Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wird die Aussprache über die Tagesordnungspunkte 3 und 4 um 20 Uhr unterbrochen und Punkt 6 — Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Februar 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die deutsche Gerichtsbarkeit für die Verfolgung bestimmter Verbrechen — aufgerufen. Die Abstimmung darüber soll um 21 Uhr stattfinden. Im Anschluß daran wird die Aussprache über die Tagesordnungspunkte 3 und 4 fortgesetzt.
Ich rufe nunmehr Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zum Internationalen Jahr der Frau 1975
Das Wort hat Frau Bundesminister Dr. Focke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt, daß das Jahr 1975 von den Vereinten Nationen unter dem Motto „Gleichheit, Entwicklung, Frieden" zum „Internationalen Jahr der Frau" erklärt worden ist. Wir begrüßen es deshalb, weil es für uns eine Chance ist, über die Situation der Frauen in der Welt, aber auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland erneut nachzudenken. Denn nicht nur uns in der Politik geht es doch oft so, daß wir um Probleme und Schwierigkeiten zwar wissen, aber ab und zu erneut eines Anstoßes bedürfen, um eine nochmalige Kraftanstrengung zu unternehmen.Betrachten wir uns die Situation von Millionen Frauen in der Welt, Frauen, die wesentlich, oft sogar allein den Lebensunterhalt für eine zahlreiche Familie bestreiten müssen, Frauen, die am Rande der Erschöpfung und Entbehrung Jahr für Jahr ein Kind auf die Welt bringen, Frauen, die selbst weder lesen noch schreiben können, aber für die Erziehung der Kinder weitgehend allein verantwortlich sind, Frauen, die aus eigener Kraft ihre Lebensverhältnisse nicht ändern können.Helvi Sipilä, die stellvertretende Generalsekretärin der Vereinten Nationen und zuständig für das „Internationale Jahr der Frau", hat uns in ihrer Eröffnungsrede eindrucksvoll vor Augen geführt, welche Schlüsselstellung die Frau bei der Lösung der dringendsten Probleme der Dritten Welt einnimmt, nämlich bei der Bevölkerungs- und Ernährungsfrage. Sie hat den Erfolg unserer gesamten Entwicklungsbemühungen in Frage gestellt, wenn es nicht gelingt, in den Entwicklungsländern eine Mitwirkung der Frauen an der Lösung dieser Probleme zu erreichen.Für die Bundesregierung ist es ein Gebot der internationalen Solidarität, den Vereinten Nationen bei ihren Bemühungen zur Seite zu stehen. Wir tun das nicht nur dadurch, daß wir Mittel zur Unterstützung der weltweiten Aktivitäten der Vereinten Nationen bereitstellen, wir tun das auch dadurch, daß wir im Rahmen unserer eigenen Entwicklungspolitik verstärkt auf eine Verbesserung der Situation der Frauen achten. So wurden in den letzten Jahren Projekte gefördert für die praxisbezogene Ausbildung von Frauen in sozialen und handwerklichen Berufen, für Mutter-und-Kind-Beratungsdienste, für den Bau von Sozialzentren, für die Schulung von Frauen im Hinblick auf ihre Mitgliedschaft in Kooperativen, Genossenschaften, Selbsthilfeaktionen.Beispielhaft und außerordentlich erfolgreich ist ein Projekt, das von der Bundesregierung gemeinsam mit ECA, FAO und den Niederlanden in West-und Zentralafrika durchgeführt wird. Einheimische Kräfte unterrichten die Frauen in Hauswirtschaft, Landwirtschaft, Gewerbeführung, Ernährung und Hygiene. Die Unterrichtung ist den lokalen Gegebenheiten angepaßt und hat ganz konkret und sichtbar zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Frauen dort geführt.Sicherlich ist die Lage bei uns bei weitem nicht mit den Zuständen zu vergleichen, die in manchen Teilen der Welt noch herrschen, aber auch bei uns muß noch vieles in Ordnung gebracht werden,
so zum Beispiel auf dem Gebiet des Rechts, am Arbeitsplatz, in der sozialen Sicherung, innerhalb der Familie, der Gesellschaft, der Politik.
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10018 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Bundesminister Frau Dr. FockeDie Bundesregierungen der sozialliberalen Koalition haben seit 1969 vorrangig daran gearbeitet, die noch bestehenden rechtlichen Benachteiligungen der Frauen abzubauen. Wenn in diesem Jahr — wie ich hoffe — von diesem Hohen Hause die Reform des Ehe- und Familienrechts verabschiedet wird, ist ein wichtiges Kapitel abgeschlossen.
Wir haben die politische Konsequenz aus Art. 3 des Grundgesetzes gezogen: Sache des Staates ist es nicht, die Aufgaben innerhalb der Familie aufzuteilen und den Familienmitgliedern gewisse Rollen vorzuschreiben. Jeder Bürger, gleich ob Mann oder Frau, muß das Recht haben, in Absprache mit seinem Partner frei zu entscheiden, welche der gemeinsamen Aufgaben er übernehmen will und wie diese Aufgaben zu beider Zufriedenheit verteilt werden können: die Aufgaben des Geldverdienens, der Kindererziehung, der Haushaltsführung.Und, meine Damen und Herren, die Statistik beweist, daß die Wirklichkeit bereits vor Jahren die Rollenzuweisung des Familienrechts außer Kraft gesetzt hat. Heute sind bei uns von knapp 28 Millionen Erwerbstätigen fast 10 Millionen, das heißt 36%, Frauen; davon sind 7 Millionen verheiratet, 6 Millionen haben Kinder. Wir wollen — wie Willy Brandt es einmal formuliert hat — den mündigen Bürger, das heißt: auch die mündige Bürgerin; und das bedeutet auch: Wahlfreiheit hinsichtlich der Lebensgestaltung.
Dem gewandelten Verständnis von der Ehe als einer Lebensgemeinschaft zwischen gleichberechtigten Partnern entspricht auch die beabsichtigte Neuregelung des Namensrechts. Nach geltendem Recht ist gemeinsamer Familienname der Name des Mannes. Die Bundesregierung sieht darin eine Benachteiligung der Frau im persönlichkeitsrechtlichen Bereich. Nach unseren Vorstellungen sollen in Zukunft die Ehegatten bei der Eheschließung ihren gemeinsamen Familiennamen selbst bestimmen können.Diese beiden oben genannten Rechtsänderungen sind noch fehlende Glieder in der Kette rechtlicher Reformen zugunsten der Frau, nachdem seit dem 1. Januar dieses Jahres endlich auch das Staatsangehörigkeitsrecht geändert worden ist. Die Kinder von deutschen Frauen, die mit Ausländern verheiratet sind, erhalten nun automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit.Zu den rechtlichen Problemen, für deren Lösung sich die sozialliberale Koalition mit Nachdruck eingesetzt hat, gehört auch die Reform des § 218. Ohne dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorzugreifen oder mich auf Spekulationen einzulassen, läßt sich sagen, daß sich die rechtliche und tatsächliche Lage der Frauen heute schon verbessert hat.Ebensolche Bedeutung wie der Änderung des Strafrechtsparagraphen messen wir dem bei, was in Zusammenhang damit geleistet und vorbereitet wurde und was nach dem Willen der sozialliberalen Koalition bereits voll in Kraft getreten wäre: die flankierenden sozialpolitischen Maßnahmen. Durch Aufklärung und Beratung in Fragen der Familienplanung und mit der Rezeptierung der Pille als Pflichtleistung der Krankenkassen wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich die Frage eines Schwangerschaftsabbruchs gar nicht erst stellt. Ich hoffe, daß der Verabschiedung dieses Gesetzes nach dem Urteilsspruch nichts mehr im Wege steht.Manchmal wird so getan, als solle dieses Jahr der Frau die Regierung dazu bringen, endlich etwas für die Frauen zu tun. Als ersten Anstoß dazu brauchen wir dieses Jahr wahrlich nicht. Bei der Bilanz dessen, was für Frauen bereits geschehen ist, darf allerdings auch eines nicht übersehen werden: Alles, was die Regierungen der sozialliberalen Koalition in den letzten Jahren für die Bürger erreicht haben, haben sie selbstverständlich auch für die Frauen erreicht. Oder wer will bezweifeln, daß Friedenssicherung, Preisstabilität und besserer Gesundheitsschutz nicht auch den Frauen zugute gekommen sind?
Darüber hinaus aber haben wir durch gezielte Maßnahmen die Situation der Frauen wesentlich verbessert. Ich erinnere nur an die Öffnung der Rentenversicherung für die Hausfrauen; die Rente nach Mindesteinkommen — zu 80 % kommt dieses Gesetz den Frauen zugute —; die Leistungsverbesserungen in der Kriegsopferversorgung, insbesondere für die Witwen; die Gleichstellung der Mutter eines nichtehelichen Kindes; die Freistellung von der Arbeit zur Pflege eines erkrankten Kindes; die Stellung einer Haushaltshilfe, wenn die Mutter ins Krankenhaus oder zur Kur muß; die Modernisierung des Heimarbeitergesetzes; die Übernahme der Rentenversicherungsleistungen für Pflegepersonen; den Beitrag der Bundesregierung zur besseren Familienplanung und -beratung durch Modellberatungsstellen und Aufklärungsbroschüren.Diesen und anderen Schritten zur Verbesserung der Situation der Frau wollen wir nun weitere in Richtung auf eine bessere soziale Sicherung hinzufügen. Ziel ist eine eigenständige soziale Sicherung für alle Frauen.
Wir können das allerdings nicht von heute auf morgen schaffen; denn wir können uns immer nur im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten bewegen. Aber wir wollen eine Lösung finden, die die Tätigkeit der Frau in der Familie anerkennt und ihre Leistungen bei der Pflege und Erziehung der Kinder berücksichtigt.Jetzt sind wir zunächst auf dem Wege, die soziale Sicherung der Frau im Falle der Scheidung dadurch zu verbessern, daß sie einen Versorgungsausgleich aus den Rentenansprüchen des Mannes erhält. An der Haltung der Opposition gegenüber dem Versorgungsausgleich wird sich erweisen, wie ernst es ihr mit einer Verbesserung der Alterssicherung der nicht erwerbstätigen Ehefrauen ist.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10019
Bundesminister Frau Dr. FockeDie Bundesregierung hofft, daß die vorliegenden Gesetzentwürfe zügig beraten und verabschiedet werden.Aber alle Gesetze, Maßnahmen und Angebote nützen nichts, wenn die Frauen sie nicht kennen und deshalb keinen Gebrauch davon machen. Deshalb wird die Bundesregierung das Jahr der Frau dazu nutzen, die Frauen verstärkt über ihre Rechte und Möglichkeiten aufzuklären und die Männer aufzufordern, ihr Verhalten und ihre Einstellung gegenüber Frauen in der Familie, in der Arbeitswelt und in der Politik neu zu überdenken.
