließung der CDU/CSU, wenn Sie so wollen, auf Gemeinsamkeit programmiert gewesen ist. Ich will Ihnen auch sagen, warum: Ihr lagen im wesentlichen wörtliche Zitate unserer Verfassung zugrunde. Wir haben aus geltenden Vertragstexten, aus der gemeinsamen Entschließung aus dem Jahr 1972 und aus zahlreichen Erklärungen der Bundesregierung selber zitiert. Dagegen war der Entschließungsantrag der Koalition sehr allgemein gehalten.Wenn Sie nun den Entschließungsentwurf auf Drucksache 8/2860 ablehnen, dann müssen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sich fragen lassen: Hat sich an Ihren deutschlandpolitischen Grundsätzen möglicherweise schon wieder etwas geändert?
Stehen Sie noch zu dem, was Sie selber einmal beschlossen haben? Stehen Sie zu dem, was für uns alle rechtsverbindlich ist? Welchen Wert haben denn Vertragstexte überhaupt noch, wenn Sie nicht zu dem stehen? Und welchen Wert haben dann — meine Damen und Herren, lesen Sie sich den Text einmal durch — Erklärungen des Bundeskanzlers, die er vor diesem Hohen Hause abgegeben hat?
— Jawohl. Wir müssen jetzt von Ihnen erfahren, ob Sie wieder eine schleichende Veränderung von Grundsatzpositionen, die Sie gestern noch eingenommen haben, vornehmen möchten.
Sie berufen sich immer wieder auf geschlossene Verträge. Aber wir müssen Sie fragen: Welche Interpretation ist denn in diesem Augenblick gültig? Sind nicht geschlossene Verträge von Ihnen wieder so verbogen, daß man sie gar nicht mehr erkennt?Ich möchte für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich sagen, daß wir diesen Rechtsgrundlagen unserer nationalen Existenz einen sehr hohen aktuellen Stellenwert beimessen. Für uns ist das Offenhalten der Deutschen Frage nicht ein pflichtschuldiger Verbalismus. Wir halten daran fest, daß die deutschen Realitäten kein Endzustand sein können, sondern daß es sich hier um Modus-vivendiVerträge handelt. Dies bedeutet, daß wir in allen Bereichen unsere nationale Sorgepflicht wahrzunehmen haben.
Das wird sicher bei anderen Gelegenheiten noch zur Sprache kommen.In Ihren Reihen sind doch jene Politiker zu finden, die von der Teilbarkeit der Entspannung in diesem Augenblick reden, jene Entspannungsakrobatiker, so möchte ich sagen, die bewirken können, daß wir, wenn sie fortfahren, in eine schreckliche, gefährliche Selbstisolierung geraten.
Dies hat in der Vergangenheit Mißtrauen im Westen ausgelöst und Hoffnungen im Osten erweckt.Ich erinnere Sie in diesem Zusammenhang an das, was der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß am 28. Februar in diesem Hohen Haus ausgeführt hat.Ich benutze diese Gelegenheit, um Sie aufzufordern, endlich eine Umkehr zu vollziehen.
Ich fordere Sie auf, sich nicht ständig an der Opposition und damit auch an den Realitäten vorbeizumogeln.
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16466 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Baron von WrangelDies ist nicht die Stunde für Selbstfälligkeit und für eine manchmal unüberbietbare Arroganz der Regierung und der sie tragenden Parteien.
Sie sind aufgefordert, die Grundlagen für Ihre Politik zu verbreitern. Sie sind aufgefordert, eine nüchterne Lagebeurteilung vorzunehmen und das Ergebnis nicht ständig neu innenpolitisch zu frisieren. Sie sind aufgefordert, Ihre Vertragspolitik endlich wasserdicht zu machen. Sie sind aufgefordert, Ihre Politik des Manövrierens und Lavierens, des Verniedlichens und des Verharmlosens endlich aufzugeben. Im Ausschuß haben Sie unsere Anträge abgelehnt. Sie haben damit der Sache sicher keine guten Dienst erwiesen.
Die CDU/CSU — das kündige ich Ihnen heute schon an — wird nicht in ihren politischen Bemühungen nachlassen, wenigstens die letzten gemeinsamen Grundlagen — ich verweise nochmals auf Ihre eigenen Aussagen — in eine praktische Politik umzusetzen. Deutschlandpolitik, die Sie mit innenpolitischer Effekthascherei betreiben, ist der schlechteste Ratgeber, den es gibt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mattick.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Die Vorlagen, die hier heute beraten werden, tragen das Datum vom 16. und 17. Mai 1979. Damals hatten wir eine sehr ausführliche Debatte zur Lage der Nation. Heute stehen wir vor der Tatsache, daß in 14 Tagender Bundeskanzler den Bericht zur Lage der Nation geben wird. Ich will damit nur ausdrücken: Die Aussprache im ganzen über diese Fragen wird in 14 Tagen stattfinden. Hier handelt es sich eigentlich nur noch um Formalien, aber nicht mehr um eine Aussprache über die allgemeine Politik. Damals gab es diese ausführliche Debatte in diesem Hause. In ihr wurde sehr deutlich, daß die Regierungsparteien und die Oppositionsparteien in ihren Konzeptionen zu weit auseinandergingen, als daß sie eine gemeinsame Formulierung hätten finden können.
Herr von Wrangel, ich verstehe nun eines nicht. Wir sind ja beide nicht mehr die Jüngsten. Wenn zwei so gegensätzliche Positionen bestehen, wie sie bei unserem Gespräch bestanden haben, und Sie sich jetzt hier hinstellen und sagen, die Koalition habe nicht nachgegeben, dann richtet sich die gleiche Frage doch auch an Sie. Wir haben uns doch nicht einander nähern können. Dann kann man doch nicht sagen: Du bist schuld und ich nicht. — Ich will sogar die Opposition in Parallele setzen und nicht sagen, die Koalition, die Mehrheit des Hauses ist mehr berechtigt. Wir haben beide gemeinsam festgestellt: Es hat keinen Sinn. Wir haben es versucht. Nachdem vorher die Debatte um die Möglichkeiten einer Gemeinsamkeit war, wurden wir. noch einmal beauftragt, diesen Weg zu suchen. Wir haben uns bemüht. Daher wundere ich mich, daß Sie heute hier die Dinge so einseitig darstellen. Erstens waren sie nicht so einseitig, und zweitens müßte man sonst doch die Punkte anführen. Wir haben eine Entschließung vorgelegt, in der es uns darauf ankam, deutlich zu machen, wo wir stehen und wie es weitergeht. Wie .es weitergeht, ist dabei das Entscheidende. Ihre Entschließung — sie liegt ja jedem vor — beschäftigt sich mit der Vergangenheit und beschäftigt sich mit Zitaten, eine Entschließung, mit der man die Bundesregierung auf einen Weg bringen will, den, wie Sie wissen, die Bundesregierung nicht gehen will, nicht gehen soll und nicht gehen kann nach unserem Willen. Es kommt nicht darauf an, Vergangenheit festzunageln. Es kommt darauf an, zu wissen, wie man die angefangene, die begonnene Politik steuern will.
Herr Abgeordneter Mattick, gestatten Sie eine Zwischenfrage zunächst des Herrn Abgeordneten Jäger und dann des Herrn Abgeordneten Graf Huyn?
Bitte.
Herr Kollege Mattick, halten Sie es nicht für einen wichtigen Ausdruck des Willens zur Einheit unserer deutschen Nation, wenn der Versuch unternommen wird, in solchen Fragen Gemeinsamkeit zu finden, und teilen Sie nicht die Auffassung, daß es ein Schritt der Koalitionsfraktionen auf diesem Wege gewesen wäre, wenn sie eine Entschließung mit unterstützt hätten, die sich im wesentlichen aus Zitaten ihrer eigenen Regierungsmitglieder und politischen Führer zusammensetzt?
Herr Jäger , diesen Appell kann ich genauso zurückgeben. Die Regierungsparteien haben eine Vorlage gemacht und waren bereit, einen Kompromiß zu finden. Wir haben ihn nicht gefunden. Das heißt also, niemand sah sich bereit — weder Sie durch Herrn von Wrangel noch wir durch mich —, die Konzessionen zu machen, die verlangt worden sind. Ich habe ja eben kurz begründet, warum wir es nicht machen konnten. Sie werden den Regierungsparteien so viel beigeben müssen, daß die Regierungsparteien ihre Grenzen festlegen, so wie Sie sich selbst Ihre Grenzen festgelegt haben; deshalb war eine Verhandlung überhaupt nicht mehr möglich. Das ist doch nun Wortklauberei; anders kann man es doch nicht nennen, Herr Jäger.
Herr Abgeordneter Mattick, gestatten Sie auch die Frage von Herrn Abgeordneten Graf Huyn?
Nun habe ich einmal ja gesagt; dann werde ich auch bei Herrn Huyn ja sagen.
Herr Kollege Mattick, würden Sie mir zustimmen, daß es sicher keine Formalie ist, wenn es hier um Zustimmung zu Texten geht, die aus dem Grundgesetz, dem Text und der Begründung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und aus Zitaten Ihrer Fraktion stammen? Würde, wenn ihnen nicht zugestimmt werden kann, das nicht im wesentlichen zeigen, daß Sie von Ihrer eigenen Politik abrücken?
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16467
Verehrter Herr Graf Huyn, dies ist doch eine Unterstellung. Sie wissen ganz genau, worum es geht. Sie wissen, daß es darum geht, jetzt eine neue Entschließung zu fassen, in der festgelegt wird, in welche Richtung unsere Politik weitergeführt wird, in der nicht rückblickend auf die Vergangenheit der Regierung sozusagen Nadelstiche in den Hintern gepiekt werden und gesagt wird: Du mußt jetzt hier klein beigeben, damit die Opposition ihre Politik durchsetzen kann. Wo kämen wir denn da hin? Das habe ich bisher noch nicht erlebt.
Ich wollte hier — das sage ich Ihnen auch ganz offen — an die Debatte ganz anders herangehen. Ich hätte darauf verzichtet, diesen Streit jetzt auszutragen. Im Grunde genommen war er nicht notwendig. Beide Seiten sind nicht in der Lage gewesen, eine Konzession zu machen, die die andere Seite bewegt hätte, eine gemeinsame Entschließung anzunehmen. Wir stehen doch wieder vor der Frage. Uns wäre es lieb gewesen, wir könnten uns auf die Fortsetzung dessen festlegen, was 1972 hier im Hause beschlossen worden ist. Die Entschließung von damals ist auch heute noch wertvoll, und unsere Vorlage schließt in diesem Sinne an. Dann hätten wir eine Plattform gehabt, von der aus wir gemeinsam die weitere Entwicklung hätten in Angriff nehmen können. Ich war heute sehr zufrieden; denn ich habe in mehreren Zeitungen gelesen, daß sich Herr Kohl, der Fraktionsvorsitzende der Opposition, zur Entspannungspolitik und zur KSZE geäußert hat. Da ist eine Zustimmung deutlich geworden, wie ich sie früher noch nicht gelesen habe.
Nun gut, wir leben in einer neuen Situation. Ich frage im Schatten von Afghanistan, wo wir in Berlin und in Europa heute stünden, wenn es die zehnjährige Entspannungspolitik und ihre Entwicklung nicht gegeben hätte.
Das frage ich Sie! Da können Sie heute durch ganz Europa fahren, und Sie werden sich wundern, was für ein Echo Sie finden.
— Dafür gibt es viele Gründe, aber daß es so ist, bestreiten Sie nicht, Herr Kittelmann!
Aber ich glaube Ihnen schon, daß Sie das nicht akzeptieren können.
Das hieße ja zuzugeben, daß Sie keine Alternative hatten und auch heute keine haben. Wenn man als Opposition keine Alternative hat, hat man natürlich eine schwere Positition.
Einen Augenblick! Darf ich auch diese Seite des Hauses bitten, nicht zu massierte Zwischenrufe zu machen, weil der Redner dann tatsächlich an seinen Ausführungen gehindert wird.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident. Wenn Sie mir das nicht auf meine Redezeit anrechnen, bin ich auch bereit, auf ein Gespräch einzugehen, weil ich Sie herausfordern möchte. Herr von Wrangel hat eine Reihe von Fragen an uns gestellt, worauf er Antwort erwartet, und auch ich möchte mir erlauben, Fragen zu stellen, worauf ich Antwort erwarte.
Herr Mattick, darf ich für Sie antworten?
Herr Abgeordneter Jäger, wenn Sie Fragen stellen und erwarten, daß die Frage angenommen wird, muß man natürlich auch eine Toleranzgrenze in der Bemessung der Redezeit mit einbauen. Das halte ich für ausgewogen.
Sie können ja in 14 Tagen antworten. Sie können sich die Fragen aufheben und durcharbeiten. Vielleicht fällt Ihnen etwas Neues ein. Bis jetzt hat es ja noch nichts Neues in bezug auf Ihre eigene Politik gegeben.
Ich möchte nun in meinen Ausführungen fortfahren. Außer den Entschließungsanträgen, zwischen denen Sie sich entscheiden müssen, hat die Koalition dem Hause in der Drucksache 8/3361 einen Entschließungsantrag vorgelegt, der deutlich macht, in welcher Weise man sich realistisch für eine Verwirklichung der Menschenrechte, insbesondere für alle Deutschen, einsetzen kann. Die Opposition hat in den Beratungen deutlich gemacht, daß sie nur den Tatsachenfeststellungen in Ziffer 1 zustimmen kann; die Ziffern 3 bis 6 wurden abgelehnt. Die Opposition ist offensichtlich nicht der Ansicht, daß die Menschenrechtsdiskussion ausschließlich den einzelnen Menschen dienen soll, weil die CDU/CSU das Thema „Menschenrechte" — ich sage das konkret — auf einen bestimmten Vorgang, den wir vor uns haben, anwenden und als Instrument und Hebel der Auseinandersetzung mit dem Osten benutzen will. Sie sieht ja auch das Ergebnis der KSZE und den Grundlagenvertrag nicht in erster Linie als Willenskundgebung zur Zusammenarbeit, sondern als Dokumente, die sie für ihre Politik gegen die DDR und gegen die Staaten Osteuropas benutzen will.
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16468 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
MattickDie Vorlagen, mit denen wir es hier zu tun haben, zielen in eine bestimmte Richtung. Unsere Entschließung soll eine Unterbauung und Verstärkung unserer Politik sein, die wir seit zehn Jahren entwikkeln. Dahinter steht die Vorstellung, daß wir die Auseinandersetzung um die weitere Politik auf der Basis des Willens führen, jede Chance auszunutzen, die es gibt, um die Entspannungspolitik weiterzuentwickeln, um den Prozeß der KSZE weiter zu untermauern. Wir müssen dafür sorgen, daß sich die Beziehungen und Verbindungen weiterentwickeln, die in den zehn Jahren entstanden sind und auf die sich heute auch alle Völker im Ostblock beziehen, wenn sie darüber reden, wie es weitergeht und was würde, wenn es nicht zu einer Verständigung käme. Dies ist unsere Aufgabe. Die Menschen warten und hoffen darauf.Aus dem, was Herr Kohl gestern gesagt hat, kann ich entnehmen, daß er im Grunde Ähnliches meint, wenn er sich so ausdrückt, wie er es hier getan hat. Sie machen uns Vorwürfe, Sie klagen uns an. Ihre Vorwürfe und Ihre Anklagen sind eine Abdeckung Ihrer Unmöglichkeit, eine echte Alternative zu unserer Politik anzubieten.
— Sie haben noch nie etwas wiederholt, Herr Jäger. Soll ich Ihnen mal einen Katalog aufmachen? — Nein.Solange sich die Opposition außerstande sieht, in der Richtung, die wir eingeschlagen haben, eine Alternative anzubieten, die wirklich eine gemeinsame Politik auslösen kann, wird es leider so weitergehen wie bisher. Sie werden uns Vorwürfe ohne Substanz, ohne Alternative und ohne Vorschläge in bezug auf diese Politik machen, die uns an den Punkt gebracht hat, an dem die Menschen jetzt sagen: Wo stünden wir heute, wenn wir die zehn Jahre Politik und die zehn Jahre Entwicklung der KSZE nicht hätten? Ich wiederhole diese Bemerkung: Wo stünden wir heute? Jeder von Ihnen soll sich diese, Frage stellen.Es ist ein Prozeß eingeleitet worden, der es uns möglich macht, trotz Afghanistan eine Politik fortzusetzen, die Bindungen erhält und verstärkt, denn die Völker rechnen damit, daß die Entspannungspolitik ihnen hilft, ganz gleich, auf welchem Teil Europas sie wohnen. Dies weiter fortzusetzen, ist unsere Aufgabe.Lassen Sie mich noch zwei Bemerkungen zur Lage der Nation einmal auf anderer Ebene machen. Die sozialdemokratische Partei hielt es für angebracht — ich unterstütze dies —, einmal zu untersuchen, was zu tun ist, um die kleinen Grüppchen von Neofaschisten, die sich in diesem Lande versuchen, ausfindig zu machen und sie mit den richtigen Mitteln zu bekämpfen und dafür zu sorgen, daß sie in diesem Lande allmählich verschwinden. Es hat schon einmal einen Prozeß gegeben, der ganz klein begonnen hatte und bei dem wir mit der Hand. darüber hinweggegangen sind. Wir müssen wissen, daß diese Pilze, die sich in einer schwierigen Situation im Untergras bilden, sehr schnell wachsen. Ich meine, wir hätten für die Nation etwas gemeinsam zu tun, nämlich dafür zu sorgen, daß diese kleinen Pilze der neofaschistischen Gruppen nicht größer werden und daß sie beseitigt werden. Das ist das, was ich noch sagen wollte.
— Da wird doch genug getan.Ich frage Sie, ob Sie dazu bereit sind. Darauf können Sie antworten.
Das Wort hat der Abgeordnete Merker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, daß die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Großen Anfragen der CDU/CSU-Fraktion den gesamten Komplex des Themas Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR in ausführlicher, gründlicher und präziser Weise untersucht und behandelt hat. Wie schon in der Debatte am 15. November des vergangenen Jahres zum Ausdruck gebracht wurde, muß auch ich leider feststellen, daß es immer noch so aussieht, als ob die Opposition nur mit Oberflächlichkeit und Leichtsinnigkeit an dieses alle Länder der Welt betreffende Thema herangeht. Genau wie beim CDU/CSU-Entschließungsantrag zur Lage der Nation muß auch hier die Frage gestellt werden, ob die Opposition die Chancen für eine Verständigung endgültig verbauen möchte.Für die FDP ist Menschenrechtspolitik in erster Linie ein humanitäres, in zweiter Linie ein politisches und in dritter Linie ein juristisches Problem. Bei der CDU/CSU scheint es genau umgekehrt zu sein.
