Gesamtes Protokol
Meine
Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Entsprechend einer interfraktionellen Fühlungnahme schlage ich für die Sommerpause folgende Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde vor:
Jedes Mitglied des Bundestages ist berechtigt, in den Monaten Juli und August 1978 je vier Fragen an die Bundesregierung zu richten, die schriftlich beantwortet werden.
Die Fragen für den Monat Juli müssen bis
spätestens Montag, den 31. Juli 1978, 15 Uhr,
die für den Monat August bis spätestens Donnerstag, den 31. August 1978, 15 Uhr im Parla-
mentssekretariat, Zimmer 23 A, eingehen.
Diese Abweichung von der Geschäftsordnung muß vom Bundestag nach § 127 der Geschäftsordnung mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder beschlossen werden. Ich bitte diejenigen, die mit der Empfehlung einverstanden sind, um ihr Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Empfehlung mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen.
Es liegt Ihnen eine Liste von Vorlagen - Stand 13. Juni 1978 — vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen.
Betr.: Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates über die Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 24. bis 28. April 1978 in Straßburg
zuständig: Auswärtiger Ausschuß
Betr.: Übereinkommen über dreigliedrige Beratungen zur
Förderung der Durchführung internationaler Arbeitsnormen
Empfehlung 152 betreffend dreigliedrige Beratungen zur Förderung der Durchführung internationaler Arbeitsnormen und innerstaatlicher Maßnahmen im Zusammenhang mit den Tätigkeiten der Internationalen Arbeitsorganisation
zuständig: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Erhebt sich gegen die vorgeschlagenen Überweisungen Widerspruch? — Ich stelle fest, das ist nicht der Fall.
Unser Kollege Ravens hat mit Wirkung vom 15. Juni 1978 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet.
Als sein Nachfolger ist am 20. Juni 1978 der Abgeordnete Neumann in den Deutschen Bundestag eingetreten.
Herr Kollege, ich begrüße Sie sehr herzlich und wünsche Ihnen eine erfolgreiche Arbeit im Hause und für unser Land.
Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung
Der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung hat mit Schreiben vom 9. Juni 1978 mitgeteilt, daß der Ausschuß nachfolgende Vorlagen zur Kenntnis genommen hat:
Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie des Rates 73/173/EWG vom 4. Juni 1973 zur Angleichung der Rechts-und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung von Zubereitungen gefährlicher Stoffe (Drucksache 8/1525 Nr. 1)
Entwurf einer Verordnung des Rates zur Durchführung einer Arbeitskostenerhebung in der Industrie, im Groß- und Einzelhandel, Bank- und Versicherungsgewerbe (Drucksache 8/1560)
Vorschlag einer Richtlinie des Rates
— zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über gemeinsame Vorschriften für Werkzeugmaschinen und für gleichartige Maschinen zur Bearbeitung von Metallen, Holz, Papier und sonstigen Werkstoffen
— zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über handgeführte motorgetriebene Schleifmaschinen
Vorschlag einer Verordnung des Rates zur Durchführung einer Erhebung über Struktur und Verteilung der Löhne und Gehälter im Groß- und Einzelhandel, Bank- und Versidierungsgewerbe (Drucksache 8/1558)
Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die allgemeinen Bestimmungen für die Bauart bestimmter Zündschutzarten für elektrische Betriebsmittel zur Verwendung in explosibler Atmosphäre
Der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung hat mit Schreiben vom 14. Juni 1978 mitgeteilt, daß der Ausschuß von der nachstehenden Vorlage Kenntnis genommen hat:
Entwurf einer Entschließung des Rates der Europäischen Gemeinschaften über ein Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz
Der Präsident des Deutschen Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Deutschen Bundestages am 15. Dezember 1977 die in der Zeit vom 7. bis 13. Juni 1978 eingegangenen EG-Vorlagen an die aus Drucksache 8/1928 ersichtlichen Ausschüsse überwiesen.
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Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa und ihre Erörterung auf dem KSZE-Überprüfungstreffen in Belgrad
— Drucksachen 8/1312, 8/1605 —
Das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Grundlage der heutigen Aussprache bilden die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU und die schriftliche Antwort der Bundesregierung.Ich darf mich auf diese Antwort beziehen. Da diese Antwort dem Hohen Haus vorzulegen war, bevor das Belgrader Treffen beendet war, hatte sich die Bundesregierung vorbehalten, sie durch eine mündliche Erklärung zu ergänzen. Ich darf mich dafür bedanken, daß ich Gelegenheit habe, vor Beginn der Debatte das zu tun.Wir haben heute Abstand zu Belgrad gewonnen. Neue Ereignisse sind eingetreten, die den Entspannungsprozeß beeinflussen werden. Über ihre Bewertung wird noch in der Aussprache zu reden sein. Gleichwohl ist ein Rückblick auf das Belgrader Treffen notwendig. Denn die Kenntnis von Verlauf und Ergebnis dieses Treffens, der bisher wichtigsten. Zwischenstation des KSZE-Prozesses, ist für unsere heutige Debatte wesentlich.Im Hinblick auf die in der Großen Anfrage aufgeworfenen Fragen stelle ich folgendes fest.Erstens. In der mehr als zweimonatigen Aussprache über die bisherige Verwirklichung der Schlußakte, die in Belgrad stattfand, hat die Delegation der Bundesrepublik Deutschland die Gewährung der Menschenrechte für alle Deutschen gefordert. Sie hat keinen Zweifel daran gelassen, welche Bedeutung sie unter den zehn Prinzipien der Schlußakte von Helsinki, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten der KSZE leiten, dem VII. Prinzip beimißt: der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit.Zweitens. Die Bundesregierung hat in Belgrad eingehend dargelegt, welche konkreten menschlichen Erleichterungen gemäß den entsprechenden Bestimmungen des III. Korbs der Schlußakte zu gewähren sind. Sie hat auf Unvereinbarkeiten mit den in der Schlußakte abgegebenen Erklärungen hingewiesen und Verbesserungen des gegenwärtigen Zustands in einigen Teilnehmerstaaten angemahnt. Ihre eigenen Vorschläge für ein zukunftsweisendes Schlußdokument hat sie auf solche Verbesserungen konzentriert. Sie hat das gemeinsam mit ihren Freunden tun können.Drittens. Ein Konsens über solche Vorschläge konnte nicht erreicht werden. Immerhin konnte ein Schlußdokument verabschiedet werden, das die Bedeutung der Schlußakte von Helsinki und ihrer Verwirklichung für den Fortgang der Entspannung ausdrücklich feststellt und das folgerichtig alle Teilnehmerstaaten erneut auf die Verwirklichung der Schlußakte verpflichtet. Die Bundesregierung wird auch in Zukunft mit Nachdruck auf die Verwirklichung der Schlußakte drängen können und das auch tun.Ich komme zur Darstellung im einzelnen. Die zweite Phase des Belgrader Folgetreffens, die am 17. Januar 1978 begann, war von den Auseinandersetzungen um ein Schlußdokument bestimmt. Nach westlichen Vorstellungen sollte das Schlußdokument klar und ausgewogen den Verlauf der Debatte wiedergeben und damit auch Aussagen über das Menschenrechtsprinzip der Schlußakte und über die konkreten menschlichen Erleichterungen des III. Korbes enthalten. Der Entwurf der Sowjetunion enthielt dagegen lediglich allgemeine Formulierungen zur Entspannung und Abrüstung. Er berücksichtigte vornehmlich die sowjetischen Hauptwünsche auf dem Gebiet der militärischen Sicherheit und der wirtschaftlichen Kooperation. Das Schlußdokument — das ergibt sich aus der Natur der Sache — konnte nur mit der Zustimmung aller Teilnehmerstaaten, also nicht gegen den Willen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten, zustande kommen.Konsens wurde über folgende politische Aussagen erreicht: das Bekenntnis zur Fortsetzung des Entspannungsprozesses, die Aussage, daß die Durchführung der Bestimmungen der Schlußakte für die Entwicklung des Entspannungsprozesses wesentlich ist, die Betonung der politischen Bedeutung der Konferenz von Helsinki, die Bekräftigung der Entschlossenheit der Teilnehmer, alle Bestimmungen der Schlußakte durchzuführen, die Feststellung unterschiedlicher Ansichten über das Ausmaß der bisherigen Durchführung der Schlußakte, die Feststellung mangelnder Einigung über eine Anzahl der dem Treffen vorliegenden Vorschläge. In seinem Abschnitt über die Konferenzfolgen sieht das Schlußdokument Expertengruppen über friedliche Streitschlichtung vor — hier handelt es sich um einen Schweizer Vorschlag — und ein wissenschaftliches Forum — hier handelt es sich um einen deutschen Vorschlag — sowie über Mittelmeerfragen. Schließlich wurde festgelegt, daß das nächste KSZEFolgetreffen im November 1980 in Madrid stattfinden soll. Diese Entscheidung unterstreicht den Willen der Teilnehmerstaaten, den multilateralen Entspannungsprozeß als langfristig angelegt zu behandeln.Für die Bundesrepublik Deutschland hat Staatssekretär van Well in seiner Abschlußerklärung am 9. März 1978 unsere Haltung zur Schlußakte von Helsinki und zum multilateralen Entspannungsprozeß noch einmal präzisiert, den eingehenden und freimütigen Meinungsaustausch, über die Durchführung der Schlußakte positiv gewürdigt, bedauert, daß kein Schlußdokument zustande kam, das dem Entspannungsprozeß auf der Grundlage der Schlußakte neue konkrete Impulse gibt, die Verantwortung dafür klargestellt, warum es nicht zu einem Abschlußdokument kam, wie wir und unsere Freunde es angestrebt haben, unsere Bereitschaft bekräftigt, den multilateralen Entspannungsprozeß weiterzuführen, und ausdrücklich auf das politische Ziel der Bun-
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Bundesminister Genscherdesrepublik Deutschland hingewiesen, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wieder erlangen kann.Damit ist der Standpunkt der Bundesregierung zum Stand und zur Fortführung des KSZE-Prozesses klargemacht. Er deckt sich mit dem unserer Freunde in der Europäischen Gemeinschaft und im Atlantischen Bündnis. Das ergibt sich aus den offiziellen Bewertungen der Belgrader Ergebnisse durch unsere Partner. Diese gemeinsame westliche Beurteilung wurde zuletzt im Kommuniqué des NATO-Gipfeltreffens bestätigt. In diesem Kommuniqué heißt es unter anderem — ich zitiere wörtlich —:Die Bündnispartner sind nach wie vor davon überzeugt, daß die uneingeschränkte Durchführung der KSZE-Schlußakte für die Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses von wesentlicher Bedeutung ist. Sie begrüßten die gründliche Überprüfung der Durchführung der Schlußakte auf der Folgekonferenz in Belgrad und stellten fest, daß Menschenrechte und humanitäre Fragen als legitime Anliegen der Völkergemeinschaft bestätigt worden sind. Sie erinnerten daran, daß alle Teilnehmerstaaten ihre Entschlossenheit bekräftigt haben, die Schlußakte von Helsinki voll durchzuführen, und ihren Willen erklärt haben, den durch die KSZE eingeleiteten multilateralen Prozeß fortzusetzen. Sie bedauerten jedoch, daß die Belgrader Folgekonferenz kein substantielleres Ergebnis gebracht hat. Sie betonten die Bedeutung einer besseren Durchführung aller Bestimmungen der Schlußakte, damit bei der Überprüfung der Durchführung auf der Madrider Konferenz im Jahre 1980 erkennbar wird, daß bedeutende Verbesserungen nicht nur in den zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern auch im Leben des einzelnen erreicht worden sind. In dieser Hinsicht betrachten sie es als unvereinbar mit der Schlußakte und der Entspannungspolitik, daß die Sowjetunion und einige andere osteuropäische Staaten ihren Bürgern das Recht verweigern, sich entsprechend den Bestimmungen der Schlußakte zu verhalten, ohne deswegen Unterdrükkungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein.Herr Präsident, meine Damen und Herren, auch wenn wir uns die Aussagen des Schlußdokuments detaillierter gewünscht hätten, messen wir seinen politischen Erklärungen, namentlich der erneuten Verpflichtung zur Verwirklichung der Schlußakte, großen Wert bei. Wir sehen die Bedeutung des Belgrader Folgetreffens in seiner Gesamtheit und nicht allein in seinem Abschlußdokument. Wichtig war der eingehende Meinungsaustausch als solcher, den die Schlußakte von Helsinki vorsieht. Damit wurde allen 35 Teilnehmerstaaten die Möglichkeit geboten, sich offen über das seit Helsinki Erreichte auszusprechen und dabei auch Kritik aneinander zu üben. Diese Möglichkeit war ohne Vorbild in der Geschichte der internationalen Beziehungen. Nicht alle Teilnehmerregierungen konnten sich, wie wir wissen, an diesen neuen Aspekt gewöhnen, namentlich jene nicht, die bei sich selbst eine freie und öffentliche Kritik an den staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht dulden.Wenn wir die Entspannung als dynamischen Prozeß bejahen, müssen wir die neuen Dimensionen im Umgang der Staaten miteinander, die in Belgrad sichtbar wurden, aber noch nicht voll entfaltet werden konnten, für die Zukunft festhalten und weiterentwickeln.In Belgrad haben sich die Europäische Gemeinschaft und das Atlantische Bündnis als politische Konsultationsorgane erneut bewährt. Wir begrüßen es, daß vor allem die neun Staaten der Europäischen Gemeinschaft dem Treffen wesentliche Impulse in unserem, d. h. westlichem Sinne, gegeben haben. Das wird auch in Zukunft so sein.Auf der Grundlage einer umfassenden Analyse des Belgrader Treffens und der Faktoren der internationalen Lage, die auf dieses Treffen eingewirkt haben, werden gemeinsame Positionen der Neun für die Fortführung des KSZE-Prozesses zunächst für die vorgesehenen Expertentreffen entwickelt. Der am 1. Juli 1978 beginnenden deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Gemeinschaft kommt damit eine besondere Bedeutung zu.Wie schon in Helsinki selbst, hat sich auch in Belgrad erneut gezeigt, daß die neutralen Staaten Europas, aber auch die ungebundenen sich der Freiheit und den Menschenrechten verpflichtet fühlen. Wir wären unsererseits bereit gewesen, auf ihre besonderen Interessen einzugehen, wenn es zu wirklichen Verhandlungen über ein aussagekräftiges, alle Teile der Schlußakte berücksichtigendes Abschlußdokument gekommen wäre. Das Belgrader Treffen, sein Verlauf und sein Ergebnis sollten für alle 35 beteiligten Staaten Ansporn für neue Anstrengungen sein. Der multilaterale Entspannungsprozeß darf nicht als Selbstzweck leerlaufen. Er muß den Menschen in Europa etwas bringen, wenn er nicht in Routine erstarren soll. Deshalb tritt die Bundesregierung auch dafür ein, das Madrider Folgetreffen auf politischer Ebene, d. h. auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs oder der Außenminister, abzuhalten. Wir wollen damit die politische Bedeutung der Folgetreffen unterstreichen und dem multilateralen Entspannungsprozeß neue Impulse verleihen. Daran werden wir festhalten. Wo immer sich Chancen bieten, werden wir diese weiterverfolgen und nutzen. Wir haben bis zum Madrider Folgetreffen zweieinhalb Jahre Zeit, um in unseren Beziehungen mit den Staaten des Warschauer Pakts das in Belgrad begonnene Gespräch bilateral fortzuführen.Ich habe hier Anlaß, Staatssekretär van Well sowie Botschafter Per Fischer und ihren Mitarbeitern für die Arbeit im Zusammenhang mit der Belgrader Folgekonferenz zu danken.Für die Bundesregierung stelle ich abschließend fest:Erstens. Die Entscheidung, das Schlußdokument von Helsinki zu unterzeichnen, war richtig. Sie dient den. Menschen in Deutschland und in Europa.
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Bundesminister GenscherZweitens. Wir werden konsequent für die Fortsetzung des multilateralen Entspannungsprozesses eintreten und dabei mit Festigkeit und Beharrlichkeit auf die Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki in allen ihren Teilen hinwirken.
Das
Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Mertes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben die mündliche Ergänzung der Antwort der Regierung, die der Herr Bundesminister des Auswärtigen soeben vorgetragen hat, zur Kenntnis genommen, und werden sie in unsere Gesamtwürdigung einbeziehen.Der Deutsche Bundestag berät heute nicht mehr in erster Linie das erste KSZE-Überprüfungstreffen in Belgrad, sondern ein bleibendes, ein fundamentales Thema der deutschen Politik, nämlich die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa. Dies ist nicht nur der Titel eines Weißbuches und einer darauf fußenden Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion, dies ist vielmehr eine Aufgabe, der jedes Mitglied dieses Hauses kraft Verfassung, kraft Völkerrecht und kraft der sittlichen Wertvorstellungen verpflichtet ist, die den drei Fraktionen trotz des Methoden- und Sachstreites gemeinsam sein müssen. Die Verwirklichung der Forderung „Menschenrechte für alle Deutschen" bleibt auch künftig — dies betont meine Fraktion gerade nach dem kläglichen Ende des Belgrader Treffens — elementarer Auftrag unserer Außen- und Deutschlandpolitik.
Da die besondere Aufmerksamkeit der CDU/CSU für die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa immer wieder böswillige und törichte Fehlauslegungen erfährt, wiederhole ich gleich hier: Unsere menschliche Solidarität gehört allen Menschen, die auf der ganzen Welt, gleichgültig unter welchem polischen System sie leben, in ihren Menschenrechten verletzt sind.
Sie gilt insbesondere auch denjenigen Menschen anderer Völker in Osteuropa, die zusammen mit den unter ihnen lebenden Deutschen um ihre Menschenrechte ringen. Sie gilt aber insbesondere aus naheliegenden Gründen den Menschen unseres eigenen Volkes. Wer das als Nationalismus abwertet, der leidet an einer Begriffsverwirrung, für die kein anderes Volk Verständnis aufbringt.
Wirkliche Entspannung, echter Friede entstehen erst dann, wenn die international geltenden Menschenrechtsverpflichtungen auch in ganz Deutschland strikt eingehalten und voll angewendet werden.
Diese Definition der Vertragstreue gilt auch hier.Der aktive politische Einsatz der BundesrepublikDeutschland für die Menschenrechte beruht nachgeltendem Völkerrecht, insbesondere nach der Ratifizierung der internationalen Menschenrechtspakte — sie sind übrigens unter dem CDU-Bundeskanzler Kiesinger zur Zeit der Großen Koalition von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet worden —, nicht nur auf einem moralichen Anspruch, sondern auf einer vertraglichen Verpflichtung. Die Schlußakte von Helsinki hat diese Verpflichtung für das Gebiet der Teilnehmerstaaten der KSZE politisch und moralisch auf feierliche Weise bekräftigt.Zum Belgrader Treffen und seinem Verlauf und seinen Ergebnissen nur noch wenige Bemerkungen. Nach seinen 96 oft qualvollen Verhandlungstagen endete es mit einem Dokument, das, abgesehen von einem protokollarischen Teil und seiner Bekräftigung der Schlußakte von Helsinki, die wir nicht unterschätzen, kaum substanzloser sein könnte. Denn in knappen Worten sagt es: Wir haben uns getroffen, haben uns gestritten und werden uns 1980 in Madrid wieder treffen.Doch mißt die CDU/CSU die Konferenz nicht nur an ihrem Ergebnis. Wir sehen — zusammen mit einem so klar sehenden Menschenrechtskämpfer wie Andrej Sacharow — daß der vertiefte Meinungsaustausch, d. h. die erste Konferenzhälfte, durchaus positive Aspekte enthielt. Die Sowjetunion wurde wochenlang mit einer Feststellung der Schlußakte von Helsinki konfrontiert, die auch künftig die Basis für die Behandlung der Verwirklichung der Menschenrechte als einer Voraussetzung des Friedens darstellt und die es den kommunistischen Staaten verwehrt, Fragestellungen und Beratungen über diesen Gegenstand noch als Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten abzuwerten.
Alle Unterzeichnerstaaten anerkannten in Helsinki nämlich — ich zitiere — „die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Achtung ein wesentlicher Faktor für den Frieden, die Gerechtigkeit und das Wohlergehen ist, die ihrerseits erforderlich sind, um die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen ihnen sowie zwischen allen Staaten zu gewährleisten" .Das internationale Eintreten für Menschen, gleichgültig welchen Staates, die in ihren Menschenrechten eingeschränkt und verletzt sind, ist daher auch politisch aus Gründen der Entwicklung normaler und freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern und aus Gründen der Friedenssicherung geradezu geboten. Nur durch den Abbau von Menschenrechtsverletzungen und durch die Verwirklichung der Menschenrechte innerhalb der Staaten kann jener Konsens zwischen Regierenden und Regierten hergestellt werden, der sie zu innerlich stabilen Partnern der Völker- und Staatengemeinschaft macht, und kann jenes Vertrauen zwischen Staaten und Völkern geschaffen werden, das eine Grundvoraussetzung internationaler Sicherheit, Zusammenarbeit und des Friedens ist.Der polnische Philosoph Kolakowski, eine früher gerade auch bei den Sozialdemokraten anerkannte Autorität in Fragen der inneren Lage des Ostblocks,
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Dr. Mertes
hat am 17. März 1977 in einer öffentlichen Erklärung in Köln diesen Zusammenhang wie folgt erläutert:Es ist uns wohlbekannt, daß der neuerliche Aufschwung der oppositionellen Aktivität in Osteuropa bei vielen Leuten im Westen die Angst erweckt, daß diese Aktivität zu einer explosiven Lage in einem oder mehreren Ländern und eventuell zur Entstabilisierung der ganzen europäischen Ordnung führen könnte. Solange aber die Bevölkerung sich dessen bewußt ist, daß sie demokratischer Institutionen und der Garantie der Bürgerrechte beraubt ist, daß sie in ein System hineingezwängt ist, in dem die Machtausübung an keine Verantwortung gebunden ist, kann die Wahrscheinlichkeit der Explosion nie ausgeschlossen werden. Nicht die Existenz der Opposition in den kommunistischen Staaten ist die Quelle der Spannungen und Entstabilisierung. Im Gegenteil, je weniger die Regierung als legitim und vertrauenswürdig gilt, desto weniger ist sie fähig, spontane Ansprüche, die durch verschiedene zufällige und unvorhersehbare Umstände verursacht worden sein könnten, zu kontrollieren.
Die lange und einer breiten Öffentlichkeit bekanntgewordene Aufzählung ständiger Menschenrechtsverletzungen im sowjetischen Machtbereich hat die Sowjetunion und ihre Verbündeten in Belgrad in eine politisch-moralische Defensive gedrängt. Wenn die kommunistischen Staaten unter dem unumkehrbaren Entspannungsprozeß die Verewigung menschenrechtswidriger Herrschaft und die Ausdehnung des sowjetisch-sozialistischen Einflusses außerhalb des Moskauer Machtbereichs verstehen, so sagen wir: Das Umgekehrte gilt: Entspannung muß ein Prozeß schrittweise zunehmender, aber unumkehrbarer Menschenrechtsverwirklichung sein.
In dieser Frage arbeitet die Zeit in Europa nicht gegen den Westen, sondern für ihn und für seine Werte. Dafür bleibt Belgrad trotz allen machtpolitischen Zynismus, den wir dort erleben mußten, ein lebendiger Beweis.Gerade die Belgrader Überprüfungs - und Konfliktphase im Herbst 1977 bestätigt, daß die fortdauernde Verletzung von Menschenrechten das gegenseitige Vertrauen der Staaten erheblich stört, ja, daß sie den so viel berufenen Entspannungsprozeß, wenn er mehr sein soll als eine Leerformel und ein Nebelwerfer, zur großen Lebenslüge unseres Zeitalters macht.Doch ist der Kampf gegen die Verletzung von Menschenrechten nicht nur Angelegenheit von Regierungen und Diplomaten. Damit soll der Dienst, den unsere Delegation in Belgrad geleistet hat, keineswegs herabgesetzt werden. Im Gegenteil: Sie hat, wie wir — eine CDU/CSU-Delegation — uns im November 1977 überzeugen konnten, im Rahmen der ihr gegebenen Weisungen ihr Bestes getan. Waswir bei voller Würdigung dessen, was unsere Delegation in Belgrad offen und unmißverständlich vorgetragen hat, an Fragen und an Kritik anzumelden haben, richtet sich an die Regierung, die für die politischen Weisungen an die Delegation verantwortlich war. Doch übersieht auch diese Kritik keineswegs, daß die Bundesregierung ihrerseits im Rahmen der Politik des Westens auch wichtigen deutschen Interessen und Überzeugungen Ausdruck verliehen hat.Verlauf und Ergebnis des Belgrader Treffens bestätigen die Warnungen der CDU/CSU vor den tiefen Widersprüchen und Dissenzen in der Schlußakte von Helsinki und vor dem Entspannungsverbalismus. In Belgrad hat sich vor allem gezeigt, daß der Entspannungsbegriff von Ost und West nicht nur verschieden, sondern sogar gegensätzlich verstanden wird. Für den Westen bedeutet Entspannung: Verwirklichung der Menschenrechte; für die Sowjetunion bedeutet Entspannung: Verhinderung der Menschenrechte.Was heißt angesichts dieses grundlegenden Gegensatzes die Leerformel, es gebe zur Entspannung keine Alternative? So wie es zum Wetter keine Alternative gibt, so gibt es auch zur Entspannung keine Alternative; aber das ist doch eine Verschleierung der eigentlichen Frage, nämlich: Welches Wetter ist gemeint, welches Entspannungsverständnis ist gemeint? Je stärker die Schwierigkeiten in unserem Verhältnis zu den kommunistischen Staaten wieder werden, um so öfter wird die Nebelwerfersprache von „Entspannung" oder „Entspannungsprozeß" verwendet. Lesen Sie nach, wie oft dieser Begriff unklar verwendet wird, z. B. in der deutsch-sowjetischen Deklaration vom 6. Mai 1978, im deutsch-sowjetischen Kommuniqué vom gleichen Tage, in den Reden beim Breschnew-Besuch, aber auch in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU einschließlich der heutigen Ergänzung durch den Herrn Außenminister, die wir hier erörtern. Es geht hier nicht um Semantik, sondern es geht um die Aufdeckung eines entscheidenden Sachverhalts, dem man klar ins Auge sehen muß, wenn man verantwortlich deutsche Außenpolitik betreiben will.Im übrigen hat auch Präsident Carter in seiner Rede in Annapolis vom 7. Juni 1978 darauf hingewiesen, daß die Sowjetunion einen völlig anderen Entspannungsbegriff hat als der Westen. Carter sagte wörtlich:Für die Sowjetunion bedeutet Entspannung ein fortlaufender aggressiver Kampf um politische Vorteile und politischen Einfluß auf verschiedenen Wegen. Die Sowjetunion betrachtet militärische Macht und Militärhilfe als die besten Mittel zur Expansion ihres Einflusses im Ausland.Offensichtlich verschaffen Gebiete der Instabilität in der Welt ein lockendes Ziel für dieses Bestreben.War es nicht die Opposition, die bereits in der Debatte vor Helsinki auf die Unteilbarkeit der Entspannung hinwies, z. B. auf die Unvereinbarkeit des
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Dr. Mertes
expansiven sowjetischen Verhaltens in Angola mit den feierlichen Entspannungsbekundungen in Helsinki? Es ist geradezu ein Zeichen der babylonischen Sprachverwirrung in unserer Zeit, daß es über den Inhalt entscheidender Begriffe im Ost-West-Verhältnis heute immer wieder gleiche Worte für gegensätzliche Inhalte gibt:
ob es nun „Entspannung" ist oder „Normalisierung" oder „Selbstbestimmung" oder „Unverletzlichkeit der Grenzen" oder „Parität" oder „Sicherheit" oder „Frieden", wir werden nicht nachlassen, auf die irreführende Unredlichkeit dieser Nebelsprache hinzuweisen.
Es ist eine Perversion der internationalen Moral, daß die Mehrheit der Vereinten Nationen von Menschenrecht und Selbstbestimmung nur dann spricht, wenn es um den Kampf gegen westliche Kolonialherrschaft, gegen südafrikanischen Rassismus, gegen das Militärregime in Chile geht, nicht aber wenn es um die Verurteilung der Verletzung des Menschenrechts und des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch die Sowjetunion und die von ihr aufgezwungenen Systeme geht.In der Phase zwischen dem Belgrader Treffen und der nächsten Konferenz in Madrid im Herbst 1980 gilt deshalb mehr denn je: Das Gewissen der Weltöffentlichkeit muß dafür geschärft werden, daß die Menschenrechte des einzelnen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker wo auch immer unteilbar sind.
Vor allem diejenigen Menschen und Völker, die sich der Menschenrechte und der Freiheit erfreuen, dürfen sich den Hilferufen der Unterdrückten nirgendwo verschließen.Für uns Deutsche diesseits der Mauer und des Eisernen Vorhangs gilt dies in besonderer Weise. Deutschland ist in Europa das einzige zwischen Ost und West gewaltsam geteilte Land. 17 Millionen Deutschen in der DDR und in Ost-Berlin werden elementare Menschenrechte versagt. Die unmenschlichste Grenze der Erde trennt die Menschen eines Volkes, trennt auch Tausende von Familien. Noch immer müssen Menschen nur deshalb sterben oder schwere Verletzungen erleiden, weil sie vom Menschenrecht der Freizügigkeit Gebrauch machen. Dabei ist die Freizügigkeit eines der ältesten verbrieften Menschenrechte der deutschen Geschichte.
Mit der Verweigerung der Freizügigkeit stellt sich die DDR nicht nur außerhalb des geltenden Völker-und Menschenrechts, sie stellt sich auch außerhalb der Geschichte der deutschen und der europäischen Rechtskultur.
Die Geschichte der europäischen Völker aber zeigt, daß sich Freiheit und Recht nicht durch automatische Prozesse einen Weg bahnen, sondern durch beharrliches Ringen nicht resignierender Männer und Frauen — gegen Kräfte der Reaktion und des Opportunismus, welcher Farbe auch immer —, durch ein Ringen, das seine Kraft schöpft aus der ungebrochenen Zuversicht in den endlichen Sieg des Rechtes über das Unrecht, der Würde des Menschen über die Mißachtung des Menschen.Denn neben den vordergründigen Realitäten der Macht, die der Verwirklichung der Menschenrechte entgegenstehen, gibt es eine andere, tiefere, geschichtsmächtigere Realität. Sie gehört zu jenen Kräften unserer Geschichte, die, allen Widerständen zum Trotz, zuletzt stets den Sieg davontrugen: der ungebrochene Wille zu Freiheit und Recht.Die sowjetischen Führer, die offenkundig ein besonders starkes Gespür für langfristige geistige Willensbewegungen haben und ein starkes nationales Traditionsbewußtsein pflegen, sollten und — so hoffen wir immer noch — wer den eines Tages erkennen, daß die Verweigerung der Menschenrechte in Europa, in Deutschland auf die Dauer naturwidrig ist und Spannung erzeugen muß, nicht aber Entspannung und Frieden erzeugen kann. Kann das auf die Dauer im sowjetischen Staatsinteresse liegen? Muß nicht eines Tages auch diese Erbschaft Stalins liquidiert werden?Daß die Sowjetunion flexibel sein kann, erwies sich übrigens erstaunlich bald nach dem Belgrader Treffen. Anfang Mai fand in Wien die dritte interparlamentarische Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa statt; Leiter der Delegation der Bundesrepublik Deutschland war unser Kollege Ottfried Hennig. Es ist bemerkenswert, daß die Vertreter der Sowjetunion gerade nach den sehr klaren Ausgangspunkten des deutschen Delegationsleiters ein konstruktives Gespräch mit der deutschen Delegation suchten. Am Ergebnis dieser Konferenz ist insbesondere bemerkenswert, daß — im Gegensatz zu Belgrad — alle Ostblockstaaten Formulierungen zustimmten, die die westlichen und die neutralen Regierungen in Belgrad nicht erreichen konnten. Warum sich die Sowjetunion in Wien — zumindest verbal — großzügiger als in Belgrad verhalten hat, kann man nur vermuten; darüber sollten wir einmal im Auswärtigen Ausschuß sprechen.Bei allem Engagement für Gerechtigkeit und Freiheit in aller Welt wird sich die CDU/CSU-Fraktion dagegen wenden, wenn der Einsatz für die Verwirklichung der Menschenrechte in unserem eigenen Vaterland als eine Belastung der Völker mit „querelles allemandes" mit „deutschen Zänkereien" — das war der Ausdruck Richelieus für die Zänkereien engstirniger deutscher Duodezfürsten — abqualifiziert wird.
Wer anders als die freien Deutschen soll sich vor der Weltöffentlichkeit, in den Vereinten Nationen für Selbstbestimmung und Freiheit der Deutschen, die sie nicht haben, einsetzen?
Selbst wenn wir uns, durch Wohlstand und Zeitablauf in unserem politischen Willen müde geworden, von der Last der Verantwortung für die Menschenrechte in ganz Deutschland lossagen wollten:
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Dr. Mertes
Wer gäbe uns das Recht zu solchem Schweigen, zu solcher Resignation?
Meine Damen und Herren, das Recht war und bleibt die Waffe des Schwachen, solange er selbst nicht an der Macht des Rechtes zweifelt. Jede Variante des Gedankens „Macht geht vor Recht" ist verhängnisvoll. Weder durfte deutsche Macht jemals das Recht anderer verachten, noch darf deutsche Ohnmacht eignenes Recht vor der Macht anderer verleugnen oder gar beugen.
Nach den Erfahrungen mit zwei totalitären Systemen auf deutschem Boden, die die Menschenrechte mit Füßen traten — im anderen Teil Deutschlands ist das nicht Vergangenheit, sondern akuteste Gegenwart —, gibt es eine klare Definition unseres nationalen Interesses: die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes in ganz Deutschland, Menschenrecht für alle Deutschen — nicht mehr, aber auch nicht weniger.Die CDU/CSU wird in den zwei Jahren bis zum nächsten Überprüfungstreffen in Madrid weiter ,dafür eintreten, daß der deutschen und westlichen Öffentlichkeit klar wird, in welchem Maße die Menschenrechte in der DDR und in Osteuropa unterdrückt werden. Zu diesem Zweck werden wir unser Weißbuch fortschreiben. Dieses Weißbuch ist im übrigen ein Bestseller geworden. Nach der Verteilung von 60 000 Exemplaren der deutschen Ausgabe können wir die ständig einlaufenden Anforderungen — und zwar keineswegs nur von CDU-und CSU-Stellen — kaum noch befriedigen. Die Verteilung ,der ersten Auflage der englischen Ausgabe ist angelaufen, vor allem in den USA, wo uns der Kongreß kollegiale Hilfestellung leistet.
Nach zwei kleinmütigen Entscheidungen der Mehrheit dieses Hauses — nämlich nach Ihrer Weigerung, mit uns eine gemeinsame öffentliche Dokumentation zur menschenrechtlichen Lage in Deutschland zu erarbeiteten, und dann nach Ihrer noch kleinkarierteren Weigerung, dem Weißbuch der CDU/CSU den Charakter einer Bundestagsdrucksache zu geben — hat es unsere Fraktion unternommen, die außenpolitischen Rechte des Parlamentes selbständig wahrzunehmen.
Wir haben stets anerkannt, daß eine Regierung in schwierigen Fragen des Ost-West-Dialogs zuzeiten den Weg vertraulicher Verhandlungen vorzieht, um die Chance eines guten Ergebnisses zu erhöhen. Wenn sie in diesen Verhandlungen beharrlich bleibt und dabei tatsächlich kein Blatt vor den Mund nimmt, so kann das zuzeiten sogar besser sein als ein unberechenbares Auf und Ab sensationeller Attacken und Rückzüge,
deren Ergebnis gleich null oder minus ist.
Aber eine deutsche, Bundesregierung, die lauthals Menschenrechtsverletzungen in fremden Kontinenten geißelt und in UNO-Resolutionen mit verurteilt, steht wenig glaubwürdig da, wenn sie es z. B. nicht wagt, eklatante Verletzungen von Menschenrechten in 'Deutschland von Amts wegen gegenüber der Öffentlichkeit öffentlich, auch in der UNO, beim Namen zu nennen.
Vollends unbegreiflich aber ist es, ,daß die Koalition nicht sehen will, wie sehr die Gewaltenteilung in unserer Verfassungsordnung höchstmögliche Arbeitsteilung in ,der Außenpolitik bedeuten kann. Wenn Sie, die Regierungsfraktionen der SPD und FDP, von Ihren außenpolitischen Rechten als Parlamentarier nur einen absolut regierungskonformen Gebrauch machen wollen, dann legen Sie der CDU/ CSU gefälligst keine Steine in den Weg, wenn die Opposition in Wahrnehmung der außenpolitischen Rechte des Parlamentes die Interessen unseres Landes und ,der Menschen ebenso maßvoll wie laut und deutlich artikuliert!
Genau das haben Sie bei Ihrem fintenreichen, aber kläglichen Verhalten gegenüber unserem Weißbuch getan, und zwar mit Motivunterstellungen, die beleidigend waren.
Ich denke vor allem an die damalige, wirklich böswillige Rede ,des SPD-Abgeordneten Schmude.
Demgegenüber wird es das Hohe Haus sicherlich als bemerkenswert würdigen, daß der Vorsitzende der gemeinsamen KSZE-Kommission des US-Kongresses und der US-Regierung, der demokratische Abgeordnete Dante Fascell, der gleichzeitig auch stellvertretender Vorsitzender der amerikanischen Delegation in Belgrad war, uns mitgeteilt hat, das Weißbuch der CDU/CSU-Fraktion sei im Hinblick auf seine Wichtigkeit für die amerikanische Meinungsbildung zum Thema Menschenrechte in der Deutschlandfrage zum amtlichen Bestandteil der Dokumentation der von ihm geleiteten KSZE-Kommission geworden.
Dante Fascell beglückwünschte unsere Fraktion zu ihrem „außerordentlich hilfreichen Beitrag" — das ist ein Zitat —; es sei für den Erfolg der westlichen Bemühungen um die Verwirklichung ,der Menschenrechte wichtig, ,daß die freien Parlamente ihre Stimme laut und deutlich erheben; das könne den Bemühungen der Regierungen nur nützlich sein.Außerdem haben der Abgeordnete Kemp sowie die Senatoren Curtis und Helms, also angesehene amerikanische Parlamentarier, Teile unseres Weißbuches im amtlichen Kongreß-Protokoll veröffentlicht. Der Abgeordnete Kemp ließ den Auszug aus dem Kongreß-Protokoll mit seiner Einführungsrede und dem gesamten Kapitel des Weißbuches über die DDR in den USA in 20 000 Exemplaren verbreiten. Der kanadische Senator Ynzyk bewertete das Weiß-
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Dr. Mertes
buch in seinem Bericht als Berichterstatter eines Unterausschusses der Nordatlantischen Versammlung als einen der besten Berichte, die zur KSZEÜberprüfungskonferenz in Belgrad vorgelegt wurden.Der sachgerechte Dialog in diesem Hause wird auch dadurch erschwert, daß die Koalitionsfraktionen in der Diskussion über das Thema KSZE und Entspannung immer wieder zwei Dinge miteinander verwechseln, die zwar sehr miteinander zu tun haben, die aber inhaltlich doch etwas Verschiedenes sind. Ich meine hier den Unterschied zwischen menschlichen Erleichterungen und Menschenrechten. Auch die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage wird diesem Unterschied nicht gerecht. Die Einleitung der Antwort erwähnt wohl deshalb die Menschenrechte kein einziges Mal, weil die Autoren diese grundsätzlichen Rechte mit den praktischen Hilfen für den einzelnen Menschen gleichsetzen. Sie spricht etwa von den „möglichst konkreten Verbesserungen für die betroffenen Menschen", vom „Gebiet der menschlichen Erleichterungen". Niemand in diesem Hause wird ,die Bedeutung menschlicher Erleichterungen geringachten.
Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben, wenn sie Regierungsverantwortung trugen, Herr Kollege Wehner, diesen Dienst am einzelnen Menschen, an der einzelnen Familie stets als eine vornehme Pflicht betrachtet und entsprechend gehandelt.Lesen Sie 'die Seite 11 der Antwort der Bundesregierung, Herr Kollege Wehner. Allein sie ist ein beredtes Zeugnis dafür, wie erfolgreich sich die CDU/CSU-geführten Regierungen von 1956 bis 1969 um Familienzusammenführung und Repatriierung bemüht haben. In diesen 14 Jahren, also längst vor der Erfüllung der sowjetischen Zweistaatenforderung durch die Regierung Brandt, längst vor den Verträgen von Moskau, Warschau und Prag, längst vor den großen rechtlichen, politischen und finanziellen Leistungen der SPD/FDP-Koalition an den Osten, erreichten die Regierungen Adenauer, Erhard und Kiesinger z. B. die Ausreise von 362 284 Deutschen aus dem polnischen Machtbereich; das war ein Monatsdurchschnitt von 2 157 Menschen. Wenn ich demgegenüber erwähne, daß in den Jahren von 1970 bis 1977 aus dem gleichen Bereich nur 130 342 Deutsche ausreisen konnten — das sind im Monatsdurchschnitt 1 358 Personen —, so sollte allein dieser Vergleich den törichten und unverantwortlichen Versuch ein für allemal beenden, der 'den Eindruck erwecken will, als ob das moralische und praktische Engagement für menschliche Erleichterungen unter CDU und CSU geringer wäre als unter SPD und FDP.
So wie in diesem Hause keine Fraktion für sich in Anspruch nehmen darf, d i e soziale oder d i e nationale oder d i e Friedenspartei zu sein, so sollten Sie auch endlich Schluß damit machen, der CDU/ CSU ein Weniger an moralischer Motivation für menschliche Erleichterungen zu unterstellen.Willy Brandts Pose im Jahre 1972, er repräsentiere schlechterdings ,den Frieden, die soziale Gerechtigkeit, die menschliche Gesinnung, kurzum: das anständige Deutschland,
gehört zu den beleidigendsten Vorgängen in der Geschichte unseres Landes.
Worüber aber in diesem Hause gestritten werden darf, ja, muß, das sind die politischen, die rechtlichen, die finanziellen Preise, die für die Gewährung von eigentlich selbstverständlichen menschlichen Verpflichtungen an die betroffenen unmenschlichen Regime gezahlt werden dürfen. Genauso wie wir zum Sachstreit mit Ihnen 'darüber bereit sind, ob soziale Absichten tatsächlich zu sozialen Ergebnissen führen oder ob sie wegen ihrer Unvereinbarkeit mit den wirtschaftlichen Sachzwängen zu sozialer Ratlosigkeit führen, oder darüber, ob bestimmte nationale Motive identisch sind mit den tatsächlichen, den objektiven Interessen unserer Nation — auf all diesen Gebieten hat in diesem Hause niemand einen Anspruch auf die alleinseligmachende politische Wahrheit und Weisheit. Deshalb muß es 'das redliche demokratische Ringen um den richtigen Weg geben. Gerade 'deshalb muß hier offen und sachgerecht und mit der politischen Leidenschaft derer gerungen werden, ,die nach bestem Wissen und Gewissen den eigenen Weg im Dienst des Menschen, im Dienst unseres Volkes, im Dienst des Friedens für den richtigeren halten.Ich sagte: Menschliche Erleichterungen, von denen in der Antwort der Bundesregierung so viel die Rede ist, sind etwas anderes als Menschenrechte,
genauso, wie die sozialen Erleichterungen, d. h. die Gratifikationen des souveränen Unternehmers des 19. Jahrhunderts — so erfreulich diese Erleichterungen für den betroffenen Arbeiter und seine Familie waren —, etwas anderes sind als die sozialen Rechte.
Zur Durchsetzung dieser Rechte führte ein zähes, zielstrebiges, siegesgewisses, gewerkschaftliches und politisches Ringen, das sich nicht durch die ermessensfreie, also letztlich willkürliche Gewährung sozialer Erleichterungen einschläfern oder schwächen ließ.
So erfreulich menschliche Erleichterungen für unsere betroffenen deutschen Landsleute und ihre Familien sind, sie sind ihrem Wesen nach etwas anderes als die Menschenrechte. Zur Durchsetzung auch dieser Rechte — jedenfalls im Bereich europäischer Geistestradition — kann nur ein zähes, zielstrebiges, gewaltfreies, des geschichtlichen Sieges gewisses politisches Ringen mit den kurzsichtigen Kräften führen, die den Begriff der staatlichen Souveränität wie den
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reaktionärsten Herr-im-Hause-Standpunkt des 19. Jahrhunderts handhaben.
Nun noch ein Wort zum Zusammenhang zwischen Menschenrechtsfrage und Deutschlandfrage. Sie sind unlösbar miteinander verbunden.
Sosehr es zutrifft, daß die Deutschlandfrage ein Thema des Staats- und Völkerrechts, ein Problem der Macht und ihrer Willkür ist, sosehr müssen wir erkennen und daran festhalten, daß sie eine Frage der Mißachtung oder Verwirklichung der Menschenrechte ist. Der Bundesregierung ist durchaus zuzustimmen, wenn sie in ihrer Antwort sagt, die besondere Lage in Deutschland sei durch die Teilung unseres Landes und den Fortbestand der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes, also durch den Anspruch Deutschlands auf einen Friedensvertrag gekennzeichnet. Richtig ist deshalb auch, daß es nicht in unserem Interesse läge, aus der KSZE und ihren Folgetreffen eine Konferenz über Deutschland oder gar eine Konferenz zur Herbeiführung einer Art Friedensvertrag für Deutschland zu machen. Wer hat denn in den Jahren vor Helsinki mehr davor gewarnt als die CDU/CSU?Richtig ist auch die Feststellung der Bundesregierung, es müsse unser Interesse sein, daß die Lage der Menschen in Deutschland unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Verbesserung der Menschenrechte in Europa betrachtet wird und damit größtmögliche Unterstützung durch die Teilnehmerstaaten der KSZE erlangt. Wer hat in den Jahren des Ringens um die West- und Ostverträge mehr als die CDU/CSU betont, die Verwirklichung von Freiheit und Menschenrecht sei die Substanz der Deutschlandfrage?Falsch aber ist es, wenn die Antwort der Bundesregierung dann sagt — ich zitiere —, es würde „eine Änderung der westlichen KSZE-Konzeption bedeuten, wenn die deutsche Situation unter dem Gesichtspunkt der deutschen Teilung im KSZE-Prozeß eine Sonderbehandlung erführe, mit allen darin liegenden Risiken". Abgesehen davon, daß Staatssekretär van Well sowohl zu Beginn wie auch am Ende des Belgrader Treffens die Bedeutung des Sonderfalles Deutschland selbst hervorgehoben und gegen den DDR-Vertreter verteidigt hat, liegt das Risiko nicht da, wo es die Regierungsantwort sieht.Bis 1969 war es gemeinsame Auffassung aller Fraktionen dieses Hauses, es sei Aufgabe des freien Teils Deutschlands in der Gemeinschaft der freien Völker, die internationale Öffentlichkeit immer wieder auf die verheerenden menschlichen Folgen der Teilung Deutschlands hinzuweisen.Es wäre gut, wenn bei der Vorbereitung auf Madrid, Herr Bundesaußenminister, die Bundesregierung diese Tradition von vor 1969 wieder aufgreifen würde.
Wir leugnen nicht, daß das, worüber der Außen-minister heute morgen in dieser Hinsicht berichtethat, wichtig ist. Aber die menschenrechtliche Substanz der Deutschlandfrage muß wieder erheblich intensiver in aller Welt dargestellt werden.
Es ist durchaus anzuerkennen, daß die deutsche Delegation in Belgrad die menschenrechtswidrige Blockierung der Freizügigkeit der Bewohner der DDR in ihrem eigenen Lande ansprach. Aber es wäre angebracht gewesen, Mauer, Sperranlagen, Schußautomaten und Schießbefehl, die die innerdeutsche Grenze zur unmenschlichsten Grenze der Welt machen und die Menschen eines Volkes und Tausende von Familien gewaltsam trennen, ebenso deutlich zu nennen, wie es im Zweijahresbericht der Kommission des amerikanischen Kongresses und der amerikanischen Regierung zur Überwachung der Durchführung der KSZE-Schlußakte geschehen ist.
Gerade an Hand dieser permanenten Menschenrechtsverletzungen können und müssen wir der Weltöffentlichkeit die ungelöste Deutschlandfrage wieder ins Bewußtsein zurückrufen. Gerade dadurch können wir verhindern, daß sich der von Moskau und Ost-Berlin verbreitete Eindruck festsetzt, als sei die deutsche Frage durch die Ostverträge und durch die KSZE endgültig im Sinne der Teilung Deutschlands gelöst.Mit dieser Betonung des menschenrechtlichen Aspekts der deutschen Frage werden wir auch mehr Verständnis bei unseren Nachbarn für eine aktive Deutschlandpolitik finden, die Schritt für Schritt wieder die ungelöste deutsche Frage als eine der Hauptursachen der Spannungen in Europa in die internationale Entspannungspolitik einführt.
Nicht wer auf eine friedliche Lösung der deutschen Frage drängt, gefährdet den Frieden, wie die kommunistische Propaganda gegen den sogenannten deutschen Revisionismus der Weltöffentlichkeit leider mit wachsendem Erfolg weiszumachen versucht, sondern wer diese Lösung entgegen dem Recht und der elementaren geistigen Kraft der Völker mit Gewalt auf Dauer zu verhindern sucht.Schließlich müssen wir durch unser Eintreten für die Menschenrechte aller Deutschen auch im Innern sicherstellen, daß das nationale und freiheitliche Bewußtsein in Deutschland wie heute auch in Zukunft eine Einheit bleibt und daß das in unseren Tagen — auch in der jungen Generation — wieder erwachende deutsche Nationalgefühl nie wieder in die Hände eines braunen oder roten Totalitarismus fällt.
Daran, daß sich das deutsche Nationalgefühl auch in Zukunft mit den westlichen Wertvorstellungen von Menschenrecht und Freiheit identifiziert, muß auch die westliche Welt ein Interesse haben. Die prowestliche Grundstimmung des ganzen deutschen Volkes darf nicht durch den Eindruck frustriert werden, als ob der Westen die menschenrechtlich moralische Substanz der Deutschlandfrage nicht erkenne und nicht vertrete. Das deutsche Volk hat in allen seinen Teilen auf die Androhung und die Anwen-
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dung von Gewalt zur Durchsetzung seiner politischen Ziele verzichtet.Nicht nur aus rechtlicher Verpflichtung, sondern auch aus politischer Klugheit müssen wir alle, müssen auch unsere Verbündeten, aber dafür eintreten, daß dieser Gewaltverzicht nicht zu einem Verzicht auf die Geltendmachung unaufgebbarer politischmoralischer Grundvorstellungen und Ziele ausgedehnt wird.
Die Bundesregierung sollte daher immer wieder daran erinnern, daß alle Menschenrechtsoffensiven des Westens in Deutschland erst dann volle Glaubwürdigkeit erlangen, wenn sie die menschenrechtliche Substanz der Deutschlandfrage aktiv mit einbeziehen.Der letzte sozialdemokratische Oppositionsführer in diesem Hause, Fritz Erler, hat in einer seiner letzten außenpolitischen Reden das bis heute gültige Wort gesagt: „Es kommt auf unseren Einfluß an, um Entspannung und Abrüstung durch deutsche Gedanken so zu fördern, daß mit ihrer Hilfe die deutsche Frage einen Schritt vorangebracht wird und sich nicht etwa durch ihren Fortgang die Spaltung unseres Landes verfestigt." Am 17. Mai 1966 stimmte er dem Satz der CDU/CSU-Regierung nachdrücklich zu, der lautete: „Die Wiedervereinigung Deutschlands wird nicht zuletzt von unserer Fähigkeit abhängen, die uns freundschaftlich verbundenen und uns vorerst indifferent begegnenden gegnerischen Mächte an dieser Wiedervereinigung zu interessieren."In diesem Sinne äußerte sich auch der Herr Bundespräsident in seiner denkwürdigen Rede am 17. Juni 1978.Wie meilenweit entfernt ist eine solche Aussage von der These Egon Bahrs, Friede gehe vor Nation? Als könne es einen wirklichen, dauerhaften Frieden geben, ohne die Verwirklichung menschenrechtlicher Forderungen des deutschen Volkes. Als hätte Unterdrückung der Menschenrechte etwas mit Frieden zu tun!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Schluß noch ein Wort zu der immer wieder zu hörenden These, wir hätten, weil wir zur KSZE-Schlußakte nein gesagt haben, ein geringeres Recht, uns darauf zu berufen. Ich kann dazu, Herr Präsident, jetzt nur noch folgendes sagen: Liest man die außenpolitischen Reden der SPD-Opposition der 60er Jahre nach — das ist keine graue Vorzeit, sondern die Geschichte unserer Generation —, so kommt man zu dem Ergebnis, die SPD-Opposition habe sich als Gralshüter der deutschen Interessen gefühlt und sich auch so benommen — auch und gerade in bezug auf die Verträge, zu denen die SPD nein gesagt hatte.
Die SPD der 60er Jahre — wäre sie dem nur treu geblieben! —, maß die damaligen Regierungen in der Deutschlandpolitik an den von der CDU/CSU unter Adenauer ausgehandelten Verträgen. Aus ihrer parlamentarischen Funktion heraus konnte sie dieses genauso tun, wie es die CDU/CSU heute tut.Wenn die SPD/FDP-Koalition Verträge durchgesetzt hat, deren Ratifizierung sie gegenüber den Vertragspartnern, gegenüber dem Parlament und gegenüber dem deutschen Volk mit verbindlichen Interpretationstexten verknüpft hat, als deren Ergebnis sie eine zwar langsame, aber kontinuierliche und unumkehrbare Normalisierung, Humanisierung, Liberalisierung und Entspannung und Rüstungsminderung angekündigt hat, so sind wir, die CDU/CSU, Herr Kollege Wehner, der Sie uns das vorwerfen, tatsächlich die Gralshüter der Verträge und auch der Schlußakte von Helsinki. Von mehrdeutigen Texten also, die gegen unsere Argumente, gegen unsere Warnungen mit dem Osten vereinbart wurden, die aber nun — in richtiger Auslegung und Anwendung — wichtige Instrumente aller verantwortlichen Kräfte der deutschen Politik sind.Verlassen Sie sich darauf: Wir werden diese Gralshüterfunktion auch weiterhin wahrnehmen, wie es die demokratische und die nationale Pflicht der Opposition gebietet.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Corterier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede des Kollegen Mertes hat sich vor allem dadurch ausgezeichnet, daß er hier eine ganze Reihe von Thesen und Argumenten vorgetragen hat, die wir schon so oft von ihm gehört haben,
daß wir sie inzwischen eigentlich alle auswendig kennen. Ich denke z. B. an das, was er über die Dissense in der Schußakte gesagt, was er über den Entspannungsbegriff bis hin zur Entspannung und dem Wetter vorgetragen hat. Das haben wir zu oft gehört, das haben wir in diesem Hause auch zu oft widerlegt,
als daß es sich lohnte, darauf jetzt im einzelnen einzugehen.
Ich will deshalb, bevor ich zu dem komme, was zu sagen ich mir hier vorgenommen hatte, nur zu ein paar wenigen Punkten, die zwar neu waren, die aber widerlegt werden können, Stellung nehmen.Zunächst einmal zu dem sehr merkwürdigen Zahlenspiel, das Sie hier hinsichtlich der Ausreisen vorgenommen haben, Herr Mertes: Wir sind in der glücklichen Lage, daß wir in der Drucksache betreffend die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage am Schluß diese Statistik haben. In dem Zusammenhang darf ich Sie an folgendes erinnern: Sie haben hier die globalen Zahlen genom-
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Dr. Corteriermen und vergessen, zu erwähnen, daß es in den 50er Jahren zwar hohe Zahlen gegeben hat, daß diese Zahlen aber in den 60er Jahren radikal nach unten gegangen sind,
zu der Zeit, als Sie hier noch die Regierungsverantwortung hatten.
Ich darf einmal daran erinnern — ich nehme als Beispiel die Sowjetunion —, wo wir als sozialliberale Regierung im Jahre 1969 angefangen haben. Damals waren es nach dieser Statistik ganze 316 Ausreisen. Das dürfen wir doch nicht vergessen! Im Jahre 1977 waren es 9 274 Ausreisen. Das muß dem, was Sie hier zu den Zahlen gesagt haben, entgegengehalten werden.
— Nun, ich glaube, diese Statistik können Sie nicht ernsthaft anzweifeln.
Falls es doch Zweifel geben sollte, werden Sie im weiteren Verlauf der Debatte sicher Gelegenheit haben, das darzulegen.Um hier jeder Legendenbildung rechtzeitig vorzubeugen, noch ein Wort zu Ihrer Dokumentation. Da sie inzwischen ein Bestseller geworden sein soll und sehr voluminös ist, werde ich mir gestatten, nachher noch in einem anderen Zusammenhang darauf zurückzukommen.
Aber ich möchte daran erinnern, daß diese Dokumentation im klaren Widerspruch zur Geschäftsordnung dieses Hauses gestanden hat,
in der es in § 105 ganz klar heißt, daß 'Begründungen zu Großen Anfragen kurz zu sein haben. Das kann man von einem solchen Paket nun einmal nicht behaupten. Deswegen hat es klare Beschlüsse des Geschäftsordnungsausschusses, des Ältestenrates und dann auch des Plenums gegeben.
Sie sollten also nicht versuchen, hier nachträglich Legenden in die Welt zu setzen.
Schließlich möchte ich vorweg noch eine Bemerkung zu dem Gegensatz zwischen Menschenrechten und menschlichen Erleichterungen machen, den Sie hier leider zu konstruieren versucht haben.
Das ist eine Abwertung der menschlichen Erleichterungen;
das muß ich energisch zurückweisen. Denn diese menschlichen Erleichterungen haben in den letzten Jahren für Hunderttausende außerordentlich viel bedeutet.
Nun ein Wort zur Opposition und der KSZE. Zu diesem Thema haben Sie hier heute ja ziemlich viel ausgeführt, und zwar hin bis zu der Bemerkung, daß Sie inzwischen zum Gralshüter der Schlußakte geworden seien. Das muß man einmal mit dem vergleichen, was damals von Ihrer Seite zur Schlußakte gesagt worden ist. Sie, Herr Marx, haben vom Supermarkt der Attrappen gesprochen.
Herr Strauß hat vom zweiten München gesprochen. Jetzt wollen Sie plötzlich Gralshüter dieser „schlimmen Dinge" sein, die damals passiert sind.
Im übrigen finde ich es interessant, Herr Marx, daß Sie gerade diesen Zwischenruf machen. Sie sagen, Ihre Bedenken, die Sie damals gegen Helsinki geltend gemacht hätten — —
— Soeben haben Sie es etwas kürzer gesagt. Ich halte mich lieber an die erste Formulierung. Ich darf sie wiederholen im übrigen haben Sie das auch schon anderswo gesagt —, Ihre Bedenken gegen Helsinki seien durch den Verlauf von Belgrad bestätigt worden. Das ist wenigstens eine einigermaßen klare Aussage. Bei Ihnen wissen wir also: Sie sind damals gegen die Schlußakte gewesen, und Sie sind heute noch dagegen,
und Sie halten von diesem ganzen Prozeß nichts. Das ist wenigstens eine klare Aussage.Dann gibt es die andere Position — das scheint mir eher die von Herrn Mertes und anderen zu sein —, die darauf hinausläuft, nun so viel auf diese Schlußakte daraufzupacken, wie sie überhaupt nur tragen kann. Aus unserer Sicht ist es eine Überfrachtung dieser Schlußakte, ist es der Versuch, den Prozeß, der durch die Schlußakte in Gang gekommen ist, zu überfrachten und damit zu stören, ich würde sagen: in der Konsequenz zu zerstören.
Das sind die gegensätzlichen Positionen, mit denen wir es hier bei der Opposition zu tun haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
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Bitte sehr.
Herr Kollege Corterier, ist Ihnen die nicht dementierte Pressemeldung bekannt, wonach der Abgeordnete Wehner bei seinem Besuch in Prag in diesem Jahr ausgerechnet vor Vertretern der kommunistischen Partei und Regierung in der Tschechoslowakei der Opposition im Deutschen Bundestag vorgeworfen habe, sie spiele sich als Gralshüter der Ostverträge und der Schlußakte von Helsinki auf, gegen die sie seinerzeit gestimmt habe, und ist Ihnen bekannt, daß er seinen Gesprächspartnern versichert habe, die deutsche Opposition müsse demgegenüber in ihre Schranken gewiesen werden? Ich möchte sagen, daß nach dieser Frage der Abgeordnete Wehner in seine Schranken gewiesen werden muß.
Ich habe nicht den Eindruck,
daß hier jemand auf der Regierungsseite in die Schranken gewiesen werden muß. Sondern Sie müssen sich an das halten, was wir hier beschlossen haben, und Sie dürfen nicht versuchen, das nachträglich durch Ihre Überfrachtungsmethode kaputtzumachen. Das ist mein Eindruck.
— Ich habe zugehört. Ich glaube, ich brauche das nicht nachzulesen.
Herr Abgeordneter, würden Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Marx zulassen?
Bitte.
Herr Kollege Corterier, sind Sie bereit, dem Gedankengang zu folgen, der sagt: Unsere skeptischen Anmerkungen und Einschränkungen der Bedeutung und Wirksamkeit vor allen Dingen des Korbs III, ob nämlich die sowjetische Seite bereit wäre, das, was sie in Helsinki unterschrieben hat, auch auszuführen, sind durch das Verhalten der sowjetischen Seite in Belgrad bestätigt worden?
Nein. Dem kann ich nicht zustimmen. Ich werde im weiteren Verlauf meiner Ausführungen durchaus positive Elemente bei der Erfüllung der Schlußakte auch auf seiten der Sowjetunion darlegen,
Sondern ich werde versuchen, im Verlauf meiner Ausführungen eine objektive Bilanz zu ziehen. Das ist übrigens auch der Unterschied zu Ihrer Dokumentation.
Herr Kollege Corterier, Sie wollen eine weitere Zwischenfrage zulassen.
Ich würde dann allerdings ganz gern zu meinen Ausführungen kommen.
Ich bedanke mich, daß Sie mir eine zweite Frage erlauben: Herr Kollege Corterier, verstehen Sie nicht diesen Vorgang, daß eine Opposition, die davon ausgeht, daß rechtmäßig zustande gekommene Verabredungen und Verträge für sie gültig sind, nachdem sie gültig geworden sind, auf ihrem Boden dafür sorgt, daß diese in vollem Inhalt eingehalten werden, und zwar genau in jenem Inhalt, den die Bundesregierung ihnen in ihren Auslassungen im Bundestag gegeben hat?
Ich verstehe sehr gut, daß wir alle miteinander Wert darauf legen müssen, daß der volle Inhalt der Schlußakte angewendet und durchgeführt wird. Nur eines verstehe ich nicht: daß Sie, Herr Marx, allen Ernstes mit Ihrer großen außenpolitischen Erfahrung erwarten, daß sich durch diese Schlußakte die Welt in Osteuropa von einem Tag auf den anderen ändern müßte
und daß die großen Ziele, die wir uns da gemeinsam vorgenommen haben, innerhalb zweier Jahre verwirklicht werden können. Ich empfehle Ihnen die Lektüre der Berichte zur KSZE, die Präsident Carter jedes halbe Jahr vorlegt, oder der Berichte, die im Kongreß zu diesem Thema erarbeitet worden sind.
Da steht immer wieder drin: Man kann nicht erwarten, daß sich auf der Basis der KSZE die Welt über Nacht ändern wird. Das ist ein langer Prozeß, der sich in vielen Etappen vollziehen muß und nur in vielen Etappen vollziehen kann.
Das ist der Unterschied zwischen uns in der Bewertung.Gerade weil wir uns soeben darüber auseinandergesetzt haben, wie Ihre Bewertung damals war und wie sie heute ist, möchte ich ein paar Dinge in Erinnerung rufen. Sie haben ja damals vor der Unterzeichnung der Schlußakte sehr viele Befürchtungen vorgebracht, die aus unserer Sicht durch die Schlußakte bereits gegenstandslos geworden sind. Die von
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Dr. Corterierden Sowjets jahrelang bekämpfte Einbeziehung der USA und Kanadas in die europäische Frage wurde in der Schlußakte festgeschrieben. Das damals beispielsweise von dem Kollegen Mertes befürchtete Verpflichtungs- und Bindungsverhältnis gegenüber der Sowjetunion ist nicht entstanden. Die Europäische Gemeinschaft sprach mit einer Stimme, und sie spricht bis heute mit einer Stimme.