Die Bundesregierung wird weiter bemüht bleiben, zur vollen Verwirklichung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit ihren Beitrag zu leisten. Wenn immer noch unterschiedliche Entlohnungsmaßstäbe angewendet werden — je nachdem, ob eine Arbeit von einem Mann oder von einer Frau erbracht wird —, dann dürfen wir derartige Benachteiligungen nicht als naturgegeben hinnehmen.
Frauen werden gegenüber Männern benachteiligt bei der Eingruppierung, bei der Gewährung übertariflicher Zulagen, bei der Zuordnung des Arbeitsplatzes zu den entsprechenden Lohngruppen, bei der Zuweisung von Tätigkeiten.Im Bereich der Tariflöhne stellt sich das Problem vor allem bei den sogenannten Leichtlohngruppen. Die Bundesregierung weiß, daß das Problem derLeichtlohngruppen wirksam und endgültig nur im Rahmen der Tarifautonomie von den Tarifpartnern selbst gelöst werden kann. Hierzu sind beachtliche Teilerfolge erkennbar. Gewerkschaften und Arbeitgeber sollten dieses Jahr nutzen, um mit Nachdruck an einer Lösung dieses Problems zu arbeiten. Aber auch die Belegschaften selbst können etwas beitragen: Sie können mehr Frauen in die Betriebsräte schicken, Frauen die sich verstärkt für die Rechte und Ansprüche ihrer Kolleginnen einsetzen.Die Bundesregierung kann in diesem Zusammenhang helfen, wissenschaftlich fundierte Maßstäbe für die Arbeitsbewertung zu finden. Dabei ist zu prüfen, ob die bisher in der Tarifpraxis verwendeten Kriterien „körperlich schwere" und „körperlich leichte Arbeit" für eine gerechte Lohnfindung heute noch ausreichen, oder ob nicht auch andere Kriterien, wie insbesondere die nervlichen Belastungen der Arbeit mehr als bisher zu berücksichtigen sind.Wir haben ein Gutachten über die arbeitswissenschaftliche Beurteilung der Belastung und Beanspruchung an unterschiedlichen industriellen Arbeitsplätzen in Auftrag gegeben. Von diesem Gutachten, das in diesem Frühjahr vorgelegt wird, erwarten wir Erkenntnisse, die die Tarifparteien in die Lage versetzen, für vergleichbare Arbeiten von Männern und Frauen eine den Anforderungen entsprechende gerechte Entlohnung zu finden.Die Bundesregierung geht davon aus, daß dann daraus auch die Konsequenzen gezogen werden. Andernfalls muß geprüft werden, wie dem Gleichberechtigungsgrundsatz bei der Arbeitsbewertung und -entlohnung gesetzlicher Schutz zuteil werden kann.
Ich sagte vorhin, daß die Bundesregierung den Frauen nicht vorschreiben will, ob sie berufstätig sein oder sich den Kindern widmen sollen. Ich möchte an die Adresse der verheirateten berufstätigen Frauen gerichtet hinzufügen, daß aus den ersten Gehaltsabrechnungen nach der Steuerreform nicht der voreilige Schluß gezogen werden sollte, die Bundesregierung benachteilige die berufstätige Frau.
Nach wie vor gilt: Männer und Frauen werden steuerlich gleichbehandelt. Ledige berufstätige Frauen erhalten die gleiche Entlastung wie ihre männlichen Kollegen.Richtig ist ebenso, daß die Steuerreform für die überwiegende Mehrzahl unserer Bürger ganz erhebliche Entlastungen bringt,
nicht zuletzt durch das Kindergeld. Dies gilt auch dann, wenn beide Ehegatten berufstätig sind und ihr gemeinsames Familieneinkommen zu den unteren und mittleren Einkommensgruppen gehört.
Allerdings — und das ist wohl auch der Grund, weshalb berufstätige Ehefrauen meinen, jetzt mehr belastet zu sein, wenn sie in Steuerklasse V monatlich mehr Lohnsteuer abführen als früher — sind die Steuerklassen für Ehegatten neu geregelt worden. Früher haben sich beiderseits verdienende Ehegatten oft darüber beklagt, daß sie noch eine Einkommensteuererklärung abzugeben und eine Nachzahlung zu leisten hätten. Um das zu vermeiden, wurden die Steuerklassen in der Weise neu geschnitten, daß der monatliche Lohnsteuerabzug in manchen Fällen höher ist als bisher, dafür aber die Einkommensteuervorauszahlungen und die Nachzahlungen weitgehend entfallen.
Beiderseits verdienende Ehegatten werden spätestens beim Lohnsteuerjahresausgleich oder bei der Veranlagung feststellen, daß auch sie entlastet werden, wenn sie den unteren und mittleren Einkommensgruppen angehören.
Allerdings kommt es auf das Familieneinkommen an, auf das, was Mann und Frau zusammen verdienen, und was sie zusammen an Steuern abgezogen bekommen.Der Ehemann hat, wenn die Ehefrau in Steuerklasse V besteuert wird, die Steuerklasse III. Und in dieser Steuerklasse zahlt er weniger als früher. Berufstätige Eheleute müssen also miteinander aufrech-
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10020 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Bundesminister Frau Dr. Fockenen. Dort, wo beide Eheleute in Steuerklasse IV eingestuft sind und sich höhere Belastungen ergeben, empfiehlt es sich, die Wahl der Steuerklasse zu überprüfen.
Wenn beiderseits verdienende Ehegatten jetzt dadurch Zahlungsschwierigkeiten haben, daß monatlich höhere Steuerabzüge mit Steuernachzahlungen für die Jahre 1973 und 1974 zusammentreffen, werden die Finanzämter nicht kleinlich verfahren. Der Bundesfinanzminister wird die Bundesländer bitten, in solchen Fällen Steuerstundung einzuräumen.
Die schlechtere Bezahlung, meine Damen und Herren, und die geringeren Aufstiegschancen der Frauen werden oft begründet mit dem Hinweis „Mädchen heiraten ja doch" oder „Frauen verdienen doch nur etwas hinzu". Diese Einstellung wird weder der Wirklichkeit noch den Erwartungen der Frauen gerecht. Es gibt Familien, deren wirtschaftliche Situation die Mitarbeit der Frau verlangt, und es gibt Familien, bei denen die alleinstehende, verwitwete oder geschiedene Frau für das Familieneinkommen weitgehend allein aufkommen muß.Die Koalition hat sich stets für eine fundierte Schul- und Berufsausbildung der Frauen eingesetzt, denn sie ist die Voraussetzung für eine echte Wahlmöglichkeit zwischen Familie, Beruf oder einer Kombination von beidem. Wir gehen nicht davon aus, wie so oft behauptet wird, daß jede Frau berufstäig sein soll. Dazu schätzen wir ihre Leistungen bei der Pflege und Erziehung der Kinder — vor allem in den ersten Lebensjahren — viel zu hoch ein. Aber wir wollen, daß die Frauen die Möglichkeit haben, einen Beruf auszuüben oder wieder in einen Beruf zurückzukehren, und zwar in einen Beruf, der ihnen mehr bietet als nur die Chance, Geld zu verdienen.Wer diese Einstellung vertritt, muß daraus auch die Konsequenzen ziehen: Frauen sind gleichberechtigte Partner am Arbeitsplatz mit dem gleichen Recht auf Arbeit. Sie sind nicht die Reservearmee des Arbeitsmarktes.
Nun hat uns die Arbeitsmarktstatistik der letzten Wochen kraß vor Augen geführt, daß die Frauen einen überproportional hohen Anteil an der Arbeitslosigkeit haben. Eine Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeit belegt jedoch, daß Frauen nicht von Natur aus eher ihren Arbeitsplatz verlieren, sondern auf Grund ihrer Berufsausbildung und der Arbeitszeitwünsche. Über 60 % der arbeitslosen Frauen haben keinen Berufsabschluß, und mehr als ein Drittel der arbeitslosen Frauen sucht eine Teilzeitbeschäftigung, und zwar fast ausschließlich für den Vormittag. Langfristig lassen sich diese Probleme nur durch ein höheres Ausbildungsniveau und eine gerechtere Aufgabenteilung zwischen den Ehepartnern beheben.
Die Koalition von SPD und FDP hat seit 1971 dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet. Das Bundesausbildungsförderungsgesetz ermöglicht, daß auch Mädchen in zunehmendem Maße eine qualifizierte Ausbildung erhalten und daß ihnen nicht aus finanziellen Gründen die Chance einer besseren Berufsausbildung verbaut wird. Für die Ausbildungsförderung stehen im Bundeshaushalt über 2 Milliarden DM zur Verfügung.Alarmierend ist die Situation bei der beruflichen Bildung. Jedes fünfte Mädchen in unserem Land erhält keine Ausbildung. Bei den Jungen — auch das ist schlimm genug — ist es immerhin nur jeder fünfzehnte. In Zusammenarbeit von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften muß es gelingen, daß mehr Mädchen als bisher einen Ausbildungsvertrag abschließen. Der Bund hat bis zum Ende vergangenen Jahres für 78 Berufe neue Ausbildungsordnungen geschaffen, die zum Teil durch eine Gliederung in einzelne Ausbildungsstufen den Ausbildungswünschen der Frauen besonders gerecht werden.Die Reform der beruflichen Bildung, die wir in diesem Frühjahr mit dem Entwurf für ein neues Berufsbildungsgesetz einleiten, wird weiter dazu beitragen, die Ausbildungssituation gerade auch der Mädchen zu verbessern. Wir wollen überbetriebliche Ausbildungsstätten verstärkt ausbauen. Modellvorhaben wenden sich mit einem besonderen Ausbildungsangebot an Jugendliche ohne Ausbildungsvertrag. Beide Vorhaben verbessern die Situation derjenigen Jugendlichen, die bisher die schlechtesten Startmöglichkeiten für einen qualifizierten Beruf haben. Darüber hinaus geben der Ausbau und die Neuordnung der beruflichen Weiterbildung gerade auch Frauen — auch wenn sie keine berufliche Erstausbildung haben — Gelegenheit zu einer staatlich anerkannten Berufsqualifikation.Meine Damen und Herren, das Jahr der Frau kann kein Jahr sein, in dem es einzig um die Frage geht: was kann die Bundesregierung, was kann der Gesetzgeber, oder auch: was können gesellschaftliche Gruppen für die Frauen tun? Meiner Meinung nach geht es wesentlich darum, daß die Frauen selbst sich ihrer politischen Macht, ihrer Handlungsmöglichkeiten und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewußt werden. Insbesondere die politischen Parteien und die Gewerkschaften müssen verstärkt dazu beitragen, daß eine solche Mobilisierung in Gang kommt.Eine Politik, die dem weiteren Ausbau des Sozialstaates verpflichtet ist, muß die Voraussetzungen und die Grundlagen für eine freie und gleiche Entfaltung und Lebensgestaltung aller Bürger schaffen und immer wieder neu sichern. Sie kann und muß Impulse zur Veränderung gesellschaftlichen Bewußtseins geben und ein allgemeines Reformklima schaffen, daß sich durch sichtbare soziale Fortschritte immer wieder erneuert. Sie kann aber nicht ein „richtiges" Bewußtsein z. B. über die Rolle der Frauen in unserer Gesellschaft per Gesetz verordnen.Nutzen wir das „Jahr der Frau" dazu, in gesellschaftlichen Bereichen und in den Einstellungen
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10021
Bundesminister Frau Dr. Fockeund Verhaltensweisen der Menschen die notwendigen Veränderungen herbeizuführen, damit über die formalen Rechte hinaus eine soziale Gleichberechtigung im umfassenden Sinn der Wirklichkeit näherkommt.