Das entspricht Ihrer grundsätzlichen Haltung zu allen Fragen der Deutschland-, Ost- und Entspannungspolitik. Die Opposition glaubt, daß die richtigen Instrumente zur Durchsetzung ihrer Menschenrechtspolitik Proteste, Anklagen, Deklarationen sowie Forderungen an die Bundesregierung sind, ihre Beziehungen zur DDR und zu anderen Staaten des Warschauer Paktes von der Akzeptierung -und Erfüllung der internationalen Menschenrechtspakte von 1976 — selbstverständlich in der Interpretation des westlichen Menschenrechtsverständnisses — abhängig zu machen.Demgegenüber bekennen sich die Freien Demokraten zu einer Menschenrechtspolitik, die darauf verzichtet, den Kampf um mehr Menschenrechte als ein Instrument zur Neuauflage des kalten Krieges zu mißbrauchen.
Wir fordern, daß sich alle für das Recht eines jedenVerletzten einsetzen, ganz gleich, wo immer er lebt,
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16469
Merkerwelche politische oder religiöse Überzeugung er vertritt und welche Hautfarbe er trägt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sauer?
Nein, ich bitte darum, von Zwischenfragen abzusehen.
Auch wenn wir die Denkweise der kommunistischen Seite nicht anerkennen, müssen wir doch in unsere Überlegungen die Tatsache einbeziehen, daß das kommunistische Menschenrechtsverständnis auf soziale und wirtschaftliche Menschenrechte gründet, die individuellen und politischen Menschenrechte jedoch weitgehend negiert.
— Vielleicht zu den Zeiten, als Sie gerade nicht dort waren, Herr Kollege Sauer. Vielleicht können Sie sich gelegentlich die Protokolle geben lassen und einmal nachsehen, wann ich im Ausschuß gewesen bin.
Hinzu kommt, daß die Warschauer-Pakt-Staaten jedes Votum des Westens bezüglich der Verwirklichung individueller und politischer Menschenrechte im Ostblock als eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihres Landes betrachten.
Auch die Staaten der Dritten Welt geben den sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten eindeutig den Vorrang vor den individuellen und politischen Menschenrechten, so daß auch hier eine Interessenidentität zwischen dem Ostblock und der Dritten Welt besteht.Deshalb setzt sich die FDP für eine Menschenrechtspolitik ein, die Menschenrechtsverletzungen in allen Regionen und allen Systemen verurteilt und es ablehnt, die Folter in einer Rechtsdiktatur als weniger gravierend zu betrachten als in einer Linksdiktatur und umgekehrt.
— Das habe ich ohne jeden Vorwurf an irgendeine Adresse gesagt, Herr Kollege Sauer. Ich habe die Haltung der FDP-Fraktion dargelegt.In diesem Sinne ist eine Ost-West-Entspannungspolitik, wie sie von der Regierung seit über zehn Jahren geführt wird, letztlich die wirksamste Menschenrechtspolitik auf diesem Kontinent Die FDP- Fraktion wird deshalb dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und der FDP zur Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR zustimmen.Was die Entschließungsanträge zum Bericht zur Lage der Nation betrifft, kann ich nur bedauern, daß es bei den Beratungen des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen wegen der bekannten kontroversen Haltung der Opposition zu keiner Einigung gekommen ist.
— Aber mir stehen natürlich die Protokolle zur Verfügung, Herr Kollege. — Wir bedauern das, weil gerade auf diesem Gebiete in Wirklichkeit zwischen Regierung und Opposition ein weitergehender Konsensus vorhanden ist, als das in den innenpolitischen Auseinandersetzungen zugegeben wird. Deutschlandpolitik darf sich nach unserer Auffassung nicht darin erschöpfen, immer wieder abweichende Positionen zu dokumentieren, um dann deren Unvereinbarkeit festzustellen.
— Oder Sie hätten Ihre Zustimmung zu dem geben müssen, was die Koalitionsfraktionen vorgelegt haben. — Entscheidend ist, daß wir uns darauf besinnen, welche gemeinsamen Grundlagen für uns bestimmend bleiben.Der Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und FDP zur Lage der Nation geht von der bestehenden, seit 1969 beträchtlich verbesserten Lage aus. Er spricht sich für eine Fortsetzung der bewußtseinsbildenden, Fakten schaffenden Politik der kleinen Schritte und der praktischen Fortschritte in der Deutschlandpolitik aus. Hat nicht diese Politik der vertraglichen Regelungen der Koalitionsregierung trotz aller wieder auftauchenden und kalkulierten Probleme, Schwierigkeiten und ernsthaften Belastungen millionenfache Begegnungen der Menschen über die Grenzen hinweg möglich gemacht und somit Unschätzbares zum Zusammenhalt der beiden Nationen beigetragen? Man muß doch einfach zugeben, daß die Deutschland-, Berlin- und Entspannungspolitik der Bundesregierung und ihre vertraglichen Resultate sich voll bewährt haben.Meine Damen und Herren, nicht Formelbeschwörungen halten die deutsche Frage offen oder tragen dazu bei, wie der Kollege von Wrangel dies in der vorangegangenen Beratung gesagt hat, der Stimme der freiheitlichen Bundesrepublik Deutschland mehr Gewicht zu verleihen, sondern Kreativität, prinzipienfestes, vernunftorientiertes Handeln und vor allem eine Politik des langen Atems.
Die Opposition war nicht in der Lage, im Verlauf der Beratungen das Gesprächsangebot der Regierung aufzunehmen. Sie hatte damals ihre eigenen Probleme, Personalprobleme, und daher wurden unsere Hoffnungen enttäuscht Anstatt gemeinsam mit uns, mit der Regierung im innerdeutschen Ausschuß
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16470 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Merkerzu einer gemeinsamen, zukunftsorientierten Linie und Politik zu gelangen, hat die CDU/CSU nicht aufgehört zu versuchen, das ganze Gebäude der Politik dieser Regierung und der Koalition zum Einsturz zu bringen.
Alles, was die Koalitionsregierung an Instrumentarien für eine Politik geschaffen hat — auch für eine Berlin-, Deutschland- und Entspannungspolitik —, wird von der Opposition nach wie vor als falsch in Frage gestellt. Es darf nicht ausreichen, meine Damen und Herren, wie der CDU/CSU-Antrag dies tut, die abweichenden Positionen zu dokumentieren und deren Unvereinbarkeit festzustellen; unsere Deutschlandpolitik kann sich darin nicht erschöpfen. Für uns ist entscheidend, daß wir uns darauf besinnen, welche gemeinsamen Grundlagen für die Zukunft für uns bestimmend bleiben.Wir wollen für die auf uns in der Deutschland- und Berlinpolitik zukommenden Anforderungen der 80er Jahre die Fähigkeit und Kraft zu der Gemeinsamkeit aufbringen, die die DDR-Führung aus ideologischen Gründen nicht zeigen kann. Wenn wir diese Unfähigkeit der DDR ausdrücklich feststellen und beklagen, sollten wir unsererseits der Versuchung widerstehen, aus innenpolitischen und wahltaktischen Gründen Frontstellungen auf zubauen, die gemeinsame Grundpositionen in Frage stellen.Die FDP-Bundestagsfraktion ist der Meinung, daß wir alle einen echten nationalen Bedarf an mehr Gemeinsamkeit haben. Wieder ist eine Chance verpaßt worden, gemeinsam und vorurteilslos zu überlegen, wie man die Art und Weise, in der sich die Parteien zum Überdruß der Bürger über dieses lebenswichtige Thema der Deutschland- und Berlinpolitik auseinandersetzen, korrigieren könnte.
Wir wollen aber in der Entwicklung der deutschdeutschen Beziehungen nicht stehenbleiben. Wir dürfen in der augenblicklichen Phase die DDR. nicht isolieren und gleichzeitig hoffen, daß der innerdeutsche Dialog nicht abreißt. Wir haben in der Zwischenzeit einiges erreicht, was den Menschen im geteilten Deutschland spürbare Erleichterungen gebracht hat — eine Tatsache, die uns Mut machen sollte. Es ist einfach nicht zu leugnen, daß uns die Politik der vertraglichen Abmachungen mit der DDR wieder zu den Akteuren der deutsch-deutschen Politik gemacht hat.Der gemeinsame Entschließungsantrag der SPD/ FDP-Fraktionen geht von diesen Tatsachen aus. Wir werden auf diesem Weg der kleinen Schritte geduldig und zäh fortfahren.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, im Namen der FDP-Bundestagsfraktion daher um Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion der CDU/ CSU und um Zustimmung zu den Anträgen derFraktionen der SPD und der FDP zum Bericht zur Lage der Nation.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die unter Punkt 16 der Tagesordnung aufgeführte Vorlage. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/3698, den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und der FDP auf Drucksache 8/3361 anzunehmen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.
Nunmehr stimmen wir zu Punkt 17 der Tagesordnung über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 8/3500 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/2860 abzulehnen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke schön. Die Gegenprobe! — Wer enthält sich der Stimme? — Es ist so, wie der Ausschuß empfohlen hat, beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 8/3501 unter Punkt 18 der Tagesordnung. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und der FDP auf Drucksache 8/2867 anzunehmen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nun Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Spranger, Dr. Wittmann , Dr. Bötsch, Regenspurger, Broll, Dr. Jentsch (Wiesbaden), Dr. Laufs, Volmer, Wimmer (Mönchengladbach) und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens
— Drucksache 8/3402 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß Rechtsausschuß
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spranger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist erneut das Verdienst der CDU/CSU-Fraktion, wenn heute im Bundestag abermals die unerträglichen Zustände diskutiert werden, die ein unaufhörlich wachsender Strom von Asylbewerbern für unser Land und für unsere Bevölkerung brachte. Bundesregierung und Koalition haben jahrelang die absehbare Entwick-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16471
Sprangerlung verniedlicht, sie haben wirksame Maßnahmen unterlassen, und sie haben Vorschläge, die wir in den vergangenen Jahren wiederholt eingebracht hatten, mit dem Vorwurf, wir würden das Asylrecht aushöhlen oder Schwarzmalerei betreiben, abgelehnt.Heute, so müssen wir feststellen, stehen wir vor einem Scherbenhaufen.
Die Bundesregierung hat zu verantworten, wenn die Gefahr entstanden ist, daß heute echte politische Flüchtlinge in Massenverfahren mit Schein-Asylanten in einen Topf geworfen werden — mit allen nachteiligen Konsequenzen.SPD und FDP haben gestern eine Große Anfrage eingebracht. Ich kann nur sagen, wer sich mit ihr befaßt, muß feststellen: Sie kommt zu spät, sie ist substanzlos, und sie ist Augenwischerei.
Dann, wenn dort so kindliche Fragen wie unter Ziffer 1 „Was ist Inhalt des Asylrechts in der Bundesrepublik?" und unter Ziffer 4 „Wie läuft ein normales Asylverfahren ab?" formuliert werden oder Fragen gestellt werden, die auf Grund von Fragen der CDU/CSU-Fraktion bereits vor einem Jahr beantwortet wurden, muß man einfach feststellen: Die Zeitfür solche Fragen ist längst vorbei, es ist die Zeit für Antworten und Entscheidungen schon längst gekommen.
Meine Damen und Herren, die Zahlen sprechen für sich. Vor 1976 hatten wir weit unter 10 000 Asylbewerber pro Jahr. 1976 waren es schon über 11 000, 1977 über 16 000 Asylbewerber. 1978 stieg dann die Zahl auf 33 136 an, und 1979 haben wir nach offiziellen Angaben bereits 51 493 Asylbewerber gehabt. Dazu kommen noch diejenigen, die von den Ausländerbehörden und den Grenzschutzbehörden wegen Überlastung noch gar nicht gemeldet wurden, so daß man von einer Gesamtzahl von über 60 000 allein im Jahr 1979 ausgehen muß. Das bedeutet im Vergleich zum Jahr 1978 eine Zunahme von 100 %.
Die letzte Zahl stammt aus dem Jahre 1980: Im Januar haben wit bereits 11 164 offizielle Asylbewerber. Das ist gegenüber dem Januar 1979 eine Steigerung von über 500 %.
Angesichts dieses Beweismaterials kommt Bundesinnenminister Baum reichlich verspätet zu der Erkenntnis, daß ihn das mit großer Sorge erfüllen müsse, da er mit einer Asylantenzahl von etwa 100 000 im Jahre 1980 rechne. Der gleiche Bundesinnenminister hat mit der ihm eigenen prognostischen Kraft allerdings Ende November 1979 im Innenausschuß noch festgestellt, daß der Zuwachs im Jahre 1979 leicht abgeflacht sei und ein dramatischer Zuwachs nicht stattgefunden habe. Diese Prognose hat sich sehr kurz als falsch und die Öffentlichkeit täuschend herausgestellt.
Die Entwicklung ist deswegen so besorgniserregend, weil etwa 90 % aller Asylbewerber nicht aus politischen Gründen Asyl beantragen, sei es, daß sie aus wirtschaftlichen Gründen oder aus sonstigen Gründen in die Bundesrepublik Deutschland kommen wollen, angelockt durch ein außerordentlich großzügiges Sozialsystem. Das hat dazu geführt, daß die Belastungen der Länder und der Gemeinden unzumutbar geworden sind. Auch hier eine Zahl: Die Stadt Stuttgart hatte im Jahre 1972 47 Asylbewerber; die gleiche Stadt muß im Januar 1980 über 1000 Asylbewerber unterbringen.
Da die entsprechenden Wohnungen längst belegt sind, sind Städte wie beispielsweise die Stadt Leinfelden-Echterdingen gezwungen, diese Asylbewerber in Hotels unterzubringen, und zwar zu Preisen, wie sie sich der normale Steuerzahler bei uns überhaupt nicht leisten könnte. Wir müssen auch feststellen, daß es zahlreiche Beispiele des Mißbrauchs der Sozialhilfe gibt, daß Straftaten begangen werden, daß dunkle Geschäfte durch Schein-Asylanten betrieben werden und daß hier in massiver Form die lange Verfahrensdauer von nach wie vor fünf bis acht Jahren bis zum Abschluß des Verfahrens mißbraucht wird. Ich kann hier auf Einzelschilderungen verzichten. Die sind Ihnen auf Grund der vielfältigen Hilferufe aus Kommunen, insbesondere der Stadtoberhäupter in den Großstädten, unabhängig von der Parteizugehörigkeit, bekannt.Meine Damen und Herren, die Hauptverantwortung trägt nach Auffassung der CDU/CSU eindeutig Bundesinnenminister Baum als Ressortchef. Wir haben ihn hier wiederholt wegen seiner Amtsführung seit seinem Amtsantritt als Sicherheitsrisiko für unser Land bezeichnen müssen, sozusagen als Egon Bahr der Innenpolitik.
Er hat aber leider auch auf einer Reihe anderer seiner Zuständigkeitsgebiete versagt. Denken wir an die Bekämpfung der Rauschgiftsucht, an den Bereich des Zivilschutzes, den Datenschutz oder den Bereich des Sportes. .Dieser Bundesinnenminister hat keine konkreten Maßnahmen getroffen, um den Zustrom von Schein-Asylanten zu stoppen. Er hat nichts unternommen, um mit den Ländern zu vernünftigen funktionsfähigen Vereinbarungen zu kommen. Im Gegenteil, sein Verhalten hat die Länder in erheblicher Weise verärgert und düpiert.Er hat nichts getan, um dem ihm obliegenden Auftrag nachzukommen, nach §§ 39, 40 des Ausländergesetzes zusammen mit den Ländern Sammellager für Ausländer zu bestimmen. Statt dessen zieht er durchs Land und erklärt in einem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung" vom 13. Februar dieses Jahres, der Bund habe keine Zuständigkeit für die Einrichtung von Sammellagern. Dieser Bundesinnenmini-
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16472 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Sprangerster ist durch seine Nachlässigkeit verantwortlich für die ständige Aushöhlung des Asylrechts durch Schein-Asylanten, die rechtsmißbräuchlich Asyl begehren.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr!
Herr Kollege, da Sie Jurist sind und das Grundgesetz kennen und praktizierender Christ sind, können Sie dem Hause vielleicht auch erklären, wie Sie die Definition des Begriffes „Schein-Asylant" formulieren wollen. Sie reden von „Schein-Asylanten", und keiner weiß, was das ist.
Ich bin mir nicht bewußt, daß Sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt bei der Diskussion im Innenausschuß einmal haben sehen lassen. Das erklärt natürlich,
warum Sie diese Frage in dieser Form stellen zu einem Problem
— ich wäre dankbar, wenn Sie die Antwort abwarten würden, ich habe Ihre Frage auch abgewartet —, das im Innenausschuß vielfach diskutiert wurde. Schein-Asylant ist derjenige, der rechtsmißbräuchlich behauptet, politisch Verfolgter zu sein; das ist eine abgesicherte Erkenntnis. Aber ich würde doch empfehlen, sich hier mit der Fachliteratur und den Fachdiskussionen einmal vertraut zu machen.
Meine Damen und Herren, wir müssen auch feststellen, daß es der Bundesinnenminister unterlassen hat, Maßnahmen zu treffen, um die Gerichte und die Ausländerbehörden zu entlasten, ihnen vor allem eine Verfahrensordnung zu geben, mit der sie rechtsstaatlich einwandfrei und zügig mit dieser Asylantenflut fertig werden könnten. Ganz im Gegenteil müssen wir sogar feststellen, daß der Bundesinnenminister den ihm unterstellten Grenzschutzbehörden nun sogar die Möglichkeit gegeben hat, einreisende Ausländer, beispielsweise in Stuttgart oder Frankfurt, die mit gefälschten Pässen ankommen, durchzulassen, so daß diese Leute dann anschließend die Möglichkeit haben, diese gefälschten Pässe zurückzuschicken, um neue Asylantenströme in die Bundesrepublik Deutschland zu bringen. Das geschieht mit Duldung des Dienstvorgesetzten der Grenzschutzbehörden.
Wenn der Bundesinnenminister in dem gleichen Interview erklärt, das Asylantenproblem könne nur durch eine Grundgesetzänderung und durch eine Einschränkung des grundgesetzlich verbrieften Asylrechts reduziert werden, dann muß ich schon sagen: Angesichts der Tatsache, daß die CDU/CSU nun zum zweiten Male einen Gesetzentwurf vorlegt, der ganz eindeutig keine Grundgesetzänderung enthält, sondern rechtspolitische Maßnahmen vorsieht, ist das Schlichtweg eine unsinnige Behauptung.
Es gibt abgesehen von Grundgesetzänderungen auch noch andere rechtsstaatliche Möglichkeiten. Voraussetzung allerdings ist, daß der Bundesinnenminister bzw. der Bund die alleinige Kompetenz im Bereich des Asylverfahrensrechts endlich wahrnimmt, daß er sich nicht vor Verantwortung drückt und daß er vor allem den untauglichen Versuch unterläßt, die Schuld hier einseitig den Ländern zuzuschieben.
Herr Bundesinnenminister, Sie haben in den letzten Tagen wiederholt diesen Versuch unternommen. Ich halte es für unredlich, wenn Sie eine unzureichende Verfahrensordnung, die Sie zu verantworten haben, den Ländern dergestalt in die Schuhe schieben wollen, daß sie ihnen vorwerfen, sie würden mit den Folgen dieser von Ihnen zu verantwortenden unzulänglichen Verfahrensordnung nicht fertig. Das ist ein Schwarzer-Peter-Spiel, das wir nicht mitmachen. Es wäre Zeit, daß Sie diese Art der Schuldzuweisung an die Länder endlich aufgeben.