Helsinki war damals entgegen Ihren Befürchtungen ein Erfolg. Und die Jahre seit Helsinki haben nicht, Herr Marx, alle Ihre Befürchtungen bestätigt, sondern sie haben weitere widerlegt. Ich denke nur an Ihre Behauptung, daß Helsinki dem Osten ein Instrument zur Einmischung in unsere Angelegenheiten in die Hand geben würde, daß Helsinki die Garantierung und Legitimierung des kommunistischen Besitzstands in Osteuropa sein würde. Das wurde in der Folgezeit rasch ins Gegenteil verkehrt. Durch Helsinki geriet der Kommunismus in Europa in die Defensive. Auf Helsinki berufen sich heute die Systemkritiker. Durch Helsinki ist die Legitimation der kommunistischen Herrschaft zwar nicht erschüttert worden — so leicht geht das natürlich nicht , aber doch sehr viel nachdrücklicher in Frage gestellt, als es westliche Erklärungen jemals vermocht hätten.Während damals die Opposition die Ergebnisse von Helsinki nicht nur negativ wertete, sondern in ihren positiven Konsequenzen auch als äußerst gering einschätzte, müssen wir jetzt erleben — ich muß wiederholen, was ich soeben schon angedeutet habe —, wie Sie die Wirkungsmöglichkeiten des KSZE-Dokuments plötzlich maßlos überschätzen. Was damals von Ihnen als leere Deklamation oder von Herrn Marx als „Supermarkt von Attrappen" abgetan wurde, stellen Sie heute als feste Verpflichtung dar, die umgehend einzulösen sei.Deshalb möchte ich namens meiner Fraktion vor einer Haltung warnen, die unter Berufung auf die KSZE-Schlußakte darauf hinausläuft, den Prozeß der Entspannung in Europa und die damit verbundene Ost-West-Zusammenarbeit durch Überfrachtung zu zerstören.
Diese Gefahr sehe ich allerdings in der Vorlage und im Hantieren mit Ihrem Weißbuch.Die Bundesregierung hat längst vor Veröffentlichung des sogenannten Weißbuchs zwar weniger spektakulär, aber dennoch in angemessener und nachdrücklicher Weise auf das Schicksal der deutschen Volkszugehörigen in den osteuropäischen Staaten aufmerksam gemacht. Die Informationen, die im Weißbuch enthalten sind, standen auch der Bundesregierung zur Verfügung. Hätte sie sich jedoch in derselben Weise wie die Autoren des Weißbuches als Richter und Ankläger aufgespielt, wären mehr Chancen für die Betroffenen verlorengegangen als gewonnen worden.
Unsere Erfolge in den letzten Jahren beweisen das, im Gegensatz zu dem, was ich vorhin über Ihre Politik und deren Konsequenzen in den sechziger Jahren sagen mußte.Über das Ergebnis der ersten KSZE-Folgetreffens in Belgrad kann man gewiß unterschiedlicher Meinung sein,
auch wenn es sehr wenige geben wird, die sich die Einschätzung des Herrn Mertes von einem „kläglichen Ergebnis" zu eigen machen würden.
Gerade da Sie sich sosehr auf die Amerikaner berufen haben
— ich werde darauf nachher noch einmal zurückkommen —, bitte ich Sie, diese Einschätzung mit Amerikanern zu diskutieren. Ich habe in Washington keine Stimme gehört, die wie Sie von einem kläglichen Ergebnis gesprochen hätte.
Ich meine, daß viele natürlich gern mehr gesehen hätten. Auch wir gehören dazu. Wir hätten natürlich etwa gewünscht, daß von den zahlreichen Vorschlägen zum Ausbau der Ost-West-Zusammenarbeit in der Zukunft, die in Belgrad von allen Seiten vorgelegt worden sind, sich im Schlußdokument mehr wiedergefunden hätte.Die Gründe dafür, daß in Belgrad nicht mehr möglich war, sind äußerst vielschichtig. Meiner Meinung nach ist hier deutlich geworden, wie eng europäische Entspannungspolitik unmittelbar mit dem globalen Entspannungsprozeß und mit dem jeweiligen Zustand des Verhältnisses der beiden Weltmächte USA und Sowjetunion zusammenhängt. Dieses Verhältnis schlägt auch in und auf Europa durch. Die Rede, die Präsident Carter am 7. Juni in Annapolis gehalten hat, drückt deutlich aus, wie schwierig das Verhältnis der beiden Weltmächte zueinander geworden ist. Eines ist in dieser bedeutsamen Rede aber auch klargeworden: Die beiden nuklearen Weltmächte haben eine besondere Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Friedens in der Welt, und keine der beiden Mächte kann diese Verantwortung abschütteln, wie auch niemand ihnen diese Verantwortung abnehmen kann.Aus der Rede Präsident Carters in Annapolis ist, wie ich glaube, etwas zu einseitig jener eine Satz zitiert worden, der als Warnung oder gar als Ultimatum interpretiert worden ist: Die Sowjetunion kann zwischen Konfrontation oder Kooperation wählen.
— Das habe ich auch nicht an Sie gerichtet. Nichtalles, was ich sage, gilt Ihnen, Herr Mertes. Ichsehe dies nicht so dramatisch. Viel mehr gibt es
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Dr. Corteriermeines Erachtens gar keine vernünftige Wahl zwischen Konfrontation und Kooperation. Die Weltmächte sind zur Zusammenarbeit verurteilt.Wer die ganze Rede Präsident Carters genau liest, spürt, daß es keine wirkliche Alternative zur Zusammenarbeit gibt. Es heißt dort z. B. — ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten —:Die Entspannung zwischen unseren beiden Ländern ist von zentraler Bedeutung für den Weltfrieden.An anderer Stelle heißt es:Wir müssen bereit sein, trotz der grundlegenden Fragen, die uns trennen, solche Wege der Zusammenarbeit zu suchen. Allein die Risiken eines Nuklearkrieges treiben uns in diese Richtung.Der Präsident hat auch ein deutliches Wort zu den Gefahren öffentlicher Stimmungen und Stirnmungsmache gesagt, indem er erklärte:Wir müssen uns vor übertriebenen Ausschlägen in der Stimmung der Öffentlichkeit hüten, vor der Euphorie, wenn es gut läuft, und der Verzweiflung, wenn es schlecht läuft, vor einem übertriebenen Gefühl der Verträglichkeit und einem offenen Ausdruck der Feindseligkeit.Wir sollten von hier, von uns aus alles tun, um die Zusammenarbeit zwischen den Weltmächten im Interesse des Friedens zu stützen. Stabile Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion sind eine zentrale Grundlage des Friedens in Europa.Anzeichen dafür, daß sich die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen wieder stärker der Zusammenarbeit, der Kooperation zuwenden werden, überwiegen meines Erachtens trotz der Ereignisse in Afrika. Es gibt eine durchaus positive Entwicklung bei den SALT-Verhandlungen, und die jüngste Entwicklung bei ,den Wiener MBFR-Gesprächen rechtfertigt die Annahme, daß auch hier Fortschritte erzielt werden können. Der NATO-Rat hat die zuletzt vorgelegten sowjetischen MBFR-Vorschläge als einen willkommenen und bedeutenden Schritt bezeichnet.Diese Entwicklung zeigt meines Erachtens, daß mit Geduld und Zähigkeit auch auf dem schwierigen Gebiet der Rüstungskontrolle Vereinbarungen möglich sind und die Entspannungspolitik auch im militärischen Bereich zu Ergebnissen führt. Nichts wäre in dieser Situation und in unserer Lage gefährlicher, als von Europa aus zusätzliche Erschwernisse zu schaffen oder gar Gegensätze zu schüren.Der Abschluß der Belgrader Konferenz fiel in eine Phase der Unsicherheit über die Zukunft der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, und diese Unsicherheit hat ihre Spuren hinterlassen; Unsicherheit auf Grund der sowjetischen Afrikapolitik, die dort mit den Mitteln militärischer Gewalt nach Einfluß strebt und deshalb zu Recht vom amerikanischen Präsidenten in seiner bereits zitierten Rede in Annapolis kritisiert wurde. Unsicherheit auch auf Grund einer gefährlichen Rüstungsdynamik, die vor allem im Bereich der Mittelstreckenraketen zu einem militärischen Ungleichgewicht geführt hat,das entweder mit politischen Mitteln und durch Vereinbarungen aufgehalten werden muß oder Anlaß zu einem neuen Wettrüsten geben wird.Die Entscheidung des amerikanischen Präsidenten, die Neutronenwaffe nicht zu bauen, muß zu ernsten Rüstungskontrollgesprächen genutzt werden, in die auch die sogenannten Grauzonenwaffen, also die nuklearen Waffensysteme, über die bisher noch nicht verhandelt wird, einbezogen werden müssen.
Die Sowjetunion muß in dieser Sache noch eine angemessene Antwort geben, und wir erwarten, daß dies auch geschieht.Unsicherheit ist aber auch durch innenpolitische Entwicklungen in Osteuropa und der Sowjetunion entstanden, weil nicht zuletzt durch die KSZE-Schlußakte Prozesse ausgelöst worden sind, die viele osteuropäische Regierungen als destabilisierend angesehen haben; deshalb haben sie verstärkt nach Abgrenzung gegenüber dem Westen gesucht. Die Menschenrechtsdebatte ist Teil dieser Problematik.In diesem Zusammenhang möchte ich gleich eine Bemerkung zum Thema Menschenrechte und KSZE anschließen. Wir haben allen Anlaß, mit dem empfindlichen Thema Menschenrechte äußerst vorsichtig umzugehen. Ich bin nicht sicher, ob der hohe Grad von Politisierung, der in den vergangenen zwei Jahren in dieser Frage eingetreten ist, der Sache, um die es geht, wirklich förderlich ist. Es besteht zur Zeit mehr und mehr die Gefahr, daß die Menschenrechte als ideologisches Kampfinstrument benutzt werden.
— Sie dürfen jedoch nicht allein unter dem Blickwinkel der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus gesehen werden. Die Menschenrechtsproblematik — das ist ja schon bei Ihnen, Herr Mertes, angeklungen, aber ich werde es gleich etwas anders sehen müssen als Sie — ist weltweit zu sehen.
Die Menschenrechte sind in ihrem Charakter universal. Wer dies anerkennt — ich nehme an, daß über diesen Grundsatz mit Herrn Mertes und anderen Übereinstimmung in diesem Hause besteht —, der muß gegen Menschenrechtsverletzungen in Südafrika und Chile ebenso aufzutreten bereit sein wie in Osteuropa. Eben diese Konsequenz, meine Damen und Herren von der Opposition, vermissen wir bei Ihnen.Wer sich in die ideologische Nachbarschaft zum Franco-Regime begab, sei es auch unter abendländischer Tünche, wer Salazar rechtfertigte, wer heute dem Regime in Chile einen Persilschein nach dem anderen ausstellt, mit dessen Autorität in Sachen Menschenrechte ist es leider nicht sehr gut bestellt.
Wer gar immer wieder Entschuldigungen und Rechtfertigungsgründe für die Weigerung der Rassistenim südlichen Teil Afrikas, ihren Platz zu räumen,
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Dr. Corteriervorbringt, der ist wohl nach innen und nach außen nicht der geeignetste Zeuge für unsere Forderung nach weltweiter Durchsetzung der Menschenrechte.
Wir bedauern auch das Fehlen von Augenmaß bei der Opposition, wenn es um die Formulierung einer überzeugenden Menschenrechtspolitik auf unserer Seite geht. Wenn etwa der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag für die Opposition erklärt — ich zitiere —:Die Menschenrechtsdiskussion kann, richtig genutzt, zu einem Vehikel der Politik des Westens werden,so können wir ihm darin nicht folgen, denn diese Äußerung macht den Umgang mit dem Thema Menschenrechte zu einer taktischen Frage.
Im KSZE-Zusammenhang kann dies nur auf eine innenpolitische Destabilisierung in Osteuropa abzielen und muß dazu führen, daß die Verständigungspolitik der sozialliberalen Koalition unterlaufen wird. Ein Problem für die osteuropäischen Staaten ist doch gerade, daß sich die Schlußakte als äußerst wirksames Instrument erwiesen hat, um Bürgerrechte verstärkt wahrzunehmen und öffentlich einzufordern. Die Verurteilung von Juri Orloff ist doch Ausdruck einer Schwäche der Systeme in Osteuropa und ein Beweis für die Wirkung der KSZE-Schlußakte.
— Dazu komme ich gleich, Herr Jäger. Ich brauche doch nicht Ihre Zwischenrufe, um das hier festzustellen. Was glauben Sie eigentlich?Wir halten es für unvereinbar mit der Schlußakte, wenn in einem KSZE-Teilnehmerstaat Menschen dafür verurteilt werden, daß sie die Durchführung der KSZE-Schlußakte fordern.
Sie müssen nur zuhören.Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf das Schicksal von Wladimir Slepak verweisen, weil er voraussichtlich in diesen Tagen in Moskau vor Gericht gestellt werden wird und weil ihm wegen seines Eintretens für die volle Durchführung der Schlußakte von Helsinki eine hohe Gefängnisstrafe droht. Besonders verbindet uns mit diesem jüdischen Bürgerrechtskämpfer, daß er sich nicht nur unermüdlich für die Ausreise seiner jüdischen Mitbürger eingesetzt hat, sondern daß er dies auch für die Deutschen in der Sowjetunion getan hat. Ich hoffe, daß die sowjetischen Behörden im Geiste der Schlußakte von Helsinki von einer Bestrafung Slepaks absehen und ihm und seiner Familie die nun schon seit beinahe zehn Jahren beantragte Ausreise zu ihrem Sohn nach Israel gewähren.Wir kennen leider sehr viele andere Fälle, in denen die Sowjetunion und andere osteuropäische Staaten auf Grund innerpolitischer Ängste und Befürchtungen zu abschreckenden Maßnahmen greifen. Die Frage an uns ist — und dies ist ebenso eine politische wie eine moralische Frage —, wie wir uns in diesen Einzelfällen und generell zu dem Probliem der Wahrung von Menschenrechten nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch anderswo in Ost, West, Nord und Süd verhalten. Alarm schreien ohne etwas zu tun, tun zu können, hilft wenig. Manchmal muß auch dies genug sein, leider, aber dies kann und darf nicht alles sein.Die Durchsetzung von mehr Rechten und mehr Freiheiten und mehr Demokratie im Osten ist nicht im Husarenritt zu erzwingen. Sie ist auch nicht als notariell beglaubigte Urkunde mit einem einmaligen großen Vertragspaket oder einer Schlußakte zu erreichen, sondern sie ist einmal des Ergebnis eines langen Prozesses, eingebettet in den Prozeß der weltweiten Entspannung, zum anderen aber auch das Ergebnis unzähliger mühsamer streng sachbezogener Bemühungen. Dabei sind Festigkeit und Geduld erforderlich.Ich meine, die Bundesregierung hat sich bisher in all diesen dornigen Fragen und Fällen richtig verhalten. Sie hat nicht überreagiert, aber sie hat gezeigt, daß sie die Bestimmungen der KSZE-Schlußakte ernst nimmt. Gerade unter deutschlandpolitischen Gesichtspunkten hat diese Politik zu erheblichen Erleichterungen geführt, die wir aufs Spiel setzen würden, wenn wir den Ratschlägen der Opposition folgten.Ich will zu diesem Thema Deutschlandpolitik und KSZE, weil Herr Mertes sich dazu ausführlich geäußert hat, noch ein paar Bemerkungen anschließen. So richtig es ist, mit der KSZE-Schlußakte auch deutschlandpolitische Ziele zu verfolgen, nämlich im Sinne von menschlichen Erleichterungen — wir tun dies ja, wo immer uns eine Möglichkeit gegeben ist —, so falsch wäre es, die KSZE als Forum zur Behandlung der deutschen Frage anzusehen, wie dies viele Oppositionspolitiker immer wieder tun. Deutschlandpolitisch kann dies nur nachteilig sein.
Die Bundesregierung hat aus unserer Sicht zu Recht seit Beginn der KSZE großen Wert darauf gelegt, diese Konferenz nicht zu einer deutschlandpolitischen Konferenz zu machen, und sie sollte diesen Kurs auch in Zukunft beibehalten.Seinerzeit befürchtete die Opposition, daß aus Helsinki eine Art Ersatzfriedensvertrag mit der Zementierung der Teilung Deutschlands würde. Wir haben damals zusammen mit dem Westen verhindert, daß Helsinki eine solche Konferenz über Deutschland wurde. Sie können jetzt aber andererseits nicht erwarten, daß nachträglich auf der Grundlage von Helsinki und Belgrad und den zukünftigen Folgetreffen eine Konferenz gemacht wird, in der wir unsere deutschlandpolitische Konzeption der anderen Seite aufoktroyieren könen. So richtig es ist, daß wir im Ost-West-Verhältnis spezielle deutsche Sonderinteressen verfolgen und auch mit allem Nachdruck weiterverfolgen werden, so richtig ist
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Dr. Corterierund bleibt es dennoch, daß wir diese Sonderinteressen nicht in einen Gegensatz zur Ost-West-Entspannung bringen dürfen und daß wir uns auch im westlichen Lager deswegen nicht in Selbstisolation begeben dürfen.
Herr Kollege, Sie gestatten eine Zwischenfrage?
Ja,
Herr Kollege Corterier, vermögen Sie nicht den Unterschied zu sehen, der darin besteht, eine besondere Behandlung der deutschen Frage auf dieser Konferenz abzulehnen, gleichwohl aber davon Gebrauch zu machen, daß die KSZE-Schlußakte ausdrücklich auch auf die bilaterale Durchsetzung ihrer Bestimmungen verweist und damit die Möglichkeit eröffnet, etwa mit der DDR alle Fragen des Korbes III in zweiseitigen Gesprächen und Verhandlungen zu verwirklichen?
Jetzt weiß ich nicht mehr, worüber wir uns noch streiten. Soweit ich die Verhandlungen mit ,der DDR kenne, ist neben dem, was es speziell an Regelungen im bilateralen Verhältnis gibt, die KSZE-Schlußakte natürlich immer eine Basis unserer Argumentation. Aber was Sie hier verlangen, ist doch nicht, daß wir im bilateralen Verhältnis die KSZE-Akte heranziehen, sondern daß wir die Deutschlandpolitik auf der Konferenz und auf 'den Folgekonferenzen zu einem Thema machen. Das ist der Unterschied in unserer Auffassung.Die Union macht übrigens neuerdings den Versuch — ich hatte den Eindruck, Herr Mertes, daß ein Teil Ihrer Ausführungen heute in die gleiche Richtung ging —, die deutsche Frage als eine Frage der Menschenrechte zu behandeln
— 'daß sie .es auch ist, ist klar — und sie, so definiert, ebenfalls im Rahmen der KSZE vorzubringen. Ich meine, daß auch diese im Trend der Zeit vielleicht ganz modebewußte Umformulierung nicht im Interesse der Sache ist, um die es geht. Denn das Ergebnis würde ein neuer, fruchtloser Streit darüber sein, wer Menschenrechte mehr und besser verwirklicht.Wir brauchen aber keine neuen Ansätze für Streitpunkte deutsch-deutscher Art oder auch im Ost-West-Verhältnis. Wir wollen konkrete Ergebnisse erzielen, die den Menschen helfen, und uns nicht in rechthaberische Positionskämpfe einlassen. Darum scheint es Ihnen — das muß ich leider sagen — doch' in sehr starkem Maße zu gehen; denn in Ihrem Weißbuch nehmen Sie sogar ein Rügerecht in Anspruch, mit dem Sie anderen Staaten ihr Verhalten vorschreiben wollen.
Die Inanspruchnahme eines Rügerechts mag durchaus geeignet sein, eine gewisse Seelenverwandtschaft mit Wilhelm II. unter Beweis zu stellen.
Als Instrument zur Verwirklichung von Menschenrechten und zur Durchsetzung deutscher Interessen ist dies nicht nur untauglich, sondern sogar gefährlich.Lange Zeit war es überhaupt nicht möglich, mit den Regierungen Osteuropas zu sprechen, z. B. über das Schicksal von deutschen Volksangehörigen. Es gibt keine rechtliche Verpflichtung dazu für die andere Seite.
Deshalb war es so wichtig, durch unsere Politik des Ausgleichs und der Verständigung einen Weg zu finden.
Nur, zu einer solchen Politik gehört Augenmaß. Mit überzogenen Forderungen kann man vielleicht innenpolitisch geschickt Stimmungen ausnutzen, aber für die Menschen draußen wird nichts gewonnen.Die Bundesregierung hat sich für den Weg menschlicher Erleichterungen entschieden und mit ihrem Bemühen um Ausreise, Familienzusammenführung sowie Besuchs- und Reisemöglichkeiten große Erfolge erzielt. Von 1972 bis 1977 sind aus Polen, der Sowjetunion, Rumänien, der CSSR, Ungarn und Jugoslawien insgesamt 188 233 Personen im Rahmen der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik gekommen, davon allein nach Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte, also von April 1975 bis Dezember 1977, 107 706 Personen.
Dieser Prozeß der Familienzusammenführung wird erfolgreich weitergeführt, und wir werden alles tun, um ihn fortzusetzen. — Herr Hupka, Ihnen wäre es offenbar lieber gewesen, sie wären dort geblieben.
Gerade weil sich die Bestimmungen des dritten Korbes der Schlußakte als erfolgreich im Sinne unserer Politik erwiesen haben, dürfen wir den Erfolg nicht durch eine selektive Betonung einzelner Elemente der KSZE-Schlußakte gefährden. Wir treten daher für die Gleichrangigkeit aller Bestimmungen der Schlußakte ein.Ich möchte nun noch einige Bemerkungen zu den Ergebnissen der Belgrader Konferenz aus der Sicht meiner Fraktion anschließen. Wir wissen, daß es in der Frage der Menschenrechte zwischen Ost und West fundamentale Meinungsunterschiede und verschiedene Auffassungen über Inhalt und Tragweite der Menschenrechte gibt, die nicht von heute auf morgen zu überwinden sind. Eine Delegation meiner Fraktion, die Belgrad gegen Ende des KSZE-Folgetreffens besucht hat und der ich angehörte, hat sich selbst von der Schwierigkeit dieser Fragen und von den Unterschieden in der Bewertung überzeugen
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Dr. Corterierkönnen. Gerade deshalb und insofern ist das Schlußdokument der Belgrader Konferenz aber auch ein ehrliches Dokument, in dem ausdrücklich festgehalten ist, daß es Meinungsunterschiede gegeben hat. Die Gegensätze sind in diesem Dokument nicht verkleistert worden.Ein ganz entscheidender Wert der Belgrader Konferenz liegt aber völlig unabhängig von dem Schluß- • dokument darin, daß eine vertiefte Diskussion zwischen Ost und West auch über Fragen der Menschenrechte möglich gewesen ist. Das wichtigste war der Dialog, der geführt werden konnte, und nicht die Tatsache, daß es Meinungsunterschiede gegeben hat. Wären diese Meinungsunterschiede durch Formelkompromisse im Abschlußdokument zugedeckt worden, niemand hätte es uns abgenommen. Insofern war auch dieses Folgetreffen ein Beitrag zur Zusammenarbeit zwischen Ost und West.Wir sind uns mit allen westlichen KSZE-Teilnehmern in der Bewertung einig, daß der vertiefte Meinungsaustausch über die Verwirklichung der KSZE-Schlußakte, d. h. die Überprüfungsdiskussion, der ganz entscheidende und bei allen Meinungsunterschieden auch positive Aspekt der Belgrader Konferenz war. Dieser Meinungsaustausch hat ja im übrigen nicht nur Meinungsunterschiede gezeigt, sondern in vielerlei Hinsicht auch ergeben, daß die Schlußakte ihre Wirksamkeit in den Teilnehmerstaaten entfaltet und Maßnahmen in Gang gesetzt hat, die zu ihrer Erfüllung dienen.Ein Mindestmaß ist also auf dem Folgetreffen erreicht worden, und wir sollten uns davor hüten, die Schlußakte als „Supermarkt von Attrappen" zu charakterisieren — ich muß darauf zurückkommen —, wie dies Sprecher der Opposition seinerzeit leider getan haben.
Bei aller Skepsis, mit der das Ergebnis von Belgrad hier und da kommentiert wurde, sollten wir aber auch die wirklichen Erfolge und die Verbesserungen seit der Unterzeichnung der Schlußakte nicht gering schätzen oder gar verschweigen. Die Ausreisen, die Familienzusammenführung, Heiraten, humanitäre Einzelfälel haben bisher nie gekannte Zahlen erreicht, und dieser Prozeß entwickelt sich weiter. In den vertrauensbildenden Maßnahmen wurde immerhin ein Anfang gemacht. Die Durchführung der vorgesehenen Maßnahmen läuft jetzt sehr viel besser als zu Beginn, auch wenn hier noch einiges zu tun bleibt. Die vertrauensbildenden Maßnahmen sind ein Gebiet, das in der Zukunft noch viel stärkere Aufmerksamkeit finden und hinsichtlich der Instrumente weiterentwickelt werden sollte.Der Reiseverkehr hat erheblich zugenommen, insbesondere auch aus den osteuropäischen Ländern in andere europäische Länder und in die Bundesrepublik. Beim Devisenaustausch sind Erleichterungen eingetreten; die Paßgebühren und die Gebühren für Ausreisegenehmigungen sind gesenkt worden, z. B. noch vor kurzer Zeit in der UdSSR. Die Zahl westlicher Zeitungen, die in osteuropäischen Ländern zu erhalten sind, hat zugenommen. Allesdies bestärkt uns in der Auffassung, daß wir mitunserer Politik der Verständigung und des Willenszur Zusammenarbeit auf dem richtigen Wege sind.Lassen Sie mich nun noch ein paar Bemerkungen anschließen zu unserer Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten vor und während der Belgrader Konferenz. Während der Belgrader Konferenz sind über die europäisch-amerikanische Zusammenarbeit, insbesondere auch über das deutsch-amerikanische Verhältnis, manche Spekulationen angestellt worden. Ich möchte hier auch gar nicht verhehlen, daß es gewisse Unterschiede gegeben hat. Sie hängen damit zusammen, daß auf einer solchen Konferenz einmal ein unterschiedlicher Grad des Betroffenseins in manchen Fragen zum Ausdruck kommt und daß zum anderen das besondere Verhältnis der einen Supermacht zur anderen eine Rolle spielt. Dies hat auch zu unterschiedlichen Bewertungen geführt, aber in der Sache haben Deutsche, Europäer und Amerikaner durchaus einen gemeinsamen politischen Ansatz gehabt, auch in der Frage der Menschenrechte.Betonung und Form des Vorbringens mögen zum Teil unterschiedlich gewesen sein. Wir Deutsche haben eben eine gegenüber den Vereinigten Staaten verschiedene Ausgangslage, was etwa die Familienzusammenführung angeht, von der wir ungleich stärker betroffen sind.
Dies ist im übrigen von amerikanischer Seite auch immer anerkannt worden. Ich selbst habe sehr häufig und eingehend mit den Mitgliedern der amerikanischen Delegation in Belgrad und in den USA gesprochen, besonders auch mit dem schon von Herrn Mertes erwähnten stellvertretenden Leiter der amerikanischen Delegation, dem Abgeordneten Fascell, der zugleich Leiter der KSZE-Kommission ist, und mit dem Counselor der Delegation, Spencer Oliver. Ich habe dabei nie einen entscheidenden Gegensatz zwischen der Haltung meiner Regierung und den Vereinigten Staaten entdecken können.
- Herr Mertes, Sie haben mehrfach versucht, den Anschein zu erwecken, als sei die Haltung, die Ihre Fraktion zur KSZE und den Menschenrechten einnimmt, im Grunde mehr in Übereinstimmung mit der der Vereinigten Staaten als die Haltung der Bundesregierung. — Wenn es nicht stimmt, werden Sie es sicherlich gleich aufklären.
Herr Kollege Corterier, haben Sie nicht bemerkt, daß ich nur hervorgehoben habe, daß Herr Fascell und die amerikanischer Parlamentarier die öffentliche Unterstützung der Regierungspolitik positiv gesehen haben, während Sie als Koalitionsparteien diese öffentliche Unterstützung der Haltung des Westens durch uns abgelehnt haben?
Nein, ich habe den Brief von Herrn Fascell schon gesehen — er hat ihn mir nämlich gezeigt —, und darin habe ich nichts davon ge-
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Dr. Corterierlesen, daß er Sie dafür gelobt hätte, daß Sie der Bundesregierung mit der Dokumentation hätten den Rücken stärken wollen, sondern er hat davon gesprochen, das sei eben ein Beitrag zur Diskussion.
— Diese Art von Brief, die Sie da bekommen haben, Herr Mertes, bekommt jeder, der dieser KSZE-Kommission irgend etwas zuschickt.
Das gehört nun einmal zu den Umgangsformen des Kongresses, ob der kleinste Wähler aus dem mittleren Westen einen Brief dorthin schickt oder ob der Herr Mertes seine voluminöse Dokumentation überreicht. Es sind immer dieselben höflichen Floskeln, die man in solchen Briefen finden kann.
Ich glaube nicht, daß Sie mit diesem höflichen Brief des Herrn Fascell das erreicht haben, was Ihnen damals hier im Bundestag nicht gelungen ist, nämlich Ihrer Dokumentation einen amtlichen Anstrich zu verschaffen, diese Dokumentation nun irgendwie doch noch in die internationale Politik einzuführen.
Zunächst einmal glaube ich, daß nicht einmal IhreParteifreunde in Europa die Position, wie sie in der Dokumentation zum Ausdruck gekommen ist, teilen. Ich stütze mich hier auf eine Meldung der „Frankfurter Rundschau" vom 15. Mai 1977, in der es heißt, daß die christlich-demokratischen Parteien, die in der EUDC zusammengeschlossen sind, dafür eintreten, daß die Ziele von Helsinki weiterverfolgt und ihrer Verwirklichung neue Impulse gegeben werden. Und weiter heißt es in diesem Bericht, daß eine gegen die osteuropäischen Staaten gerichtete Menschenrechtskampagne, wie sie Ihr Weißbuch enthält, von dieser Vereinigung nicht akzeptiert worden sei.
— Da haben wir hier schon darüber debattiert!
— Wir können ja diese Meldung nachprüfen, und ich gehe davon aus — ob das Weißbuch nun schon endgültig vorgelegen hat oder nicht —,
daß Sie jedenfalls versucht haben,
Ihre Schwester- und Bruderparteien für eine ähnliche Kampagne, wie Sie sie mit dem Weißbuch führen wollten, zu gewinnen; und daß Ihnen dieser Versuch nicht gelungen ist, läßt sich ja nachprüfen.
Was aber viel wichtiger ist — und damit möchte ich jetzt zum Inhalt noch eine Aussage machen —: Ich glaube, daß diese Bewertung der KSZE, wie sie in Ihrem Weißbuch vorgenommen worden ist, zu unausgewogen und zu einseitig ist, als daß sie irgendeine politische Wirkung erzeugen könnte. Sie selbst haben — Herr Mertes, Sie waren dabei — bei dem Versuch, dieses Dokument in Belgrad zu überreichen, ja bemerkt, daß kein einziger osteuropäischer Staat bereit war, diese Dokumentation anzunehmen.
Das heißt, Sie sind mit dieser Art von Dokumentation dialogunfähig.Die Halbjahresberichte des amerikanischen Präsidenten über die Verwirklichung der KSZE-Schlußakte, von denen ich vorhin schon gesprochen habe, sind da von einem ganz anderen Zuschnitt. Sie enthalten sowohl die positiven wie .die negativen Elemente, die sich bei der Durchführung der Schlußakte ergeben haben, und sind dadurch — im Gegensatz zu Ihrer Dokumentation — überzeugend. Falls Sie tatsächlich, wie Herr Mertes ja angekündigt hat, die Absicht haben sollten, noch einmal eine Dokumentation vorzulegen oder sie fortzuschreiben, sollten Sie sich an diesen Berichten ein Beispiel nehmen. Ihre mit dem Weißbuch gewählte Methode, nur Mängel zu rügen, konnte jedenfalls ebenso wenig eine Basis für unsere Verhandlungsführung in Belgrad sein wie der zunächst von der Sowjetunion unternommene Versuch, dort nur über die positiven Aspekte der Entspannung zu sprechen.
Ich möchte zum Schluß kommen. Für ein Land wie die Bundesrepublik ist die Entspannungspolitik mehr als ein politisches Ziel; sie ist eine lebenswichtige Aufgabe. Insofern müssen wir nicht nur entscheidendes Gewicht darauf legen, das nächste Folgetreffen in Madrid sorgfältig vorzubereiten, sondern auch in der Zwischenzeit bi- und multilateral alles tun, um dem Ausbau der Entspannungspolitik durch konkrete Maßnahmen der Zusammenarbeit auf vielen Gebieten mehr Gewicht zu geben.Der Kollege Strauß hat an dieser Stelle am 11. Mai in der Debatte über die Regierungserklärung zu den Ergebnissen des Staatsbesuchs des sowjetischen
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Dr. CorterierStaatsoberhaupts, Generalsekretär Breschnew, eine bemerkenswerte Rede gehalten, die in mancher Hinsicht von jenen schrillen Tönen zur Entspannungspolitik, die wir sonst von Ihnen gehört haben, abwich. Ich hoffe sehr, daß sie der Anfang für eine vernünftigere, maßvolle Ost- und Entspannungspolitik der Opposition war, und ich möchte Sie ermuntern, endlich einen Weg zu finden,
konstruktiv am Ausbau der Entspannungspolitik mitzuarbeiten. Ich glaube, daß es auf der Linie, die der Kollege Strauß mit dieser Rede beschritten hat, durchaus Ansätze gäbe, die wir gemeinsam fortentwickeln könnten, wenn Sie sich von dem Mißtrauen freimachen könnten, das Sie unserer Politik immer wieder entgegenbringen.Wer Partnerschaft will, auch gegenüber unseren osteuropäischen Nachbarn, muß sich auch als fähig zur Partnerschaft erweisen. Er muß eine glaubwürdige, überzeugende Politik entwickeln und darf keine Eintagsfliegen in die Welt setzen. Die KSZESchlußakte und die Weiterentwicklung der Ost-West-Zusammenarbeit sind Gebiete, auf denen diese Fähigkeit und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit unter Beweis gestellt werden können.Vor einem Jahr, am 19. Juli 1977, hat Herr Biedenkopf schon einmal versucht, eine Neubewertung der KSZE-Schlußakte durch die Opposition vornehmen zu lassen. Er ist damals von dem Vorsitzenden des Arbeitskreises Außenpolitik der Opposition, von Herrn Marx, zurückgepfiffen worden.
— Lesen Sie einmal die radikale Absage nach, die Sie Herrn Biedenkopf damals gegeben haben; da ist der Ausdruck „zurückgepfiffen" schon gerechtfertigt. — Vielleicht ist es für Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, einfacher, wenn nun Herr Strauß den neuen Ton angibt, wenn er so neu ist, wie es den Anschein hatte.Lassen Sie mich zum Schluß erneut einen Gedanken unterstreichen, von dem ich glaube, daß er der Weiterentwicklung und Vertiefung der Entspannungspolitik dient. Der Bundeskanzler hat schon vor dem Abschluß des Belgrader Folgetreffens angeregt, eine KSZE-Konferenz auf höherer Ebene durchzuführen. Der österreichische Bundeskanzler Kreisky hat diesen Gedanken unterstützt. Ich freue mich, daß der Bundesaußenminister ihn heute erneut aufgegriffen hat. Ich meine, daß wir nur gewinnen können, wenn wir für 1980 eine Konferenz auf höherer politischer Ebene vorschlagen, als das in Belgrad der Fall war.Die Entspannungspolitik ist in eine neue Phase eingetreten. Sie muß sich gegenüber einer Reihe von Gefährdungen, vor allem angesichts einer neuen Rüstungsdynamik, bewähren. Die Bewährungs- und Konsolidierungsphase wird nicht leichter sein als die Anfangsphase. Die KSZE-Schlußakte ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Instrument. Nutzen wir dieses Instrument zum Wohle unseres Volkes, zum Wohle ganz Europas!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jung.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Mertes hat in seiner Rede beklagt, daß die Opposition in diesem Hause — er erwähnte als Beispiel einen Beitrag des Kollegen Schmude aus früherer Zeit — sehr oft in eine Ecke gestellt werde, in die sie nicht gehöre. Nun, Herr Kollege Mertes, ich räume Ihnen ein, daß Ihre Motive sehr lauter sind. Ich möchte auch feststellen, daß sich Ihre Diktion ,durchaus von der vieler Ihrer Kollegen aus der Opposition unterscheidet.
Wenn Sie redlich sind, müssen Sie sich doch einfach fragen: Woher kommt das? Sie müssen zugeben, daß es genügend Beispiele gibt, die eine solche Einschätzung der Opposition rechtfertigen.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Rawe, da Sie lachen, sagen: Sie waren vielleicht nicht auf einer Tagung der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung; aber dort hat z. B. einer Ihrer Referenten gesagt — es war Professor Lobkowicz —, daß das Zustandekommen der KSZE schon allein deshalb ein Sieg des Ostblocks sei, weil die Sowjetunion eine derartige Konferenz seit Jahren angestrebt habe. Im übrigen war das ja auch lange Zeit eines Ihrer Argumente bei Ihrem Kampf gegen die KSZE.
Herr Kollege Mertes, bei dem Rückblick auf Belgrad müssen Sie nun aber sicherlich einräumen, daß ein derartiger Sieg durchaus unterschiedlich zu bewerten ist. Im Verlauf der ersten Folgekonferenz haben wir das ja erlebt; denn die betont restriktive Haltung der Sowjetunion in Belgrad zeigte einmal mehr, daß die innenpolitischen Folgen der Schlußakte im Widerspruch zu den Erwartungen der Sowjetunion stehen, die sie an diese Konferenz geknüpft hat.Ich habe kürzlich in der Debatte ,des Europäischen Parlaments schon einmal darauf hingewiesen, daß Helsinki und Belgrad von umgekehrten Ausgangspositionen gekennzeichnet waren. In Helsinki wollte die Sowjetunion in der Tat ,den Erfolg, und sie war deshalb auch zu entsprechenden Zugeständnissen zu bewegen. In Belgrad wollte der Westen einen Erfolg, allerdings nicht um jeden Preis. Ihre Einstellung zu Belgrad, meine Damen und Herren von der Opposition, hat zumindest den Eindruck erweckt, wenn er möglicherweise auch falsch ist, daß Sie um jeden Preis einen Erfolg in Belgrad wollten.
— Ich habe gesagt, aber nicht um jeden Preis, HerrKollege Hupka! — Dem Dilemma des Alles-oder-
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JungNichts konnte und durfte sich nämlich der Westen in Belgrad nicht stellen, denn ein Abbruch der Folgekonferenz hätte die Gefahr in sich getragen, daß damit die Ergebnisse von Helsinki — wenn ich das alles recht beurteile, bauen Sie doch auf diesen Ergebnissen, die Sie mittlerweile ja in Ihrem politischen Konzept durchaus als ein Positivum ansehen, auf — aufgehoben worden wären.In diesem Hause vertreten bislang alle Parteien den Standpunkt, daß aus der KSZE und ihren Folgetreffen weder eine Konferenz über Deutschland noch gar eine Konferenz zur Herbeiführung eines Ersatzfriedensvertrages für Deutschland werden darf. Diese Hauptleitlinie bestimmte die Handlungsführung der deutschen Delegation in Belgrad, die sie in Abstimmung mit den Delegationen der Partner ausgezeichnet verfolgte. Dementsprechend mußte die Lage der Menschen in Deutschland unter dem Gesichtspunkt der umfassenden Verbesserung der Menschenrechte in Europa verfolgt werden. Deshalb wollten wir auch keine Sonderbehandlung innerhalb der Neun der EG und innerhalb unserer Bündnispartner insgesamt im KSZE-Verlauf. Nur so konnten wir erwarten, ,daß die Partnerstaaten die Besonderheiten, die sich aus der Teilung Deutschlands ergeben, in Abstimmung mit uns tatkräftig verfolgen.Nun, Herr Kollege Mertes, es hat doch niemand behauptet, das Nein der CDU/CSU zur KSZE räume der CDU ein geringeres Recht ein, zu diesen Dingen zu sprechen.
— Ach, reden Sie doch nicht so! Das muß man doch alles sehr viel differenzierter sehen. Wenn Sie allerdings, Herr Kollege Jäger, hierzu sprechen, dann muß ich sagen: Ihre Zwischenrufe und Ihre Zwischenfragen ermuntern mich geradezu, eine solche Forderung aufzustellen. Aber das beziehe ich jetzt nur auf Sie persönlich und auf Ihre Zwischenrufe, .die ich als Ihr Nachbar leider sehr oft zu meinem Mißvergnügen hören muß.
Es ist ja interessant, daß gerade Sie als Gegner der KSZE, die CDU/CSU-Opposition also, mit unverhältnismäßig hohen Erwartungen an diese erste Folgekonferenz herangingen. Ihr Versuch, meine Damen und Herren von der Opposition, die deutschdeutsche Sonderproblematik zu einem Konferenzschwerpunkt zu machen, ist, gemessen an unserer Interessenlage, selbstverständlich — das räume ich ein; das wissen Sie auch, Herr Kollege Mertes; das habe ich Ihnen auch schon gesagt —, verstehbar, konnte aber — das ist doch das Entscheidende —, verglichen mit den multilateralen und internationalen Absichten, so wie Sie es sich vorstellten, sicher nicht verwirklicht werden. Denn das internationale Hauptziel heißt nach wie vor Entspannung. Ich darf vielleicht ganz aktuell an die Ausführungen des amerikanischen Außenministers Vance von gestern erinnern, der dies noch einmal betonte.
Herr Kollege, Sie lassen offensichtlich eine Zwischenfrage zu.
Herr Kollege Jung, damit wir uns recht verstehen: Erinnern Sie sich daran, daß die FDP-Bundestagsfraktion die Römischen Europa-Verträge seinerzeit entschieden abgelehnt hat, daß sie ein Jahr nach deren Ratifizierung durch die Bundestagsmehrheit ihren Hauptsprecher für das Nein, den Abgeordneten Margulies, als Mitglied der EG-Kommission nach Brüssel entsandt hat und daß gerade die FDP-Fraktion, nachdem sie nein gesagt hatte, sich mit besonders hohen Erwartungen immer wieder auf die Römischen Europa-Verträge berufen hat?
Ja, Herr Kollege Mertes, natürlich erinnere ich mich daran. Ich wäre auch gerne bereit, Ihnen hier noch einmal eine der Erklärungen für unsere damalige Haltung in Erinnerung zurückzurufen, die in einer Verbindung steht zu dem Thema, das uns 'heute bewegt, nämlich die deutsche Frage. Eines unserer Bedenken damals war, daß die deutsche Teilung zementiert werden könnte. Daß diese Bedenken in der Zwischenzeit in einem gesamteuropäischen Konzept zumindest ausgeräumt werden konnten, hat uns ja dann bewogen, diese Europapolitik aktiv mitzutragen. Aber, Herr Kollege Mertes, es würde jetzt zu weit führen, dies zu vertiefen — zumal ich als Mitglied des Europäischen Parlamentes die Materie sehr wohl kenne. Sie werden aber zugeben müssen, daß wir aus dieser Erkenntnis heraus heute diejenigen sind, die nicht irgend jemanden anderen beschuldigen oder anklagen, sondern aktiv an der Verwirklichung der Ziele der Römischen Verträge und an der Vervollkommnung Europas mitwirken. Ich würde mir wünschen, wenn nun umgekehrt in diesem Punkte die Opposition ihre damalige Haltung vor der KSZE in Helsinki revidieren könnte und aktiv und hier auch einsichtig an der Vervollkommnung dessen mitarbeiten würde, was wir uns im Rahmen der KSZE wünschen.
Zur Entspannung gehört selbstverständlich das Respektieren der Menschenrechte. Aber diese Idee von der Würde und dem Wert der einzelnen Person, die Idee von der grundsätzlichen Unabhängigkeit von Gruppe, Art, Klasse oder Staat kann erst im Rahmen erreichter Entspannung mit Erfolg verfochten werden. Der heute nach wie vor hohe Grad von Mißtrauen vor allem in der Sowjetunion, aber auch z. B. am deutschlandpolitischen Grundsatzpapier der CSU nachweisbar, zwingt hier einfach zu realistischerer Einschätzung. Entspannung in Europa wird heute vorrangig unter politischen und militärischen Aspekten verfolgt. Das originär Menschliche bleibt aus ideologisch-en Gründen leider ausgespart; denn darüber müssen wir uns klar sein: Menschenrechte als solche sind noch immer kein Völkerrechtssubjekt. Völkerrecht ohne unbedingte Verbindlichkeit gibt es nicht. Die Schlußakte von Helsinki ist
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Jungdafür schließlich ein Musterbeispiel. Hier befinden sich die Menschenrechte zwischen Innen- und Außenpolitik, wobei die Grenzen fließend sind. Der Anspruch auf Menschenrechte beruht, wenn ihn Bürger demokratischer Staaten erheben, auf Gegenseitigkeit. In Diktaturen dagegen gibt es diese Gegenseitigkeit nicht. Da ist nicht das Individuum, sondern nur die Gesamtheit Objekt. Dementsprechend schwer ist und bleibt es, Individualrechte zu Völkerrecht werden zu lassen. Ein Musterbeispiel hierfür ist die Europäische Menschenrechtskonvention. Sie hat in Westeuropa wesentlich dazu beigetragen, den Menschen zum Völkerrechtssubjekt zu machen. Auf gesamteuropäischer und erst recht auf Weltebene fehlt das Bestehen einer effektiven internationalen Garantie. In Westeuropa sind Menschenrechte einklagbar. Korb III der KSZE-Schlußakte ist aber als ein gewichtiger Versuch zu betrachten, diese Einklagbarkeit über den Westen hinaus auszubauen.
Herr Kollege, es liegen jetzt zwei Wünsche nach Zwischenfragen vor. Ich frage Sie, ob Sie die Zwischenfragen zulassen wollen.
Ja, Herr Präsident, ich lasse sie zu; aber ich bitte doch die Kollegen, zu verstehen, daß die Unterbrechungen natürlich die Debatte allzusehr in die Länge ziehen.
Dann lassen Sie diese zwei Zwischenfragen noch zu. Zunächst Herr Kollege Czaja, dann Herr Abgeordneter Jäger.
Herr Kollege, würden Sie in Ihre Betrachtung mit einbeziehen, daß wir einen weltweiten UN-Menschenrechtspakt der politischen und zivilen Rechte haben und daß die Bundesrepublik Deutschland durch diesen Pakt verpflichtet ist?
Herr Kollege Czaja, ich glaube, nichts anderes habe ich gesagt. Ich habe nur betont, daß sie nicht einklagbar sind und daß es uns bei unseren Bemühungen bezüglich der Anwendung des Korbes III darum geht, diese Einklagbarkeit über den Westen hinaus auszubauen.
Nun die letzte Zwischenfrage.
Herr Kollege Jung, würden Sie mir darin zustimmen, daß die beiden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen zwar nicht gerichtlich einklagbar, aber durchaus politisch durchsetzbar sind und daß sie als bindendes Völkerrecht auch die Staaten des Ostblocks zu klarer Durchführung der Menschenrechte verpflichten?
Dies genau, Herr Jäger, ist aber das das Bemühen dieser Regierung, der Diplomaten in den bisherigen Konferenzen, auch der Folgekonferenzen, und wenn ich das recht sehe, gingen auch unsere, der Parlamentarier, gemeinsamen Bemühungen auf der IPU-Folgekonferenz in Wien dahin. Wir bemühen uns doch gemeinsam. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie hier die Spitzen etwas wegließen und dieses gemeinsame Bemühen anerkennen und aktiv dabei mitwirken würden.
Ich wiederhole: Die Schlußakte setzt kein Völkerrecht. Sie kann also in der Menschenrechtsfrage nur Anstöße geben. Das hat sie getan, und das wird sie über Belgrad hinaus tun.Moskau hat seinerzeit Zugeständnisse gemacht — ich habe es eingangs gesagt —, um die Konferenz von Helsinki überhaupt zu erreichen. Es hat sich zum Abschluß des Berlin-Abkommens bereit erklärt und ging in die Verhandlungen über die Truppenreduzierungen in Europa. Noch während des Konferenzverlaufs hat die Sowjetunion den vertrauensbildenden Maßnahmen, der Aufnahme von humanitären Erleichterungen und der Einbeziehung der Menschenrechte, zugestimmt. Den gesamten Korb III können wir in diesem Zusammenhang heranziehen. Hier haben wir auch ein Musterbeispiel dafür, wie Entspannungspolitik zwei- und mehrgleisig erfolgreich betrieben wird. Die zweiseitigen Verhandlungen im Rahmen der Ostpolitik haben ebenso Widerstände abgebaut und menschliche Erleichterungen erbracht wie die Schlußakte von Helsinki als Produkt multilateraler Bemühungen.Im Ergebnis bleibt hier der zu beschreitende Weg offen. Je nach konkretem Anliegen unterstützen wir sowohl die bi- wie die multilateralen Bemühungen der Bundesregierung. Die Ergebnisse geben uns recht.Bei den Ausreisen deutscher Staatsangehöriger und deutscher Volkszugehöriger aus osteuropäischen Staaten hat sich das Zusammenwirken zwischen bilateralen und multilateralen Bemühungen besonders bewährt. Anfang der 60er Jahre waren die Zahlen von Ausreisen, insbesondere aus der Sowjetunion, gleichbleibend niedrig. Seit Abschluß der Ostverträge und seit Verabschiedung der KSZESchlußakte sind die Zahlen der Ausreisenden kräftig gestiegen. Ich will es mir ersparen, hier Zahlen zu nennen; Herr Corterier hat bereits darauf hingewiesen.Für die politische Praxis ist es schon seit der Großen Koalition nicht mehr strittig, daß gesamtdeutsche Besserungen nur im Rahmen gesamteuropäischer Erfolge möglich sind. Nur in der Entspannung zwischen Ost und West lassen sich die Grundlagen für die friedliche Entwicklung schaffen, die Voraussetzung dafür ist, daß sich die deutsche Nation in freier Selbstbestimmung in einem Volke repräsentiert.Diese Entwicklung wird durch innerstaatliche Probleme im Ostblock gehemmt. Daß den dortigen Machthabern vor allem die Kontrolle über die Folgen des Korbes III schwerfällt, darf bei uns weder Schadenfreude auslösen noch dazu führen, durch selbstgerechtes Schüren dortiges Mißtrauen zu stützen und damit, den gemeinsamen Zielen zu schaden.
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7838 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
JungUnsere Chance, innerhalb Europas die Forderung der Präambel des Grundgesetzes zu erfüllen, liegt darin, den pragmatischen Spielraum für die WestOst-Entspannung präzise auszuweisen und gegenüber Illusionen abzugrenzen. Die in der Folge von Helsinki besonders von Präsident Carter eingeleitete Rückbesinnung auf die Menschenrechte als der unverzichtbaren Grundlage unserer freiheitlichen demokratischen Zivilisation hat den prinzipiellen Gegensatz zu jedem totalitären System aktualisiert. Denn nur in einer Demokratie werden Menschenrechte gleichmäßig von Staat und Mensch, von Bürger und Regierung betrachtet.
In der Diktatur muß um Menschenrechte gekämpft wenden. Der, der danach fragt, ist ein Widerstandskämpfer, ist ein undisziplinierter Staatsbürger oder eben auch nur unzurechnungsfähig.Trotz des unbefriedigenden Ergebnisses der Folgekonferenz wird Korb III über Belgrad hinaus wirken, auch trotz der Ausweitung des Versuchs, das siebte Prinzip, nämlich die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, mit dem sechsten Prinzip, dem Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, aufzuheben. Wir haben diesen Versuch auch auf der IPU-Konferenz in Wien festgestellt.Hier muß ich aber auch einmal auf die positive Seite der Belgrader Verhandlungen hinweisen. Mit dem nichtssagenden Belgrader Schlußdokument ist das Thema Menschenrechte nicht erledigt. Das projektierte Folgetreffen in Madrid wird die Auseinandersetzung um sie dort wieder aufgreifen, wo sie in Belgrad so abrupt abgebrochen wurde.Man mag es sowjetischen Erfolg bezeichnen, daß die Menschenrechte so an den Rand der Belgrader Ergebnisse gerückt worden sind. Aber der Preis, meine Damen und Herren, den die Sowjetunion dafür zahlt, ist hoch. Sie hat vor der Weltöffentlichkeit eingestehen müssen, daß die innere Ordnung im gesamten Ostblock so labil ist, daß man sich einem freien Wettbewerb der politischen und der sozialen Ideen nicht stellen kann.
Schließlich ist auch als Erfolg zu werten, daß das Belgrader Schlußdokument erstens die Verpflichtung aufführt, alle Bestimmungen der Schlußakte von Helsinki unilateral, bilateral und multilateral voll durchzuführen, also auch die Bestimmungen des Korbes III, und daß es zweitens aufführt, daß es weitere Folgekonferenzen geben wird Damit ist sichergestellt, daß, wie ich schon sagte, die Menschenrechtsproblematik fortbesteht, daß sich die Sowjetunion dieser Frage immer wieder wird stellen müssen. Belgrad war für die Sowjetunion zwar der gelungene Versuch, diese Frage auszusparen, aber wir sollten diesen vermeintlichen Zeitgewinn hier nicht überbewerten, obwohl den hoffenden Menschen damit natürlich wenig geholfen ist.Die lediglich aufschiebende Wirkung der sowjetischen Haltung erlebten wir zuletzt anläßlich der IPU-Tagung in Wien. Die Schlußresolution dieser Tagung enthält wertvolle Aussagen zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten. Die Aussagen zu den menschlichen Erleichterungen, die Spezifizierung des Diskriminierungsverbots, die Absichtserklärung über die Information bei Ausreiseverfahren und die Erklärung über die weitere Senkung der Ausreisegebühren hätte ich natürlich lieber in der Schlußerklärung von Belgrad gesehen. Daß sie — wenn auch die Regierungen nicht verpflichtend — immerhin von allen Parlamentariern in Wien — auch von der sowjetischen Delegation — getragen wurde, werte ich als Beispiel für den Fortgang der Diskussion.Das gilt auch für den Bereich der vertrauensbildenden Maßnahmen. Die Wiener Erklärung über die weitere Erleichterung des Zeitungsimports, die Absichtserklärung über den Zugang von Auslandskorrespondenten zu den Informationsquellen und der Hinweis, daß Auslandskorrespondenten Vereinigungen bilden dürfen, bereiten den Weg nach Madrid konstruktiv vor.Wien brachte also eine direkte Fortsetzung der Folgekonferenz von Belgrad — mit dem gewichtigen Unterschied allerdings, daß hier Absichtserklärungen beschlossen wurden, die die Regierungen nicht binden können, weil dies auf der Parlamentarierebene geschehen ist. Aber immerhin haben die Parlamentarier der Ostblockstaaten anerkannt, daß die menschenrechtlichen Vereinbarungen der Helsinki-Schlußakte gleichrangig und gleichgewichtig etwa neben den wirtschaftlichen stehen. Das sachliche Miteinander gab diesem Parlamentarier-Treffen ein besonderes Gepräge, das hoffen läßt, daß sich das Klima für den Ausbau vertrauensbildender Maßnahmen günstig entwickelt. Wien ist also eine wichtige Station der klimatischen Verbesserung. Es wird uns aber nicht ersparen, weiterhin auf Zähigkeit, langen Atem und mühselige Kleinarbeit zu setzen. Ich werte es als einen Erfolg, daß wir in Wien — das hat hier heute auch schon der Herr Bundesaußenminister unterstrichen — unseren Vorschlag mit durchsetzen konnten, die Empfehlung zu beschließen, daß die Madrider Konferenz auf einer höheren politischen Ebene durchgeführt werden sollte.Eines der weiteren positiven Ergebnisse von Belgrad ist darin zu sehen, daß politische Tabus in zunehmendem Maße aufgebrochen wurden. Sie konnten zwar noch nicht abgebaut werden, aber man spricht darüber. Wo steht denn geschrieben, daß das Rezept des langen Atems unabänderlich nur einer Seite zur Verfügung steht? Herr Mertes hat, wenn ich das richtig gehört habe, hier in einem Satz zutreffend darauf verwiesen, daß dies durchaus auch für den Westen gelte.
— Gut, Herr Kollege Marx. Ich hoffe, daß wir dannin Zukunft in dieser Frage eine doch etwas größereGemeinsamkeit in diesem Hause feststellen dürfen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7839
Jung— Die von der CDU/CSU immer wieder vertretene Politik des „Alles oder Nichts", Herr Kollege Marx — —
— Da muß ich Sie nun einmal persönlich ansprechen, denn ich kann Sie in diesem Zusammenhang nicht ausklammern;
auf Grund Ihrer Interviews nämlich, die Sie in der Vergangenheit gegeben haben! — Diese Politik des „Alles oder Nichts" können wir nicht akzeptieren. Die Interessengegensätze erfordern zähes Verhandeln. Rasch enttäuschte Träumer stören den Ablauf. Und wenn zum Beispiel Sie, Herr Kollege Marx, erklärten, der Verlauf der Belgrader Folgekonferenz bestätige die Haltung der CDU/CSU — Sie meinten damit die Haltung vor Helsinki, nämlich Ihre ablehnende Haltung — —
— Sie wissen genau, worauf ich anspiele: auf ein Interview, das Sie gegeben haben. Diese Ihre Haltung führte — ich darf das trotz der Klage des Kollegen Mertes hier noch einmal sagen — dazu, daß die Union neben den Albanern seinerzeit die einzige Partei in Europa war, die die KSZE-Schlußakte ablehnte.
Sie verbinden in diesem Interview, Herr Kollege Marx, unrealistische Träumereien mit einer rückwärts gerichteten — ich sage es mal so deutlich —, an der Hallstein-Doktrin orientierten Haltung.
Und nun, meine Kollegen von der Opposition, möchte ich in diesem Zusammenhang die konkrete Aufforderung an Sie richten, hier doch einmal im Rückblick auf diese Zeit darzulegen, was in den 50er Jahren und bis 1961 Ihre Politik in Deutschland für Fortschritte gebracht hat.
— Sie wissen doch genauso wie wir, daß Helsinki und die bilateralen Verhandlungen im Rahmen der Ostpolitik einander bedingen und daß die menschenrechtliche Bilanz in Europa ohne diese von der sozialliberalen Koalition verfolgte Entspannungspolitik natürlich wesentlich schlechter wäre. Ich gebe ja zu, daß sie noch nicht so optimal ist, wie wir es wünschen. Aber sie wäre sonst wesentlich schlechter. Das muß man hier einmal feststellen.Sie sollten nicht immer nur deklamieren, daß auch Sie sich an die bestehenden Verträge und Vereinbarungen halten werden, sondern endlich auch den Mut aufbringen, aus realistischer und nicht sosehr selbstgerechter Einschätzung die Erfolge zu würdigen.
Wie wollen Sie denn mit dieser Haltung eine Atmosphäre schaffen, aus der allein heraus zu erwarten ist, daß der Verhandlungspartner restriktive Positionen verläßt? Was erreichen Sie denn, wenn Sie nur anklagen und wenn Sie nur eigene Interessen zum Maßstab machen,
die Interessen der anderen Seite aber pauschal verdammen?
Sie haben doch 20 Jahre lang erlebt, wohin es führt, die eigene Position für das Maß aller Dinge zu halten.
Ich will es mir ersparen, Herr Kollege Marx, auf die Unterschiede innerhalb Ihrer Fraktion einzugehen. Die unterschiedlichen Interessen werden allein schon in den Namen Marx oder von Weizsäcker
oder Mertes einerseits und Jäger andererseits sichtbar. Herr Kollege Marx, ich empfehle Ihnen, doch einmal die Analyse Ihres Fraktionsreferenten Dirnecker zu lesen. Ich habe den Eindruck, Sie haben sie noch nicht einmal zur Kenntnis genommen. Ich stimme zwar nicht voll damit überein; das muß ich hier betonen. Aber ich empfehle es Ihnen doch.
— Aber ich kenne sie. Und deswegen habe ich Ihnen empfohlen, sie zu lesen.
Für uns war Helsinki eine wichtige Station im gesamten Entspannungsprozeß, die schon deshalb positiv zu werten ist, weil sie sich nicht im Illusionären erschöpft. In Belgrad setzte sich dieser Prozeß in einem von den Realitäten geprägten Gespräch fort, und Madrid wird hier nicht der Endpunkt sein.Ich fasse zusammen. Das Schlußdokument von Belgrad ist, gemessen an unseren Vorschlägen, unbefriedigend. Aber es setzt dem Entspannungsprozeß kein Ende. Das Dokument verdeutlicht, daß alle Teilnehmerstaaten entschlossen sind, alle Bestimmungen der Schlußakte von Helsinki umfassend auszuführen. Das Dokument weist aus, daß alle Beteiligten auf den Fortgang des Prozesses der KSZE, der Implementierung der Schlußakte, großen Wert legen. Die Einigung auf Fortsetzung der Überprüfung Ende 1980 in Madrid belegt dies und sollte als Anregung dazu dienen, die Entspannung weiter zu verfolgen. So wie durch die Schlußakte viele zweiseitige Verhandlungen ermöglicht und eingeleitet wurden, werden die in Belgrad andiskutierten Themen
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7840 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
JungGrundlagen für die Fortsetzung und auch Neubeginne derartiger Verhandlungen sein.Lassen Sie mich zum Schluß der deutschen Delegation Dank sagen für ihre Arbeit in Belgrad, die ich persönlich beobachten konnte.
Ich glaube, ich kann das uneingeschränkt für alle tun. Ich halte insbesondere die Art und Weise, wie die deutsche Frage eingebracht wurde, für erwähnenswert, auch weil sie, orientiert an der Realität, nicht im Alleingang, etwa abseits der Neun, behandelt wurde. Auch hier wurde — dafür danke ich auch im Namen meiner Fraktion — eine gute Grundlage für die weitere Behandlung gelegt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Klein.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Reichtum an Worten, mit dem die Sprecher der Regierungsparteien, etwas weniger betont der Herr Bundesaußenminister, die Ergebnisse des Belgrader KSZE-Folgetreffens zu rühmen versuchten, verdeckte nur sehr unzulänglich die Armut an Erfolgen. Herr Kollege Corterier, ich möchte mich zunächst zu einer Formulierung bekennen, die Sie gebraucht haben: Auf der Linie des Kollegen Strauß läßt sich immer eine vernünftige Politik entwickeln.
Im übrigen sind wir durch Sie, Herr Corterier, wieder einmal mit einem uralten Rezept der Koalitionsparteien konfrontiert worden: Gleichgültig, was der Sprecher der Opposition hier erklärt, Ihre erste Reaktion heißt: nichts Neues.
Es fällt mir schwer, Ihnen zu folgen, wenn Sie die Einforderung dessen, was in der KSZE-Schlußakte verbrieft wurde, als „Überfrachtung" dieser Schlußakte bezeichnen.