Ich danke der Frau Bundesminister und eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Wex.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vereinten Nationen haben das Jahr 1975 zum Internationalen Jahr der Frau erklärt. Aber ob das Jahr 1975 wirklich ein Jahr der Frau wird, ist damit noch gar nicht entschieden, kann auch nicht durch Beschluß der UNO entschieden werden, sondern hängt davon ab, ob alle Verantwortlichen an ihrem Platz und mit ihren Möglichkeiten den Willen der Vereinten Nationen Wirklichkeit werden lassen.
Es gibt nämlich keine Probleme der Frau, die nicht auch zugleich Probleme der jeweiligen Gesellschaft wären.
Diese thematische Einheit sollte bei allen Aktionen und Handlungen im Vordergrund stehen. Und auch die noch bestehenden Benachteiligungen vieler Frauen in der Bundesrepublik können nur gemeinsam beseitigt werden. Denn es geht doch nicht darum, eine isolierte Politik für die Frauen zu betreiben und sie sozusagen in einen „Schonraum" zu verbannen oder sie auf angeheizte Kampfplätze abzuschieben.
Es geht darum, die äußeren Bedingungen dafür zu schaffen, daß Frauen ihre vielfältigen Fähigkeiten nutzen können.
Diesem Jahre wäre sicher nicht gedient, wenn es Anlaß dazu wäre, neue Barrieren — etwa zwischen berufstätigen Frauen und Hausfrauen — aufzurichten, oder wenn es dazu diente, den welterhaltenden Unterschied der Geschlechter auf einen Gegensatz zwischen Mann und Frau einzuengen.
Nichts hat doch, meine Damen und Herren, der Gleichberechtigung mehr geschadet als die Tatsache, daß die Frauen freiwillig oder unfreiwillig männliche Verhaltensweisen zu imitieren versuchten. Mit einer Emanzipationsbewegung, die sich letztlich an den Maßstäben einer von Männern bestimmten Welt orientiert, wäre den Frauen international und in diesem Lande überhaupt nicht gedient.
Emanzipation ist im Kern eine gute Sache. Aberwas ist denn bei dem übertriebenen Emanzipationsgehabe herausgekommen? Die Frauen sind dochselber ganz unsicher geworden. Sie können ja dieses Wort zum Teil schon gar nicht mehr hören.
Und, meine Damen, letztlich kommt dann noch ein Erbarmen für die Männer dabei heraus,
das die Männer beleidigt und die Frauen nicht glücklich macht.
Bisher ist in der Debatte über das Internationale Jahr der Frau der internationale Aspekt viel zu kurz gekommen, obwohl er objektiv, das lassen wir uns doch gestehen, der wichtigere ist. Es geht doch zu allererst einmal um die Frauen in den Ländern, in denen sie noch so gut wie keine Rechte, dafür aber um so mehr Pflichten haben: Die Frau als Dienerin des Mannes, der über ihr Schicksal vollkommen bestimmt. Hier kann man doch die Probleme mit Händen greifen! 28% der erwachsenen Frauen in Lateinamerika sind Analphabeten, 57% der Frauen in Asien und mehr als 80 % der Frauen in Afrika. Vor diesem Hintergrund nehmen sich unsere Probleme, so ernst und dringend sie auch sind, doch sehr viel weniger dramatisch aus.
Was tut die Bundesregierung, um im Rahmen der Entwicklungshilfe an diesem internationalen Notstand etwas zu ändern? Wo ist die Initiative der Bundesregierung, die ihren Beitrag zur Behebung dieser speziellen Notstände beschreibt? Wir sollten das Jahr der Frau zum Anlaß nehmen, uns auch diesen Problemen verstärkt zu widmen.Für uns in der Bundesrepublik Deutschland könnte dieses Jahr auch zu einem Jahr der steigenden Arbeitslosigkeit werden mit all den Problemen, von denen wiederum die Frauen besonders hart und empfindlich betroffen werden. Nicht nur, daß Entlassungen zuerst die treffen, die an unqualifizierten Arbeitsplätzen beschäftigt sind — und das sind eben überdurchschnittlich viele Frauen —, auch die psychischen Belastungen einer Familie, in die die Arbeitslosigkeit mit all ihren Folgen eingefallen ist, fordert von den Frauen wieder einmal ein besonderes Maß an Umsicht und Integrationsfähigkeit.
Nach den Arbeitslosenzahlen vom Dezember 1974 sind 381 000 Frauen und 564 900 Männer arbeitslos gewesen. Bei einem Anteil von Frauen an den Arbeitnehmerzahlen von 34 % betrug ihr Anteil an den Arbeitslosenzahlen 41 %. Das ist die ganz aktuelle Situation in der Bundesrepublik zu Beginn dieses Jahres der Frau!
Ich stimme mit den Ausführungen von Frau Focke überein, daß dieses Problem ein Bildungsproblem ist und langfristig gelöst werden muß. Doch sollten wir die Arbeitslosigkeit der Frauen dazu nutzen, den in unqualifizierten Anstellungen beschäftigten durch besondere Ausbildungsprogramme die Mög-
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10022 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Frau Dr. Wexlichkeit zu einer Qualifikation zu eröffnen. Und dazu gehört eben mehr als ein Hinweis auf die Reform der beruflichen Bildung, die durch den Streit innerhalb der Koalition bisher ja blockiert ist.
Wir diskutieren in diesem Hause seit Jahren darüber, wie die Situation der Frauen in unserer Gesellschaft verbessert werden kann. Dieser Komplex unseres gesellschaftlichen Bereichs hat sich in den letzten Jahren in einem Maße zugespitzt, der nach Lösung auf der Basis eines tragfähigen Konzepts verlangt. Die Frauen in unserem Lande sind ja bereit, ihren Teil der Aufgaben an der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft zu leisten, und sie tun es ja auch.Der Bundesregierung allerdings mache ich den Vorwurf, daß es ihr bislang nicht gelungen ist, ein solches Gesamtkonzept, das die verschiedensten Aufgabenbereiche der Frau umfaßt, zu erarbeiten, geschweige denn zu realisieren. Die noch ungelösten Probleme der Frau — Mehrfachbelastung in Haushalt und Beruf, die Benachteiligung im Berufsleben, z. B. das Problem der Leichtlohngruppen, die gewachsenen Aufgaben innerhalb der Familie, die Situation der alleinstehenden Frau und der alten Frau— werden von der Bundesregierung eben nicht in einem Gesamtzusammenhang behandelt und gesehen, wie es nötig wäre.
— Sicher glaube ich das, sonst würde ich das gar nicht so entschieden vortragen.
— Frau Lepsius, melden Sie sich zu Wort, dann will ich Ihnen gerne antworten.Die Bundesregierung versucht vielmehr, durch Einzelmaßnahmen -- und, Frau Lepsius, dann werden Sie gleich hören, warum ich auf ein Gesamtkonzept eingehe —, die Bundesregierung versucht vielmehr, durch Einzelmaßnahmen — ich erinnere z. B. an das Projekt Tagesmütter — Mängel zu beseitigen, ohne diese Einzelmaßnahmen in ein Konzekt einzupassen. So wird aus der Notwendigkeit, Mängel zu beseitigen, nur eine bedauernswerte Mängelverlagerung. Es fehlt nämlich an Kraft, Prioritäten zu setzen.
Dieser — fast möchte man sagen — programmierten Konzeptlosigkeit stellt die CDU/CSU ihr Modell der verantworteten Wahlfreiheit gegenüber. Sie orientiert sich dabei an drei Prinzipien:Das Prinzip der Entscheidungsfreiheit — —
— Ich komme gleich auf Ihren Lernprozeß. — Das Prinzip der Entscheidungsfreiheit einschließlich der materiellen Entscheidungsmöglichkeit von Mann und Frau, ihr Selbstverständnis und ihre Rolle in Gesellschaft und Ehe jeweils frei zu finden und zu gestalten. Das bedeutet die Möglichkeit der freienPersönlichkeitsentfaltung für Mann und Frau und eine Absage an jede Form von ideologischen Leitbildern.
Hier hat die Regierungserklärung von Frau Focke gezeigt, daß die Bundesregierung versucht, einen Lernprozeß durchzumachen und sich dieser These unter dem Eindruck unserer Argumente anzuschließen. Von den Wahlergebnissen will ich in diesem Zusammenhang nicht reden.