Die CDU/CSU hat sich — das wird sie auch in Zukunft tun — uneingeschränkt zum Grundrecht auf Asyl, zur Aufnahme politisch Verfolgter bekannt. Was wir wollen, ist ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren, das möglichst schnell — ich wiederhole den Begriff, weil er bei den Fachleuten unumstritten ist — Schein-Asylanten von tatsächlichen politischen Flüchtlingen trennt. Das ist nämlich die Definition des Schein-Asylanten. Wir wollen nicht, daß Schein-Asylanten und Wirtschaftsflüchtlinge das Asylrecht bei uns ad absurdum führen.
Unser Gesetzentwurf, der heute zur Beratung ansteht, enthält deshalb rechtsstaatlich einwandfreie praktikable Gesetzesvorschläge, die nach unserer Überzeugung zu wesentlichen Verkürzungen und Vereinfachungen führen.Ich darf kurz zusammenfassen. Erstens sind wir der Auffassung, daß die Grenz- und Ausländerbehörden prüfen sollen, ob ein Asylantrag schlüssig bzw. unschlüssig ist, ob der Antragsteller bereits als Flüchtling anerkannt ist. In diesem Fall soll nach unserer Auffassung ein Anerkennungsverfahren nicht stattfinden. Das ist absolut nichts Neues.
— Herr Penner, Sie haben auf diesem Gebiet doch sicherlich mehr Sachkunde als Ihr Vorredner. Sie wissen, daß diese Regelungen in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften des Jahres 1977 bereits enthalten sind. Leider werden sie nicht praktiziert, weil der Bundesinnenminister zuläßt, daß sie unterlaufen werden. Deswegen sind wir der Meinung, daß eine gesetzliche Regelung geschaffen werden muß,
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Sprangerdie vor allem auch den Bewerbern eine angemessene rechtliche Grundlage verschafft und die das Unterlaufen erschwert.Zweitens. Wir meinen, daß neu einreisende Asylbewerber nur noch bei den Grenzbehörden Anträge stellen sollten. So ist feststellbar, ob hier nun tatsächlich echte Asylanträge vorliegen. Wenn das nicht der Fall ist, soll eine Zurückweisung oder eine Abschiebung möglich sein. Es muß dafür gesorgt werden, daß die unbeschränkte Einreisemöglichkeit für Asyltouristen gestoppt wird. Da kann ich Ihnen nur sagen: Schauen Sie sich an den Grenzen zu Holland, zu Frankreich um, wo ganze Omnibus- und Taxiunternehmen damit beschäftigt sind, diese Schein-Asylanten an die Grenze heranzubringen, die dort, wo sie nicht kontrolliert werden, dann auch Zugang in die Bundesrepublik Deutschland finden. Das ist ein unerträglicher Zustand.
Im übrigen wird das Verfahren, das wir vorschlagen, in allen freiheitlichen westlichen Staaten praktiziert. Damit werden nach unserer Überzeugung Wirtschaftsflüchtlinge und Schein-Asylanten rechtzeitig erfaßt.Als drittes schlagen wir die Verkürzung des Verfahrens durch Parallelschaltung des Ausländerverfahrens mit dem Anerkennungsverfahren vor. So wäre ein weiteres Verfahren nach rechtskräftigem Abschluß des Asylverfahrens nicht mehr möglich, und das Verfahren würde gestrafft.Schließlich sind wir nach wie vor der Meinung, daß die Berufung als Rechtsmittel ausgeschlossen werden kann.Ich sage hierzu, daß unsere Vorschläge in den Ausschüssen und im Plenum durchaus diskutierbar sind, daß sie keine starre Meinungsbildung innerhalb der Fraktion darstellen. Wir sind nur der Meinung, daß über diese Vorschläge oder auch andere Vorschläge auf jeden Fall noch vor der Sommerpause im Plenum entschieden werden müßte.Jetzt noch ein Wort zur Auffassung des Bundesinnenministers zur Abschaffung der Berufung. Herr Baum hat dazu in einem Interview erklärt, der Wegfall des Berufungsverfahrens sei rechtspolitisch nicht vertretbar. Weil dies wirklich nicht haltbar ist, kann man eine solche Bewertung, vor allem, wenn sie von einem Minister stammt, der für den Schutz der Verfassung zuständig ist, ebenfalls nur als unsinnig bewerten. Sie steht in glattem Widerspruch zu einer vorgestrigen Aussage des scheidenden. Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, Professor Dr. Fürst, der angesichts des Asylantenstromes ausdrücklich die Abschaffung der Berufung vertritt.
Der steht sicherlich nicht in dem Verdacht, rechtspolitisch zweifelhafte Forderungen aufzustellen.Im übrigen haben wir eine Gesetzeslage, die dadurch gekennzeichnet ist, daß in einer Vielzahl von Gesetzen ohnehin keine Berufung vorgesehen ist, wie z. B. im Lastenausgleichsgesetz, im Wehrpflichtgesetz, Zivildienstgesetz, Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz und vor allem auch im Schwurgerichtsverfahren.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Regierungschefs haben in der vergangenen Woche einen Schritt in die richtige Richtung getan, als sie eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben..Vizepräsident Leber: Herr Kollege, ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich komme zum Abschluß. — Es ist zu hoffen, daß diese Arbeitsgruppe tatsächlich zu konkreten Ergebnissen kommt und diese Vorschläge dann auch verwirklicht werden.
Wir von der CDU/CSU sind — wie ich schon sagte — bereit, alle vernünftigen Vorschläge im Ausschuß zu beraten. Wir bitten nur um zügige und vor der Sommerpause abschließende Beratung unseres Entwurfes.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Montag habe ich einen Kommentar gelesen, der genau bei dieser Kommission ansetzte, von der Herr Spranger gerade sprach. Ich meine die Kommission, die der Herr Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der Länder zu dem Zweck eingesetzt haben, bis zum 15. Juni dieses Jahres vernünftige Überlegungen und Ergebnisse vorgetragen zu erhalten, um dann sinnvolle, wohlüberlegte Beschlüsse fassen zu können. Wir halten das natürlich für völlig richtig — da stimme ich Herrn Spranger zu —, und zwar deshalb, weil wir meinen, daß da, wo Schlepperorganisationen Menschenhandel treiben und wo — vielfach augenzwinkernd — im wirtschaftlichen Interesse ganzer Branchen der Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer auf dem Wege des Asylrechts umgangen wird — da sitzt doch der Mißbrauch, und zwar hauptsächlich hier —, mit geeigneten Mitteln eingegriffen werden muß.Der Kommentar war für mich aber auch deswegen lesenswert, weil er ausführte, diese Kommission sei wohl der letzte Versuch, dieses heikle Thema „Asylrecht" aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Der Kommentator bezweifelte, ob das gelingen könne. Ich gebe seiner Skepsis recht, nicht nur weil ich dieses andauernde publizistische Trommelfeuer aus Baden-Württemberg in den vergangenen Wochen für Wahlkampf halte, sondern auch deshalb, weil das, was Herr Spranger jetzt gerade ausgeführt hat, nicht wesentlich besser war. Was ist es anderes als Wahlkampf, Herr Spranger, wenn Sie — und Herr Späth hat es noch etwas krasser ausgedrückt — Grenzschutzbeamte in Stuttgart beschuldigen, wie er es formulierte, sie „schleusten" widerrechtlich Eritreer ein, wobei er natürlich — ebenso wie Sie — Innenminister Baum treffen wollte. Was ist es denn anderes als besonders geschmackloser Wahlkampf, Herr Spranger, wenn Herr Späth das Asylproblem in seiner unerschütterlichen Selbstgerechtigkeit so
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16474 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Frau Dr. Däubler-Gmelinkommentiert: Sie leben hier nur von „unserer" Sozialhilfe, und zwar besser als ein Staatssekretär in Pakistan von seinem Gehalt? Das hat er in Ulm gesagt, und er hat an anderer Stelle angefügt, daß man deshalb verhindern müsse, daß die „Buschtrommel" — es handelt sich dabei natürlich um lauter Wilde — die Kunde von diesen Segnungen in alle Welt trage. Das ist ganz mieser Wahlkampf.
Auch was Sie aus Anlaß Ihres Gesetzentwurfs gesagt haben, war nicht viel besser, Herr Spranger. Lassen Sie mich zu einigen Punkten kommen, in denen Ihr Entwurf keine Problemlösungen bringt.
Es ist völlig unbestritten, daß die Straffung der Verfahren im Zusammenhang mit der Anerkennung von Asylsuchenden, also von politisch verfolgten Menschen, Kollege Meinecke, weiterhin auf unserer Tagesordnung stehen muß. Das ist ganz klar.
Ihre Vorstellungen haben wir — zusammen —, Herr Spranger, mehrfach geprüft und immer wieder als zu leicht und untauglich befunden: Zuletzt in den gründlichen Diskussionen, die wir 1978 hatten und die dazu geführt haben, daß wir gemeinsam mit großer Mehrheit Regelungen getroffen haben, die sich jetzt auswirken. Wir stehen zu diesen Regelungen.Was schlagen Sie von der CDU/CSU vor? Sie schlagen vor, daß in Zukunft Asylanträge von neu Einreisenden nur noch bei den zuständigen Grenzbehörden gestellt werden sollen. Sie wollen diesen Grenzbehörden ein begrenztes Prüfungs- und Entscheidungsrecht einräumen. Dort soll geprüft werden können, ob der Schutzsuchende auch das vorträgt, was er nach unseren Bestimmungen vortragen muß, wenn er Asyl erhalten will. Mißbräuchliche Anträge sollen von diesen Behörden als nicht gestellt behandelt werden können. Was heißt das in der Praxis? Das heißt, daß zwar die Personalprobleme und die Informationsprobleme bei den betroffenen Bediensteten, beispielsweise hinsichtlich der politischen Lage im Heimatland der Flüchtlinge, mit Ihrem Vorschlag nicht besser-als heute geregelt sein werden; aber es bedeutet auf jeden Fall die Möglichkeit der sofortigen Zurückweisung an der Grenze. Das wird viel schneller und reibungsloser als heute möglich sein. Das wird, und zwar ohne anwaltliche und richterliche Beratung, häufig die Regel sein.Wenn Sie uns schon nicht glauben, warum glauben Sie dann nicht dem, was der Bischof Hengsbach aus seinen Erfahrungen im letzten Jahr dazu gesagt hat? Er hat davor gewarnt, weil eine solche Regelung ungeheuer gefährlich sei. Er hat ausdrücklich gewarnt, Ihren Weg zu beschreiten.Wenn Sie sagen, Ihr Vorschlag insgesamt beeinträchtige die Rechtsweggarantie nicht, er höhle das Asylrecht nicht aus, dann sage ich Ihnen: Das alles läuft auf eine Praxis hinaus, die sich am Grundgesetz vorbeimogelt. Das ist der entscheidende Punkt.
Zum Verwaltungsgerichtsverfahren steht zunächst eine ganz beachtliche Feststellung in Ihrem Gesetzentwurf, und zwar sowohl auf dem Vorblatt als auch in der Begründung. Sie behaupten dort, unsere Regelungen aus dem Jahre 1978 hätten sich nicht bewährt. Das behaupten Sie zu einem Zeitpunkt, im November 1979, in dem die Regelung, von der Sie dies sagen, noch gar nicht Kraft war; denn diese ist erst am 1. Januar 1980 in Kraft getreten. Erst mit dieser Regelung haben wir die Zuständigkeit von Ansbach weg auf 17 Verwaltungsgerichte verteilt. Wenn Sie wenigstens sagen würden, daß die Regelung deswegen nicht praktisch geworden sei, weil beispielsweise Baden-Württemberg, das ja jetzt am lautesten nach Bundesmaßnahmen ruft, diese Regelung trotz der Übergangszeit nicht eingeführt habe, weil es keine ausreichenden Verwaltungsrichterstellen zur Verfügung gestellt hat — und die Zahl muß sich ja wohl am vereinbarten Verteilungsschlüssel messen lassen —, hätten Sie recht. Das sollten Sie freilich ganz laut sagen und der Bundesregierung nicht fälschlicherweise Gewichte ans Bein binden.
Lassen Sie mich ein weiteres Wort zu Ihren Vorschlägen sagen, die Altverfahren, die jetzt in Ans-bach anhängig sind, sollten auf die neu zuständigen Verwaltungsgerichte übertragen werden. Ich bin nicht der Auffassung, daß das bruchlos mit Ihrer sonstigen Behauptung übereinstimmen kann, Sie wollten das Verfahren beschleunigen. Sie erreichen damit nur eines: Sie werden auch die neu zuständigen Gerichte von Anfang an verstopfen. Das ist ein Punkt, über den man reden muß, wenn man sich überlegt, daß es zugleich mehr Aufwand bedeutet, die gesamten Akten von Ansbach aus zu den neuen Gerichten zu schicken. Da muß dann alles dort noch einmal erarbeitet werden. Man muß sich in die Dinge einarbeiten. Das bringt alles viel mehr Bürokratie. Ich halte das nicht für praktikabel.Ihre Absicht, jetzt generell die zweite Tatsacheninstanz abzuschneiden, mag Ihrer Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit entsprechen. Wir jedoch halten das weder für erforderlich noch für sachdienlich. Nach unserer Auffassung sollten wir erst einmal das Verfahren und seine Auswirkungen abwarten, daß ab 1980 voll zum Zuge kommen kann, wenn die Länder mitmachen.Lassen Sie mich jetzt etwas zu einer Forderung sagen, die Sie vorgetragen haben. Sie sagten heute wieder, man sollte Asylbewerber generell ohne Arbeitserlaubnis in Sammellagern unterbringen. In diesem Punkt ist natürlich sehr interessant, wer welche Kompetenz hat, obwohl ich da dem Bundesinnenminister mehr zuneige als Ihnen, Herr Spranger. Aber es erschreckt mich einfach, daß diese Forderung nach Sammellagern allein unter diesen spitzfindigen juristischen Aspekten diskutiert wird. Ich halte das für ein ganz großes menschliches und soziales Problem.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16475
Frau Dr. Däubler-GmelinHäufig sagt Herr Späth derzeit, er wolle durch solche Sammellager nicht nur die Unterbringungsprobleme lösen, die Echterdingen hat, die Leinfelden hat und die Stuttgart hat — die Probleme sehen wir —, sondern er wolle damit „abschreckend" wirken. Und das ist es, was ich hier einmal deutlich rügen will. Was meint er denn damit? Er meint, man müsse Eritreer, die aus Flüchtlingslagern kommen — denn die kommen zur Zeit nach Echterdingen —, abschrecken. Es handelt sich um Eritreer, die zumeist im Flüchtlingslager im Sudan leben, unter Lebensbedingungen, die man sich elender überhaupt nicht vorstellen kann. Ich halte eine solche Begründung für peinlich und geschmacklos.Was die politische und die menschliche Dirnension anlangt, so bin ich auch hier der Meinung, die Bischof Hengsbach als Vorsitzender der zuständigen Kommission bei den deutschen Bischöfen geäußert hat. Er hat eine ganze Menge dazu gesagt. Er hat gesagt:Aus Erfahrung mit unserer eigenen Flüchtlingsbewegung wissen wir, daß ein zur Untätigkeit verurteilendes Lagerleben auf längere Zeit die Persönlichkeit und die Familie zerstört.Und wovon ist denn eigentlich heute nachmittag geredet worden? Doch von der Familie, wenn ich mich nicht irre.
Gilt denn das plötzlich nicht mehr?
Weiter führte er aus: Wenn das für Menschen bei uns gilt, dann gilt es um so mehr für Menschen aus anderen Kulturkreisen, wenn sie neben sich eine Wohlstandsgesellschaft sehen, aus der sie vollständig ausgeschlossen sind.Seine Folgerung war — das ist ein Punkt, den wir auch in Zukunft deutlich vortragen müssen —, die Politiker sollten das Lagerwesen, das so oft zu familiären und sozialen Spannungen führe, nicht nur verbessern, sondern nach Möglichkeit ganz abschaffen.Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund in Baden-Württemberg hat mit ähnlichen Gedanken in den letzten Tagen genau das dem Ansinnen des Herrn Späth gegenübergestellt.Ich darf wiederholen: Auch nach meiner Ansicht sind die geforderten Sammellager, zumindest wenn sie auf längere Zeit angelegt sind, überhaupt kein geeigneter Weg, die anstehenden Unterbringungsprobleme zu lösen.Was Ihren letzten Vorschlag angeht, Herr Spranger, die asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren zeitlich parallel-, nicht hintereinanderzuschalten, so haben Sie ganz recht, daß man das im wesentlichen schon heute machen kann. Sie können sich aber einmal mit Praktikern darüber unterhalten, ob das den großen Druchbruch bringt. Die werden Ihnen sagen, daß es ihn nicht bringt, und zwar dann nicht, wenn es sonst nicht gelingt, das Asylverfahren entscheidend zu verkürzen. Dafür habe ich die Bedingungen genannt. Wenn das nicht gelingt, dann gibt es immer wieder neue Gründe, ein neues ausländerrechtliches Verfahren anzuschließen.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Spranger?
Wird die auf meine Zeit angerechnet? -
Ja, das muß angerechnet werden.
Gut, dann würde ich Sie bitten, Herr Spranger, kurz zu fragen. Bitte, seien Sie so lieb; denn ich will noch einen Punkt abhandeln.
Kurz zu fragen ist mir eigen. Dürfen wir, nachdem Sie sämtliche Vorschläge von uns abgelehnt haben, erwarten, daß Sie im Rest Ihrer Rede auch eigene Vorschläge bringen?
Natürlich, keine Sorge! Wir haben auch schon Vorschläge gemacht. Darauf beruhen ja unsere Vorstellungen von 1978. Ich habe deswegen auch auf die Kommission rekurriert, von der wir Vorschläge erwarten. Wir haben auch eine ganze Menge Vorschläge in Arbeit. Das ist Ihnen doch alles bekannt, Herr Spranger.Ich will jetzt noch einen letzten Punkt aufgreifen. Was mich an der Diskussion zum Problem der Asylsuchenden aus Ihrem Lager am meisten stört, ist die Art und Weise und die Sprache, mit der Sie das Problem angehen. Sie instrumentalisieren das alles. Sie reden von Asylanten, von Schein-Asylanten, von Wirtschaftsflüchtlingen, von Schein-AsylantenWellen und -Fluten und viel, viel von Mißbrauch.