Herr Kollege Corterier, Sie haben eine Seelenverwandtschaft zwischen uns und Wilhelm II. konstatiert. Ich frage mich angesichts Ihrer jüngsten Auftritte im In- und Ausland, vor allem aber angesichts Ihres schiefen Zeitungszitats von vorhin bezüglich des angeblichen Dissenses zwischen unseren Auffassungen zur internationalen Lage des Menschenrechts und denen unserer europäischen Schwesterparteien, mit wem Sie gern eine Seelenverwandtschaft konstruieren möchten.Erlauben Sie mir, zunächst einen Satz aus dem abschließenden Dokument des Belgrader Treffens zu zitieren — mit Genehmigung der Frau Präsidentin —: „Es wurde anerkannt, daß der Meinungsaustausch in sich selbst einen wertvollen Beitrag zurErreichung der von der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit gesetzten Ziele darstellt,
obwohl über den bisher erreichten Grad der Durchführung der Schlußakte unterschiedliche Auffassungen zum Ausdruck kamen."Wem die diplomatisch zurückhaltende Ausdrucksweise noch Zweifel darüber ließ, was damit gemeint sei, dem wurden sie durch die Feststellung genommen, die wenige Zeilen weiter unten in dem Dokument steht. Ich zitiere wieder mit Genehmigung der Frau Präsidentin: „Über eine Anzahl dem Treffen unterbreiteter Vorschläge wurde kein Konsens erreicht."Dieses Ergebnis steht zwar im Gegensatz zu mancher vorher künstlich hochgeschraubten Erwartung, die allerdings nicht, wie Herr Kollege Jung meinte, von der CDU/CSU gehegt wurde. Es konnte nur jene überraschen, die sich ein halbes Jahrzehnt nach Abschluß der Ost-Verträge über die Haltung der Sowjetunion noch Illusionen machten. Und dazu hat meine Fraktion eben nicht gehört. Wir haben den Konferenzverlauf nüchtern und gewissenhaft beobachtet.Daß die Vertreter der 35 Teilnehmerstaaten fünf Monate lang Menschenrechtsfragen diskutiert haben, ist zweifelsfrei als „Wert in sich" zu bezeichnen.Daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten bei der mehr oder weniger deutlichen Aufzählung von eklatanten Menschenrechtsverletzungen in ihrem Machtbereich zumindest in den ersten Konferenzwochen, wie es der Delegationsleiter eines neutralen Teilnehmerstaates formulierte, Tantalusqualen gelitten haben, schien zunächst sogar ernsthafte Hoffnungen auf Fortschritte zu begründen.Daß die Delegation der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen ihrer politischen Weisungen sorgfältig und pflichtbewußt gearbeitet hat, wird von meiner Fraktion nicht in Frage gestellt.Doch der wesentliche Wert dieser und aller späteren Folgekonferenzen liegt im psychologischen Druck v o r Konferenzbeginn, unter dem zum Zwecke einer positiveren Konferenzbilanz Menschenrechtsverletzungen vermindert werden oder unterbleiben. Die ganz wenigen, allerdings nur mit dem Mikroskop des KSZE-Konferenzexperten wahrnehmbaren Verbesserungen im sowjetischen Machtbereich datieren genau aus den Monaten vor Beginn des Belgrader Treffens.
Um so unverständlicher bleibt es daher, daß Bundeskanzler, SPD-Fraktionsvorsitzender und SPD-Parteivorsitzender in jener Zeitspanne mit Wohlverhaltensbekundungen der Sowjetunion und ihren Verbündeten signalisierten, daß sie bei dem Treffen nicht auf der Anklagebank sitzen würden. Niemand hat verlangt, aus der Belgrader Konferenz ein Tribunal zu machen. Um wieviel überflüssiger war es dann, all denen, die mit für die schwersten Menschenrechtsverletzungen unserer Tage verantwort-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7841
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lich sind, von vornherein derartige Versicherungen zu geben!
Der Vertreter der Sowjetunion, Julij Woronzow, der seine Schlußerklärung zu einer ungewöhnlich aggressiven Polemik benutzte, stellte fest:Die Vereinbarungen von Helsinki sind ein realistisches Programm für die Gewährleistung einer friedlichen Zukunft in Europa. Ihre praktische Durchführung wird nun weitgehend von der Entspannungsebene abhängen, d. h. davon, welchen politischen Kurs die Staaten weiter einschlagen. Werden sie im Geist der Festigung des gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens arbeiten oder werden sie versuchen, wiederum die Saat der Zwietracht und des Mißtrauens zwischen Ländern zu säen, werden sie uns zurückwerfen in die Zeiten des Kalten Krieges, in die Einmischung in die inneren Angelegenheiten von anderen Staaten?Die neueste Formel des SPD-Geschäftsführers Egon Bahr „Entspannung durch Abrüstung" ist in fataler Weise komplementär zu der Erklärung des sowjetischen Chefdelegierten in Belgrad, daß die praktische Durchführung der Vereinbarungen von Helsinki weitgehend von der Entspannungsebene abhängen wird.
Von der Sowjetunion also sollen Menschenrechte nur in dem Umfang gewährt werden, in dem ihr dies mit Fortschritten in Richtung auf ihre außenpolitischen Ziele bezahlt wird.
Meine Damen und Herren, dies ist ein Vorgang, der sich seit Jahren wiederholt: Was die kommunistische Seite vertraglich zugesichert hat, muß von uns im einzelnen dann noch einmal bezahlt werden.
Politisch oder finanziell,
und Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, versuchen dies auch noch zu rechtfertigen.
Inzwischen verstärkt sich jedoch der Eindruck, daß Sie die Richtigkeit dieser Politik nicht deswegen verteidigen, weil Sie immer noch davon überzeugt sind, sondern weil Sie diese Richtigkeit einmal behauptet haben.
Herr Corterier, Sie haben vorhin versucht, Herrn Mertes ein falsches Wort zu unterschieben. Er sprach von dem Unterschied zwischen menschlichen Erleichterungen und Menschenrechten. Sie haben in Ihrer Replik aus dem Unterschied einen Gegensatz zu machen versucht. Aber den Unterschied gibt es.Hier liegt allerdings auch der falsche Denkansatz der sozialdemokratischen Ostpolitik begründet, der weit zurückreicht.Ich erinnere mich sehr genau an den von der SED-Führung seinerzeit vorgeschlagenen, schließlich aber nicht zustande gekommenen Redneraustausch. Weder in dem Schreiben des Parteivorsitzenden Willy Brandt an alle Mitglieder der SPD noch' in dem SPDVorstandsbeschluß vom 13. Mai 1966 war die Rede von der Wiedervereinigung Deutschlands. Als „Kernthema" wurde vielmehr bezeichnet: „das Leben in unserem bis auf weiteres geteilten Land leichter zu machen" . Auch das Wort Menschenrechte kam in keinem der beiden SPD-Papiere vor. Dagegen hat die SED in ihren offenen Briefen den Sozialdemokraten eine Reihe von politischen Ratschlägen erteilt, die in der Zeit nach 1969 auch größtenteils befolgt wurden.Niemand in diesem Hohen Hause, meine Damen und Herren, wird die Gewährung menschlicher Erleichterungen jenseits von Mauer und Todesstreifen niedrig bewerten oder, wie Herr Kollege Corterier zu unterstellen beliebte, abwerten. Aber die Koalition hat sich doch auf eine Ostpolitik eingelassen, der die historische Dimension fehlt und die weitreichende politische wie rechtliche Zugeständnisse gegen kleine widerrufliche Entgegenkommen eingetauscht hat.
Wenn es um eine Entspannung geht, die diesen Namen verdient, die den Menschen in Osteuropa, im übrigen Teil Europas und überall sonst auf der Welt die Angst vor Gewalt oder der Androhung von Gewalt nimmt und die nicht nur als Glacis für die Weltrevolution angestrebt wird, werden Sie uns von CSU und CDU in vorderster Reihe finden. Wenn aber der multilaterale Entspannungsprozeß ohne Rücksicht auf Absichten und Auslegungen der anderen Seite zum Fetisch erhoben wird, haben Sie mit unserem entschlossenen Widerstand zu rechnen.
Sie wissen genau, daß die Unionsparteien in dieser wie in vielen anderen Fragen den Willen der Mehrheit der Deutschen ausdrücken.
In diesen Zusammenhang gehört auch Ihre Gewaltaktion, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, mit der Sie die Aufnahme unserer Menschenrechtsdokumentationen in die amtlichen Bundestagsdrucksachen verhindert haben. Herr Kollege Corterier, empfinden Sie es nicht gerade nach dem, was der Kollege Mertes über die Verbreitung unseres Papiers berichtet hat, als peinlich, noch einmal an das beschämende Geschäftsordnungsargument zu erinnern, dessen Sie sich seinerzeit bedient haben?
Daß sich daran damals auch die FDP-Fraktion beteiligte, meine Damen und Herren, wirft ein bezeichnendes Licht auf Ihre Auslegung des Begriffes liberal, der ja zu deutsch freiheitlich heißt.
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7842 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
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Ich frage mich, meine Damen und Herren von der FDP, wie Sie Ihre jüngsten Erklärungen zur inneren Situation in Argentinien mit dieser Ihrer damaligen Haltung gegenüber unserem Weißbuch in Einklang bringen wollen, das sich mit der menschenrechtlichen Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa befaßt. Oder ist der Schluß zulässig, daß Ihre aktuellen Äußerungen nicht ohne profilbewußte Spekulation auf die weltweite Publizität der Fußballweltmeisterschaft gemacht worden sind?
Ich darf mit Genehmigung der Frau Präsidentin aus einer Veröffentlichung von Botschafter Per Fischer, dem Leiter unserer Delegation, zitieren. „Das Belgrader Treffen" — so schreibt der Botschafter — „stand zu keinem Zeitpunkt in Gefahr, zu einer Deutschlandkonferenz zu werden."
Diese Feststellung besagt zweierlei. Erstens, sie gibt sachlich und korrekt wieder, daß es in Genf, Helsinki und Belgrad nicht nur um die Lage im geteilten Deutschland ging. Zweitens, sie läßt aber auch etwas erahnen von der, ich möchte sagen, gruppendynamischen Konferenzatmosphäre,
in welcher der wahre Name der Dinge schon als Provokation gilt.Was aber heißt das in seiner politischen Konsequenz? Es heißt, daß die flagranteste, massivste und zynischste Menschenrechtsverletzung auf dem europäischen Kontinent bei dem Belgrader Folgetreffen nur indirekt und mit verklausulierter Behutsamkeit angesprochen werden konnte.
Daß 17 Millionen Deutschen seit Ende des Zweiten Weltkriegs die elementarsten Menschenrechte verweigert werden, daß Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen, Schießbefehl und Tötungsautomaten jedes einzelne Wort aus dem Munde der DDR-Delegierten Lügen strafen, verlor sich in den geschmeidigen Sprachfiguren der Konferenzexperten.
Es bedarf sicher keiner seherischen Gaben, heute schon vorauszusagen, daß Unterkommissionen, Arbeitskreise, Expertengruppen und Institute versuchen werden, das Thema Menschenrechte gewissermaßen der Öffentlichkeit zu entwenden und in Konferenzsälen einzusperren.
Es werden die Fachleute miteinander verhandeln, die sich seit Jahren immer wieder begegnen, deren Konferenzvokabular sich längst verselbständigt hat und die es gewohnt sind, über Nuancen zu debattieren, welche für das normale Rechtsempfinden weitgehend ohne Belang sind. Und wenn in Madrid, wie es der Herr Bundesaußenminister heute morgenangekündigt hat, ein politischer Supergipfel stattfinden soll, so besteht aller Anlaß zu der Befürchtung, daß substantielle, offene und erfolgreiche Verhandlungen über die Gewährleistung der Menschenrechte dem aufwenderischen Ritual solcher Begegnungen zum Opfer fallen werden.
Aber, meine Damen und Herren, die Sowjetunion, die DDR und die übrigen kommunistischen Staaten Osteuropas sind immer mit von der Partie. Vor den Vereinten Nationen, in Asien, Lateinamerika oder Afrika
zitieren sie all die wohlformulierten Menschenrechtspostulate der KSZE-Schlußakte.
Beruft sich aber in ihrem eigenen Machtbereich jemand darauf, riskiert er Zuchthaus, Verbannung oder Nervenheilanstalt.
Die modernen Appeasement-Politiker, die es zugegebenermaßen nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland gibt, die bei uns aber fast ausschließlich in den Reihen der SPD/FDP-Koalition zu finden sind, pflegen bei solchen Feststellungen warnend den Finger zu erheben. Es gelte, so argumentieren sie, eine Destabilisierung der Ostblockstaaten und damit eine Gefährdung des multilateralen Entspannungsprozesses zu vermeiden. Kollege Mertes hat vorhin einen Berufenen zu dem Thema Stabilisierung und Destabilisierung zitiert.
Nähmen wir den Rat der Appeasement-Politiker an, so käme dies langfristig einer geistigen und polischen Kapitulation vor dem internationalen Kommunismus gleich.
Wir brauchen nicht auf die Destabilisierung derkommunistischen Staaten zu spekulieren, wir brauchen aber auch nicht ihre Stabilisierung zu fördern.
Vor allem jedoch, meine Damen und Herren, dürfen wir nicht auf die geistig-politische Auseinandersetzung mit der aggressiven marxistisch-leninistischen Theorie verzichten. Das Beharren auf Gewährleistung der Menschenrechte dabei auch als Vehikel westlicher Politik zu sehen, Herr Kollege Corterier, ist keine Verkürzung dieses Themas auf taktisches Verhalten, sondern Ausdruck der klaren moralischen Überlegenheit westlicher Wertvorstellungen. Und genau das vertritt mit dem Kollegen Dr. Zimmermann die gesamte Fraktion der CDU/ CSU.
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Meine Damen und Herren von der SPD und von der FDP, Sie wären gut beraten, wenn Sie diese Prinzipien mit der gleichen Klarheit vertreten würden.
In großräumigen Machterwägungen denkend, haben die Belgrader Delegierten der Warschauer-Pakt-Staaten bald herausgefunden, daß beispielsweise G. Arthur Goldberg, der unkonventionelle und mit weitgehenden Vollmachten ausgestattete US-Delegierte bei seinen scharfen Attacken von den Sprechern der verbündeten Staaten oft nur vorsichtig und sehr differenziert unterstützt wurde. Denn er nannte Namen von unrechtmäßig Verurteilten oder in psychiatrische Kliniken eingewiesenen Menschenrechtskämpfern. Er entsprach damit den beschwörenden Bitten derer, die es wissen müssen. Männer wie Maximow, Amalrik oder Bukowski haben immer wieder erklärt: Publizität im Westen ist der einzige Schutz für die Gefährdeten.
Diese Feststellung prominenter Menschenrechtskämpfer, deren Bewegung — daran sei hier einmal erinnert — lange vor der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa begonnen hat, steht freilich in scharfem Gegensatz zur Praxis auch der Bundesregierung, die durch diskrete Verhandlungen die Betroffenen zu schützen glaubt, sich dabei gleichzeitig der öffentlichen Erfolgskontrolle entzieht und auf die magische Wirkung des solchermaßen intakt gebliebenen multilateralen Entspannungsprozesses hofft.Meine sehr geehrten Damen und Herren, der frühere amerikanische Außenminister Henry Kissinger hat die Situation einmal folgendermaßen beschrieben — ich darf mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren —:Die Sowjetführung hat es verstanden, mit ihrer Stärke wie auch mit ihrer Schwäche uns zu erpressen. Wir schrecken vor sowjetischer Macht zurück, wir scheuen uns aber auch, sowjetische Schwierigkeiten auszunutzen. Dieser Unterschied in der Bereitschaft, Risiken einzugehen, hat den Sowjets in der Nachkriegszeit ihren fundamentalen Vorteil verschafft, womit es ihr beinahe gelungen ist, den Bankrott ihres Sozialsystems und die Unstabilität ihrer Spitzenstruktur zu kompensieren.
Zu keinem Zeitpunkt, meine Damen und Herren, haben die Sowjets und die von ihnen gesteuerten kommunistischen Organisationen in aller Welt einen Hehl daraus gemacht, daß sie sich durch die Entspannung nicht von ihren revolutionären Zielen abbringen lassen. Im Gegenteil! Dem mit Festigkeit zu begegnen, die international verbrieften Menschenrechte überall und für alle einzufordern, insbesondere aber für unsere eigenen deutschen Landsleute entschlossen einzutreten, dies darf von niemandem als Kalter Krieg denunziert werden.
Weder können wir von unseren Verbündeten erwarten, daß sie deutscher sind als die Deutschen, noch kann sich unsere Generation für Werte engagieren und zu Pflichten bekennen, die von den Älteren auf eher opportunistische Weise in Frage gestellt werden. Müssen wir uns, Herr Bundesaußenminister, von den Menschen im anderen Teil Deutschlands, von den Menschen in Osteuropa, von den Menschen in der Dritten Welt vorwerfen lassen, daß wir feige sind, weil wir satt sind?
Meine Damen und Herren, gerade in einer Zeit, in der sich die ganze Welt wieder — teils als Folge nicht überwundener historischer Traumata, teils auf Grund einer großangelegten kommunistischen Verleumdungsstrategie — mit uns auseinandersetzt, darf die Politik der Bundesregierung nicht den Vorwurf provozieren: Die Deutschen haben ein reines Gewissen, weil sie es nicht benutzen.
Das Wort hat der Herr Abgeordneter Brandt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde zunächst einmal, es wäre nicht in Ordnung, wenn hier irgend jemand den Eindruck erwecken wollte, die Bundesregierung kümmere sich nicht hinreichend um das, was die CDU/CSU in ihrer Großen Anfrage die menschenrechtliche Lage in Deutschland nennt, und um die Deutschen in Osteuropa. Ich finde, es wäre angemessen und bei weitem fruchtbarer, wenn wir erst einmal vom guten Willen und von den ernsten Bemühungen derer ausgingen, die deutsche Interessen von Amts wegen in der Welt zu vertreten haben.
Das sollten wir in der Tat tun, statt immer neue innenpolitsche Kriegsschauplätze mit von außen hereingeholten Themen zu eröffnen.
Hier geht es ja auch darum, ob man Menschen, die uns zuhören, über die tatsächlichen Verhältnisse aufklärt, ob man ihnen in dem Maße, in dem man es verantworten kann, Hoffnung vermittelt, ohne Illusionen zu verbreiten, oder ob man die Deutschen außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes ohne Not in unseren auf vielen Gebieten unausweichlichen Meinungsstreit hineinzieht.
Ich meine, wir alle miteinander sollten aufpassen, daß sich diejenigen, denen unsere Sorge zu gelten hat, nicht eines Tages als Objekte unserer Rivalitäten und Wortgefechte empfinden; denn das wäre nicht zu verantworten.
Es ist nicht zu überhören, daß hier über zweierlei gesprochen wird: über die menschenrechtliche Lage, wie die Fraktion der CDU/CSU es nennt, und über
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7844 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Brandtdie Politik, die um den Abbau von Spannungen, um Entspannung also bemüht ist. Auf der Berliner Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung in der vorigen Woche hat der Kollege Werner Marx als außen-und deutschlandpolitischer Sprecher der CDU gemeint, nur wenn die Menschenrechte verwirklicht würden, könne von wahrer Entspannung die Rede sein.
Herr Kollege Kohl hat bei gleicher Gelegenheit, wie ich den Agenturberichten entnehme, gesagt, zwischen Einhaltung der Menschenrechte und Entspannung bestehe ein enger Zusammenhang.
Ich möchte deutlich machen, daß ich der abgewogenen Formulierung von Herrn Kohl näherstehe als der mir maximalistisch erscheinenden Formel des Kollegen Marx.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Herr Kollege Brandt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich bei meinen Formulierungen ausdrücklich zwischen der Bedeutung der Menschenrechte im Ausland und der Lage in Deutschland— so wie Sie eben zitiert haben — unterschieden habe und in diesem Zusammenhang gesagt habe, daß diese Lage in der Tat eine besondere und nicht mit außenpolitischen Maßstäben zu messen sei?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gut. Darauf kommen wir im Verlauf des Meinungsaustausches eh zurück, soweit er hier noch geführt werden kann.Ich bitte Sie zu beachten, daß es in dem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zu dem heutigen Tagesordnungspunkt heißt — deshalb lag es mir näher, an die Formulierung von Herrn Kohl anzuknüpfen —:Menschliche Erleichterungen stellen ein wichtiges Element der Entspannungspolitik dar.
Ich füge allerdings nach dem, was vorher gesagt worden ist, mit Betonung hinzu -- denn es führt ja zu nichts Gutem, dort um die Dinge herumzureden, wo sie ausgetragen werden müssen —: Entspannungspolitik ist aus meiner Sicht nicht die Funktion von irgend etwas anderem. Entspannungspolitik hat ihren eigenen Wert.
Sie dient der Wahrung des Friedens und seiner Sicherung so, daß er unzerstörbar wird. Das hat — nichts anderes hat Herr Bahr gesagt — in der Tat erste Priorität; denn das handelt vom Überleben der Menschheit.
Deshalb ist überhaupt nichts davon abzustreichen, daß das Interesse an der friedenssichernden Politik in der Tat höher steht, noch höher steht als jedes noch so legitime nationale Anliegen.
Verfälschung der Fragestellung!)Vielleicht darf ich den Kollegen aus den Unionsparteien zwei Hinweise geben, die es wert sind, bei weiteren Überlegungen zum Thema Entspannung bedacht zu werden.
Es gibt, wie die Sachkundigen wissen, eine neue Debatte, die der ehrwürdige George Kennan in Gang gebracht hat, eine Debatte, von Kennan, wie gesagt, gestartet, über das Verhältnis zur Sowjetunion und damit auch über die Möglichkeiten der Entspannung.Im Rahmen dieser Debatte hat sich Professor Richard Löwenthal in diesen Wochen zu Wort gemeldet und sich um folgende Definition bemüht:
Die westliche Diplomatie müsse sich gegenüber der Sowjetunion darum bemühen, erstens Sicherheit zu gewährleisten, zweitens Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen zu fördern, drittens die sowjetische Politik in Richtung auf die beiden vorgenannten Ziele günstig zu beeinflussen. Hieraus ergibt sich, daß es nicht das Ziel sein kann — ich werde das gleich noch etwas erläutern —, den Charakter des sowjetischen Systems durch Druck von außen zu verändern.Mein anderer Hinweis: In der vorigen Woche waren einige Kollegen des Deutschen Bundestages in Washington zu den Erörterungen dessen, was man die Trilaterale Kommission nennt, also Wirtschaftler, Politiker, Wissenschaftler aus Nordamerika, Europa und aus Japan. Ich habe ziemlich genau den Bericht durchgesehen, der dieser Kommission durch hochkarätige Experten zum Thema Ost-West-Beziehungen unterbreitet worden ist. Da gibt es die hilfreiche Definition des Begriffs Entspannung als — ich darf zitieren — „Summierung notwendiger und nützlicher Anstrengungen, die Formen und Gebiete, Risiken und Lasten eines andauernden Konflikts durch Verhandlung und partielle Zusammenarbeit zu begrenzen".
Dies vorweg zum Begriff Entspannung.Im übrigen lohnt es sich, wenn wir nicht aus dem Auge verlieren, was uns die Bundesregierung am 9. März in ihrer Beantwortung der Großen Anfrage mitgeteilt hat. Der Bundesminister des Auswärtigen stellte in dieser schriftlichen Antwort vom 9. März fest, die Entspannung sei ein komplexer und langfristiger Prozeß, Stagnationsperioden und Rück-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7845
Brandtschläge seien nicht auszuschließen. Wer wollte dem widersprechen?
Und dann heißt es weiter: Die Bundesregierung hofft, daß eine Reihe von konstruktiven Treffen die Verwirklichung der Schlußakte fördern und diesem Prozeß immer neue Impulse geben wird. Dies wirft die Frage auf, wie wir das erste Folgetreffen in Belgrad zu beurteilen haben. Der Bundesminister des Auswärtigen hat sich heute früh dazu geäußert, die Kollegen in der Debatte haben sich dazu geäußert, auch ich komme gleich noch einmal darauf zurück. Ich will jetzt nur daran erinnern, daß die Fraktionen der SPD und der FDP schon in ihrem Antrag vom 23-. März vorigen Jahres ausgeführt haben — ich darf zitieren —:Die Bundesrepublik Deutschland hat ein elementares Interesse daran, daß der durch die Konferenz von Helsinki geförderte Entspannungsprozeß über das Folgetreffen von Belgrad hinaus fortgeführt wird.
Das haben wir schon im vergangenen Jahr gesagt, bevor wir genau wissen konnten, was diesmal herauskommen würde. Das gilt heute wie vor fünf Vierteljahren.Nach dem, was mein Vorredner, Herr Kollege Klein von der CSU, den ich nicht im Saal sehe — er hat sicherlich anderes zu tun —, eben gesagt hat, möchte ich auf die schriftliche Antwort der Bundesregierung vom 9. März noch einmal zurückkommen. Denn in dieser Antwort der Bundesregierung heißt es — vielleicht kann man Herrn Klein das wissen lassen —, daß es eine Änderung der westlichen — nicht nur der deutschen, der westlichen — KSZE-Konzeption bedeuten würde, wenn die deutsche Situation unter dem Gesichtspunkt der deutschen Teilung im KSZE-Prozeß eine Sonderbehandlung erführe, wie es jetzt weiter bei der Regierung heißt, „mit allen darin liegenden Risiken". Nach dem, was Herr Klein eben gesagt hat, meine ich, dies sollte in einer Aussprache wie der jetzigen nicht untergehen. Ich finde, es wäre nützlich, wenn die Opposition keinen Zweifel daran ließe, daß auch sie auf diesem Boden steht.
Weiter will ich feststellen, daß uns, meinen Freunden und mir, einleuchtet, was die Bundesregierung zur Lage der Menschen im geteilten Deutschland, über die Deutschen in Polen und der Tschechoslowakei, über die deutschen Volkszugehörigen in der Sowjetunion und in Rumänien ausgeführt hat. Die Bundesregierung und ihre auswärtigen Vertretungen verdienen, gerade auf diesem Gebiet nicht getadelt zu werden. Sie verdienen unsere Rückendeckung und unsere Ermutigung.
Deshalb schlagen wir ja auch in unserem Entschließungsantrag vor, der Bundestag möge festhalten,daß die Bundesregierung ihren Auftrag zum Schutz und zur Fürsorge für alle Deutschen voll erfüllt.Ich habe nur eine zusätzliche Bemerkung zu machen, die sich auf die Deutschen in Rumänien bezieht. Die Siebenbürger Sachsen und die Banater Schwaben sind gottlob nicht in die makabren Vertreibungen hineingezogen worden, die unter Hitler und Stalin begannen und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zusätzlich zu allem anderen unendlich viel menschliches Leid mit sich brachten. Wir können, so denke ich, gewiß nicht daran interessiert sein, daß wo immer in Europa oder sonstwo eine deutsche oder eine andere Volksgruppe nicht überlebt, im Gegenteil. Wenn es nun so ist oder so sein sollte, daß die rumänische Staatsführung den Minderheiten mehr kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten einräumen will, dann sollten wir auf unserer Seite alles vermeiden, was so aussehen könnte, als hätten wir es darauf abgesehen, die rumänischen Staatsbürger deutscher Herkunft nach und nach oder gar systematisch zu uns in die Bundesrepublik zu holen. Meine Meinung war und bleibt, meine verehrten Kollegen: Europa ist durch die Aussiedlung von Volksgruppen ärmer geworden.
Europa bestätigt sich im Nebeneinander und Miteinander seiner nationalen Traditionen und Kulturen. Wie gut sich das auswirken kann, sehen wir im Moment leider nur noch diesseits und jenseits der deutsch-dänischen Grenze.Ich möchte ein Wort zur weltpolitischen Landschaft hinzufügen, in der sich unsere Erörterungen vollziehen. Herr Kollege Corterier hat uns schon daran erinnert — ich finde, zutreffend —, daß die Regierung der Vereinigten Staaten mit durchweg kühler Konsequenz alle Versuche abgewiesen hat, sich eine Wiedereröffnung des Kalten Krieges aufzwingen zu lassen. Deutliche, zuweilen auch etwas zugespitzte Worte, die zwischen Washington und Moskau gewechselt werden, sollten nicht zu Fehlschlüssen verleiten. Die Vereinigten Staaten werden sich nach allem, was ich zu erkennen vermag, auch in Zukunft darum bemühen, das Feld der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu verbreitern. Der schwierige Prozeß, der vom Abbau gefährlicher Spannungen handelt, geht also weiter. Es gibt zu ihm, wie hier noch einmal gesagt worden ist, ja auch weiterhin keine realistische Alternative, sondern es wird immer deutlicher — ich habe neulich schon einmal daran erinnern dürfen —, daß politische Entspannung die vor uns liegenden Jahre nicht überleben wird, wenn sie nicht ihre Ergänzung auch durch Maßnahmen auf dem eigentlich militärischen Gebiet findet. Das ist der eigentliche Zusammenhang.
Allerdings sollte man sich auf beiden Seiten des Atlantiks darüber klar sein, daß der Entspannungsprozeß erhebliche psychologische Komponenten hat. Worte, Begriffe, Methoden der Selbstdarstellung beeinflussen diesen Prozeß in besonderer Weise. Das legt allen Beteiligten eine große Verantwortung auf.
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7846 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
BrandtWir erleben einen Zwischenabschnitt, der bei beiden nuklearen Weltmächten, . wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise, durch etwas unklare Führungsstrukturen gekennzeichnet ist. Deshalb ist es so wichtig, daß man, was die amerikanische Seite angeht, Zweifel an der Stabilität und Kontinuität des Führungswillens vermeidet. Nichts könnte Vertrauen rascher zerstören als der Eindruck von Wechselhaftigkeit oder Wankelmut oder gar von allzu großer Nachgiebigkeit gegenüber wechselnden innenpolitischen Strömungen.Meine Damen und Herren, der wenn auch mühsame Fortgang der Entspannungspolitik ist durch Präsident Carters Kampagne für die Achtung der Menschenrechte nicht aufgehalten worden. Der Tonfall ist heute moderierter, wohl auch differenzierter, aber die Substanz seines Engagements hat der Präsident nicht preisgegeben. Wer sich in der Welt ein wenig umsieht, kann nicht leugnen, daß die Haltung Amerikas die Lage in mehreren Ländern jedenfalls der sogenannten Dritten Welt verändert hat. Das wird in Teilen Lateinamerikas schon sichtbar. Es wird noch etwas sichtbarer werden. Es kann auch im südlichen Afrika Früchte tragen. So hat sich die moralische Anstrengung wohl gelohnt,
auch wenn der Einfluß des amerikanischen Präsidenten nicht immer so weit reichte, wie er es sich gewünscht haben mag.Wir haben, was das konkrete Bemühen um menschliche Erleichterungen angeht, meistens stillere Wege gesucht und damit manchmal vielleicht sogar die größeren Erfolge gehabt.
Doch es konnte nicht unsere Sache sein, den amerikanischen Präsidenten zu korrigieren, wenn er sagte, was zu sagen ihm die Menschlichkeit aufgab und eingab. Man kann in der Tat die Humanität nicht selektiv schützen wollen, auch nicht regional und auch nicht nur bei anderen.Mit der Schlußakte der Helsinki-Konferenz vom Sommer 1975, auf die heute so häufig Bezug genommen worden ist, wurden allerdings, und zwar nicht nur auf amerikanischer Seite, zum Teil wirklichkeitsfremde Erwartungen verbunden. Einige, die zunächst überhaupt gegen eine solche Konferenz waren, haben sich hinterher darüber beschwert, daß in Europa noch immer kommunistische Regierungen nach ihren Maximen regierten — als ob diese in Helsinki ihre Selbstabdankung versprochen hätten.
Ich hoffe im übrigen, daß man sich durch die sehr begrenzten Ergebnisse des Folgetreffens in Belgrad nicht enttäuschen läßt. Wie Außenminister Vance kürzlich mit Recht festgestellt hat, muß man bei der Bewertung dieses Treffens berücksichtigen, daß es seine größeren Wirkungen ausübte, bevor es stattfand. Für Madrid 1980 sollte man sich verstärkt den konkreten Aufgaben zuwenden, die sich dann verwirklichen lassen.
Ich möchte meinerseits noch einmal ausdrücklich begrüßen, was der Bundesaußenminister heute morgen gesagt hat, nämlich, daß es angestrebt werden sollte — bei allem Respekt vor den tüchtigen Beamten —, das Madrider Folgetreffen auf politischer Ebene abzuhalten,
damit — so heißt es in dieser Erklärung des Außenministers von heute früh — die politische Bedeutung der Folgetreffen unterstrichen wird und dem multilateralen Entspannungsprozeß neue Impulse verliehen werden können.Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, wie das Problem der Menschenrechte im Zusammenhang mit den Ost-West-Beziehungen dort gesehen wird, wo man es sich nicht leicht macht. In dem vorhin erwähnten Bericht für die Trilaterale Kommission heißt es, die Haltung zu den individuellen Menschenrechten sei eine der grundlegenden Differenzen zwischen den kommunistisch kontrollierten Regierungen und denen des Westens. Dieser Gegensatz werde im Rahmen einer friedlichen Koexistenz kaum überwunden werden können. Dies schließe jedoch nicht aus, daß spezifische Verbesserungen erreicht werden könnten.Ich sage das jetzt, weil es ja Kollegen gab, die dem nachspürten, was mit Menschenrechten und Erleichterungen zu tun hat. Ich gehe jetzt an dies unter dem Gesichtspunkt heran, was in der Phase der sogenannten Koexistenz mit gegebenen Regierungen möglich und was nicht möglich ist.In dem Expertenbericht für die trilaterale Kommission — ich habe daraus eben schon zitiert — heißt es weiter, dies schließe jedoch nicht aus, daß spezifische Verbesserungen erreicht werden könnten, wenn es gelinge, deutlich zu machen, daß sie für die Ost-West-Beziehungen vorteilhaft sind und — ob uns das nun Spaß macht oder nicht: das steht darin so; es ist außerdem meine Meinung — wenn die betreffenden Regierungen sie für tragbar halten. Wie denn sonst, meine Damen und Herren?Die westlichen Regierungen, so lesen wir es in dem Bericht, seien als Unterzeichner der Übereinkunft von Helsinki selbstverständlich legitimiert, Verletzungen der Passagen über Menschenrechte zur Sprache zu bringen. Aber sie wären nicht gut beraten, wenn sie den Eindruck erweckten, sie wollten durch öffentliche regierungsseitige Bemühungen Veränderungen in der Innenpolitik der östlichen Staaten „herbeizwingen". Viel hänge — im Positiven wie im Negativen — von dem Stil und der Methode ab, mit der diese Fragen behandelt würden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte das jetzt erst im Zusammenhang darlegen, Herr Kollege.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7847
BrandtLassen Sie mich noch einen Sachverständigen nennen, nämlich Marshall Shulman, den Sonderberater des amerikanischen Außenministers für sowjetische Fragen.
Er sagte im vergangenen Herbst vor einem Unterausschuß des Repräsentantenhauses, im philosophischen Bereich könne es einen nützlichen Dialog geben — ich zitiere — „zwischen denjenigen, die von den Bedürfnissen der Gesellschaft ausgehen und die Befriedigung materieller Interessen in den Vordergrund stellen, und jenen, die von der Würde und dem Wert des einzelnen ausgehen und die Erfüllung politischer Rechte in den Vordergrund stellen". Es sei offensichtlich, daß die Menschenrechtsfrage auch grundlegende Fragen der politischen Kontrolle berühre und daher häufig neuralgische Reaktionen hervorrufe. Die amerikanische Seite betrachte ihr Ziel — ich bin immer noch bei dem Berater der amerikanischen Regierung, einem sehr hochrangigen —, nämlich das Schicksal betroffener Personen zu verbessern — dies noch einmal zum Thema Menschenrechte und Erleichterungen, Herr Kollege Mertes — und in der Welt langfristige — ich unterstreiche: langfristige — Tendenzen in Richtung auf eine größere Achtung der Würde und des Wertes der Menschen zu fördern — ich zitiere noch einmal, wenn ich darf —, „nicht als unvereinbar mit dem Wunsch, auf eine Minderung der internationalen Spannung und eine Verbesserung der ... Beziehungen hinzuarbeiten". Langfristig — bei mir steht ein Ausrufezeichen dahinter — könne die Reduzierung der internationalen Spannung auch den innenpolitischen Druck abbauen — jetzt noch einmal zitiert —, „der die volle Realisierung der kreativen Fähigkeiten der Menschen überall einschränkt". „Überall" heißt es übrigens bei Marshall Shulman, aber er meint sicher: auf unterschiedliche Weise in verschiedenen Teilen der Welt.
Mancherorts ist in der Tat zu undifferenziert, in viel zu allgemeinen Wendungen über Menschenrechte gesprochen worden. Die begrenzten, aber konkreten Fragen des Kontakts, der Kommunikation, der Information über die Grenzen hinweg kommen dabei zu kurz. Das sind aber die Fragen, die für viele einzelne Menschen von entscheidender Bedeutung sind. In einer verdienstvollen sachlichen Ausarbeitung des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien ist dieser Tage daran erinnert worden, daß die Fragen der Verwandtenbesuche, der Familienzusammenführungen, der grenzüberschreitenden Eheschließungen und Privatreisen, des internationalen Nachrichtenflusses und Informationsangebots im Vorfeld von Helsinki als, wie es dort heißt, spezifische Einzelprobleme erörtert wurden, als Fragen, die — ich zitiere — „einer für die Regierungen wie für die Bürger gleichermaßen befriedigenden Regelung bedurften".Und jetzt bin ich noch einmal bei dem, was von der Seite der Unionskollegen zu Menschenrechtenund Erleichterungen in die Debatte eingeführt worden ist.
Die nichtkommunistischen Verhandlungspartner haben damals im Vorfeld von Helsinki aus guten Gründen davon abgesehen, den Gedanken eines dem Bürger gegenüber dem Staat zustehenden Rechts einzuführen.
Statt dessen haben sie darauf gedrungen, daß sich die Staaten gegenüber ihren Bürgern auf bestimmte Verhaltensregeln festlegen. Diesem Vorgehen lag die Überlegung zugrunde, so legt es Gerhard Wettig in dem erwähnten Bericht des Bundesinstituts dar —Herr Kollege Mertes, Sie gucken erstaunt; Sie haben noch nicht Zeit gehabt, es sich anzuschauen; wir kommen alle nicht immer gleich dazu, das zu lesen, was uns auf den Schreibtisch kommt —, daß der Versuch einer ideologie- und systemübergreifenden gemeinsamen Zieldefinition von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Demgegenüber erschien es möglich, Absprachen über konkrete Verbesserungen auf der Basis des politischen und territorialen Status quo zu erzielen, „wenn keine Seite ihre prinzipiellen politischen Positionen dadurch beeinträchtigt sah oder die Grundlagen ihrer Herrschaftslegitimation preiszugeben brauchte".Weder das Prinzip der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten noch das Prinzip der Gleichberechtigung des Selbstbestimmungsrechts der Völker hatte also die Funktion, die Sowjetunion und ihre Verbündeten auf westlich-demokratische Grundsatzpositionen zu verpflichten. Es war also ein Modus-vivendi-Charakter, der den multilateralen Verhandlungsprozeß weitgehend bestimmte.Im Vorfeld von Belgrad und auf dem ersten Folgetreffen selbst gelang es nicht, die eher pragmatische Erörterung von Einzelproblemen weiterzuführen. Der Konsens, der auf der Helsinki-Konferenz selbst erzielt wurde, konnte insoweit leider nicht ausgeweitet werden. Ich will mich jedoch der Hoffnung anschließen, daß auf der nächsten Folgekonferenz in Madrid und auf dem Weg dorthin wieder eine vergrößerte Konsensfähigkeit hinsichtlich der zu lösenden praktischen Probleme zum Tragen kommt.In dem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen wird auf etwas hingewiesen, worauf auch der Kollege Mertes hingewiesen hat — hier gibt es dann jedenfalls eine volle Übereinstimmung —, nämlich darauf, daß die 3. Interparlamentarische Konferenz über europäische Zusammenarbeit und Sicherheit in Wien begrüßenswerte Feststellungen getroffen hat. Dies gilt dann zumal aus unserer — und sicher nicht nur aus unserer — Sicht für das, was mit „menschliche Kontakte, Information, Kultur und Bildung" — ohne daß dies erschöpfend wäre — umschrieben ist.Jetzt muß ich noch ein Wort an Sie, Herr Kollege Klein , richten dürfen, der Sie, glaube ich,
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7848 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Brandtmeinten, auch unter Rückgriff auf einen Vorgang, der nun schon zwölf Jahre zurückliegt, uns deutschen Sozialdemokraten Nachhilfeunterricht in Sachen Menschenrechte erteilen zu sollen. Das ist überflüssig.
Um das zurückzuweisen, brauche ich mich nicht einmal auf Programme zu berufen. Ich berufe mich auf die Geschichte.
Diejenigen, die sich vor uns bemüht haben, haben die großen Worte über Menschenrechte aus den Wolken heruntergeholt und in diese Welt hineingestellt und nach und nach für Millionen von Menschen Wirklichkeit werden lassen. Daran arbeiten wir weiter.
Diejenigen, die das gemacht haben, haben sich nicht mit dem Anliegen des eigenen Volkes allein zufriedengegeben, sondern sie haben Europa als Aufgabe erkannt und sich zu weltweiter Solidarität bekannt. Ich meine, wir sollten im ehrlichen Ringen um die menschlichen Rechte und Freiheiten ohne Illusionen, aber mit Beharrlichkeit wetteifern.
Es gibt wahrlich genug, was umstritten ist und worüber gestritten werden muß. Scheingefechte braucht unser Volk nicht, ganz besonders nicht, wenn es um fundamentale Menschenrechte
oder zunächst auch nur darum geht, Mitmenschen das Leben etwas leichter zu machen. Dafür hat die Politik in meinem Verständnis da zu sein: für den Menschen und den Frieden, nicht für lebensfremde Abstraktionen oder friedensfeindliche Machtansprüche.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hoppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Selbstgerechtigkeit wird das Ringen um die Durchsetzung der Menschenrechte gewiß nicht befördern. Kritik über den Inhalt der bisherigen Politik ist möglich, und dieser Kritik muß man sich stellen, mit ihr hat man sich auseinanderzusetzen. Sie kann, insbesondere wenn sie auf der Grundlage der geschlossenen Verträge geäußert wird, die Politik auch begünstigen.
In dieser Auseinandersetzung sind wir sehr wohl in der Lage, den Unterschied zwischen Menschenrechten und menschlicher Erleichterung zu sehen; aber wir sehen die menschlichen Erleichterungen als Teil unserer Anstrengung um die Verwirklichung der Menschenrechte.
Da ist die Frage erlaubt: Wo war eigentlich die CDU/CSU, als es darum ging, tatsächliche Fortschritte für die Menschen zu erreichen?
Sie hat die Verträge mit Moskau und Warschau bekämpft, sie hat ,den Grundlagenvertrag mit der DDR abgelehnt, der es überhaupt erst möglich gemacht hat, Menschlichkeit für viele in unserem Land zu praktizieren.
Und die Opposition hat auf eine geradezu verbissene Weise versucht, die Bundesregierung von der Unterzeichnung der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa abzuhalten. Es gibt für mich kaum ein bedrückenderes Dokument aus der jüngsten Zeit, das so sehr wie der Antrag der Opposition vom 25. Juli 1975. von der Aufforderung zur internationalen Isolierung der Bundesrepublik Deutschland geprägt ist. Ich habe es schon einmal gesagt: Sie hätten sich damals mit Ihrer Empfehlung wirklich zwischen alle Stühle, selbst neben den Heiligen Stuhl gesetzt.
War der Opposition damals eigentlich bewußt, daß damit der politische Offenbarungseid zum Inhalt der Politik gemacht werden sollte?Aber es war keine einmalige Fehlleistung. Sie paßt nahtlos zu dem ebenfalls unvergessenen Versuch der Opposition, die Bundesrepublik Deutschland vom Beitritt in die Vereinten Nationen abzuhalten. Durch die Außenpolitik der CDU/CSU zieht sich in den letzten Jahren der doppelt gezwirnte Faden von Abstinenz
und feierlichen Deklamationen.
Meine Damen und Herren, nun war es doch ganz sicher keine Belanglosigkeit, sondern vielmehr wirksame Politik, daß, orientiert an den in Helsinki verabschiedeten Prinzipien, vor, in und nach Belgrad auf eine so intensive Weise das Thema der Menschenrechte behandelt werden konnte. Dieses Faktum ist sogar noch wirkungsvoller als die Erörterung des Umstandes, daß das Belgrader Abschlußdokument den Begriff der Menschenrechte nicht enthält. Für mich war und ist das zwar enttäuschend, aber dadurch ist das Thema doch nicht aus der Welt. Wir werden die erkennbar defensive Position der Staaten Osteuropas weiter und beharrlich auflockern müssen. Wir wollen schließlich im Interesse der Menschen den Boden für spürbare weitere Fortschritte bereiten. Das KSZE-Folgetreffen im November 1980 in Madrid sollte uns dazu Mut machen. Es besteht kein Grund, daraus Resignation abzuleiten.
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HoppeEs gibt vielmehr, meine Damen und Herren, Hinweise dafür, daß auch die Sowjetunion gewillt ist, sich aus ihrer rein abwehrenden Haltung zu lösen. Die von Staats- und Parteichef Breschnew bei seinem Besuch im Mai hier in Bonn unterschriebenen Dokumente weisen das aus.Nicht weniger bedeutungsvoll sind die unter Mitwirkung der sowjetischen Delegation auf der dritten Interparlamentarischen Konferenz in Wien verabschiedeten Grundsätze. Grundsätze, die auch die Unterschrift der DDR tragen, was in Fragen der Familienzusammenführung nicht ohne Wirkung bleiben sollte.
Meine Damen und Herren, niemand in diesem Hause gibt sich dem Trugschluß hin, daß die Entspannungspolitik und die in ihr eingebettete Behandlung der Menschenrechtsfrage den Systemgegensatz zwischen Ost und West und damit auch die unterschiedliche Definition der Menschenrechte aufheben kann. Der westliche Freiheitsbegriff wird von den herrschenden Kräften in den kommunistischen Staaten ganz bestimmt nicht übernommen. Ebensowenig werden wir jemals akzeptieren, was im Ostblock an Einschränkung der Grundfreiheiten — und das sozusagen systemimmanent — praktiziert wird.Der Präsident der Vereinigten Staaten hat seine und, wie ich meine, auch unsere Position in der Menschenrechtsfrage präzise beschrieben, als er feststellte:Wir können die Struktur der Regierungen in anderen Ländern nicht verändern. Wir können nicht verlangen, daß ein Regierungssystem oder dessen grundlegende Weltanschauung mit dem unseren übereinstimmt. Aber wir müssen uns das Recht vorbehalten, uns frei und offensiv zu äußern, wenn wir uns betroffen fühlen.Es war auch Präsident Carter, der zu Recht das Prinzip unterstrichen hat, daß für Menschenrechte nur dann überzeugend gefochten werden kann, wenn ihre Behandlung nicht unter dem Aspekt der Machtpolitik und der falschen Rücksichtnahme gegenüber Verstößen auch in der westlichen Welt erfolgt.Dieses Prinzip wird erfreulicherweise auch sichtbar in der Großen Anfrage der CDU/CSU. Es heißt dort nämlich:Unsere Solidarität gehört allen Menschen, die in der Welt, gleichgültig, unter welchem System sie leben, in ihren Menschenrechten verletzt sind.Es ist leider nicht ohne Ironie, daß diese notwendige und zutreffende Aussage gerade vom CSU-Landesgruppenchef Dr. Zimmermann unterschrieben worden ist. Es ist auch nicht zu erkennen, daß die menschenrechtsverletzende Apartheidspolitik in Südafrika die politische Haltung der Opposition in ihrer Afrikapolitik spürbar beeinflußt hätte.
Ich muß befürchten, daß eher das Gegenteil der Fall ist. Wer die Ausfälle von Franz Josef Strauß gegen die Afrikapolitik des Außenministers noch im Ohr hat, muß annehmen, daß hier ein Kurs eingeschlagen werden soll, der militärstrategische Aspekte über alles stellt, auch über die Menschenrechte.
Gerade sie aber gilt es für möglichst viele Menschen in allen Regionen der Welt zu verwirklichen. Nur auf diesem Wege wird auch der zweifellos schwierige Prozeß der friedlichen Auflösung des explosiven Konflikts in Südafrika gefördert werden können.Meine Damen und Herren, die Freien Demokraten haben sich zu keinem Zeitpunkt auf die Aufspaltung der Menschenrechtsfrage eingelassen. Sie verstehen gerade auch den Nord-Süd-Dialog als wichtigen Teil dieses Komplexes. Sie wissen allerdings auch, daß wir uns übernehmen würden, wollten wir sozusagen als Präzeptor dem Rest der Welt zeigen, wo und wie es langzugehen hat.Die Fülle der Probleme ist in den letzten Jahren leider nicht kleiner geworden. In vielen Ländern der Erde werden selbst die elementarsten Rechte der Menschen immer noch mit Füßen getreten, in Lateinamerika ebenso wie in Asien, in Europa, in Afrika. Die Aufzählung des Grauens unserer Tage würde sehr zeitraubend sein. Die Lage der Menschenrechte aber wird sich nur bei einem Fortgang der Entspannungspolitik verbessern lassen. Dabei darf Entspannungspolitik nicht nur im Verhältnis zwischen den Staaten praktiziert werden, sondern muß für den einzelnen Staatsbürger unmittelbare Wirkung zeigen.Dieser Zusammenhang aber verbietet wiederum marktschreierische Anklagen und ideologische Scheuklappen. Er fordert von uns Behutsamkeit und Beharrlichkeit.Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage klargemacht, daß es ihr oberstes Ziel bleibt, im Rahmen ihrer Friedenspolitik alle Möglichkeiten für eine Verbesserung der Lage der Deutschen zu nutzen. Der Bau der Mauer im August 1961 setzte dem Freiheitswillen der Menschen ein schier unüberwindbares Hindernis entgegen. Der Graben der Teilung wurde tief wie nie zuvor. Moskau und Ost-Berlin haben in den Jahren bis 1969 nichts unversucht gelassen, ihn weiter auszuhöhlen. Die Menschen in beiden Teilen Deutschlands und Berlins litten und leiden noch darunter.Um Menschenwürde und Menschenrecht ging es schon am 17. Juni 1953. Darum geht es uns auch heute noch. Deshalb ist es nur folgerichtig, daß wir uns — ungeachtet der fundamentalen Gegensätze zwischen den beiden deutschen Staaten — seit 1969 auf ,den mühsamen und steinigen Weg vertraglicher Abmachungen begeben haben, um damit Nutzen für die Menschen in ganz Deutschland zu bewirken.Die unmenschliche Grenze mitten durch Deutschland besteht nach wie vor, doch sie ist durchlässiger geworden. Mehr als 45 Millionen Reisen und täg-
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7850 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Hoppeliche Besuche sprechen ihre eigene Sprache. Doch das Erreichte kann uns nicht zufriedenstellen., Es ist notwendig, durch eine auf Abbau der Spannungen gerichtete Politik für die Menschen die Last der Teilung weiter zu mildern.Der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker hat sich dieser Tage zu den innerdeutschen Beziehungen und den anstehenden innerdeutschen Verhandlungen geäußert. Er wird wissen, daß es mit technischen Projekten, wie etwa auch mit dem sinnvollen Autobahnneubau zwischen Berlin und Hamburg, allein noch nicht getan ist. Honecker selbst steht vor allem im Wort, was die Senkung der Altersgrenze bei Reisen der DDR-Bürger in die Bundesrepublik Deutschland angeht. Dieser Schritt wird kommen müssen, wenn die DDR-Führung den von ihr mit unterzeichneten Prinzipien von Helsinki gerecht werden will.Die DDR-Führung sollte auch keine neuen Streitpunkte schaffen. Ich meine damit ihre inakzeptable Reaktion auf die Reden Bonner Politiker zur 25. Wiederkehr des 17. Juni 1953. Mit der behaupteten „Einmischung in die inneren Verhältnisse der DDR" haben diese Reden nichts zu tun, wohl aber mit dem Verständnis der Deutschen von ihrer gemeinsamen Geschichte und ihrer gemeinsamen Zukunft. Wir unterstreichen das, was der Herr Bundespräsident am 17. Juni hier im Deutschen Bundestag erklärt hat. Diese Haltung weiß die Pflicht und das Recht auf ihrer Seite.Leider muß ich beklagen, daß die DDR mit dem Status Berlins nicht ebenso korrekt umgeht. Ich spreche in diesem Augenblick von Nico Hübner. Er sitzt. in Haft, weil Ost-Berlin glaubt, sich aus der Viermächteverantwortung herauslösen zu können. Jedermann in diesem Hause weiß, daß alle Parteien auf einer Sondersitzung des Berliner Abgeordnetenhauses in Übereinstimmung mit dem Senat von Berlin gemeinsam gegen diese Verletzung der Menschenrechte Front gemacht haben. Jedermann weiß, wie die für den Berlinstatus zuständigen Mächte auf diesen Vorgang reagiert und was sie dazu erklärt haben. Jedermann weiß, daß der Deutsche Bundestag in dieser Sache nicht helfen kann. Tun wir nicht so, als ob wir eine faktische Wende herbeiführen könnten. Es werden auf fragwürdige Weise Erwartungen geweckt, ohne daß die Voraussetzungen gegeben wären, für die praktische Vollziehbarkeit zu sorgen. Ich bin nicht gegen den öffentlichen Protest; aber die hier gewählte Form eines Antrags im Deutschen Bundestag ist mehr als problematisch.Meine Damen und Herren, für alle, auch für die CDU/CSU, müssen die bitteren Lehren des 13. August 1961 gelten. Es ist zu bedenken, daß die Diskrepanz zwischen Recht und Macht nicht durch Resolutionen zu beseitigen ist.
Noch ein Wort zu Erich Honecker. Wenn es zutrifft, was in der jüngsten Ausgabe des „Spiegel" über seine Unterredung mit unserem Ständigen Vertreter in Ost-Berlin, Staatssekretär Gaus, berichtet wurde, dann muß ich für meine Fraktion mit Entschiedenheit den Versuch zurückweisen, dieBundesregierung quasi zur Einflußnahme auf die westdeutsche Berichterstattung anzuhalten. Das hieße Zensur, und das kann auch nicht andeutungsweise in Frage kommen.
Der umgekehrte Weg scheint mir erfolgversprechender zu sein, nämlich eine ausführliche Berichterstattung über die Lebensverhältnisse in den beiden Teilen Deutschlands. Je mehr Menschen und auch Regierungen voneinander erfahren, um so mehr werden Unklarheiten beseitigt und die Quellen des Mißverständnisses ausgetrocknet. Es wäre gut, wenn gerade aus diesem Grunde zwischen den beiden deutschen Staaten mit der Absichtserklärung von Helsinki Ernst gemacht würde.Es wäre nützlich, die Zusammenarbeit zwischen den Rundfunk- und Fernseheinrichtungen zu fördern, insbesondere durch den Austausch von Rundfunk- und Fernsehprogrammen. Für die Diskussion über die Menschenrechte und ihre Verwirklichung ist dieses Problem sicherlich nur von bescheidener Bedeutung, aber aus der Vielzahl solcher Einzelmaßnahmen wird sich letztlich die qualitative Veränderung der Beziehungen zwischen den Staaten und der Menschen untereinander auch bei unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen ergeben. Diese am praktischen Nutzen für den einzelnen Menschen orientierte Politik werden die Freien Demokraten unbeirrt fortsetzen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Czaja.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die bisherigen Sprecher der Koalition haben kaum das nach vorne weisende Ziel der Großen Anfrage der CDU/CSU aufgegriffen, vielleicht mit Ausnahme der Schlußausführungen des Kollegen Hoppe, nämlich den politischen, den geistigen Wettbewerb in der Aussprache über eine vorwärtsdrängende, über eine ständige, über eine friedliche, aber eine offensive Politik zugunsten der schrittweisen Verminderung der Menschenrechtsverletzungen auch in Deutschland und gegenüber den Deutschen.Man sprach von übertriebener Zurückhaltung, man sprach gegen die Leistungen der Union. Herr Brandt, es geht nicht um eine Rivalität, sondern es geht um den Wettbewerb darüber, was zu tun ist, was besser zu tun ist und mit welchen Mitteln es besser zu tun ist. Dazu haben Sie in der ganzen Debatte leider nichts gesagt.
Nach Belgrad aber dürfte es keinen menschenrechtlichen Defätismus und keine Resignation geben. Vertröstungen auf Madrid genügen nicht. Für Konferenzen gilt das Einmütigkeitsprinzip, also der kleinste gemeinsame Nenner. Leider sind auch die multilateralen Kontrollorgane unzureichend, und das ist alles zu wenig. Es fällt doch außerordentlich auf, daß die Vertreter der Koalition in der ganzen De-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7851
Dr. Czajabatte kaum ein einziges Mal zu den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen auch nur einen einzigen Satz gesagt haben.Die Bundesrepublik Deutschland müßte so wie die USA und Großbritannien mehr, auch von Staat zu Staat, bilateral — der Außenminister hat das in einem einzigen Satz angedeutet —, insbesondere auch gegenüber den Staaten des Ostblocks, die Erfüllung der Rechtsverpflichtungen, auch der Rechtsverpflichtungen des politischen Menschenrechtspaktes der Vereinten Nationen, einfordern. Sie haben dazu das Vertragsrecht, Sie dürfen es, und Sie können es. Die Bundesrepublik Deutschland muß sich stärker als bisher der in den internationalen Beziehungen zulässigen Mittel mit dem ganzen wirtschaftlichen und politischen Gewicht unseres Staatswesens zur Durchsetzung der Menschenrechte, und zwar unter Wahrung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit der Mittel, bedienen. Darauf bestehen wir.
Nach 18jährigen Beratungen ist der 1966 angenommene politische Menschenrechtspakt der Vereinten Nationen 1976 wirksam geworden. Er bietet eine viel festere Grundlage für die Menschenrechte als die Schlußakte von Helsinki. Nach anfänglichem Zögern haben die Staaten des Ostblocks ebenso wie die westlichen Staaten ratifiziert; die USA haben den Pakt unterzeichnet und berufen sich bis zur Ratifizierung auf das Völkergewohnheitsrecht und die Kombination von Menschenrechtsdeklarationen und UN-Charta zugunsten der Menschenrechte.Meine Damen und Herren, ich meine, nicht Helsinki, sondern das Jahr 1976 ist rechtlich und für eine Politik, die auf dem Recht gründet, die entscheidende Zäsur für die Menschenrechte. Schon vor der Wahl des neuen Präsidenten hat der amerikanische Kongreß die Menschenrechte als zentralen Gegenstand zeitgemäßer Außenpolitik behandelt. Der neue amerikanische Präsident entschied sich für diese Wende in der Außenpolitik, der Premierminister von Großbritannien ist beim NATO-Gipfel an seine Seite getreten.Aber der amtierende Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat die Tragweite dieser Wende ebenso verkannt wie die der Verknüpfung der Menschenrechte mit der ganzen deutschen Frage, und das bedauern wir. Deshalb hat er sich in Kanada zwar im Grundsätzlichen zu den Menschenrechten bekannt, aber in der Gangart deutlich von unseren bedeutendsten Verbündeten abgesetzt, und er hat es unterlassen, unsere deutschen menschenrechtlichen Fragen intensiv an die Verbündeten heranzutragen.Präsident Carter selbst — Herr Brandt, Sie brauchen gar nicht auf Shulman und seine Interpretation zu rekurrieren — hat bei der NATO-Gipfelkonferenz betont, daß die Aufgaben der atlantischen Allianz die Wahrung der Menschenrechte enthalten, unid Callaghan hat dem zugestimmt, indem er auf demselben NATO-Gipfel hervorgehoben hat, daß die Moskauer Haltung zu den Menschenrechten einer der drei Gründe der Spannung im heutigen Europaund in der Welt ist. Die Bundesregierung hat leider diese Verpflichtung der politischen Präambel des NATO-Vertrages zugunsten der Menschenrechte, auch zugunsten der Menschenrechte der Deutschen, noch nicht genügend aufgegriffen.Im halbjährlichen Bericht an den Kongreß nennt der amerikanische Präsident ohne Scheu — Herr Corterier, das muß man hinzufügen: ohne Scheu — im Detail Erfolge und Mißerfolge von realistischen, auch die Umstände flexibel berücksichtigenden stillen Interventionen, aber auch von öffentlichen Demarchen der USA in vielen Staaten. Und — das scheint entscheidend zu sein — die Erweiterung oder Beschränkung wirtschaftlicher und politischer Hilfen, z. B. die Verlängerung oder Beendigung der Meistbegünstigungsklausel, spielt dabei eine große Rolle. Im Bundestag fehlen bisher solche umfassenden und konkreten Berichte über die menschenrechtliche Lage,
und diese bräuchten wir.Für Südamerika habe — so Herr Brandt — Carters neue Aktivität sich gelohnt, aber wir hätten uns sehr gefreut, wenn Sie, Herr Brandt, hätten ausführen können, daß des deutschen Bundeskanzlers Aktivität sich in diesen Fragen bisher ebenfalls gelohnt hat.
Das haben Sie nicht gesagt.Ich meine, eine deutsche Entspannungspolitik wird bei Verbündeten und Gegnern nur dann wirklich ernst genommen werden, wenn sie es auch wagt, die Menschenrechte für die Deutschen und die berechtigten Interessen Deutscher ebenfalls einzufordern; sonst ist sie nicht echt.
Dabei müssen natürlich Maß, Respekt und Klugheit auf der einen Seite, Mut und Offenheit auf der anderen Seite miteinander verbunden werden.Unsere Diplomatie darf bei der Vertretung der Grund- und Menschenrechte nicht, wie es in der Antwort heißt, nach völlig freiem Belieben entscheiden, denn mit den Grundrechten und mit den vertraglichen Rechten korrespondieren auch Pflichten. Zu Recht verlangt Solschenizyn, daß die freie Welt endlich nicht nur von der Freiheit redet, sondern dafür auch Pflichten erfüllt. Wenn sich der Staatssekretär im Bundespräsidialamt, Frank, vor wenigen Tagen im „General-Anzeiger" dagegen wendet, Menschenrechte überhaupt zu einem Gegenstand der Politik zu machen, so übersieht er ganz schlicht diese vertraglichen Pflichten.Bei Vorhandensein vertraglicher Pflichten ist Nichtstun bei der Verwirklichung der Menschenrechte eigentlich Willkür. Politische Bequemlichkeit und bängliches Zagen helfen nicht weiter. Die Professoren Tomuschat und Kriele unterstreichen auch die zu der Regierung hinzutretende weitergehende Verpflichtung der freien gesellschaftlichen Kräfte in dieser Sache.
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7852 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Dr. CzajaDie Ausrede auf die politische Großwetterlage zieht auch nicht; denn Entspannung, Frieden und Menschenrechte — auch das sollte man im Zusammenhang mit den Prioritäten erwähnen, Herr Brandt — gehören untrennbar zusammen. Da gibt es keine Priorität. Entspannung muß ein menschliches Antlitz haben, wie Goldberg in Belgrad sagte.Kardinal Höffner erklärte namens der Deutschen Bischofskonferenz zu Recht:Die Menschenrechte müssen nicht nur dort eingefordert werden, wo das bequem geht, sondern auch gegen den Zorn der Mächtigen. Wir dürfen nicht weghören, wenn das Schreien der Verfolgten aus ihrem Machtbereich kommt.Ich möchte festhalten: Der Vertragsstaat, der bei anderen Vertragsstaaten des politischen Menschenrechtspaktes für alle Bürger der Vertragsstaaten die verbrieften Vertragsrechte einfordert, begeht in keiner Weise eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates.
Ich möchte auch noch hinzufügen, daß die Entscheidung zu einem wirksameren, wenn auch flexiblen Handeln zugunsten der Menschenrechte auf Grund des Menschenrechtspaktes und des allgemeinen Völkerrechts bei der Bundesregierung leider noch aussteht.Die betonte Einforderung der Menschenrechte von Vertragsstaat zu Vertragsstaat bedeutet natürlich keine generelle Ablehnung von Konferenzen.Nach Ihren Vorhaltungen nur noch ein Wort zu Helsinki: In Helsinki wurden 1975 fundamentale Unterschiede in der Auslegung der Menschenrechte verbal überdeckt und verschleiert. Es sei zugegeben, daß das 20 Jahre vom Ostblock verfolgte Ziel, die rechtliche Festschreibung aller Eroberungen durch eine Art Ersatzfriedensvertrag zu bekommen, zurückgesteckt wurde. Aber 35 Staatsoberhäupter haben sich in einer großen Schau dieser marxistisch-leninistischen Doppeldeutigkeit in fundamentalen Fragen geistig und politisch unterworfen. Dagegen und nicht gegen die Erörterung der Entspannung und der Menschenrechte haben wir uns gewehrt. Wenn viele die Täuschung als Wahrheit bezeichnen, muß es auch solche geben, die die Täuschung noch bei ihrem Namen nennen.Auf ihrem Höhepunkt ist diese Täuschung allerdings geplatzt und auf die Urheber zurückgeschlagen. Die Menschenrechtler nahmen die Dialektiker beim Wort. Das hat weniger die geistige Offensive des Westens geschafft, sondern die ungebrochene Kraft der auch in totalitärer Umgebung dem Menschen innewohnende Würde, aber auch das Übermaß der Täuschung.An Belgrad kritisieren wir nicht, daß auch mit deutlicher deutscher Unterstützung — das haben wir auch im Ausschuß immer betont — im Grundsätzlichen die Einforderung der Menschenrechte behandelt und über einen Teil unerfüllter Versprechungen offen geredet wurde. Das war gut. Aber wir kritisieren entschieden, daß nach dem Willen der Bundesregierung die menschenrechtlichen Fol-gen der deutschen Teilung nur am Rande erörtert werden durften. Das beweisen die Protokolle, das beweisen die Gespräche mit anderen Delegationen. Dieses Am-Rande-Stehen hat der Herr Bundesaußenminister in seinem Bericht nicht genügend stark hervorgehoben. Bereits am 26. August 1975 — inzwischen auch vom Auswärtigen Amt der Sowjetunion dokumentiert — hat Herr Honecker öffentlich behauptet, er sei schon vor Helsinki mit dein Bundeskanzler Schmidt einig gewesen, die Not der Deutschen, auch der Berliner, auszuklammern. Wir haben dazu nie ein Wort der Widerlegung gehört.Ich meine, daß die Bundesregierung irrt, wenn sie sagt, die breitere Erörterung der menschenrechtlichen Not der Deutschen in Belgrad wäre eine bedenkliche Sonderbehandlung gewesen. Im Gegenteil: Das fast völlige Schweigen über die menschenrechtlichen Folgen der Teilung in Deutschland ist eine gefährliche und schädliche Sonderbehandlung der Deutschen auf internationaler Ebene.