Es bleibt nur abzuwarten, ob ihre Partei nicht weiterhin in ihren Organisationen und durch ihre Vertreter ganz andere Aussagen macht.Das Prinzip der anerkannten und gemeinsam wahrgenommenen Verantwortung von Mann und Frau für Gestaltung und Ordnung in Ehe und Familie und damit für die Gesellschaft bedeutet die Einbindung in eine soziale Verpflichtung, die mit den größeren Freiheitsmöglichkeiten doch immer Hand in Hand gehen muß.Das dritte Prinzip bezieht sich auf die gemeinsame Übernahme der Erziehungsfunktion gegenüber den Kindern.Wir messen der Wahlfreiheit der Frau eine besondere Bedeutung zu. Ihre Selbstverwirklichung im Beruf ist ihr selbstverständliches Recht. Aber Berufstätigkeit allein ist noch keine Gleichberechtigung, und Tätigkeit in Haus und Familie ist nicht etwa gleichbedeutend mit Rückständigkeit.
Die Hausfrauentätigkeit ist für uns Berufstätigkeit und ist für uns nicht nur verbal Berufstätigkeit, sondern wir haben Angebote gemacht, daraus auch die Konsequenzen zu ziehen. Beruf und Familie zu verbinden, erfordert von uns Initiative und Ideen. Und das muß nicht immer nur Geld kosten, meine Damen und Herren.
Aber es kostet etwas, was oft noch viel schwieriger zu erreichen ist als Geld, es kostet nämlich Umdenken. Eine Unterscheidung etwa zwischen Frauen nach ihren Funktionen in „Nur-Hausfrauen" und berufstätige Frauen schafft ein Klima, in dem die Partnerschaft — auch die partnerschaftliche Familie — nicht aufgebaut werden kann.
Während die Bundesregierung und die Koalitionsparteien einen wesentlichen Schritt zur Befreiung der Frau in der Entlastung der Frau von den Aufgaben in Familie und Erziehung sehen, wollen wir Mann und Frau in die Lage versetzen, diesen Aufgaben in dem gesellschaftspolitisch notwendigen Umfang gerecht zu werden. Das war unser Beweggrund, der uns veranlaßte, im vergangenen Jahr den Gesetzentwurf zur Gewährung von Erziehungsgeld in diesem Hause einzubringen, das besonders auch den alleinstehenden Müttern und weniger verdienenden Ehepaaren zugute käme.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10023
Frau Dr. WexDas ist keine Zu-Hause-Bleibens-Prämie, sondern das ist verbunden mit einer zusätzlichen Übernahme von Verantwortung. Mehr Freiheit bedeutet für uns eben immer gleich auch mehr Verantwortung. Das gilt auch für diesen Bereich. Es ist eine Illusion, zu glauben, Freiheit ohne Verantwortung schaffen zu können. Freiheit ist konkret und für den einzelnen nur erfahrbar in einem Zuwachs an Gerechtigkeit und Verantwortung für sein persönliches Leben.
Nach Meinung von Frau Focke soll die von der Bundesregierung angestrebte Neuordnung des Ehe- und Familienrechts als ein wesentlicher Beitrag zur Gleichberechtigung angesehen werden. Ich möchte sagen — obwohl wir uns grundsätzlich in der Ablösung des Verschuldungsprinzips durch das Zerrüttungsprinzip einig sind —: Dies ist ein Gesetzentwurf, der, würde er Gesetz, sich für die Schwächeren — und das sind nach Lage der Dinge heute in der Regel immer noch die Frauen — katastrophal auswirken würde.
Es schüfe für die Frauen nicht mehr Freiheit, sondern weniger Freiheit. Ich will hier gar nicht auf Einzelheiten eingehen.
Aber wir werden unsere ganze Überzeugungskraft dafür einsetzen, daß es keine Verstoßungsscheidungen gibt, daß eine materielle Härteklausel den schwächeren Teil der Partner schützt und daß das Prinzip der Ehe auf Lebenszeit auch in das Gesetz hineingeschrieben wird.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien sollten endlich einsehen, daß solche Elementargesetze auf breiten Konsensus angelegt und auf solchen breiten Konsensus angewiesen sind,
wenn sie einen Zuwachs an Gerechtigkeit bringen sollen.
Sie dürfen eben nicht auf Konfrontation und auf Konflikt angelegt sein, wie es auch in diesem Gesetz von seiten der Koalition wieder praktiziert wird. Aber das ist eben ein Teil der Strategie, die auf Konfliktbeschaffung beruht. Ein roter Faden zieht sich zu den Rahmenrichtlinien, die ja nicht deswegen marxistisch sind, weil etwas von Marx darin steht,
sondern weil sie auch die Erziehung auf Konflikte hin orientieren.
So schwierig die Fragen der Erziehung sind — und keiner von uns sollte meinen, daß er etwa mit herkömmlichen Vorstellungen und Erziehungsauskünften auskommt in einer Zeit, wo die Menschheit in der Lage ist, sich selber in die Luft zu sprengen —: Keine Frage ist, daß Neuorientierung da dringend nötig wird. Eines aber ist entscheidend: Unser Erziehungsziel kann nicht das Einüben von Konflikten sein, sondern allein und immer wieder das Einüben von Toleranz.
Beim Ehe- und Familienrecht ist zu fragen, ob so im Ernst ein Fortschritt der Gleichberechtigung der Frau aussehen kann oder ob die Bundesregierung nicht auf dem besten Wege ist, den wirklichen Fortschritt zu verbauen. Vorgesehen ist ein Versorgungsausgleich für die geschiedene Frau. Die Schaffung einer eigenständigen sozialen Sicherung für die nicht berufstätige Frau aber nur für den Fall, daß sie geschieden wird, ist außerordentlich problematisch. Es würde in Zukunft eine Ungleichbehandlung der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau eintreten. Es ist in der Tat zu fragen, ob es mit dem Grundgesetz, insbesondere mit dem darin verankerten besonderen Schutz von Ehe und Familie, vereinbar ist, daß die nicht erwerbstätige geschiedene Frau in den Schutz der eigenständigen sozialen Sicherung kommt, die Hausfrau in einer weiterbestehenden Ehe hingegen nicht.Dazu wird das Problem der Minirenten aufgeworfen. Die Halbierung der Ansprüche kann bei Scheidung zu Minirenten führen, die für beide Ehepartner nicht das Existenzminimum decken können. Die Folge wäre der Gang zum Sozialamt und praktisch eine Sozialisierung der Scheidungsfolgen. Eine Beitragsnachentrichtung, um für die Frau einen eigenen Rentenanspruch im nachhinein zu begründen, ist wegen der dann notwendigen finanziellen Mittel kein ernsthafter Ausweg. Hier sehe ich ein ganz großes Problem, über das sich die Fraktionen in diesem Hause noch einmal ausführlich mit der Bundesregierung unterhalten sollten.Es kann doch nicht das Ziel sein, die Sozialhilfeempfänger noch um etliche zu vermehren; denn wenn wir die Situation der älteren alleinlebenden Frau in der Bundesrepublik betrachten, sehen wir doch, daß sie bereits jetzt mehr als ernst ist. In der Bundesrepublik leben 7,4 Millionen Frauen über 60 Jahre, und davon sind 3,6 Millionen verwitwet. Ihre Altersversorgung reicht nicht aus, um ihnen ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben zu sichern.So mußten Witwen im Jahre 1974 mit durchschnittlichen Renten auskommen, die in der Arbeiterrentenversicherung bei 391 DM monatlich, in der Angestelltenversicherung bei 560 DM monatlich lagen. Dabei sind diese Durchschnittszahlen sogar noch geeignet, die tatsächliche Lage eines Großteils der Witwen zu verdecken; denn viele Witwen erhielten nur Renten in Höhe von 450 DM und weniger. Bei einer Verwirklichung der Vorschläge der Bundesregierung würde die dringend notwendige Gesamtneuregelung der sozialen Sicherung der
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10024 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Frau Dr. WexFrau in wesentlichen Fragen in eine Richtung präjudiziert, die zu sozialpolitisch unerwünschten Folgen führen könnte.
Es ist dringend erforderlich, die Reform der sozialen Sicherung der Frau im Falle der Scheidung in ein Gesamtkonzept der sozialen Sicherung der Frau einzupassen. Dieses Konzept muß der gewandelten Stellung der Frau in der Gesellschaft und den Intentionen des Grundgesetzes Rechnung tragen. Unsere Überlegungen zur Partnerrente sollten hier den Ansatzpunkt bieten.Meine Damen und Herren, wir haben es hier mit einer grundsätzlichen Auseinandersetzung zu tun, der wir uns auch im Jahr der Frau zu stellen haben. Im Spannungsfeld der Art. 2, 3 und 6 des Grundgesetzes mit den Prinzipien Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Schutz von Ehe und Familie, Anspruch und Schutz der Mutter betont die Bundesregierung einseitig das Prinzip auf freie Entfaltung der Einzelpersönlichkeit.
Eine Politik im Interesse aller Frauen bedeutet jedoch, diese Prinzipien in einer gegenseitigen Abhängigkeit zu sehen. Die politischen Initiativen der Bundesregierung — die Vorlage des Ehe- und Familienrechts und das Gesetz zur elterlichen Sorge —betonen jedenfalls immer in ihren Entwürfen einseitig einen Freiheitsbegriff, der in letzter Konsequenz zum Recht des Stärkeren über den Schwächeren werden muß. Das so oft zitierte Recht des Schwächeren wird abgebaut und in ein Recht des Stärkeren umgewandelt. Durch diese Gesetze künstlich geschaffene Gegensätze z. B. zwischen Eltern und Kindern dienen weitgehend einer Problematisierung empfindlicher Lebensbereiche, die sich gegen solche Eingriffe am wenigsten wehren können.
Frau Focke hat vorhin auch die Reform des § 218 angesprochen. Ich stimme mit ihr darin überein, daß es uns nicht erlaubt ist, vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine emotional geladene Diskussion zu führen.
In diesem Zusammenhang weise ich aber den Ausspruch von Frau Funcke, die Frauen würden eine Ablehnung der Fristenlösung nicht respektieren, als eine Mißachtung des obersten Gerichts, und ihre Anmaßung, für alle Frauen der Bundesrepublik zu sprechen, mit Entschiedenheit zurück.
Der Eindruck, daß die Bundesregierung die Probleme der Frau sehr verkürzt und oft zum Nachteil der Frau behandelt, wird unterstrichen durch eine frauenfremde Politik in den einzelnen Bundesländern und innerhalb der SPD.
Beide Bereiche gehören ja dazu, wenn wir über die gesellschaftspolitische Zielrichtung der Bundesregierung sprechen. Von den Rahmenrichtlinien und Lehrplänen in Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bis hin zu den Diskussionen in der SPD zieht sich wie ein roter Faden die Abwertung der Familie,
eines doch ganz wichtigen Lebensbereiches von Frau und Mann.