— Sehr richtig. Ich halte dies für eine ganz kalte, für eine verächtliche, für eine ganz technokratische Behandlung, die überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt, daß es sich dabei um Menschen handelt, die bei uns Schutz und Hilfe suchen, und daß es sich dabei überdies um heimatlose Menschen handelt, um arme Menschen, um umherirrende Menschen, die niemand haben will.Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Sie neben all dem, was Sie zu diesen Mißbrauchsproblemen sagen, Herr Spranger, nicht auch mal sagen, daß die riesigen Flüchtlingsströme in Afrika und Asien politische Wirklichkeit sind, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, und zwar hier und heute. Und obwohl — auch diesen Hinweis vermisse ich bei Ihnen — die Zahl der Asylbewerber bei uns so ansteigt, ist das alles doch nur ein ganz kleiner Ausläufer dieser riesigen Welle von Flüchtlingen und Elend, die wir in diesen Erdteilen vor uns sehen.Hier muß doch gehandelt werden, international und national. Auch hier muß man doch ansetzen. Darüber darf man doch nicht nur reden. Beschränkt sich denn die Menschlichkeit bei uns — auch hierzu zitiere ich Bischof Hengsbach — auf die „aufsehenerregende Übernahme" einer großen Gruppe vietnamesischer Flüchtlinge? Damals hat es doch mit der Aufnahme geklappt, mit der Verteilung zwischen den Ländern, mit der Zuweisung und der Ver-
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16476 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Frau Dr. Däubler-Gmelinteilung in den Ländern, mit der Unterbringung — übrigens keinesfalls in Sammellagern —, mit der Integrationsbereitschaft. Das alles hat doch so gut geklappt, daß es Ihre Kollegen waren, die gefordert haben, man solle die Zahl der Aufzunehmenden auf mehr als 50 000 ausdehnen und das ist doch eine Zahl, die, auch gemessen an der Zahl von Asylsuchenden, die wir heute haben, ganz erstaunlich hoch ist.Oder: warum vertreten Sie, Herr Spranger, denn eigentlich nicht auch mal in der Öffentlichkeit den Vorschlag, den der Bundestag vor zwei Jahren in seine Entschließung aufgenommen hat? Damals waren Sie doch dafür. Dort heißt es — ich lese es einmal vor —:Es muß gemeinsam mit den Ländern geprüft werden, inwieweit Schutzsuchenden aus Bürgerkriegs- und anderen Krisengebieten, die nicht Asylsuchende im engeren Sinn sind, im Rahmen der Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland vorübergehende Hilfe nach den allgemeinen Vorschriften des Ausländerrechts gewährt werden kann, ohne sie auf das für sie regelmäßig aussichtslose Asylverfahren zu verweisen.Das wäre ein konstruktiver Versuch. Ich weiß, daß bei uns darüber nachgedacht wird. Aber Sie hören ja gar nicht zu, Herr Spranger. Das ist für Sie offensichtlich gar nicht wichtig.Diese konstruktiven Versuche sind es, was wir brauchen, wenn wir es wirklich ernst meinen mit unseren geschichtlichen Erfahrungen und unserem Bekenntnis zum Asylrecht als einem Grundrecht für politisch Verfolgte.
— Daß Sie das für geschmacklos halten, ist Ihre Einschätzung. Wenn wir das ernst meinen, geht es nicht an, daß wir hier Mogelpackungen verkaufen.
Wir werden uns weiter um solche konkreten Vorschläge bemühen.
Wir werden nur eines nicht machen: Wir werden nicht mit den Ängsten der Leute und auf dem Rükken dieser armen, schutzsuchenden Leute Wahlkampf machen. Das lehnen wir ab.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wendig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Entwurf der CDU/ CSU zur Beschleunigung des Asylverfahrens ist in seinem Inhalt im wesentlichen nicht neu. Er beinhaltet wie schon der Entwurf von 1978 die generelleAbschaffung der Berufung im Asylverfahren und die Übertragung gewisser Überprüfungsbefugnisse an die Grenz- und Ausländerbehörden. Wir haben das gehört.Man könnte es sich heute sehr einfach machen und auf die rechtspolitischen und praktischen Bedenken verweisen, die auch die FDP schon 1978 gegen die damaligen Vorstellungen der Opposition geltend gemacht hat. Ich will das nicht tun.Daß sich die Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland Asylsuchenden seit 1978 ständig vermehrt hat, steht sicher außer Zweifel. Ob das allerdings an dem gegenwärtig gültigen Asylverfahren liegt, scheint mir aber sehr die Frage zu sein. Immerhin rechtfertigt die Entwicklung besonders in den letzten Monaten die Überlegungen, die die Bundesregierung und Landesregierungen angestellt haben, was getan werden muß, um sich der hohen Zahl am Ende unberechtigt Asylsuchender zu erwehren.Der Entwurf der Opposition erscheint mir indes auch heute nicht als der richtige Weg. Asylrecht und Asylverfahren stehen im Augenblick im Mittelpunkt der innenpolitischen Diskussion. Ob und inwieweit allerdings die Sachdarstellung überall den Tatsachen entspricht, muß man bisweilen bezweifeln, vor allem dann, wenn dies zum Gegenstand eines Wahlkampfes in einem bestimmten Bundesland gemacht wird.Aber die öffentliche Diskussion ist nun einmal da. Wir benutzen daher gern die Gelegenheit, die wahren Zusammenhänge und die Probleme, so wie wir sie sehen, noch einmal darzustellen.Das in Art. 16 unserer Verfassung garantierte Grundrecht, das politisch Verfolgten einen Anspruch auf Asyl in unseren Grenzen zuerkennt, darf im Bewußtsein unserer Bürger nicht dadurch in Mißkredit gebracht werden, daß zu unrecht Asylsuchende — aus uns allen bekannten Gründen — von einem zu langen Asylverfahren und dessen finanziellen Vorteilen profitieren. Aber das Asylrecht ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Verfassung. Unsere eigene jüngste Geschichte verpflichtet uns dazu, mit diesem Grundrecht sehr sorgfältig umzugehen. Das bedeutet vor allem auch, daß alle rechtsstaatlichen Sicherungen für das Anerkennungsverfahren so weit wie möglich und vertretbar beibehalten werden müssen.Ich weiß nicht, ob der Opposition bei der Übertragung gewisser Befugnisse auf die Grenzbehörden ganz wohl ist. In ihrer Begründung verweist sie nämlich darauf, daß durch eine entsprechende Schulung der Grenzbeamten und durch besonders qualifiziertes Personal an häufig benutzten Einreisepunkten die von ihr vorgeschlagene gesetzliche Neuregelung begleitet werden müsse. Ich bezweifle allerdings sehr, ob Grenzbehörden mit einiger Zuverlässigkeit beispielsweise die Unschlüssigkeit eines Asylantrages immer werden feststellen können. Dies bedeutet kein Mißtrauen gegenüber den zuständigen Beamten an der Grenze, sondern liegt schlicht in der Natur der Sache und in der Komplexität der auf den ersten Blick schwer durchschauba-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16477
Dr. Wendigren Einzelschicksale, verbunden mit den sprachlichen Problemen und vielem anderen mehr.Ich muß auch hier auf den Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, Herrn Hengstbach, verweisen, und auf die Stellungnahme der Evangelischen Kirche. Beide haben im vergangenen Jahr eine sehr eindeutige Position bezogen, die auf eine großzügige Asylpraxis abgestellt ist und die ein restriktives Verfahren insbesondere aus Gründen der Humanität in sehr deutlichen Worten ablehnt. Ich bitte Sie, sich dieses auch einmal in Erinnerung zu bringen. Ich entnehme der Stellungnahme des Beauftragten der katholischen Bischofskonferenz vom 26. Juli 1979 im übrigen sehr deutlich, daß sogar der Wegfall des Widerspruchsverfahrens, das wir 1978 geschaffen haben, aber auch die Einschränkung von Berufsmöglichkeiten aus rechtsstaatlichen Gründen abgelehnt wird. Dies ist unsere Position, wobei ich sie nicht unbedingt verfassungsrechtlich, aber auf jeden Fall rechtspolitisch begründen will, und diese Begründung zieht.Gleichwohl müssen wir uns mit der zunehmenden Zahl von Asylsuchenden auseinandersetzen. Dies setzt aber voraus, daß wir uns einmal der Mühe unterziehen, etwas genauer zu differenzieren, um zuverlässiger an die Ursachen der Entwicklung heranzukommen. Das haben Sie nicht getan.Wir haben im Jahr 1978 zwei gesetzliche Maßnahmen zur Beschleunigung des Asylverfahrens beschlossen, den Ausschluß des Widerspruchsverfahrens, den Ausschluß der Berufung in den Fällen, in denen das Verwaltungsgericht eine Klage als offensichtlich unbegründet abweist, und die Dezentralisierung der gerichtlichen Zuständigkeiten. Die letztgenannte Änderung ist im übrigen erst am 1. Januar 1980 in Kraft getreten. Davon war schon die Rede. Ich frage ebenso wie die Frau Kollegin Däubler-Gmelin, wie die Feststellung der Opposition im November 1979, also vor dem 1. Januar 1980, überhaupt begründet werden kann, diese Maßnahmen hätten sich als nicht ausreichend erwiesen.Abgesehen davon: Nehmen wir den 1. Januar 1980, ist die Zeit der Erprobung nicht zu kurz? Was vor allem aber haben die Länder getan, um sich auf die gesetzliche Neuregelung personell und organisatorisch einzustellen? Sofern und soweit die im Gesetz von 1978 vorgesehenen Maßnahmen getroffen sind, wird, davon bin ich überzeugt, die Dauer des Asylverfahrens gegenüber den bisher üblichen Zeiten um einen erheblichen Zeitraum verkürzt werden können. Auch die zur Zeit in Baden-Württemberg aus bestimmten Gründen immer wieder beklagten Zustände sind nicht oder nur zu einem sehr geringen Teil auf das gegenwärtig gültige Asylverfahren zurückzuführen. Die Länder haben es in der Hand, wo und wie sie Asylsuchende in ihrem Hoheitsbereich verteilen. Wenn es jetzt sogar noch heißt — Herr Spranger, Sie haben dieses Beispiel gebracht —, Asylsuchende hätten in teuren Hotels untergebracht werden müssen, so liegt auch dies nicht am Asylverfahren, sondern daran, wie die Länder die einstweilige Unterbringung organisieren. Ich halte im übrigen einen solchen Vorwurf, nämlich Unterbringung in einem teuren Hotel — es ist nämlich ein Vorwurf, von Ihnen so gemeint —, für sehr gefährlich, weil er geeignet ist, die wirklichen Probleme des Asylrechts für politisch Verfolgte im Bewußtsein der Bevölkerung zu verwischen. Das, meine Damen und Herren, ist Stimmungsmache — und keine sehr gute!
Sehen wir uns den Strom der Asylsuchenden doch einmal etwas genauer an! Da gibt es nämlich auch die große Zahl von Schutzsuchenden aus Bürgerkriegs- und Krisengebieten, die die Bundesregierung — im Einvernehmen mit den Ländern — im Wege der humanitären Hilfe seit langem aufnimmt. Viele dieser Schutzsuchenden werden möglicherweise nicht einmal die strengen Voraussetzungen erfüllen, die an den Status eines politisch Verfolgten geknüpft werden. Der Bundestag — auch davon war schon die Rede — hat schon im Juni 1978 in einem Entschließungsantrag seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht, für diese Gruppen eine besondere gesetzliche Regelung zu schaffen. Die Freien Demokraten begrüßen es deshalb ausdrücklich, daß nunmehr eine entsprechende Gesetzesregelung durch die Koalitionsfraktionen auf den Weg gebracht worden ist.Daneben — das ist ein anderer Punkt — steht eine zunehmende Zahl von Bewerbern, die in der Bundesrepublik Deutschland Arbeit suchen und finden. Für sie ist wegen des Aufnahmestopps für ausländische Arbeitskräfte der Weg des Asylverfahrens die einzige Möglichkeit, um in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen. In den meisten Fällen wird sich dann allerdings herausstellen, daß die Voraussetzungen für ihre Anerkennung nicht gegeben sind. Die Tatsache aber, daß sie — wenn auch illegal — Arbeit finden, z. B. im Bergbau — wir wissen das —, scheint mir deutlich zu machen, daß auf unserem Arbeitsmarkt ein gewisser Bedarf vorhanden ist. Diese Bewerber schlagen indessen in der Asylstatistik nicht unmaßgeblich zu Buche.Ich will mit diesem Hinweis nun keineswegs einer Änderung der Arbeitsmarktpolitik für Ausländer das Wort reden; das wäre sehr gefährlich. Nur muß man auch diesen Aspekt sehen, meine Damen und Herren, wenn von der steigenden Zunahme von Asylbewerbern gesprochen wird. Hier wäre beispielsweise die Frage zu prüfen, ob nicht auf anderem Wege, z. B. über die Einführung eines Visumzwanges für bestimmte Länder, schon vor den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland, nämlich im Heimatland der Bewerber, notwendige Schranken aufgebaut werden können. Ich glaube zu wissen, daß entsprechende Überlegungen im Bundesinnenministerium bereits angestellt werden.Die Ministerpräsidenten der Länder haben, wie wir gehört haben, die Asylprobleme in der vergangenen Woche mit dem Bundeskanzler eingehend besprochen. Es ist eine Bund-Länder-Kommission gebildet worden, die, wie ich weiß, in kurzer Zeit konkrete Vorschläge für eine Verbesserung der Situation erarbeiten soll. Wir werden die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe natürlich in unsere eigenen Überlegungen mit einzubeziehen haben.
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16478 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Dr. WendigDie von der CDU/CSU eingebrachten Vorschläge zur Beschleunigung des Asylverfahrens — die nicht neu sind — stoßen auf unseren entschiedenen Widerstand. Auch wir sehen in der Bewältigung des Asylproblems eine große innenpolitische, aber auch humanitäre Aufgabe. Wir wenden uns gegen einen Mißbrauch des Asylrechts und des Asylverfahrens, und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen und finanzpolitischen Erwägungen, sondern vor allem auch deshalb, damit der Wert des Asylrechts für wirklich politisch Verfolgte in unserer Rechts- und Verfassungsordnung unangetastet bleibt. Dem verfassungspolitischen und sittlichen Wert des Asylrechts entspricht ein rechtsstaatliches Verfahren, das uns durch die Vorschläge der Opposition zu sehr eingeschränkt wird. Ich habe vorhin ein Beispiel dafür angeführt, wie die Zahl unechter Asylanten, wie ich es einmal formulieren möchte, auf andere Weise vermindert werden kann.Im übrigen bleiben wir bei der Auffassung, daß die von uns im Jahre 1978 beschlossenen Maßnahmen ihren Zweck, nämlich eine beträchtliche Verkürzung des Asylverfahrens, erfüllen werden, wenn und sobald die organisatorischen und personellen Voraussetzungen geschaffen sind.Der letzte Satz fällt mir nach Ihren Ausführungen, Herr Kollege Spranger, ein wenig schwer, aber ich will ihn trotzdem sagen: Ich habe nämlich bzw. ich hatte die Hoffnung, diese heutige Debatte werde zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen, an der uns allen gelegen sein sollte. Wenn nicht heute, vielleicht gelingt es uns in den Beratungen des Ausschusses.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wehner, ich habe mich an diese Bewertungen leider schon gewöhnen müssen. Sie sind, Herr Spranger, inzwischen garniert worden mit anderen Klassifikationen. Sie sprechen von „Freiheitsrisiko". Ich finde, das ist unwürdig.
Wir reden heute über das Asylrecht. Es ist keine Frage, daß das Asylrecht in seiner bisher härtesten Bewährungsprobe steht. Die ständig steigenden Zahlen der Asylbewerber sind — das sage auch ich — ein ernstes Problem. Wir müssen damit rechnen, daß wir am Ende dieses Jahres 100 000 Asylbewerber haben werden, also etwa doppelt so viele wie im letzten Jahr. Und wir wissen, daß eine große Zahl von ihnen im Ergebnis zu Unrecht Asyl begehrt.
Meine Damen und Herren, folgen Sie doch bitte mit etwas Aufmerksamkeit dem Herrn Bundesinnenminister!
Der Bundestag hat mit der Beschleunigungsnovelle einen Beitrag zur Lösung des Asylproblems geleistet. Die letzten Auswirkungen können wir schon deshalb nicht übersehen, weil eine wichtige Maßnahme, nämlich die Dezentralisierung der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit, erst am 1. Januar 1980 in Kraft getreten ist. Es kann durchaus sein, daß dieser Beitrag nicht ausreicht. Es ist deshalb legitim und erforderlich, über diesen Beitrag des Bundestages hinaus nach Wegen zu suchen, wie wir unsere humanitären und verfassungsrechtlichen Pflichten in Einklang mit unseren tatsächlichen Möglichkeiten bringen können. Ich meine, daß die Ministerpräsidentenkonferenz in der vergangenen Woche einen Beitrag zur sachlichen Erörterung des Problems geliefert hat. Bund und Länder haben ihre Auffassung bekräftigt, daß an der grundgesetzlichen Verbürgung des Asylrechtes nichts geändert wird. Herr Kollege Spranger, Sie haben das hier auch getan. Dann bitte ich Sie aber ganz intensiv: Bleiben Sie konsequent! Wenn Sie an dem Grundrecht nicht rütteln wollen, dürfen Sie auch keine Vorschläge vorlegen, die dieses Grundrecht aushöhlen.
Übereinstimmung bestand darin, daß Bund und Länder nach weiteren Wegen suchen sollten, um einer Entwicklung entgegenzuwirken, die auch zur Aushöhlung des Asylrechts führen kann. Auch das sage ich, meine Damen und Herren. Natürlich kann eine sehr große Zahl von Asylbewerbern dieses Asylrecht aushöhlen.Die jetzige Entwicklung gibt aber vor allem deshalb Anlaß zur Sorge — bei mir zu großer Sorge —, weil hier Emotionen geweckt worden sind, vor allen Dingen in Baden-Württemberg. Kein anderes Bundesland hat sich so verhalten wie Baden-Württemberg. Alle Bundesländer haben mit diesem Problem zu tun; kein anderes Bundesland hat so reagiert wie das Land Baden-Württemberg. Ichsage es hier ganz
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16479
Bundesminister Baumdeutlich: Dieses Thema ist in den Wahlkampf hineingezogen worden. Zum erstenmal erleben wir es in der Bundesrepublik, daß Ausländerfeindlichkeit zum Thema in einem Wahlkampf wird.
Dazu ist auch dadurch Vorschub geleistet worden, daß man Flüchtlinge — und das ist dann noch verkündet worden — in Hotelbetten für 140 DM festhält und das organisatorische Problem der Verteilung, das andere Bundesländer lösen, nicht bewältigt.Ich möchte daran erinnern, meine Damen und Herren, daß es dieses Land Baden-Württemberg war, das sich in vorbildlicher Weise, aus dem Rahmen der Länder herausfallend, zur Aufnahme von Vietnamesen bereiterklärt hat. Eine geradezu unbegrenzte Aufnahmebereitschaft ist signalisiert worden. Warum dieser Sinneswandel? Die Quote der Vietnamesen, die wir damals festgelegt haben, ist nicht einmal ausgeschöpft. Diese Frage ist in der Phase des Wahlkampfes, in der wir uns jetzt befinden, doch berechtigt.
Ich möchte einige Feststellungen treffen; ich glaube, man muß das jetzt tun, obwohl es lange Zeit nicht notwendig war.Erstens. Die Ausländer, die wir als Gastarbeiter in die Bundesrepublik Deutschland geholt haben, sind keine Belastung dieses Staates, sondern Mitbürger, ohne die unser Wirtschaftssystem nicht funktionieren würde.
Zweitens. Viele Ausländer sind darüber hinaus Mitbürger, die als politisch Verfolgte bei uns Aufnahme suchen, so wie viele Deutsche ihr Leben nur der Aufnahmebereitschaft der Staaten verdanken, die sie vor dem Naziregime beschützt haben.