Der Ostblock hat dieses Entgegenkommen mit weiterem Druck auf die Menschen und neuen Schwierigkeiten für die Lage des freien Berlin honoriert. Und so verkannte die Bundesregierung auch die Bedeutung des Weißbuchs der Union und anderer Dokumentationen, wie des Bundes der Vertriebenen, die allerdings der Außenminister als einen Beitrag zur Menschenrechtsvertretung anerkannte.Unsere Außenpolitik tut zu wenig für die Menschenrechte. In gemeinsamen Demarchen haben beispielsweise die Staaten der Europäischen Gemeinschaft einschließlich der Bundesrepublik wegen der Menschenrechte in Chile, Argentinien und Uruguay protestiert. Wurde in der Europäischen Gemeinschaft und in der Unterredung des Bundesaußenministers mit dem amerikanischen Delegierten Goldberg, die ausführlich stattfand, vor Belgrad auch der ganze Umfang der menschenrechtlichen Lage der Deutschen unter fremder Herrschaft dargelegt? Wurden gemeinsame Demarchen gefordert?Ich habe vor allem über die Lage der Deutschen in Ostdeutschland, in Ost-Mitteleuropa und Osteuropa einiges zu sagen. Bei den sich mehrenden Freundschaftsbesuchen im Ostblock ist die Dürftigkeit der Aussagen zu den Menschenrechten der Deutschen in den bilateralen Kommuniqués selbst für eine vorsichtige Regierungspolitik erschütternd.Im Kommuniqué von Bukarest wird der Welt kundgetan, daß man zusammen mit der rumänischen Führung die legitimen Rechte der Palästinenser unterstütze. Aber ansonsten fehlt jeder Hinweis auf die verzweifelte Lage und Fluchtbewegung der Siebenbürger Sachsen' und der Banater Schwaben. Herr Brandt, ich teile Ihre Auffassung, daß man Menschen in ihren Wohnsitzen, in ihrem Kulturbereich halten muß, solange und soweit es geht.
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Dr. CzajaAber Sie müssen sich doch nicht mit verbalen Erklärungen, daß dieses alles getan werden soll, zufriedengeben, sondern Sie müssen mit den Menschen reden und sie fragen, warum diese Fluchtbewegung eingesetzt hat.
In Warschau standen nach dem Kommuniqué im Vordergrund der Gespräche die polnischen Forderungen zum Verteidigungsbeitrag der Deutschen in der NATO. Nichts aber davon ist zu lesen — und da spürt man, wie wenig man mit den Menschenrechtspakten umgeht —, daß etwa die polnischen Gesprächspartner auch nur um Erfüllung der Polen seit 1977 bindenden Vertragsverpflichtungen des Menschenrechtspaktes der Vereinten Nationen ersucht worden seien, nämlich die kulturellen, Herr Brandt, und die individuellen Rechte Deutscher, vor allem der über 11/4 Millionen deutschen Staatsangehörigen, zu gewährleisten und die Ausreisefreiheit zu sichern.
Die Aussage des Bundeskanzlers, er hätte keinen Satz in Warschau anders formulieren können, als der kommunistische Parteisekretär Gierek es tat, kann sich doch unmöglich auf die Lage der Deutschen dort bezogen haben.
Dabei fordern wir nicht, wie ungeeignete politische Referenten des Auswärtigen Amtes es meinen, brachiale Zwangsmaßnahmen, sondern wir fordern ernsthafte diplomatische Schritte nach den im internationalen Verkehr zugelassenen Mitteln, gegebenenfalls Versagung zusätzlicher wirtschaftlicher Vorteile dann, wenn ständig die Menschenrechte Deutscher mit Füßen getreten werden.
Unrichtig ist, daß die Ausreisezahl insgesamt steigt. Dies gilt nicht für die Tschechoslowakei. Andere Kollegen werden mehr dazu sagen. Aus dem polnischen Verwaltungsbereich sollten laut Ausreiseprotokoll nach den Erklärungen der Bundesregierung vor dem Bundesrat in den Jahren 1976 und 1977 62 500 Deutsche mit polnischen Ausreisepapieren kommen. Gekommen sind tatsächlich 55 000. Die Bundesregierung rechnet geflüchtete Personen ohne polnische Ausreisepapiere dazu.Auch der Verweis auf frühere Bundesregierungen hinkt. Konrad Adenauer hat ohne Verkopplung mit Gebietsfragen 1957 und 1958 gegen die Lieferung von einigen tausend Tonnen Getreide, die übrigens unmittelbar den Menschen in Polen zugute kamen, die Ausreise von 220 000 Deutschen in zwei Jahren bewirkt. 1976 und 1977 waren es nach ungeheuren politischen Zugeständnissen nur 55 000.Auch die Fraktionen des Bundestages sind für die Menschenrechte in Pflicht genommen. Der Vorsitzende der SPD-Fraktion bezeichnete 1968 in einemhervorragenden Buch von Willi Strzelewicz die Menschenrechte als „Urrechte", an denen keiner vorbeikommt. Seit 1977 aber hörten wir aus Warschau und Prag von den SPD-Besuchern nur von Angriffen gegen die deutsche Opposition. Oder haben bei den intimen Dauerkontakten, beispielsweise mit dem polnischen Politbüromitglied Babiuch, auch diese „Urrechte" der Deutschen eine Rolle gespielt? Wenn dies der Fall wäre, wäre es anerkennenswert; aber man sollte es auch sagen.Werden die Menschenrechte der Deutschen von unseren östlichen Nachbarn bei einer solchen Vertretung der Anliegen in einer Weise eingefordert, daß diese Forderungen auch von den Vertretern des Ostblocks ernst genommen werden? Wissen unsere Regierungsmitglieder, wie verlassen sich diese Menschen in ihrer Heimat fühlen? Wie wäre es, wenn man bei Staatsbesuchen, z. B. auf der Fahrt durch Oberschlesien und Ostpreußen in den Gemeinden einmal ausstiege und mit den deutschen Staatsangehörigen, von denen man ja Schaden abwenden will, selbst spräche? Man würde dann bittere Wahrheiten hören, von denen uns täglich aufmerksame Besucher berichten.
Meine Damen und Herren, wird das in Zukunft besser werden? Die Einleitung auf die Antwort zur Anfrage schweigt sich zu den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen völlig aus. In der Debatte war es dasselbe. Bei der Beantwortung der präzisen Einzelfragen zu den Pakten ist die Antwort spärlich. Das Interview Frank im „General-Anzeiger" ist ein schlimmes Vorzeichen.Wo sollen unsere Schwerpunkte sein? Der früh verstorbene israelische Menschenrechtler Zeltner meinte, die jeweils reale Mangelsituation entscheide darüber, welche Menschenrechte man in den Vordergrund stellt. Für die Deutschen unter fremder Herrschaft ist die Versagung aller kulturellen und sprachlichen Rechte und die Beschränkung der Ausreisefreiheit im Vordergrund.Die Antwort der Regierung bemerkt richtig, daß über Inhalt und Tragweite der einzufordernden Verpflichtungen Klarheit bestehen muß. Diese Klarheit bestand zwar weitgehend in der Begründung der Regierung zum Zustimmungsgesetz zu den Menschenrechtspakten; aber jetzt schweigt die Bundesregierung, Herr Brandt, zur praktischen Tragweite des Art. 27 des Politischen Menschenrechtspaktes, der die kulturelle Eigenart der einzelnen Angehörigen nationaler Gruppen in Gemeinschaft mit anderen Angehörigen in der Heimat gewährleisten soll.
Wir werden für die Deutschen in Ostdeutschland und. Osteuropa, darunter für die deutschen Staatsangehörigen in den Oder-Neiße-Gebieten in den Fragestunden konstant danach fragen, solange bis die Ausflüchte aufhören, auch wenn der Bundesaußenminister in seiner Haushaltsrede das unbequem findet. Man sollte lieber zur Vorbereitung der Antworten auf solche lebenswichtige Fragen geeig-
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Dr. Czajanetere Referenten heranholen. Es darf bei den Verpflichtungen nach Art. 27 keine Ausflüchte geben.Aus völkerrechtlichen und objektiven Gründen kann Polen die Voraussetzung für die Gewährleistung kultureller Rechte, nämlich die Existenz einer nationalen deutschen Gruppe, nicht leugnen. 400 000 haben schon mit den Füßen darüber abgestimmt, und die 270 000 unerledigten Ausreiseanträge beweisen das. Die Verpflichtungen des Politischen Menschenrechtspaktes und anderer Konventionen gegen nationale und rassische Diskriminierung müssen auch für die kulturellen Gemeinschaftsrechte der einzelnen Deutschen nach Treu und Glauben beachtet werden.Wenn dann eine manipulierte Geschichtsbetrachtung gegen die kulturellen Rechte der Deutschen angeführt wird, müßten sachkundige deutsche Diplomaten zum Schutz der Wahrheit die Akten der Völkerbundsverfahren aus der Weimarer Zeit, lange vor dem Mißbrauch des Volkstums durch den Nationalsozialismus, auf den Tisch legen und der geschichtliche Kampf großer Gruppen dieser Deutschen gegen jede Gleichhaltung dokumentiert werden. Die in Helsinki — das wurde schon von einem Kollegen bemerkt — zur Ausübung der kulturellen Rechte feierlich vorgesehenen zweiseitigen Verhandlungen sind mit Polen überfällig und leider, trotz der Zusagen an den Bundesrat, unterblieben. Dazu, daß es keine deutsche Schule, keinen deutschen Verein, keinen deutschen Gottesdienst gibt, schweigt die Bundesregierung in ihrer Antwort, obwohl danach gefragt ist.
Sie schweigt zur zwangsweisen Überführung von Zehntausenden von Kindern deutscher Eltern in eine fremde Nationalität. Wie steht es da um die Erfüllung des durch internationale Übereinkünfte in unser Strafgesetzbuch eingefügten § 220 a, der angesichts der schweren seelischen Schäden für die Kinder sogar unabhängig vom Tatort und unabhängig vom Recht des Täters auf Grund internationaler Übereinkünfte schwere Strafen dafür vorsieht? Der handlungsfähige Teil des deutschen Heimatstaates hätte auch die Pflicht, die völkerrechtswidrige Aufzwingung einer fremden Staatsangehörigkeit für 1 Million Deutsche ohne Befragung ihres Willens durch pauschalierende Gesetze anzufechten. Wegen dieser fehlenden Anfechtung bestreitet Polen die völkerrechtlichen Grundlagen der deutschen Schutzrechte.Ein tragisches Verwirrspiel bedroht auch die Geltung der Ausreisefreiheit. Mit Ausflüchten werden unbequeme Interventionen abgelehnt. Beim Zustimmungsgesetz zum Politischen Menschenrechtspakt in diesem Hause hat der Bundesjustizminister diese Gründe nicht vorgetragen. Die eindeutige Regelung der Ausreisefreiheit in Art. 12 Abs. 2 — „Jedermann darf sein Land verlassen" — darf nicht zur Ausnahme degradiert und die Beschränkung aus Gründen der öffentlichen Ordnung zur Regel erhoben werden.
Diese östliche Auslegung wird weder durch den Menschenrechtspakt noch durch die UNO-Satzung zusammen mit der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte, aber auch nicht durch die westliche Staatenpraxis gestützt.Die Bundesregierung muß mit ihren westlichen Vertragspartnern die richtige Auslegung der Ausreisefreiheit unterstützen. Im übrigen müssen Ausnahmen von der Ausreisefreiheit eindeutig gesetzlich geregelt und international überprüfbar sein.Trotz äußerster Bemühungen der Botschaften und der damit befaßten Beamten des Auswärtigen Amtes, denen unser Dank gilt, bemühen sich noch über eine halbe Millionen Deutsche mit unerledigten Ausreiseanträgen aus den Ostblockstaaten um die Ausreise. Von den 7 000 Härtefällen, die der Herr Bundeskanzler nach Warschau mitnahm, ist bisher nur ein Fünftel hierhergekommen, vier Fünftel sind nicht gekommen; 270 000 unerledigte Anträge gibt es darüber hinaus.Meine Damen und Herren, man hält uns deutsches Unrecht vor. Wir verschweigen keinesfalls deutsche Grausamkeiten und das Fehlverhalten deutscher Nationalisten. Aber auch die östlichen Nachbarn sollten das Unrecht in der Behandlung Deutscher nicht übersehen. Das frühere Unrecht wollen wir nicht vergessen machen, aber es kann weder moralisch noch rechtlich ständig neues Unrecht auch gegen die Deutschen rechtfertigen.Meine Damen und Herren, gerade diejenigen, die sich besonders gegen die brutale Behandlung der Polen eingesetzt haben, müssen sich darum bemühen, diese Gräben des Gegensatzes auszuräumen. Die deutschen Brutalitäten haben sicherlich einen tiefen Graben aufgerissen, aber es trägt nicht zur Verständigung bei, wenn man die Deutschen dort heute schlechter als ein Kolonialvolk behandelt.
Herr Kollege, ich muß Sie hier einmal unterbrechen. Wir hatten eine bestimmte Redezeit festgelegt.
25 Minuten!
Ja, und die sind abgelaufen. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß von Ihrer Fraktion noch ein weiterer Kollege sprechen möchte; Sie werden ihm etwas von seiner Redezeit wegnehmen.
Dr. Corterier [SPD]: Czaja hat seine Rede-
zeit noch nie eingehalten!)
Ich habe die vereinbarte Redezeit noch nicht ausgeschöpft.Zum Schluß komme ich noch zu zwei grundsätzlichen Problemen. Im Ostblock werden die menschenrechtlichen Vertragsverpflichtungen einer Ideologie untergeordnet. Menschenrechte sind aber nicht vom Staat verliehene Rechte. Nach dem Menschenrechtspakt sind alle Verpflichtungen nach der dem Menschen innewohnenden Würde auszulegen. Die Person steht für uns mitten im Geflecht von Ge-
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Dr. Czajameinschaftsverpflichtungen, bei deren Erfüllung sie erhöht und vervollkommnet wird. Aber auf keinen Fall darf für das Individuum ein Menschenrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.Einer der Mitgestalter des Godesberger Programms, Willi Strzelewicz, hat darauf verwiesen, daß erst der späte Marx in ideologischer Verblendung die Menschenrechte aus dem Erwerbsegoismus der Kapitalisten abgeleitet hat, daß er sie — beeinflußt vom spätromantischen Kollektivismus — in kollektivistischer Manier verkannte. Herbert Wehner hat in seinem Beitrag zu diesem Buch darauf hingewiesen, ,daß der frühe Marx in der sogenannten „Inauguraladresse" sogar umgekehrt die rechtlichen Beziehungen der Staaten aus der Verbindlichkeit individueller Rechte ableitete.
Dieses Bekenntnis sollte allerdings vom freiheitlichen Sozialismus 'den Kommunisten auch heute offen bei aktuellen Gesprächen entgegengehalten werden.Nun die letzte Frage: Soll man still intervenieren oder offen reden? Wir sprechen nicht von Leisetreterei, wo stille Interventionen zu einem Ergebnis führen. Aber die Menschen in Freiheit dürfen dort nicht schweigen, wo man mit solchen stillen Interventionen nicht weiterkommt. Man kann über die Grenzen Reden oder Schweigen verschiedener Meinung sein. Dazu ein unverdächtiger Zeuge aus einer anderen Zeit mit ähnlichen Problemen: Der Bischof von Münster, Graf von Galen, schrieb im Jahre 1941 dazu:Wenn andere sich gegenüber dem Umfang des Unrechts mit unbekannten schriftlichen Protesten begnügen, wäre es anmaßend, vielleicht auch töricht und verkehrt, durch die Flucht in die Öffentlichkeit noch brutalere Maßnahmen zu provozieren. Aber andererseits— so fügt er hinzu —kann ich mein Gewissen mit solchen Argumenten bald nicht mehr zur Ruhe bringen.Und er verweist auf die leidenschaftliche Aussage des Alten Testamentes dazu, die ich hier nur anführe, ohne sie auf unsere Dinge auszudehnen; sie lautet:Die Wächter des Staates sind alle blind und haben keine Einsicht,
alle sind sie stumme Hunde, die nicht bellen können. Träumend liegen sie da und lieben es zu schlummern.Die Opposition in einem freien Staat darf bei den Menschenrechten nicht zu den stummen Wächtern gehören. Die Völker, die die Menschenrechte nicht ständig zu gewährleisten suchen, sind, so meine ich, auf dem Weg zum geschichtlichen Untergang.
Herr Kollege, ich muß Sie nun wirklich bitten, zum Schluß zu kommen.
Für sie unter Beachtung der historischen Gegebenheiten einzutreten, ist Verfassungsauftrag und vertragliche Pflicht für Parlament und Regierung. Für die Union ist das eine sittliche und politische Aufgabe! Für die freie Welt ist es die große Chance einer gewaltfreien, einer dynamischen, einer sittlichen und einer geistigen Offensive!
Das Wort hat der Abgeordnete Hupka.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Weil in der Öffentlichkeit immer wieder davor gewarnt wird, vor allem seitens der Regierungsparteien, daß man die Menschenrechte in der Öffentlichkeit diskutiert, möchte ich mit einem Zitat beginnen, mit einem Satz des russischen Bürgerrechtlers Andrej Amalrik:Am Leben— so schreibt er —bin ich hauptsächlich wegen der Publizität geblieben, für die die sowjetischen Bürgerrechtler gesorgt haben. Ohne Publizität um meinen Namen hätte sich auch die sogenannte leise Diplomatie nicht um mich gekümmert. Daher ist Publizität die Hauptwaffe unserer Dissidentenbewegung. Erst seitdem es Proteste gibt, beachtet man die „leise Diplomatie".Ich meine, diejenigen müssen ins Unrecht gesetzt werden, die Unrecht begehen, damit diejenigen, die Unrecht erleiden, zu ihrem Recht kommen. Die Menschen, die in Unfreiheit leben, erwarten von uns — von uns, die wir in Freiheit leben —, daß wir uns zu ihnen bekennen, für sie entreten, für ihre Rechte streiten.Wie immer man auch zu den deutsch-polnischen Vereinbarungen und zur deutsch-rumänischen Erklärung bezüglich der Lösung der menschlichen Fragen stehen mag: Es steht fest, daß es das ausschließliche Verdienst der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gewesen ist und auch bleiben wird, immer wieder nach dem Schicksal der Deutschen in Mittel- und Ostdeutschland, in der Tschechoslowakei, in Rumänien und in der Sowjetunion gefragt zu haben.
Das heißt: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die grausamen Realitäten auf den Tisch gelegt, hat die Bundesregierung um Auskunft gebeten und diese gedrängt, es nicht bei Schönfärberei und nichtssagenden Ausflüchten bewenden zu lassen, sondern endlich tätig zu werden.Als die Zahl der Ausreisegenehmigungen — entgegen der verpflichtenden Zusage aus der „Information" zum Warschauer Vertrag — nach der Ratifizierung des Vertrages von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr rückläufig war, als Schikanen gegenüber den Ausreisewilligen bekannt wurden, versuchte die Bundesregierung, auf Gespräche und Verhandlungen, auf morgen und übermorgen zu ver-
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Dr. Hupkatrösten, ja, man bezeichnete es seitens der Bundesregierung sogar als wenig hilfreich, daß CDU und CSU immer Aufklärung und Handeln forderten. Herr Wehner hat dies in Prag und in Warschau — daran wurde schon erinnert — sehr lautstark so verkündet.Nicht anders verhielt es sich bezüglich des Ausreisebegehrens der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben in Rumänien. Auch hier wurde erst durch die Fragen der CDU/CSU-Abgeordneten offenkundig, wie es tatsächlich, d. h.: wie schlecht es um die Möglichkeit der Ausreise bestellt ist. So wie man zu den deutsch-polnischen Vereinbarungen mit einer wenigstens für vier Jahre geregelten und zahlenmäßig auf 125 000 Personen festgelegten Ausreise der Deutschen gelangt ist, kam es jetzt zu Beginn dieses Jahres zu einer deutsch-rumänischen Absprache, derzufolge in den nächsten fünf Jahren — entsprechend der Richtzahl aus dem vorigen Jahr — 55 000 die Erlaubnis zur Ausreise erhalten werden.In einer besonders tragischen Situation befinden sich die Deutschen in der Sowjetunion.
Die Überschriften in deutschen Tageszeitungen vermitteln ein leider zutreffenes Bild: „Drohung gegen Rußlanddeutsche nach Protestaktion in Moskau", „Sowjetdeutsche unter schwerem Druck", „Abschrecken aus Angst vor Ansteckung".In besonderem Maße sind wir dem russischen Atomphysiker und Nobelpreisträger Andrej Sacharow zu großem Dank verpflichtet.
Wiederholt hat er sich für das Ausreisebegehren der Deutschen persönlich eingesetzt und damit die Bundesregierung beschämt.Es ist jetzt aber dringend geboten, über die Repatriierungserklärung vom 8. April 1958 hinaus zu einer neuen bilateralen Absprache mit der Sowjetunion zu gelangen. In der Erklärung vom Jahre 1958 ist nur über die Reichsdeutschen und die Vertrags- sowie Administrativumsiedler etwas gesagt, also diejenigen Sowjetbürger deutschen Volkstums, die bis zum 21. Juni 1941, bis zum Überfall Hitlers auf die Sowjetunion, die deutsche Staatsangehörigkeit besessen haben. Überdies ist der Personenkreis sehr eng gezogen. Es werden nur die Ehegatten und die Kinder genannt und einbezogen.Wir wissen nicht, wie viele Rußlanddeutsche ausreisen möchten. Es dürften mindestens 100 000 sein; aber es können auch 200 000 sein. Im ganzen wohnen in der Sowjetunion 2 Millionen Volksdeutsche. 90 % von ihnen leben heute in den 'asiatischen Teilen der Sowjetunion. Früher waren das kaum 10 %Sowohl über die Zahl der ausreisewilligen Deutschen als auch über einen bestimmten Zeitraum und nicht zuletzt über eine gesicherte Prozedur des Verfahrens sollte es endlich zu einer neuen, verbindlichen Absprache kommen.Aber auch die Gewährung der Volksgruppenrechte sollte Gegenstand deutsch-sowjetischer Absprachen und Vereinbarungen werden. Der vor Jahren gesprochene Satz Sacharows hat leider immer noch seine Gültigkeit — ich darf zitieren —:Die Deutschen haben im höchsten Maß gelitten unter den Grausamkeiten der Verschleppung, der Verfolgung, der Diskriminierung, der Unterdrückung ihrer Kultur und der ständigen Verletzung ihrer natürlichen Gefühle.Wenn die vielgepriesene Verbesserung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses nicht nur eine Wortkaskade bleiben soll, muß die Bundesregierung entschiedener und tatkräftiger vorgehen, als es ihre Antwort zu der Großen Anfrage besagt.
In dieser Antwort heißt es:Angesichts der bekannten sowjetischen Haltung bezüglich einer administrativen und kulturellen Autonomie der deutschen Volkszugehörigen sieht die Bundesregierung unter den gegenwärtigen Umständen keine Aussicht für eine Lösung dieser Frage.Das klingt nach Kapitulation. Das ist die Rechtfertigung des eigenen Nichtstuns. Niemand unterschätzt die Schwierigkeiten. Aber wir vermissen das Engagement der Bundesregierung.Einige Bemerkungen sind auch zur Tschechoslowakei geboten. Es muß doch möglich sein festzustellen, wie viele Deutsche tatsächlich ausreisen wollen. 1973, bei Abschluß des Prager Vertrags, waren es 20 000 Ausreisewillige, die dem Deutschen Roten Kreuz bekannt waren. Dann ging die Zahl plötzlich auf 3 500 zurück. Und heute sollen es, wie das Deutsche Rote Kreuz zu berichten weiß, nur noch einige hundert Fälle sein. Etwa 1 000 Einzelpersonen, darauf haben sich die beiden Rote-Kreuz-Gesellschaften verständigt.Nur ist damit nichts darüber gesagt, wie viele Deutsche wirklich ausreisen wollen. Es ist darum leider der Schluß erlaubt, daß die Deutschen unter Druck gesetzt worden sind, weshalb der Ausreisewillige von gestern heute seinen Antrag nicht mehr aufrechterhält: aus Furcht vor Schikanen.
Wenn es angeblich, wie der erste Mann der Tschechoslowakei gesagt hat, nur noch „einige Dutzend" sind, müßte das Ausreiseproblem übrigens binnen weniger Monate gelöst sein.Darüber hinaus muß die Forderung erneuert werden, den Deutschen die ihnen bis heute vorenthaltenen Volksgruppenrechte endlich einzuräumen.
In der jüngsten gemeinsamen Erklärung, die am 7. Januar 1978 von Bundeskanzler Schmidt und dem rumänischen Staats- und Parteichef Ceaucescu in Bukarest unterzeichnet worden ist, findet sich das Wörtchen „wohlwollend" sogar in der Steigerung
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Dr. Hupka„weiterhin wohlwollend". Wie man zu dieser Formulierung „weiterhin wohlwollend" gelangt ist, bleibt für den deutschen Beobachter der Ausreisepraxis und der Praxis der Erteilung der Heiratserlaubnis, vor allem aber für die Betroffenen ein Rätsel.
Die Ausreisepraxis, vor allem die Ausreisemodalitäten, haben sich nach der Bukarester Erklärung bis heute überhaupt nicht geändert. Noch immer warten Tausende von Ausreisewilligen darauf, erst einmal überhaupt das Formular ausgehändigt zu bekommen, um einen Antrag auf Ausreise stellen zu können. Es gibt Fälle, in denen bis heute über ein Jahrzehnt hinweg das Formular für den Antrag überhaupt nicht greifbar war. Befragungen, die im Grunde nichts anderes als Verhöre durch die Staatssicherheitsorgane sind, gehen einer Ausreise im allgemeinen voran. Grimmige Beschimpfungen sind die Regel. Es gehört darum schon sehr viel Mut dazu, den Willen zur Ausreise zu bekunden und Jahre hindurch aufrechtzuerhalten; denn als Ausreisewilliger ist man für die Partei und damit für den Staat ein Geächteter, der überdies gar nicht weiß, ob er jemals die Erlaubnis zur Ausreise erhält.An die Adresse von Herrn Brandt sei gesagt: Natürlich würden die Deutschen gern zu Hause bleiben, wenn sie wenigstens das Recht hätten, frei zu leben; aber sie dürfen in Rumänien unter dem Kommunismus nicht frei leben. Deswegen der Drang zur Ausreise.
Besonders schwer haben es diejenigen, die den Antrag für eine Heiratserlaubnis stellen. Sie verdienen eigentlich Bewunderung, da sie eine unmenschliche Prozedur des Vorsprechens und Wartens, des Wartens und Vorsprechens auf sich nehmen. Das sind junge Menschen, die von der Zukunft etwas erwarten. Sie müssen drei, vier Jahre warten, wenn sie überhaupt die Erlaubnis zur Ausreise erhalten.Im Ringen um die Menschenrechte werden wir nur dann Erfolg haben — das möchte ich zum Schluß sagen —, wenn wir zur Gemeinsamkeit zurückfinden. Wir haben nicht nur keine Gemeinsamkeit bezüglich der deutschlandpolitischen Probleme, sondern durch das Verhalten der Koalitionsparteien leider auch keine Gemeinsamkeit im Ringen um die Menschenrechte, in der Frage, wie man sich am tatkräftigsten für die Menschenrechte einsetzt.
— Ich mit Ihnen auch nicht, Herr Wehner.
Es geht nicht an, das Eintreten für die Menschen-rechte als einen Rückfall in den Kalten Krieg zubezeichnen oder das schweigende Stillsitzen im Par-lament zu verlangen, wie Sie, Herr Wehner, es ausgerechnet in den Diktaturen, in Polen, in der Tschechoslowakei, getan haben.
Gemeinsam haben wir die Pflicht, den Menschen zu helfen,
— Sie brauchen mir an Demokratieverständnis nichts beizubringen —, ihre Rechtlosigkeit anzuklagen und für die Gewährung der Menschrechte mit allen Kräften gegenüber jedermann einzutreten, auch und gerade gegenüber den Mächtigen der Staaten, in denen Deutsche leben. Es ist leider genauso, wie es kürzlich in einer Zeitschrift ausgedrückt wurde: „Wer ausreisen darf, werden auch in Zukunft die Mächtigen in diesen Ländern festlegen; die Betroffenen sind nicht gefragt."Ich möchte mir für unsere Fraktion zu eigen machen, was der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz in einer Erklärung aus Anlaß von Husaks Besuch in der Bundesrepublik Deutschland formuliert hat als „die Entschlossenheit, aus Solidarität mit den Verfolgten und Unterdrückten jederzeit für die Menschenrechte einzutreten".Für die CDU/CSU-Fraktion stelle ich zum Schluß den Antrag, daß unser Entschließungsantrag auf Drucksache 8/1942 an den Auswärtigen Ausschuß — federführend — und an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen — mitberatend — überwiesen wird.
Das Wort hat der Herr Außenminister Genscher.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann nur hoffen, daß der Beifall, den der Abgeordnete Hupka soeben von seiner Fraktion erhalten hat, nicht allen Passagen seiner Rede gegolten hat.
Die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa und ihre Erörterung auf dem KSZE-Überprüfungstreffen in Belgrad war das Thema dieser Debatte. Kein Thema hätte sich besser zur Gemeinsamkeit geeignet als die Frage der Menschenrechte.Herr Hupka, ich weise mit Entschiedenheit Ihre Unterstellung zurück, daß diese Regierung und die sie tragenden Parteien nicht mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, dafür eintreten, daß die Menschenrechte weltweit, einschließlich aller Deutschen in der DDR und in allen anderen europäischen Staaten, verwirklicht werden.
Es kann überhaupt kein Thema geben, das uns innerlich so wie die Menschenrechtsfrage ergreift, uns, die wir als Volk gezwungen sind, in der Teilung zu leben. Herr Kollege Hupka, ich frage mich,
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Bundesminister Genscher) ob Sie sich einmal — das ist für Sie schwieriger als für andere, weil Sie aus einer anderen Partei zur CDU gekommen sind — die Frage vorgelegt haben, was eigentlich die CDU/CSU in den 20 Jahren, in denen sie
die Bundesregierung angeführt hat, für die Verwirklichung der Menschenrechte in den kommunistischen Staaten tun konnte.
Sie erwecken hier den Eindruck, als liege es in der Hand der Bundesregierung, dort die Menschenrechte zu verwirklichen. Nein, meine Damen und Herren, in unserer Hand liegt es, eine Poltik zu machen, die es erleichtert, Schritt für Schritt in der Menschenrechtsfrage voranzukommen. Das können wir erreichen, und das ist unser Ziel.
Menschenrechte, Frieden und Entspannung gehören zusammen.
Menschenrechte, Frieden und Entspannung! Ich frage mich, ob es einen Menschen in Europa gibt, der den Tag zurücksehnt, der vor ,der Einleitung der Entspannungspolitik liegt, der der Meinung ist, daß, menschenrechtlich gesehen, die Lage in Europa vor Aufnahme unserer Entspannungspolitik besser gewesen wäre. Ich bin der Meinung: Sie werden nicht einen einzigen finden, sondern alle werden sagen: Wir sind vorangekommen, nicht so weit, wie wir wollten, aber ein Stück. Und das ist eine Menge, verglichen mit dem, was in der Vergangenheit war.
Und deshalb, meine Damen und Herren, kann es in dieser Debatte nicht darum gehen, daß wir uns den Willen zur Verwirklichung und zur Durchsetzung der Menschenrechte bestreiten und in Zweifel ziehen. Hier hat sich ja Gott sei Dank eine Vielfalt in den Äußerungen aus Ihrer Fraktion ergeben. — Gott sei Dank, sage ich. Aber es muß darum gehen, daß wir hier um den richtigen Weg ringen, um die wirksamste Methode, voranzukommen und zu sehen, daß auch der Korb III im Verhältnis zur Deklaration der Menschenrechte in den Grundprinzipien aufzeigt, was praktische Menschenrechtspolitik ist, und sei es auch nur für jeden einzelnen, dem es darauf ankommt, durch eine Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik Deutschland und hier in den Genuß der Menschenrechte zu kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muß dem Kollegen Mertes ein Wort zu seiner Rede sagen. Und da kommen wir zu einer prinzipiellen Frage der Beantwortung Großer Anfragen. Ich selbst habe mich als Parlamentarier dafür eingesetzt, daß wir die Fragen nicht mehr begründen und die Antworten schriftlich geben. Aber dann müssen wir auch das, was in den Antworten gesagt ist, mit zum Gegenstand der Debatte, dürfen es also nicht vergessen machen.
Mir ging es vor allen Dingen darum, Kollege Mertes, Ihre Behauptung zurückzuweisen, die Bundesregierung weise nicht öffentlich und vor internationalen Gremien auf die Menschenrechtsfrage hin.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf die menschenrechtlichen Probleme im geteilten Deutschland weisen wir vor den Vereinten Nationen hin. Wir haben das in Belgrad getan, Wir tun es zusammen mit unseren Verbündeten bei anderen internationalen Konferenzen. Das ist doch eine pure Selbstverständlichkeit. Das sollten wir nicht verdrängen und nicht vergessen machen, sondern als Bestandteil wirklich gemeinsamer Politik bejahen. Hier darf sogar die Opposition die Regierung einmal unterstützen und es begrüßen, wenn sie das tut.
Herr Kollege Klein hat ein Zitat unseres Delegationsleiters in Belgrad gebracht: es habe nicht die Gefahr bestanden, daß es dort zu einer Konferenz über Deutschland komme. Er hat gemeint, das habe eine doppelte Bedeutung gehabt, und hat das nicht als eine ganz korrekte Äußerung gelten lassen wollen.
— Wenn es nicht so ist, Herr Kollege Klein, bin ich für Ihren klarstellenden Zwischenruf dankbar, denn ich muß wirklich noch einmal unterstreichen, was in der Antwort auf die Große Anfrage gesagt wurde, nämlich daß es nicht in unserem nationalen Interesse liege, aus der KSZE und ihrem Folgetreffen eine Konferenz über Deutschland oder gar eine Konferenz zur Herbeiführung einer Art Ersatzfriedensvertrag für Deutschland zu machen. Das möchte ich hier gerne noch einmal festschreiben, auch im Protokoll des Deutschen Bundestages. Ich möchte auch jenen hier kritisierten Satz mit erwähnen, in dem es heißt:Hingegen würde es eine Änderung der westlichen KSZE-Konzeption bedeuten, wenn die deutsche Situation unter dem Gesichtspunkt der deutschen Teilung im KSZE-Prozeß eine Sonderbehandlung erführe mit allen darin liegenden Risiken.
Meine Damen und Herren, gerade in der öffentlichen Debatte ist es so unerhört schwer, diese Risiken ohne Verletzung unserer nationalen Interessen aufzuzeigen. Nur eines sage ich Ihnen: Mir ist wohler dabei, wenn wir unsere auch menschenrechtlich begründeten nationalen Interessen in der Gemein-
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Bundesminister Genschersamkeit eines europäischen, eines westlichen Interesses vertreten können. Deshalb suchen wir nach Gemeinsamkeit mit den Verbündeten, mit den Partnern der Europäischen Gemeinschaft, mit den Ungebundenen und mit den Neutralen. An dieser Gemeinsamkeit wollen wir auf jeden Fall auch bei künftigen Folgekonferenzen festhalten. Das halte ich für ganz entscheidend.
Deshalb kann doch eine solche Debatte, wenn sie wirklich etwas für die Menschen hergeben soll, um die es geht und die der Menschenrechte entraten müssen, so wie wir sie verstehen, eigentlich nur über die richtigen und besseren Methoden gehen, nicht aber über den guten oder bösen Willen unter demokratischen Parteien.
Hier stellen wir uns mit unserer Politik, weil wir der Meinung sind, daß sich durch die Einleitung der Entspannungspolitik die Aussichten für die Verbesserung der menschenrechtlichen Lage erhöht haben. Hier stellen wir uns auch dem öffentlichen Urteil mit unserer Zustimmung zur Schlußakte von Helsinki.Herr Kollege Mertes hat natürlich absolut recht, wenn er sagt, daß sich eine Oppositionspartei, die einen bestimmten Vertrag abgelehnt hat oder, wie in diesem Fall, die Unterzeichnung der Schlußakte, gleichwohl auf die Einhaltung berufen kann. Das ist aber doch nicht die Frage, Herr Kollege Mertes, die jetzt, nach einigen Jahren, ansteht. Die Frage, die heute ansteht, ist vielmehr die: Wie steht die Union denn heute dazu, ob man damals hätte unterschreiben sollen oder nicht? Würde die Union auch heute noch, nach dem, was seit Helsinki geschehen ist, Ablehnung oder Zustimmung empfehlen?
Hier bitte ich, Ihre Position zu überprüfen. Dann könnten Sie wirklich ein Stück zur Gemeinsamkeit beitragen, Gemeinsamkeit in dem Bewußtsein — ich sage es noch einmal —, daß Frieden, Entspannung und Menschenrechte zusammengehören und daß Kalter Krieg das schlechteste Klima für die Verwirklichung der Menschenrechte ist.Wir haben hier vor wenigen Tagen eine eindrucksvolle Feierstunde aus Anlaß des 17. Juni gehabt. Ich möchte noch ein anderes Datum aus der deutschen Nachkriegsgeschichte nennen, das sich nicht minder für alle jene eingeprägt hat, die es bewußt miterlebt haben, und zwar den 13. August 1961 und den Bau der Mauer. Gab es eigentlich eine schwerwiegendere Verletzung der Menschenrechte? Prüfen wir uns einmal, welche Instrumente der damaligen Regierung, die Sie stellten und nicht wir, zur Verfügung standen, um diese Menschenrechtsverletzung zu verhindern. Das ist doch die Frage. Unsere Antwort darauf ist, daß es also nur möglich sein kann, durch eine geduldige, zähe, beharrliche und standhafte Politik zu erreichen, daß wir inEuropa nicht zu einem Rückfall in das Klima des Kalten Krieges kommen, sondern daß wir eine Atmosphäre der Entspannung schaffen, erhalten und sichern, in der wir die Menschenrechte für die Deutschen und für alle anderen schrittweise in Deutschland und darüber hinaus verwirklichen können. Diese Politik werden wir unbeirrt mit der Bitte um Unterstützung durch alle, die es wollen, fortsetzen.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir haben zwei Entschließungsanträge, den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und FDP auf Drucksache 8/1941 und den der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/1942. Es ist beantragt, beide Entschließungen an den Auswärtigen Ausschuß — federführend — und an den Innerdeutschen Ausschuß — mitberatend — zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wir treten nun in die Mittagspause ein. Das Haus versammelt sich wieder um 14 Uhr zu einer Fragestunde.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die Sitzung wird fortgesetzt. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 8/1931 —
Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Der Fragesteller der Frage 54, der Abgeordnete Niegel, bittet darum, die Frage schriftlich zu beantworten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung der Frage steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Grüner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Dr. Holtz auf:
Trifft es zu, daß Rumänien der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Vorstellungen entwickelt hat, die darauf hinauslaufen, das VFW-Fokker-614-Programm selbständig weiterzuführen, ohne daß personelle und finanzielle Risiken für die Firma Fokker entstehen sollen, und wenn ja, wie steht die Bundesregierung dazu?
Es trifft zu, Herr Kollege, daß die rumänische Regierung Interesse an einem Transfer des Programms VFW 614 nach Rumänien bekundet hat, nachdem VFW-Fokker im Oktober 1977 die Einstellung der Serienproduktion beschlossen hatte und damit die Voraussetzungen für das ursprünglich vorgesehene Kooperationsvorhaben in einer Gemeinsamen Gesellschaft entfallen waren. Zur Zeit prüft eine Expertengruppe von VFW-Fokker und den anderen Partnern im Programm zusammen mit rumänischen Experten die technischen, personellen,
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7860 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Parl. Staatssekretär Grünerkommerziellen und finanziellen Probleme einer Überführung des Programms.Die Bundesregierung würde es begrüßen, wenn eine für alle Seiten befriedigende und praktikable Grundlage für den Transfer gefunden werden könnte. Sie wird sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Erteilung der notwendigen Genehmigungen einsetzen. Die Bundesregierung kann allerdings keine politische oder finanzielle Verantwortung für die Durchführung des Transfer oder für später eventuell auftretende Schwierigkeiten übernehmen. Dies ist der rumänischen Regierung und der Geschäftsführung von VFW-Fokker bekannt.
Keine Zusatzfrage? — Danke.
Ich rufe nun auf den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Zur Beantwortung der Frage steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Engholm zur Verfügung. Ich rufe auf die Frage 6 des Abgeordneten Stockleben:
Wie wird sich die Bundesregierung zu dem von Niedersachsen als Gesetzesinitiative im Bundesrat eingebrachten Vorschlag stellen, nach dem Schüler der Klassen 10 im Berufsgrundbildungsjahr und in der Berufsfachschule ab Schuljahr 1978/79 Leistungen nach dem BAföG erhalten können?
Der von der Niedersächsischen Landesregierung dem Bundesrat zugeleitete Antrag, die Einbringung des Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes beim Deutschen Bundestag zu beschließen, ist bisher noch nicht Gegenstand der Beratung und Beschlußfassung des Bundesrates gewesen. Beschließt der Bundesrat entsprechend diesem Antrag, so hat gemäß Art. 76 Abs. 3 unserer Verfassung die Bundesregierung ihre Auffassung hierzu gegenüber dem Deutschen Bundestag darzulegen. Ich bitte um Ihr Verständnis, daß die Bundesregierung daher bei dem gegenwärtigen Verfahrensstand von einer öffentlichen Stellungnahme Abstand nehmen muß.
Unabhängig von dieser Initiative bemüht sich der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft seit längerer Zeit um eine Einbeziehung des Berufsgrundbildungsjahres und der Klasse 10 der Berufsfachschulen in die Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Darauf hat zuletzt Herr Bundesminister Schmude im April 1978 hingewiesen. Im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft ist ein entsprechender Gesetzentwurf vorbereitet, dessen Inhalte sich fast identisch im Initiativantrag der Niedersächsischen Landesregierung wiederfinden.
Die Bundesregierung wird über diese Frage im Zusammenhang mit dem Haushaltsplan 1979 voraussichtlich Ende Juni dieses Jahres entscheiden. Bei positivem Ausgang ist geplant, die Einbeziehung ab Schuljahr 1978/79 zu verwirklichen.
Keine Zusatzfrage? —
Ich rufe auf den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Die Fragen 43, 44 und 46 sowie 59 werden entsprechend dem Wunsche der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die Fragen 64 und 65 sind vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Zur Beantwortung der noch verbliebenen Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär von Schoeler zur Verfügung. Ich rufe auf die Frage 42 des Herrn Abgeordneten Gerster. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe nun auf die Frage 45 des Abgeordneten Niegel:
Gedenkt die Bundesregierung auf Grund der durch den „Höcherl-Bericht" bekanntgewordenen Fahndungsfehler nach dem Rücktritt des Bundesinnenministers Dr. Maihofer auch die Leitung des Bundeskriminalamts in Wiesbaden einer anderen Führungs- und Fachkraft anzuvertrauen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, die Antwort lautet: Nein.
Ist die Frage beantwortet? — Dann eine Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß im Rücktrittsschreiben des Herrn Bundesinnenministers Maihofer auch auf das Bundeskriminalamt und darauf Bezug genommen wurde, daß dort eine Reihe von Verfehlungen zustande gekommen sind, und könnte- man daraus nicht schließen, daß im Zuge des Rücktritts des Herrn Maihofer auch ein Austausch des Präsidenten des Bundeskriminalamtes in Frage kommen müßte?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das Rücktrittsschreiben des ehemaligen Bundesinnenministers Professor Maihofer ist mir selbstverständlich bekannt. Ich kann den Inhalt, den Sie ihm eben zugeschrieben haben, so nicht bestätigen, nehme Ihre Zusatzfrage aber gern zum Anlaß, die besonderen Leistungen des Bundeskriminalamtes und auch seines Präsidenten hier nachdrücklich hervorzuheben.
Das Bundeskriminalamt ist unter der Leitung seines jetzigen Präsidenten zu einer überall — auch international besonders anerkannten Zentrale der Verbrechensbekämpfung geworden. Präsident Dr. Herold hat nicht nur entscheidenden Anteil am Ausbau des Bundeskriminalamts, er hat auch ganz wesentlich dazu beigetragen, die Wirksamkeit der Arbeit der Kriminalpolizei des Bundes und der Länder zu erhöhen.
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, kann man daraus schließen, daß sich Herr Präsident Herold bei der Aufklärung des Falles Schleyer praktisch die größten Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland erworben hat?
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7861
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Die Bedeutung, die die gute Arbeit von Präsident Herold auch in diesem Fall hat, ist auch in dem Bericht des ehemaligen Bundesinnenministers Rechtsanwalt Hermann Höcherl dargestellt worden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Möller.
Herr Staatssekretär, kann man daraus folgern, daß der Untergebene, also der Präsident des Bundeskriminalamtes, vernünftig gearbeitet, die politische Führung aber versagt hat?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin in der Ausgangsfrage danach gefragt worden, ob die Bundesregierung gedenkt, dem Bundeskriminalamt eine andere Führungskraft an die Spitze zu geben. Dies habe ich klar verneint. Damit ist die Frage klar beantwortet. Der Präsident des Bundeskriminalamtes hat, was eigentlich gar nicht besonders festgestellt werden muß, das volle Vertrauen des Bundesinnenministers.
Herr Abgeordneter, es gibt hier keine Zwiegespräche.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 47 des Abgeordneten Spranger auf:
Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, und kann sie jüngst veröffentlichte Presseberichte bestätigen, daß zumindest einige rechtsextremistische Akteure und über diese wiederum rechtsextremistische Zirkel unmittelbar oder mittelbar von dritter Seite gelenkt oder beeinflußt werden?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich wäre dankbar, wenn ich Ihre beiden Fragen zusammenfassend beantworten könnte. — Vielen Dank.
Dann rufe ich zusätzlich Frage 48 des Abgeordneten Spranger auf:
Wenn der Bundesregierung derartige Erkenntnisse nicht vorliegen, ist sie dann bereit, entsprechende Recherchen einzuleiten bzw. sich eventuell bei Behörden der Bundesländer bereits vorliegende Informationen zu beschaffen?
Bitte, Herr .Staatssekretär.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat bereits wiederholt erklärt, daß einzelne heute rechtsextremistisch tätige Personen früher kommunistischen Organisationen angehört haben oder aus dem kommunistischen Machtbereich stammen. Sie hat gleichzeitig darauf hingewiesen, daß in keinem dieser Fälle konkrete Hinweise darauf vorliegen, daß die rechtsextremistische Betätigung von kommunistischer Seite gesteuert wird.
Die Bundesregierung beobachtet die Entwicklung auch auf dem Gebiet des Rechtsextremismus sorgfältig. Diese Beobachtungsaufgabe umfaßt die Prüfung, ob es eine Beeinflussung rechtsextremistischer Aktivitäten im Sinne Ihrer Fragestellung gibt. Bisher konnte dies, wie bereits dargestellt, nicht festgestellt werden. Der Bundesregierung liegen auch keine entsprechenden Feststellungen der Länder vor.
Zusatzfragen? — Bitte schön.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, in nächster Zeit dem zuständigen Ausschuß eine Zusammenstellung ihrer Erkenntnisse vorzulegen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung ist immer bereit, alle ihr vorliegenden Informationen dem zuständigen Ausschuß des Deutschen Bundestages zuzuleiten, wenn dieser das wünscht. Ich habe dazu aber gesagt, daß uns zu dem in der Fragestellung angesprochenen Problem keine solchen Feststellungen vorliegen.
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, macht sich die Bundesregierung die einmütige Meinung der Staatsschutzbehörden zu eigen, daß derzeit eine Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland durch den Rechtsextremismus in keiner Weise erkennbar ist?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung wird eine Darstellung und Wertung der Vorgänge im Bereich des Rechtsextremismus für das Jahr 1977 im Zusammenhang mit dem Verfassungsschutzbericht 1977 geben. Ich kann dem nicht vorgreifen, will hier aber doch soviel sagen, daß zwar keine Zunahme der Zahl rechtsextremistisch tätiger Personen insgesamt festzustellen ist, daß aber innerhalb des rechtsextremistischen Potentials eine Stärkung der zu Gewaltanwendung neigenden Kräfte zu beobachten ist, die wir mit großer Aufmerksamkeit verfolgen müssen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Wird die Bundesregierung ihre Möglichkeiten auf dem Gebiet der öffentlichen Darstellung von Problemen nützen, um gewisse Hintergründe in diesem Bereich, auch personeller Art, die in meinen Fragen angedeutet sind, der Öffentlichkeit gegenüber deutlicher als bisher zu machen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung nützt ihre Möglichkeiten zur öffentlichen Aufklärung dann, wenn sie Feststellungen treffen kann. Feststellungen im Sinne Ihrer Frage hat die Bundesregierung bisher nicht treffen können, haben auch die Länder nicht treffen können. Deshalb kann die Bundesregierung solche Feststellungen auch nicht zur Grundlage ihrer Offentlichkeitsarbeit machen.
Eine weitere Zusatzfrage.
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7862 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Herr Staatssekretär, wie läßt sich Ihre Behauptung, die Bundesregierung sei bisher noch nicht in dem gewünschten Ausmaß zu entsprechenden Erkenntnissen gelangt, mit der Tatsache vereinbaren, daß im Gegensatz dazu in Zeitungen wie z. B. der „Welt" zu diesem Problem ausführliche Darlegungen erschienen sind?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, die Berichterstattung in Presseorganen im einzelnen zu kommentieren. Aber sicherlich stimmen Sie mir in der allgemeinen Bemerkung zu, daß der Umstand, daß eine Zeitung etwas als Meldung bringt, noch nicht bedeuten muß, daß es sich dabei auch um Tatsachen handelt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Klein.
Herr Staatssekretär, sind Sie angesichts der Tatsache, daß diesen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland ein ganz ungewöhnlich hohes Maß an internationalem Interesse entgegengebracht wird, bereit, einmal klar, ohne Ausflüchte, ohne Hinweise auf Zeitungswert oder -unwert festzustellen, welche Personen in der rechtsradikalen Szene mit dem Kommunismus Verbindung haben oder hatten, was ja nicht unbedingt besagen muß, daß sie kommunistisch gesteuert sind?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir im Anschluß an die Fragestunde mitteilen könnten, ob Ihnen über die Meldung der „Welt" hinaus anderes bekannt ist. Wenn Ihnen nichts anderes bekannt wäre, verstünde ich die Frage nicht.
Ich kann Ihnen nur sagen, was die Bundesregierung mehrfach mitgeteilt hat — ich glaube, allein in den drei letzten Fragestunden jedesmal —, nämlich daß ihr bekannt ist, daß es heute rechtsextremistische Personen gibt, die früher kommunistischen Organisationen angehört haben oder aus dem kommunistischen Machtbereich stammen, daß ihr aber keinerlei Erkenntnisse darüber vorliegen, ob die von diesen Personen heute ausgeübte rechtsextremistische Tätigkeit von kommunistischer Seite aus gesteuert wird.
Es wäre unverantwortlich — darin stimmen Sie hoffentlich mit mir überein —, wenn die Bundesregierung vor der deutschen Öffentlichkeit Mitteilungen machte, die nicht abgestützt und abgesichert wären.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Langguth.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wäre es nach Ihrer Auffassung zumindest theoretisch denkbar, daß hinter entsprechenden Aktivitäten von Rechtsextremisten Drahtzieher in der DDR sitzen, um die Bundesrepublik Deutschland international in Verruf zu bringen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn sich die Bundesregierung zu allem, was theoretisch denkbar ist, äußerte, wäre die Fragestunde mit Sicherheit noch umfangreicher, als sie ohnehin schon ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Möller.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, historisch nachgewiesen, daß die rechtsextremistischen Ausschreitungen Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre von nichtdeutscher, also von dritter Seite gelenkt oder in irgendeiner Weise beeinflußt worden sind?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das möchte ich Ihnen nicht so ohne weiteres aus dem Stegreif beantworten. Ich bin gerne bereit, das nachzuprüfen und Ihnen das Ergebnis im Nachgang zu dieser Fragestunde schriftlich mitzuteilen.
Ich möchte auch noch einmal betonen, daß die Bundesregierung dem Parlament alle nachweisbaren Erkenntnisse, die ihr in diesem Zusammenhang vorliegen, sofort mitteilen wird. Das kann gar keine Frage sein. Nur, unbewiesene Tatsachenbehauptungen wird sie nicht in die Welt setzen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becher.
Herr Staatssekretär, legt die Tatsache, daß Überläufer nachgewiesen haben, daß die Hakenkreuzschmierereien am Ende der 60er Jahre vom KGB inszeniert wurden, nicht zusätzlich nahe, zu eruieren, ob die Desinformationsabteilungen in Moskau und in Ost-Berlin jetzt nicht zusätzlich ähnliche Aktionen durchführen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es bedarf keiner Rückgriffe auf die Geschichte, um auszusagen, was ich vorhin gesagt habe: daß die Beobachtung des Rechtsextremismus, die die Bundesregierung sorgfältig betreibt, alle Feststellungen der Art mit einbeziehen müßte, wie sie hier Gegenstand der Fragestunde sind, daß solche Feststellungen von der Bundesregierung aber bisher nicht getroffen werden können.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becher.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung der Auffasssung, daß der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik gestaltet, erfunden und weiterbetrieben wird etwa durch kommunistische Parteien aus Osteuropa?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung ist nicht dieser Auffassung.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sieglerschmidt.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7863
Herr Staatssekretär, gibt es in diesem Zusammenhang vielleicht auch Nachrichten darüber, daß die Deutschlandstiftung linksextrem ist oder vom KGB gesteuert wird?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich nehme an, die Frage hat ihren Sinn durch die Fragestellung erreicht, so daß Sie mir eine Antwort ersparen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 49 des Abgeordneten Krey auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung nun tatsächlich jüngst veröffentlichte Presseberichte, unter anderem in der „Kölnischen Rundschau" vom 24. Mai 1978 über „20 Rechtsextremisten rüsten sich zum Terror — Nach dem Vorbild der RAF", die gleichfalls laut „Kölnische Rundschau" vom 25. Mai 1978 vom Bundesinnenministerium „vollinhaltlich" bestätigt, nach einer am 27. Mai 1978 veröffentlichten Meldung der Nachrichtenagentur ddp vom selben Bundesministerium jedoch dementiert worden seien?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der Rechtsextremismus zeichnet sich durch eine zunehmende Bereitschaft zur Gewaltanwendung aus — dies habe ich schon auf eine vorherige Frage ausgeführt —, die bereits daraus deutlich wird, daß der Generalbundesanwalt zum ersten Male in Verfahren gegen Rechtsextremisten wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung ermittelt. Im Rahmen dieser Verfahren sind sieben Rechtsextremisten in Untersuchungshaft genommen worden. Diese Tatsache hat der Bundesminister des Innern öffentlich bestätigt. Eine Erklärung mit anderem Inhalt ist von ihm nicht abgegeben worden.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Krey Es liegen mir Pressemeldungen darüber vor, daß doch diese ursprüngliche Meldung dementiert worden ist. Haben Sie in Ihrem Hause Nachforschungen angestellt, auf welche Vorkommnisse diese unterschiedliche Information zurückzuführen ist?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe das. Ich bin gern bereit, Ihnen das auch im einzelnen darzustellen. Ich kann aber nur noch einmal zur zusammenfassenden Unterrichtung des Parlaments feststellen, daß es keinerlei anderslautende Erklärungen gegenüber der Öffentlichkeit seitens irgendeines Mitarbeiters des Bundesinnenministeriums gegeben hat. Wenn es unterschiedliche Presseberichterstattungen gibt, muß das auf Mißverständnisse zurückzuführen sein.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Krey.
Haben Sie, Herr Staatssekretär, veranlaßt, daß den beteiligten Presseorganen bzw. Nachrichtenagenturen diese Ihre Nachforschungen mitgeteilt worden sind?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das, was ich Ihnen hier auf Ihre Frage geantwortet habe, ist auch in der Bundespressekonferenz, also gegenüber allen hier in Bonn tätigen und interessierten Journalisten, mitgeteilt worden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Spranger.
Wenn Sie von Mißverständnissen reden, wem rechnen Sie denn diese Mißverständnisse zu: der Presseagentur oder dem Ministerium?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dem Ministerium mit Sicherheit nicht; denn das Bundesministerium des Innern hat keine anderslautende Erklärung abgegeben, als ich sie hier abgegeben habe.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Regenspurger auf:
Kann die Bundesregierung in jüngster Zeit veröffentlichte Presseberichte bestätigen, nach denen einige hinreichend bekannte Neonazis in der Bundesrepublik Deutschland als „Wirrköpfe", „Spinner", „Rowdies", „Politrocker" oder „Hitlers Harlekine" zu bezeichnen sind und daß einige neonazistische Akteure früher in kommunistischen bzw. kommunistisch beeinflußten Organisationen tätig gewesen sind?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist grundsätzlich nicht Aufgabe der Bundesregierung, Beurteilungen in Presseberichten zu würdigen. Die in Ihrer Frage angeführten Bezeichnungen werden jedoch mit Sicherheit ,den Erscheinungsformen des Neonazismus nicht gerecht, weil sie, wenn man sie übernähme, eine Verharmlosung des Rechtsextremismus darstellen würden.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage verweise ich auf meine Antwort auf die Frage des Kollegen Spranger.
Keine Zusatzfragen.Ich rufe die Frage 51 des Abgeordneten Dr. Steger auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; diese Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 53 des Abgeordneten Gerster auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; ,die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 55 des Abgeordneten Thüsing auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 56 des Abgeordneten Sieglerschmidt auf:Trifft es zu, daß Dr. Otto von Habsburg mit Zustimmung des Bundesinnenministers die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, ohne die österreichische Staatsangehörigkeit zu verlieren, obwohl in der Einbürgerungspraxis der Bundesrepublik Deutschland, die unter anderem auch auf den Grundsätzen des Euro-
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7864 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Vizepräsident Stücklenpäischen Übereinkommens zur Verminderung der Fälle von Doppelstaatsangehörigkeit beruht, dessen Vertragspartei die Bundesrepublik Deutschland seit 18. Dezember 1969 ist, die Einbürgerung grundsätzlich nur ausnahmsweise genehmigt wird, wenn der Bewerber nicht vorher seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgibt, und wenn ja, welche besonderen Gründe waren maßgeblich, um im Falle des Dr. Otto von Habsburg von dem Grundsatz der Vermeidung von Doppelstaatsangehörigkeit abzuweichen?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, an der Einbürgerung von Herrn Dr. Habsburg-Lothringen ist der Bundesminister des Innern nicht beteiligt worden.Zur Frage der Einbürgerungspraxis kann ich Ihnen mitteilen, daß wegen der auch international als unerwünscht angesehenen Mehrstaatlichkeit Einbürgerungen unter Fortbestand der bisherigen Staatsangehörigkeit nur ausnahmsweise vollzogen werden. Diesem Ziel dient das Europarats-Übereinkommen vom 6. Mai 1963 über die Verringerung von Mehrstaatigkeit, dem die Bundesrepublik Deutschland und Osterreich beigetreten sind. Danach verliert ein deutscher oder österreichischer Staatsangehöriger, der die Staatsangehörigkeit des anderen Vertragspartners erwirbt, automatisch seine bisherige Staatsangehörigkeit. Der Verlust kann nur abgewendet werden, wenn von dem Vorbehalt der Anlage 3 des erwähnten Europarats-Übereinkommens Gebrauch gemacht worden ist. Danach kann jede Vertragspartei einem ihrer Staatsangehörigen gestatten, seine bisherige Staatsangehörigkeit beizubehalten, wenn die Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit er zu erwerben beantragt, dem vorher zugestimmt hat. Welche Gründe im vorliegenden Fall die zuständigen bayerischen Behörden bewogen haben, die Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit zu vollziehen, ist der Bundesregierung im einzelnen nicht bekannt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie bewerten Sie rechtlich und verfassungspolitisch die Tatsache, daß der Bayerische Staatsminister des Innern die Zustimmung des Bundesministers des Innern im Falle Dr. Otto Habsburg nicht eingeholt 'hat, obwohl doch das einschlägige Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs
vom 24. April 1972 unter Heranziehung der in Frage kommenden Rechtsvorschrift festgestellt hat, daß die deutsche Staatsangehörigkeit erst verliehen werden „darf", nachdem der Bundesminister des Innern zugestimmt hat, und in dem es dann weiter heißt:
Im übrigen kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß der bisher am Verfahren nicht beteiligte Bundesminister des Innern Ermessensgründe vorbringt, die zu einer ermessensfehlerfreien Versagung der Einbürgerung führen könnten.
Hat der Bayerische Staatsminister des Innern vielleicht aus diesen Überlegungen die Zustimmung vorsorglich nicht eingeholt?
Ich bitte, nicht ganze Urteile von Verwaltungsgerichten und Verfassungsgerichten hier vorzulesen. — Bitte schön.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß sie mit dieser Angelegenheit hätte befaßt werden müssen. Sie hat unmittelbar nach Bekanntwerden der Einbürgerungsangelegenheit von Herrn Dr. Habsburg-Lothringen sich an das Bayerische Staatsministerium des Innern mit der Bitte um Mitteilung der Gründe gewandt, die für die dortige Sachbehandlung ausschlaggebend waren. Gestern abend haben wir eine Nachricht des Bayerischen Staatsministeriums des Innern erhalten. Ich möchte eine Wertung und Bewertung dieser Mitteilung zunächst den Gesprächen zwischen dem Bayerischen Staatsministerium des Innern und dem Bundesinnenministerium vorbehalten. Ich bitte dafür um Verständnis.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becher.
Herr Staatssekretär, kann man einem Manne, der vor der Geschichte zweifelsohne in Osterreich verwurzelt ist, das Ersuchen um gleichzeitige Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik Deutschland verargen, wenn er seit 25 Jahren in Bayern, also in Deutschland lebt, wenn er mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist und wenn er überall in der Zwischenzeit für die Rechte der Deutschen eingetreten ist?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, da die Bundesregierung mit der Einbürgerungsangelegenheit nicht befaßt war, liegen ihr nicht alle für die Entscheidung heranzuziehenden Unterlagen vor. Ich möchte mich deswegen auf eine rein spekulative Fragebeantwortung hier nicht einlassen.
Herr Abgeordneter Sieglerschmidt, Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da Sie leider den Sachverhalt nun nicht kennen, weil die Zustimmung entgegen aller Praxis nicht eingeholt worden ist: Wie beurteilen Sie die Bedeutung des von Ihnen ja mit Recht hervorgehobenen Grundsatzes der Vermeidung von Doppelstaatsangehörigkeit? Bedeutet er nicht, daß nur in ganz besonderen Ausnahmefällen, insbesondere wenn keine sonstigen Bedenken gegen die Einbürgerung bestehen — wie diejenigen, die hier vorgebracht worden sind —, von ihm abgewichen werden darf?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung — das kann ich noch einmal bestätigen —, ist der Auffassung, daß vom Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit nur ausnahmsweise abgewichen werden sollte.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7865
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Conradi.
Herr Staatssekretär, enthält die von Ihnen erwähnte Antwort des bayerischen Staatsministeriums des Innern einen Hinweis darauf, ob die Bayerische Staatsregierung mit der Einbürgerung Herrn Habsburgs die Voraussetzungen schaffen will, Herrn Habsburg in den öffentlichen Dienst, etwa als Regierungsrat, zu übernehmen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Antwort der Bayerischen Staatsregierung enthält keine derartige Aussage.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wittmann.