In den Unterlagen der Familienpolitischen Konferenz der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen wird deutlich, welche Strömungen die Politik der Bundesregierung mitbestimmen. Danach sind die von den Sozialdemokraten initiierten Reformen darauf angelegt, die Stellung des einzelnen Familienmitglieds zu stärken und damit „von der Institution Familie zu emanzipieren".
Im Klartext heißt dies doch nichts anderes als: die Institution Familie überhaupt in Frage stellen. Aber Emanzipation von der Familie bedeutet doch, die Familie mit Gruppierungen gleichzusetzen, die die Selbstverwirklichung verhindern. Es ist daher, fast möchte man sagen, nicht verwunderlich, daß eine positive Aussage zur ehelichen Gemeinschaft auf Lebenszeit fehlt.
Sie gehört nach Aussagen der SPD zu den überlieferten Leitbildern, die „fast automatisch eine Position der Herrschaft des Mannes und Vaters gegenüber Frau und Kindern entstehen läßt".
„Die lebenslange Gemeinschaft wird somit zu einem Mechanismus von Herrschaft und Unterdrückung." Es war sicherlich — —
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Emmerlich?
Frau Kollegin Wex, können Sie mir die Quelle für das von Ihnen eben verbreitete Märchen angeben, daß wir Sozialdemokraten die Ehe nicht als eine solche ansehen, die auf Lebenszeit abgeschlossen wird?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10025
Ich kann Ihnen die Quelle deswegen hier nicht vorlesen,
weil ich gerade dies hier nicht habe. Sie können ja mal Frau Eilers fragen, ob das nicht in ihren Unterlagen drinsteht,
und ich würde Sie mal fragen: wo steht denn eigentlich Ihre Sache drin,
wo Sie die Familie als Lebensgemeinschaft hier als solche bezeichnet haben?
Sie werden doch nicht bestreiten, daß gerade auch auf der Konferenz der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen versucht worden ist — von Herrn Brandt und von Frau Focke —, dieses besonders in den Mittelpunkt zu stellen. Dies ist ja gar nicht akzeptiert worden; Sie können es nicht bestreiten.
Ich wäre allerdings sehr interessiert, wo einmal von Ihnen das Zitat zu finden wäre „Die Ehe ist auf Lebenszeit angelegt und unersetzlich für eine freie Gesellschaft", — wenn Sie mir das herzeigen könnten!
Frau Abgeordnete, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein, nicht mehr.
Es war sicherlich kein Zufall, wenn im Zusammenhang mit der Sozialfunktion der Familie von Familie nicht die Rede ist, wenn davon gesprochen wurde, daß die fundamentalen Fähigkeiten wie Nahrungsaufnahme, Hygiene, Entwicklung der Motorik und der sinnlichen Wahrnehmung sowie der Sprache am besten in einer Gruppe eingeübt werden können. Mit keinem Wort wurde davon geredet, daß es vorrangige Aufgabe der Familie ist, dem Kind die bestmögliche Startchance für seine volle soziale Entfaltung zu vermitteln. Die Familie trage vielmehr noch immer nachhaltig zum Fortbestand der Ungleichheit in der Gesellschaft bei. Die Mutter wurde nur in Zusammenhang mit der Aussage erwähnt, daß die Mutter-Kind-Beziehung die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes einenge. Von Liebe und Zuneigung ist keine Rede. Das ist eine Politik, die mit der Wirklichkeit unserer Menschen in der Bundesrepublik nichts zu tun hat.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen:
1. Die CDU/CSU begrüßt das von den Vereinten Nationen ausgerufene Jahr der Frau. Wir sind der Meinung, daß die Bundesrepublik in der Lage ist, einen Beitrag dazu zu leisten. Das sollte vor allem auch im Rahmen der Entwicklungshilfe möglich sein.
2. Die Parteien des Deutschen Bundestages sollten die Chancen nutzen, in der Bundesrepublik ein Modell einer partnerschaftlichen Gesellschaft zu verwirklichen, das die Lebensbereiche der Frau, Familie oder Beruf oder beides, in einem richtigen Verhältnis gewichtet, vor allem aber die unersetzbare Aufgabe der Frau in der frühkindlichen Erziehung berücksichtigt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es gewesen, die die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft" bewirkt hat. Sie hat damit eine wichtige Plattform geschaffen, um zukunftweisende Modelle einer partnerschaftlichen Gesellschaft zu entwickeln.
3. Die Gleichberechtigung muß auf allen Lebensgebieten verwirklicht werden. Gleichberechtigung heißt für uns: auch eine eigenständige soziale Sicherung für alle Frauen und nicht nur für die geschiedenen Frauen. Daneben stehen Bildungs- und Ausbildungsprogramme für die Familien und die Arbeitswelt im Vordergrund.
4. Das Jahr der Frau ist für die CDU/CSU vor allen Dingen eine Herausforderung an die politische Phantasie. Politik in diesem Sinne ist für uns wesentlicher Bestandteil der gesamten Gesellschaftspolitik; die Sozialpolitik allein reicht dafür nicht aus, sie muß um die hier beschriebenen Dimensionen erweitert werden.
Die uns gestellten Aufgaben sind groß, ihre Lösung kann sicherlich nicht in einem Jahr erfolgen. Es sollte aber jetzt der Grundstein für einen Stufenplan gelegt werden.
Dieser Stufenplan hat drei Bedingungen zu erfüllen: Er muß erstens mit allen Bereichen der Politik abgestimmt sein, er muß zweitens praktikabel sein, und er muß drittens stufenweise im Rahmen des wirtschafts- und finanzpolitisch Möglichen verwirklicht werden können. Die Bundesregierung hat in ihrer Erklärung gezeigt, daß es zwischen Opposition und Regierung Ansatzpunkte zur Verbesserung der Situation der Frau gibt. Wir sind bereit, diese Ansatzpunkte auszubauen.
So ist denn das Internationale Jahr der Frau für uns alle zunächst eine Chance. Das ist wenig und viel zugleich, wenig, wenn wir es bei Deklamationen belassen, viel, wenn wir die Chance durch aktives politisches Handeln nutzen. Dieses Jahr hat seinen Zweck erfüllt, wenn es dazu beiträgt, daß solche Jahre in Zukunft überflüssig werden. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Eilers.
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10026 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Vereinten Nationen haben das Jahr 1975 zum „Internationalen Jahr der Frau" erklärt und ihre Mitgliedstaaten aufgefordert, in diesem Jahr die rechtliche und tatsächliche Situation der Frauen zu verbessern. Mit diesem Beschluß der 29. Vollversammlung der Vereinten Nationen wird die unbefriedigende Lage von Frauen in allen Ländern der Welt hervorgehoben. Wenn sich auch ihre Situation in den Industriestaaten und den Entwicklungsländern zunächst sehr unterschiedlich darstellt, so gibt es aber doch viele Probleme, die sich für alle Frauen gemeinsam stellen. Es gilt übereinstimmend, daß Frauen bis jetzt noch in keinem Land voll in die jeweilige Gesellschaft integriert sind, und das unabhängig von der jeweiligen Gesellschafts- und Staatsform. Insofern ist das von den Vereinten Nationen proklamierte „Internationale Jahr der Frau" als eine Aufforderung an alle Regierungen und Parlamente der Mitgliedsländer zu verstehen, die Situation der Frauen entscheidend zu verbessern, als eine Herausforderung an die Öffentlichkeit, sich den berechtigten Belangen der Frauen stärker anzunehmen als bisher.Nun hat Frau Kollegin Wex so getan, als könne zwischen Ehepartnern, die vor der Scheidungssituation stehen, zwischen Eltern und Kindern, im Zusammenleben von Menschen in unseren Gemeinschaften eine heile Welt praktiziert werden, so, als hätten wir noch eine Gartenlauben-Situation.
Ich glaube, daraus sind wir längst hervorgewachsen. Darüber hinaus wage ich zu bestreiten, daß es jemals diesen harmonisierenden Effekt gegeben hat, daß Menschen ohne Konflikte beieinder leben konnten.
Dies stellt sich selbstverständlich heute dar, auch in den Schulbüchern. Ich möchte zwar nicht weiter darauf eingehen, aber ich glaube, eines hat Frau Kollegin Wex vergessen: Unter all dem, was in diesem Hohen Hause an Trennendem vorhanden ist, sollte es auch gewisse Gemeinsamkeiten geben, die uns als Frauen am Herzen liegen.
Es ist nicht meine Absicht, über die Situation der Frauen — mit oder ohne Ideologie — zu philosophieren. Davon haben Frauen draußen im Lande nämlich nichts. Sie haben vielmehr einen Anspruch darauf, von der sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag zu erfahren, welche praktische Politik für sie getrieben worden ist und was weiterhin für Frauen in dieser Welt getan werden soll.
Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bedeutet dies, die mit der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt eingeleitete Politik für Frauen von Bundeskanzler Helmut Schmidt ausdrücklich bestätigt — konsequent fortzusetzen. Ich möchte hier nur daran erinnern, daß sich meine Partei seit jeher für die Frauen eingesetzt hat. Es warenSozialdemokraten, die als erste politische Partei das Frauenstimmrecht in ihr Programm aufgenommen
und sich tatkräftig für die Durchsetzung dieser demokratischen Grundforderung eingesetzt haben. Es war meine Partei, die gegen profitinteressierte Gruppen Kinderarbeit und inhumanste Formen der Frauenarbeit bekämpft hat.