Drittens. Nun gibt es Belastungen vor allem durch diejenigen, die sich zu Unrecht auf das Asylrecht berufen, im Ergebnis zu Unrecht; dies wird durch ein rechtsstaatliches Verfahren festgestellt. Bei 10% wird das Asylrecht anerkannt; sie sind politisch Verfolgte. Das kann man aber nicht am Anfang feststellen, genauso wie man nicht am Anfang feststellen kann, wer vor Gericht recht hat, auch bei Deutschen nicht. Das wird am Ende eines Verfahrens festgestellt. So sagt es unser Grundgesetz.
Auch ich wehre mich gegen die Abqualifizierung aller abgewiesenen Asylanten — auch wenn 90 nicht als Asylberechtigte anerkannt werden — als Wirtschaftsasylanten.
Selbst wenn eine politische Verfolgung nicht gegeben ist, so kommen doch die meisten nicht aus reiner Abenteuerlust oder deshalb, weil sie hier auf ein bequemes Leben auf Kosten der deutschen Steuerzahler hoffen; sie kommen aus den jämmerlichsten Verhältnissen, meine Damen und Herren.
Sie kommen, weil sie in ihrer Heimat keine Existenzgrundlage finden und in der Bundesrepublik Deutschland Arbeit suchen, und sie arbeiten auch. Haben Sie sich vergegenwärtigt, daß die größte Zahl in unser Wirtschaftssystem integriert ist, daß sie arbeiten?
Sie reden immer nur von denen, die mit ihren Kindern dasitzen und betreut werden müssen. Die größte Zahl — jetzt im Januar etwa 6 000 Türken — sucht Arbeit und findet Arbeit. Die Frage an die deutschen Arbeitgeber ist berechtigt, wie sonst eigentlich der Arbeitskräftebedarf gedeckt werden soll.
Hier findet etwas auf dem Arbeitsmarkt statt, das ich nicht auf dem Asylrecht austragen lassen möchte.Hier geht es um eine Belastung, die uns das Grundgesetz aufbürdet, indem es dem einzelnen Ausländer die Möglichkeit gibt, Asyl zu beantragen, und außerdem die Rechtsweggarantie gewährt,
also den Anspruch, daß über das Asylrecht letztlichin einem gerichtlichen Verfahren entscheiden werden muß, wenn der Asylbegehrende das beantragt.
Dies ist eine Entscheidung, die unser Grundgesetz auf Grund unserer besonderen historischen Erfahrung getroffen hat. Es gibt andere Staaten, die auf Grund einer anderen geschichtlichen Erfahrung besonderen Belastungen ausgesetzt sind. Die Aufnahmezahlen von England und Frankreich wegen dieser historischen Belastung stehen den unsrigen überhaupt nicht nach, auch im letzten Jahr nicht. Auch in diesem Jahr wird es nicht anders sein. Wir haben jedenfalls noch nicht Anlaß, unsere Belastung als einzigartig einzustufen.Viele andere Staaten sind zur Zeit von Flüchtlingsströmen aus ihren Nachbarländern überschwemmt, in denen Verfolgung, Unterdrückung und Brutalität herrschen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat z. B. mitgeteilt, daß in Somalia über eine Million Flüchtlinge aus Äthiopien leben. Ich habe im letzten Jahr Malaysia und Thailand besucht, die Hunderttausende von Flüchtlingen aufgenommen haben, obwohl sie si-
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16480 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Bundesminister Baumcherlich im Vergleich mit uns arm sind. Die Last der Länder, die in enger Nachbarschaft zu einem Regime leben, das einen Exodus von Flüchtlingen verursacht, muß im Geiste der Solidarität von denen mit getragen werden, die es besser haben.Willy Brandt hat dies zu Recht im Nord-Süd-Bericht gefordert und an die gesamte Staatengemeinschaft appelliert, Verantwortung für die Existenzbedingungen jener Mitmenschen zu übernehmen, die Opfer von Intoleranz und Brutalität werden. Wollen Sie sich dem entziehen, meine Damen und Herren von der Opposition?
— Ich komme gleich zu den einzelnen Maßnahmen, keine Sorge! Sie haben mich angegriffen, ich rede deshalb etwas ausführlicher.Bei allen Maßnahmen zur Lösung des Asylproblems müssen wir diesen Gesamtzusammenhang im Auge behalten, der gar nichts mit unserer verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Asylrechts zu tun hat, sondern mit unserer selbstverständlichen Solidaritätspflicht als Mitgleid einer Staatengemeinschaft, in der die Menschenrechte Vorrang haben. Darauf weisen auch unsere Kirchen mit allem Nachdruck zum Asylantenproblem hin.
In diesem Falle, Herr Spranger, zitieren Sie die Stellungnahmen der Kirchen nicht, die Sie sonst vor sich hertragen.Unser Ziel muß sein, vor diesem Hintergrund mit den ernsten Problemen fertig zu werden, die uns nicht nur unsere Verfassung, sondern auch die weltpolitischen Entwicklungen aufbürden. Folgende Maßnahmen sollen diesem Ziel dienen.Erstens. Verwaltungs- und gerichtliche Verfahren müssen beschleunigt werden; denn dann sinkt die Attraktivität einer Einreise für Nichtverfolgte, weil sie mit alsbaldiger Abschiebung rechnen müssen. Dies war das Ziel der Beschleunigungsnovelle. Die Bundesregierung hat das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge personell erheblich verstärkt; die Verfahrensdauer ist drastisch herabgesetzt worden. Der Beschleunigungseffekt kann sich aber nur dann auswirken, wenn die Gerichte entsprechend schnell entscheiden. Nach meinen Berechnungen reichen die 54 von den Bundesländern neu installierten Kammern bei den Verwaltungsgerichten nicht aus. Insbesondere reichen die Vorkehrungen des Bundeslandes Baden-Württemberg nicht aus. Das Bundesland Baden-Wüttemberg muß seine Verpflichtung nach der Beschleunigungsnovelle auch erfüllen.
— Wenn von Ihnen, Herr Spranger, Gerichte, vor denen Menschen ihr Recht suchen, als Bürokratiebezeichnet werden, dann kann ich nicht mehr mitkommen
Ich bin also der Ansicht, daß jetzt die Länder handeln müssen, um zu gewährleisten, daß die Gerichte nicht alsbald wieder vollaufen.Zweitens. Wir werden im Verhandlungswege weiter Vorstöße bei den Staaten unternehmen, aus denen eine große Zahl von Asylanten kommt, die dann nicht anerkannt werden. Dies ist die Türkei mit einem Drittel im Jahre 1979 und jetzt mit mehr als der Hälfte; im Januar und Februar allein etwa 5 000 bzw. jetzt 6 000 Türken. Die meisten von ihnen haben keinen Asylgrund.
— Das Stichwort Matthöfer ist gefallen. Das ist da eingebracht und wird weiter dort verhandelt. Die meisten Türken haben keinen Asylgrund und können nicht als Asylberechtigte anerkannt werden.
Diese Türken erhalten aber, wenn sie den Asylantrag stellen, bis zum Verfahrensabschluß eine Arbeitserlaubnis. Sie suchen in erster Linie auf dem Arbeitsmarkt Arbeit, und sie finden diese auch. Wir hoffen, daß unsere Gespräche mit der türkischen Regierung zu ähnlichen Erfolgen führen, wie wir sie im vergangenen Jahr mir Pakistan hatten, wo wir das Unwesen der Schlepperorganisationen mit der Regierung erfolgreich bekämpft haben. Es gab auch eine erfolgreiche Maßnahme des Berliner Senats,
der nicht an die Bundesregierung wie an eine Klagemauer herangetreten ist, wie das Herr Späth jetzt tut.Drittens. Die Sichtvermerkspflicht ist zwar kein Allheilmittel, weil das Einreisen mit Touristenvisa oder über Nachbarländer möglich bleibt. Wir wollen dennoch weitere Staaten in die Visapflicht einbeziehen. Hierüber besteht seit längerem Übereinstimmung zwischen den Innenministern von Bund und Ländern. Selbstverständlich ist in jedem Fall — darauf legt der Außenminister Wert — eine Abwägung mit außenpolitischen Gesichtspunkten erforderlich. Als Beispiel für eine solche Abwägung mit außenpolitischen Gesichtspunkten nenne ich unseren NATO-Verbündeten Türkei.Die Ausdehnung der Visapflicht bedeutet aber nicht, daß wir unsere humanitären Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen einstellen; so verstehe ich das nicht. Zum Beispiel müssen politisch Verfolgte aus Afghanistan und aus Äthiopien weiter zu uns kommen können. Es waren 855 Afghanen im Januar. Das sind Leute aus der Führungsschicht, die verfolgt sind, die zunächst Zuflucht in Pakistan gefunden haben und in der Bundesrepublik auf die Zeit warten— die kommen muß —, damit sie wieder in ihr Land zurückkehren können, um dort in Frieden und Freiheit zu leben. Wollen Sie sich diesen Leuten gegen-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16481
Bundesminister Baumüber verschließen, 855 Afghanen? Auch das gehört zum Asylproblem.
Sie differenzieren ja nie; das ist das Schlimme bei Ihnen. Sie sagen ja nicht, wer das ist.
Deshalb tue ich es jetzt hier.Wir werden unsere Botschaften in den Krisengebieten anweisen, vor allem in bezug auf Afghanistan und Eritrea in begründeten Fällen Visa zu erteilen. Die Kriterien hierfür werden in diesen Wochen zusammen mit dem Auswärtigen Amt aufgestellt. Hierbei steht unsere humanitäre und außenpolitische Verpflichtung im Vordergrund.Nun noch ein Wort zu den Sammellagern. Herr Späth hat gestern die Einrichtung von vier Sammellagern in Baden-Württemberg angekündigt. Dies ist natürlich vor dem Hintergrund der Stimmung, die erzeugt worden ist, jetzt sehr leicht zu fordern. Wir haben aber nicht vergessen, welcher soziale Sprengstoff in solchen Lagern liegen kann. Herr Kollege Spranger, in Ihrer Nähe war eins. Ich habe noch sehr deutlich die Klagen der bayerischen Staatsregierung und aller Abgeordneten, die davon betroffen waren, im Ohr, die forderten: Löst dieses Lager auf!
Im übrigen sind die Länder am Zuge. Die Länder müssen uns sagen, wo sie welche Lager haben müssen. Das ist eindeutig die Rechtslage.
— Ich trage meine Verantwortung sehr deutlich, meine Damen und Herren. Ich sage dazu auch einiges. Wir dürfen dieses Thema nicht so zerreden, wie das in den letzten Tagen in Baden-Württemberg geschehen ist.
Gerade die Übereinstimmung aller Verantwortlichen in Bund und Ländern hat doch zu der Vereinbarung der Länder geführt, Asylbewerber innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gerecht zu verteilen. Hier geht es doch nicht um eine rechtliche, sondern um eine politische Diskussion. Ich will nicht mit Ihnen darüber rechten, ob Sammellager nach dem Gesetz errichtet werden können oder nicht, sondern ich fordere Sie auf, die politischen Erfahrungen mit Sammellagern, nämlich die negativen Auswirkungen solcher Lager für das gesellschaftliche Klima in diesem Lande, nicht zu vergessen.Die Regierung des Landes Baden-Württemberg fordert mich immer wieder auf, daß die Grenzbeamten schärfere Kontrollen durchführen müßten, um Asylanten zurückweisen zu können. Ich frage mich, welches Verfassungsverständnis hinter dieser Forderung steht.
Wesentlicher Inhalt des Asylgrundrechtes ist es, daß jedem, der an unseren Grenzen erscheint und um Asyl bittet, die Möglichkeit gewährt werden muß, sein Begehren in einem rechtlichen Verfahren nachprüfen zu lassen.Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu bereits im Jahre 1973 erklärt, daß dieser in Art. 19 Abs. 4 unseres Grundgesetzes verbürgte umfassende und effektive gerichtliche Schutz „illusorisch" würde, wenn die Verwaltungsbehörden ihre Maßnahmen — hier also eine Zurückweisung — durchführten, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit überprüft haben. Der Asylbewerber kann diese Rechtsschutzgarantie kaum in Anspruch nehmen, wenn er in den Heimatstaat zurückgeschickt wird, in dem er nach seiner eigenen Behauptung politisch verfolgt wird. Ich erinnere daran: 10 % werden politisch verfolgt.
Beamte des Bundesgrenzschutzes hatten im letzten Herbst ein 14jähriges Mädchen aus Eritrea zurückgewiesen, weil sie davon ausgingen, daß ein Asylantrag nicht gestellt worden war. Ich habe diesen Vorgang untersuchen lassen und festgestellt, daß Vorwürfe gegen die Beamten nicht erhoben werden können, obwohl der Sachverhalt nicht ganz aufzuklären ist. Ich habe aber schon während dieser Untersuchung zusammen mit Amnesty International alles getan, um das Mädchen zurückzuholen. Wir haben das Mädchen auch zurückgeholt. Wahrscheinlich sind eine Reihe von Flüchtlingen aus Eritrea — inzwischen sind es 878 und nicht Tausende, wie immer der Eindruck erweckt wird — möglicherweise wegen dieses Falles auf die Möglichkeit aufmerksam geworden, in die Bundesrepublik zu kommen. Das haben wir in Kauf nehmen müssen. Ich trage für diese Entwicklung Verantwortung und bekenne mich zu dieser Verantwortung. Sie entspricht meiner Auffassung von meinen Amtspflichten als für das Asylrecht verantwortlicher Minister. Hier
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16482 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Bundesminister Baumging es um ein Kind, das einen Asylantrag nicht stellen konnte. Deshalb mußte diese Entscheidung revidiert werden.Wir haben inzwischen zusammen mit dem bayerischen Staatsminister des Innern Richtlinien ausgearbeitet, die den Beamten in der gesamten Bundesrepublik — auch in Bayern — klare Hinweise geben, die aber in den entscheidenden Punkten von der Grundstruktur ausgehen, die ich eben gekennzeichnet habe, d. h. in Zweifelsfällen eine Zurückweisung auszuschließen.Der Antrag der Opposition steht also im Widerspruch zu den Richtlinien, die in den letzten Wochen mit der bayerischen Staatsregierung besprochen und beschlossen worden sind.Ich möchte jetzt nicht mehr zu weiteren Einzelheiten des Vorschlags Stellung nehmen, sondern nur noch zu einem Punkt. Der Entwurf geht meines Erachtens zu Unrecht davon aus, daß das Asylanerkennungsverfahren und das Verfahren zur Beendigung des Aufenthalts hintereinandergeschaltet sind mit der Folge, daß der Rechtsweg zweimal beschritten werden kann. Ist der Asylantrag rechtskräftig abgelehnt, besitzt der Ausländer keine Aufenthaltserlaubnis. Kraft Gesetzes ist er dann verpflichtet, das Bundesgebiet unverzüglich zu verlassen. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, ist er abzuschieben, und zwar ohne vorherigen Erlaß einer Ausweisungsverfügung. Nach der Verwaltungsgerichtsordnung liegt es in der Hand der Länder, zu bestimmen, daß Rechtsbehelfe gegen diese Vollstreckungsmaßnahmen keine aufschiebende Wirkung haben. Einer bundesgesetzlichen Regelung bedarf es nicht. Wir sind ja gegen zuviele Gesetze, Herr Kollege Spranger.
Meine Damen und Herren, wir sind also bereit, mit den Ländern zu reden. Dies hat der Bundeskanzler, dies haben die beteiligten Minister am Freitag mit den beteiligten Ministerpräsidenten besprochen. Dort liegen ganz andere Vorschläge auf dem Tisch. Ich habe hier einige genannt und beschrieben. Die Bundesregierung lehnt den Gesetzentwurf der Opposition ab. Die Vorschläge sind rechtlich bedenklich, sie sind auch nicht effektiv.Meine Damen und Herren, wir werden auch in Zukunft Ausländer bei uns aufnehmen müssen, deren Asylbegehren sich letztlich als nicht stichhaltig erweist. Ich nehme eher in Kauf, daß mancher zu Unrecht zeitweise aufgenommen wird, als daß nur einer zurückgewiesen wird, der politisch verfolgt und damit in Todesgefahr ist.
Sorgen wir gemeinsam dafür, meine Damen und Herren — noch ist es nicht zu spät —, daß das Wort „Asylant" nicht zu einem Schimpfwort in Wahlkämpfen degradiert wird. Es geht um ein Menschenrecht.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 8/3402 an den Innenausschuß — federführend — und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Pohlmann, Hauser , Dr. Zeitel, Dr. Zimmermann, Dr. Dregger, Kraus, Schröder (Lüneburg), Gerstein, Dr. van Aerssen, Dr. Becker (Frankfurt), Besch, Biehle, Dr. Bötsch, Ey, Dr. Friedmann, Dr. von Geldern, Gerster (Mainz), Glos, Haase (Kassel), Hartmann, Helmrich, Dr. Hennig, Dr. Hoffacker, Frau Hoffmann (Hoya), Graf Huyn, Dr. Köhler (Duisburg), Dr. Köhler (Wolfsburg), Kroll-Schlüter, Frau Krone-Appuhn, Lampersbach, Dr. Langner, Dr. Laufs, Dr. Mertes (Gerolstein), Dr. Mikat, Dr. Müller, Dr. Narjes, Frau Pieser, Dr. Pinger, Regenspurger, Schedl, Sick, Graf Stauffenberg, Wimmer (Mönchengladbach) und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung von Sprecherausschüssen für Leitende Angestellte (SprA—LA)
— Drucksache 8/3490 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Interfraktionell ist für die Aussprache ein Kurzbeitrag für jede Fraktion beantragt worden.
Ich frage zunächst: Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Pohlmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich begrüße es sehr, daß wir heute, wenn auch zu später Stunde, Gelegenheit haben, in diesem Hohen Haus über die Probleme der Leitenden Angestellten zu sprechen. Die Errichtung von Sprecherausschüssen war schon einmal Gegenstand der Beratungen im Deutschen Bundestag, und zwar 1971. Es ist hochinteressant, die Protokolle von damals nachzulesen. Ich schaue hier insbesondere in Richtung der Herren von der FDP. Sie waren es damals, die kurz vorher auf ihrem Freiburger Parteitag hehre Grundsätze verkündeten. Als es dann 1971 hier im Deutschen Bundestag zum Schwur kam, fielen Sie im wahrsten Sinne des Wortes um. Sie fanden damals sehr viele trostreiche Worte für die Leitenden Angestellten: daß bald bessere Zeiten für sie kämen; man solle sich nur auf die FDP verlassen, denn sie würde 1973 — so immerhin Ihr Fraktionsvorsitzender, der Kollege Mischnick — eine entsprechende Koalitionsvereinbarung treffen. Die vielen weiteren Versprechungen von Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff zu zitieren, würde den Rahmen einer Kurzdebatte sprengen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16483
PohlmannMeine Damen und Herren von der FDP, ich kann heute nur festhalten, daß Sie von Bundestagswahl zu Bundestagswahl mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder neue Thesen hervorzaubern, um sie dann mit derselben schönen Regelmäßigkeit nach den Wahlen wieder für vier Jahre in einer Schublade verschwinden zu lassen und auf dem Altar der Koalitionsvereinbarungen zu opfern.