Herr Staatssekretär, ist es nicht vielmehr so, daß die Bundesregierung nur dann zu befragen ist, wenn die Hinnahme einer Doppelstaatsangehörigkeit in Frage kommt, obwohl der Staat, dem der Einzubürgernde bisher nicht angehört hat, einer Doppelstaatsangehörigkeit bzw. der Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit nicht zugestimmt hat?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr
) Kollege, das ist nicht so. Der Bundesminister des Innern ist mit einer Einbürgerungsangelegenheit im Falle der Hinnahme von Mehrstaatigkeit zu befassen, mit Ausnahme der Fälle, für die der Bundesminister des Innern den Ländern seine Vorwegzustimmung mitgeteilt hat. Das ist im Falle einer Doppelstaatsangehörigkeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Osterreich nicht der Fall.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wulff.
Herr Staatssekretär, wie viele Fälle von Doppelstaatsbürgerschaften auf Grund der europäischen Übereinkunft gibt es, und wie viele solcher Ausnahmefälle sind beispielsweise von der Bundesregierung zugelassen worden?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihnen diese Zahlen gern als Nachtrag zu dieser Fragestunde mitteilen. Ich bitte dafür um Verständnis, daß ich sie im Augenblick nicht vorliegen habe. Ich kann nur noch einmal sagen, daß wir sorgfältig darauf achten, daß der Grundsatz der Vermeidung von Doppelstaatsangehörigkeit in der Praxis eingehalten wird.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lambinus.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß für die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit zumindest die gleichen Grundsätze hinsichtlich der Verfassungstreue notwendig sind wie bei der Einstellung von deutschen Staatsangehörigen in den öffentlichen Dienst?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege, das kann ich nicht bestätigen. Bei der Frage der Einbürgerung findet nicht diese Überprüfung der Verfassungstreue eines Antragstellers statt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Klein.
Herr Staatssekretär, können -Sie darüber Auskunft geben, in wie vielen Fällen der Anerkennung einer doppelten Staatsbürgerschaft von Bürgern, die seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland leben, die sich auch um dieses Land verdient gemacht haben, deren Unbescholtenheit außer Frage steht, politische Diffamierungskampagnen dieser Art versucht worden sind?
Herr Staatssekretär, Sie wollen die Frage nicht beantworten? — Es ist Ihr gutes Recht, daß Sie eine Frage nicht beantworten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung mit Sicherheit verneinen, daß die Einbürgerung des Herrn von Habsburg nicht von dritter Seite gelenkt worden ist?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, auch dabei handelt es sich um eine so spekulative Frage, daß ich mir eine Antwort darauf versagen möchte.
Es liegen keine weiteren Zusatzfragen vor.Ich rufe nunmehr die Frage 57 des Herrn Abgeordneten Dr. Wernitz auf:Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß im Einbürgerungsfall Dr. Otto von Habsburg vor der Zuerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit eine Abstimmung zwischen dem bayerischen Staatsministerium des Innern und 'dem Bundesinnenministerium sowie dem Auswärtigen Amt geboten gewesen wäre, und hätte ein derartiges Verfahren der Abstimmungspraxis in vergleichbaren Fällen entsprochen?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß eine Befassung des Bundesministers des Innern sowie des Auswärtigen Amtes mit der Einbürgerungsangelegenheit von Herrn Dr. Habsburg-Lothringen erforderlich gewesen wäre. Die nach § 3 der Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit vom 5. Februar 1934 vorgesehene Zustimmung des Reichsministers des Innern für Einbürgerungen von Ausländern ist auf den Bundesminister des Innern übergegangen. Die Einbürgerung hätte daher erst nach der
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7866 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Parl. Staatssekretär von SchoelerZustimmung des Bundesministers des Innern vollzogen werden dürfen. Die erwähnte Einbürgerungsangelegenheit zählt nicht zu den Fällen, für die der Bundesminister des Innern im Interesse der Verwaltungsvereinfachung und der Beschleunigung des Einbürgerungsverfahrens die Vorwegzustimmung erteilt hat.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wernitz.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihre Antwort so verstehen, daß in den ansonsten gegebenen sogenannten Problemfällen diese Abstimmung zwischen dem jeweiligen Landesinnenministerium und dem Bundesinnenministerium funktioniert hat und praktiziert wurde?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: In allen Fällen, für die die Vorwegzustimmung des Bundesministers des Innern nicht erteilt ist, hat es bisher keine Probleme gegeben. Das ist richtig.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wernitz.
Herr Staatssekretär, darf ich auch das, was Sie auf die vorige Frage geantwortet haben, so verstehen, daß erst gestern abend — trotz Ihrer intensiven Bemühungen, eine Stellungnahme des bayerischen Staatsministeriums des Innern zu bekommen — eine erste Antwort eingegangen ist?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Es ist richtig, daß die Antwort des bayerischen Staatsministeriums des Innern bei uns gestern abend eingegangen ist.
Keine weiteren Zusatzfrage mehr, Herr Abgeordneter Wernitz?
— Sie haben zwar noch eine Frage, aber die ist noch nicht aufgerufen. Ich würde daher bitten, das Mikrophon für Herrn Conradi freizugeben, der hinter Ihnen steht. — Hinter Ihnen steht einer.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Conradi.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Hinweise darauf, daß mit der Einbürgerung des österreichischen Kaiserenkels die Voraussetzungen für etwaige politische Kandidaturen, z. B. — nach dem Ausscheiden von Herrn Filbinger — für eine Kandidatur zum Bundespräsidenten, geschaffen werden sollen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Über die Motivationen ist der Bundesregierung nichts bekannt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wulff.
Herr Staatssekretär, wenn Sie diesen Fall der Bayerischen Staatsregierung als einen Ausnahmefall betrachten: Gibt es in der Vergangenheit ähnliche Fälle, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Berlin oder Bremen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe mich danach erkundigt: Solche Fälle sind mir nicht bekannt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gerster.
Herr Staatssekretär, würden Sie diesem Hohen Hause einmal erklären, wie die Bundesregierung zu dieser Einbürgerung Stellung bezogen hätte, wenn die Abstimmung stattgefunden hätte?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe schon darauf hingewiesen, daß mir die für diese Entscheidung heranzuziehenden Unterlagen deshalb nicht bekannt sind, weil das Bundesministerium des Innern mit der Einbürgerungsangelegenheit nicht befaßt war. Deshalb kann ich diese Frage nicht beantworten. Exakt die gleiche Frage war vorhin schon einmal gestellt worden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wittmann .
Herr Staatssekretär, sind dem Bundesinnenministerium oder der Bundesregierung nachgeordnete Behörden mit der Angelegenheit befaßt worden?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becher.
Herr Staatssekretär, legen die jahrhundertelange staatliche Gemeinsamkeit zwischen Deutschland und Österreich sowie die Tatsache, daß Millionen von Südost- und Sudetendeutschen diesseits und jenseits der österreichisch-deutschen Grenze oftmals Familiengemeinsamkeiten haben, nicht nahe, daß der Fall Otto von Habsburg zum Anlaß einer Ausweitung und nicht Einengung der Ausnahmebestimmungen genommen werden sollte, die im Zusammenhang mit dem von Ihnen zitierten europäischen Übereinkommen in bezug auf Österreich und Deutschland sowieso schon getroffen wurden?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist eine sehr grundsätzlich gestellte und eine sehr schwierige .Frage. Ich glaube nicht, daß wir es verantworten könnten, von dem sehr streng durch-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7867
Parl. Staatssekretär von Schoelergehaltenen Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit abzugehen. Deswegen muß ich Ihre Frage verneinen.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter von der Heydt Freiherr von Massenbach.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, sind der Bundesregierung irgendwelche Tatsachen bekannt, die nach der Bewertung der Bundesregierung dazu geeignet wären, die Gewährung der Staatsbürgerschaft für Herrn Dr. Otto von Habsburg abzulehnen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das Problem im Zusammenhang mit dieser Einbürgerungsangelegenheit ist die Hinnahme von Mehrstaatigkeit. Hier gilt der Grundsatz, daß Mehrstaatigkeit prinzipiell vermieden werden soll und daß besondere Gründe vorliegen müssen, wenn man von diesem Prinzip abweicht. Das ist die Problemstellung.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sieglerschmidt.
Herr Staatssekretär, wenn, wie wir von der rechten Seite des Hauses hören, so viele Gründe für die Einbürgerung des Dr. Otto Habsburg sprechen, ist es dann nicht um so unverständlicher, daß es die Bayerische Staatsregierung — entgegen dem geltenden Recht — versäumt hat, die Zustimmung der Bundesregierung einzuholen — und das in einer Weise, die man geradezu als nicht bundestreu bezeichnen muß?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Beantwortung Ihrer Frage würde es erfordern, daß ich einige Bewertungen, die hier von Abgeordneten abgegeben worden sind, zustimmend zur Kenntnis nehme. Da ich dazu nicht in jedem Falle in der Lage bin, kann ich Ihre Frage nicht beantworten.
Meine Damen und Herren, ich werde noch zwei Zusatzfragen zulassen. Dann halte ich das Thema für erschöpft.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Rawe.
Herr von Schoeler, nachdem Sie die Frage des Herrn von der Heydt nicht beantwortet haben, darf ich Sie noch mal fragen, ob Ihnen Tatsachen bekannt sind, die gegen die Einbürgerung sprechen.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe hier mehrfach gesagt, daß wir mit der Angelegenheit nicht befaßt seien, uns die Unterlagen nicht bekannt seien und ich deshalb —
Herr Abgeordneter, —
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich verstehe Ihr Drängen nach einer Antwort. Sie müssen aber ebenso verstehen, daß ich nur einen Vorgang beantworten kann, der dem Bundesminister des Innern zur Kenntnis gebracht worden ist — was hier nicht der Fall war.
Herr Abgeordneter Rawe es gibt hier keine Zwiegespräche.
Die letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, hätte die Bundesregierung, falls sie gefragt worden wäre, der Einbürgerung widersprechen können, wenn ihr Tatsachen bekannt gewesen wären, die die Verfassungstreue des Bewerbers in Zweifel zu ziehen Anlaß geben?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist deshalb nicht der Fall, weil, wie ich bereits dargelegt habe, nicht diese Überprüfung eines Antragstellers auf seine Verfassungstreue stattfindet.
Auch für diese Seite gilt: Keine Zwiegespräche!
Wir bleiben ja noch beim Thema: Ich rufe die Frage 58 des Herrn Abgeordneten Dr. Wernitz auf:Hält die Bundesregierung die zwischen Bund und Ländern abgestimmten Einbürgerungsrichtlinien vom Juli 1977 für eine ausreichende Grundlage, um die einheitliche Einbürgerungspraxis zu sichern, oder strebt die Bundesregierung eine bessere rechtliche Absicherung des Abstimmungsverfahrens zwischen Bund und Ländern bei Einbürgerungsanträgen an, die als sogenannte Problemfälle zu betrachten sind?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nach Auffassung der Bundesregierung haben sich die Einbürgerungsrichtlinien bewährt. Indem Sie die gesetzlichen Mindestvoraussetzungen einer Einbürgerung und die darüber hinaus im Rahmen der Ermessensausübung zu beachtenden Erfordernisse konkretisieren, sichern sie eine einheitliche Behandlung gleichgelagerter Sachverhalte im gesamten Bundesgebiet. Die Bundesregierung hält die bestehenden Rechtsgrundlagen für ausreichend, um eine Abstimmung mit den Ländern auch in den sogenannten Problemfällen zu sichern. Mit Hilfe des Erfordernisses der dem Bund zustehenden Zustimmung in allen Einbürgerungsfällen wird eine ein-
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7868 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Parl. Staatssekretär von Schoelerheitliche Handhabung der Einbürgerung in allen Bundesländern gewährleistet. Auch durch die Schaffung einer anderen, die Mitwirkung des Bundes sichernden gesetzlichen Regelung könnten Entscheidungen wie im Fall von Herrn Dr. Habsburg-Lothringen nicht ausgeschlossen werden, es sei denn, man würde für Einbürgerungen besondere Bundesbehörden gemäß Artikel 87 Abs. 3 des Grundgesetzes schaffen. Unabhängig von der hierfür erforderlichen Zustimmung des Bundesrats wäre der hiermit verbundene erhebliche Verwaltungsaufwand nicht zu rechtfertigen.
- Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, zu den von mir angesprochenen Einbürgerungsrichtlinien gehört die Forderung an den Einbürgerungsbewerber — ich zitiere —: „Er muß nach seinem Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart Gewähr dafür bieten, daß er sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt und für ihre Erhaltung eintreten wird."
Sind Sie der Auffassung, daß dies generell, aber auch in dem speziell angesprochenen Fall geprüft werden muß und daß dies dann auch in der Entscheidung den entsprechenden Niederschlag finden muß?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, sicher muß geprüft werden, ob die Voraussetzungen jeweils im einzelnen gegeben sind. Es gibt natürlich trotzdem Unterschiede zu dem vorhin mehrmals in Fragen erwähnten Verfahren bei der Überprüfung der Verfassungstreue eines Bewerbers für den öffentlichen Dienst. Mehr meinte ich vorhin nicht. Insofern danke ich Ihnen für diese Frage, weil sie mir Gelegenheit zur nochmaligen Klarstellung gibt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich beziehe mich noch einmal auf die zwischen Bund und Ländern abgestimmten Einbürgerungsrichtlinien, die ja vom Land und vom Bund zu beachten sind. Dort heißt es: „Bei der Entscheidung über den Einbürgerungsantrag sind berechtigte Interessen fremder Staaten zu berücksichtigen. Von Einbürgerungen, denen deutsche außenpolitische Belange entgegen-. stehen, ist abzusehen." Meinen Sie, daß dies im konkreten Fall voll durchgeprüft und beachtet worden ist, und sind Sie bereit, dies uns entsprechend zur Kenntnis zu geben, wenn der Informationsgang zwischen Land und Bund hier abgeschlossen ist?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe Ihnen mitgeteilt, daß die Gründe des bayerischen Staatsministerium des Innern uns im einzelnen noch nicht bekannt sind. Wir haben zwar eine Antwort. Die gibt aber zu der von Ihnen gestellten Frage keine Erklärung ab. Ich bin, falls wir zusätzliche Erklärungen der , Bayerischen Staatsregierung bekommen, gern bereit, diese Ihnen mitzuteilen.
Eine weitere Zusatzfrage. Herr Abgeordneter Dr. Wittmann.
Herr Staatssekretär, haben diese Einbürgerungsrichtlinien, in denen auch das Abstimmungsverfahren festgelegt ist, die Qualität eines Gesetzes, oder sind sie nur das, als was sie beschrieben werden, nämlich Richtlinien?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, unabhängig von der Rechtsnatur, die Sie ansprechen— ich neige dazu, Ihre Auffassung für richtig zu halten —, sind sie trotzdem für Bund und Länder verbindlich, und es wird nach ihnen im BundLänder-Verhältnis verfahren.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gerster.
Herr Staatssekretär, da Sie hier ständig über die Einbürgerung des Herrn Habsburg-Lothringen sprechen, die linken Kollegen hier im Hause aber ständig nach der Einbürgerung des Herrn Dr. Otto von Habsburg fragen, möchte ich wissen, ob Sie sicher sind, daß es sich um die gleiche Person handelt, über die wir hier debattieren.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Namensverschiedenheiten, die hier eine Rolle spielen, haben wohl mehr mit der Presseberichterstattung zu tun, die teilweise unterschiedliche Namen wiedergegeben hat, als damit zu tun, daß wir etwa grundsätzlich die ganze Zeit aneinander vorbeigeredet hätten. Diesen Eindruck hatte ich nach dem Ablauf der Fragestunde bisher nicht.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Becher.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die zuständige österreichische Stelle, nämlich der Landeshauptmann von Österreich, die schriftliche Einwilligung dafür gegeben hat, so daß Österreich nichts gegen die Einbürgerung Otto von Habsburgs in die Bundesrepublik Deutschland und nichts gegen ,die Doppelstaatlichkeit einzuwenden hat, und daß das ein Verfahren ist, das in ähnlichen Fällen ich glaube, auch bei Karajan und bei einigen Professoren — so gehandhabt wurde.von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der Bundesregierung ist durch den bayerischen Staatsminister des Innern mitgeteilt worden, daß eine entsprechende Erklärung der zuständigen österreichischen Behörden vorliegt.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7869
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Conradi.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß die Ausführungen des Herrn Habsburg über Schritte, die in Notstandsfällen zu ergreifen wären, Zweifel begründen, ob Herr Habsburg die Gewähr dafür bietet, sich zur freiheitlichdemokratischen Grundordnung zu bekennen, sondern daß diese Ausführungen die Vermutung nahelegen, es handle sich um eine Person, die — nach den Richtlinien — „in innerer Abhängigkeit zu totalitären Ideologien steht" und der deshalb die Einbürgerung zu versagen ist?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat es aus — wie ich meine — verständlichen Gründen abgelehnt, die Einstellung von Einzelpersonen zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung hier im Plenum des Deutschen Bundestages zu bewerten. Ich möchte von dieser Praxis, die ihre guten Gründe hat, die den Schutz der einzelnen Personen betreffen, nicht abgehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß Otto von Habsburg einer der ersten Leidtragenden der nationalsozialistischen Machtergreifung in Österreich war, durch die er zum Verlassen seines Heimatlandes gezwungen wurde?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann nicht ausschließen, daß es der Bundesregierung bekannt ist. Mir ist es im. Augenblick nicht bekannt, wie ich gerne zugebe.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 60 des Herrn Abgeordneten Menzel auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in der letzten Zeit verstärkt Zeitschriften mit nationalsozialistischem Gedankengut auf den Markt kommen, daß aber nach Angaben des Bundeskriminalamts z. B. wegen der „Sonderhefte" der Jahr-Verlags-KG mit positiven Darstellungen des „Dritten Reiches" bisher im gesamten Bundesgebiet weder Beschlagnahme- noch Einziehungsbeschlüsse oder Verurteilungen bekanntgeworden sind?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat keine Kenntnis von angeblichen Äußerungen des Bundeskriminalamts, auf die Sie sich, Herr Kollege, in Ihrer Frage beziehen. Der Bundesregierung ist jedoch bekannt - sie hat verschiedentlich auch in der Öffentlichkeit darauf hingewiesen —, daß das Interesse an Literatur, Tondokumenten und sonstigen Informationsmitteln über die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gestiegen ist und dieses Interesse von zahlreichen
Verlagen und Buchdiensten kommerziell genutzt wird. Die Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden widmen diesen Vorgängen große Aufmerksamkeit. Beispielsweise wurde eine Schriftenreihe des von Ihnen genannten Verlags von den Strafverfolgungsbehörden mit dem Ergebnis der Einziehung von Werbematerial für diese Serie überprüft. Eine weitere Serie dieses Verlages mit dem Titel „Signal" — es handelt sich um den unveränderten Nachdruck einer während der NS-Ära im Ausland verbreiteten Propaganda-Zeitschrift — wurde am 8. Juni 1978 von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 61 des Herrn Abgeordneten Menzel auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß der Polizei der Zugriff zu solchen Veröffentlichungen dadurch erschwert ist, daß sie unter dem Deckmantel von „Dokumentationen" oder „wissenschaftlichen Untersuchungen" herausgegeben werden, und hält die Bundesregierung gesetzgeberische Maßnahmen für notwendig, um zu verhindern, daß derartige Publikationen weiterhin verbreitet werden?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Nach dem geltenden Strafrecht in § 86 und § 86 a des StGB ist das Verbreiten und Verwenden von Propagandamitteln und Kennzeichen ehemaliger nationalsozialistischer Organisationen unter Strafe gestellt. Nach § 86 Abs. 3 StGB entfällt die Strafbarkeit jedoch, wenn das Propagandamittel oder die Handhabung der staatsbürgerlichen Aufklärung, ,der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre sowie der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte bzw. ähnlichen Zwecken dient. Die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden haben jeweils sorgfältig zu prüfen, ob eine Publikation von dieser sogenannten Sozialadäquanzklausel gedeckt ist. Anderenfalls sind von Amts wegen entsprechende Strafverfolgungsmaßnahmen zu ergreifen.
Zu Ihrer Frage, ob gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich sind, hat Herr Kollege de With in der Fragestunde ,des Deutschen Bundestages vom 31. Mai 1978 ausführlich Stellung genommen. Er hat dabei dargelegt, daß bisher zahlreiche Ermittlungsverfahren auf der Grundlage der Strafbestimmungen der §§ 86 und 86 a StGB mit Nachdruck geführt wurden und werden. Die bisherige Auswertung dieser Verfahren durch den Bundesminister der Justiz hat, wie Herr Kollege Dr. .de With weiter ausgeführt hat, keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß die Straftatbestände der §§ 86 und 86 a StGB ergänzungsoder änderungsbedürftig wären.
Eine abschließende Bewertung, ob sich gesetzgeberische Maßnahmen als notwendig erweisen sollten, wird erst möglich sein, wenn die vom Bundesminister der Justiz angeregte und von ,der Justizministerkonferenz vom 31. Mai 1978 befürwortete Prüfung unter Berücksichtigung .der jüngsten Entwicklung durchgeführt ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kuhlwein.
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7870 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Herr Staatssekretär, hält es die Bundesregierung für möglich — oder kann sie das dementieren —, daß hinter den verstärkt auf den Markt kommenden Zeitschriften mit nationalsozialistischem Gedankengut, z. B. auch durch den JohnJahr-Verlag, möglicherweise auch Steuerungen von dritter Seite, vielleicht von KGB stecken?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat keinerlei Erkenntnisse dieser Art.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 62 des Abgeordneten Conradi auf:
Nach welchen auf eine Organisation bzw. Partei bezogenen Kriterien beurteilt die Bundesregierung, ob eine Partei verfassungsfeindlich ist oder ob gegen sie der Verdacht der Verfassungswidrigkeit gemäß Artikel 21 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes besteht?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Nach Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes sind Parteien verfassungswidrig, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden.
Freiheitlich-demokratische Grundordnung ist vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über das Verbot der rechtsextremistischen Sozialistischen Reichspartei definiert als — ich zitiere —„eine Ordnung, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt".
Zum Kernbestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sind nach dieser Entscheidung zu rechnen — ich zitiere —: „Die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition".
Eine Organisation, deren politische Zielsetzung gegen diesen Kernbestand unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerichtet ist, verfolgt verfassungsfeindliche Ziele.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihrer Antwort entnehmen, daß der Unterschied zwischen den Begriffen verfassungsfeindlich und verfassungswidrig allein darin besteht, daß die Verfassungswidrigkeit einer Organisation oder Partei vom Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsfeindlichkeit
von der Bundesregierung oder einer Landesregierung festgestellt wird?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist richtig, daß die rechtskräftige Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist. Es ist ebenfalls richtig, daß die Bundesregierung nach einer gerichtlichen Entscheidung, die auf Grund einer Klage der NPD herbeigeführt wurde, das Recht hat, einzelne Organisationen beispielsweise im Verfassungsschutzbericht des Bundesministers des Innern als verfassungsfeindlich einzustufen.
Weitere Zusatzfragen, bitte.
Herr Staatssekretär, enthält die Liste im Anhang zum Verfassungsschutzbericht 1976 mit ihren 238 dort genannten Organisationen verfassungsfeindliche Organisationen, und ist die Bundesregierung bereit, bekanntzugeben, welche dieser 238 Organisationen sie als verfassungsfeindlich betrachtet, damit der Beamte sich darüber im klaren ist, bei welcher dieser Organisationen eine aktive Mitgliedschaft von der Bundesregierung als verfassungsfeindlich, d. h. als Treuepflichtverletzung, betrachtet werden könnte?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin Ihnen für die Frage insofern dankbar, als sie mir Gelegenheit gibt, darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung niemals behauptet hat, daß die in der von Ihnen zitierten Liste aufgeführten Organisationen etwa alle verfassungsfeindlich wären. Eine solche Behauptung gibt es nicht; sie wäre auch falsch.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sieglerschmidt.
Herr Staatssekretär, nur um die Dinge völlig klarzustellen: Ist es nicht so, daß ein Unterschied zwischen den Begriffen „verfassungsfeindlich" und „verfassungswidrig" in diesem Zusammenhang auch darin besteht, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit zusätzliche Kriterien entwickelt hat — etwa das kämpferische Eintreten für die verfassungsfeindlichen Ziele —, die bei der Verfassungsfeindlichkeit nicht gegeben zu sein brauchen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich stimme Ihrer Frage insofern zu, als die Begriffe auf zwei unterschiedlichen Ebenen liegen und zwei unterschiedliche Sachverhalte zum Gegenstand haben. Sie sind von daher nicht völlig deckungsgleich.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, welche Wirkung hat die Einstufung als verfassungsfeindlich für
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7871
Paternadie Mitglieder, Funktionäre oder Kandidaten dieser Partei, wenn sie sich für den Vorbereitungsdienst bewerben bzw. im Rahmen eines Disziplinarverfahrens, sofern sie schon Beamte sind?von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann diese Frage nur für den Bundesbereich beantworten. Die Bundesregierung hat mehrfach erklärt, daß sie entsprechend einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jeden Schematismus in Form der Abstellung auf die Mitgliedschaft eines Bewerbers in einer bestimmten Partei oder Organisation bei der Entscheidung, ob ein Bewerber in den öffentlichen Dienst kann, ablehnt und jeweils den Einzelfall prüft.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin mitgeteilt, daß nach Auffassung der Bundesregierung nicht alle der 238 im Anhang zum Verfassungsbericht enthaltenen Organisationen verfassungsfeindlich seien. Wären Sie bereit, dem Hause mitzuteilen, welche der 238 dort genannten Organisationen von der Bundesregierung für verfassungsfeindlich gehalten werden?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, meine Antwort kann Sie deshalb nicht überraschen, weil die Bundesregierung niemals behauptet hat, daß diese Organisationen verfassungsfeindliche Zielsetzungen verfolgten. Im übrigen wird sich das Kontrollgremium des Deutschen Bundestages in aller Ausführlichkeit mit diesen von Ihnen angesprochenen Listen beschäftigen. Ich möchte diesen Beratungen nicht vorgreifen und die Weiterbehandlung dieses Themas zunächst dem Kontrollgremium und dann dem Innenausschuß vorbehalten.
Zusatzfrage, Herr Abgegeordneter Jäger.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung gleichwohl an ihrer bisher ständig vertretenen Auffassung fest, daß die Deutsche Kommunistische Partei nach ihrer Auffassung eine verfassungsfeindliche Partei ist?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Ich habe keinerlei Anlaß, irgendwelche Änderungen an bisher zu diesem Thema von der Bundesregierung abgegebenen Erklärungen vorzunehmen. Die Erklärungen der Bundesregierung gelten nach wie vor; sie entsprechen den Tatsachen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 63 des Abgeordneten Jäger auf:
Trifft die im Teil I des „Höcherl-Berichts" unter Nummer 6.3.8 getroffene Feststellung zu, durch eine aus den Beratungen der politischen Gremien hervorgegangenen Entscheidung, einen großen „Exekutivschlag" vorzubereiten, sei „bei den unteren Polizeibehörden die Klarheit über die Fahndungsziele verwirkt" worden, und wie sind bejahendenfalls die Ausführungen des Bundeskanzlers in der Debatte vom 15. Juni damit zu vereinbaren?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die von Ihnen zitierte Feststellung .des Höcherl-Berichts ist in der Frage nicht vollständig wiedergegeben und trifft daher in dieser Form nicht zu. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Rede am 15. Juni 1978 ausgeführt, daß — ohne Einmischung in polizeitaktische Maßnahmen — denkbare polizeiliche Tätigkeiten im politischen Beratungsgremium unter dem Aspekt erörtert worden sind, welche Reaktionen sie auf der Seite der Verbrecher auslösen, und daß deshalb die verantwortlichen Politiker entschieden haben, eine groß angelegte polizeiliche Durchsuchungsaktion für den Zeitraum nicht einzuleiten, in dem davon auszugehen war, daß Herr Schleyer lebte; denn sie hätte dazu führen können, daß ihn seine Bewacher*) in einer Kurzschlußreaktion getötet hätten. Das eindeutige Fahndungsziel, nämlich das Auffinden des Verwahrortes von Hanns Martin Schleyer, wurde jedenfalls durch diese von den Vertretern der Opposition mitgetragene Überlegung keinem Zweifel ausgesetzt.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, nachdem nun aber der Bericht des früheren Bundesministers Höcherl eindeutig davon ausgeht, daß, wie er sich ausdrückt, ein „großer Exekutivschlag" tatsächlich von politischer Seite, wie es dort heißt, angeordnet und ins Auge gefaßt sei, möchte ich Sie fragen, wieso der Bundeskanzler bei seiner Äußerung hier im Deutschen Bundestag diesen Umstand unerwähnt gelassen hat, obwohl er ganz offensichtlich anderer Auffassung war als der Höcherl-Bericht.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der Bundeskanzler hat diesen Tatbestand nicht unerwähnt gelassen. Er hat ihn ausdrücklich erwähnt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, erlauben Sie mir, daß ich die Frage an Sie richte, wie Sie zu der Auffassung kommen, daß der Bundeskanzler dies ausdrücklich erwähnt habe, wenn Sie das Protokoll dieser Sitzung gelesen haben.von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin gern bereit, Ihnen die entsprechende Stelle aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages vorzulesen, wenn der Präsident dies gestattet. Der Bundeskanzler hat in der Debatte am 15. Juni 1978 folgendes ausgeführt — ich zitiere —:Ich benutze ein einziges Beispiel, um Ihnen deutlich zu machen, was ich eben gemeint habe. Ich glaube, Herr Eyrich — oder war es Herr Spranger? — hat hier von einer vorbereiteten, groß angelegten polizeilichen Durchsuchungsaktion geredet. In der Tat, es gab polizeiliche Pläne solcher Art. Ich weiß mich im Augen-*) Nachträglich geändert in „Entführer"
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7872 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Parl. Staatssekretär von Schoelerblick nicht aus 'dem Handgelenk zu erinnern, ob diese Gedanken aus dem Länderbereich oder aus dem Bundesbereich kamen. Ich lasse das offen; es tut auch nichts zur Sache. Wahr ist, daß wir uns in dem politischen Beratungsgremium mit diesen Plänen beschäftigt haben.Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hupka.
Herr Staatssekretär, ist es nicht vielleicht ein falscher Ausdruck, wenn Sie soeben in der Antwort auf die Frage meines Kollegen Jäger die Entführer von Herrn Schleyer „Be- wacher" genannt haben? Bewacher waren diejenigen, die mit ermordet worden sind.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das wäre mit Sicherheit eine falsche Bezeichnung gewesen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie wirklich so bezeichnet habe. Wenn das der Fall war, dann werde ich das im Protokoll 'des Deutschen Bundestages korrigieren.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Frage 126 des Herrn 'Abgeordneten Schäfer wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht uns der Herr Parlamentarische Staatssekretär Böhme zur Verfügung.
Ich rufe Frage 66 des Herrn Abgeordneten von der Heydt auf:
Ist die Bundesregierung im Hinblick auf die beabsichtigte Normierung der Umsatzsteuerfreiheit von Verwaltungsgebühren für Sondervermögen bereit, in einer Anweisung an die Finanzverwaltung klarzustellen, daß diese Steuerfreiheit auch schon im geltenden Recht gegeben ist?
Bitte schön.
Herr Kollege, die Frage der umsatzsteuerrechtlichen Behandlung der Verwaltung von Sondervermögen durch Kapitalanlagegesellschaften ist mit den obersten Finanzbehörden der Länder eingehend erörtert worden. Diese Erörterung hat zu dem Ergebnis geführt, daß diese Leistung nach geltendem Recht nicht umsatzsteuerfrei ist. Die Bundesregierung ist bei der gegebenen Rechtslage nicht befugt, im Vorgriff auf die von ihr vorgeschlagene Änderung des Umsatzsteuergesetzes die bezeichnete Leistung bereits jetzt von der Umsatzsteuer freizustellen. Die Verwaltung würde hierdurch in unzulässiger Weise in die Befugnisse des Gesetzgebers eingreifen.
Zusatzfrage, bitte.
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dies kann ich nicht bestätigen. Die Neuregelung der Umsatzsteuerfreiheit von Verwaltungsgebühren für Sondervermögen könnte Gegenstand einer Regelung bei der Änderung des Umsatzsteuergesetzes sein Es ist nicht möglich, hier mit Rückwirkung eine Umsatzsteuerfreiheit auszusprechen.
Zusatzfrage, bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Sfatssekretär, wenn nach Ihrer Auffassung die Umsatzsteuerpflicht für die Verwaltungsvergütung für Sondervermögen seit 1967 gegeben ist, wie erklären Sie es sich dann, daß keine rechtskräftigen Veranlagungen vorgenommen worden sind, sondern der Rechtsweg beschritten werden mußte? Normalerweise hätten doch die Finanzverwaltungen eine rechtskräftige Veranlagung vornehmen müssen, gegen die natürlich dann das Rechtsmittel des Einspruchs bestanden hätte. Aber es hätte trotzdem gezahlt werden müssen.
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Es ist möglich, daß die Veranlagungen ausgesetzt wurden, weil Rechtsstreitigkeiten im Gang waren. Wie ich Ihnen vorhin in meiner Antwort mitteilte, ist die Frage mit den obersten Finanzbehörden der Länder ausgiebig erörtert worden. Ich nehme an, daß die Veranlagungen bis zur endgültigen Entscheidung durch die Referenten von Bund und Ländern zurückgestellt worden sind. Ich kann Ihnen dies aber noch genauer schriftlich mitteilen.
Keine weiteren Zusatzfragen?Dann rufe ich die Frage 67 der Frau Abgeordneten Will-Feld auf:Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Parlamentarischen Staatssekretärs, der im SPD-Pressedienst aus Vergleichsprozentzahlen über Steueranteile von Körperschaftsteuer, Einkommen- und Lohnsteuer schließt, daß Forderungen der Wirtschaft auf weitere Steuerentlastungen ungerechtfertigt seien, und wenn ja, hat die Bundesregierung dabei berücksichtigt, daß der Zuwachs der Lohnsteuer auch darauf zurückzuführen ist, daß wesentliche Beträge bei der Einkommensteuer erstattet werden, die vorher als Lohnsteuer gezahlt wurden und daß immer mehr Einkommensbezieher in unselbständige Berufe flüchten und damit Lohnsteuerzahler werden?Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Ich bitte, die Fragen 67 und 68 gemeinsam beantworten zu dürfen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7873
Dann rufe ich auch die Frage 68 der Frau Abgeordneten Will-Feld auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß Gewinne der Körperschaften einem gleichbleibenden Steuersatz unterworfen sind und daher keine tariflichen Progressionssteigerungen bei der Körperschaftsteuer zu Buche schlagen können?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: In dem von Ihnen zitierten Artikel wurde darauf hingewiesen, daß der Anteil der typischen Unternehmensteuern am gesamten Steueraufkommen in den vergangenen Jahren relativ zurückgegangen ist, während sich bei der Lohnsteuer ein überproportionaler Anstieg ergeben hat. Weiterhin wurden die seit 1975 erfolgten zahlreichen Entlastungsmaßnahmen zugunsten der Wirtschaft dargestellt. Daraus war gefolgert worden, daß zu Hektik auf dem Gebiet der Unternehmensbesteuerung kein Anlaß bestehe. Diese Auffassung wird von der Bundesregierung geteilt.
Es trifft zu, daß aus dem Einkommensteueraufkommen Beträge erstattet werden, die zunächst als Lohnsteuer gezahlt wurden. Diese Erstattungen erfolgen jedes Jahr. Die Schwankungen in den Erstattungsbeträgen sind jedoch zu gering, um den Trend in der Aufkommensentwicklung der Lohn-und Einkommensteuer wesentlich beeinflussen zu können. Von 1975 bis 1977 schwankten die Erstattungen z. B. zwischen 4,6 und 5,1 Milliarden DM, während die Lohn- und Einkommensteuer 1977 ein Aufkommen von 90,8 Milliarden DM bzw. 35,5 Millionen DM erbrachten.
Auch der in den vergangenen Jahren insgesamt zu verzeichnende leichte Rückgang der Selbständigenzahlen dürfte keinen ausschließlich bestimmenden Einfluß auf die Entwicklung des Lohn- und Einkommensteueraufkommens ausüben. Hier deutet sich außerdem an, daß die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen zur Mittelstandsförderung inzwischen zu greifen begonnen haben. Die gerade veröffentlichten Ergebnisse der Umsatzsteuerstatistik 1976 zeigen, daß die Zahl der umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen von 1974 bis 1976 um 1,1 v. H. gestiegen ist.
Der Bundesregierung ist — dies zu Ihrer zweiten Frage — bekannt, daß der Körperschaftsteuertarif anders als der Einkommensteuertarif nicht progressiv gestaltet ist. Von Problemen der Steuerprogression kann daher bei der Körperschaftsteuer nicht gesprochen werden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir auch zustimmen, daß der Terrainverlust bei der veranlagten Einkommensteuer auch darin liegt, daß bei Erreichung des Spitzensteuersatzes der Einkommenszuwachs sich in geringeren steuerlichen Zuwachsraten darstellt, weil er nahezu proportional zum Einkommen verläuft?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Dies kann ich bestätigen, weil ja der Spitzensteuersatz ein oberer Proportionalsteuersatz ist wie im unteren Bereich die untere Proportionalzone.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir weiterhin darin zustimmen, daß die Tatsache, daß die Unternehmensbesteuerung relativ an Bedeutung verloren hat, nicht darauf zurückzuführen ist und auch nicht darauf schließen läßt, daß die Betriebe und die Selbständigen geringer besteuert werden?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Die Zahlen sind in dem von Ihnen zitierten Artikel, auf den sich die Frage bezieht, im einzelnen genannt worden. Die Wertung, die Sie eben vornehmen, ergibt sich aus diesem Artikel nicht.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir auch darin zustimmen, daß immer mehr Lohnsteuerzahler in immer höhere Tarife hineinkommen und daß daher auch eine umfassende steuerliche Tarifreform notwendig ist?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, dieses Thema wird in einer halben Stunde hier im Deutschen Bundestag erörtert werden, und zwar anläßlich des Tarifberichtes. Es ist gar kein Zweifel, daß durch steigende Einkommen auch im Bereich der Lohnsteuerzahler jedes Jahr Arbeitnehmer in den Bereich der Progressionszone hineinwachsen. Ebenso richtig ist aber, daß 1977 mit Wirkung zum 1. Januar 1978 erhebliche Steuerentlastungen vorgenommen worden sind, die teilweise in der Wirkung einer Tarifreform entsprochen haben.
Keine weiteren Zusatzfragen.Wir kommen zu den Fragen 69 und 70. Der Fragesteller, der Abgeordnete Wohlrabe, hat schriftliche Beantwortung der Fragen gewünscht. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe nun die Frage 71 des Abgeordneten Peiter auf:Ist der Bundesregierung bekannt, welche Bundesländer Wirtschaftsunternehmen in Räumen, die in der Gemeinschaftsaufgabe „Programm zur Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur" als förderungswürdig ausgewiesen sind, Grunderwerbsteuerbefreiung erteilen?Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Nach Kenntnis der Bundesregierung gibt es Grunderwerbsteuerbefreiungen zur Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur in Baden-Württemberg, in Bayern, in Hessen, in Niedersachsen, in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Schleswig-Holstein. Begünstigt ist in aller Regel der Erwerb eines Grundstücks zur Errichtung oder Erweiterung einer Betriebsstätte, wenn diese Maßnahme geeignet ist, die Wirtschaftskraft oder die Wirtschaftsstruktur bestimmter Gebiete zu verbessern. In allen genannten Ländern wird die Steuerbefreiung nur dann gewährt, wenn eine gesetzlich bestimmte Behörde bescheinigt, daß es sich um eine förderungswürdige
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Parl. Staatssekretär Dr. BöhmeMaßnahme handelt. Die Beurteilung, ob eine Maßnahme förderungswürdig ist, richtet sich im allgemeinen nach Landesrecht; eine Anknüpfung an das Bundesgesetz über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" findet sich nur im Recht des Landes Baden-Württemberg.
Eine Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie bei Ihrer Aufzählung richtig verstanden, daß es diese Grundsteuerbefreiung im Land Rheinland-Pfalz nicht gibt?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Dies kann ich bestätigen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sehen Sie eine Möglichkeit, daß die Bundesregierung auf die Bundesländer einwirkt, diese Befreiungen doch zu gewähren?
Dr. Böhme, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung ist an einer Vereinheitlichung des Grunderwerbsteuerrechts durchaus gelegen. Sie prüft gegenwärtig auch, wie diese Vereinheitlichung durch ein besonderes Bundesgesetz herbeigeführt werden kann. Mit einem solchen Gesetz würde die konkurrierende Gesetzgebung der Länder auf dem Gebiet der Grunderwerbsteuer ihr Ende finden. Solange aber dieses Gesetzgebungsrecht der Länder noch besteht, möchte die Bundesregierung von einer Einmischung in verfassungsmäßige Rechte der Länder absehen,
insbesondere natürlich der einigen wenigen Länder, die, wie etwa Rheinland-Pfalz, diese Grunderwerbsteuerbefreiung nicht haben.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Herr Parlamentarische Staatssekretär Gallus zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 72 des Abgeordneten Oostergetelo auf:
Hält es die Bundesregierung angesichts der wachsenden Kritik der landwirtschaftlichen Tierhalter an den Kennzeichnungsvorschriften im Futtermittelrecht nicht für möglich, im Rahmen einer Rechtsverordnung vorzuschreiben, daß Mischfutter, dessen Zusammensetzung von den sogenannten Normtypen abweicht, offen deklariert werden muß?
Herr Kollege, die Bundesregierung hat bereits in der Fragestunde der 79. Sitzung am 10. März die-
ses Jahres in Beantwortung der Frage A 96 darauf
hingewiesen, daß sie keine Anhaltspunkte für Bestrebungen hat, im Rahmen der Richtlinie des Rates über den Verkehr mit Mischfuttermitteln die sogenannte offene Deklaration der Gemengeteile zu verbieten. Die EG-Mitgliedstaaten sind vielmehr übereingekommen, die Richtlinie so zu gestalten, daß die Mitgliedstaaten zwischen einer obligatorischen und einer fakultativen Deklaration der Gemengeteile wählen können.
Eine Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, könnte man nicht die sogenannte offene Deklaration, d. h. die Angabe der Gemengeteile, zusammen mit der geschlossenen Deklaration, d. h. der Angabe der Inhaltsstoffe, als optimale Information bezeichnen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, daß die derzeitige Handhabung ein Fortschritt gegenüber der früheren Regelung ist. Trotzdem hat die Anwendung gezeigt, daß es gewisse Unzulänglichkeiten gibt. Ich glaube, daß diese Unzulänglichkeiten beseitigt werden können, auch ohne das zwangsweise zur offenen Gemengeteildeklaration zurückgekehrt wird. Sie wissen, daß kürzlich ein Gespräch, zu dem ich eingeladen hatte, zwischen den Beteiligten — insbesondere auch in Anwesenheit des Deutschen Bauernverbandes —stattgefunden hat.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, da die verdauliche Substanz, also der tatsächliche Energiewert, den Wert eines Futtermittels ausmacht und es viele Betriebe gibt, die auch ihr eigenes Futter verwenden, die Kontrollierbarkeit also fast nicht gegeben ist, frage ich Sie: Teilen Sie meine Meinung, daß die Gefahr der Manipulation mit nur theoretischen Werten, die von den Tierhaltern dann nur bedingt verstanden werden, besonders groß ist?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihre Auffassung nur bedingt teilen. Tatsache ist, daß sich der Deutsche Bauernverband in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten darum bemüht, eine freiwillige Selbstkontrolle einzuführen. Ich hielte das für sehr gut.
Des weiteren soll voraussichtlich am 1. Januar 1979 eine Verordnung zur Änderung der Futtermittelverordnung in Kraft treten, in der eine Anpassung des nationalen Rechts an das EG-Recht vorgenommen wird, wonach die maßgebenden Inhaltsstoffe deklariert werden müssen.
Keine weiteren Zusatzfragen.Ich rufe die Frage 73 des Abgeordneten Oostergetelo auf:
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Vizepräsident StücklenStimmt es, daß tatsächlich interessierte Kreise in Brüssel versuchen, im Rahmen einer Richtlinie des Rates über den Verkehr mit Mischfuttermitteln die sogenannte offene Deklaration zu verbieten, und kann die Bundesregierung bejahendenfalls im Rahmen der Brüsseler Beratungen über eine EG-Richtlinie für Mischfuttermittel eventuell durch die Entsendung neutraler Experten dafür sorgen, daß die im deutschen Futtermittelrecht enthaltene und von der Mehrzahl der landwirtschaftlichen Tierhalter gewünschte offene Gemengteildeklaration auch in Zukunft erhalten bleibt?Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung kann Ihre Frage zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend beantworten. Die Beratungen insbesondere mit den Verbänden sind noch nicht abgeschlossen. Die weitere Meinungsbildung wird insbesondere davon abhängen, ob in absehbarer Zeit eine freiwillige Futtermittelselbstkontrolle zustande kommt oder nicht.Im übrigen erscheint es sachlich nicht gerechtfertigt, wenn die offene Deklaration der Gemengeteile verlangt wird, dies nur für Nicht-Normtyp-Mischfuttermittel zu fordern, da bei solchen Futtermitteln ohnehin mehr Angaben vorgeschrieben sind als bei Normtyp-Mischfuttermitteln.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß den Herstellern und den Tierhaltern die Freiheit, die offene oder die geschlossene Deklaration anzuwenden, nicht genommen werden darf?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Das ist im Gesetz so verankert und wird nicht verändert. Die fakultative Deklaration der Gemengeteile ist jederzeit möglich für den, der es machen will.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wird sich die Bundesregierung auch in Zukunft allen eventuellen Versuchen widersetzen, die Information über Wert und Bestandteile der Futtermittel auf EG-Ebene einzuschränken?
Gallus, Parl. Staatssekretär: So ist es, Herr Kollege.
Keine weitere Zusatzfrage? — Ich rufe die Frage 74 des Abgeordneten Schartz auf:
Stimmt die Bundesregierung meiner Auffassung zu, daß eine Aufnahme der Länder Spanien, Portugal und Griechenland in die EG die jetzt schon bestehenden Schwierigkeiten auf dem Weinmarkt vergrößern wird, und was gedenkt sie zu tun, um den deutschen Weinbau vor Schäden zu schützen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schartz, die in Griechenland, Portugal und Spanien erzeugten Weine sind, abgesehen von Likörweinen, größtenteils den Tafelweinen der Gemeinschaft vergleichbar. Daher dürfte der Beitritt dieser Länder vor allem die auf dem EG-Tafelweinmarkt bestehenden Probleme verschärfen.
In der Bundesrepublik Deutschland lag der Anteil der Tafelweine an der Gesamterzeugung im Durch-
schnitt der Jahre unter 10 °/o, so daß durch den Beitritt nur ein kleiner Teil ,der deutschen Erzeugung betroffen würde. Hinzu kommt, daß die Tafelweine der nördlichen Zonen — Luxemburg, Deutschland und ein Teil Frankreichs — bereits heute einen weitgehend selbständigen, von den Tafelweinen der südlichen Zonen getrennten Markt aufweisen.
Angesichts des zu erwartenden Beitritts von Ländern mit beachtlicher Weinproduktion sind nach Auffassung der Bundesregierung die Erhaltung der Spezialität und die Steigerung der Qualität deutscher Weine die entscheidende Voraussetzung für die Erhaltung eines wettbewerbsstarken deutschen Weinbaus.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie stellen in Ihrer Antwort auf die Tatsache ab, daß der überwiegende Teil der Weinproduktion in den beitrittswilligen Ländern aus Tafelweinen besteht. Hat die Bundesregierung in Erwägung gezogen, jetzt schon in den Beitrittsverhandlungen dafür zu sorgen, daß dieser Tafelwein nicht durch nationale Gesetze in diesen beitrittswilligen Ländern zu Qualitätswein umdeklariert wird?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, grundsätzlich werden wir alles tun, um nicht mit zusätzlichen Weinproblemen belastet zu werden.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ohne Zweifel wird es bei dem jetzt schon bestehenden Überangebot an Wein in der Europäischen Gemeinschaft auch deswegen zu einer starken Konkurrenz kommen, weil dort Vorteile bei der Produktion von Wein bestehen: niedrige Lohnkosten und ähnliche Dinge. Ist die Bundesregierung bereit, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen, um auch in Deutschland über das bisherige Maß hinaus die Rationalisierung in der Weinproduktion zu fördern?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin der Auffassung, daß die Rationalisierung des deutschen Weinbaus bereits einen hohen Grad erreicht hat und daß die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Weinbaus unumstritten ist. Was Sie ansprechen, nämlich das in den beitrittswilligen Ländern bestehende sehr viel niedrigere Lohnniveau, kann nach Auffassung der Bundesregierung nur dadurch aufgefangen werden, daß eine verhältnismäßig lange Übergangszeit einen entsprechenden Anpassungsprozeß der einzelnen Volkswirtschaften einander ermöglicht.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glos.
Herr Staatssekretär, gehört zur Abwendung von Schäden von der deutschen Weinwirtschaft, verursacht durch beitrittswillige Länder, auch die Garantie der Bundesregierung, sich mit
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Glosallem Nachdruck dafür einzusetzen, daß der fränkische Bocksbeutel in der arteigenen Weinflasche auch nach dem Beitritt Portugals absolut geschützt bleibt?Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat sich schon bisher für den Schutz dieses Markenzeichens, des fränkischen Bocksbeutels, eingesetzt und wird dies auch in Zukunft tun. Soweit ich weiß, sind in der Vergangenheit bereits gerichtliche Klarstellungen zugunsten des fränkischen Bocksbeutels erfolgt.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, Sie haben davon gesprochen, daß sich die Bundesregierung für den Erhalt des fränkischen Bocksbeutels eingesetzt hat. Mit welchem Erfolg?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe davon gesprochen, daß sich die Bundesregierung grundsätzlich dafür einsetzt, daß diese Marke erhalten werden kann. Ich habe darauf hingewiesen, daß bereits gerichtliche Entscheidungen zugunsten des Bocksbeutels ergangen sind. Die Bundesregierung hat zu keiner Zeit etwas unternommen, was gegen die Erhaltung dieses Markenzeichens „Bocksbeutel" gerichtet war.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sieglerschmidt. — Zum Bocksbeutel oder zu den anderen?
Nein, zu Europa, Herr Präsident.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß bei allen notwendigen und sorgfältig zu überlegenden Übergangsmaßnahmen, die gerade auf dem Gebiet der Weinwirtschaft notwendig sind, nichts geschehen darf, was den Beitritt, die erweiterte Gemeinschaft mit Anflügen nationalen Protektionismus belastet?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich stimme Ihnen zu. Ich glaube, alle politischen Gruppen in diesem Hause stimmen hierin überein.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß der Schutz des Bocksbeutels, der ortsüblich ist, nichts mit Protektionismus zu tun hat?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Ich stimme Ihnen zu.
Keine weiteren Zusatzfragen . —.Es wäre so ein genüßliches Thema gewesen. Wenn da mehr Zusatzfragen gekommen wären, wäre das geradezu angenehm für uns alle gewesen, wenn ich daran denke, was vorher schon an Zusatzfragen gekommen ist.
Ich rufe die Frage 75 des Abgeordneten Schartz auf:
Ist die Bundesregierung bereit, alle geeigneten Schritte zu unternehmen und welche Möglichkeiten hat sie, um zu verhindern, daß die beitrittswilligen Länder Spanien, Portugal und Griechenland vor Eintritt in die EG ihre Weinbauflächen und ihre Weinproduktion ausweiten?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schartz, die Bundesregierung tritt seit vielen Jahren sowohl innerhalb der EG als auch im Rahmen der FAO und des Internationalen Weinamtes für anbaubegrenzende Maßnahmen ein. Spanien hat durch Dekret vom 28. Juli 1976 eine Anbauregelung erlassen. Für die Wirtschaftsjahre 1976/77 und 1977/78 sind danach Neuanpflanzungen von Rebflächen zur Keltertraubenerzeugung verboten.
Die Bundesregierung tritt dafür ein, daß die beitrittswilligen Länder bereits vor dem Beitritt Maßnahmen treffen, die denen vergleichbar sind, die die Gemeinschaft zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage bereits getroffen hat bzw. noch treffen wird.
Eine Zusatzfrage. — Bitte.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung alle ihre politischen Mittel einsetzen wird, um in diesen Ländern den Rechtszustand zu erreichen, der heute schon in der EG Tatsache ist, nämlich ein Anbauverbot für neue Rebanlagen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Ja.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung die Tatsache bekannt, daß, ähnlich wie der Kollege Glos das eben angesprochen hat, schon heute die Gefahr besteht, "daß in diesen beitrittswilligen Ländern neue Bezeichnungen für Weine gefunden werden, die den Verbraucher in der EG irreführen können, und ist die Bundesregierung bereit, schon heute gegen diese Dinge einzuschreiten?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schartz, Sie wissen, daß die Bezeichnung und die Herkunft der Weine im Rahmen der EG-Regelungen eine bedeutende 'Rolle spielen. Ich bin der Auffassung, daß wir uns auch in bezug auf den Beitritt der drei Länder entsprechend verhalten sollten, indem wir darauf aufmerksam machen, daß diejenigen Maßnahmen, die in der EG in bezug auf Bezeichnung und Herkunft der Weine gelten, auch dort bereits berücksichtigt werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glos.
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Herr Staatssekretär, gilt das auch für die Tatsache, daß man von seiten der ausländischen Wettbewerber hier schöpferisch tätig ist und neue Namen für bestehende Flaschenformen erfindet, z. B. für die Tatsache, daß die Portugiesen ihren Bocksbeutel ;,Chantillflasche" nennen? Erstreckt sich dann der Schutz auch auf die mißbräuchliche Verwendung dieser Bezeichnung?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das wird letzten Endes eine rechtliche Frage sein, bei der geklärt werden muß, inwieweit das in Konkurrenz zur dem bereits vorhin erwähnten Bocksbeutel tritt, der in der Bundesrepublik Deutschland und in der EG weitgehend geschützt ist.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Will-Feld.
Herr Staatssekretär, ist von seiten der Bundesregierung daran gedacht, diese Länder vor Eintritt . in die EG aufzufordern, EG-Recht für den Wein einzuführen, und ist auch daran gedacht, das EG-Recht bereits über einen gewissen Zeitraum von mehreren Jahren in diesen Ländern gelten zu lassen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, bevor die Beitrittsverhandlungen nicht abgeschlossen sind, werden sich die Länder nicht dazu bereit erklären können. Ich habe aber hier bereits mehrmals in bezug auf gewisse Sachtatbestände betont, daß wir alles tun werden, die beitrittswilligen Länder dementsprechend zu orientieren. Das ist in bezug auf die Weinanbaubeschränkungen z. B. in Spanien, wie Sie hier gehört haben, schon geschehen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 76 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Nach welchen Maßstäben bemißt die polnische Regierung die Summen, die zur Auslösung der Besatzung deutscher Fischkutter mit rund 32 000 DM und mit rund 54 000 DM von der Bundesrepublik Deutschland abverlangt worden sind?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, im Falle der Aufbringung des Fischkutters „Wagram" hat die Bundesregierung die vom zuständigen polnischen Gericht in Gdingen gegen einen deutschen Fischer verhängte Geldstrafe von rund 31 250 DM gezahlt. Von dem Kapitän des Fischkutters „Capella" hat das zuständige polnische Gericht in Kol- berg für die Freilassung der Besatzungsmitglieder und des Fahrzeugs eine Kaution von rund 54 000 DM gefordert. Diese hat die Bundesregierung für den Fischer gestellt. Angaben, nach welchen konkreten Gesichtspunkten die zuständigen polnischen Gerichte die Höhe der Geldstrafe und der Kaution festgesetzt haben, sind der Bundesregierung bisher nicht bekannt.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, hat sich vielleicht die Bundesregierung einmal darüber Gedanken gemacht, warum einmal 32 000 DM, das andere Mal 54 000 DM zu zahlen waren, woran das gelegen haben könnte?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Das eine, Herr Kollege, war eine Geldstrafe von 31 250 DM; das andere eine Kaution von 54 000 DM.
Noch eine Zusatzfrage, bitte.
Wäre es nicht angebracht, bier auch noch hinzuzuzählen, daß der Fischfang selbst beschlagnahmt worden ist, daß also . die Summe sogar noch weit höher liegt?
Gallus, Parl. Staatssekretär:. Die Situation bei der „Waltram" ist die, wie sie bereits von Minister Ertl hier anläßlich der Beantwortung der Dringlichkeitsfragen dargelegt worden ist: Aufgebracht worden ist dieses Schiff in der Grauzone. Das Urteil vom 17. Mai 1978 sah eine Strafe von einem Jahr Gefängnis vor, die auf Bewährung ausgesetzt wurde; eine Geldstrafe von 500 000 Zloty gleich 27.500 DM; Beschlagnahme des Fanggeschirrs — Wiederbeschaffungswert ca. 31 000 DM — und des Fangs — Wert zirka 12 000 DM —; Auferlegung der Kosten des Verfahrens in Höhe von zirka 7 000 DM. Die Gesamtgeldstrafe einschließlich der Kosten betrug 34 500 DM. Die Bundesregierung hat die verhängte Geldstrafe, die Kosten des Verfahrens sowie die Kosten für die Wiederbeschaffung des Fanggeschirrs übernommen, insbegsamt knapp 70 000 DM. Das Land Schleswig-Holstein hat dem Fischer eine Entschädigung für den sogenannten Fangausfall von rund 33 000 DM gezahlt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordnete Glos.
Herr Staatssekretär, können Sie angeben, aus welchen Haushaltstiteln die Polen ihre Fangprämie für deutsche Fischer vergütet bekommen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Aus welchem Haushaltstitel? Da bin ich überfragt, Herr Kollege.
Herr Abgeordneter Schäfer, ich weiß nicht, ob das nicht die Fachbezeichnung für die Prämie ist. Der Herr Parlamentarische Staatssekretär, der sehr sachkundig ist, würde das sofort korrigiert haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger
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Herr Staatssekretär, hat sich denn die Bundesregierung bei der polnischen Regierung danach erkundigt, welche Gesichtspunkte und welche gesetzlichen Bestimmungen die polnischen Behörden zu der Festsetzung dieser Summen veranlaßt haben?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die polnischen Gesetze sehen als Strafe für illegales Fischen in polnischen Gewässern Gefängnis bis zu zwei Jahren und Geldstrafen bis zu 1 Million Zloty, rund 62 500 DM, sowie Einziehung des Schiffes und des Fanges vor.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 77 des Herrn Abgeordneten Müller auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß trotz der seit Beginn dieses Monats stark rückläufigen Fleischpreise für den Erzeuger die Preise für den Endverbraucher konstant geblieben sind?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß sich der starke Rückgang der Erzeugerpreise für Schweinefleisch mehr als bisher auf die Verbraucherpreise auswirken sollte. Allerdings zeigen die durchschnittlichen Verbraucherpreise für Schweinefleisch schon seit einiger Zeit eine rückläufige Tendenz. Sie liegen derzeit bereits unter dem Niveau vom Anfang dieses Jahres. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, daß in der Vergangenheit auch steigende Marktpreise mit Verzögerung an die Verbraucherstufe weitergegeben wurden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller .
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß eine Preissenkung bei Schweinefleisch zu einer Steigerung des Verbrauchs und damit auch zu einer Entlastung auf dem Schweinemarkt führen könnte?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Ich bin dieser Auffassung, Herr Kollege.
Liegen weitere Zusatzfragen vor? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 78 des Herrn Abgeordneten Müller auf:
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, darauf hinzuwirken, daß die Niedrigpreise, insbesondere für Schweinefleisch, an den Endverbraucher weitergegeben werden?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, mein Haus hat bereits mehrfach an Handel und Gewerbe appelliert, die gesunkenen Einstandspreise zügig an die Verbraucher weiterzugeben. Die Herausstellung von preiswerten Sonderangeboten hat bereits stark zugenommen. Die Wettbewerbssituation auf dem Fleischmarkt und Absatzförderungsmaßnahmen der CMA dürften dazu beitragen, daß die Verbraucher zunehmend von dem auch in den nächsten Monaten
zu erwartenden verstärkten Fleischangebot profitieren werden.
Die Bundesregierung ist der Meinung, daß die Verbraucher bei den derzeit stark rückläufigen Erzeugerpreisen für Schweinefleisch Preisvergleiche besonders kritisch vornehmen und in verstärktem Maße auch Sonderangebote nutzen werden. Als Orientierungshilfe für die Verbraucherberatung gibt mein Haus wöchentlich Informationen über Erzeuger- und Verbraucherpreise heraus. Außerdem werden Verbraucherzentralen für die wöchentliche Erhebung und Publizierung von Verbraucherpreisen auf lokaler und regionaler Ebene Mittel zur Verfügung gestellt.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glos.
Herr Staatssekretär, haben die stark gesunkenen Schweinepreise ihre Ursache nicht auch in verstärkten Importen aus Ländern außerhalb der EG, oder kommt diese Tatsache nur durch ein erhöhtes Angebot innerhalb der EG zustande?
Gallus, Parl. Staatssekretär: In erster Linie kommt das verstärkte Angebot durch eine Ausdehnung der Produktion in der Bundesrepublik und in den übrigen EG-Ländern zustande. Wir hatten im letzten Jahr eine Ausweitung der Schweineproduktion um 5 O/o auf 331/2 Millionen schlachtreife Schweine in der Bundesrepublik Deutschland, und wir haben in der Zeit von April dieses Jahres bis zum April nächsten Jahres eine weitere Ausdehnung auf insgesamt 36 Millionen schlachtreife Schweine zu erwarten. Eine gleichlaufende Entwicklung stellen wir in den Haupterzeugerländern der EG fest, die mit uns auf dem europäischen Markt konkurrieren. Es handelt sich dabei um Dänemark, die Niederlande und Belgien.
Keine weiteren Zusatzfra- gen. — Ich rufe die Frage 79 des Herrn Abgeordneten Glos auf:
Welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um die Einfuhr der Mehlmischungen aus Frankreich, für die auf Grund der Warenzusammensetzung keine Währungsausgleichsbeträge erhoben werden können, zu unterbinden?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wie ich bereits in Beantwortung Ihrer Frage vom 14./15. Juni 1978 ausgeführt habe, hat die Bundesregierung erstmals im März bei der EG-Kommission die Einbeziehung der betreffenden Mehlmischungen in den Währungsausgleich beantragt. Sie hat im Mai nochmals die Dringlichkeit einer baldigen Entscheidung hervorgehoben und ist am 14. Juni in Brüssel erneut vorstellig geworden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glos.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Bundesregierung in dieser Angelegenheit bisher lediglich im Verwaltungsausschuß für Währungsfragen innerhalb der EG-Kommission vorstel-
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Gloslig geworden ist, und trifft es weiterhin zu, daß an diesen Gesprächen keine sachkundigen Vertreter des Bundesministers für Landwirtschaft, sondern ausschließlich Währungsexperten teilgenommen haben, die über die Besonderheiten des Mehlmarktes und über Datenmaterial über die Einfuhrmengen der französischen Mehlmischungen nicht informiert waren?Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihnen das nicht bestätigen. Aber in der Tat handelt es sich natürlich nicht nur um Fragen des Mehlmarktes, sondern auch um Fragen der unterschiedlichen Währungssituation, die hier zu regeln sind.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Glos.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung nunmehr bereit, verstärkt — meinetwegen in der nächsthöheren Instanz — auf eine Regelung dieses Problems zu drängen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir werden unser Anliegen weiterhin gegenüber der EG-Kommission vorbringen.
Keine weiteren Zusatzfragen. — Ich rufe die Frage 80 des Herrn Abgeordneten Glos auf:
Wie hoch beziffert die Bundesregierung den aus dieser Manipulation entstandenen Schaden für die deutsche Mühlen- und Getreidewirtschaft?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Die gegenwärtig bestehende Wettbewerbsstörung läßt sich in ihren Auswirkungen im einzelnen nicht beziffern, da sie von Fall zu Fall und auch regional unterschiedlich ist. Die Bundesregierung wird weiterhin auf ihre Beseitigung drängen.