So wie damals stehen wir auch heute auf seiten der sozial Benachteiligten und Schwächeren in dieser Gesellschaft. Dieses gilt — trotz aller erreichten Erfolge — noch immer für viele Frauen in unserem Lande.Unser Ziel ist es, die noch bestehende gesellschaftliche Ungleichheit für Frauen und alle faktischen Diskriminierungen zu beseitigen, allen Frauen zu sozialer Chancengleichheit zu verhelfen, um sie voll in unsere Gesellschaft zu integrieren. Dieses Ziel wird von uns weiterhin verfolgt werden. Meine Fraktion nimmt sich also — auch ohne die Proklamation eines besonderen Frauenjahres — dieser Bevölkerungsgruppe an. Daher wird die Politik zugunsten der Frauen nicht mit dem Jahre 1975 ihr Ende finden können.Dieses internationale Frauenjahr gibt uns Sozialdemokraten eine Gelegenheit, heute eine Art Bilanz zu ziehen, was in den vergangenen Jahren unter sozialdemokratisch geführten Bundesregierungen für die Frauen erreicht worden ist, in welchen Bereichen ihre Situation verbessert werden konnte, aber auch — wir wollen auf dem Erreichten keineswegs ausruhen — zu fragen, in welchen Bereichen verstärkt politische Anstrengungen zu unternehmen sein werden, um hier noch weitere Mangelsituationen aufzuarbeiten. In diesem Sinne wird von meiner Fraktion und Partei das von den Vereinten Nationen proklamierte internationale Frauenjahr begriffen, nämlich als eine Aufgabe, die sich den Gesetzgebern und Politikern in der Regierungsverantwortung, aber auch im vorparlamentarischen Raum allen gesellschaftlich relevanten Gruppen stellt, die sich als Interessenvertreter von Frauen betrachten.Durch die Proklamation dieses Frauenjahres soll zugleich auch eine breit angelegte öffentliche Diskussion in Gang gesetzt werden; denn trotz aller spektakulären Erfolge einzelner Frauen sind immer noch unhaltbare Vorurteile anzutreffen, die sich einer vollen Gleichberechtigung und allgemeinen Anerkennung entgegenstellen.Wenn der von den Sozialdemokraten gestellte Bundeskanzler im Herbst 1969 in seiner Regierungserklärung betonte, man müsse den Frauen noch mehr als bisher helfen, ihre gleichberechtigte Rolle in Familie, Beruf, Politik und Gesellschaft zu erfüllen, so ist damit nur die Spannweite von Schwierigkeiten und Benachteiligungen aufgezeigt, denen sich Frauen immer noch gegenübersehen.
Nach fünfjähriger Regierungsverantwortung durch Sozialdemokraten und Freie Demokraten kann ein
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10027
Frau Eilers
umfangreicher Forderungskatalog für Frauen abgehakt werden. Wünsche und Forderungen von Parteien, Gewerkschaften und Frauenverbänden, aber auch von politischen Aktionsgruppen sind von meiner Fraktion zusammen mit den Freien Demokraten aufgegriffen worden. Soweit es sich um Aufträge an den Gesetzgeber handelt, ist eine Fülle von Maßnahmen verabschiedet worden; in einigen Fällen dieses umfangreichen Gesetzespaketes ist die Ausschußarbeit — wenn ich zum Beispiel an die Eherechtsreform denke — zum größeren Teil abgeschlossen. Unbestritten ist es, daß noch nicht alle Probleme, nicht alle Wünsche von Frauen aufgearbeitet worden sind, soweit sie sich dem Gesetzgeber stellen. Ich möchte hier nur das Stichwort „eigenständige soziale Sicherung für alle Frauen" nennen.Doch ich muß auch an die Adresse der Opposition gerichtet mit aller Deutlichkeit folgendes feststellen: Die Versäumnisse einer zwanzigjährigen restriktiven CDU-Politik für Frauen
lassen sich nicht von heute auf morgen aufholen.
Seit 1970 ist durch die Mitwirkung dieses Parlaments und seiner stärksten Fraktion, nämlich der sozialdemokratischen, mehr für Frauen in Gang gesetzt worden als in den vorhergegangenen 20 Jahren unter CDU-geführten Bundesregierungen.
Das wissen Frauen, das wissen ihre Gewerkschaften und die Frauenorganisationen selbst, die ja heute hier Zeugen unserer Debatte werden.
Sie wissen aber auch, wer ihnen im Jahre 1972 die zum Greifen nahegerückte Chance, ein Baby-Jahr gutgeschrieben zu bekommen, vereitelt hat. Das war die CDU.
Die folgenden Maßnahmen, eingebracht von der SPD/FDP-Bundesregierung oder der sie tragenden Koalitionsfraktionen, haben uns der angestrebten sozialen Chancengleichheit von Frauen in unserer Gesellschaft ein bemerkenswertes Stück nähergebracht. Der entscheidende Durchbruch gelang mit einem Vorhaben des ersten sozialdemokratischen Justizministers, des Bundespräsidenten a. D. Gustav Heinemann, nämlich die rechtliche Diskriminierung der nichtverheirateten Mutter und ihrer Kinder endgültig zu beseitigen.
Mit dem Arbeitsförderungs- und Berufsausbildungsgesetz ist insbesondere den Frauen Gelegenheit gegeben worden, auch in späteren Jahren eine Berufsausbildung nachzuholen oder nach längerer, meist familienbedingter Arbeitsunterbrechung wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können.Mit der Öffnung der Rentenversicherung für Hausfrauen ist der entscheidende Einstieg für eineeigenständige soziale Sicherung aller Frauen gemacht worden. Weitere Schritte in dieser Richtung werden folgen, wobei dieses Ziel nur als langfristige, schrittweise zu verwirklichende Aufgabe gesehen werden kann, wie bereits in der Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode festgestellt wurde. Es stimmt nicht mehr, was Frau Wex sagte: daß der überwiegende Teil der dreieinhalb Millionen alten Frauen und Witwen in unserem Lande unter dein Existenzminimum lebt. Dafür haben wir durch die Neuberechnung der Renten nach Mindesteinkommen gesorgt.
Durch diese Rentenberechnung nach Mindesteinkommen wurden soziale Ungerechtigkeiten der Vergangenheit für viele Arbeitnehmer beseitigt. Sie hatten wegen einer zu schlechten Entlohnung keine Chancen, eine auskömmliche Altersrente auszubauen. Niemand von uns kann sich überrascht zeigen, daß dieses Gesetz in erster Linie den unterbezahlten Arbeitnehmerinnen zugute kommt.
Frau Kollegin Eilers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geisenhofer?
Bitte!
Frau Kollegin Eilers, ist Ihnen bekannt, daß die SPD den von Ihnen angesprochenen Antrag zur Einführung des Baby- Jahres im Plenum nicht gestellt hat, so daß ihn die Union gar nicht ablehnen konnte, und ist Ihnen bekannt, daß die Einführung der Rente nach Mindesteinkommen eine Initiative der CDU/CSU ist,
die gerade den Frauen soviel geholfen hat?
Ich muß Ihnen sagen: Ich weiß, daß 1972, in der letzten Phase der damaligen Bundesregierung, dieses Baby-Jahr von Ihnen kaputtgemacht worden ist.
Ich weiß, daß Ihre Partei im Ausschuß und auch im Plenum mitgestimmt hat, als die Neuberechnung der Rente nach Mindesteinkommen zur Entscheidung stand.
Meine Fraktion ist darüber hinaus darum bemüht, die unwürdige Diskriminierung von Frauen in der Entlohnung überhaupt zu beseitigen, selbstverständbei voller Wahrung der Tarifautonomie. Ich möchte heute und an dieser Stelle an die Tarifvertragsparteien appellieren, bei den anstehenden Tarifverhandlungen noch bestehende Leichtlohngruppen abzuschaffen, gerechtere Bewertungskriterien für die Arbeit von Männern und Frauen zu finden. Von privaten und öffentlichen Arbeitgebern erwarten wir,
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10028 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Frau Eilers
daß Frauen innerbetrieblich nach den vereinbarten Lohnkriterien dann auch gerecht eingruppiert werden. Ein Land wie die Bundesrepublik, das in der Lage ist, Arbeitsplätze für Millionen von Ausländern zu schaffen, sollte wohl auch in der Lage sein, eine gerechte Entlohnung und damit eine entsprechende soziale Absicherung aller in diesem Lande beschäftigten Arbeitnehmerinnen zu erreichen.
Mit der bezahlten Freistellung berufstätiger Elternteile von der Arbeit, wenn ein im Haushalt lebendes kleines Kind erkrankt ist, konnten wir helfen, mit familiären häuslichen Pflichten belastete Personengruppen zu entlasten. Mütter kleiner Kinder erhalten eine Haushaltshilfe oder ein angemessenes Entgelt für eine solche Hilfe, wenn sie selbst schwer erkrankt sind oder sich einem ärztlich verordneten Kuraufenthalt unterziehen müssen.
Ich glaube, das ist ein maßgeblicher Schritt, der hier getan worden ist, um jungen Frauen wirklich einen Regenerationsprozeß zu ermöglichen.Durch das Heimarbeitsgesetz konnte die rechtliche und finanzielle Situation vieler besonders schutzbedürftiger Frauen verbessert werden, die sich zu Hause noch etwas hinzuverdienen wollen.Seit Beginn dieses Jahres erwerben die Kinder einer deutschen Mutter und eines ausländischen Vaters bei der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit. Vor Inkrafttreten dieser Änderung des Reichs-und Staatsangehörigkeitsgesetzes geborene Kinder können durch einfache Erklärung die 'deutsche Staatsangehörigkeit nachträglich erwerben. Damit ist einem berechtigten Anliegen der Frauen aus sogenannten gemischt-nationalen Ehen entsprochen worden.Weiterhin ist in diesem keinesfalls vollständigen Katalog die Reform der Ehe- und Familienrechtsgesetzgebung zu nennen. Ein Teilstück daraus, das Namensrecht, steht morgen im Parlament zur Entscheidung an. Mit diesem Gesetz wollen wir die rechtlichen Grundlagen für die Partnerschaft in der Ehe schaffen. Mit der für dieses Jahr vorgesehenen Verabschiedung des gesamten Gesetzeswerks haben wir dann die rechtliche Gleichstellung der Frau innerhalb der Familie erreicht. Die sogenannte Hausfrauenehe ist dann nicht länger gesetzlich fixiert, vielmehr gehen wir davon aus, daß die Ehepartner die Aufgabenverteilung in der Ehe in gegenseitigem Einverständnis regeln können. Eine Frau soll nach unseren Vorstellungen an allen Entscheidungen beteiligt sein, die sie, ihren Ehepartner und ihre Kinder betreffen. Jede Tätigkeit für die Familie und im häuslichen Bereich ist der Erwerbstätigkeit des anderen Partners gleichzusetzen.Konsequent und folgerichtig soll daher eine Frau, die sich während ihrer Ehe ganz oder überwiegend der häuslichen Pflicht gewidmet hat, auch an der Alterssicherung ihres Partners beteiligt sein, wenn die Ehegemeinschaft aufgelöst wird. Wir betrachten es heute als selbstverständlich, daß Anrechte auf Altersversorgung auf eine Frau übergehen, derenMann verstorben ist. Es ist daher nach den Vorstellungen meiner Fraktion nur sozial gerecht, die ses Partnerschaftsprinzip künftig auch bei Auflösung einer Ehe durch Scheidung anzuwenden. Im Eherechtsreformgesetz ist eine solche soziale Absicherung der wirtschaftlich schwächeren Ehepartner im Falle der Scheidung vorgesehen. Dabei sind durchaus im Sinne der von uns vertretenen sozialen Chancengleichheit solche Fälle denkbar, in denen eine gutverdienende Ehefrau Anrechte auf Absicherung an ihren Partner abzutreten hat. Auch unter dieser rechtlichen Konstruktion, dem Versorgungsausgleich, verstehen wir Partnerschaft.Es wird sich in den Ausschußberatungen der nächsten Monate zu erweisen haben, ob und inwieweit die Opposition in diesem Hause uns hierin folgt. Dann wird sich zeigen, ob es der Opposition ernst ist mit ihrer später entdeckten Partnerschaftsrente. Denn in den abschließenden Beratungen des Versorgungsausgleichs, die in Kürze im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung sowie im Rechtsausschuß aufgenommen werden, soll erstmalig ein solches Rentensplitting angestrebt werden, das zunächst nur für geschiedene Partner gilt. Bis jetzt hat die Opposition im Deutschen Bundestag nicht erkennen lassen, ob sie dieses Grundkonzept mitzutragen bereit ist, ob sie eine Partnerrente also wirklich anstrebt. Ich möchte sagen, wir sehen in dieser Möglichkeit, hier eine Gesetzeskonzeption zu fassen, einen ersten Schritt, um damit auch die soziale Sicherung der Frau im allgemeinen später weiter zu entwickeln.