— Herr Kleinert, in Anbetracht der Tatsache, daß wir eine Kurzdebatte haben, werde ich keine Zwischenfragen zulassen.
— Ich komme noch zur Sache, Herr Wehner. Nur: Sie sind in dieser Frage kein ädaquater Gesprächspartner.
Meine Damen und Herren von der FDP, ich befürchte, daß es sich mit Ihren neuen Thesen genauso verhält,
die Sie jetzt im Januar verabschiedet haben, in denen Sie sich wiederum für die Errichtung von Sprecherausschüssen stark machen und wo Sie wiederum sagen, daß Sie den SPD-Partner bei den nächsten Koalitionsvereinbarungen für ein derartiges Gesetzesvorhaben erwärmen wollen.
— Ich komme noch darauf zu sprechen. — Nur: Dieser Partner sagt schon heute: Mit uns nicht, auch 1980 nicht! Ich muß Ihnen leider sagen, daß ich, wenn Sie hier wiederum unserem Gesetzentwurf Ihre Zustimmung versagen,
Ihr Verhalten im Hinblick auf die Führungskräfte für unzumutbar halte, denn das ist nichts anderes als Stimmenfang mit leeren Versprechungen. 1972 und 1976 mag diese Rechnung aufgegangen sein, aber aller guten Dinge sind nicht immer drei. Die Leitenden Angestellten — ich muß das hier sagen; ich habe sehr viel Gespräche mit ihnen geführt - werden nicht ein drittes Mal einer Partei ihre Stimme geben,
die sich liberal allein im Umgang mit ihren Wahlversprechen verhält
und die darüber hinaus seit Jahren z. B. eine Steuer- und Sozialpolitik mitzuverantworten hat, die mangerade im Hinblick auf die Leitenden Angestelltenals leistungsfeindlich und nivellierend bezeichnen kann.
Meine Damen und Herren, wir bringen heute einen Gruppen- und keinen Fraktionsantrag ein. Wir vertuschen nicht, daß es bei uns unterschiedliche Meinungen gibt. Wir stehen in einem Dialog.
— Den können wir noch erweitern, Herr Wehner. — Der größte Teil der Unionsfraktion sieht aber die Notwendigkeit der gesetzlichen Verankerung von Sprecherausschüssen ein. Sie, meine Herren von der FDP, haben damals diese Initiative mit der Begründung abgelehnt, man müsse die Entwicklung weiter abwarten.
Ich bin gespannt, zu welchen Ergebnissen Sie, Herr Kleinert oder Herr Schmidt — ich weiß nicht, wer sprechen wird —, heute kommen.
Ich befürchte nur, daß, wenn Ihr Prüfungs- und Denkprozeß noch weiter andauert
und wenn Sie diese Frage weiter auf den SanktNimmerleins-Tag verschieben, Sie sich bald keine allzu großen Gedanken mehr zu machen brauchen, weil dann die Zahl der Leitenden Angestellten noch mehr dezimiert ist, als das schon heute der Fall ist, nicht zuletzt auch durch eine untaugliche Abgrenzungsvorschrift in § 5 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes.
— Sie wissen den Unterschied.
Sie wissen auch genau, Herr Kleinert, daß seit der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes Tausende von Abgrenzungsverfahren geführt werden mußten;
Sie wissen, daß der DGB seit Jahren mit aller Macht versucht, diesen Kreis zu dezimieren, und die andere Seite dieser Strategie — ich sage: leider! — nur wenig Widerstand entgegensetzt Diese Entwicklung hätte aber nicht zu sein brauchen, wenn Sie sich damals Ihrer Verantwortung bewußt gewesen wären. Es besteht doch gar kein Zweifel, daß eine solche organisatorische Infrastruktur im Unterneh-
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16484 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Pohlmannmen nicht nur den Entwicklungsprozeß einer Gruppe beeinflußt,
sondern auch deren gesellschaftspolitische Bedeutung stabilisiert hätte.
Meine Damen und Herren, wir greifen dieses Thema heute wieder auf, da wir nicht wollen, daß die Führungskräfte als politisch lästiger Faktor aus ideologischen Gründen vom politischen Tische weggewischt werden. Für uns sind die Leitenden Angestellten als Leistungs-, als Kreativträger und damit als Antriebsmoment für das Funktionieren unserer Sozialen Marktwirtschaft vielzu wichtig, als daß wir sie zum Spielball mächtiger Organisationsinteressen gemacht sehen wollen.Wir sind der Auffassung, daß der Gesetzgeber, nachdem er die besondere Rolle der Leitenden Angestellten im Betriebsverfassungsgesetz und im Mitbestimmungsgesetz anerkannt hat, auch dazu verpflichtet ist, dieser eigenständigen Gruppe ein eigenständiges Vertretungsgremium zu geben. Die strukturelle Entwicklung in den Unternehmen hat gerade in der Vergangenheit dazu geführt, daß die Leitenden Angestellten ihre Belange und ihre Interessen immer weniger individuell regeln können. Unser Gesetzentwurf trägt dem gewachsenen Gruppeninteresse Rechnung. Er sieht vor, daß der Sprecherausschuß immer dann tätig wird, wenn die Belange der Gesamtheit der Leitenden Angestellten eines Betriebes oder Unternehmens berührt sind. Individuelle Interessenwahrung durch den Sprecherausschuß ist nur auf Antrag des betreffenden Leitenden Angestellten möglich. Diese Form der Interessenvertretung entspricht genau der Interessenlage und den Wünschen der Leitenden Angestellten, die in einer sehr beachtenswerten Umfrage des „Manager-Magazins" den Sprecherausschuß auf Nummer eins ihrer Wunschliste gesetzt haben — bemerkenswerterweise vor Fragen wie die einer Verbesserung der Altersversorgung, des Kündigungsschutzes usw.Die Führungskräfte wollen nicht auf den Betriebsrat als ihr Vertretungsorgan verwiesen werden, wie es dem DGB vorschwebt, der darüber hinaus nicht müde wird, uns vorzuwerfen, daß wir die Spaltung der Arbeitnehmerschaft wollten,
und der unseren Gesetzentwurf — so Herr Loderer — als eine „unerhörte Frechheit" bezeichnet.
Ich will jetzt hier nicht über Stilfragen sprechen, meine Damen und Herren. Wenn der DGB auch nicht bereit war,
— nun hören Sie doch genau zu —, sich mit uns in dieser Frage auseinanderzusetzen,
nicht bereit war, an einem Hearing über diese Probleme teilzunehmen, so möchte ich dem DGB doch heute hier eine Antwort geben: Wir wollen nicht die Spaltung der Arbeitnehmerschaft,
wir wollen aber auch nicht den Einheitsarbeitnehmer a la DGB.
Wir scheren nicht alles über einen Kamm, weil wir nicht bereit sind, die in unserer Arbeitnehmerschaft vorhandene Pluralität zu negieren.
Deshalb kann auch die Vertretung durch den Betriebsrat für Führungskräfte nach unserer Auffassung keine angemessene und sachgerechte Lösung sein.
Die Leitenden Angestellten würden in einen unlösbaren Konflikt zwischen Aufgabenstellung und Interessenwahrung kommen.Wie soll ein Betriebsleiter z. B. vormittags wirtschaftlich notwendige, aber für die Arbeitnehmer nachteilige Maßnahmen verfügen, gegen die er sich nachmittags als Betriebsratsmitglied wenden müßte?
Es wäre auch wirklichkeitsfremd,
anzunehmen, daß eine Vertretung im Betriebsrat nicht zwangsläufig zu einer Majorisierung der Leitenden Angestellten führen müßte.Der von uns vorgeschlagene Weg ist der richtige
und entspricht auch dem Selbstverständnis der Leitenden Angestellten.Wir wollen keinen zweiten Betriebsrat.
Wir wollen auch kein Oberhaus der feinen Leute.
Die schon heute vorhandenen 250 freiwillig gebildeten Sprecherausschüsse haben bewiesen, daß sie zur Lösung von Konflikten zwischen den verschiedenen Gruppen im Betrieb beitragen können — in guter Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat.
Herr Kollege, ich mache Sie darauf aufmerksam: Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wenn ich noch einen Satz sagen darf: Wir wollen einer anerkannten Minderheit die Möglichkeit geben, ihre gemeinsamen Interessen im Betrieb zu vertreten. Wir bieten Ihnen,
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16485
Pohlmannmeine Damen und Herren von der FDP, eine Chance, noch in dieser Legislaturperiode Ihr Uraltversprechen einzulösen.
Als nächster Redner hat Herr Abgeordneter Rappe das Wort.
Herr Präsident. Meine Damen und Herren! Bereits im September 1978 war Presseberichten zu entnehmen, daß die CDU/CSU einen Gesetzentwurf einbringen wolle, um eine gesetzliche Legitimation der Sprecherausschüsse für sogenannte Leitende Angestellte zu erreichen. Nun liegt der Gesetzentwurf vor und ist auch von einer ganzen Reihe von Abgeordneten der CDU/CSU unterschrieben. Es handelt sich also um einen Gruppenantrag. Die Mittelstandsvereinigung der Union hat wiederholt Urheberrechte reklamiert. Die Mitglieder der Sozialausschüsse wollen mit dem Entwurf offenbar nichts zu tun haben. Sie haben ihn nicht nur nicht unterschrieben, sie haben bisher auch jeden Kommentar ängstlich vermieden.
Die Sozialausschüsse der Union haben den Gesetzentwurf zur Errichtung von Sprecherausschüssen aber auch nicht verhindern können oder verhindern wollen. Darüber mag man sich wundern oder auch nicht.
Die Gewerkschaften lehnen den Gruppenantrag nachdrücklich ab. Die Sozialausschüsse verhalten sich passiv, hier im Hause jedenfalls. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die Stärke des Arbeitnehmerflügels der CDU/CSU.
Der Gesetzentwurf zur Errichtung von Sprecherausschüssen ist ein typischer „Schaufensterantrag", und zwar eines Spezialgeschäftes. Mit dem inhaltlichen Ziel der Schaffung eines Betriebsrats zweiter Klasse für gehobene Ansprüche kann man kein großes Publikum erreichen. Der Gruppenantrag hat den Sinn, in der Vorwahlzeit bestimmten Leitenden Angestellten und mehr noch denjenigen, die sich dafür halten, etwas zu bieten. Auch bestimmten Organisationsinteressen soll damit gedient werden, der Antrag soll Gefallen finden, auch wenn von vornherein klar ist, daß dafür im Deutschen Bundestag keine Mehrheit zustande zu bringen ist.
Nun kann ich verstehen, daß die Opposition versucht, der Koalition von SPD und FDP Schwierigkeiten zu bereiten. Der Versuch, die Koalition auseinanderzudividieren, wird aber auch diesmal scheitern. So wie beim Betriebsverfassungsgesetz 1972 und beim Mitbestimmungsgesetz 1976 eine gemeinsame Linie gefunden wurde, so wird auch diesmal die Koalition nicht in Schwierigkeiten zu bringen sein. Dazu ist das Geschütz, das jetzt aufgefahren wird, viel zu schwächlich konstruiert. Die gesellschaftspolitischen Lösungen, die SPD und FDP für notwendig halten, sind nicht immer leicht auf einen Nenner zu bringen; aber nur für beide Seiten zumutbare Kompromisse sind durchsetzbar. Daran ändert auch der Gruppenantrag der Union nichts.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts — ob man sie nun mag oder nicht — sind Sprecherausschüsse der Leitenden Angestellten zulässig. Der Betriebsrat bleibt aber das alleinige Vertretungsorgan für die nach dem Betriebsverfassungsgesetz aktiv und passiv Wahlberechtigten. Ein Sprecherausschuß kann im Gegensatz zum Betriebsrat keine Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber treffe, die unmittelbarer Bestandteil einzelner Arbeitsverhältnisse werden. Ein Sprecherausschuß kann damit nach geltendem Recht in der Ausübung seiner Tätigkeit kein Konkurrenzorgan zum Betriebsrat sein.
Nun möchten Sie diese Rechtslage ändern; das ist der Sinn des Gruppenantrags.
Vor dieser falschen gesellschaftspolitischen Weichenstellung muß ausdrücklich und gründlich gewarnt werden. Den Arbeitnehmern kann es nichts nützen, wenn ihre Interessenvertretung gespalten wird. Die Gewerkschaften haben sich selbst in die Pflicht genommen, alle rechtlichen, organisatorischen und politischen Möglichkeiten wahrzunehmen, um eine gesetzliche Verankerung von Sprecherausschüssen zu verhindern.
Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Urbaniak?
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Rappe, können Sie mir bestätigen, daß § 10 Abs. 3 des vorliegenden Entwurfs der CDU-Kollegen ein imperatives Mandat zur Folge hätte, und ist Ihnen bekannt, daß nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 27. März 1979 zum Personalvertretungs- und Betriebsverfassungsgesetz dieses Mandat für unzulässig erklärt worden ist?
Ja, Herr Kollege Urbaniak, das ist so. Ich will gleich hinzufügen, daß es das Frappante an diesem Gesetzentwurf ist, daß es keine Mitbestimmungsrechte, aber das imperative Mandat kennt. Das ist eine dolle Mischung.Daß man den Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften mit dem Gruppenantrag keinen Gefallen tun würde, war den Initiatoren des Gruppenantrags sicher bekannt. Der Wunsch zur Befriedigung von Gruppeninteressen war aber wieder stärker.Nun will ich folgendes klarstellen. Wir Sozialdemokraten haben nichts gegen Leitende Angestellte und auch nichts gegen solche, die sich dafür halten. Es scheint aber nicht überall klar zu sein, welche Risiken ohne Not gesucht werden, um der Schutzfunktion der Betriebsräte zu entgehen. Wir sind der fe-
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Rappe
sten Auffassung, daß Sie dieser Gruppe von Angestellten einen Bärendienst erweisen.
Es hat sich herumgesprochen, daß die Rationalisierungs- und Konzentrationsbewegungen der Wirtschaft auch die außertariflichen Angestellten erreicht haben, die heute deshalb ein höheres Schutzbedürfnis als früher haben. Im Konfliktfall sind Leitende Angestellte in einer schwachen Position, wenn sie des Schutzes des Betriebsrats, der Gewerkschaft und eines Tarifvertrags entbehren müssen. Schon mancher, der unbedingt Leitender Angestellter werden wollte, hat das später bereut.Wenn ein Leitender Krach mit seinem Vorstand hat, dann wird er zwar oft mit Geld abgefunden, aber er geht. Er ist oft schwächer als der organisierte, vom Betriebsrat geschützte Arbeitnehmer.Der Gruppenantrag aus den Reihen der Union zielt in die falsche Richtung. Nicht eine stärkere Vertretung der Arbeitnehmerinteressen ist das Ergebnis, sondern die Schwächung der Betriebsratsarbeit und der Leitenden selbst.Nun geht es bei Ihrem Antrag um einen Nebenbetriebsrat für Leitende Angestellte, der aber gleichzeitig die Betriebsratsarbeit für alle Arbeitnehmer nur erschweren kann. Nach der Konzeption des Gruppenantrags ist eine weitgehende Sperrmöglichkeit gegenüber der Betriebsratsarbeit vorgesehen.
Ihr Sprecherausschuß soll stets ohne weitergehende Voraussetzungen die Aufhebung jeder Betriebsvereinbarung beim Arbeitsgericht beantragen, wenn die Belange der Leitenden Angestellten lediglich berührt sind.Ich bin davon überzeugt, daß es höchstens 1 wirklich Leitende gibt. Jedenfalls zeigt dies die Führungsstruktur der Unternehmen. Für dieses knappe 1 % braucht man keine gesetzliche Regelung von der Art, wie Sie sie vorschlagen. Wer diese Gruppe künstlich erweitert, schadet diesen Angestellten. Und dann nur aus Propagandagründen als Ergebnis mehr Schutzlosigkeit zu produzieren ist eine Sache, die wir nicht mitmachen. Wir wollen ja allen Arbeitnehmern helfen und nicht schaden.
— Im übrigen, Herr Kollege Pohlmann: Moderne, auf Kooperation bedachte Arbeitgeber werden sich für dieses zweite sogenannte Vertretungsgremium bedanken.
Es ist auch kein Zufall, daß eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften buchstäblich vergessen wurde. Der Entwurf sieht keine Mitbestimmungsrechte und entsprechende Initiativrechte vor, sondern nur Unterrichtungs-, Anhörungs- und Beratungsrechte; er sieht auch keinen Schutz der Mandatsträger vor. Die Interessen der Leitenden wären so wahrlich schlecht vertreten.Zum Schluß noch folgendes. Die im Betriebsverfassungsgesetz genannten Abgrenzungsmerkmale Unternehmernähe und Gegnerbezug reichen zur Definition aus. Die in § 3 Abs. 3 Ihres Gruppenantrags formulierte Selbsteinschätzung der betreffenden Angestellten ist nicht nur total überzogen, sondern sie ist falsch, weil sie in die Schutzlosigkeit führt.Unsere Beurteilung kann nicht überraschen, meine Damen und Herren. Die Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands lehnt den Gruppenantrag aus Ihren Reihen für die Errichtung von Sprecherausschüssen für Leitende Angestellte als rückschrittlich ab. Wir wollen aus Leitenden keine Leidenden machen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Pohlmann, Sie haben es sich, glaube ich, etwas zu leicht gemacht, als Sie einen großen Teil Ihrer zehn Minuten — ich würde es begrüßen, wenn wir heute abend eine viel längere Debatte über dieses Thema durchführen könnten,
aber die Zeitknappheit macht uns das nicht möglich — darauf verwendet haben, zu uns hinüberzuschielen und zu fragen und darauf hinzuweisen, dies sei doch etwas, was die Freien Demokraten mitmachen könnten.
— Langsam, Herr Kollege George. 165 von über 250 Abgeordneten Ihrer Fraktion haben unterschrieben. Rechnen Sie mal nach!Aber das ist gar nicht der Grund dafür, daß wir Freien Demokraten diesen Weg als einen schlechten Weg ansehen, der nicht im Interesse der Leitenden Angestellten liegt. Gerade Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten sehr genau wissen, daß es nicht ganz so war und ist, wie Sie das hier darzustellen versuchen.
— Nein, das war nicht ganz so.