Keine Zusatzfrage? — Dann sind wir damit am Ende der Fragestunde. Ich mache darauf aufmerksam, daß die Uhr im rückwärtigen Teil des Plenarsaals nicht geht; sie steht. Im Hinblick auf die bedeutende Zeit um 17.40 Uhr wollte ich darauf hingewiesen haben.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu dem Bericht der Bundesregierung über die Möglichkeiten zur Einführung eines Einkommensteuertarifs mit durchgehendem Progressionsverlauf — Tarifbericht (§ 56 EStG)
— Drucksache 8/62, 8/1887
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Schäuble
Bevor ich dem Berichterstatter Dr. Schäuble das Wort erteile, darf ich noch bekanntgeben, daß der Herr Staatsminister im Bundeskanzleramt darum bittet, die Abwesenheit des Herrn Bundeskanzlers, des Bundesministers des Auswärtigen und des Bundeswirtschaftsministers wegen des Besuchs Seiner Königlichen Hoheit Kronprinz Fand von Saudi-Arabien zu entschuldigen.
— Darauf habe ich keinen Einfluß, Herr Abgeordneter Jenninger.
Das Wort als Berichterstatter hat der Abgeordnete Dr. Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der Beratung des Einkommensteuerreformgesetzes am 5. August 1974 wurde § 56 in das Einkommensteuergesetz eingefügt. Er hat folgenden Wortlaut:
Mit Wirkung ab 1. Januar 1978 soll ein Einkommensteuertarif mit durchgehendem Progressionsverlauf in Kraft gesetzt werden; über die dazu bestehenden Möglichkeiten wird die Bundesregierung zum 1. Januar 1977 dem Deutschen Bundestag einen Bericht vorlegen.
In Erfüllung dieser Berichtspflicht hat die Bundesregierung am 27. Januar 1977 auf der Drucksache 8/62 den Tarifbericht vorgelegt, den das Hohe Haus am 21. April 1977 zur federführenden Beratung dem Finanzausschuß überwiesen hat. Ergänzend zu meinem schriftlichen Bericht darf ich vortragen, daß die Beratungen des Tarifberichts im Finanzausschuß im Zusammenhang mit der Diskussion über mögliche Steuerentlastungen standen. Das war auch bei der am 28. September vergangenen Jahres durchgeführten öffentlichen Anhörung der Fall.
Die Verknüpfung der Diskussion über die Tarifreform mit der Diskussion über Steuerentlastungen hat dazu geführt, daß die Beratung des Tarifberichts im Finanzausschuß über einen langen Zeitraum nicht abgeschlossen wurde, so daß das ursprünglich für die Einführung des Progressionstarifs vorgesehene Datum vom 1. Januar 1978 durch Zeitablauf überholt wurde.
Die Bundesregierung legt im Tarifbericht dar, daß die Einführung eines durchgehend progressiven Einkommensteuertarifs entweder zu einer Erhöhung des Grenzsteuersatzes für zu versteuernde Einkomkommen zwischen 9 000 und 16 000 DM bei Ledigen bzw. 18 000 und 32 000 DM bei Verheirateten oder zu hohen Steuermindereinnahmen führen müsse. Deshalb hat die Bundesregierung in ihrem Bericht den Übergang zu einem durchgehend progressiven Einkommensteuertarif zum 1. Januar 1978 nicht befürwortet.
Die Regierungsvertreter haben in den Beratungen im Finanzausschuß an dieser Ablehnung auch für den 1. Januar 1979 festgehalten. Im Finanzausschuß bestand bei den Beratungen Einmütigkeit, daß eine wesentliche Erhöhung des Grenzsteuersatzes, insbesondere für mittlere Einkommen, steuer- und konjunkturpolitisch nicht wünschenswert sei. Die Mehrheit von SPD und FDP im Finanzausschuß hat auch die Auffassung der Regierung geteilt, daß andererseits Steuerausfälle nicht vertretbar seien. Sie hat vorgetragen, durch die zum 1. Januar 1978 in Kraft
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Dr. Schäuble
getretenen Steueränderungen, die zu Steuermindereinnahmen von jährlich rund 11 Milliarden DM führen würden, sei der haushaltspolitische Spielraum für mögliche Steuerentlastungen bereits ausgeschöpft. Insoweit hätten die Steuerrechtsänderungen des Jahres 1977 — insbesondere die vom Bundesrat angeregten, über den Regierungsentwurf hinausgehenden Steuerentlastungen — die Rahmenbedingungen verändert, d. h. konkret: die Gestaltungsmöglichkeiten für eine Tarifreform eingeschränkt.
Die Mehrheit des Finanzausschusses hat außerdem vorgetragen, die Vorschrift des § 56 des Einkommensteuergesetzes enthalte lediglich eine Berichtspflicht für die Regierung und einen Prüfungsauftrag an das Parlament. Die Bundesregierung habe ihre Berichtspflicht erfüllt. Die Prüfung durch das Parlament habe ergeben, daß die Einführung eines durchgehenden Progressionstarifs derzeit nicht angebracht sei. Der Auftrag des § 56 sei demnach erfüllt. Der Bericht der Bundesregierung sei zur Kenntnis zu nehmen.
Die Opposition hat demgegenüber im Finanzausschuß vorgetragen, § 56 des Einkommensteuergesetzes enthalte eine Selbstbindung des Gesetzgebers in Richtung auf Einführung eines Einkommensteuertarifs mit durchgehendem Progressionsverlauf. Wolle man dieser Bindung entgehen — so die Opposition —, dann müsse man die Vorschrift des § 56 ändern.
Die CDU/CSU hat deshalb beantragt, die Bundesregierung aufzufordern, entsprechend § 56 des Einkommenssteuergesetzes zur Milderung der Steuerprogression und zur Beseitigung des Progressionssprungs einen Gesetzentwurf mit einem neuen Einkommensteuertarif so rechtzeitig vorzulegen, daß der Tarif am 1. Januar 1979 in Kraft treten kann. Der neue Tarif solle so gestaltet sein, daß er in keinem Fall zu einem Anstieg der Grenz- und der Durchschnittssteuerbelastung führe.
Die Vertreter der CDU/CSU haben diesen Antrag im Finanzausschuß dahin erläutert, daß er eine Festlegung auf ein bestimmtes Tarifmodell nicht enthalte. Das Ziel eines Lohn- und Einkommensteuertarifs mit durchgehenden Progressionsverlauf könne wegen der haushaltspolitischen Rahmenbedingungen in Stufen verwirklicht werden. Entscheidend sei, daß die Milderung der Steuerprogression und der Abbau des Progressionssprungs zugleich der Steuerentlastung und der Vermeidung heimlicher Steuererhöhungen diene.
Zur Begründung dieses Antrags haben die Vertreter der CDU/CSU im Finanzausschuß vorgetragen, der derzeitige Lohn- und Einkommensteuertarif wirke sich vor allem wegen des Zusammentreffens von Inflation und Steuerprogression zunehmend leistungsfeindlich aus. Die Proportionalzone des Lohn-und Einkommensteuertarifs habe ursprünglich den Sinn gehabt, die große Masse der Einkommen von Lohnsteuerpflichtigen einem einheitlichen Steuersatz zu unterwerfen. Dieser Sinn verkehre sich in sein Gegenteil, wenn schon 1978 nur etwa die Hälfte und 1980 nur noch 40 % aller Lohnsteuerzahler in der Proportionalzone des Tarifs verbleiben.
Unter Hinweis auf Überlegungen innerhalb der Regierungskoalition, den Einkommensteuertarif eventuell zum 1. Januar 1980 zu ändern, haben die Vertreter der Opposition im Finanzausschuß darauf hingewiesen, daß schon 1979 nach Angaben der Bundesregierung zusätzlich 1,5 Millionen Lohnsteuerzahler in die Progressionszone des Lohnsteuertarifs hineingeraten werden, so daß eine Tarifreform zum 1. Januar 1979 geboten sei.
Die Vertreter der CDU/CSU haben im Finanzausschuß ferner die Auffassung vertreten, die zum 1. Januar 1978 in Kraft getretenen Steuerentlastungen seien im wesentlichen nur ein Ausgleich der heimlichen Steuererhöhungen. Sie könnten deshalb nicht als dauerhafte Entlastungsmaßnahmen verstanden werden. Steuerentlastungen seien aber wirtschaftspolitisch geboten. Die Finanzierung müsse durch Ausgabeeinsparungen erfolgen, soweit die mit der Steuersenkung verbundene Verbesserung der Rahmenbedingungen nicht schon ausgleichend wirke. Die Opposition sei bereit, •diese Lasten mitzutragen.
Die Mehrheit im Finanzausschuß ist diesen Darlegungen mit dem Hinweis entgegengetreten, daß die Konsolidierung des Haushalts vorrangig sei und daß für eine nicht aufkommensneutrale Tarifreform jetzt der haushaltsmäßige Spielraum nicht gegeben sei.
Die Mehrheit von SPD und FDP hat am 10. Mai 1978 im Finanzausschuß den Antrag der CDU/CSU, die Tarifreform wenigstens zum 1. Januar 1979 zu verwirklichen, abgelehnt. Bei Stimmenthaltung der Mitglieder der CDU/CSU im Finanzausschuß wurde beschlossen, dem Bundestag zu empfehlen, den Bericht der Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Häfele.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Finanzpolitische Maßnahmen müssen die wirtschaftliche Gesamtlage berücksichtigen. Wir haben in Deutschland eine nachhaltige Wirtschaftsschwäche. Ratlosigkeit, ja, sogar Resignation und Defätismus breiten sich aus.
In dieser Lage helfen kurzatmige Maßnahmen nicht mehr weiter. Es ist vielmehr an der Zeit, eine Besinnung darüber einzulegen, ob wir in Deutschland grundsätzlich auf dem richtigen Weg sind oder ob eine neue Weichenstellung vonnöten ist.Seitdem die SPD/FDP-Koalition die Regierungsverantwortung hat, spiegelt sich die Entwicklung in folgenden finanzpolitischen Zahlen wider: Seit 1970 bis einschließlich 1977 ist das nominelle Bruttosozialprodukt bei uns um 75,7 % angestiegen. Die Ausgaben der Gebietskörperschaften und Sozialversicherungsträger sind aber um 121,6 % gewachsen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7881
Dr. HäfeleI Die Steuern sind um 94,3 %, die Lohnsteuer sogar um 158,7 % und die Schulden der Gebietskörperschaften um 172,4 % gestiegen.
Dies bedeutet: Die öffentlichen Ausgaben, die Steuern und die Schulden sind wesentlich mehr als die Volkswirtschaft gewachsen.
Der Staatsanteil ist von 38 % im Jahre 1970 auf über 47% seit dem Jahre 1975 ständig gestiegen, und zwar nicht etwa, wie Sie, meine Damen und Herren von der SPD, behaupten, als Folge der Wirtschaftsschwäche, sondern es ist umgekehrt: Die Wirtschaftsschwäche ist seit Jahren nachhaltig bei uns vorhanden, weil dieser Staatsanteil überhöht ist.
Denn es ist nachweisbar, daß auch schon vor der Ölkrise, vor 1974, vor Ende 1973, seit Sie die Regierungsverantwortung haben, der Staatsanteil in den Jahren 1971, 1972, 1973 und dann in den kommenden Jahren ständig angewachsen ist. Dies ist eine Folge der Politik der „Reformen", wie Sie sie gemacht haben, der Politik der gewollten Verbreiterung des „öffentlichen Korridors" .
Jede zweite Mark fließt in Deutschland inzwischen über eine öffentliche Kasse. Sie ist damit nicht mehr in der Hand der Bürger und der Wirtschaft frei verfügbar. Dies bedeutet mehr Staat, mehr Bürokratie, mehr Lenkung.
Der Staat hat sich in den letzten Jahren an Aufgaben, an Ausgaben, an Lenkungen, an Eingriffen übernommen. Dadurch wurden die Bürger und die Wirtschaft unseres Landes mit Abgaben und bürokratischen Hemmnissen überfordert. Hierin sehen wir einen entscheidenden Grund für die tiefgehende Erschlaffung der dynamischen Kräfte in unserem Lande. Die Leistungsbereitschaft und die Investitionsneigung verkümmern als Folge dieser Fehlentwicklung.
Auch die neun sogenannten Konjunkturförderungsprogramme, welche die Bundesregierung seit 1974 aufgelegt hat, haben nicht den sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung gebracht, obwohl die Bundesregierung dafür rund 35 Milliarden DM aufgewandt hat.
Inzwischen zeigen sich übrigens auch schon sehr negative Begleiterscheinungen. Auf dem Feld des Tiefbaus zeigt sich, daß eine Kumulierung von Programmen zu erheblichen Preissteigerungen führt. Man sieht, wie dies alles nicht so klappt, wie es sich die Schöpfer der Programme vorgestellt haben.Nein, die Ursachen unserer Fehlentwicklung liegen tiefer, als daß sie mit Programmen, Ausgabe-programmen, zumal kurzfristigen, behoben werden könnten. Auch der kommende Bonner ,,Wirtschaftsgipfel" Ende Juli möge ja nicht mit solchen zusätzlichen Programmen behaftet werden! Ein solcher Wirtschaftsgipfel ist ohnedies zweifelhaft. Wir haben vor einem Jahr, im Mai 1977, in London schon einen gehabt. Die Erfahrungen damit sind nicht gut. Der Bundeskanzler hat damals international die Erwartung geweckt, daß wir im Jahre 1977 durch eigene Maßnahmen 5 % Wachstum erreichen könnten. Am Schluß hatten wir 2,4 %. Es ist sehr fragwürdig, die schwierigen internationalen wirtschaftlichen Fragen bei einem solchen spektakulären Gipfel lösen zu wollen.Die Opposition, die CDU/CSU, hat in den letzten Monaten die Bundesregierung nie zu besonderen Programmen im Hinblick auf den Gipfel gedrängt. Das haben wir nie getan. Wir haben die Position der Bundesregierung für die internationalen Verhandlungen immer gestärkt und nicht etwa geschwächt.
Aber als Folge der Fehlentwicklung und als Folge der Programme ist der Glaube an die staatliche Machbarkeit der Konjunktur oder der Wirtschaftsentwicklung tiefgehend erschüttert.Meine Damen und Herren, wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie dies zugeben. All diese Programme haben letztlich nicht das gebracht, was wir erhofft haben.Es gibt von dem ehemaligen österreichischen Finanzminister und Notenbankpräsidenten Dr. Wolfgang Schmitz ein lesenswertes Buch, das diese Problematik, wie ich meine, in vorzüglicher Weise dar- stellt. Es heißt „Die antizyklische Konjunkturpolitik — eine Illusion".Die CDU/CSU, meine Damen und Herren, ist der Meinung, daß wir einen von Grund auf neuen und stetigen Weg eröffnen müssen, einen Weg, der die private Leistungs- und Investitionsbereitschaft wieder auf Dauer stärkt. Hierbei geht es nicht um Bevorzugung von irgend jemand oder von Betrieben, sondern um die Beseitigung von Hemmnissen, die eben dieser Leistungs- und Investitionsbereitschaft entgegenstehen. Daß dies angesichts der tiefgehenden Fehlentwicklung nicht von heute auf morgen möglich ist, wissen wir alle. Daß dieser neue Weg der Zähigkeit mehrerer Jahre bedarf, ist völlig klar. Es wird auch ein Weg sein, der Mühe und Schweiß kosten wird. Die Finanzpolitik ist ein entscheidender Hebel für diesen Neubeginn, der auf die private Leistungs- und Investitionsbereitschaft setzen muß.Nach Auffassung der CDU/CSU ist in der Finanzpolitik vorrangig, daß sie endlich aufhören muß, Leistung zu bestrafen,
Investitionen zu hemmen und mit „stop and go" zu verfahren, anstatt wieder stetige und voraussehbare Rahmenbedingungen zu setzen.
Mittelfristig — das wissen wir alle — bleibt die schwere Aufgabe, alle öffentlichen Haushalte zu
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7882 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Dr. Häfelekonsolidieren, ja, zu sanieren. Aber vorrangig zur Erhaltung und Förderung der Leistungs- und Investitionsbereitschaft ist der Abbau der Überbesteuerung, der sich in mehreren Stufen über einige Jahre hinweg vollziehen muß.
Nach einem feststehenden Fahrplan muß die leistungshemmende Steuerlast für die Arbeitenden und die investitionshemmende Steuerlast für die Betriebe abgebaut werden. Nach Überzeugung der CDU/ CSU muß schon im Jahre 1979 mit einem neuen Einkommensteuertarif begonnen werden, der die Leistungsbereitschaft wieder fördert und nicht bremst.
Weitere Schritte müssen sich anschließen. Dabei müssen vor allem die investitionshemmenden Elemente der ertragsunabhängigen Steuern abgebaut werden. Die Lohnsummensteuer ist zu einer Antibeschäftigungssteuer geworden. Sie muß verschwinden. Die Gewerbekapitalsteuer ist heute eine investitionsfeindliche Steuer, weil sie ertragsunabhängig ist. Sie muß verschwinden. Genauso muß die Doppelbelastung der Betriebe und der Gesellschafter durch die Vermögensteuer in Fortführung des richtigen Grundgedankens, den wir bei der Körperschaftsteuerreform durchgesetzt haben, abgebaut werden.
Bei dem neuen Einkommensteuertarif — wir beantragen heute, daß er schon zum Jahre 1979 wenigstens in einer ersten wichtigen Stufe eingeführt wird —
kommt es vor allem darauf an, den Sprung von 22 auf 30,8 %, der aufstiegsfeindlich und leistungshemmend ist, abzuschaffen.Wenn dies nach Ihrem Willen 1979 nicht geschehen soll, wie Sie es im Finanzausschuß leider beschlossen haben, dann würde das bedeuten — die Zahlen stammen vom Finanzministerium; wir haben sie im Januar dieses Jahres im Finanzausschuß bekommen; sie sind mit Sicherheit sehr vorsichtig gerechnet —: Über die Hälfte aller Lohnsteuerzahler wird schon im Jahre 1979 progressiv mit mindestens 30,8 % besteuert werden, was nichts anderes bedeutet, als das die Grenzabgabenbelastung 50 °/o und mehr ausmacht, weil ja die Sozialversicherungsbeiträge hierbei mitzuberücksichtigen sind.
Es werden, wenn man die Einkommensteuerzahler noch hinzunimmt, 1979 oder spätestens 1980 zwei Drittel aller Einkommen- und Lohnsteuerzahler den Würgegriff dieser verschärften Progression spüren. Meine Damen und Herren, halten Sie es für sozial, daß der normale Arbeitnehmer progressiv besteuert wird und eine Grenzbelastung von 50 % und mehr hat? Nein, wir halten dies nicht für sozial.
Bei einem solchen neuen Tarif, der wenigstens zunächst einmal in einer ersten Stufe diesen Sprung beseitigt, geht es nicht um eine Steuersenkung. Es geht um das Verhindern von weiteren automatischen heimlichen Steuererhöhungen. Die Lage ist inzwischen in Deutschland so, daß trotz der steuerlichen Entlastung zu Beginn dieses Jahres heute niedrigere Realeinkommen progressiv besteuert werden als 1975 nach der sogenannten Einkommensteuerreform. Die letzte amtliche Steuerschätzung vom Februar dieses Jahres hat für das Jahr 1979 ein Anwachsen der Lohnsteuer um 13,1 % angenommen. Es kann mehr sein, es kann weniger sein, aber dies ist die letzte amtliche Schätzung: ein Mehr im Jahre 1979 von 13,1% bei einem Wachstum des Bruttosozialprodukts um nur etwa die Hälfte. — Bitte schön, Herr Spöri.
Eine Zwischenfrage, bitte.
Herr Häfele, ist Ihnen im Zusammenhang mit Ihren statistischen Ausführungen bekannt, daß die Lohnsteuerquote, ,das statistisch objektive Maß für die Lohnsteuerbelastung der Arbeitnehmer, im Jahre 1978 bei 13,5 °/o und damit niedriger liegen wird als z. B. im Jahre 1973, wo diese Quote 14,2 % betragen hat, und ist Ihnen bebekannt, daß die Lohnsteuerquote, das statistisch lastungsmaßnahmen dieser Bundesregierung ist,
und ist Ihnen geläufig, daß diese statistischen Realitäten überhaupt nichts mit dem belastungspolitischen Schauermärchen zu tun haben?
Herr Spöri, wenn Sie sich mit Ihren Entlastungsvorschlägen zum 1. Januar 1978 durchgesetzt hätten, wäre dieses Ergebnis sicher nicht erreicht worden. Das hat die CDU/CSU im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß durchgesetzt.
— Bitte, wie ist denn die Wahrheit? Sie haben einen Grundfreibetrag angeboten und sonst gar nichts. Wer hat denn den Tariffreibetrag durchgesetzt? Den haben doch wir durchgesetzt und sonst niemand.
Ich beantworte Ihre Fragen: Lesen Sie doch zweitens bitte bei den Sachverständigen nach. Diese haben schon im letzten Herbst gesagt, es bleibe dabei, daß die progressive Besteuerung der realen Löhne dieses Jahr stärker als nach der Steuerreform im Jahre 1975 sei. Dies ist entscheidend. Wir unterhalten uns jetzt aber vor allem über das Jahr 1979. Wir wollen abwenden, daß 1979 geschieht, was Sie in Ihren Schätzungen selbst annehmen, daß nämlich 13,1 % mehr Lohnsteuer abgeführt werden. Darum geht es, Herr Spöri.
Lassen Sie mich bitte fortfahren. Ich kann Ihnen noch eine andere Zahl nennen. Das sind alles Zahlen
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7883
Dr. Häfelevon der Bundesregierung. Ich verwende, seit ich mit Ihnen gelegentlich schlechte Erfahrungen mache, immer nur Zahlen von Ihnen selbst. Sie sind manchmal mit Skepsis zu betrachten, aber man tut sich in der Argumentation leichter, wenn man Ihre Zahlen nimmt.Der neueste Sozialbericht der Bundesregierung für das Jahr 1978 nimmt an, daß die Abzüge der Arbeitnehmer bis 1982 mehr als doppelt so stark anwachsen wie die Nettolohn- und -gehaltssumme der Arbeitnehmer,
das eine um 4,6%, das andere um 9,6 N. Die absoluten Zahlen sind zweifelhaft, aber nach den Annahmen der Bundesregierung selbst erfolgt ein Anstieg um mehr als das Doppelte.Nein, meine Damen und Herren, angesichts der tiefgehenden Fehlentwicklung ist es in der Tat so, daß eine Steuersenkung oder ein Steuerabbau allein, zumal ein solcher, der nicht in weiteren Stufen fortgeführt wird, nicht die neue Politik bringen kann, die wir brauchen. Wir brauchen eine Verbesserung der mittelfristigen Rahmenbedingungen. Jeder Steuerabbau wird nur dann helfen, wenn er der glaubwürdige Beginn einer Wende in der Finanz- und Wirtschaftspolitik überhaupt ist.Nur wenn man glauben kann, daß wir wieder auf Leistungsbereitschaft, Erneuerungsdrang, Selbständigkeitswillen, Pioniergeist und Investitionsrisikofreudigkeit setzen, nur dann werden wir wieder Leistungsbereitschaft und Investitionsneigung und damit ein gesundes Maß an Wachstum haben. Dies setzt aber voraus, daß das Vertrauen in eine Finanz-und Wirtschaftspolitik draußen tatsächlich wächst, welche die privaten Kräfte auf Dauer stärkt und nicht da und dort schnell ein Steuergeschenk — zumal im Wahljahr — anbietet. Das schafft dieses Vertrauen nicht.Dies betont die CDU/CSU seit langem hartnäckig in diesem Hause. Das führt sogar dahin, daß Sie behaupten, wir würden seit Jahren immer das gleiche sagen. Sie wissen gar nicht, welches Kompliment Sie uns damit machen.
Das führt dahin, daß Sie uns vorwerfen, wir würden die Thesen Glistrups und Poujades — auch die FDP hat das hier noch vor ein paar Monaten behauptet — vertreten. Das ist in diesem Fall ein Kompliment. Nein, das ist die klare Linie der CDU/ CSU seit langen Jahren. Nie sind Sie im Grunde so weit gekommen, endlich diesen neuen Weg zu eröffnen.Das Vertrauen kann sich natürlich nicht einstellen, wenn z. B. der letzte SPD-Parteitag im November 1977 unter dem Stichwort „vorausschauende Strukturpolitik" die Investitionsmeldepflicht beschließt, Strukturräte beschließt, expansive Haushaltspolitik beschließt, ausdrücklich die Leitlinien des ominösen Steuerparteitages 1971 als weiterhin gültig erklärt, die unter dem Stichwort berühmt ge-worden sind: Wir wollen die Belastbarkeit der Wirtschaft einmal ausprobieren,
wobei Ihr damaliger Wirtschaftsminister Sie aufgefordert hat, die „Tassen im Schrank" zu lassen, Sie wollten ja „eine andere Republik". Das bestätigen Sie jetzt ausdrücklich. Solange die Systemüberwinder in der SPD mit Forderungen nach Verstaatlichung, und was da alles diskutiert wird, immer deutlicher auf dem Vormarsch sind, kann in der Tat eine Steuersenkung allein das Vertrauen nicht herstellen, das wir für eine solche Kräftigung der Privatinitiative brauchen.Wenn Sie die Steuerentlastung vom 1. Januar 1975 bei der sogenannten Steuerreform oder jetzt zum 1. Januar 1978 mit Ideologien des Neides begleiten, brauchen Sie sich nicht zu wundern, daß die Steuerentlastung nicht fruchtet. Wenn Sie sich gegen den Tariffreibetrag aussprechen — das haben Sie getan; den haben wir im Vermittlungsausschuß durchgesetzt; wir mußten ihn gegen Ihren Willen durchsetzen; Sie haben ja nur die Anhebung des Grundfreibetrages angeboten —, wenn Sie sagen, es dürfe nichts progressionsmildernd wirken, sonst bekomme derjenige, der aufsteigen, der etwas leisten wolle, womöglich mehr Entlastung, solange dieses Konzert in Deutschland anhält, brauchen Sie sich nicht zu wundern. Sie könnten dann die Steuern um 20 Milliarden DM senken, das würde Ihnen in der Tat nicht weiterhelfen.
So entsteht kein Glauben an die Dauerhaftigkeit und die Ernsthaftigkeit Ihres Willens. — Das ist der goldene Löffel in der schmutzigen Hand.Die Soziale Marktwirtschaft bedarf eines bestimmten Klimas, einer bestimmten Stimmung. Die Soziale Marktwirtschaft lebt vom Beifall für die Erfolgreichen, nicht von den Gefühlen des sozialen Neides. Wenn der soziale Neid die öffentliche Diskussion beherrscht, wird die Leistungsbereitschaft immer mehr sinken.Das Vertrauen wird sich auch nicht einstellen, wenn Bundesfinanzminister Matthöfer — wie in den letzten Monaten geschehen — Äußerungen zur Steuerpolitik abgibt, in denen erklärt wird, es komme keine Steuerentlastung in Betracht — damit folgt er seinem Amtsvorgänger, Finanzminister Apel, der noch im Juli letzten Jahres erklärt hat, Steuerentlastungen würden frühestens im Wahljahr 1980 vorgenommen; aber schon vier Wochen später wurde er dann genötigt, doch wenigstens ein bißchen anzubieten —, oder wenn etwa Finanzminister Matthöfer in der „Bild"-Zeitung vom 12. April 1978 erklärt: Wenn das Wachstum doch nicht so recht kommen sollte, haben wir eine „ganze Batterie von Möglichkeiten", und zwar „gezielte" Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. — Man merkt die Absicht und ist verstimmt: Die gewollte Staatsabhängigkeit der Betriebe schillert hier hervor. Das ist Ihr Programm, das wollen Sie. Wenn er dann sagt, frühestens 1980 sei an Steuerentlastun-
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7884 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Dr. Häfelegen zu denken — nota bene im Wahljahr 1980 —, dann wird das Vertrauen nicht gestärkt.Oder, meine Damen und Herren von der FDP, glauben Sie, daß es das Vertrauen stärkt, wenn Sie urplötzlich eine Kehrtwendung vollziehen und das Leistungsprinzip entdecken? Neun Jahre lang haben wir die Leidensgeschichte der gemeinsamen Steuerpolitik von SPD und FDP in diesem Hause erlebt. — Jetzt plötzlich tun Sie so, als wenn nichts gewesen wäre. Was haben Sie in den neun Jahren alles mitgemacht? Sie haben zusammen mit der SPD über 20 Steuererhöhungen beschlossen. Bei der Steuerreform haben Sie sich für den Systemwechsel bei den Sonderausgaben, beim Arbeitnehmerfreibetrag ausgesprochen, für alle gleich, ja nicht progressionsmildernd. Das war gemeinsames Programm der FDP und der SPD. 1978 wollten Sie keinen Tariffreibetrag, weil das progressionsmildernd sei. Sie haben den Grundfreibetrag angeboten.
Jetzt entdecken Sie bei der Kraftfahrzeugsteuer — Frau Funcke, ich sage es Ihnen gern — plötzlich die Vereinfachung. Wo waren Sie denn bei unserem Antrag in diesem Hause 1972/73,
als die Anhebung der Mineralölsteuer um 9 Pf beschlossen wurde? Das haben Sie in zwei Schüben beschlossen, durchgesetzt gegen unseren Willen. Damals haben Sie unsere Warnung in den Wind geschlagen, daß dies eine Verfügungsmasse sei für eine Reform der Kraftfahrzeugsteuer, die den Namen verdient. Wir haben damals das Plakettenverfahren beantragt, das einfache, nicht das sechsklassige oder das vierklassige, das Sie dann schließlich vorgeschlagen haben.Das waren die Taten, und jetzt plötzlich — das muß ich Ihnen ganz deutlich sagen — —
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr, natürlich.
Bitte schön, Frau Abgeordnete Funcke.
Herr Kollege, wenn Sie von den Steuererhöhungen sprechen, ist Ihnen denn entgangen, daß wir laufend Steuersenkungen durchgeführt haben und daß deshalb die Steuerlastquote in den letzten neun Jahren gegenüber 1969 gesunken und nicht gestiegen ist?
Frau Funcke, wir wissen alle, daß die Steuerlastquote ein sehr problematischer Begriff ist. Aber das stimmt so nicht; die Steuerlastquote ist in den letzten Jahren laufend gestiegen. Das ist jedoch nicht das Entscheidende. Die Lohnsteuer vor allem ist gestiegen, die Strukturen der Steuern haben sich gewaltig verändert. FragenSie doch einmal die Arbeitnehmer, ob sie sich mehr belastet fühlen als vor ein paar Jahren!
Meine Damen und Herren von der FDP, es schafft kein Vertrauen, wenn Sie jetzt plötzlich panikartig eine 5 %-Klausel-Steuerpolitik machen. Das glaubt Ihnen niemand.
Nun eine ernsthafte Frage, ob der Abbau der Steuerlast nicht im Widerspruch steht zu der — wir wissen das alle — mittelfristig notwendigen Eindämmung der Staatsverschuldung. Das ist in der Tat wohl das ernsthafteste Argument. Der Zusammenhang ist in Wirklichkeit umgekehrt. Nur, wenn es uns gelingt, die Leistungsbereitschaft wieder zu stärken und die Investitionsbremsen zu lösen, haben wir überhaupt eine Chance, mit dieser Schuldenlawine fertig zu werden. Natürlich setzt dies — das muß man ganz konsequent sagen -- eiserne Sparsamkeit bei allen öffentlichen Haushalten auf lange Jahre voraus. Einen anderen Weg gibt es nicht, und es gibt auch keine andere Möglichkeit, um diesen Weg zu erzwingen, als das Diktat der leeren, Kassen.Wir haben in diesen Tagen in Kalifornien, dem größten Bundesland der Vereinigten Staaten von Nordamerika, ein interessantes Beispiel erlebt. Dort haben die Bürger eine Senkung der Haussteuer — dort ist fast jeder Haus- oder Wohnungseigentümer — um 58 % durchgesetzt, mit zwei Dritteln der Abstimmenden, und zwar mit der Parole — ich zitiere wörtlich —: „Es gibt nur einen einzigen Weg, die Staatsausgaben zu beschneiden — wir müssen dem Staat weniger Geld geben."
Das ist die Meinung der Bürger.
Wenn wir den Weg der Stärkung der privaten Leistungsbereitschaft und der privaten Investitionsbereitschaft nicht gehen, dann werden wir die abenteuerliche Staatsverschuldung erst recht nicht los, dann packen wir das Übel nicht an der Wurzel, dann wird eben weitergewurstelt, aber die Wende, die notwendig ist, um dieses Problems Herr zu werden, wird nicht eingeleitet. Die entscheidende und wirklich ernsthafte Frage in den nächsten Jahren ist in der Tat die Frage der Zukunft unseres überforderten Staates. Bringen wir es fertig, daß sich der Staat wieder selbst beschränkt, und zwar in Ausgaben und in Zuständigkeiten, oder bringen wir das nicht fertig?Daß dies Sparsamkeit voraussetzt, war immer die Meinung der CDU/CSU, und sie hat es auch in Taten bewiesen. Wir haben 1975 den Sparteil beim Haushaltsstrukturgesetz mit Ihnen getragen. Wir haben uns als Opposition anders verhalten als Sie 1965/66, ehe Sie damals in der Regierung waren. Wir haben auch letzte Woche — es ist verdienstvoll, daß das im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages geleistet wurde — gegen die Absicht der Bundesregierung mit dafür gesorgt, daß der Nachtragshaushaltsplan ohne zusätzliche Schuldenaufnahme, durch mühsames Sparen an vielen Stellen, verabschiedet werden konnte.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7885
Dr. HäfeleMeine Damen und Herren, die CDU/CSU Wiederhalt ihre seit Jahren verkündete Bereitschaft, verantwortlich mitzuwirken, wenn die Bundesregierung — und das kann nur die Regierung leisten — ihrer Führungspflicht nachkommt und eine neue mittelfristige Finanzplanung vorlegt, die in den kommenden Jahren durch Herabsetzung der Steigerungsquoten bei den Ausgaben den Staatsanteil Schritt für Schritt wieder auf ein vertretbares Maß zurückführt.Nun werden in letzter Zeit von Ihnen, von der SPD, immer wieder Keynes und Brüning apostrophiert, und es wird gesagt, wir sollten doch nicht wie Brüning den Fehler machen, daß wir durch eine falsche Sparpolitik die Wirtschafft vollends abwürgen. Ich glaube, der Vergleich stimmt mit der Wirklichkeit einfach nicht überein. Von 1929 bis 1933 hatten wir nicht die Lage, die wir heute in Deutschland haben. Wir haben damals einen großen Preisverfall und eine erhebliche Einkommensminderung der breitesten Schichten gehabt. Wir haben eine klassische Deflation gehabt. Wir haben heute etwas ganz anderes: Wir haben eine Stagflation. Damals wäre es möglich gewesen, mit einer Politik des leichten Geldes oder mit einer Politik der Vermehrung der Staatsausgaben zusätzliche Nachfrage zu schaffen und mehr Beschäftigung sicherzustellen. Heute haben wir eine völlig andere Situation. Die Ursachen unserer Fehlentwicklung liegen ganz woanders.
Wir haben ,die Preis-Lohn-Preis-Spirale. Die Geldillusion, die damals — sogar im Ubermaß — vorhanden war, ist dahin. Wir haben — und das haben die Sachverständigen in diesen Tagen erneut zu Recht festgestellt nicht in erster Linie ein Nachfrageproblem, mindestens nicht eines konsumtiver Art, sondern das Angebot, die Dynamik beim Angebot fehlt, die Motivation fehlt, die Leistungsbereitschaft, die Investitionsbereitschaft fehlt.
Meine Damen und Herren, wir stehen in dieser Frage an einem Scheideweg. Entweder wir führen den Weg fort, ,der uns in den letzten Jahren in diese Gasse hineingeführt hat, der Glauben an die Machbarkeit durch staatliche Ausgaben mit der Folge von immer mehr Staat, immer mehr Bürokratie, immer mehr Lenkung, einen Weg, der schließlich in der Sackgasse endet, daß wir die alles überwuchernde bürokratische Planwirtschaft haben — und das wird unvermeidlich am Ende dieses Weges stehen, wenn die Wende nicht kommt. Oder wir besinnen uns wieder auf .die freiheitlichen Kräfte, die da heißen: Leistungsbereitschaft und Privatinitiative.In diesen Tagen feiern wir das Jubiläum der D-Mark. Vor 30 Jahren wurde die D-Mark in Deutschland eingeführt. Es ging nicht bloß um die Währungsreform; sie war nur die Voraussetzung, damit überhaupt der Wiederbeginn möglich war. Zugleich standen damals auch erhebliche Steuersenkungen am Beginn. Lesen Sie die Reden nach, die Ludwig Erhard bei der Einführung gehalten hat. Er hat bewußt gesagt: Ich setze auf die schöpferische Kraft der Freiheit, auf die Leistungsbereitschaft der einzelnen; nicht der Staat, nicht die Behörden können dies leisten, sondern das können nur die einzelnen. Daß Arbeit sich lohnt, daß Leistung sich lohnt, daß Vorankommen sich lohnt, daß Investieren Freude macht, das ist der Weg! Auf diesem Weg haben wir ,die großen Nachkriegsprobleme gelöst, und nur auf diesem Weg werden wir mit unserer Wirtschaftsschwäche fertig werden. Stimmen Sie deswegen unserem Antrag zu!
Das Wort hat der Herr Abgeordneter Huonker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Dr. Häfele hat eine scheinbar staatsmännische Rede gehalten.
Nur: Da wir wissen, was dahintersteckt, werde ich mir erlauben, zur Sache zu reden
und einiges von dem, was Herr Häfele hier bewußt oder unbewußt gesagt hat, auf den Nenner zu bringen, der notwendig ist.
— Ich bolze nie, aber wenn es Ihnen wehtut, verstehe ich das.Herr Häfele hat das Beispiel „Kalifornien" erwähnt, ein Beispiel, das, ich kann nur sagen, die Politik der CDU/CSU dekuvriert. Warum? Da hat ein Millionär Hausbesitzer in eine Steuersenkungsabstimmung hineingetrieben, ein Millionär, der davon lebt, daß Hausbesitzergesellschaften Milliarden Dollar Steuern mit der Folge sparen, daß all die kleinen Hausbesitzer, die von ihm verführt worden sind, jetzt vor der Situation stehen, daß die Lehrer für ihre Kinder entlassen werden, daß Tausende von Polizisten entlassen werden.
Ich sage Ihnen: Die reichen Leute, deren Bewegung dieser Herr anführt, können sich ihre Privatpolizei leisten. Die Mehrheit derer in Kalifornien, die dem Mann auf den Leim gegangen sind - - —
— Ich verstehe, daß Sie nervös sind.
Ich sage: Was Herr Häfele gesagt hat, ist das Beispiel dafür, daß Sie von der CDU/CSU den „armen Staat" wollen, den sich nur Reiche leisten können. Das ist die Wahrheit.
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7886 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
HuonkerEin besseres Beispiel dafür als das von Herrn Häfele zitierte Beispiel „Kalifornien" gibt es nicht.
— Ich gehe davon aus, daß die Unruhe, die die CDU/ CSU-Fraktion verbreitet, bei meiner Redezeit berücksichtigt wird.Wir haben von der CDU/CSU viel von dem Thema gehört: Man muß die Leistungsbereitschaft durch Steuersenkungen fördern,
dann werden wir das Wirtschaftswachstum haben, das für die Vollbeschäftigung nötig ist.
Ich will Sie einmal fragen — bei dem Punkt sollte unsere Debatte keine lauten, sondern leise Töne haben —: Wie wollen Sie z. B. unter dem Stichwort „Leistungsfähigkeit und Wirtschaftswachstum" erklären, daß ein mittelständischer Unternehmer, der genügend Geld hat — solche Fälle kennen Sie genausogut wie ich —, nicht weiß, wo er investieren soll, weil er nicht weiß, wo die Nachfrage sein wird?
Das heißt: Wer das Thema „Leistungsfähigkeit" als Vorwand für Steuersenkungen nach dem Gießkannenprinzip bringt, vernebelt die Probleme des Steuerrechts und noch mehr der Wirtschaftspolitik.
Wenn Sie von dem Thema „Leistungsfähigkeit" reden
— lassen Sie mich den Satz zu Ende führen —, dann müssen Sie mir erklären, ob man dieses Thema eigentlich auf die Steuerpolitik begrenzen kann. Dann müssen Sie z. B. einmal darüber reden, ob es dem Leistungsprinzip entspricht, daß die Krankenschwester nur ein Fünftel des Chefarzteinkommens verdient. Das ist keine Frage der Steuer, sondern das ist eine Frage der Einkommensverteilung in diesem Land. Vor diesem Problem drücken Sie sich.
Ich sage Ihnen: Wir werden das Thema „Leistung" offensiv angehen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von der Heydt?
Von Ihnen immer gern.
voraussehen, die Sie dazu zwingen, die Tarifreform dann für das Jahr 1980 in Aussicht zu stellen, wenn es doch grundsätzlich so falsch ist, wie Sie eben sagten?
Verehrter Herr Kollege, darauf werden Sie im Laufe meiner Ausführungen eine Antwort erhalten.
— Ja, sicher. Ich lese meine Rede nicht wie Herr Häfele — staatsmännisch — ab, sondern ich leiste einen Debattenbeitrag und rede zu den Punkten dann, wenn ich will. Sie erhalten Ihre Antwort.
Ich sage: Das oberste Ziel der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Sozialdemokratischen Partei Deutschland ist die Stabilisierung und Verbesserung der Arbeitsmarktsituation.
Sie haben keine Konzepte, während wir Konzepte auf den Tisch gelegt haben.
Es ist völlig unbestreitbar, daß eine Tarifreform — und darüber reden wir doch schließlich — allenfalls ein geringer Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation wäre.Im übrigen ist es auch völlig unbestritten — jedenfalls bei denen, die Steuerpolitik als das nehmen, was sie leisten kann —, daß Steuersenkungen allenfalls einen geringen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten könnten. Wir haben doch die Steuern zum 1. Januar 1978 gesenkt — darauf ging Herr Häfele mit keinem Wort ein —: netto nach Abzug der Mehrwertsteuer um 12 Milliarden DM.
Ich will das nicht aufzählen. Das war richtig, das war notwendig. Nur: Der arbeitsmarktpolitische Aspekt hat nicht so durchgeschlagen, wie wir das alle gewünscht hätten.
Aber lassen Sie mich nun zu Ihrem Antrag kommen.
Wir stehen heute wenige Wochen vor einem Weltwirtschaftsgipfel. Dieser Weltwirtschaftsgipfel wird über die Arbeitsmarktsituation, über die wirtschaftspolitische Situation in diesem Land mehr entscheiden als all das, was Herr Häfele hier unter dem Stichwort „Leistung" ideologisch verkündet hat.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7887
Huonker— Werden Sie nicht nervös. Ich sage Ihnen: Wer jetzt, wenige Wochen vor dem Weltwirtschaftsgipfel, eine Tarifreform, die unter 20 Milliarden DM nicht gemacht werden kann, wenn sie sozial einigermaßen vertretbar sein soll, beschließen will,
der handelt im Hinblick auf den Wirtschaftsgipfel in Bonn gegen die nationalen deutschen Interessen und vor allem auch gegen die Interessen der Arbeitnehmer,
Aber dies nimmt niemanden wunder. Wenn man nämlich hinter die Rede von Herrn Häfele guckt, wird eines klar:
Es geht doch der CDU/CSU seit Wochen und auch heute nicht um eine gerechtere Steuerpolitik, um Anreiz zur Leistung,
sondern es geht der CDU/CSU um folgendes: in der Öffentlichkeit durch maßlose Steuersenkungsforderungen Popularität zu erhaschen und
bei jedem Punkt, um den es hier im Parlament geht, Mehrausgaben zu fordern. Nur ein Stichwort: Investitionszulagengesetz — das Vermittlungsergebnis wollen Sie morgen ablehnen; Sie widersetzen sich einer Konsolidierung der Rentenversicherung und sagen —ich habe das nachgelesen —: Der Staat, der Bund, soll höhere Zuschüsse zahlen.
— Ich rede hier für die Sozialdemokratische Partei. Sie werden sehr schnell merken, daß Ihre Spekulation, am Thema Steuern die Koalition von SPD und FDP auseinanderzubringen, nicht aufgehen wird.
Dies ist ein Wunschtraum.
— Da fallen Sie auf die Nase!
Wenn Herr Häfele davon redet — —
Herr Kollege, einen Augenblick! Meine Damen und Herren, Zwischenfragen sind jederzeit möglich. Zwischenrufe bitte ich aber doch so zu machen, daß sie verständlich bleiben und daß vor allem der Redner im Hause verständlich bleibt.
Herr Präsident, ich verstehe sehr wohl, daß die CDU/CSU nervös ist, weil ihr taktisches Spielchen durchschaut wird und jeden Tag von immer mehr Bürgern deutlicher durchschaut wird.
Eines geht nicht: maßlose Steuersenkungen fordern und, wie das natürlich immer Ihrem Spiel entspricht, daß die, die viel verdienen, viel Steuersenkungen bekommen, Mehrausgaben fordern und am Schluß noch zu sagen, die Nettokreditaufnahme des Bundes müsse zurückgeführt werden. Dieses ist eine Politik, die total unglaubwürdig ist. Wenn ich eines in allem Ernst sagen darf: Wer unerfüllbare und deswegen unverantwortliche Forderungen stellt auf dem Gebiet der Finanzpolitik,
der leistet all denen Vorschub, die eine Antisteuerpartei gründen wollen,
und zwar zum Nachteil dieser Demokratie.
Wenn Sie diese Verantwortung auf sich laden wollen, dann kann ich Ihnen nur sagen:
Am Ende der Diskussion wird sich herausstellen: Unserem Staat, unserer Demokratie leistet jemand ein Bärendienst, der dieses Spielchen der CDU/CSU betreibt.
Ich sage Ihnen hier namens der sozialdemokratischen Fraktion folgendes: Die SPD wird sich nicht an einem Wettlauf um Steuersenkungen beteiligen. Das Thema ist im Interesse der Bürger, der Steuerbürger dieses Staates zu ernst, als daß man es für billige Parteipolemik ausnutzen kann in der Situation, in der wir stehen. Wir wissen genau,
daß wir Probleme haben, was die Frage der Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen im Hinblick auf den Lohn- und Einkommensteuertarif angeht. Dies wissen wir. Wir werden zu gegebener Zeit Abhilfe schaffen. Nur, im Gegensatz zu Ihnen werden wir nur solche Maßnahmen und zu jenem Zeitpunkt vorschlagen, wo es finanziell machbar ist.
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Ich sage Ihnen: Sie sagen kein Wort z. B. zum Abbau von Steuervergünstigungen. Sie setzen eine Kommission ein, die nur Läppisches verlautbart. Kein konkreter Vorschlag von der CDU/CSU zum
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7888 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
HuonkerAbbau von Subventionen. Wir werden ein Konzept vorlegen,
das sicherstellt, daß die Probleme Tarifsprung, Progressionsanstieg jenseits der Proportionalzone bereinigt werden. Wir werden aber zugleich ein Bündel von Maßnahmen vorschlagen. Da können wir, wenn wir glaubwürdig bleiben wollen, wenn wir bezüglich der Staatsverdrossenheit Abhilfe leisten wollen,
auf ein Paket zum Abbau von Steuervergünstigungen nicht verzichten. Nur Sie haben den Mut nicht dazu! Wie steht es denn mit der Besteuerung der Landwirte? Dies ist ein Skandal. Die CDU schweigt.
— Das werden wir machen, nur keine Sorge. Ihr ganzes Gerede zum Abbau von Steuervergünstigungen- -
Herr Abgeordneter Huonker, einen Augenblick. — Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dem Redner die Möglichkeit geben würden, daß er im Hause überall gehört werden kann.
Ihr ganzes Gerede zum Abbau von Steuervergünstigungen zerfällt im Nichts, wenn wir Sie in den nächsten Monaten mit konkreten Vorschlägen konfrontieren werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glos?
Natürlich.
Herr Kollege, ich hätte gerne gewußt, wo Sie den Skandal in der Besteuerung der Landwirtschaft sehen.
Lieber Herr Kollege, wenn Sie das Gutachten der unabhängigen Sachverständigenkommission gelesen hätten, würden Sie sich nicht getrauen, diese uninformierte Frage zu stellen.
Aber ich gebe zu, Fragen zu stellen, ist eines, sich
mit den Problemen zu befassen, ist etwas anderes,
und gar Lösungsvorschläge zu erarbeiten, das erfordert Mut. Den haben Sie offenbar nicht.
Ich komme zu meinem Thema zurück. Wir werden das Thema der Abschreibungsgesellschaften unter dem Stichwort negatives Kapitalkonto noch in dieser Legislaturperiode anpacken. Wo sind denn Ihre Äußerungen? Überall da, wo es darum geht, Besitzstände Großverdienender anzupacken, gibt es bei der CDU/CSU Stillschweigen. Warum? Weil Sie eine Steuerpolitik machen — die Rede von Herrn Häfele war ein beredtes Beispiel dafür — die da sagt: Wer hat, dem soll gegeben werden.
Den Reichen hohe Steuererleichterungen. Das nennen Sie „Leistungsfähigkeit im Steuerrecht."
Nun will ich hier ganz offen sagen — —
— Sie können mich doch nicht drausbringen.
Nun will ich hier eines ganz offen sagen. Wir wissen um das Problem des Verhältnisses von direkten zu indirekten Steuern. Ich sage Ihnen, für die Sozialdemokraten ist das Thema Mehrwertsteuererhöhung kein Tabu. Ich füge hinzu: Wenn wir über die Erhöhung der Mehrwertsteuer reden,
heißt das für uns nicht Erweiterung des finanzwirtschaftlichen Handlungsspielraums für den Abbau von Unternehmensbesteuerungen. Es heißt für uns: Handlungsspielraum, um die Lohn- und Einkommensteuerzahler zu entlasten, die kleine oder mittlere Einkommen haben. Dies ist der Unterschied zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition.
Das heißt zu deutsch: Wir werden alle Handlungsspielräume ausloten, um Subventionen abzubauen und möglicherweise mittelfristig die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Wir hoffen, daß Sie dabei mitmachen werden. Dies geschieht mit dem Ziel, für die Bezieher mittlerer und kleinerer Einkommen Handlungsspielräume für Steuersenkungen zu erhöhen. Das ist sozialdemokratische Politik, und das will ich hier in aller Deutlichkeit feststellen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gerster?
Ja.
Herr Kollege, würden Sie uns bitte einmal verdeutlichen, wieso
Gerster
eigentlich eine Erhöhung der Mehrwertsteuer die Wohlhabenden mehr belastet als etwa kinderreiche Familien, Rentner, alleinstehende Väter mit Kindern und dergleichen mehr? Meinen Sie nicht, daß besonders die Mehrwertsteuererhöhung diesen gerade nicht wohlhabenden Kreis belastet?
Diese Frage kann nur von jemandem gestellt werden, der von Steuerpolitik und von der Diskussion hier überhaupt keine Ahnung hat.
Ich habe gesagt, daß Handlungsspielräume für Steuersenkungen durch Erhöhung der indirekten Steuern eröffnet werden könnten. Ich habe hinzugefügt, daß dieses für Sozialdemokraten Mehrwertsteuererhöhung bedeuten kann, daß dieses Steuermehraufkommen dann aber dazu benutzt werden muß, um die Lohn- und Einkommensteuer der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu senken. Wenn Sie mir hier zugehört hätten, wäre Ihre Frage überflüssig gewesen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie noch einmal um Ruhe,
damit der Redner im Hause gehört werden kann. Ich mache Sie damit gleichzeitig darauf aufmerksam, daß auch in der ständigen Störung eines Redners eine gröbliche Verletzung der Ordnung des Hauses liegen kann.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch eines sagen: Vor genau fünf Tagen haben wir alle des 17. Juni 1953 gedacht. Ich frage mich jetzt ein bißchen, was wohl die Bürger der DDR von uns, von diesem Parlament, halten. Auf der einen Seite beneiden sie uns — auch um unseren materiellen Wohlstand —, aber auf der anderen Seite sehen sie, daß wir so tun, als hänge das Schicksal unserer Nation davon ab, ob ein Lohn- und Einkommensteuertarif zum 1. 1. 1979, zum 1. 1. 1980 oder zu einem späteren Termin eingeführt wird.
Wir können natürlich durch eine solche Diskussion unsere Gesellschaftsordnung unglaubwürdig machen!
Lassen Sie mich noch ein Zweites sagen; auch dies verträgt keine lauten Töne. Wenn wir hören — da gibt es zwischen allen Parteien keine Meinungsverschiedenheiten —, daß eine ganze Menge Probleme in unserer Gesellschaft nicht durch Steuersenkungen, durch Erhöhung der Konsumnachfrage zu lösen sind, sondern nur dadurch, daß Bund, Länder und Gemeinden und z. B. auch freie Träger der Sozialhilfe das Geld zur Verfügung haben, um Menschen
beschäftigen zu können, die beispielsweise alkoholabhängige junge Menschen von dieser Abhängigkeit befreien, die dabei helfen, dem Drogenproblem
Herr zu werden, dann werden Sie mir — wenn Sie sich dieses alles einmal vergegenwärtigen — zugestehen müssen, daß wir alle miteinander, insbesondere im Interesse der jungen Generation, nicht so tun dürfen, als hinge die Lösung der meisten Probleme unserer Gesellschaft davon ab, wann und in welcher Form in diesem Bundestag Steuersenkungen beschlossen werden. Dies widerspräche den Interessen dieser Gesellschaft und insbesondere den Interessen der jungen Menschen.
Zum Schluß wiederhole ich: Wir werden uns an dem Wettlauf um Steuersenkungen nicht beteiligen.
Wir werden nach dem Weltwirtschaftsgipfel ohne Hektik beraten und beschließen,
und zwar entgegen Ihren Erwartungen selbstverständlich in enger Fühlungnahme mit dem Koalitionspartner.
Wir werden überlegen, was konjunkturpolitisch nötig ist, was nötig ist, um nach dem Weltwirtschaftsgipfel einen internationalen Konsens hinzukriegen.
Wir werden bei all dem eines beachten — dies sage ich ohne Polemik und ohne rhetorische Floskeln —:
Wir wissen, daß eine Fülle von Problemen, insbesondere die Probleme der jungen Generation, nicht dadurch gelöst werden können, daß der Bürger einige Mark Steuern weniger bezahlt. Diese Probleme können nur gelöst werden,
indem wir uns selber zusammennehmen und sagen, was für diese Gesellschaft nötig ist und was — jedenfalls finanziell — nur durch die öffentlichen Hände gemacht werden kann. Dies muß möglich sein. An diesem Punkt wird die Sozialdemokratie unnachgiebig sein.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Es liegt in der Natur der Sache, daß
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7890 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Frau Funckesich die heutige Debatte nicht nur auf den Tarifbericht der Bundesregierung beschränkt, sondern daß damit auch der Tarifverlauf und viele andere Steuerfragen mit aufgegriffen werden. Das ist auch richtig. Denn Steuerpolitik kann nur in einem größeren Zusammenhang gesehen werden, wobei man die Struktur, die unterschiedlichen Entwicklungen und Verläufe mit im Blick haben muß. Das war ja der Grund, warum die FDP ihre bestehenden Steuervorschläge zusammengefaßt hat, um ein Gesamtkonzept vorzulegen, das in dieser Legislaturperiode nach unserer Auffassung notwendig und dessen Verwirklichung auch möglich ist, das aber hinsichtlich seiner einzelnen Termine nicht festgelegt ist, weil bei der Realisierung eine Reihe von Überlegungen — hinsichtlich der Reihenfolge, des Schwerpunktes und des Zeitpunktes — mit ins Spiel kommen müssen: sei es die Haushaltslage, sei es der Weltwirtschaftsgipfel, seien es konjunkturelle oder strukturelle Überlegungen.Aber zunächst einmal, meine Damen und Herren, muß man ein Konzept haben. Und das ist ja doch das, was der Opposition fehlt, warum das alles nicht so seriös erscheint, was Sie fordern.
— Nein, meine Damen und Herren, Sie haben bis jetzt kein zusammenfassendes, finanzierbares und deswegen realisierbares Konzept vorgelegt. Ich entnehme allen möglichen Pressenotizen und Reden, die an verschiedenen Stellen gehalten worden sind— Herr Kollege Strauß ist gerade zur rechten Zeit gekommen; er hat eine Menge an Wünschen geäußert, denen von anderen Kollegen nicht unbedingt die gleiche Priorität eingeräumt wird —, daß Sie kein geschlossenes Konzept haben. Sie haben ein Sammelsurium unterschiedlicher Vorstellungen, bei denen wir gerne einmal wissen möchten: Was soll vorrangig sein, was soll überhaupt in einem solchen Konzept stehen? Denn nur mit einem Gesamtkonzept kann man ernstlich Politik machen.
Frau Kollegin, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen legen Hasinger zulassen?
Ja, gern.
Bitte.
Frau Kollegin, Herr Kollege Huonker hat soeben für die SPD gesagt, daß die Sozialdemokraten eine Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht ausschließen würden. Teilt die FDP diese Auffassung?
Ich habe gerade erst begonnen und bin noch nicht bei der Umsatzsteuer, aber ich komme noch dazu. Sie können ganz beruhigt sein: ich werde auch dazu Stellung nehmen. Aber vielleicht sind Sie so freundlich und lassen mich der Reihe nach vortragen. — Ich möchte einmal — das haben Sie natürlich nicht so gern — ein paar Fragen
an Sie stellen. Bei Ihnen scheint es immer so zu sein, daß Sie nach den jeweils schillerndsten Kugeln am Weihnachtsbaum greifen, aber das Ganze nicht im Auge haben.
Wo ist denn Ihr Konzept? Was wollen Sie denn nun wirklich? Wo sind Ihre Deckungsvorschläge?
Welche Option für den Tarif haben Sie? Und welches sind Ihre Prioritäten? Wenn Sie wirklich die Tarifreform vorrangig wollen, warum um .alles in der Welt legen Sie denn keinen konkreten Entwurf vor?
Denn Tarife sind genug erarbeitet. Ich kenne allein sieben Stück. Mit ein bißchen Intelligenz könnte man, falls man da Abänderungen haben will, sie ja auch variieren.
Der vereinigte Ländersachverstand dürfte Ihnen ebenfalls zur Verfügung stehen. Ich lese ja gerade, daß in Rheinland-Pfalz ganz interessante Vorschläge entwickelt werden. Es gibt also offensichtlich genügend Sachverständige. Darum stellt sich die Frage, warum in aller Welt eine große Opposition sagt: „Du, Regierung, bitte schön, mach uns doch mal einen feinen Entwurf", anstatt zu sagen: „Das wollen wir" . — Das wäre doch die vernünftige Handhabung.
— Ich komme gleich darauf.
Mit dieser Abstinenz können Sie doch eigentlich nur die Vermutung nähren, als könnten Sie sich in Ihren eigenen Reihen nicht einigen. Deswegen kommt nur eine konturenlose Anfrage. Wenn man hört, was aus dem Haus Gaddum plötzlich in Form eines Hexeneinmaleins für eine grandiose Steuerreform herauskommt, muß man fragen: Wollen Sie z. B. das oder nicht? Das ist zwar sehr einfach. Aber gerecht ist das ganz sicher nicht. Doch im Augenblick scheint ja Einfachheit Trumpf zu sein. Und da greift man nach allem, was einem nur irgendwo einfällt. Nein, dies ist nicht sehr seriös.
— Ja, ich bin gern bereit, Herr Kollege.
Bitte schön.
Gnädige Frau, Sie sagen, es wäre nicht seriös, daß wir mit unseren
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7891
Haase
Vorschlägen so hinter dem Berge hielten. Erinnern Sie sich der Initiative des Kollegen Windelen, als er jüngst vorsichtig andeutete, man müsse die Transferleistungen einer Prüfung unterziehen, um eventuell damit Haushaltsausgleich bewirken zu können ohne Ansteigen der Staatsverschuldung, welchen Echos er damals seitens der Bundesregierung teilhaftig wurde angesichts unseres Handelns, wie Sie es hier anregen?
Herr Kollege!
Haben Sie in der Erinnerung, wie Herr Ehrenberg Herrn Windelen als sozialen Demonteur verunglimpfte?
Herr Kollege, Ende mit dem Fragezeichen!
Herr Kollege Jenninger, ich rufe Sie zur Ordnung!
— Ich rufe Sie erneut zur Ordnung.
Herr Kollege Haase, ich kenne eine Reaktion — die finde ich sehr seriös und über sie sollten Sie doch froh sein —, daß nämlich die Bundesregierung einen Transferbericht in Auftrag gegeben hat, um dieses Problem einmal zu untersuchen und daraus Möglichkeiten zur Verbesserung zu entwickeln. Dieses könnte doch Herr Kollege Windelen sehr dankbar begrüßen.
— Ja, das ist sehr konkret.Ein progressiver Tarif, wie wir ihn alle miteinander wollen, bringt es mit sich, daß er in Abständen nach unten korrigiert werden muß. Die Lohnsteuer steigt sonst kontinuierlich. Das hat damit zu tun, daß man aus Gründen der Geldwertverschiebung in die Progression hineinwächst. Aber wir wollen doch nicht verkennen, daß man auch aus Gründen realen Einkommenswachstums, d. h. durch Verbesserung des Lebensstandards, in eine höhere Steuerstufe kommt. Das ist eine automatische Folge, wenn man überhaupt einen progressiven Tarif will.Wie auch immer, der Tarif muß gelegentlich korrigiert werden. Er muß nach unserer Auffassunginsbesondere dort einen gleitenden Übergang bekommen, wo heute nach der Proportionalzone der starke Anstieg von 22 % auf 30,8 % erfolgt. Darin sind wir, glaube ich, alle miteinander relativ einig, und darüber bräuchten wir gar nicht so sehr zu streiten. Denn daß dieser Sprung von immer mehr Steuerzahlern erreicht wird, ist bekannt. Wenngleich er keinen starken Anstieg der Durchschnittsbesteuerung auslöst, so bewirkt er doch, daß demjenigen, der durch mehr Leistungen oder höhere Löhne mehr erwartet, dieses Mehr stark beschnitten wird. Deswegen sind wir der Meinung, daß der Tarifsprung beseitigt werden müßte. Wir halten aber an der Proportionalzone fest. Ich habe den Eindruck, daß das auch bei der Opposition die überwiegende Meinung ist. Denn ohne eine solche Proportionalzone würde für jeden Steuerpflichtigen jede hinzuverdiente Mark bereits progressiv besteuert werden. Gerade wenn man kritisiert, daß heute ungefähr 50 °/o der Steuerzahler in den Progressionsbereich kommen, sollte man diesen Prozentsatz nicht auf 100 erhöhen wollen.
Herr Kollege Häfele, ich habe mir die Tabelle soeben schnell ausgerechnet. Sagten Sie, daß ein Arbeitnehmer einen Grenzsteuersatz von 50 % hat?
— Sonst wollte ich sagen: Dieser Grenzsteuersatz beginnt erst bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von über 100 000 DM. Doch hinsichtlich des Abgabensatzes ist das richtig. Aber wenn Sie diese kritisch angreifen, dann müssen Sie zugeben, daß ihr Anstieg am wenigsten von der FDP veranlaßt worden ist.
Wir haben uns jetzt nachdrücklich gegen eine neuerliche Beitragserhöhung bei der Rentenversicherung gewandt, während Sie die Tarife in der Rentenversicherung seinerzeit in der Großen Koalition von 14 %auf 18 % angehoben haben. Außerdem haben Sie sich gegen das Kostendämpfungsgesetz gewandt, das bewirkt, daß die Belastung durch die Krankenkassenbeiträge eher sinkt als steigt.
Die Gewerbesteuer ist eine besondere Belastung für unsere gewerbliche Wirtschaft. Das wissen wir alle. Insbesondere wirkt sie wettbewerbsverzerrend, da die übrigen EG-Staaten und sonstigen Nachbarländer eine in Art und Höhe gleichartige Steuer nicht kennen. Dazu ist die Lohnsummensteuer beschäftigungshemmend und behindert daher die Einstellung weiterer Arbeitskräfte. Auch die beiden übrigen Arten der Gewerbesteuer sind ertragsunabhängig. Ich meine, auch die Gewerbeertragsteuer ist es in einem beträchtlichen Umfang, weil durch die Hinzurechnung der Dauerschulden und Dauerschuldzinsen selbst in ertrag-losen Jahren ein fester Bestandteil der Gewerbe-
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7892 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Frau Funckesteuer unterliegt. Wir sind der Meinung, daß hier eine erhebliche Entlastung erfolgen muß.