Die im übrigen von der CDU/CSU angestellten Modellüberlegungen zur Partnerrente betonen allzu-deutlich die Vorteile eines neuen Rentensystems, dafür werden die beträchtlichen Nachteile aber verschwiegen. Wenn die Opposition angeblich eine gerechte Verteilung der Rentenansprüche erreichen will, die Rentner besser stellen und Zeiten der Kindererziehung bis zum dritten Jahr als Beitragsjahre anrechnen will, soll sie sagen, mit welchen Kosten dies verbunden ist, und welche Finanzierungsvorschläge sie hierfür unterbreitet. Die von der CDU/CSU demgegenüber behauptete Kostenneutralität muß daher auf das heftigste bestritten werden, zumal bisher keinerlei Zahlen auf den Tisch gelegt worden sind und wir immer wieder versucht haben, von den politischen wie parlamentarischen Gremien der CDU/CSU dazu Aussagen zu bekommen; das ist nicht möglich gewesen, auch nicht bei sogenanntem Hinterfragen, wie man es heute gern nennt.
Daher muß ich also annehmen, daß es sich um einen schlichten Etikettenschwindel handelt, genauso wie die verbal vorgebrachte Forderung eines Erziehungsgeldes,
die dann aber im Ausschuß nicht weiter verfolgt wurde, einen solchen darstellt.Eine weitere wesentliche Arbeit dieses Parlaments und seiner Ausschüsse bestand in der von den Koa-
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Frau Eilers
litionsfraktionen eingebrachten Gesamtreform des Schwangerschaftsabbruchs, d. h. also der Änderung der strafrechtlichen Bestimmungen. Insbesondere soll hiernach mit sozialpolitischen Mitteln und Maßnahmen das ungeborene menschliche Leben besser als bisher geschützt werden. Wir hatten hierzu den Spruch des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe bereits für gestern erwartet, er ist aber kurzfristig verschoben worden. Ich bedaure dies außerordentlich, denn Gerüchte und Spekulationen um ein Urteil des obersten Gerichtes haben dazu beigetragen, eine erhebliche Unsicherheit zu verbreiten, vor allem bei den in dieser Frage ganz besonders engagierten und betroffenen Frauen. Gerüchte und Spekulationen können für mich und meine Fraktion nicht Gegenstand politischer Stellungnahmen sein.
Für uns gilt — ich zitiere hier mit Genehmigung der Frau Präsidentin —:Die Neuordnung des Verhältnisses der auf den Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens gerichteten Maßnahmen zueinander weist Staat und Gesellschaft mehr als bisher in die Aufgabe ein, Anwalt für das Lebensrecht des ungeborenen Menschen zu sein.Dieses Zitat aus der vom Deutschen Bundestag angenommenen Entschließung bekräftigt nochmals unsere Haltung zu dieser Frage. Im übrigen fügt sich das verabschiedete Gesetz auch an die in Osterreich und Frankreich vor kurzem in Kraft getretenen Regelungen an. Daran zeigt sich noch einmal, wie sehr die von der sozialliberalen Koaliation getragene Reform des § 218 mit der europäischen Rechtsentwicklung in Einklang steht.
Ich darf noch einen weiteren Punkt aus der erwähnten Entschließung anführen. Danach hat sich der Deutsche Bundestag in die Pflicht genommen, weiter auf kinderfreundliche und kindgemäße soziale Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland hinzuarbeiten. In wörtlicher Auslegung dieser Entschließung, Schwangeren, Kindern und Müttern zu helfen, ist meine Fraktion entschlossen, das geltende Mutterschutzgesetz zu novellieren. Die Koalitionsfraktionen werden hierzu einen Initiativantrag einbringen. Dabei möchte ich ausdrücklich betonen, daß es in der gegenwärtigen Arbeitsmarkt- und allgemeinen wirtschaftlichen Lage nicht darum gehen kann, die bestehenden Mutterschutzfristen auszuweiten. Insofern möchte ich die Erwartungen der Arbeitnehmerinnen und ihrer Gewerkschaften im Moment nicht zu hoch schrauben. Aber unabhängig davon gibt es inzwischen eine Fülle von notwendig gewordenen Änderungswünschen, um deren Realisierung wir uns in der nächsten Zeit bemühen werden.Meine Fraktion setzt also mit diesem Gesetzgebungsvorhaben ihre bisherigen Bemühungen fort, eine konstruktive Politik zugunsten von Frauen durchzuführen. Eine Arbeitsgruppe meiner Fraktion,der Kolleginnen und Kollegen angehören, ist im übrigen damit befaßt, bei jeder Gesetzgebung kritisch mitzuprüfen, ob die beabsichtigten Regelungen so konzipiert sind, daß sie den Abbau der gesellschaftlichen Benachteiligungen der Frauen nachhaltig fördern.Erfreulicherweise sind sich Frauen gerade in den vergangenen Jahren in zunehmendem Maße ihrer politischen Rolle und Verantwortung in der Gesellschaft bewußt geworden. In einem sehr wesentlichen Bereich allerdings blieben solche Erfolge bisher aus: Die politische Repräsentanz von Frauen im Deutschen Bundestag ebenso wie in den Parlamenten von Ländern, Gemeinden und Gebietskörperschaften ist unzureichend und entspricht zumeist nicht einmal dem Organisationsgrad in ihren Parteien. So fragt sich meine Partei, an der Spitze ihr Vorsitzender, ob es denn wirklich so weitergehen kann, daß Frauen bei der Besetzung öffentlicher Ämter und bei Wahlen in so extremer Weise übergangen werden. Diesem Problem werden wir uns in nächster Zeit innerparteilich verstärkt widmen. Da dieses im übrigen kein spezielles Problem einer Partei ist, könnte es auch eine dankenswerte Aufgabe der Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft" sein, sich dieser Frage anzunehmen. Wenn ich also eine stärkere Repräsentanz von Frauen im Deutschen Bundestag fordere, dann geschieht das nicht aus billigen Proporzgründen. Ich meine vielmehr, daß Frauen aus ihren speziellen Erfahrungsbereichen heraus die Gesetzgebungsarbeit dieses Hauses bereichern und wesentliche Anregungen vermittelnd mitgestalten sollen.
Wenn auch seit Bestehen des Deutschen Bundestages diesem Haus stets relativ wenige Parlamentarierinnen angehört haben, so darf ich doch mit einigem Stolz auf frühere Fraktionskolleginnen verweisen, die hier Vorbildliches geleistet haben: Elisabeth Selbert, die bereits im Parlamentarischen Rat dabei war, hat an dem in unserem Grundgesetz verankerten Gleichberechtigungsgebot maßgeblichen Anteil. Jeanette Wolff hat sich insbesondere der jüdischen Mitbürger angenommen und sich der materiellen Wiedergutmachung der im Dritten Reich begangenen Unrechtstatbestände gewidmet. Als weitere Gruppenvertreterin darf ich hier Lisa Korspeter nennen, die morgen ihren 75. Geburtstag begehen wird.
Sie hat sich hauptsächlich dafür eingesetzt, Flüchtlinge und Vertriebene wieder einzugliedern. Louise Schroeders verdienstvolle Arbeit in diesem Hause, aber auch während einer besonders schwierigen politischen Phase in Berlin möchte ich ebenso hervorheben wie die weitgespannte politische Arbeit meiner Fraktionskollegin Helene Wessel.Die verdienstvolle Arbeit der ersten Ministerin, die von meiner Fraktion gestellt wurde, Käte Strobel, deren politische Initiativen zum Teil noch in dieser Legislaturperiode aufgearbeitet werden — wenn ich z. B. an die kürzlich verabschiedete Lebensmittelrechtsreform denke —, in die ich selbstverständlich auch die nicht namentlich genannten
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10030 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Frau Eilers
weiblichen Fraktionsmitglieder einbeziehen möchte, wird von den Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion weitergeführt werden.
Ich möchte dabei aber auch zwei Frauen erwähnen, die auf der anderen Seite dieses Hauses saßen. Ich weiß, welche Verdienste sich Helene Weber und Dr. Marie-Elisabeth Lüders (FDP) in diesem Hause erworben haben.