Wenn es heute — das ist unwidersprochen, auch von den Gewerkschaften nicht widersprochen — ein Gespräch und eine Diskussion über die Leitenden Angestellten in unserer Wirtschaft oder über die Angestellten in Leitungsfunktionen gibt, wie sie am Samstag auf einem Seminar des DGB angesprochen wurden, dann ist doch die Ursache darin zu sehen, daß wir Freien Demokraten bei den Beratungen unserer Freiburger Thesen damals über den Faktor Disposition zwischen Kapital und Arbeit — nachzulesen in unseren Freiburger Thesen, die unter der Federführung unseres Kollegen Maihofer und des leider verstorbenen Karl-Hermann Flach entstan-
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Schmidt
den sind — überhaupt erst einmal deutlich gemacht haben, daß die soziologischen Strukturen unserer Arbeitnehmerschaft sich verändert haben und daß es hier eine Gruppe gibt, die als Mittelgruppe zwischen Kapital und Arbeit steht und als Führungsgruppe unter der Führungsschicht besondere Aufgaben wahrnimmt, dadurch aber des öfteren auch in die Probleme der Arbeitgebersituation hineinkommt, und daß der Gegnerbezug manche Dinge bei ihren anders als für den normalen Arbeitnehmer gestaltet.Dies war doch der Grund, daß wir Freien Demokraten darauf drängten und daß die sozialliberale Koalition 1972 diese Gruppe zum erstenmal als Arbeitnehmer, wenn auch mit einem besonderen Status, im Betriebsverfassungsgesetz verankerte. Ich habe von dieser Stelle schon damals gesagt — und das werde ich heute fortsetzen können —: Dieser Freiraum, der für diese Personengruppe geschaffen wurde, muß sich erst einmal stabilisieren, die Betroffenen selber müssen ein Selbstverständnis bekommen, und dann muß
dieser Raum ausgefüllt werden.
Ich habe damals auch gesagt: Wir müssen Erfahrungen sammeln.
Und wir haben die ersten Erfahrungen gesammelt.Sie haben gesagt: drei Schritte. Der erste Schritt war die Verankerung als Arbeitnehmer mit besonderen Aufgaben. Der zweite Schritt war die Verankerung der Leitenden Angestellten in der Mitbestimmung. Vergessen Sie das doch nicht so ganz! Der dritte Schritt wird — allerdings anders, als Sie es sich vorstellen — eine Verankerung der Rechte und Möglichkeiten für die Leitenden Angestellten im Betriebsverfassungsgesetz sein. Für uns ist das Betriebsverfassungsgesetz kein Gesetz von Organisationen oder Institutionen, sondern ein Gesetz zum Schutz der Rechte der Arbeitnehmer im Betrieb. .
Nachdem sich diese Gruppe von Arbeitnehmern im Betrieb ihr Selbstverständnis gegeben hat und die Gründung von Sprecherausschüssen dies deutlich gemacht hat und nachdem auch die vorher unterschiedlich gesehene Problematik in den Gruppen einheitlicher geworden ist, werden bei der Weiterentwicklung des Betriebsverfassungsgesetzes die Verankerung von Sprecherausschüssen und wahrscheinlich auch neue Überlegungen über Abgrenzungskriterien erfolgen müssen.
Wir haben es uns nicht so einfach gemacht, Herr Kollege Pohlmann, daß wir uns ein paar Stimmen zusammengesucht haben, um hier einen Schauantrag zu stellen, sondern wir haben auf unserem Bundesparteitag hierzu im Juni vorigen Jahres einen Beschluß gefaßt, und der von mir geleitete Bundes-fachausschuß hat der Öffentlichkeit im Oktober elf Thesen zur Fortentwicklung des Betriebsverfassungsgesetzes vorgelegt,
ausgehend davon, daß die noch nicht geschützten Rechte ausgebaut und für die Leitenden Angestellten Sprecherausschüsse gebildet werden müssen,
allerdings Sprecherausschüsse, die etwas anders als das hier aussehen.Ich stimme dem Kollegen Rappe völlig zu, der gesagt hat: Was soll denn das, was Sie hier haben? Da gibt es nichts weiter als Informationsrecht und dergleichen. Nein! Diese Gruppe braucht, wenn sie eigens konstituiert wird, Möglichkeiten der Mitwirkung und der Mitbestimmung — sicher nicht, das möchte ich ganz klar sagen, als einen Gegenbetriebsrat, sicher auch nicht als einen Gegengewerkschaftsrat oder sonst irgend etwas, sondern als eine Vertretung dieser besonderen Gruppe, die nun einmal vorhanden ist.
— Lesen Sie doch die Thesen nach! Diese Thesen werden vom Parteitag beschlossen werden.
— Entschuldigen Sie, Herr Biedenkopf, Sie sind wahrscheinlich nicht ganz unterrichtet. Sie haben etwas anderes zu tun. Diese Thesen sind erstens im Oktober vom Fachausschuß verabschiedet worden und zweitens vom Bundesvorstand im Januar zur Diskussion in der Partei verabschiedet worden.
— Wir hatten bisher noch keine Thesen hierzu. Entschuldigen Sie! Wir haben uns das nicht so einfach gemacht und etwas herausgeblasen, ohne daß darin etwas über die tatsächliche Vertretung der Rechte steht.
Lassen Sie mich abschließend ein Zweites sagen. Der Kollege Rappe hat mit Recht darauf hingewiesen — und zwei Beispiele habe ich nennen können: Betriebsverfassungsgesetz und Mitbestimmung —, daß die sozialliberale Koalition auf diesem Wege, auch von uns initiiert, bereits zwei Schritte gegangen ist und daß der dritte Schritt in der nächsten Le- gislaturperiode — so hoffen wir, wenn wir Mehrheiten dafür bekommen, und dies hoffe ich — im Sinne dieser Thesen geschehen wird, im Sinne des echten Schutzes dieser Gruppe, nicht im Sinne einer Geg-
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nerschaft zu anderen Organisationen, im Sinne echter Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat.
— Wir reden ja über die nächste Legislaturperiode. Herr Kollege Pohlmann, nun rechnen Sie einmal nach! Ihre 165 — selbst wenn ich es wollte, aber ich möchte Ihren Gesetzentwurf nicht —, Ihre 165 und unsere, das brauchen Sie bloß einmal nachzurechnen. Deshalb, Herr Kollege Pohlmann, hätte ich gerne eine längere Debatte gehabt, weil zweifellos der nächste Redner von Ihnen Norbert Blüm oder Heinz Franke oder Adolf Müller geheißen hätte, und dann hätte das Ding ein bißchen anders ausgesehen. Nein, so billig kommen Sie uns nicht davon.Wir werden uns als Fraktion und nicht als Gruppe vor die Leitenden stellen, im Sinne unserer Thesen, und ich glaube, daß die Leitenden auch sehr genau wissen, woran sie mit Ihren Vorstellungen sind. Wenn man schon mit solchen Flugblättern, die vorsichtshalber nur von der CDU-Mittelstandsvereinigung unterschrieben sind, vor seriösen Seminaren werben muß, dann muß das doch ein schlechtes Geschäft sein. Da bin ich mehr dafür, wir setzen uns über die Fragen auseinander und bringen vernünftige Vorstellungen — wir haben solche Vorstellungen gebracht — für die Möglichkeit des Schutzes der Leitenden und ihre Rechte in der nächsten Legislaturperiode in das Betriebsverfassungsgesetz, nicht mit einem Sondergesetz, das Informationen ermöglicht und ansonsten alles beim alten beläßt.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrags auf Drucksache 8/3490 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes
— Drucksache 8/3661 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß f 96 GO
Wird dazu das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht gewünscht.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zu Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hasinger, Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Dr. Hammans, Frau Dr. Neumeister, Burger, Kroll-Schlüter, Frau Karwatzki, Braun, Dr. Reimers, Frau Männle, Geisenhofer, Frau Geier, Bühler , Müller (Berlin), Neuhaus, Dr. Becker (Frankfurt) und der Fraktion der CDU/CSU
Aufhebung des Erlasses des Bundesgesundheitsamtes über den Kontakt mit Bundestagsabgeordneten
— Drucksache 8/3609 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Interfraktionell ist für die Aussprache ein Kurzbeitrag für jede Fraktion vereinbart worden.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. — Das Wort hat der Abgeordnete Hasinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wünscht mit dem vorliegenden Antrag die Aufhebung eines Erlasses des Bundesgesundheitsamtes, der in der fachlich interessierten Offentlichkeit unter der Kurzbezeichnung „Maulkorberlaß" zu negativer Berühmtheit gelangt ist. In dem Erlaß wird gegenüber den Angehörigen dieses Amtes wörtlich angeordnet, daß jeglicher unmittelbare Verkehr mit den Abgeordneten und den parlamentarischen Gremien des Deutschen Bundestages nicht zulässig sei. Wir halten dies für eine unerträgliche Einschränkung der Informationsfreiheit der Mitglieder dieses Hauses.
Es ist unmöglich, daß jeder Bürger sich an das Bundesgesundheitsamt wenden und von dort Auskünfte erbitten kann, während den gewählten Abgeordneten dieses Recht verweigert wird.Der Erlaß geht in dieser Fassung auf eine Weisung des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit zurück. Deswegen tragen Sie, Frau Bundesministerin Huber, die unmittelbare Verantwortung dafür.Sie wollen offenbar verhindern, daß Abgeordnete des Deutschen Bundestages direkten Kontakt zu den Wissenschaftlern des Bundesgesundheitsamtes suchen und von ihnen objektive Auskünfte erhalten. Nur politisch erwünschte Auskünfte dürfen nach Meinung von Ihnen die Abgeordneten erreichen. Denn — so heißt es weiter im Maulkorberlaß —: ,,Antwortschreiben auf fachliche Anfragen sind Abgeordneten über das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zuzuleiten. Ich rufe alle Seiten dieses Hauses auf sich eine derartige
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HasingerVerengung ihrer Informationsbasis nicht bieten zu lassen, meine Damen und Herren.
Natürlich stellt sich die Frage: Warum will die Bundesregierung das Bundesgesundheitsamt den Augen der Bundestagsabgeordneten entziehen? Auf diese Frage hat der Präsident des Bundesgesundheitsamtes, Professor Fülgraff, eine Antwort gegeben. Denn nach seiner Meinung muß das Bundesgesundheitsamt Entscheidungen treffen, die in vielen Fällen, so sagt er, weniger medizinisch-pharmakologische als politische Entscheidungen seien. Der „Maulkorberlaß" ist in Wahrheit nur Teil einer Kette von Versuchen, das Bundesgesundheitsamt von einer wissenschaftlichen Institution in eine politische Behörde umzufunktionieren. Dies werden wir nicht mitmachen, meine Damen und Herren!
In die gleiche Richtung deutet auch eine Veröffentlichung eines Mitarbeiters dieses Amtes, Herrn von Ingerslebens, hinter deren unverfänglichem Titel „Die praktische Bedeutung des Wissenschaftsverständnisses der Pharmakologie" sich ein gesundheitspolitisches Strategiepapier verbirgt. Die Arbeit ist in der Schriftenreihe des Instituts für Arzneimittel des Bundesgesundheitsamtes veröffentlicht. In dieser Schrift wird nichts anderes als der Übergang von der Individual- zur Sozialpharmakologie gefordert. Dies würde bedeuten, daß nicht mehr der einzelne Mensch und seine Gesundheit, sondern die Gesellschaft im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik zu stehen hätte. Das Individuum wird als durch seine gesellschaftliche und soziale Existenz determiniert aufgefaßt. Der Mensch ist bei einer solchen Gesundheitspolitik nur noch soziologisches Funktionsglied und daher letztlich ohne Selbstbestimmungsrecht und damit ohne Freiheit.
Es handelt sich bei dieser Schrift nicht nur um eine theoretische Arbeit, sondern es werden auch konkrete politische Forderungen erhoben. Für die weitere Entwicklung des Arzneimittelwesens fordert der Verfasser wörtlich, „pharmakologischen Fortschritt verstärkt öffentlich zu organisieren und damit gesellschaftlichen Interessen Rechnung zu tragen". Weiter wird „die Integration von Arzneimittelforschung, -entwicklung und -anwendung in einem gesellschaftlichen Planungs- und Kontrollsystem" gefordert. — Auf Ihren Zwischenruf hin, Herr Kollege Jaunich, möchte ich sagen: Es ist notwendig, im deutschen Parlament darüber zu sprechen, wenn im Bundesgesundheitsamt und damit praktisch in der Bundesregierung derart unverhüllt die Sozialisierung der Arzneimittelforschung gefordert wird, meine Damen und Herren.
Denn hier wird versucht, eine grundlegende Weichenstellung weg von einem freiheitlich organisierten Gesundheitswesen in Richtung auf ein sozialistisch geplantes und verwaltetes vorzunehmen.
Herr Kollege Hasinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jaunich?
Bitte schön.
Herr Kollege Hasinger, wenn Sie Fragen dieser Art im Deutschen Bundestag diskutieren wollen, sehen Sie dann nicht mit mir eher einen richtigen Ansatz darin, daß Sie dann eine darauf bezogene Anfrage im Deutschen Bundestag einbringen? Fühlen Sie sich nicht auch § 40 unserer Geschäftsordnung verpflichtet, der uns darauf einschwört, jeweils zur Sache zu sprechen?
Herr Kollege Jaunich, die Dinge sind inhaltlich aufs engste miteinander verknüpft. Ich werde darauf noch zurückkommen.
Ich glaube, durch die systematische Zerschlagung der pharmazeutischen Industrie, wie sie hier vorgeschlagen wird, und durch Lähmung ihrer Innovationskraft soll nach dem Willen des Verfassers eine Polarisierung der wissenschaftlichen Gemeinschaft eintreten und damit der Primat der im Gegensatz zur Individualmedizin stehenden Gesellschaftswissenschaften das Gesundheitswesen in Zukunft neu strukturieren.Frau Huber duldet und fördert die Durchdringung der angesehenen wissenschaftlichen Behörde in Berlin mit Ideologen, die auf einer dialektisch-materialistischen Grundlage stehen. Die fragliche Veröffentlichung der Schriftenreihe des Bundesgesundheitsamtes geht letztlich von den gleichen Prämissen aus wie die offizielle Gesundheitspolitik im anderen Teil Deutschlands. Einem in Ost-Berlin herausgegebenen Sammelband „Arzneimittel und Gesellschaft" entnehme ich folgendes Zitat:Eine optimale Verwirklichung aller modernen pharmako-therapeutischen und prophylaktischen Möglichkeiten wird erst im Rahmen des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus gewährleistet.Es ist ein Verdienst einer Veröffentlichung der Münchener Medizinischen Wochenschrift, auf diese Zusammenhänge hingewiesen zu haben.
Zur Politisierung des Bundesgesundheitsamtes gehört es auch, wenn eine innerhalb des Amtes wissenschaftlich abgestimmte Meinung zur gesundheitlichen Nützlichkeit oder Schädlichkeit eines bestimmten Stoffes durch politische Weisung des Bundesgesundheitsministeriums schlicht verboten wird.Ein weiteres Glied in der Kette der Umfunktionierung des Bundesgesundheitsamtes zu einer politischen Behörde ist die Personalpolitik dieses Hau-
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Hasingerses. Ich erwähne hier die Berufung von Professor Schönhöfer in das Arzneimittelinstitut des Berliner Amtes.Herr Schönhöfer hat in diesen Wochen auf einer Tagung des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen die Behauptung aufgestellt, zu viele gleichartige wirksame Arzneimittel reduzierten die erfahrungsbedingte Sicherheit des Arztes im Umgang mit Arzneimitteln. Im Klartext bedeutet dies, daß künftig eine öffentliche Stelle darüber entscheiden müßte, welche Arzneimittel produziert und verwendet werden dürften. Und tatsächlich gibt es auch innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung Überlegungen, die in Richtung auf eine sogenannte Positivliste laufen.
Würde dieser Plan verwirklicht werden, könnten die Kassen nur noch solche Mittel bezahlen, die in dieser Liste enthalten sind. Dies würde eine unvertretbare Einschränkung der Therapiefreiheit des Arztes bedeuten. Wozu sind die Kommissionen nach dem Arzneimittelgesetz eingerichtet worden, wenn künftig unkontrollierbare Instanzen praktisch über die Existenz eines Arzneimittels entscheiden könnten?
Lassen Sie mich, weil Sie hier etwas aufgeregt reagieren, noch etwas erwähnen. Zu dem Hannoveraner Beratungskreis gesellschaftswissenschaftlich orientierter Pharmakologen und Epidemiologen des Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes gehört auch der von ihm bevorzugt herangezogene Gutachter Dr. Greiser, der mit Mitteln der Bundesregierung Listen angeblich wirksamer und unwirksamer Arzneimittel herstellt, wobei er in nichtöffentlichen Kreisen von Pharmakologen und Ärzten, deren Namen er nicht bekanntgibt, die Wirksamkeit von Arzneimitteln durch Plausibilität, nicht etwa durch Prüfungen im Laboratorium feststellt.In diesem Zusammenhang ist auch die Aufforderung des Justitiars des Bundesgesundheitsamtes, Dr. Lewandowski, zu sehen, das Amt wünsche geradezu gerichtliche Entscheidungen; deshalb sollte die pharmazeutische Industrie Gerichtsverfahren anstrengen. Es ist nicht das Ziel des Arzneimittelgesetzes gewesen, den Arzneimittelmarkt über eine Flut von Gerichtsverfahren zu regulieren.Da Präsident Fülgraff und Vizepräsident Kübler sich mit Veränderungsabsichten tragen, kommt den Äußerungen von Herrn Dr. Lewandowski besondere Bedeutung zu. Es wäre ein Schlag ins Gesicht der vielen wissenschaftlich hochqualifizierten Mitarbeiter des Berliner Amtes, die, der Objektivität verbunden, ihre Pflicht tun, wenn die Spitze erneut mit Persönlichkeiten besetzt würde, die ihr Amt mehr ideologisch und politisch auffassen würden.Der Sinn des „Maulkorberlasses" wird deutlich — und damit komme ich auf Ihre — —
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte Sie, zu Ende zu kommen.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident.
Im Bundesgesundheitsamt sollen Bestrebungen, unser Gesundheitswesen und damit letztlich unsere Gesellschaftsordnung grundlegend zu ändern, unbeobachtet vonstatten gehen können. Dies geschieht mit Wissen und Willen der Bundesgesundheitsministerin, Frau Huber. Wir fordern sie auf, das Bundesgesundheitsamt zu entpolitisieren, denn der Arzneimittelmarkt dient ausschließlich der Versorgung der Bevölkerung. Er ist kein politischer Tummelplatz für Systemveränderer. Deswegen muß das Bundesgesundheitsamt für die parlamentarische Kontrolle durchsichtig bleiben und der „Maulkorberlaß" aufgehoben werden.
Als nächster Redner hat Herr Abgeordneter Jaunich das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe lange darüber nachgedacht, was die Union wohl bewogen haben kann, darauf zu bestehen, daß über diesen Antrag hier im Plenum diskutiert wird. Denn das Plenum hat ja wohl sicherlich Besseres und Wichtigeres zu tun, als über diesen Antrag zu debattieren. Aber das ist ja nun aufgeklärt worden. Es ging gar nicht um den Antrag, sondern es ging darum, das Bundesgesundheitsamt in die Schußlinie zu bringen. Nur, dann sollte man fairerweise eine darauf gerichtete Anfrage demnächst einbringen, über die wir diskutieren können.
Sie haben von einem „Maulkorberlaß" gesprochen, Herr Kollege Hasinger. Wissen Sie, wenn Sie sich das einmal bildlich vor Augen führen: Einen Maulkorb verpaßt man eigentlich Hunden, von denen man befürchtet, daß sie beißen. Der Maulkorb, den Sie sehen, wäre also eigentlich zu Ihrem Schutz installiert worden. Vielleicht aus einer Art von Fürsorgepflicht heraus.Scherz beiseite! Kommen wir zu dem, was eigentlich Kern dieses Antrages ist!