— In diesem Punkt — ich bin für den Hinweis dankbar — stimmen wir auch mit dem Sachverständigengutachten überein, Herr Kollege Häfele,
wobei dort allerdings die Reihenfolge der Schwer-punkte etwas anders als bei Ihnen gesetzt ist;aber darüber kann man sich sicherlich unterhalten.Ich komme zum dritten Punkt. Die Sonderausgabenhöchstbeträge sind seinerzeit durch den Bundesrat sehr niedriggehalten worden. Sie wissen, daß wir das anders vorgehabt hatten. Der Bundesrat hat die jetzige unzulängliche Regelung erzwungen, die es mit sich bringt, daß gerade Freiberufler und Selbständige heute nur eine ganz bescheidene Marge haben, um ihre Alters- und Krankensicherung abzudecken. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sie ganz allein die Vorsorge treffen müssen. Darum muß nach unserer Vorstellung die Erhöhung des Vorwegabzugs mit in die Beratungen einbezogen werden.Das Kindergeld ist mit Zustimmung aller Parteien des Bundestages seinerzeit von der steuerlichen Begünstigung in einen festen Betrag umgewandelt worden. Alle Parteien haben, wie gesagt, dem zugestimmt. Diese Form eines festen Betrages bringt es mit sich, daß wir ihn gelegentlich anheben müssen, und dazu sind wir bereit; Insbesondere wollen wir dabei nicht die Zwei-KinderFamilie vergessen, die in der Vergangenheit relativ wenig an den Anhebungen teilgenommen hat. Wir haben also seinerzeit festgelegt, Kinder nicht in Form von Steuererleichterungen, sondern in Form eines einheitlichen Kindergeldes zu berücksichtigen. Was sollen da aber nun die neuen Vorstöße, das Kindergeld wieder im Rahmen der Steuern zu berücksichtigen?
Meine Frage an Sie: Wollen Sie damit wieder von den festen Beträgen weg und zur unterschiedlichen Wirkung zwischen null und 56 % kommen?
Oder wollen Sie etwa zur „Vereinfachung" beides nebeneinander haben, das Kindergeld u n d den Steuerabzug? Die Antwort auf diese Frage hätten wir ganz gern auch aus Bayern, damit wir wissen, wohin Ihre Vorstellungen zielen.Meine Damen und Herren, Steuerentlastungen müssen finanziert werden. Es gibt natürlich einen Finanzierungsteil, der darin liegt, daß überproportional steigende Steuern allein aus sich selber etwas reduziert werden können. Aber was vorgeschlagen wird, auch von uns, ist höher als das, was dadurch allein aufgefangen werden könnte. Wir stellen uns deswegen diese Frage, und ich meine, auch dieOpposition sollte sich bei ihren vielen Vorstellungen oder Reden — —
— Bitte?
— Bei Ihren verschiedenen — —
— Ich höre von Ihnen weit mehr als das. Wir haben Aufstellungen über Steuerentlastungsvorschläge von Ihrer Seite, die bei 50 Milliarden liegen. Ja, Sie machen es sich einfach. Sie sagen: Aber das wollen wir ja nicht alles zusammen, sondern nur alternativ. Ja aber, würden Sie dann bitte schön einmal sagen, was Sie denn vorrangig wollen, was Sie denn nun wirklich in Ihre Überlegungen einbeziehen wollen?
— Genau dies haben wir getan, aber bei Ihnen schwirrt noch die Zahl 50 Milliarden herum. Wir hätten ganz gerne gewußt, wieviel der Tarif, den Sie ohne nähere Angaben fordern, entlasten soll und wieviel die Kinderfreibeträge usw., was Sie alles wollen, kosten sollen. Wir hätten das gerne einmal im Zusammenhang, damit man sieht, wieviel das kostet, und wie das finanziert werden soll. Bisher hören wir: Steuern herunter, Ausgaben gezielt hinauf, Schulden herunter! Meine Damen und Herren, dieses Rechenstückchen geht nicht auf. Sie müssen das schon etwas konkreter sagen. Wir können es zwar ertragen, daß Sie es uns nicht sagen, aber ich glaube, die Öffentlichkeit hätte doch wohl Anspruch darauf.Meine Damen und Herren, meine Fraktion ist bereit, soweit und sofern erforderlich, auch eine Erhöhung der Umsatzsteuer in die Deckung mit einzubeziehen. Damit bin ich bei Ihnen, Herr Kollege Hasinger. Herr Häfele hat mit Recht darauf hingewiesen, daß sich die Struktur des Steueraufkommens verschoben hat. Das ist richtig. Unsere direkten Steuern sind gestiegen, unsere indirekten laufend gefallen. Selbst die Umsatzsteuererhöhung, die Sie ja abgelehnt haben, hat noch nicht wieder etwa den Stand des Verhältnisses Umsatzsteuer zu sonstigen Steuern von 1970 erreicht. Das heißt also: Wir sind laufend in einer Umstrukturierung, die dem entgegenläuft, was Europa von uns verlangt. Deswegen behalten wir die Deckung in der Umsatzsteuer im Auge — doch kann man dabei nur behutsam vorgehen, denn man kann nicht plötzlich um 3 oder 4 °/o erhöhen. Das wäre in der Tat unsozial. Man kann so etwas nur in einer vernünftigen und behutsamen Weise machen. Aber dann muß man es auch wollen. Wer Europa will und dies nicht nur in Sonntagsreden fordert, darf nicht an der Stelle, wo es konkret wird, sagen: Das wollen wir lieber nicht; dann lieber zurück in die nationalen Entscheidungen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7893
Frau
Kollegin, würden Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Hasinger zulassen?
Bitte schön.
Frau Kollegin, ganz abgesehen von der Frage, ob es eigentlich redlich ist, mit der einen Hand zu geben und mit der anderen Hand zu nehmen: Haben Sie auch die schädlichen konjunkturpolitischen Konsequenzen der von Ihnen angekündigten Mehrwertsteuererhöhung bedacht?
Aber, Herr Kollege, eine Umstrukturierung im Steueraufkommen — davon hat Kollege Häfele gesprochen — kann doch nur so verstanden werden, daß man auf der Seite, wo die Waage heruntergegangen ist, entlastet, und auf der Seite, wo die Waage nach oben gegangen ist, wieder etwas daraufpackt. Das kann doch gar nicht anders sein. Wenn Sie die Struktur in sich verändern, müssen Sie von der einen Hand in die andere geben. Dies ist doch wohl einleuchtend.
Eines Tages werden Sie, wenn Sie sich jetzt verweigern, eine große Stufe machen müssen. Dann gibt es allerdings erhebliche soziale, aber auch wirtschaftliche Verwerfungen. Deswegen haben wir immer gesagt: das kann nur in Stufen gehen.
Meine Damen und Herren, wir wollen auch die Vereinfachung. Wir halten sie für dringend. Aber es gibt kein Zaubermittel, das die Vereinfachung so plötzlich und so, wie sie jetzt diskutiert wird, bringt. Wer in dieser Form, wie es mitunter draußen geschieht, Vereinfachungen verspricht, muß wissen, daß er Steine statt Brot gibt. Wenn man dieses ganz besonders deutlich haben will, braucht man nur den Kleinschen Vorschlag zu nehmen, der gestern gemacht worden ist: Alle Steuervergünstigungen weg; alle sind gleich, egal ob sie behindert sind oder nicht, egal ob sie verheiratet sind oder nicht, egal ob sie Pensionsansprüche haben oder selbst die Alterssicherung ansparen müssen: einfach 10 bis 50 %. Meine Damen und Herren, das ist wunderbar einfach, aber nicht gerecht, und ich sehe da schon das Verfassungsgericht kommen. So publikumswirksam sollten wir an ,die ernste Frage nicht herangehen.
Noch ein Wort zur Vereinfachung, weil sie angesprochen worden ist. Man kann kontinuierlich einzelne Vereinfachungen vornehmen. Wir sind bereit, sehr nachdrücklich und dringlich immer wieder nach Möglichkeiten für Vereinfachungen zu suchen.
Ein Schritt dazu wäre bei der Kraftfahrzeugsteuer möglich. Sie, Herr Kollege Häfele, sagen, Sie hätten die Plakettensteuer gefordert. Nur, bitte schön, sie ist doch im Bundesrat nicht weitergekommen. Dort hat es keine Übereinstimmung gegeben.
— Herr Häfele, die Kraftfahrzeugsteuer ist doch eine Steuer, die ausschließlich den Ländern zusteht.
— Jetzt wird es kindlich, Herr Häfele.
— Wenn wir ein Gesetz für eine Steuer machen, die ausschließlich den Ländern zusteht und die ausschließlich von den Ländern verwaltet wird, dann können Sie doch nicht sagen: Der Bund macht das, egal was die Länder wollen. In einem föderativen Staat muß man doch so fair miteinander umgehen,
daß man in solchen Fällen Rücksicht nimmt. Sonst klagen Sie immer, daß wir oder die Regierung nicht genügend Rücksicht auf die Länder nehmen. Wenn es nun aber ausschließlich Ländersache ist, ist es doch nicht vernünftig, daß man etwas gegen den Willen ,der Länder einbringt.
Frau Kollegin, Sie gestatten die Zwischenfrage? — Bitte!
Frau Funcke, ist Ihnen noch erinnerlich, daß die SPD-Fraktion nicht nur drei Klassen wollte, sondern vier oder gar mehr Klassen, und daß es daran, aus ideologischen Gründen, gescheitert ist?
Nein, es gab bei den Ländern unterschiedliche Auffassungen. Wenn ich es richtig im Gedächtnis habe, gab es bei den Ländern Vorstellungen, die zwischen einer und fünf Klassen lagen. Da die Länder untereinander keine Einigung zustande brachten — das wäre ja wohl die Voraussetzung —, sehe ich jedenfalls keinen vernünftigen Grund, warum der Bund ihnen dann etwas aufzwingen sollte, was sie hinterher doch ablehnen.
Frau Kollegin, Sie gestatten die Zwischenfrage des Kollegen Huonker?
Frau Kollegin Funcke, ich will nicht über die Vergangenheit, sondern über die Gegenwart reden. Können Sie mir bestätigen, daß ein Entwurf zur Novellierung der Kfz-Steuer auf dem Tisch liegt, der in Abstimmung mit allen Ländern insbesondere auf Betreiben des CDU-regierten Landes Rheinland-Pfalz von der Bundesregierung eingebracht worden ist, und daß es in diesem Hause nur eine Fraktion gab, die im Plenum heftig dagegen gewettert hat?
Das ist richtig; deswegen ist dies auch noch nicht verabschiedet. — Herr Schäuble!
Frau Kollegin Funcke, wollten Sie dem Kollegen Huonker
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7894 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausennoch antworten oder schon die zweite Zwischenfrage zulassen?
Ich glaube, Herr Huonker ist befriedigt.
Er ist zufrieden. — Bitte, Herr Kollege Schäuble.
Frau Kollegin, ist es richtig, daß die Union die Beratung dieses Gesetzentwurfes im Finanzausschuß gefordert hat und daß die Fraktionen von SPD und FDP die Beratung im Finanzausschuß vor der Sommerpause verhindert haben?
Herr Kollege, es trifft zu, daß die CDU im Gegensatz zu ihrer Ländermehrheit gesagt hat, sie könne dem Steuersatz nicht zustimmen. Die Länder hatten eine aufkommensneutrale Gestaltung gefordert, und die CDU wollte dem nicht folgen. Da haben wir allerdings gesagt, es wäre gut, wenn sich die CDU noch einmal mit ihren eigenen Ländern abstimmen würde, damit es nicht zu einer Diskrepanz zwischen der CDU und CDU-Ländern komme. Das war eine sehr liebevolle Haltung des Finanzausschusses.
Frau Kollegin, würden Sie eine zweite Zwischenfrage zulassen?
Ja, wenn ich noch so viel Zeit habe.
Frau Funcke, da es offenbar um die Frage geht, warum dieses Gesetz im Bundestag nicht weiterkommt, möchte ich meine Frage wiederholen: Ist es zutreffend, daß die Fraktionen von SPD und FDP die Behandlung vor der Sommerpause, wie wir sie gefordert haben, verhindert haben?
Ja, das haben wir,
weil wir Ihnen, meine Damen und Herren, Gelegenheit geben wollten, die Diskrepanz zwischen der CDU/CSU-Fraktion hier und den CDU- und CSU-Ländern — —
— Entschuldigen Sie, so können Sie doch nicht laufend eine Doppelrolle spielen wollen. Wenn Sie sich in Ihrer eigenen Partei nicht einigen können,
geben wir Ihnen Gelegenheit dazu.
Es wäre gut, wenn das dann hinterher abgestimmt würde.
Wir sehen seitens der FDP längerfristig einen ganz anderen Weg als vernünftig an. Daß jedes Personenfahrzeug von der Anmeldung bis zur Verschrottung mit jedem neuen Übergang im Finanzamt karteimäßig begleitet wird, ist auf die Dauer wirklich kein Beitrag zur Vereinfachung und zur Entlastung der Bürokratie. Wir meinen, man sollte die Kraftfahrzeugsteuer aufheben und dafür die Mineralölsteuer anheben, gegebenenfalls mit einer einmaligen Zulassungsabgabe. Das wäre ein vertretbarer und einfacher Weg, um diesen Verwaltungsunfug im Finanzamt abzulösen.
Meine Damen und Herren, um zu Ihrem Antrag und dem Anlaß dazu zurückzukehren: die FDP tritt für eine durchdachte Tarifsenkung ein. Aber wir sind gegen substanzlose Schauanträge, wie Sie sie hier gestellt haben, ohne jeden konkreten Inhalt außer dem Termin. Von einem solchen Schauantrag halten wir wirklich nichts, schon gar nicht zu einem Zeitpunkt, wo es im Interesse unseres Landes, ich darf wohl sagen, im gemeinsamen Interesse auch dieses Hauses, liegt, daß ein ausreichender Spielraum auf dem Weltwirtschaftsgipfel für die Verhandlungen erhalten bleibt. Die FDP lehnt daher den Antrag der CDU/CSU ab.
Das Wort hat der Herr Bundesfinanzminister.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in ihrem Tarifbericht die Möglichkeit eines durchgehend progressiven Tarifverlaufs der Einkommensteuer sowie die Probleme, die mit seiner Einführung verbunden wären, dargelegt. Das entscheidende Problem bei den Überlegungen zu einer Änderung des geltenden Einkommensteuertarifs ist nicht die Frage, ob der geänderte Tarif 1980 oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt eingeführt und ob mit ihm eine allgemeine steuerliche Entlastung großen Umfangs geboten wird. Bei der Frage nach der Änderung des Tarifs, der Tarifstruktur, geht es vielmehr in erster Linie um die Frage einer gerechten Struktur der Steuerbelastung.Nun hat leider die öffentliche Diskussion der letzten Wochen hier einen gewissen Erwartungshorizont geschaffen, so als könnten sich alle Bürger auf eine schnelle Steuererleichterung einstellen und als könnte dann auch noch die Steuerlast der Wirtschaft abgebaut werden. Ich kann dazu nur wiederholen, daß das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit derartige Überlegungen von vornherein ausschließt. Selbst wenn man sich von Steuererleichterungen neue konjunkturelle Impulse verspricht, die dann mittelfristig über zusätzliches wirtschaftliches Wachstum auch höhere Steuereinnahmen mit sich bringen könnten,
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7895
Bundesminister Matthöfermuß das öffentliche Defizit, muß die Nettokreditaufnahme finanzierbar bleiben. Die Belastung der Kapitalmärkte darf nicht — die Bundesbank hat kürzlich darauf hingewiesen, und ich kann ihr nur zustimmen — die privatwirtschaftliche Kreditaufnahme behindern.Bei der Diskussion über eine Reform des Einkommensteuertarifs geht es also nicht um eine allgemeine Steuersenkung, sondern um eine doppelte Strukturreform, zum einen um die Frage, ob der dreistufige Aufbau des geltenden Tarifs verändert werden soll, zum anderen um die Frage, ob der Anteil des Steueraufkommens aus der Lohn- und Einkommensteuer im Verhältnis besonders zur Umsatzsteuer, also das Verhältnis der direkten zu den indirekten Steuern, verändert werden soll. Dies macht es erforderlich, Fragen der steuerlichen Gerechtigkeit grundlegend zu überdenken. Dabei zeigt sich schnell, daß schematische Lösungsversuche und auch Lösungen, die bei gründlicherem Durchdenken der Zusammenhänge durchaus mit Nachteilen verbunden sind, in Erwägung gezogen, gründlich geprüft werden müssen, damit wir eine grundlegende Reform des Einkommensteuertarifs solide durchführen. Das ist sehr viel schwieriger und komplexer, als es manchem auf den ersten Blick erscheinen mag. Ich verweise zusätzlich auf das bislang völlig ungelöste Problem der Berücksichtigung sonstiger öffentlicher Leistungen und Transferbeziehungen, das wir ja durch die Einsetzung der Transfer-Kommission zum erstenmal ernsthaft aufgegriffen haben.Ich will die Spekulationen über den Weltwirtschaftsgipfel und den Zeitpunkt konjunktureller oder konjunkturell darstellbarer Maßnahmen hier nicht noch bereichern. Ich habe große Zweifel, ob wir der Sache, nämlich der soliden Neugestaltung des Einkommensteuertarifs, einen Gefallen tun, wenn wir uns selbst unter einen willkürlichen Zeitdruck setzen.Nun hat die Opposition einen Antrag vorgelegt, nach dem die Bundesregierung aufgefordert wird, einen Gesetzentwurf mit einem neuen Einkommensteuertarif so rechtzeitig vorzulegen, daß der Tarif am 1. Januar 1979 in Kraft tritt. Diese Fixierung des Zeitpunktes ist so ziemlich das einzige, was die Opposition zum Thema Tarifreform vorzuweisen hat. Das ist gewissermaßen so ein Grinsen ohne, Katze.
Ich hätte mir gewünscht, daß sich die Opposition nicht nur auf diese allgemeine Aussage beschränkt, sondern in der Frage der Tarifreform deutlicher wird. Der Abgeordnete Häfele hat hier eine Sammlung von Allgemeinheiten vorgetragen, die ich alle schon mehrfach sehr viel besser und sehr viel amüsanter von Herrn Kollegen Strauß gehört habe. Sie haben offenbar einen Fraktionscomputer, in dem Sie solche Elemente immer durcheinandermischen, mit von der Sprachgruppe gelieferten Vokabeln vermischt.Ich war auch sehr erstaunt, als Herr Kollege Häfele hier zugab, daß sein Glaube an Konjunkturprogramme erschüttert worden sei. Ich kann mich nur wundern, daß irgend jemand in der Bundesrepublik jemals einèn solchen Glauben gehabt hat, die Bundesregierung ganz sicher nicht. Wir haben eine umfassende Wirtschaftspolitik mit vielen Aspekten, und einer davon ist ganz sicher der Versuch, in diesem Lande, das ja sehr viel stärker als andere Länder in die internationale Arbeitsteilung verflochten ist, gemeinsam mit anderen solche Konjunkturprogramme, die sich gegenseitig in ihren Wirkungen verstärken, zu organisieren. Das ist die große Bedeutung der internatnonalen Konferenzen, die man ja nicht unterschätzen sollte.Wenn ich mir hier die Analyse des Kollegen Häfele über die Ursachen der Wirtschaftsschwierigkeiten ansehe, so kann ich ihr eine gewisse Provinzialität nicht absprechen. Was glaubt der Kollege Häfele, in welchem Lande wir eigentlich leben? Wir leben in einem Lande, das seit vielen Jahren die zweitniedrigsten Preissteigerungsraten aller Industrieländer hat. Wir leben in einem Lande, dessen Währung sich ständig aufwertet, so sehr — also von den anderen so stark geschätzt wird —, daß es geradezu zu einem Problem für unsere Ausfuhr geworden ist. Wir leben in einem Lande, das die niedrigste Arbeitslosenquote aller neun EG-Länder hat — ein kleines Land hat noch eine ähnlich niedrige Quote —, von den Vereinigten Staaten gar nicht zu sprechen. Und dann wird hier in dieser Analyse so getan, als sei die Politik der sozialliberalen Koalition schuld an der weltweiten wirtschaftlichen Misere, als sei die Politik der sozialliberalen Koalition etwa schuld daran, daß in allen anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft und auch in den USA die Arbeitslosigkeit höher ist als bei uns. Ich glaube, eine derartige Analyse muß notwendigerweise auch zu einer falschen Therapie führen.Ich möchte mir wünschen, daß die Opposition politische Vorgaben für den neuen Tarif gibt, damit man sieht, in welcher Richtung die Opposition den Tarif umstrukturiert haben möchte. Will sie die sogenannte Proportionalzone beibehalten? Wie lang soll dies sein? Soll der Grundfreibetrag angehoben oder der sogenannte Tarifsprung abgeschmolzen werden? Das sind alles Fragen, auf die wir von der Opposition hier keine Antworten bekommen. Zweitens hätte sich die Öffentlichkeit — übrigens auch der Bundesfinanzminister — gewünscht, daß die Opposition Angaben darüber macht, wie der Tarif finanziert werden soll. Die Frage ist doch erlaubt und notwendig, wenn die Opposition Forderungen nach Steuerverzichten — —
Einen Augenblick, bitte. Ich wäre Ihnen dankbar, meine Damen und Herren, wenn Sie alle Platz nehmen würden, damit der Herr Bundesfinanzminister im Hause voll verständlich bleibt.
Es ist nicht seriös und man muß es geradezu als Doppelspiel bezeichnen, wenn auf der einen Seite Steuermindereinnahmen in Milliardenhöhe verlangt werden — Frau Funcke hat Ihnen ja vorgerechnet, daß es mittlerweile über 50 Milliarden geworden sind,
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7896 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Bundesminister Matthöferaus denen sich jeweils der Interessent heraussuchen kann, was denn wohl für ihn am besten paßt —, gleichzeitig aber dem Bund große Verschuldung vorgeworfen wird und Verfassungsklagen angedroht werden. Wenn man sich dann mit den Kollegen der Opposition irgendwo trifft, dann wird jeweils der betreffenden Interessengruppe, die dort versammelt ist, nach dem Munde geredet, und dann werden neue Ausgaben gefordert.
Geichzeitig fordern Sie dann auch noch eine Konsolidierung des Defizits.Ich hätte mir gewünscht, daß die Opposition klar sagt, ob die Forderung nach einer Tarifreform lediglich eine Forderung in jener langen Liste von Steuerentlastungsforderungen ist, die von ihr seit Beginn der Legislaturperiode erhoben worden sind, Diese Entlastungsforderungen sind in ihrer Summe so gewaltig hoch, daß sie den Bereich des Ernsthaften schon längst verlassen habenWenn sich der Herr Kollege Häfele hier übrigens auf den Sachverständigenrat beruft: Der Sachverständigenrat hat gerade in seinem neuesten Gutachten noch einmal betont, daß derjenige, der hier von Steuersenkungen spricht, auch klar und deutlich Deckungsvorschläge machen muß, und darauf warte ich, wenn ich Ihre Entlastungsvorschläge höre, immer noch.
Es findet sich auch an prominenter Stelle dieserListe die Wiedereinführung von Kinderfreibeträgen. Unsere Bürger sollen wissen, daß allein die Wiedereinführung dieser Kinderfreibeträge, deren Abschaffung übrigens seinerzeit bei der Steuerreform von allen wichtigen Gruppen in unserer Gesellschaft — von den Kirchen, von den Wohlfahrtsverbänden, von allen Familienverbänden — einstimmig begrüßt worden ist, 5 Milliarden DM kosten würde. Dies und die dadurch eintretenden unsozialen Folgen sollten jedem zeigen,
aus welcher Richtung der steuerpolitische Wind bei der Opposition bläst.Faßt man diese Punkte — nämlich mangelnde konkrete Aussage zur inhaltlichen Gestaltung des Tarifs, fehlende Angaben zur Finanzierung des Tarifs, keine Abgrenzung gegenüber anderen Steuernachlaßforderungen — zusammen, so wird deutlich, daß der Antrag der Opposition nicht ernst gemeint sein kann. Weil dies so ist, muß man der Opposition sagen: Ihnen kommt es wahrscheinlich gar nicht auf Steuerentlastungen an, sondern darauf, die finanzielle Handlungsfähigkeit dieses Staates zu lähmen. Denn das wäre die Folge, würden wir Ihren Forderungen nachgeben.
Noch einige Worte zum Tarifbericht: Bei der Verabschiedung des Einkommensteuerreformgesetzes im Jahre 1974 ist im Vermittlungsverfahren in das Einkommensteuergesetz eine Vorschrift eingefügt worden, nach der mit Wirkung vom 1. Januar 1978ein durchgehend progressiver Einkommensteuertarif in Kraft gesetzt werden sollte. Die Bundesregierung hat ihren Bericht nach dieser Vorschrift vorgelegt, einen Bericht, der eigentlich heute hätte diskutiert werden sollen. Statt dessen haben wir wieder diese Sammlung längst bekannter Dinge vorgetragen bekommen. Die Opposition ist offenbar der Meinung — und man kann durchaus darüber diskutieren, ob diese Meinung legitim ist —, daß in der Politik nicht Originalität und Sachbezogenheit, sondern Penetranz erfolgreich ist.
Aber darüber werden wohl die Wähler entscheiden.
Die Bundesregierung hat nicht nur diesen Bericht vorgelegt; die Bundesregierung und die sozialliberale Koalition haben auch im Jahre 1977 mit Wirkung vom 1. Januar 1978 Steuerentlastungen von rund 12 Milliarden DM netto beschlossen. Dadurch sind die Rahmenbedingungen unserer Volkswirtschaft erheblich verbessert worden, und alle Arbeitnehmer haben unmittelbar an Entlastungen in einer Höhe teilgenommen, welche den Wirkungen einer Tarifreform ungefähr gleichkam. Ich erinnere an die Vervierfachung ,des Weihnachtsfreibetrages, die Erhöhung der Sonderausgabenhöchstbeträge, die Erhöhung des Grundfreibetrages, die Verbesserung des § 7 b und die Erleichterungen bei der Grunderwerbsteuer. Für die Wirtschaft wurde die degressive AfA verbessert. Bei der Gewerbesteuer und der Lohnsummensteuer wurden Freigrenzen eingeführt und die Freibeträge angehoben, und bei der Vermögensteuer wurden die Sätze gesenkt. Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie damals ja dagegen gestimmt.Die Steuerlastquote ist in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren praktisch unverändert geblieben. Wenn Sie nun auf die anderen Abzüge hinweisen, dann darf ich Sie noch einmal daran erinnern, daß keines der Gesetze, die zu dieser erhöhten Belastung geführt haben, ohne Ihre Zustimmung verabschiedet worden ist. Sie haben das alles auch gewollt, und Sie sollten jetzt gefälligst auch so freundlich sein, die Konsequenzen Ihres eigenen Wollens und Ihrer Abstimmung zu akzeptieren, und aufhören, über die hohe Belastung zu lamentieren; denn Sie haben sie mit verursacht.
Die Steuerlastquote betrug 1962 rund 24% — das ist 1938 übrigens ähnlich gewesen —, während sie nach der Steuerschätzung vom Februar 1978 in diesem Jahr 24,4 % betragen wird. Das bedeutet, daß die Steuerpflichtigen auch heute insgesamt nicht mehr Steuern zahlen, als das in den 50er und 60er Jahren der Fall war. Auch international gesehen liegt die Bundesrepublik im Rahmen. Es besteht kein Grund, bei uns allgemein von einer Überbesteuerung zu sprechen und damit dafür zu sorgen, daß sich die Steuerdebatte nur um Dinge dreht, die nicht wirklich wichtig und im Grunde auch nicht veränderbar sind.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7897
Bundesminister MatthöferVerändert hat sich jedoch — das ist richtig und führt zu Unmut — das Verhältnis der direkten zu den indirekten Steuern, und zwar durch die unterschiedliche Dynamik der einzelnen Steuerarten. Zu Beginn der 50er Jahre war das Verhältnis der direkten zu den indirekten Steuern nahezu ausgeglichen, nämlich 52 : 48. 1977 betrug dieses Verhältnis etwa 37 : 63. Das ist eine so drastische Veränderung, daß man sich sehr wohl überlegen muß, wie man die Verhältnisse wieder in eine gewisse Normalität bringen kann.So berechtigt die Kritik an dieser Entwicklung scheinen mag, so notwendig ist es allerdings auch, die Gründe zu nennen, welche den starken Anstieg des Lohnsteueraufkommens verursacht haben. Die sind nicht nur steuerlicher Art, sondern sie liegen auch in der Zunahme des Anteils der Arbeitnehmer an der Gesamtzahl der Beschäftigten, sie liegen am starken Anstieg des Einkommens usw. Der Rückgang der indirekten Steuern, insbesondere der Mineralöl-, Tabak- und Branntweinsteuer, ergibt sich auch daraus, daß diese Steuern in der Regel an das Volumen der besteuerten Güter anknüpfen, so daß sich Preissteigerungen steuerlich nicht auswirken. Wenn wir die von Ihnen zu Recht beklagte Entwicklung umkehren wollen, müssen wir also auch hier die Konsequenzen in Betracht ziehen, die daraus ernsthaft zu ziehen sind.Noch einige Worte zum Tarif. Die entscheidende Schwäche des augenblicklichen Tarifs ist der starke Belastungssprung von 22 auf 30,8 % beim Übergang von der Proportionalzone zur Progressionszone. Steuerpflichtige, deren Einkommen in die Progressionszone hineinreicht, müssen jeden Einkommenszuwachs mit 30,8 % versteuern, während die Grenzbelastung der Proportionalzone selbstverständlich gleichbleibend bei 22 % liegt. Dabei wird es nicht bleiben können. Hier müssen wir wirklich eine Entlastung gewähren.Eine weitere wichtige Frage ist das Problem der Steuervereinfachung. Ein durchgehender Progressionstarif würde einen erhöhten Verwaltungsaufwand erfordern, weil sich mehr Bürger als bisher der Veranlagung unterziehen müßten. Diese Tatsache und der Hinweis, daß der Tarif nicht so .aussehen darf, daß er in wenigen Jahren wieder korrekturbedürftig ist, sollten als Mahnung verstanden werden, nicht voreiligen Lösungen den Vorzug zu geben.Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen werden Lösungen suchen und finden, die einfach und gerecht, die auf Stetigkeit angelegt sind. Alle Parteien in diesem Hause sind aufgerufen, sich an dieser Aufgabe zu beteiligen.
Meine
Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zu dem Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zur Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu dem Bericht der Bundesregierung — Drucksache
8/62 — auf Drucksache 8/1944. Ich frage, ob dazu das Wort gewünscht wird. — Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU in Drucksache 8/1944 zustimmen will, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? - Keine Stimmenthaltungen. Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen damit zur Schlußempfehlung gemäß Drucksache 8/1887: Der Bundestag wolle beschließen, den Bericht der Bundesregierung — Drucksache 8/62 — zur Kenntnis zu nehmen. Wer diesem Vor- schlag zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. -Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dem Beschluß des Ausschusses ist hiermit vom Bundestag mit Mehrheit gefolgt worden bei zahlreichen Stimmenthaltungen.
Ich rufe nunmehr Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verlängerung der Antragsfrist für die Abgabe des Antrags auf Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs
— Drucksache 8/1813 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 8/1924 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Langner
Herr Abgeordneter Dr. Langner, wünschen Sie eine Ergänzung Ihres Berichts?
Ich danke Ihnen als Berichterstatter und darf Ihnen das Wort in der Aussprache erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Höhenflügen des materiellen Steuerrechts nun ein Gesetz zur Technik der Steuererhebung. Aber ohne Technik der Steuererhebung gibt es ja auch keine Mark in der Staatskasse und — das ist das spezielle Thema von heute — auch kein Geld zurück vom Staat.Für die Nichtsteuerexperten darf ich eine Erläuterung zur Einführung geben. Die Lohn- und Einkommensteuer wird bekanntlich auf zwei unterschiedliche Arten erhoben. Die Masse des Aufkommens, die rund 90 Milliarden DM der Lohnsteuer, werden, von den Arbeitgebern einbehalten und an das Finanzamt abgeführt; für Vater Staat übrigens ein äußerst praktisches Verfahren. Für diese ganz erheblichen Hilfsdienste der Wirtschaft bei der Steuererhebung ver- dienen die Firmen, die Betriebe und Praxen auch einmal ein herzliches .Wort des Dankeschöns vom Parlament, das ich für meine' Fraktion sehr gern sagen möchte;
denn die Belastung der Wirtschaft durch diese Hilfsdienste für den Staat ist • ganz erheblich. Sie ist nit,gends exakt ausgerechnet. Aber die IHK Koblenz
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7898 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Dr. Langnerhat einmal den Versuch unternommen, das Problem durch eine Umfrage etwas zu erhellen. Sie ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß pro Mitarbeiter in einem Betrieb und pro Jahr für diese staatlichen Hilfsdienste etwa 167 DM aufgewendet werden müssen. Also ein nicht unbedeutender Kostenfaktor: Erhebung der Lohnsteuer durch die Arbeitgeber.Die Einkommensteuerzahler leisten vierteljährliche Vorauszahlungen, und die endgültige Feststellung ihrer Steuerschuld geschieht dann durch Einkommensteuerbescheid und Einkommensteuererklärung.Bei dem Lohnsteuerzahler kommen drei verschiedene Möglichkeiten der endgültigen Feststellung der zu zahlenden Steuer in Betracht: a) Der Normalfall ist der Bescheid im Lohnsteuerjahresausgleichsverfahren, b) der Einkommensteuerbescheid bei beantragter Einkommensteuerveranlagung und c) die Pflichtveranlagung zur Einkommensteuer. Bei diesem Gesetzentwurf geht es heute um die Harmonisierung der Antragsfristen für die Abgabe der Erklärungen oder der Anträge. Nach geltendem Recht ist der Antrag auf Erstattung im Lohnsteuerjahresausgleichsverfahren bis spätestens 31. Mai anzubringen. Für die beantragte Einkommensteuererklärung gilt eine zweijährige Ausschlußfrist. Bis zum 31. Mai sollen auch die Einkommensteuerzahler ihre Erklärungen abgeben. In der Praxis können Sie dies jedoch sanktionslos bis zum 30. September tun. Die Frist zur Abgabe der Erklärung ist aber prinzipiell verlängerbar, eigentlich bis zur Festsetzungsverjährung nach vier Jahren. Die Praxis ist heute allerdings, daß immer stärker auf Abgabe gedrückt wird, wie auch die Praxis heute ist, daß die Vorauszahlungen sehr viel zeitnäher und der wirklichen Steuerschuld sehr viel angenäherter verlangt werden als noch vor kurzem.Die Ausschlußfrist zur Abgabe des Lohnsteuerjahresausgleichsantrages bis zum 31. Mai ist nach unserer Auffassung einmal zu knapp und zum anderen in der Sanktion zu scharf. Dem Land Rheinland-Pfalz, auf dessen Initiative wir den vorliegenden Gesetzentwurf heute hier beraten, gebührt das Verdienst, hier schon frühzeitig und jahrelang gebohrt zu haben. Der 31. Mai als Antragsfrist, als Ausschlußfrist, bringt nämlich sehr viel Zeitdruck, und zwar einmal für die Steuerpflichtigen, weil sie möglicherweise ihre Belege oder sonst erforderliche Dinge noch nicht beisammen haben, für die Berater, weil sie die fünf ersten Monate im Jahr Tag und Nacht arbeiten könnten und in den sieben darauffolgenden Monaten in Lohnsteuersachen nicht mehr tätig werden, und für die Lohnsteuerstellen der Finanzämter, weil sie unter den Erwartungsdruck gesetzt werden, daß möglichst noch bis zum Beginn der Sommerferien die Erstattungen ausgezahlt werden. So mancher Landesfinanzminister, der ja seinen Bürgern gern ein zusätzliches Urlaubsgeld für die Ferien verheißt, ist kräftig mit dabei, hier mit Publicity hausieren zu gehen.Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, der rheinland-pfälzische Vorschlag, die Frist auf den 30. September zu verlängern, hätte die allermeistenProbleme gelöst. Ich glaube, darüber besteht Einigkeit.
— Ich komme darauf zurück. Da wir aber eben von Zeitdruck geredet haben, muß ich doch einmal ein ernstes Wort an die Regierung in diesem Zusammenhang sagen. Die Regierung brütet selbst hier in einer Sache, wo es nur um eine Stellungnahme geht, monatelang auf den Eiern und erwartet dann, daß der Vogel, das Gesetz, binnen Wochenfrist flügge wird. Ich glaube, dieses Verfahren wird langsam unerträglich. Wir haben es ja auch beim Umsatzsteuergesetz feststellen können. Da hat die Regierung ein Jahr Zeit gebraucht, um eine EG-Richtlinie in einen Entwurf umzugießen. Wir sollten das dann in wenigen Wochen vor der Sommerpause hier durch das Parlament, durch die Ausschüsse und das Plenum peitschen. Nun hat allerdings die Regierung gemerkt, daß die Opposition gründlich ist, und hat noch einmal um ein Jahr zurückgesteckt.Den Gesetzentwurf, den wir heute hier beraten, hat der Bundesrat bereits am 17. Februar dieses Jahres beschlossen. Die Regierung brauchte drei Monate Zeit, bis zum 17. Mai, um eine wachsweiche Stellungnahme — daß sie dem Vorhaben aufgeschlossen gegenüberstehe — abzugeben. Dann kam sie in der letzten Woche mit einem Änderungsantrag. Ich glaube, ,die Rechtsunsicherheit, die hier im Lande entstanden ist, und die Tatsache, daß viele über den Abgabetermin irritiert sind, geht auf das Konto der Bundesregierung. Die Sache hätte längst vor dem 31. Mai über die Bühne sein können. Bei dieser Verfahrensweise dürfen wir uns allerdings nicht wundern, wenn manche Gesetze immer bürgerferner werden.Dem Änderungsantrag, der dann im Ausschuß vorgelegt wurde, stimmt meine Fraktion zu. Es ist der Änderungsantrag, statt einer Ausschlußfrist zum 30. September eine verlängerbare Frist wie beim Einkommensteuerzahler einzuführen. Die Zustimmung geschieht nicht ohne Bedenken; denn wir wollen natürlich die Erleichterung für die Verwaltung, die durch die Fristverlängerung erreicht wird — bessere Aufteilung der Arbeit über das gesamte Jahr hinweg —, nicht durch Erschwerungen auf der anderen Seite kompensieren. Wir sehen durchaus die Schwierigkeit, daß die Lohnsteuersachbearbeiter gegen Jahresende bereits wieder mit den Ermäßigungsanträgen für das kommende Jahr befaßt sein werden. Wir sehen auch andere Schwierigkeiten.Unsere Zustimmung zur verlängerbaren Frist liegt letztlich darin begründet, daß wir dem belasteten, dem überbelasteten Steuerpflichtigen das hat ja die vorangegangene Debatte sehr deutlich gemacht — und vor allen Dingen dem überbelasteten Lohnsteuerpflichtigen soweit wie möglich entgegenkommen wollen. Wir erwarten natürlich, daß die Masse der Anträge im ersten Halbjahr eingehen wird. Dafür spricht das Interesse an der Steuererstattung. Jeder kommt nun einmal gern schnell zu seinem Geld. Wir erwarten auch, daß bis zum 30. September annähernd 100 % der Anträge abgegeben werden.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7899
Dr. LangnerWir wollen aber auch dem entgegenkommen, der am 30. September eben noch nicht so weit sein konnte. Das kann an der Überlastung seines Steuerberaters, seines Lohnsteuerhilfevereins liegen, das kann aber auch an noch ungeklärten Voraussetzungen für ,den Steuerpflichtigen selbst liegen. Denken Sie beispielsweise an Unfallschäden, die auf dem Arbeitsweg entstanden sind. Wenn sich der Unfall etwa im Dezember ereignete, ist oft bis zum 30. September des darauf folgenden Jahres .die Schuldfrage gerichtlich noch nicht geklärt. Die Versicherung stellt deshalb die Schadensregulierung zurück, und der Steuerpflichtige weiß nicht, ob er nun den Schaden vom Unfallgegner ersetzt bekommt oder ob er ihn unter Werbungskosten im Lohnsteuerjahresausgleich geltend machen soll. Hier kann die verlängerbare Frist in der Tat hilfreich sein.Meine Damen und Herren, meine Fraktion möchte erreichen, ,daß alle Lohnsteuerpflichtigen ihre Erstattungen auch geltend machen. Noch etwa eine halbe Milliarde DM an Steuern behält der Staat zuviel, die an die erstattungsberechtigten Lohnsteuer- pflichtigen zurückfließen könnten. Natürlich ist das Recht für die Wachen da. Wir wollen es dem Bürger aber erleichtern, wach zu sein. Mit der heutigen Fristverlängerungsmöglichkeit tun wir einen kleinen, aber bedeutsamen Schritt in diese Richtung. Es bleibt noch viel zu tun, um unser Steuersystem einfacher und gerechter zu gestalten. Die Union bleibt am Ball. Darauf können sich unsere Mitbürger verlassen.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gobrecht.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn es denn schon so kurz vor dem. Fußballspiel Deutschland-Österreich ist, will ich gern das, was vom Ball gesagt worden ist, aufgreifen. In bezug auf dieses Thema kann man nämlich sagen, daß die Lohnsteuerpflichtigen bisher so behandelt worden sind wie eine Fußballmannschaft, die statt mit elf mit neun Spielern auf dem Feld ist. Nur ist es hierbei so, daß die Lohnsteuerpflichtigen bisher nichts dafür konnten, während die Fußballmannschaft, die nur noch mit neun Spielern auf dem Platz ist, meistens etwas dafür kann.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Länge der Überschrift dieses Gesetzes, nämlich „Gesetz über die Verlängerung der Antragsfrist für die Abgabe des Antrags auf Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs" lautet, steht im umgekehrten Verhältnis zu der Kürze des Gesetzestextes. Gleichwohl aber handelt es sich hierbei keineswegs um eine geringfügige Kosmetik am Einkommensteuergesetz, sondern es handelt sich darum, die Einteilung der Steuerpflichtigen in Steuerzahler erster Klasse und zweiter Klasse aufzuheben.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich dabei in ihrem Antrag im Finanzausschuß davon leiten lassen, daßnicht nur eine weitgehende Anpassung der Rechte der Lohnsteuerzahler an die der Einkommensteuerzahler vorgenommen werden soll, sondern daß beide Steuerpflichtigen-Gruppen in Zukunft gleichbehandelt werden sollen.
Warum, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht schon früher — das ist sicherlich eine ganz entscheidende Frage —, wenn es so wichtig ist, wie wir meinen, daß es ist? Die Bundesregierung — das ist hier schon deutlich geworden — hatte schon in der vergangenen Legislaturperiode versucht, die Angleichung hinsichtlich der Behandlung von Lohnsteuerzahlern und Einkommensteuerzahlern vorzunehmen. Aber leider scheiterte diese Lösung damals an der ablehnenden Haltung der Landesfinanzbehörden.Die gleiche und wirklich gerechte Behandlung aller Steuerzahler — sowohl der Einkommensteuerzahler einerseits als auch der Lohnsteuerzahler andererseits — ist aber nur gewährleistet, wenn nicht bei den einen eine Ausschlußfrist und bei den anderen eine Frist vorhanden ist, die im Grunde genommen fast bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verlängert werden kann. Mit anderen Worten: Bei den Arbeitnehmern haben wir eine Frist, die wie ein Fallbeil wirkt: Am 31. Mai 24 Uhr ist Schluß mit der Möglichkeit, Lohnsteuererstattungen für das Vorjahr zu beantragen, während auf der anderen Seite bei allen zur Einkommensteuer zu Veranlagenden eine weitere Fristverlängerung — teilweise, wie gesagt, von beträchtlichem Umfang — möglich ist. Wir meinen deswegen, daß der Antrag des Bundesrates bei weitem nicht weit genug geht, sondern im Grunde genommen nur eine halbe Sache ist. Hier sollten Nägel mit Köpfen gemacht werden. Deswegen muß diese Fallbeilfrist, Ausschlußfrist fallen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben damit zugleich endlich auch ein Problem gelöst, das immer wieder bei Arbeitnehmern auftaucht, die in einem Jahr auf Grund von Nebeneinkünften oder auf Grund höherer Einkünfte zur Einkommensteuer veranlagt werden müssen, im nächsten Jahr aber wieder in den Bereich der Lohnsteuerjahresausgleichsanträge fallen, weil die Einkünfte eben wieder niedriger sind oder bestimmte Einkünfte, Nebeneinkünfte weggefallen sind. Auch dies wird hiermit bereinigt. Dies ist ein Beitrag zur Vereinfachung in diesem Bereich. Hier wird es zukünftig keine unterschiedlichen Fristen mehr geben.Es ist hier von meinem Vorredner der Hinweis gekommen, daß die Bundesregierung relativ lange gebraucht habe, um ihre Stellungnahme zu dem Bundesrats-Vorschlag abzugeben, nämlich die vollen drei Monate. In diesem Punkt kann man ihm sicherlich zustimmen. Ich finde auch, daß das ziemlich lange gedauert hat. Aber ich gehe einmal davon aus, daß man sich Mühe geben wollte, hier nun eine perfekte Lösung vorzulegen. Jedenfalls hat uns die Formulierungshilfe, die sich der Finanzausschuß mit großer Mehrheit zu eigen gemacht hat, da weitergebracht.
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7900 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
GobrechtWas bringt die Neuregelung im einzelnen, meine Damen und Herren?Erstens. Durch Wegfall. der Ausschlußfrist wird Gleichberechtigung für alle Steuerzahler geschaffen. Arbeitnehmer — vereinfacht ausgedrückt — werden nicht mehr schlechter behandelt als Unternehmer.Zweitens. Die Verlängerbarkeit der Antragsfrist auch für den Lohnsteuerjahresausgleich über den 30. September des Folgejahres hinaus wird die Arbeitnehmer umfassend vor Rechtsverlusten schützen, umfassend davor schützen, daß Erstattungsansprüche zukünftig verlorengehen.Drittens. Bei einem Wechsel zwischen der Veranlagung zur Einkommensteuer und dem Lohnsteuerjahresausgleich sind keine unterschiedlichen Fristbestimmungen mehr zu beachten — ein Beitrag zur Vereinfachung.Viertens. Die Angehörigen der steuerberatenden Berufe und die Lohnsteuerhilfe-Vereine können ihren Arbeitsanfall über ein Kalenderjahr besser verteilen, als das bisher der Fall war.Fünftens. Die Arbeitsbelastung bei den Finanzämtern wird entzerrt, so daß Personal und Datenverarbeitungsanlagen gleichmäßiger ausgelastet sein werden, wobei davon ausgegangen werden kann, daß schon auf Grund der Interessenlage der Antragsteller die Anträge fast vollständig innerhalb des folgenden Jahres kommen werden.Zum Schluß, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich von dieser Stelle sehr eindringlich an den Bundesrat appellieren, dem Gesetz zuzustimmen, nun nicht wieder auf halbem Wege stehenzubleiben — es gibt da ja gewisse Anzeichen — und dies auch schnell zu machen, damit hier nicht unnötig lange Rechtsunsicherheit auf diesem Gebiet besteht. Ich meine, hier sollten keine halben Sachen gemacht werden.Ich bitte Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, diesem Gesetz Ihre Zustimmung zu geben.
Meine Damen und Herren, die Kollegen von der FDP haben ihre Wortmeldungen zurückgezogen, so daß wir am Ende der Aussprache stehen.
Ich rufe in zweiter Beratung auf § 1, § 2, § 3, Einleitung und Überschrift in der Fassung der Beschlußempfehlung. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Das Wort wird nicht gewünscht. Wir kommen zur Schlußabstimmung.
Wer dem Gesetz in dritter Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Werden Gegenstimmen abgegeben? — Keine Gegenstimmen. Stimmenthaltungen? — Keine Stimmenthaltungen. Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nun Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Brantweinmonopol
— Drucksache 8/1820 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/1946 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Carstens
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 8/1920
Berichterstatter: Abgeordneter Baack
Ich frage die Herren Berichterstatter, ob eine Ergänzung der Berichte gewünscht wird. — Das ist nicht der Fall. Ich danke den Herren Berichterstattern.
Wir treten in die zweite Beratung ein. Das Wort wird nicht begehrt. Ich rufe auf Art. 1, Art. 2, Art. 3, Einleitung und Überschrift. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Das Wort wird nicht gewünscht. Wer dem Gesetz in der dritten Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Keine Gegenstimmen. Stimmenthaltungen? — Keine Stimmenthaltungen. Damit ist das Gesetz in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Ich rufe nun Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung wegen der Haushalts- und Vermögensrechnung des Bundes für die Haushaltsjahre 1973 und 1974 auf Grund der Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
— Drucksachen 7/4306, 7/5849, 8/1899 — Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Pieser
Ich frage die Frau Berichterstatterin, ob sie das Wort wünscht. — Das ist nicht der Fall. Ich danke der Frau Berichterstatterin.
In der Aussprache erteile ich das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Friedmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht um die Entlastung der Bundesregierung in den Haushaltsjahren 1973 und 1974. Neben dem Recht, den Haushalt zu beschließen, ist das Recht der Kontrolle ein funda-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7901
Dr. Friedmannmentales Recht eines Parlaments in jeder westlichen Demokratie. Mit dem Budgetrecht wird Poli- tik gestaltet. Mit dem Kontrollrecht wird darüber entschieden, ob die Bundesregierung effizient und rechtmäßig gearbeitet hat. Mithin ist das Mittel der Entlastung ein sehr entscheidendes Instrument in der Hand des Parlaments. Ganz im Unterschied zur Entlastung im handelsrechtlichen Bereich geht es hier nicht um haftungsrechtliche Fragen, wohl aber darum, daß politische Sachverhalte politisch gewürdigt werden.
Da wir über die zwei Haushalte der Jahre 1973 und 1974 sprechen, die ja bekanntlich durch ganz besondere Dinge im Bereich der Regierung gekennzeichnet werden, geht es heute auch darum, wie wir die Regierung und den damaligen Bundesfinanzminister, der ja heute Bundeskanzler ist, behandeln. Es geht nicht nur darum, ob wir dieser Regierung für damals Entlastung oder Nichtentlastung geben, sondern auch darum, wie wir generell zu ihr stehen. Wie gesagt, die konkrete Situation der Jahre 1973 und 1974 spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle.Wir haben uns im Rechnungsprüfungsausschuß in vielen Sitzungen mit diesem Problem beschäftigt. Ich muß sagen: Es waren durchaus sachliche Sitzungen. Auch die Kollegen aus den Koalitionsfraktionen sind ihrer Regierung immer wieder recht kritisch gegenübergetreten. Das möchten wir von der CDU/CSU-Fraktion hier wohlwollend vermerken.
Allerdings haben wir den Eindruck: Wenn es in diesem Plenarsaal jetzt zur Debatte kommt, wenn wir also vor der Öffentlichkeit diskutieren, wird diese Offenheit vielleicht zurücktreten.
Ich muß Ihnen sagen: Ich habe dafür sogar ein gewisses Verständnis; denn in unserer Demokratie wird eine Regierung immer von einer Fraktion oder Koalition getragen, und so kommt es, daß SPD und FDP diese Bundesregierung als ihre Bundesregierung ansehen. Sie meinen dabei, vieles zudecken zu müssen, was sie, wenn sie in der Opposition wären, sicherlich kritisch darstellen würden. Allerdings tun sie das mit Sicherheit nicht aus christlicher Nächstenliebe, sondern sie tun dies allein wegen der Machterhaltung.
Das möchte ich hier ganz offen ansprechen.In diesem Rechnungsprüfungsausschuß war ein sehr qualifizierter Bericht des Bundesrechnungshofs — die Prüfungserinnerungen — Grundlage der Beratungen. Es ist mehr als eine Höflichkeitsfloskel, wenn ich an dieser Stelle dem Bundesrechnungshof und seinen Mitarbeitern ausdrücklich für die qualifizierte und substantielle Zuarbeit danke, die er dem Parlament gegenüber geleistet hat.
Dieses Dankeschön gilt selbstverständlich auch den Mitarbeitern des Rechnungsprüfungsausschusses, ohne die eine zügige Beratung gar nicht möglich gewesen wäre.
Allerdings ist hier auch einmal kritisch zu vermerken, welche Resonanz die Prüfungserinnerungen und deren Beratung in den einzelnen Ministerien finden. Ich möchte hier wohlwollend erwähnen, daß man z. B. beim Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen den Eindruck hat, daß man auf eine sehr konstruktive Mitarbeit rechnen kann. Beim Bundesministerium der Verteidigung hätte man den Wunsch nach etwas mehr Engagement. Andererseits hat man gerade bei der Bundesbahn wiederum den Eindruck, daß man dort meint, man müsse vieles zudecken und es wäre verkehrt, einen Fehler zuzugeben. Man hat den Eindruck, daß sich die Demotivation im Bereich der Bundesbahn auch im Rechnungsprüfungsausschuß niedergeschlagen hat.
Dreh- und Angelpunkt für unsere Debatte hier in der Entlastung ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den Jahren 1973/74.
Die Bundesregierung hat seit 1971 in zunehmendem Maße von dem Notbewilligungsrecht des Bundesfinanzministers Gebrauch gemacht. Dies geschah, obwohl im Jahre 1969 alle Parteien dieses Hauses gemeinsam eine Reform des Haushaltsrechts beschlossen haben, deren ausdrückliches Ziel es war, mehr und mehr vom Notbewilligungsrecht herunterzukommen und dafür das Haushaltsrecht des Parlaments mehr zum Tragen zu bringen. Allein im Jahre 1972 wurden zwei Milliarden DM über- und außerplanmäßig ausgegeben, wovon drei Viertel nach dem Urteil des Bundesrechnungshofes nicht durch das Notbewilligungsrecht des Bundesfinanzministers abgedeckt waren.
Im Jahre 1973 waren es sogar sage und schreibe 4,5 Milliarden DM, die der Finanzminister, der heute Bundeskanzler ist, mit dem Notbewilligungsrecht begründet hat. Auch dazu sagt der Bundesrechnungshof: Zwei Drittel waren zu Unrecht. Mit anderen Worten: Bei mindestens drei Milliarden DM, die über- und außerplanmäßig im Jahre 1973 geleistet wurden, hätte das Parlament eingeschaltet werden müssen. Es ist ganz klar, daß wir als Opposition — wir hatten keine Mehrheit — den Gang nach Karlsruhe antreten mußten. Aus Gründen der Prozeßökonomie haben wir dort allerdings die Klage auf vier wesentliche Punkte konzentriert, und in allen vier Punkten haben wir hinterher ausnahmslos recht bekommen.Wir müssen heute feststellen, daß der damalige Bundesfinanzminister und heutige Bundeskanzler wie aus einem Füllhorn 11 350 Millionen DM unter
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7902 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Dr. FriedmannUmgehung des Parlaments der Bundesbahn zugeschoben hat.
— Ich persönlich war zur damaligen Zeit gar nicht hier im Hohen Haus, Herr Simpfendörfer; aber ich spreche hier für meine Fraktion, wogegen Sie wohl nichts haben.Wir haben festzustellen — das Bundesverfassungsgericht hat ohne Einschränkung unsere Auffassung bestätigt —, daß der damalige Bundesfinanzminister und heutige Bundeskanzler unter Umgehung des Parlaments 480 Millionen DM der Kreditanstalt für Wiederaufbau zugedacht hat.
Wir haben mit dem Bundesverfassungsgericht, das uns in diesem Punkt Recht gegeben hat, festzustellen, daß weitere 100 Millionen DM unter Umgehung des Parlaments dem Salzgitter-Konzern zugeflossen sind.
Darüber hinaus sind weitere 100 Millionen DM ebenfalls unter Umgehung des Parlaments der VIAG, der Vereinigten Industrieunternehmungs AG, zugeflossen.Ich möchte hier feststellen: Dieser Bundeskanzler, der damals Finanzminister war, hat in seiner Eigenschaft als Finanzminister gegen die Verfassung verstoßen.
Er hat insoweit — Herr Kollege Haase, ich stimme Ihnen zu — ein „schönes" Vorbild gesetzt.Wir hatten einmal in der deutschen, in der preußischen Geschichte einen großen König, den Preußenkönig Friedrich der Große. Er hatte die Eigenart, Gelder, die ihm das Parlament bewilligt hatte, nicht zurückzugeben, sondern in einen Dispositionsfonds hineinzustecken. Über diesen Dispositionsfonds hat er allein mit seinem Kammerdiener verfügt.
Daraus hat er, Herr Kollege Simpfendörfer, z. B. das neue Schloß in Potsdam und auch das Schloß Sanssouci finanziert.Der Bundeskanzler möchte ja immer gerne mit den Großen und Größten dieser Welt genannt werden. Er hat sicher nichts dagegen, wenn ich diesen Vergleich insoweit hier angestellt habe.
Ich möchte aber nicht sagen, daß er so wie Friedrich der Große auch in ein paar hundert Jahren noch als der große Politiker genannt wird.
Wohl aber möchte ich damit sagen, daß er, wie jener Preußenkönig, um das Parlament herumgegangen ist, aber im Gegensatz zu jenem Preußenkönig
keine bleibenden Werte geschaffen — Friedrich der Große hat ja Schlösser gebaut, die Zeugen ihrer Zeit sind —, sondern dieses Geld für andere Dinge ausgegeben hat, z. B. an die Bundesbahn, die ja immer einen großen Finanzbedarf hat.
Nun sagt man immer wieder, es gehe hier nur um eine Formsache. Wir hätten in der Sache wohl zugestimmt, wird uns entgegengehalten, nur gegen die Form hätten wir etwas. Das stimmt so nicht, meine Damen und Herren. Hier ging es darum, daß der damalige Bundesfinanzminister und heutige Bundeskanzler am Parlament vorbei dieses Geld gezahlt hat, also das Königsrecht des Parlaments mißachtet hat.
Das ist nun einmal keine Nebensächlichkeit, sondern das ist für uns etwas sehr, sehr Wesentliches.
Wenn es um die Frage der Entlastung geht, über die wir hier zu sprechen haben, spielt dies für uns natürlich eine sehr gewichtige Rolle. Die Öffentlichkeit hätte mit Sicherheit kein Verständnis dafür, wenn das Bundesverfassungsgericht diesen Mißstand durch seine Rechtsprechung anprangert, wir aber dieses Urteil politisch nicht umsetzen würden.Sie, meine Damen und Herren von der SPD und von der FDP, konnten bei der Entlastung für das Jahr 1972 noch sagen, daß man über solche Dinge hinwegsehen könne. Für 1973 und 1974 können Sie das aber guten Gewissens nicht mehr. Jetzt liegt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor. Ich meine, Sie sollten in Ihr Votum das Urteil dieses Gerichts auch eingehen lassen.
Dies alles gilt es, bei dieser Entlastungsdebatte mit einzubeziehen.Ich bitte Sie auch zu bedenken: Es geht hier nicht darum, einzelne Personen in Schutz zu nehmen. Leitmaßstab für jeden Abgeordneten ist seine Gewissensfreiheit. Gewissensfreiheit heißt in erster Linie, nach seinem Gewissen unter Beachtung des Bürgerwillens zu entscheiden, aber nicht seinen Parteifreunden und Fraktionsfreunden zuliebe zu handeln.Wenn Sie diesen Maßstab anlegen, kommen Sie vielleicht unserer Position ein Stückchen näher. Es geht hier darum, ein Recht des Parlaments zu verteidigen.
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Dr. FriedmannWenn Sie meinen, aus Koalitionstreue, aus Treue Ihrer Regierung gegenüber ein Mäntelchen des Zudeckens darüber breiten zu müssen, bedenken Sie bitte: Hier geht es um ein ganz wesentliches substantielles Recht des Parlaments. Sie sollten sich dieses Recht von der Regierung nicht aus der Hand nehmen lassen.
Meine Damen und Herren, wir von der Opposition lehnen deshalb die Entlastung der Bundesregierung für die Haushaltsjahre 1973 und 1974 ab.
Ich habe
schon bemerkt, daß der Kollege voll von der Bestimmung des § 37 Abs. 1 der Geschäftsordnung Gebrauch gemacht hat.
Bitte, Herr Kollege Esters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst bei den Kollegen, die im Rechnungsprüfungsausschuß mitgewirkt haben, und zwar sehr intensiv mitgewirkt haben, recht herzlich für die vertrauensvolle und kollegiale, aber auch intensive Arbeit in den letzten Monaten bedanken. Ohne diese Mitarbeit wäre ein zügiges Verfahren in der Bearbeitung der Bemerkungen des Bundesrechnungshofes nicht möglich gewesen.Ich möchte mich ebenfalls bedanken bei all denen aus der Administration, dem Bundesrechnungshof, den Ministerien und der Bundestagsverwaltung, die es uns ermöglicht haben, daß wir ein zeitnahes Berichterstattungsverfahren nehmen konnten.Der Kollege Friedmann hat soeben zu Recht auf das höchste Recht des Parlaments, nämlich das Budgetrecht, hingewiesen. Dazu gehört aber auch, daß man einiges zu dem sagt, wie es im Bereich der politischen Gewaltenteilung aussieht. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir heute eine wichtige Grundsatzentscheidung treffen, die nicht nur die politische Qualität des Entlastungsverfahrens zeigt, sondern von der dann auch ein klärendes Wort zur Aufgabenteilung und politischen Verantwortung der verschiedenen Gewalten in unserem Staate erwartet werden sollte. Dieser Verantwortung wiederum darf sich dieses Parlament — dies tut es auch nicht — nicht entziehen. Wer sich hinter dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts verstekken und dem Parlament die Rolle eines Gerichtsvollziehers empfehlen wollte, der schadet unserer Demokratie, würde dadurch doch die im Grundgesetz festgelegte Gewaltenteilung angetastet. Dies aber will niemand. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht ja auch eindeutig festgestellt, daß die Entlastung der Bundesregierung durch die gesetzgebenden Körperschaften eine politische Entscheidung und keine rechtliche sei. Obwohl in diesem Verfahren auch die Verfassungs- und Rechtmäßigkeit der über- und außerplanmäßigen Ausgaben zu prüfen sind, stehen wir heute vor der originär politischen Entscheidung, für die zurückliegenden Haushaltsjahre 1973 und 1974 einen Maßstab anzulegen, der der gewachsenen Staatspraxis entspricht.
Wir wissen heute, welche Bedenken und Einwände das Bundesverfassungsgericht gegen diese Praxis erhoben hat. Wir respektieren selbstverständlich dieses Urteil. Die Bundesregierung hat dies ebenfalls schon zum Ausdruck gebracht und die bis dahin übliche Praxis abgestellt. Nur, bei allem Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht — was natürlich nicht bedeuten kann, daß man alle seine Urteile als der politischen Weisheit letzten Schluß billigen muß —
darf dieses Parlament seine ureigenste Verantwortung Licht in Karlsruhe zu den Gerichtsakten geben. Welche politischen Folgerungen für die Vergangenheit aus dem Urteil zu ziehen sind, liegt in unserer Verantwortung hier im Parlament. Dabei dürfen wir jedoch keinen Zweifel daran lassen, daß wir uns zur gewachsenen Staatspraxis bekennen und uns rückwirkend politisch nicht klüger machen wollen, als wir es in Wirklichkeit damals waren.
— Ich habe gesagt, daß manche Urteile des Bundesverfassungsgerichts nicht der politischen Weisheit letzter Schluß sind. Wer hier aus durchsichtigen Gründen nicht zustimmen will oder zustimmen kann, dem muß ich entgegenhalten — so eine Formulierung von Alexander Solschenizyn vor wenigen Tagen in den Vereinigten Staaten —, daß blinder Glaube an die Kälte des Rechts jedes lebendigdemokratische Staatswesen zerstört.
In Entlastungsverfahren für die Haushaltsjahre 1973 und 1974 haben wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen. Es ist aber nicht alleinige Grundlage für die Entlastung der Bundesregierung. Der politische Rahmen unserer Entscheidung wird vielmehr durch die Bemerkungen des Rechnungshofes zu den beiden Haushaltsjahren und die dazu vorliegenden Empfehlungen des Haushaltsausschusses ergänzt. Deutlich machen sollte man in diesem Zusammenhang auch, daß es sich hierbei um ein Finanzvolumen von rund 250 Milliarden DM handelt.Nach den manchmal mühseligen Detailberatungen im Rechnungsprüfungsausschuß waren sich die Kollegen von der Koalition und der Opposition in den Beschlußempfehlungen an das Plenum des Deutschen Bundestages völlig einig, mit Ausnahme jener 3 Milliarden DM, die den Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht betreffen. Wenn bei einem derart großen Finanzvolumen einmütige Empfehlungen an die Bundesregierung ausgesprochen werden, wie man in Zukunft bestimmten Kritikpunkten — in zahlreichen Fällen ist dies ja schon geschehen —
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Estersbesser nachgehen kann, dann muß das Parlament für diese Haushaltsführung die politische Entlastung erteilen.Bei der Überprüfung der Durchführung des politischen Willens dieses Parlaments ist uns der Bundesrechnungshof immer eine große Hilfe. Er macht uns auf administrative Mängel, Fehlentwicklungen und Fehlplanungen aufmerksam, gegen die weder die Privatwirtschaft noch eine öffentliche Verwaltung gefeit sind. Gerade wir Haushaltspolitiker wissen diese Unterstützung durch den Rechnungshof sehr zu schätzen. In zahlreichen Fällen werden drohende Mißstände oder Ausuferungen bereits im Rahmen der Haushaltsberatungen abgestellt, ohne daß es dazu öffentlich bekanntgewordener Bemerkungen des Rechnungshofes bedarf. Hinweise in Berichterstattergesprächen oder im Ausschuß reichen dann meistens schon aus. Auf der anderen Seite aber dürfen wir auch nicht in den Fehler verfallen, das Prüfungswissen der Beamten des Rechnungshofes als politischen Wegweiser für unsere eigenen Entscheidungen mißzuverstehen.Was ich über die Grenzen gerichtlicher Verantwortungsfähigkeit gesagt habe, gilt natürlich auch für die Aufgaben des Bundesrechnungshofes. Der Bundesrechnungshof ist gut beraten, wenn er sich streng an den im Grundgesetz vorgezeichneten Auftrag hält. Seine Unabhängigkeit ist ein zu wichtiges Element unserer parlamentarischen Demokratie, als daß sie leichtfertig durch Einmischung in den politischen Entscheidungsprozeß, der allein Regierung und Parlament vorbehalten ist, aufs Spiel gesetzt werden dürfte. Ich bin sicher, daß sich hierin Opposition und Koalition völlig einig sind.
Festzuhalten in diesem Zusammenhang gilt es erstens: Der Bundesrechnungshof ist kein Organ einer selbständigen vierten Gewalt. Zweitens: Die Rechnungsprüfung durch den Rechnungshof ist stets nachherige Kontrolle. Vorherige und mitlaufende Prüfungen und Anweisungen sind nicht zulässig, weil sie die parlamentarisch verantwortliche Regierung und die Kontrollbefugnisse des Parlaments einschränken würden. Die Rechnungsprüfung muß auf konkrete Einzeltatbestände beschränkt bleiben. Programmatische politische Entscheidungen von Regierung und Parlament sind der Prüfung durch den Rechnungshof entzogen, weil er kein entscheidungsbefugtes politisches Organ ist und deshalb auch keine Legitimation für politische Entscheidungen besitzt.Wir alle sollten wachsam einer Entscheidung entgegentreten, die dem Rechnungshof Einfluß auf politische Entscheidungen in einzelnen Ressortbereichen zu verschaffen versucht. Die laufende politische Kontrolle der Regierungstätigkeit ist die ureigenste Aufgabe des Deutschen Bundestages, und daran dürfen und wollen wir nicht rütteln lassen. Leider ist in den letzten Jahren — und dies nicht immer zum Vorteil des Bundesrechnungshofs — die Praxis eingerissen, daß sich Medien, häufig im Doppelpaßspiel mit einigen Kollegen, mit Vorgängen befassen, die als schwebende Prüfungsverhandlungen zwischen Rechnungshof und Ressorts laufen. Ich halte es für äußerst schädlich, wenn aus Gründen der eigenen Selbstdarstellung nicht abgewartet werden kann, welche endgültige Meinung sich der Rechnungshof bildet. Nichts gefährdet nämlich mehr die persönliche Unabhängigkeit der Rechnungsprüfer als ihre öffentliche Festlegung auf vorläufige Erkenntnisse. Dieses Parlament muß insgesamt darauf achten, daß niemand in schwebende Verfahren eingreift. Trotz aller publizistischen Kampagnen haben sich der Haushaltsausschuß und sein ständiger Unterausschuß nie dazu hergegeben, diesen Grundsatz zu mißachten. Ich glaube für alle Kollegen sprechen zu können, wenn ich die Erwartung ausspreche, daß sich künftig auch die übrigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages an diese Grundsätze halten werden.Besondere Anerkennung verdient, daß der Rechnungshof in den letzten Jahren zu einer zeitnahen Prüfung gekommen ist. Die zeitnahe Prüfung ist von uns allen gewünscht worden, um die Erkenntnisse und Erfahrungen des Rechnungshofs so früh wie möglich in den Etatberatungen umsetzen zu können. Wir haben gewußt, als wir dies forderten, daß der Rechnungshof damit natürlich auch in die Nähe der politischen Auseinandersetzungen und damit manchmal auch in das politische Schußfeld gerät. Es liegt deshalb im gemeinsamen Interesse von Koalition und Opposition, den Rechnungshof dabei nicht in Mißkredit geraten zu lassen. Wenn wir uns alle an dieser Grundhaltung orientieren, dann darf es nicht passieren, daß es bei der Verabschiedung des Etats des Rechnungshofs hier im Bundestag zu unterschiedlichen Stimmabgaben von Koalition und Opposition kommt.
An dieser Stelle sei auch noch eine Bemerkung in eigener Sache erlaubt. Der Rechnungsprüfungsausschuß sieht sich häufig in der Schwierigkeit, umständliche Detailerhebungen vorzunehmen, weil die Bemerkungen des Rechnungshofs eher an die Spielregeln einer Schnitzeljagd erinnern, als den kritisierten Sachverhalt klipp und klar beim Namen zu nennen. Hier sollte der Bundesrechungshof in Zukunft mehr Mut zeigen. Uns Parlamentariern kommt es dabei nicht darauf an, in den Prüfungsbemerkungen all das wiederzufinden, was bereits von der ressortinternen Prüfung aufgegriffen und auf Grund dieser Prüfung abgestellt worden ist. Wir beurteilen die Qualität der Arbeit des Bundesrechnungshofs auch nicht nach der Anzahl seiner Beanstandungen, sondern nach dem Wert, den sie für die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Staatsverwaltung hat.Es wäre gut, wenn auch die politisch Verantwortlichen in den Ressorts diesen Grundsatz beherzigen würden. Ich habe kein Verständnis für langwierige Rechtfertigungsfeldzüge, wenn der Rechnungshof offenkundige Pannen und Fehlentwicklungen rügt. Ich möchte deshalb an dieser Stelle ausdrücklich Herrn Staatssekretär Ruhnau vom Verkehrsministerium für die Art und Weise danken, wie er für
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Estersseinen Verantwortungsbereich auf die Bemerkungen des Rechnungshofes reagiert hat.
— Ich habe dies ja auch schon im Haushaltsausschuß gesagt, Herr Kollege Glos. — In anderen Ressorts sollte man sich gelegentlich vor Augen halten, daß der Alte Fritz — er ist ja schon einmal zitiert worden — seinerzeit nicht ganz grundlos den Knüppel gegen säumige Beamte gebrauchen mußte. Also, Bernhard, wir sitzen da in einem Boot.Leider haben wir im Laufe unserer Beratungen auch Fälle erlebt, in denen die Bemerkungen des Rechnungshofs einer kritischen Durchleuchtung nicht standhielten. Was wir von der Bundesregierung erwarten, erwarten wir in diesen Fällen auch vom Rechnungshof.Der Rechnungshof als Kontrollorgan wird aber selbst auch kontrolliert. Die Kollegen des Rechnungsprüfungsausschusses sind sich darüber im klaren, daß wir zunächst die Prüfung des Bundesrechnungshofes für die Jahre ab 1974 vorzunehmen haben. Und dann werden wir dem Parlament mitteilen, wie wirtschaftlich und sparsam dort gewirtschaftet worden ist.
Hier leuchtet jetzt die rote Lampe auf.Ich möchte daher zum Schluß kommen: Wir wollen, daß die verfassungsmäßige Klarheit der Aufgaben- und Verantwortungsteilung erhalten bleibt, und dies wollen wir gemeinsam. Im Vertrauen auf diesen Grundkonsens im gesamten Deutschen Bundestag und im Wissen um die peinliche Beachtung der Kritikpunkte des Rechnungshofes durch Rechnungsprüfungsausschuß und Haushaltsausschuß bitte ich im Namen der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag darum, der Empfehlung des Haushaltsausschusses zu entsprechen und der Bundesregierung für die Haushaltsjahre 1973 und 1974 Entlastung zu erteilen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, folge ich einer in diesem Hause bei Spielen um die Fußballweltmeisterschaft bestehenden Tradition und teile mit, daß das Spiel gegen Osterreich 1 : 0 steht.
— Das Spiel Deutschland gegen Österreich steht 1 : 0. Das ist doch vollkommen klar, Herr Kollege Haase.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gärtner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Offenbar sind im Raum doch viel weniger Fußballfans, die den normalen Ergebnisdienst mitbekommen — —
— Die anderen sind alle draußen, ja. Deshalb sollten wir, so muß ich sagen, die Beratungen heute abend vielleicht nicht mehr künstlich verlängern, und deshalb werde ich es mir ersparen, Herr Kollege Friedmann, auf die Parlamentsgeschichte einzugehen, die Sie im Zusammenhang mit Friedrich dem Großen entdeckt haben; das könnten wir vielleicht später einmal machen.Heute wird auch weniger die große Anzahl der Prüfungsbemerkungen verhandelt, die eigentlich zu neun Zehnteln unsere Arbeit im Rechnungsprüfungsausschuß ausgemacht haben, was im Grunde etwas schade ist; aber vielleicht nur eine Bemerkung, weil eben der zuständige Staatssekretär im Verkehrsministerium so gelobt worden ist: Man sollte doch vielleicht auch das andere festhalten, daß wir bei den Beratungen gerade über die Bemerkungen über die Deutsche Bundesbahn wohl sehr viele Fehler gefunden haben, aber bei der ewigen Suche nach den Verantwortlichen immer wieder vor dem Problem gestanden haben, daß es keine gab.
Ich meine, da gibt es also zumindest etwas, bei dem wir uns vielleicht auch in Zukunft, wenn wir uns über die Sanierungskonzepte der Deutschen Bundesbahn unterhalten, die Frage stellen müssen, ob es nach dem bisherigen Verfahren im Grunde ausreicht, der Unternehmensstruktur der Deutschen Bundesbahn nachzukommen.
So wie bisher kann man das jedenfalls nicht als leistungs- und resultatsorientierte Führungsstruktur verstehen, wenn man im Grunde niemanden findet, der für irgendeine Maßnahme zuständig bzw. verantwortlich war.Das Klima im Rechnungsprüfungsausschuß ist angesprochen worden. Herr Kollege Friedmann, Sie haben dankenswerterweise darauf hingewiesen, daß es dort im Grunde mehr oder weniger so etwas wie eine „Mafia" gegeben hat, die gemeinsam als Rechnungsprüfungsausschuß versucht hat, die Fehler zu finden, aber nicht um sie jetzt großartig nach draußen anzuprangern, sondern in dem Sinne, daß wir in Zukunft diese Fehler nicht mehr machen sollten. Ich meine, wir haben durch unsere Vorschläge in einigen Fällen auch erreicht, daß Verbesserungen in Zukunft nicht auszuschließen sind.
— Herr Haase, es ist so etwas wie eine menschliche Konstante. Daß auch bei der Opposition gelegentlich Fehler vorkommen, wissen wir auch. Sie weisen das natürlich sehr weit zurück. Aber wir haben heute ja auch schon einiges erlebt, was man in diese Kategorie zumindest einordnen könnte.
Der zentrale Punkt, der auch von dem Herrn Kollegen Friedmann angesprochen worden ist, ist die
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7906 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
GärtnerFrage, ob es quasi den Rücktritt eines Kanzlers wegen Fehlverhaltens als Bundesfinanzminister geben sollte. Dazu kann ich nur sagen: Sie haben schon bei der Haushaltsberatung 1978 das falsche Mittel angewandt. Wenn Sie sich stark genug fühlen, sollten Sie sich doch zum Grundgesetz bekennen und das richtige Mittel anwenden, nämlich die entsprechenden Artikel in Antragsform kleiden und ein konstruktives Mißtrauensvotum stellen. Dann hat das Ganze wenigstens Hand und Fuß. Nur habe ich den Eindruck: Nach den Erfahrungen, die Sie mit diesem Instrument hinter sich haben, trauen Sie sich wohl nicht, jedesmal das Scheitern einzukalkulieren.Herr Kollege Friedmann, im Grunde wird die Kritik auch gar nicht inhaltlich vorgetragen. Wenn man die Unterrichtung durch den Bundesrat zur Hand nimmt — Drucksache 8/1138 — und sie zu Rate ziehen will, ist man eigentlich ratlos, warum diese ganze Aufregung; denn dort findet man eigentlich nur in dürren Worten die Entlastungsverweigerungen für die kritisierten Geldausgaben, jedoch wird das ausschließlich mit Verfahrensfehlern begründet.
In der Sache hat der Bundesrat — wie Sie im Rechnungsprüfungsausschuß und im Haushaltsausschuß auch — kein Wort der Kritik zu den Geldausgaben gesagt.
Ich muß sagen: Wenn man das so behauptet und nur hinsichtlich des Verfahrens mit dem Knüppel der Mißbilligung und der Nichtentlastung kommt, dann muß sich doch wohl in der politischen Argumentation mehr als nur ein Fehler eingeschlichen haben.Ich will nicht sagen, daß man Formfehler einfach durchgehen lassen darf. Aber man sollte Formfehler auch wirklich nicht überbewerten. Das ist unserer Arbeit im Rechnungsprüfungsausschuß und Haushaltsausschuß eigentlich auch nicht angemessen. Sie sollten deshalb versuchen, wenn Sie das noch einmal überlegen, von der generellen Nichtentlastung wieder herunterzukommen, die Sie ja weitergehend als der Bundesrat beantragen. Ich finde, der Vorgang, der zur Diskussion steht, ist es nicht wert, so behandelt zu werden.Was bleibt, ist eigentlich etwas ganz anderes. Das Parlament muß sich insgesamt fragen lassen, inwieweit es in den vergangenen Jahren durch Handeln oder Nichthandeln dazu beigetragen hat, daß sein zentrales Recht, nämlich das Budgetrecht, ein wenig angetastet worden ist. Es bleibt der Eindruck, daß das Parlament gelegentlich stärker exekutiv in dem Sinne tätig war, das zu exekutieren, was die Regierung vorgeschlagen hat. Das sollte man in Zukunft, einfach auch aus unserem eigenen Selbstbewußtsein heraus, ein bißchen anders sehen. Man sollte der Regierung das geben, was ihr Recht ist. Sie hat das Recht, den Haushaltsplan als Entwurf aufzustellen; das Parlament hat das Recht, ihn zu debattieren und ihn festzustellen. Dieses Recht sollten wir nicht nur in bezug auf kleine Beträge oder auf die Frage wahrnehmen, welche Autos von welchen Leuten gefahren werden dürfen, sondern auch im Hinblick darauf, wie die politischen Schwerpunkte, die dieses Parlament zu setzen hat, in die Wirklichkeit umzusetzen sind.Von daher sollten wir aus der Diskussion Nutzanwendung ziehen, die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Mai 1977 in Gang gesetzt worden ist. Ich hoffe, daß durch diese Verfassungsgerichtsentscheidung wieder ein Stück parlamentarisches Selbstbewußtsein zurückgekehrt ist. Meine herzliche Bitte ist, daß diese Rückkehr zu mehr parlamentarischem Selbstbewußtsein nicht dadurch kaputtgemacht und diskreditiert wird, daß man allein wegen einer Verfahrenskritik mit diesem Knüppel kommt. Deshalb darf ich zur Überraschung der Opposition erklären: Wir Freien Demokraten werden der Entlastung der Bundesregierung zustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte zunächst nicht nur den Mitgliedern des Rechnungsprüfungs- und des Haushaltsausschusses, sondern auch den Beamten des Bundesrechnungshofes den Dank der Bundesregierung für die mühevolle Arbeit aussprechen, die sie bei der Prüfung und Bewertung der Bundeshaushaltsrechnung für die Jahre 1973 und 1974 aufgewandt haben.Im Haushaltsjahr 1973 hat die Bundesregierung über- und außerplanmäßige Ausgaben in einem Verfahren bewilligt, das die Opposition vor dem Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig gerügt hat. Die Bundesregierung war damals der Meinung, daß ihr Verhalten mit der bis dahin geübten Staatspraxis übereinstimme und die Haushaltsbefugnis des Parlaments nicht verletze. Herr Kollege Friedmann, eine Mißachtung des Parlamentes war nicht beabsichtigt. Sie war angesichts dieser Rechtsauffassung sogar der Meinung, daß sie ihrer Pflicht nicht nachgekommen wäre, wenn sie für den damals unstreitig vorhandenen Ausgabenbedarf die verfügbaren Mittel nicht bereitgestellt hätte.Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsauffassung nicht gebilligt; die Bundesregierung hat das zu respektieren. Sie hat auf der Grundlage der Leitlinien, die das Bundesverfassungsgericht in seinen Rechtsgründen entwickelt hat, einen Gesetzentwurf ausgearbeitet und dem Parlament vorgelegt. Die Bundesregierung hat damit das Ihre getan, um den Verfassungsrechtstreit zu bereinigen und für die Zukunft klare Rechtsgrundlagen zu schaffen. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß das Problem auf diese Weise korrekt behandelt worden ist.Hingegen hält sie es für wenig hilfreich, wenn eine Minderheit des Haushaltsausschusses aus diesem Vorgang die Empfehlung ableitet, der Bundesregierung die Entlastung zu verweigern. Es soll offensichtlich der irreführende Eindruck erweckt wer-
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Bundesminister Matthöferden, hier habe irgendwie ein schuldhaftes oder verwerfliches Handeln der damaligen Bundesregierung vorgelegen.
Diesem Versuch tritt die Bundesregierung mit aller Entschiedenheit entgegen.
Ich wiederhole, was schon oft gesagt worden ist, daß nämlich ein verfassungsrechtlicher Streit zwischen Staatsorganen über die Auslegung des Haushaltsrechtes nicht gewissermaßen ein Strafprozeß ist,
daß die sachliche Berechtigung der damals vorgenommenen Ausgaben bei objektiver Betrachtung nicht in Zweifel gezogen werden kann
und daß die Bundesregierung durch die Befolgung der damaligen Staatspraxis auch keinerlei Schaden angerichtet hat.Ich will hier nur in Erinnerung rufen, daß der Bundesfinanzminister seinerzeit den Bundestag und den Bundesrat über alle Mehrausgaben unterrichtet hat, so wie es die Haushaltsordnung vorschreibt. Das Haus hatte die Mitteilungen über diese Mehrausgaben ohne Beanstandung zur Kenntnis genommen und auch keine Bedenken gegen das bei diesen Ausgaben eingeschlagene Verfahren erhoben.Wer die Praxis des Bundes und der Länder auf dem Gebiet der über- und außerplanmäßigen Ausgaben in den früheren Haushaltsjahren zurückverfolgt, wird im übrigen feststellen, daß der Anteil dieser Ausgaben am Haushaltsvolumen in vielen Jahren beträchtlich höher lag als 1973. Die über-und außerplanmäßigen Ausgaben 1973 waren insofern keinesfalls ein Vorgang von einmaliger Bedeutung.So hat auch der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts anläßlich der Urteilsverkündung am 25. Mai 1977 erklärt — ich zitiere —:Hier geht es darum, daß ein fast seit Jahrzehnten bestehender Brauch für „verfassungswidrig" erklärt werden mußte.Insofern besteht also allseits wenig Anlaß zu Selbstgerechtigkeit. Denn das, was hier als verfassungswidrig — das Wort wurde in Anführungszeichen gesetzt — gerügt worde ist, entsprach weithin dem, was in vielen Jahren vorher andere Finanzminister und andere Regierungen ebenso getan haben.
— Herr Kollege, ich habe das Urteil sorgfältig gelesen. Die Finanzreform taucht in der Begründung überhaupt nicht auf. Insofern muß ich annehmen, daß das Gericht sie nicht für .relevant gehalten hat.
Lassen Sie mich beispielsweise an das Haushaltsjahr 1965 erinnern, als der Deutschen Bundesbahn außerplanmäßig ein Liquiditätsdarlehen in Höhe von 1,4 Milliarden DM zugewendet wurde. Es gab dazu eine sehr deutliche Beanstandung des Bundesrechnungshofs. Gleichwohl ist der Bundesregierung Entlastung erteilt worden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Haase? — Bitte schön!
Herr Bundesfinanzminister, wir hatten doch danach eine Finanzreform. Danach ist doch alles gänzlich anders gewesen. Das können Sie doch hier nicht — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, Sie müssen eine Frage stellen.
„Erinnern Sie sich?", darf ich fragen, Herr Präsident.
Herr Kollege Haase, ich hatte schon auf den Einwand des Kollegen Friedmann gesagt, daß das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil diese Finanzreform nicht erwähnt. Ich bin kein Jurist, aber ich muß daraus schließen, daß das Bundesverfassungsgericht diese Reform in diesem Zusammenhang als nicht erheblich betrachtet hat.
Es gab also auch eine Fülle von — —
— Herr Kollege, Sie bezweifeln die Logik. Aber können Sie mir dann Ihrerseits bitte sagen, warum, wenn dies erheblich gewesen wäre, das Gericht eine so wichtige Tatsache wie eine Finanzreform nicht hätte erwähnen sollen?Es gibt eine Fülle von Haushaltsüberschreitungen, die in ihrer absoluten Höhe durchaus mit den Bewilligungen von 1973 vergleichbar sind. Bedeutsam erscheint mir aber auch vor allem, daß der Anteil dieser über- und außerplanmäßigen Ausgaben im Vergleich zum jeweiligen Haushaltsvolumen sehr viel höher lag als 1973. Auch die Summe der über-und außerplanmäßigen Ausgaben machte in vielen Jahren vor 1973 einen viel höheren Anteil am Haushaltsvolumen aus. Vieles, was früher gemacht worden ist, ist nunmehr nicht mehr möglich, nachdem das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Unabweisbarkeit von Ausgaben neu interpretiert hat. Was der Kollege Starke 1961 als Finanzminister tat — er ließ um die Jahreswende 84 Millionen DM außerplanmäßig dem Ausgleichsfonds zukommen —, könnte er heute nicht mehr tun. Aus ähnlichen Gründen waren 1960 vom Kollegen Etzel 100 Millionen DM überplanmäßig bewilligt worden. Die damaligen Zuschüsse an den Ausgleichsfonds waren gewiß nicht in höherem Maße unabweisbar als diejenigen
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7908 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Bundesminister MatthöferHilfen, ,die 1973 zur Überwindung der Ölkrise geleistet wurden.
Es wäre gut, Herr Kollege Haase, wenn sich die Opposition gelegentlich — ich gebe zu, daß Ihnen das nach so langer Entwöhnung schwerfällt — auch in ,die Rolle einer Regierung versetzte.
Die Bundesregierung hat den Haushalt auch im Jahr 1973 nach bestem Wissen und Gewissen vollzogen. Sie mußte die damalige langjährige Praxis in Bund und Ländern ebenso berücksichtigen wie die von niemandem bestrittene Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Zahlungen. Diesen Gründen müßte eigentlich jeder auch in diesem Hause beipflichten können. Ich bitte Sie daher, dem Antrag auf Entlastung der Bundesregierung zuzustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, das Wort wird nicht weiter gewünscht. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses.
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/1899 unter Nr. 1, der Bundesregierung gemäß Art. 114 des Grundgesetzes nach Maßgabe des § 114 der Bundeshaushaltsordnung Entlastung zu erteilen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? —
Die aufgerufene Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ist angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt ferner, die auf Drucksache 8/1899 unter Nr. 2 angegebenen Vierteljahresübersichten für erledigt zu erklären. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufene Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt außerdem auf Drucksache 8/1899 unter Nr. 3 die Annahme einer Entschließung. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Entschließung ist angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe dann Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Programm zur Sicherung und Weiterentwicklung des Ausbildungsplatzangebots und zur Verbreiterung der Arbeitsmöglichkeiten für Jugendliche
— Drucksachen 8/439, 8/1758 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Thüsing Abgeordnete Frau Dr. Wilms
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Wilms.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Monate, die seit der Einbringung des CDU/CSU-Antrags, Drucksache 8/439 „Programm zur Sicherung und Weiterentwicklung des Ausbildungsplatzangebots und zur Verbreiterung der Arbeitsmöglichkeiten für Jugendliche" verstrichen sind, zeigen, wie richtig es war, daß diese Initiative mit diesem Inhalt und dieser Zielsetzung gestartet wurde; denn sie allein hat Gelegenheit gegeben, in diesem Hohen Hause darüber zu diskutieren, welche Möglichkeiten noch geschaffen oder verbessert werden müssen, um allen Jugendlichen in der heutigen schwierigen Zeit eine Ausbildung zu vermitteln. Ohne diesen Antrag wäre dieses Thema hier wohl tot gewesen;
denn weder von der Bundesregierung noch von den Koalitionsfraktionen ist eine eigene parlamentarische Initiative zum Thema berufliche Bildung gekommen.
Es war auch die CDU/CSU-Fraktion, die ein Hearing mit den Vertretern der Wirtschaft und der Gewerkschaften erwirkte. Ohne diese Anhörung hätten die an der Berufsbildung direkt Beteiligten keine Gelegenheit gehabt, vor dem Deutschen Bundestag ihre Probleme und Zukunftsvorstellungen vorzutragen. Wie schon in den Jahren zuvor, war die berufsbildungspolitische Diskussion seitens der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen auch in den jetzt abgelaufenen Monaten zu sehr von der Frage beherrscht: Umlagefinanzierung nach dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz, ja oder nein? Darüber ist unseres Erachtens viel zu sehr in den Hintergrund getreten, daß es keinesfalls nur Finanzprobleme sind, die zur weiteren Erhöhung der Ausbildungskapazitäten gelöst werden müssen. Es sind viel stärker ordnungspolitische und strukturelle Probleme, und es ist die Lösung von viel Unbeweglichkeit auf dem Feld der Gesetze und der Verordnungen, die sich insgesamt zunehmend als ausbildungserschwerend herauskristallisieren.
Wir hatten deshalb in unserem Antrag Drucksache 8/439 versucht, gerade diese Probleme anzugehen. Wir hatten in den Ausschußberatungen einen neuen, verkürzten Antrag vorgelegt, der gerade in den politisch relevanten Punkten leider ebenfalls keine Mehrheit fand. Wir legen ihn deshalb heute als Änderungsantrag auf Drucksache 8/1943 in leicht aktualisierter Form wieder vor, weil wir meinen, daß sich der Inhalt dieses Antrages insbesondere durch die Aussage der Beteiligten an der Anhörung
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7909
Frau Dr. Wilmsvor zwei Wochen und durch die Entwicklung auf dem Ausbildungsstellenmarkt sehr bestätigt hat.Meine Damen und Herren, ich möchte hier nicht alle Punkte dieses Änderungsantrages angehen, sondern nur zu wenigen Problemen unsere Position noch einmal deutlich herausarbeiten, weil ich meine, daß hier klare Konzeptionsunterschiede in der Berufsbildungspolitik zwischen CDU/CSU sowie SPD und FDP bestehen.Wir bejahen und unterstützen voll das duale System der Berufsbildung als einen eigenständigen Weg der Bildung und schielen nicht wie die Koalitionsfraktionen mit einem Auge oder gar mit zwei Augen nach einem integrierten Gesamtschulsystem, das berufliche und allgemeine Bildung umfassen soll und das bei konsequenter Durchführung das duale System in freier Selbstverwaltung zerstören müßte. Wir möchten ein Klima des Vertrauens zwischen allen in der Berufsbildung Beteiligten schaffen und auf diese Weise alles tun, um die Ausbildungsbereitschaft und die Ausbildungsfähigkeit der Betriebe zu erhöhen.Wir lehnen es ab, dauernd mit gesetzlichen Maßnahmen à la Umlagefinanzierung zu drohen; denn jedermann weiß inzwischen, daß eine Umlage von 0,25 % sowieso kaum eine echte betriebliche Kostenentlastung bei Zuwendungen von 700 bis 2 400 DM pro Jahr und Ausbildungsplatz bringt. Die Androhung von maßgebenden SPD-Politikern, die Abgabe dann eben auf 1 % oder mehr zu erhöhen, ist sicherlich nicht dazu angetan, die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe zu erhöhen.Wir bejahen die Ergänzung betrieblicher Ausbildung durch über- und zwischenbetriebliche Einrichtungen und Maßnahmen, sehen aber in der geradezu auffälligen Überbetonung überbetrieblicher Einrichtungen durch die Bundesregierung die Gefahr, daß sich hier ein sogenannter dritter Lernort herausbildet, der insbesondere in den nächsten Jahren der geburtenschwachen Jahrgänge geeignet sein könnte, die betriebliche Ausbildung auf kaltem Wege auszuhöhlen.
Erlauben Sie mir ein Wort zu dem Berufsgrundbildungsjahr. Wir wünschen eine berufliche Grundbildung für alle Jugendlichen. Wir räumen deshalb einem beruflichen Grundbildungsjahr die absolute Priorität vor einem obligatorischen zehnten Hauptschuljahr ein. Wir meinen, daß dem mehr praktisch begabten jungen Menschen nicht mit einer bloßen Verlängerung der Hauptschulzeit geholfen ist.
Seine Schul- und Bildungsmüdigkeit wird dann nur noch vergrößert, wenn die auch in ihm steckende Begabung und Bildungswilligkeit auf falsche Weise angesprochen wird.
Wir bedauern es deshalb sehr, daß sich die Koalitionsfraktionen im Ausschuß nicht zur Annahme un-seres entsprechenden Formulierungsvorschlagesdurchringen konnten, obwohl er dem Text der Regierungserklärung von 1976 entsprach.
SPD und FDP haben im Ausschuß lediglich die Forderung nach einem zehnten Pflichtschuljahr aufgestellt. Dieser Text wiederum läßt Tür und Tor für alle Interpretationen offen, wie es sich bereits auch aus höchst unterschiedlichen Äußerungen von Regierung und Regierungsparteien dazu ergibt. Die CDU/CSU wird einen Weg nicht mitgehen, der zunehmend auch in SPD/FDP-Kreisen vorgeschlagen wird, nämlich den, ein zehntes obligatorisches Hauptschuljahr und darauf aufsetzend ein Berufsgrundschuljahr als elftes Bildungsjahr einzuführen. Dies ist für uns der direkte Weg in die vollintegrierte Gesamtschule, die letztlich das duale System zerstören muß. Es wird dann nur eine Frage der Zeit sein, wann auch die Fachausbildung verschult wird. Es war ja auch für uns alle unüberhörbar, daß sich der Herr Bildungsminister Schmude in seiner ersten Rede hier von dieser Stelle sehr deutlich und sehr betont für das integrierte Gesamtschulsystem eingesetzt hat.Wir bejahen — ich betone es noch einmal — die berufliche Grundbildung im zehnten Bildungsjahr, möchten sie aber als Instrument zur Erhaltung und Verbesserung des dualen Systems sehen. Deshalb gibt die CDU/CSU-Fraktion dem Berufsgrundbildungsjahr in kooperativer Form im dualen System auch Priorität vor dem schulischen Berufsgrundbildungsjahr. Wir möchten ein schulisches Berufsgrundbildungsjahr dort verwirklicht sehen, wo dies in enger Absprache auf regionaler und sektoraler Ebene zwischen den für die Berufsbildung Verantwortlichen in Schule und Betrieb auf Länderebene geregelt ist.
Dabei halten wir es auch für entscheidend, daß sich das schulische Berufsgrundbildungsjahr an den Inhalten der kooperativen Form orientiert. Es ist wichtig, daß für die erfolgreichen Absolventen eines schulischen Berufsgrundbildungsjahres die anschließende Fachausbildung im dualen System gesichert ist, d. h., daß der einzelne Absolvent des Schuljahres auch wirklich einen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten kann.
Wir hoffen sehr, meine Damen und Herren, daß die bevorstehenden Beratungen im Bundesrat im Zusammenhang mit der neuen Anrechnungsverordnung zum Berufsgrundbildungsjahr, die unserer Auffassung nach übrigens im Detail auch noch verbesserungswürdig ist, insbesondere was den nahtlosen Übergang zur Fachbildung und die Anrechnungszeiten in einigen Bereichen betrifft, auch zu dieser ordnungspolitischen Konzeption führen werden.Ich möchte hier noch einmal ganz deutlich betonen, daß die Formen der beruflichen Grundbildung im zehnten Bildungsjahr unserer Meinung nach organisatorisch und didaktisch so vielfältig angeboten werden müssen, daß davon alle Jugendlichen, auch die noch nicht berufsreifen und die lernbehinderten,
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7910 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Frau Dr. Wilmsihren Nutzen haben. Nichts wäre gerade auf diesem Feld schlimmer als Schema-F-Lösungen, bloß weil sie in ein Integrationssystem passen.
Meine Damen und Herren, stark in den Vordergrund gerückt sind einige für die Ausbildung problematische Bestimmungen im Jugendarbeitsschutzgesetz und im Schwerbehindertengesetz; wir wissen davon. Solche Bestimmungen erweisen sich zunehmend als ausbildungserschwerend, weil sie unflexibel sind. Die Bundesregierung hat dies prinzipiell, etwa in ihrem Berufsbildungsbericht 1978, anerkannt. Auch die bereits erwähnte Anhörung vor 14 Tagen zeigte die Bedeutung dieses Bereichs, insbesondere was zeitregelnde Bestimmungen angeht. Ich frage: Warum handelt die Bundesregierung nun nicht schnell und zügig, um durch Rechtsverordnungen, etwa beim Jugendarbeitsschutzgesetz, die sich jetzt als wirklichkeitsfern herausstellenden Vorschriften und deren Anwendung zum Nutzen der ausbildungssuchenden Jugendlichen zu korrigieren? Ich möchte hier von unserer Seite noch einmal ganz ausdrücklich betonen: Uns geht es nicht um den Abbau des Schutzes der Jugend, sondern um Korrekturen von vorher nicht gesehenen Wirkungen einzelner Bestimmungen, um mehr Flexibilität bei ihrer Handhabung.
Die Bundesregierung hat für ihren Bereich, etwa den der Bundesgrenzschutzausbildung, durch Ausnahmeverordnung bereits eine Regelung getroffen. Hier hatte sie offensichtlich keine Bedenken.Die Betroffenen in der Wirtschaft erwarten jetzt von der Bundesregierung zu Recht Taten. Der Worte sind genug gewechselt. Mit Ankündigung ist es jetzt nicht mehr getan, im Gegenteil! Es wächst die Gefahr, daß man sich in den Betrieben düpiert und im eigenen Bemühen um mehr Ausbildungsplätze nicht mehr unterstützt fühlt. Die Bundesregierung kann durch Verzögern auch guten Willen verspielen.Abschließend möchte ich noch einmal das Bedauern der CDU/CSU-Fraktion darüber zum Ausdruck bringen, daß die Koalition nicht unserem Appell zu einer besseren Abstimmung von Bildungswesen und Beschäftigungssystem zugestimmt hat. Hängt sie vielleicht doch noch zu sehr an ihrer Idee von einer autonomen Bildungspolitik, die zwar die Ausbildung junger Menschen fördert, aber sich nicht darum kümmert, was junge Menschen dann auf dem Arbeitsmarkt damit anfangen können? Dies würde ich eine zutiefst unsoziale Bildungspolitik nennen.
1,2 ist.
— Deshalb wird es nicht falsch, Herr Kollege Meinecke!
Der Slogan vieler SPD und FDP-Bildungspolitiker „Überqualifikation ist besser als Unterqualifikation" hat die Landschaft vernebelt. Darum geht es nämlich gar nicht. Es geht um das Problem der Fehlqualifikation, die es für junge Menschen zu vermeiden gilt, weil Fehlqualifikation zu Arbeitsmarkt- und Strukturverzerrungen und zur Frustration junger Menschen führt.
Wer um die Zukunftschancen junger Menschen wirklich besorgt ist, muß jedem eine Ausbildung anbieten können, die seine Begabung und Leistungsfähigkeit ausschöpft und ausformt und die ihm eine echte Chance auf dem Arbeitsmarkt gibt, damit er nicht einem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb ausgesetzt ist und damit nicht Lebenshoffnungen zerstört werden. Nur mit einer solchen Politik werden wir die besonders Begabten fordern und die weniger Begabten fördern.
Wir haben alle diese Überlegungen in unserem Änderungsantrag zusammengefaßt. Wir bitten, ihm zuzustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Thüsing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der CDU/CSU hat im Lauf des letzten Jahres — aus unserer Sicht zum Teil erfreuliche — außerordentlich viele Metamorphosen erfahren. Es ist nicht richtig, Frau Kollegin Wilms, daß ohne Ihren Antrag sich das Parlament mit dieser Frage nicht beschäftigt hätte. Ihr Antrag war für uns willkommener Anlaß, die Richtigkeit dieser Regierungspolitik und der sie tragenden Fraktionen zu unterstreichen.
— Das ist richtig. Ich bin für diese Regierung. Das betone ich nachdrücklich.
Das Thema wurde in vielfältigen Äußerungen parlamentarisch und nichtparlamentarisch von uns behandelt, zum Schluß in der Großen Anfrage, die ja einen erheblichen und für die Berufsbildungspolitik relevanten Teil enthalten hat, und bei dem auch von uns geforderten Anhörverfahren zum Bildungs- und Beschäftigungssystem.Sie haben gesagt, Ihr Antrag vom 12. Mai sei leicht aktualisiert. Er ist aus unserer Sicht erfreulich aktualisiert, schwer aktualisiert.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7911
ThüsingNach wie vor unterstellen Sie aber in Ihrer Rede eine falsch angelegte Berufs- und Wirtschaftspolitik und bezeichnen in pauschaler Beurteilung das Ausbildungsplatzförderungsgesetz als nicht geeignet.Ich habe in meinem Beitrag am 7. Oktober 1977 von dieser Stelle aus der Hoffnung auf mehr Gemeinsamkeit Ausdruck gegeben; daß Sie nicht — wie es in der letzten Wahlperiode oft der Fall war — in der Berufsbildungspolitik schon deshalb etwas für falsch halten, weil diese Regierung oder die sie tragenden Parteien es vorschlagen, und daß Sie die hier in Frage stehenden Probleme nicht unter wahltaktischen Gesichtspunkten statt unter dem Aspekt, die Zukunft der Jugend zu sichern, betrachten. Die Hoffnung hat sich teilweise erfüllt, wie der Bericht deutlich macht, der Ihnen heute vorliegt.Es gibt viele Gemeinsamkeiten auf bisher umstrittenem Feld. Beispielsweise sind wir uns einig geworden — all das war früher umstritten — über die Weiterentwicklung der zwischen- und überbetrieblichen Maßnahmen im dualen System, über eine verbesserte Förderung von Ausbildungsplätzen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", über eine Verbesserung der Bildungs- und Berufsberatung, darüber, daß der Informationsverbund der an der beruflichen Bildung Beteiligten auf örtlicher Ebene unter Einbeziehung der Schulen verbessert werden soll, daß eine Blockierung von Ausbildungsplätzen durch mangelnde Koordination beim Meldeverfahren und bei den Fristen zu vermeiden sei, daß im Rahmen konkreter uns vorliegender Programme entschieden mehr für ausländische Jugendliche und andere Problemgruppen getan werden muß. Schließlich sind wir uns darüber einig, daß die Berufsbildungssituation für Frauen und Mädchen verbessert werden muß, wobei wir uns auch zumindest über die Richtung der konkreten Maßnahmen einig waren, die zu ergreifen sind.Natürlich konnte eine Reihe von Dingen nicht einvernehmlich verabschiedet werden, und zwar teilweise, weil Sie Teilen unseres Gegenantrages nicht zugestimmt haben, teilweise, weil Sie eine andere Akzentuierung vorgesehen hatten, und teilweise auch deshalb, weil Sie den verständlichen Versuch machen mußten, das eigene Profil Ihrer sogenannten Berufsbildungspolitik zu bewahren. Die Gemeinsamkeit hätte also noch größer sein können, aber die CDU/CSU konnte hier nicht über ihren Schatten springen, weil das das Einverständnis und Eingeständnis bedeutet hätte: Die Berufsbildungspolitik dieser Regierung und der sie tragenden Parteien war richtig, hat trotz der Widerstände besonders in der letzten Legislaturperiode ein solides Fundament geschaffen, auf das die nächsten Bausteine gesetzt werden können; denn es bleibt natürlich schon angesichts der geburtenstarken Jahrgänge und der Probleme, die damit auf uns zukommen, noch viel zu tun.Statt den Weg der Gemeinsamkeit ein Stück weiterzugehen, haben CDU und CSU auf dem Alternativantrag bestanden. Von daher ist es nicht verwunderlich, daß Frau Wilms die Unterschiede so sehr stark betont hat, um das Profil der eigenen Berufsbildungspolitik der Union zu retten, wenn das auch teilweise schon ein sophistischer Streit ist, der nicht mehr verstanden wird, und viele der von Ihnen angesprochenen Kontroversen oder angeblichen Kontroversen mit dem gesunden Menschenverstand gelöst werden können oder vor ihm keinen Bestand haben.Ich will ein paar Beispiele nennen. Wir betonen die Notwendigkeit des dualen Systems, wissen aber zugleich, daß es ohne Unterstützung und Hilfe und in bestimmten Regionen. ohne Ersatzfunktion den Ausbildungsanspruch dieser Generation nicht sichern kann. Das ist mit dem gesunden Menschenverstand festzustellen.
Da geht es auch nicht um ein Klima des Vertrauens, sondern um Zahlen und Fakten, die auf dem Tisch liegen und die jeder einsehen kann, was das duale System angeht.Die Finanzierung ist ein Angebot an die Wirtschaft. Es ist schade, daß die Wirtschaft auf dieses Angebot bisher so negativ reagiert hat. Die Wirtschaft wird aber im Herbst die Frage zu beantworten haben, weshalb unter Umständen Ausbildungsansprüche von Jugendlichen trotz des Versprechens der Wirtschaft, allen Jugendlichen einen geeigneten Ausbildungsplatz anzubieten, nicht erfüllt worden sind.Dann sprechen Sie die auffällige Überbetonung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten an. Wir wollen keinen dritten Lernort, sondern sind der Meinung, daß dort, wo das duale System keine ausreichenden Angebote machen kann, Ersatzangebote gemacht werden müssen; aber wir sind auch auf die überbetrieblichen Ausbildungsstätten stolz ; ohne sie wäre weder der quantitative noch der — das ist besonders wichtig — qualitative Bildungsanspruch der Jugend zu erfüllen.
Um das Berufsgrundbildungsjahr hat es vielerlei Diskussionen gegeben; nicht auf unserer Seite, auf Ihrer Seite hat es diese Diskussionen gegeben.Frau Wilms, erneut den Versuch zu machen, uns zu unterstellen, wir seien gar nicht dafür, wir wollten zunächst ein 10. Hauptschuljahr für alle, ist schlicht falsch und entspricht nicht den Beratungen.
Ich habe damals schon im Pressedienst der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion dazu festgestellt, und ich empfehle Ihnen meine Presseerklärung vom 16. März dieses Jahres, daß gar kein Anlaß besteht
— dann sollten Sie das vor einer Debatte vielleicht nochmal nachlesen; denn was dort steht, ist eindeutig — und daß es falsch ist, daran zu zweifeln, daß die Aussage der Regierungserklärung von den Koalitionsfraktionen, was das 10. Bildungsjahr angeht, nach wie vor unterstützt wird. Jahrelang ha-
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7912 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Thüsingben SPD und FDP für die Einführung des Berufsgrundbildungsjahres, seine Anrechnung als erstes Jahr der Berufsausbildung und dafür gekämpft, daß der Bund erhebliche Mittel für eine Vielzahl entsprechender Modellversuche bereitgestellt hat. CDU und CSU hatten dazu oft keinen anderen Beitrag zu leisten, als vor der drohenden Verschulung der Berufsausbildung zu warnen. Der Streit geht bis zum heutigen Tage in Ihre Fraktion hinein, wenn hier bei der Debatte am 9. Juni, also vor 14 Tagen, Herr Rose die Sorge geäußert hat, daß mit einer generellen Einführung des Berufsgrundbildungsjahres ein Absinken des Ausbildungsstandards zu befürchten sei, oder wenn Ihr Kollege Schedl erklärt hat, das Berufsgrundbildungsjahr sei eine Stufe zur Ausbildung des „Leberkäsingenieurs". Das klingt sehr lustig, aber dahinter steht eine traurige Wirklichkeit, wenn man der Jugend diesen Ausbildungsweg verweigern will.Dann geht es um die Ausbildungserschwernisse. Ich habe auch das Protokoll des vor kurzem durchgeführten Anhörverfahrens noch einmal gelesen. Da wurden eine Reihe von Dingen angesprochen, über die zu reden und zu entscheiden ist. Es wurde aber von keinem der dort Anwesenden erklärt: Hier stimmt eine bestimmte Richtung der Berufsbildungspolitik nicht; sie hat zu Blockaden geführt, die den Ausbildungsanspruch der jungen Generation generell hemmen. — Ich glaube, hinter der Diskussion um „ausbildungsplatzhemmende Vorschriften" verbirgt sich in Wirklichkeit etwas ganz anderes, nämlich der Versuch, über dieses Vehikel erreichte Positionen in der Berufsbildung, im Jugendarbeitsschutz und Arbeitsschutz zurückzufahren.
Dann bringen Sie Ihr Bedauern zum Ausdruck und fordern: bessere Abstimmung zwischen Beschäftigungs- und Bildungssystem. Auch dazu gibt es ein Anhörverfahren mit sehr eindeutigen Aussagen. Es bezweifelt niemand, daß es Fehlleitungen oder auch Fehlqualifikationen gibt. Fehlqualifikationen gibt es aber, wenn wir über Berufsausbildung sprechen, insbesondere im dualen System, wie das Schicksal der Ausgebildeten deutlich macht, das Schicksal der Ausgebildeten auf dem Arbeitsmarkt.
— Wieviel ausgebildete Facharbeiter es gibt?
Eine erhebliche Zahl der im dualen System ausgebildeten Facharbeiter arbeiten nicht in ihrem erlernten oder in einem ihrem erlernten Beruf verwandten Beruf. Daß die Facharbeiter dennoch auf dem Stellenmarkt mehr Chancen haben, gleichgültig, welche Ausbildung sie durchlaufen haben, soll nicht bestritten werden und ist nicht zu bestreiten.
Deshalb ist es immer noch besser, wenn ein Jugendlicher in einem Beruf ausgebildet wird, in dem er später zweifelhafte Chancen hat, als daß er gar nicht ausgebildet wird. Das ist zuzugeben. Aber es ist in diesem System unzumutbar, meine Damen undHerren — ohne den jetzt angesprochenen Beruf diffamieren zu wollen, wir brauchen ihn ja alle —, daß jemand Bäcker wird oder in unserem System werden muß, obwohl er nach Veranlagung, Begabung, Neigung in einem Metallberuf ausgebildet werden sollte und obwohl er weiß, daß etwa 80 % der Bäcker — ich will mich auf die Zahl nicht festlegen, aber sie stimmt, glaube ich — nicht in ihrem erlernten Beruf weiterarbeiten können.
Das sind die Probleme. Auf diesem Gebiet über Fehlleitungen zu sprechen würde in dieser Debatte, glaube ich, mehr bewirken. Hier sollte man auch die Anhörverfahren etwas ernster nehmen und sie nicht einseitig lesen.Nein, meine Damen und Herren von der Union, wir hatten schon guten Grund für unseren Antrag im Ausschuß, weil er nach unserer Ansicht tauglich ist, eine solide Grundlage für eine Zukunft der Jugend abgibt, eine Grundlage, die auch in den nächsten Jahren tragfähig ist. Die Ergebnisse und Erfolge der Politik dieser Regierung und der sie tragenden Parteien sind überhaupt nicht zu übersehen. Sie bedürfen einer Weiterentwicklung und verdienen sie auch.Die Leistungen dieser Politik weisen sich auch in Zahlen aus: Schaffung von inzwischen 25 000 Plätzen in überbetrieblichen Ausbildungsstätten, wodurch auch das qualitative Angebot der beruflichen Bildung gesichert wurde. Für die Jahre 1976 bis 1981 stehen als Angebot des Bundes 650 Millionen DM für das berufliche Schulwesen zur Verfügung. Dazu kommt noch einmal die gleiche Summe von den Ländern. Das macht 1,3 Milliarden DM. Das ist auch eine bedeutende Summe und ein bedeutender Schritt. Ich verweise auf die Modellversuche — ich kann nur noch Stichworte nennen —, und ich verweise auch darauf, daß in diesem Jahr, was den Bund angeht, Bahn und Post ihr Ausbildungsangebot um 20 0/o erhöht haben. Das ist auch eine Leistung. Dazu kommen die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit für die Förderung der beruflichen Bildung. Dies sind in diesem Jahre über 2 Milliarden DM. Da wollten CDU und CSU in einem Antrag im Ausschuß 10 Millionen DM bewegen, damit die Welt bewegen und das Bildungssystem verändern und verbessern.Während aber nun in Ihrem Antrag, was zugegeben werden muß, immerhin noch konkrete Dinge stehen, über die man weiter reden wird, die weiter wichtig sind, kann man das von der Gesamt-CDU offensichtlich nicht behaupten. Sie hat vor kurzer Zeit, am 12. Juni 1978, ein Papier vorgelegt, das den Titel trägt: „Der Weg in eine gesicherte Zukunft — Programm zur Sicherung der Zukunftschancen der Jugend", beschlossen vom Bundesausschuß der CDU. Dieses Programm — es wird sich lohnen, auf dieser und auf anderen Ebenen noch darüber zu reden — bietet keinen Weg, sondern ist ein Holzweg, der von ideologischen Grabsteinen gesäumt wird. Auf diesen Grabsteinen steht beispielsweise: „Die geistige Perspektive der Zukunft gewinnen", „Mut zur Erziehung", „Jugend braucht Verantwortung". So geht das weiter in einer Zeit, wo Herr Dregger uns, der SPD, Ideologisierung vorwirft. Mit Ihrem Re-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7913
Thüsingzept kommt man in einer sich entsolidarisierenden Gesellschaft nicht weiter, kommt nicht der Gefahr der materiellen und intellektuellen Zerstörung des Menschen bei, kommt nicht der Gefahr bei, in der unsere Gesellschaft ständig steht, die Werte zu verletzen, die sie zu vertreten vorgibt. Dann wundert man sich über Widerstand oder Resignation in einem großen Teil der Jugend.
— Tut mir leid, das ist eine eindeutige Aussage, die wohlbegründet ist, so meine ich.Man kann es nicht allen recht machen, meine Damen und Herren von der Union, auch nicht in der Bildungspolitik, sondern muß sich im Interesse der jungen Generation auch gegen Widerstände im eigenen Lager entscheiden. Nur dann werden wir den Problemen der Zukunft gerecht werden, wenn wir weitere Zukunftschancen eröffnen. An Idéen und Programmen fehlt es nicht. Es fehlt heute an politischem Mut, sie durchzusetzen. Dazu brauchen wir auch die Mehrheit der unionsregierten Länder im Bundesrat, was ein wichtiger Punkt ist; sonst werden wir auf bestimmten Gebieten Wichtiges und Entscheidendes nicht bewegen.Dazu ein Beispiel: Ich habe mich vor kurzem in der pädagogischen Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbandes in Frankfurt umgesehen: Es gibt Programme, die sehr konkret das Problem der Jugendlichen angehen, die keinen Hauptschulabschluß haben oder die arbeitslos geworden sind. Diese Programme werden endlich der Rolle dieser Jugendlichen als junge Erwachsene gerecht. Es kommt darauf an, diese Programme politisch in die Tat umzusetzen. Das sollten wir im Interesse der jungen Generation mit mehr Gemeinsamkeit als bisher tun. Die SPD wird ihrer Verantwortung weiterhin gerecht werden. Sie ist weiterhin offen für Gespräche und vernünftige Ideen, aber nicht für den Abbau von Chancen, nicht für den Abbau von kostbaren Rechten im Jugendarbeitsschutz, die von den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten erkämpft wurden. Wir sind nur zu Entscheidungen bereit, die der Jugend heute und morgen dienen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der ursprüngliche Antrag der CDU/CSU zur Sicherung und Weiterentwicklung des Ausbildungsplatzangebots ist in seinen Forderungen sicher nicht neu; das haben wir soeben auch bei den Ausführungen meines Vorredners hören können. Ich nehme an, die CDU ist mit uns der Auffassung, daß eine ganze Reihe der Programmpunkte, die hier als neue Punkte angesprochen werden, eigentlich schon behandelt worden sind. Zumindest weiß sie, daß viele dieser Forderungen von der Bundesregierung seit langem eingeleitet sind. Trotzdem ist es sicher zu begrüßen, wenn wir hier feststellen können, daß es in etlichen Punkten einen Konsens mit Ihnen gibt. Andererseits bleiben natürlich auch Gegensätze bestehen.Wir von der FDP meinen nur, daß es schlecht wäre, wenn auch die Berufsbildungspolitik auf die Dauer in Gefahr geriete, zunehmend als taktisches Mittel parteipolitischer Konfrontation mißbraucht zu werden. Wir sehen unsere Aufgabe darin, mit dafür zu sorgen, daß die Diskussion über die Berufsbildung im Interesse der Jugendlichen versachlicht und, wenn Sie so wollen, auch entideologisiert wird.Insofern darf ich feststellen, daß zwischen uns allein ein Konsens darüber besteht, daß die Sicherung und Verbesserung der Berufsbildung für die geburtenstarken Jahrgänge eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Fragen der nächsten Jahre sind, die wir, wie ich meine, gemeinsam zu lösen haben, und daß wir alle für eine politische Schwerpunktverlagerung zugunsten der beruflichen Bildung eintreten.Lassen Sie uns an dieser grundsätzlichen Übereinstimmung festhalten und nur darüber diskutieren, wie und mit welchen Mitteln denn nun die Bildungs- und Berufschancen der jungen Generation gesichert werden können. Unser Antrag geht auf die wesentlichsten Fragen ein, obwohl eine ganze Reihe dieser Fragen, die hier angesprochen werden, nicht neu sind, sondern, wie ich bereits gesagt habe, im Begriff sind, gelöst zu werden.Frau Dr. Wilms und Herr Rühe haben vor kurzem in einer Presseerklärung wieder einmal den Vorwurf erhoben, die Bundesregierung habe nicht annähernd die Initiativen ergriffen — das haben Sie auch in Ihrer Rede gesagt, Frau Dr. Wilms —, die notwendig gewesen wären und naheliegend sind, um die Ausbildungsfähigkeit der Wirtschaft weiter zu erhöhen. Bei allem Verständnis dafür, daß eine Opposition Maßnahmen der Regierung nicht ständig beklatschen oder gar bejubeln kann,
sind wir, Frau Dr. Wilms, doch der Meinung, daß diese Aussage, um es vornehm auszudrücken, an der Realität vorbeigeht.
Ihr Antrag steht unter dem Motto, die Bundesdesregierung habe nichts getan oder im Grunde alles falsch gemacht. Gleichzeitig erheben Sie aber wieder Forderungen, von denen Sie wissen, daß entsprechende Maßnahmen eingeleitet worden sind und daß diese Maßnahmen im Begriff sind, verwirklicht zu werden.Schon im Schwerpunktprogramm — das hat Herr Thüsing angeschnitten —, das 1974 von der Bundesregierung zur Einrichtung betrieblicher Ausbildungsstätten vorgelegt worden ist, hat es einen ganz erheblichen Fortschritt gegeben. Sie wissen, es sind erhebliche Mittel — 450 Millionen DM Bundesmittel — in diesen vier Jahren dazu verwendet worden, 25 000 Plätze zu sichern. Wir wissen, daß es bis 1982 rund 77 000 Plätze geben wird und daß für den weiteren Ausbau noch einmal 700 Millionen DM zur Verfügung gestellt werden.
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7914 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978
Schäfer
Bund und Länder haben eine Verwaltungsvereinbarung getroffen, nach der den Ländern in den Jahren 1976 bis 1979 400 Millionen DM Finanzhilfen für Investitionen zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungskapazitäten gegeben werden, um gerade in den von Ihnen so sehr herausgestellten strukturschwachen Gebieten sowie in Randlagen und Ballungsräumen das berufliche Schulwesen auszubauen. Dazu zählt auch das Programm für Zukunftsinvestitionen der Bundesregierung. Hier sind weitere 250 Millionen DM zum Ausbau beruflicher Vollzeitschulen zur Verfügung gestellt worden. Auch im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" haben wir sehr intensiv Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze mit den Ländern gefördert.Diese Maßnahmen machen deutlich, was die Bundesregierung und die sozialliberale Koalition für eine Schwerpunktverlagerung zugunsten der beruflichen Bildung schon getan haben. Schwerpunktverlagerung zugunsten der beruflichen Bildung kann und darf allerdings nicht bedeuten, daß wir im Rahmen der von der CDU/CSU geforderten sogenannten Tendenzwende — das war der neue Ausdruck, den Sie hier in der bildungspolitischen Debatte vor einer Woche gebraucht haben — andere Bildungsbereiche, wie etwa die Hochschulen, vernachlässigen. Das zentrale Problem der nächsten Jahre ist es eben, für alle jungen Menschen eine berufliche Erstausbildung in Schulen, Betrieben und Hochschulen zu sichern, und dazu ist es erforderlich, daß die Ausbildungskapazitäten eben in Schulen, Betrieben und Hochschulen entscheidend vergrößert werden.Schließlich hat die expansive Bildungspolitik im zurückliegenden Jahrzehnt trotz aller Kritik, die Sie heute an ihr üben, die Probleme auf dem Ausbildungsstellenmarkt und dem Arbeitsmarkt nicht verschärft, sondern erheblich erleichtert. Wir wissen aus der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage, daß eben ohne diese Bildungsexpansion die Mehrbelastung unseres Arbeitsmarktes ganz beträchtlich wäre.Die Ausweitung des betrieblichen Ausbildungsplatzangebots ist um so bemerkenswerter, als die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ja eher gegenläufig war. Wir begrüßen — und wir haben das wiederholt getan — die Bemühungen der Wirtschaft, durch eigene Anstrengungen jedem Jugendlichen eine berufliche Erstausbildung sichern zu helfen. Die Appelle der Bundesregierung, der verschiedenen Verbände und Organisationen, insbesondere der Arbeitgeber und Gewerkschaften, sind wirksam geworden.Die erhebliche Steigerung des Ausbildungsangebots ist im Gegensatz aber zu Ihren fortgesetzten Behauptungen sicherlich auch ein Erfolg des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes. Entscheidend ist doch, daß durch dieses Gesetz im Bundesinstitut für Berufsbildung jedes Jahr von Bund, Ländern, Arbeitgebern und Gewerkschaften über die Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt gemeinsam beraten wird, daß hier die von der Wirtschaft eingegangene Selbstverpflichtung ihren Ausgangspunkt nimmt.Die Ausbildungsbereitschaft ist sicherlich auch durch die Überlegung gefördert worden, daß die nach dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz vorgesehene Umlagefinanzierung vermieden werden sollte. Wenn die CDU/CSU, wie in ihrem Antrag wieder geschehen, die Umlagefinanzierung nach dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz für falsch hält, dann soll sie doch endlich ihr Versprechen von 1973, dem Bundesparteitag in Hamburg, wahr machen und hier eine Umlagefinanzierung konkret ausformuliert vorlegen, über die wir dann reden können. In einer Wahlkampfbroschüre von diesem Parteitag heißt es:Für die außerschulische Berufsbildung wird ein gerechteres Finanzierungssystem geschaffen, damit die ausbildenden Betriebe nicht einseitig belastet werden.Wir warten eigentlich seit dieser Diskussion um das Berufsbildungsgesetz immer noch auf Ihre konkreten Vorschläge.Auch im Bundesparteitagsbeschluß von Hamburg aus dem Jahre 1973 heißt es:Voraussetzung für eine moderne, leistungsfähige Ausbildung ist die Gliederung in berufsfeldbezogene Grundbildung und darauf aufbauend berufsqualifizierende Fachbildung. Die Schule braucht dabei einen angemessenen, gegenüber früher erweiterten Anteil und eine wirksamere Stellung im System der beruflichen Bildung.Dieser Programmaussage der CDU können wir beipflichten. Lassen Sie uns an diesem Konsens festhalten.Dazu ist es allerdings erforderlich, daß sich die Union noch einmal kritisch dazu äußert, daß das Berufsgrundschuljahr, das in Bayern allgemein vorgesehen war, dort .wieder zurückgepfiffen, zurücknovelliert worden ist. Es wäre dann auch erforderlich, wie Herr Thüsing bereits angedeutet hat, daß man Äußerungen der bildungspolitischen Sprecher der CSU — nämlich von Herrn Probst und von Herrn Schedl —, Ihrerseits etwas aufs Korn nimmt, die sich sehr kritisch zu diesem Berufsgrundbildungsjahr geäußert haben. Wenn es hier etwa heißt, das sei ein wesentlicher Schritt in die falsche Richtung, dann frage ich mich, wo Ihr Konsens innerhalb Ihrer großen Volkspartei bleibt.Ich kann nur feststellen, daß Positionen, die zwischen Bund, Ländern, Arbeitgebern und Gewerkschaften inzwischen kaum mehr strittig sind, bitte bei Ihnen immer noch strittig zu sein scheinen.Genauso unerträglich ist es für uns, daß in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung seit 1976 über ein Programm zur Durchführung vordringlicher Maßnahmen zur Minderung der Beschäftigungsrisiken von Jugendlichen beraten wird. Es liegt an Bayern, das hier nicht zustimmt. Wir kommen nicht weiter. Diese Beratungen haben nicht zu einem Erfolg geführt. Hier könnte man zumindest Ihrerseits die Bayern darauf hinweisen, daß man auch von dem Sondervotum Gebrauch machen kann
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 21. Juni 1978 7915
Schäfer
und damit nicht einen Prozeß verhindert, den ja die CDU-regierten Länder sogar mittragen würden.Es kommt in den nächsten Jahren darauf an, daß ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsstellen bereitgestellt wird, aber wir müssen der Tendenz widerstehen, daß es nur nach Quantitäten geht und die Qualität der beruflichen Erstausbildung hintangestellt wird. Dazu brauchen wir praxisgerechte, aber auch bildungsgerechte Ausbildungsordnungen, und wir können auch auf ein Mindestmaß an Jugendschutz nicht verzichten.Wir lehnen Ihren Änderungsantrag, den Sie hier wieder eingebracht haben, ab. Obwohl wir im Ausschuß in den meisten Punkten im Prinzip übereingestimmt haben, müssen wir feststellen, daß Sie mit diesem Änderungsantrag eigentlich doch nur der Öffentlichkeit suggerieren wollen, die Problemlösung läge nur bei der Bundesregierung. Das ist, wie Sie wissen, falsch.Die FDP appelliert vielmehr an alle für die berufliche Bildung Verantwortlichen, an Arbeitgeber und Gewerkschaften, an Bund und Länder, an die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, ihre Bemühungen um eine Ausweitung des Ausbildungsplatzangebotes und zur Verbesserung der beruflichen Bildung fortzusetzen. Unser Antrag macht das deutlich, Ihr Antrag dagegen leider nicht.
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Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung -des Ausschusses. Zu dieser Beschlußempfehlung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/1943 vor. Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/1943 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Stimmenthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 8/1758 unter a) ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung auf Drucksache 8/1758 unter a) ist damit angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt dann auf Drucksache 8/1758 unter b), den Antrag der Fraktion der CDU/ CSU auf Drucksache 8/439 für erledigt zu erklären. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, FDP zur Beratung der Großen Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP
Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen
— Drucksachen 8/1590, 8/1806 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Czaja dazu:
Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/1929
Berichterstatter: Abgeordneter Picard
Wünscht einer der Herren Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Wird sonst das Wort gewünscht? — Auch das ist nicht der Fall.
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/1806 die Annahme einer Entschließung. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zur Beratung der Großen Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen
— Drucksachen 8/1613, 8/1807 — Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Schmitt-Vockenhausen dazu:
Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/1930 — Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Bußmann
Wünscht einer der Herren Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Wird im übrigen das Wort gewünscht? — Auch das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/1807 unter Nr. 1, den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/1613 abzulehnen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Damit ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt ferner auf Drucksache 8/1807 unter Nr. 2 die Annahme einer Entschließung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist angenommen.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende unserer Tagesordnung für heute.
Ich berufe die nächste Sitzung für morgen, Donnerstag, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.