— Reagieren Sie doch nicht so aufgeregt.
Kommen wir doch zu dem, was in diesem dürftigen Antrag steht. Da wird von einem Erlaß des Bundesgesundheitsamtes gesprochen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Hausmitteilung. Zwischen Erlaß und Hausmitteilung sehe ich einen qualitativen Unterschied. Herr Hasinger, Sie sind ja ausweislich des Handbuches Jurist; Sie sollten das vielleicht auch so sehen und beurteilen können.Worum geht es? Das Bundesgesundheitsamt ist eine selbständige Bundesoberbehörde. Selbständige
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JaunichBundesoberbehörde heißt doch aber nicht, daß sie nicht unter der Parlamentsverantwortung der Bundesregierung, sprich des zuständigen Bundesministers, stünde. Genau um diese Parlamentsverantwortung, die Sie übrigens eben im Zusammenhang mit diesem Amt reklamiert haben, geht es, wenn in der Geschäftsordnung des Bundesgesundheitsamtes steht, daß der schriftliche Verkehr mit den Abgeordneten über das Ministerium zu leiten ist. So steht es dort in der Geschäftsordnung, und das ist überhaupt nicht zu beanstanden.
Noch einmal: Die Verantwortung für das Bundesgesundheitsamt dem Parlament gegenüber trägt die Bundesgesundheitsministerin. Wenn sie aus diesem Gesichtspunkt heraus auf Grund ihrer Organisationsgewalt, die sie hat und die der Bundestag gar nicht an sich ziehen kann, im Rahmen einer Geschäftsordnung verfügt, daß der schriftliche Verkehr vom Bundesgesundheitsamt zu Abgeordneten über das Ministerium geht, dann ist das sachgerecht und verdient keine Kritik.Kritik kann man allenfalls an dem Wortlaut dieser Hausmitteilung üben,
wo zu lesen steht, daß den Abgeordneten empfohlen werden solle, auch bei Anfragen diesen Weg zu wählen. Das halte auch ich nicht für sonderlich glücklich. Aber, Herr Kollege Hasinger, dafür brauchen wir im Plenum keine Debatte. Das bringt man im Ausschuß in Ordnung. Dort ist der richtige Ort, und dort wäre auch Gelegenheit dazu gewesen. Aber der Ablauf dieser Debatte hat ja bewiesen, daß es Ihnen um etwas ganz anderes geht.Noch einmal zum Sachverhalt: Das liegt in der Organisationsgewalt der Bundesregierung. Wegen der Parlamentsverantwortung des Ministers ist es absolut richtig, daß das Ministerium weiß, was im schriftlichen Verkehr zwischen Bundesgesundheitsamt und den Abgeordneten läuft.
Herr Kollege Jaunich, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hasinger?
Bitte.
Herr Jaunich, nur weil Sie gerade sagen, das hätte im Ausschuß erörtert werden müssen: Sind Sie nicht anwesend gewesen, als wir im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit genau über diesen Punkt sprachen, und wissen Sie nicht, daß eben keine Änderung stattgefunden hat?
Herr Kollege Hasinger, ich war anwesend, und ich habe sogar das Protokoll dieser Sitzung hier. Sie haben damals nur eine Frage nach diesen Regelungen gestellt und darüber nicht in der Sache debattiert.
Ich führe meine Ausführungen jetzt fort. Weil es also gar nicht hierum ging, ist es natürlich auch angezeigt, ein paar Sätze zu dem zu verlieren, was Sie in Richtung Bundesgesundheitsamt gesagt haben. Herr Kollege Hasinger, ich beobachte seit einiger Zeit die Versuche, aus den Reihen Ihrer Fraktion heraus auf das Bundesgesundheitsamt Einfluß zu nehmen. Das erfüllt mich mit Besorgnis. Die Funktionsstellung des Bundesgesundheitsamtes ist nicht nur durch das Errichtungsgesetz von 1952 bestimmt. Wir haben vielmehr in einer Vielzahl von Einzelgesetzen dem Bundesgesundheitsamt Aufgaben zur Erledigung übertragen, die Vollzugsaufgaben sind. Nun sagen Sie, durch eine gewisse Personalpolitik werde dieses Amt, das eigentlich ein wissenschaftliches Amt sei — so haben Sie in der Begründung Ihres Antrages gesagt —, zu einer politischen Instanz umfunktioniert. Wir haben dem Bundesgesundheitsamt durch Gesetzgebung Aufgaben zugewiesen, die eindeutig als politische Aufgaben zu verstehen sind.Ihr Tätigwerden, dieses Einwirken auf das Amt und auch Ihre Reden hier verbergen für mich erkennbar den Ansatz bei Ihnen, domestizierend auf die dort Tätigen einzuwirken. Ich sage Ihnen, ohne all dies in Einzelheiten zu kennen, was Sie hier zitiert haben: Ich stelle mich zunächst einmal vor die Beamten des Bundesgesundheitsamts, die dort ihre Plicht und Schuldigkeit tun.
Ich möchte noch einmal auf eine Äußerung von Ihnen eingehen, das Arzneimittelinstitut, das Bundesgesundheitsamt, der Präsident oder wer auch immer habe gesagt, man wünsche, daß gerichtliche Entscheidungen ergehen. Welche andere Möglichkeit sehen Sie denn? Dem Bundesgesundheitsamt ist das Arzneimittelinstitut angegliedert. Das Arzneimittelinstitut ist für die Zulassung von Arzneimitteln kraft Arzneimittelgesetz zuständig, es ist für die Rücknahme zuständig, und es ist zur Intervention aufgerufen, wenn sich stichhaltige Besorgnisse ergeben, daß ein Arzneimittel trotz Zulassung schwerwiegende gesundheitlich bedenkliche Auswirkungen zeigt. Was wollen Sie denn an die Stelle gerichtlicher Entscheidungen setzen? Doch wohl nicht das Einwirken einzelner Abgeordneter auf das Amt, die Entscheidung so oder so zu fällen. Dies wäre ja ein Zustand, der völlig unerträglich wäre Es gibt Fälle, in denen der Rechtsstreit gesucht wird, und es muß sie geben. Denn welche andere Form von Konfliktregelung wäre aus Ihrer Sicht denkbar? Dann aber ist ein solcher Ausspruch nicht so zu klassifizieren, wie Sie das hier in Ihren Beiträgen getan haben.Wenn Sie sich mit uns über die Gesundheitspolitik streiten wollen, wenn Sie über Einzelheiten der Arbeit des Bundesgesundheitsamts mit uns streiten wollen, kann ich Ihnen eigentlich nur einen vernünftigen Weg empfehlen, nicht den über eine Hintertür. Der vorgeschobene Anlaß des Erlasses gibt
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16492 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Jaunichdafür eine geeignete Grundlage jedenfalls nicht ab.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Herrn Abgeordneten Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich zum erstenmal, schon ehe dieser Antrag auf dem Tisch lag, vom „Maulkorberlaß" des Bundesgesundheitsamts hörte und irgendeine Pressenotiz darüber las, habe ich mich mit meinen Freunden auch gefragt: Ist da alles in Ordnung in diesem Wortlaut? Ist hier nicht etwas das Selbstverständnis der Parlamentarier angeknackt? Nur so, Herr Kollege Hasinger, kann man darüber nachdenken, ob alles das, was über Hausordnungen und Erlasse gesagt wird, so ganz richtig ist.
Dies zum Aufhänger zu nehmen, um ideologische Klimmzüge zu machen, dafür sollten Sie sich, Herr Hasinger, wirklich zu schade sein.' Ich glaube, hier wäre es richtiger gewesen — Sie hätten meine Zustimmung und, wie ich annehme, die breite Zustimmung des Hauses gefunden —, man hätte einmal darüber nachgedacht, ob und wie in den verschiedenen Ministerien der Verkehr mit Abgeordneten durchgeführt wird. Ich habe mich damals selbst gefragt: Ist das eigentlich so, wenn du das Bundesgesundheitsamt anrufst? Wirst du darauf verwiesen, daß du erst im Ministerbüro nachfragen mußt, ob du anrufen darfst? Ich habe festgestellt: Bei mir war das in der Praxis nie so. Ich habe öfters mit dem Amt zu tun.
Ich stimme mit meinen Freunden und wahrscheinlich mit Ihnen allen überein, daß diese Formulierung in einer Hausmitteilung eine unmögliche' Formulierung ist.
Das ist gar keine Frage. Dieses Haus sollte sich darüber einig sein, daß man so etwas ändern muß. Ich bin sicher: Die Frau Bundesgesundheitsminister wird dies tun.
Aber wir müssen als Parlamentarier genauso sehen, daß für die wesentlichen Dinge immer der Minister den Kopf hinhält und damit auch die Verantwortung trägt. Dies war zu Ihren Zeiten so, als Sie regierten, und es ist immer so, daß der Minister vor dem Parlament den Kopf hinhält, wenn irgendwo in seinem Haus etwas falsch gelaufen ist, weil es vielleicht von außen Einwirkungen gab, über die er nicht unterrichtet wurde.
Wir müssen also darüber nachdenken. Dies sollte im Ausschuß geschehen. Aber man sollte nicht ideologische Klimmzüge bezüglich der Gesundheitspolitik machen. Man sollte darüber nachdenken: Wieweit geht die persönliche Verantwortung des Ministers? Wieweit kann das selbstverständliche Recht des Abgeordneten, sich zu informieren, gehen, ohne daß die Verantwortung des Ministers durch eine politisch gefärbte Sache möglicherweise in Gefahr geraten könnte? Dies muß abgegrenzt werden. Darüber sollte man nachdenken.
In den Häusern ist das ja unterschiedlich geregelt. Lassen Sie mich eine Empfehlung dazu geben, in welcher Richtung man darüber vielleicht nachdenken könnte. Ich darf beispielsweise aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern zitieren. Da heißt es in einer Anweisung für die zum Geschäftsbereich gehörenden Dienststellen u. a.:
Auf Grund der Ergebnisse der mit Bezugserlaß durchgeführten Erhebung bitte ich, künftig beim schriftlichen Verkehr
— wie gesagt, beim schriftlichen Verkehr, nicht bei jeglichem Verkehr —
mit Abgeordneten des Deutschen Bundestages wie folgt zu verfahren.
1. Die Dienststellen beantworten Anfragen von Abgeordneten des Deutschen Bundestages grundsätzlich eigenverantwortlich.
Ich wiederhole: grundsätzlich eigenverantwortlich.
2. Anfragen von besonderer politischer Bedeutung sind mir zusammen mit einer Sachdarstellung und einem Anwortvorschlag vorzulegen.
Das ist genau der Punkt, an dem die Abgrenzungsfrage auftaucht. Darüber muß man nachdenken.
3. Von eigenverantwortlich beantworteten Anfragen ist mir nach Abgang Abdruck in doppelter Ausfertigung zuzuleiten.
Das heißt, auch da bleibt die Verantwortung des Ministers gewahrt, aber der zuständige Fachmann kann — auch schriftlich — eine Sachaussage machen.
Mir scheint, dieses Beispiel wäre ein guter Anlaß, im Ausschuß darüber nachzudenken, wie man so etwas vielleicht für alle Häuser machen könnte. Vielleicht kann sich sogar auch der Geschäftsordnungsausschuß — ich weiß nicht, ob der Antrag auch an ihn überwiesen wird — damit befassen.
Vielleicht wäre er eher geeignet als der Gesundheitsausschuß, weil es sich hier ja nicht um gesundheitspolitische Klimmzüge des Herrn Hasinger handelt.
Hier also sollten wir die Sache angehen, damit das ein bißchen besser, ein bißchen vernünftiger geregelt wird. Da haben Sie die Zustimmung der Freien Demokraten. Es geht um die Abgrenzung, um die Verantwortung des Ministers, aber auch um die Verantwortung der Abgeordneten und um ihr Kontrollrecht. Ein Beispiel für eine Regelung habe ich mit der Anordnung aus dem Bundesinnenministerium gegeben.
Das Wort hat die Frau Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Deutscher 'Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980 16493
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Hasinger hat heute abend ein Musterbeispiel dafür gegeben, in welcher Weise ein Minister für eine nachgeordnete Behörde in die Verantwortung genommen werden kann, ein Musterbeispiel bis hin zu der ideologisch verstiegenen Behauptung, wir wollten im Bundesgesundheitsamt die Sozialisierung sämtlicher Arzneimittel betreiben, den Menschen zu einem soziologischen Funktionsglied der Gesellschaft machen usw. Das alles wird aus einer Schrift zitiert, die beim Bundesgesundheitsamt veröffentlicht worden ist. Meinungen dieser und jener Art werden auch in meinem Hause veröffentlicht. Auch die Familienberichte z. B., von denen ich mich zum Teil distanziere, die Sie hier aber öfter zitieren, habe ich in meinem Hause veröffentlicht, weil es zur Redlichkeit gehört, unterschiedliche Meinungen zum Tragen kommen zu lassen.
Daß Sie hier auch noch Herrn Fülgraff, der ja erst längerfristig weggehen will — ich erwähne das nur, weil Sie es hier eingebracht haben —, ideologische Schieflage unterstellen und in bezug auf einen noch gar nicht anstehenden Nachfolger Ängste äußern, finde ich im Zusammenhang mit dieser Anfrage außerordentlich merkwürdig. Sie unterstellen mir, ich duldete und förderte solche Ideologen. Das paßt, so denke ich, überhaupt nicht in den Zusammenhang dieser Debatte. Den Beweis dafür sind Sie mir aber schuldig, und ich hoffe, Sie treten ihn an.
— Heute abend sicher nicht.
Es ist aber eine große Behörde mit 1 100 Mitarbeitern.
— Nein, nein, das habe ich auch nicht verlangt, Herr Wehner. Aber wenn mir unterstellt wird, es ginge nur um politisch erwünschte Auskünfte, und wir wollten z. B. gefährliche Stoffe verbergen, sage ich Ihnen: Wir haben in diesem Hause viele Gesetze gemacht, mit denen wir dem Bundesgesundheitsamt Aufgaben übertragen haben, gerade Probleme deutlich zu machen. Aber Sie kennen selbst die wissenschaftlich oft schwierige Diskussion in Abgrenzungsfällen. Deshalb sollten Sie so etwas hier nicht einfach behaupten.
Was die Hausanweisung angeht, so haben Sie aus den Erläuterungen, nicht aus der Anweisung selber zitiert, daß jeglicher Verkehr unterbunden werden soll.
— Nein, das steht in den Erläuterungen. In diesem Punkte sind wir uns aber einig. Ich habe das Bundesgesundheitsamt darüber informiert, daß es sich hier nicht um jeglichen Verkehr mit Abgeordneten handelt.
Ferner halten wir natürlich den Verkehr von Abgeordneten mit dem Bundesgesundheitsamt durchaus für bedeutungsvoll, und diese Debatte hat mich in der Ansicht, daß er schon von Bedeutung ist, eher bestärkt. Ich unterschätze ja auch die Abgeordneten nicht, Herr Hasinger. In der Hausmitteilung steht, daß dem Ministerium davon Kenntnis zu geben ist. Das heißt nicht, daß in weniger wichtigen Fällen nicht auch nachträglich Kenntnis gegeben werden kann. Aber in gravierenden Fällen, da Sie mich ja hier in der Verantwortung, die ich auch habe, zitieren, muß ich mir ausbitten, daß ich von den Vorgängen Kenntnis erhalte. Das gehört wie in jeder anderen Behörde in Bund und Land zu den normalen Regelungen.
Die Rede von Herrn Hasinger hat uns heute gezeigt, was wirklich hinter der Geschichte steht. Die Sache selbst hätte sehr leicht schon etwas eher ausgeräumt werden können, Herr Hasinger; Sie haben mich niemals angesprochen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrags auf Drucksache 8/3609 an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit vor. Ich frage, ob das Haus damit einverstanden ist. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages— Drucksache 8/3686 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. MiltnerWird das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht gewünscht.Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 8/3686 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregerunga) Empfehlung zum Schutz von beweglichem Kulturgutb) Empfehlung zur internationalen Vereinheitlichung der Statistiken über Wissenschaft und Technologiec) Überarbeitete Empfehlung zur internationalen Vereinheitlichung der Erziehungsstatistiken— Drucksachen 8/3109, 8/3709 — Berichterstatter: Abgeordneter Broll
Metadaten/Kopzeile:
16494 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 205. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. März 1980
Vizepräsident LeberWünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Wird sonst das Wort gewünscht? — Beides ist nicht der Fall.Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/3709, von den Unterrichtungen durch die Bundesregierung Kenntnis zu nehmen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Ich stelle fest, das Haus ist damit einverstanden.Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:Beratung des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu derAufhebbaren Verordnung der Bundesregierung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
Aufhebbaren Verordnung der Bundesregierung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
— Drucksachen 8/3538, 8/3541, 8/3710 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. UnlandWird das Wort gewünscht? — Das ist nicht derFall.Es handelt sich um einen Bericht des Ausschusses für Wirtschaft, von dem das Haus nur Kenntnis zu nehmen braucht, wenn nicht Anträge aus der Mitte des Hauses gestellt werden. — Ich stelle fest, Anträge liegen nicht vor. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann stelle ich fest, daß das Haus von dem Bericht auf Drucksache 8/3710 Kenntnis genommen hat.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 bis 28 auf:26. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag einer Richtlinie des Rates— betreffend die Grenzwerte für die Ableitungen von Quecksilber in die Gewässer durch den Sektor Alkalichloridelektrolyse— betreffend die Qualitätsziele für dieGewässer, in die der Sektor Alkalichloridelektrolyse Quecksilber ableitet— Drucksachen 8/3161 Nr. 55, 8/3704 — Berichterstatter:Abgeordnete BiecheleKonrad 27. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag einer Richtlinie des Rates— über die Grenzwerte für Einleitungen von Aldrin, Dieldrin und Endrin in die Gewässer der Gemeinschaft— über die zu erreichenden Qualitätsziele für Gewässer, in welche Aldrin, Dieldrin und Endrin eingeleitet werden— Drucksachen 8/3025 Nr. 7, 8/3705Berichterstatter:Abgeordnete Biechele Konrad28. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die BundesregierungEntwurf einer Richtlinie des Rates über Gesundheitsvorschriften, denen die zur Herstellung von wärmebehandelter Milch bestimmte rohe Milch entsprechen mußEntwurf einer Richlinie des Rates über Gesundheitsvorschriften für die Herstellung von wärmebehandelter Milch, die zum unmittelbaren menschlichen Verzehr bestimmt ist— Drucksachen 8/3612, 8/3642 —Berichterstatter: Abgeordneter KiechleIch sehe, das Wort wird nicht gewünscht.Ich gehe davon aus, daß wir über die Vorlagen gemeinsam abstimmen können. — Ich sehe keinen Widerspruch. Wer den Beschlußempfehlungen der Ausschüsse auf Drucksachen 8/3704, 8/3705 und 8/3642 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Es enthält sich niemand. Die Beschlußempfehlungen der Ausschüsse sind angenommen.Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angelangt.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.