Die Frau voll in die Gesellschaft zu integrieren, sie in allen Lebensbereichen, in der Familie, am Ausbildungs- und Arbeitsplaz, in den Körperschaften meiner Partei, im öffentlichen Leben überhaupt zu einer Partnerin mit gleichen Rechten und Pflichten werden zu lassen, bleibt das politische Ziel meiner Partei. Wir werden — und das sollte realistischerweise nochmals gesagt werden — eine solche soziale Chancengleichheit für Frauen weder von heute auf morgen realisieren noch durch Gesetze gewissermaßen von oben verordnen können. Verordnen wollen wir aber auch kein allgemeinverbindliches Leitbild der Frau, auch nicht das einer berufstätigen Frau. Diese von der Opposition immer wieder verbreitete Behauptung kann auch nicht durch ihre ständige Wiederholung an Wahrheitsgehalt gewinnen. Wir treten für die Wahlfreiheit der Frauen ein. Sie sollen sich zum gegebenen Zeitpunkt zwischen beruflichen und familiären Pflichten frei entscheiden können oder eine Kombination von beidem anstreben. Dies setzt jedoch voraus, daß sie ihre Wahl wirklich frei treffen können, daß sie einen Beruf erlernt haben, der ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Haben sie sich jedoch für eine außerhäusliche Tätigkeit neben der Familie entschieden, dürfen wir sie nicht mit dieser Doppelbelastung allein lassen, dan müssen wir ihnen entsprechende Hilfen an die Hand geben.
Ich bin mir durchaus bewußt, daß den Frauen dadurch eine erhebliche Last aufgebürdet wird, die sich oft bis zur Unzufriedenheit steigern kann. Die Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Lebensbereichen entscheiden zu können, bringt ihnen zugleich auch die Pflicht der Entscheidung. Entscheiden können bedeutet Selbständigkeit und Emanzipation.Ein Appell sei auch hier an die Männer in unserer Gesellschaft gerichtet, an die politisch Verantwortlichen ebenso wie an die Millionen von Männern, die echte Partner von Frauen sein wollen. Für die von uns Sozialdemokraten angestrebte volle Integration der Frauen können Staat und Gesellschaft zwar Hilfen anbieten, teils um die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, teils um unerträgliche Belastungen zu mindern; damit müssen aber auch die tätige Mithilfe, das Nachdenken und wohl nicht selten auch ein Umdenken der Männer in unserer Gesellschaft einhergehen, um die Gleichberechtigungsprinzipien zum Durchbruch kommen zu lassen.
Den Frauen der Bundesrepublik sei daher heute noch einmal das Motto, das sich sozialdemokratische Frauen für dieses Internationale Jahr der Frau gesetzt haben, zugerufen: Klagt nicht — organisiert euch!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Christ.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich entnehme dem Beifall, daß meine Fraktion die richtige Entscheidung getroffen hat, hier nicht wiederum eine Frau über dieses Thema sprechen zu lassen. Wir haben das ganz bewußt getan, weil wir der Meinung sind, daß das ein Thema ist, das nicht nur hier im Hause die männlichen Kollegen angeht, sondern auch draußen in der Gesellschaft. Das ist auch einer meiner Leitsätze, die Sie in dieser Rede spüren werden.Die FDP begrüßt zwar die Proklamierung eines Internationalen Jahres der Frau. Allerdings haben wir — und das will ich nicht verhehlen — eine gewisse Skepsis, ob es uns damit wirklich gelingt, einen entscheidenden Durchbruch für die berechtigten Interessen aller Frauen zu initiieren. In einer von Männern seit Jahrhunderten geprägten Kultur besteht eben zweifellos die Gefahr, daß die Formulierung „Jahr der Frau" dazu führen kann, daß die Männer in den notwendigen Umformungsprozeß nicht mit einbezogen werden. Genau das aber ist die entscheidende Voraussetzung, wenn es uns gelingen soll, eine tatsächliche Gleichberechtigung der beiden Geschlechter zu erreichen.
Nur wenn auch der Mann bereit ist, seine Rolle zu überdenken und neu zu definieren und der Frau in einem partnerschaftlichen Denken und Handeln gegenüberzutreten, nur dann wird es möglich sein, das Ziel der Emanzipation zu erreichen oder, wie ich bescheiden sagen will, diesem Ziel ein Stückchen näher zu kommen.Die Diskriminierung der Frau ist kein Problem, das nur die Frauen allein anginge und das von den Frauen ohne oder, wie wir es erleben müssen, gar gegen die Männer gelöst werden will. Aus dieser Erkenntnis heraus ist meine Fraktion der Auffassung, daß wir der Proklamierung des Jahres der Frau hier in diesem Lande den Appell hinzufügen sollten, dieses Jahr zu einem bewußten Jahr der Partnerschaft zu machen.
In einer Zeit, in der viele traditionelle Wertvorstellungen und Normen in Frage gestellt werden und zunehmend auch ihre Gültigkeit verlieren, wird auch die Frau von diesem Prozeß der Verunsicherung und der Neuorientierung ergriffen. Ganz offensichtlich ist eine Vielzahl unserer Frauen auf der Suche nach einer neuen Identität und sprengt dabei die Fesseln der alten Rollenbilder. Unabhängig von der derzeitigen Arbeitsmarktsituation ist doch fest-
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Christzustellen, daß die Zahl der Frauen wächst, die nicht so sehr aus ökonomischen Gründen als aus anderen Motiven unzufrieden mit ihrer Hausfrauen- und Mutterrolle sind und die mangelnde Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung in einer beruflichen Tätigkeit suchen. Dieser Vorgang wird in seinen tieferen Ursachen unverständlich bleiben, wenn man nicht einen kurzen geschichtlichen Rückblick über den Strukturwandel der Familie hier anstellt.Das traditionelle Leitbild der Familie mit der Unterscheidung der Rolle des Mannes draußen und der Rolle der Frau drinnen ist von der Natur in dieser starren Abgrenzung nicht vorgegeben. Es ist dies das Leitbild einer bürgerlichen Gesellschaft im industriellen Zeitalter, in der sich die Arbeitsstätte vom Familienhaushalt löste. Mit der Trennung von Arbeitswelt und Familie wurde der unterschiedliche Schwerpunkt arbeitsteiliger Aufgaben zur abgegrenzten Rollenverteilung. Diese Rollenverteilung verfestigte sich schließlich in neue Wertvorstellungen, in Wertvorstellungen, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen. Der Mann verlor damit viel von seinem unmittelbaren Einfluß auf die Erziehung der Kinder, wie auch umgekehrt die Frau ihren Einfluß auf die Gestaltung der Gesellschaft außerhalb der Familie verlor. Damit entstand das, was wir die vaterlose Familie und die mutterlose Gesellschaft nennen und sicherlich auch beklagen müssen.Diese wirtschaftlich-technische Neuorganisation unserer Gesellschaft wurde begleitet von einem entscheidendenden strukturellen Wandel in der Familie, der sich in der Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie dokumentiert. Mit diesem Strukturwandel war die Ausgliederung familieneigener Aufgaben in die außerhäusliche Berufswelt, in die karitativen Organisationen und in die staatliche Politik verbunden. Dieser Ausgliederungsvorgang hat schließlich dazu geführt, daß der Einfluß und der Tätigkeitsradius der Frau immer mehr zusammengeschrumpft ist. Eine ausschließliche Beschränkung auf den familiären Lebensraum wird gerade von denjenigen Frauen als besonders einengend empfunden, die durch entsprechende schulische Bildung und frühere berufliche Tätigkeit ihre weitergehenden Fähigkeiten erproben konnten. Die Familie ist eben in der heutigen gesellschaftlichen Realität von einer Vielzahl gesellschaftlicher und öffentlicher Aufgaben abgeschnitten, von Aufgaben, die zur vollen Lebenswirklichkeit des Menschen gehören und die vor allem unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung durch Mitgestaltung an der Gesellschaft gesehen werden müssen.Diese notwendige Feststellung soll in keiner Weise die Leistungen unserer Frauen schmälern, die sich — aus welchen Gründen auch immer — auf die Hausfrauen- und Mutterrolle beschränken oder beschränken müssen. Aber es sollte mit dieser Feststellung deutlich gemacht werden, daß das Ausmaß an Sensibilisierung für diese Problematik, das wir heute bei unseren Frauen antreffen, ein Hinweis darauf ist, daß immer mehr Nur-Hausfrauen die unzureichenden Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung erkennen und dies auch entsprechend artikulieren.Der kurze geschichtliche Aufriß hat deutlich gemacht, daß ein Zusammenhang zwischen der technisch-wirtschaftlichen und arbeitsteiligen Organisation unserer Gesellschaft einerseits und der Rolle der Frau andererseits besteht. Wir haben es also — und das möchte ich mit allem Nachdruck unterstreichen — abgesehen von der Mutterschaft nicht mit einer natürlichen Rollenverteilung nach geschlechtsspezifischen Merkmalen zu tun, sondern mit einer Rollenverteilung, die sich — wenn auch aus veränderbaren Eigengesetzlichkeiten — aus unserer derzeitigen wirtschaftlichen arbeitsteiligen Organisation ergibt.Es wäre zweifellos gefährlich, von der einseitigen und ursprünglichen Verherrlichung der Hausfrauen- und Mutterrolle auf die Propagierung eines neuen Leitbildes überzuwechseln, nämlich des der berufstätigen Frau oder insbesondere der berufstätigen Ehefrau. Niemand will eine verheiratete Frau auf ein neues Leitbild der berufstätigen Frau mit zusätzlichen Familienaufgaben verpflichten. Aber es gilt angesichts der wachsenden Zahl berufstätiger Mütter, die damit verbundene Mehrfachbelastung der Frau zu sehen und durch verständige Maßnahmen abzubauen.
Das geht aber nicht ohne eine Besinnung über die Neubestimmung der Rolle des Ehemanns und des Vaters in der Familie. Die Partnerschaft, die wir anstreben, verlangt die Beteiligung des Vaters an der Erziehung der Kinder und auch seine Bereitschaft, andere familiäre Aufgaben mit zu übernehmen. Dann wird auch der Mann feststellen, was es heißt, von der Mehrfachbelastung der Frau zu sprechen. Ich habe es bis jetzt nicht erlebt, daß dieses gleiche Schlagwort auch im Zusammenhang mit der Betrachtung der männlichen Rolle erwähnt wird.An dieser Stelle möchte ich einen — und das betone ich — scheinbar utopischen Gedanken einführen, dessen Realisierung eigentlich erst die Grundvoraussetzung für eine optimale partnerschaftliche Rollenverteilung schafft. Erst durch ein gewisses Maß an Arbeitszeitverkürzung wird dem Mann die Möglichkeit eröffnet, sich anderen Aufgaben zu widmen, und umgekehrt der Frau die Möglichkeit gegeben, sich nicht nur in der Familie, sondern auch in der Gesellschaft, z. B. in Form von beruflicher Tätigkeit, wie auch immer, zu engagieren. Wenn dies ergänzt wird durch ein ausreichendes Angebot an öffentlichen Dienstleistungen, wie z. B. Kindergärten und Ganztagsschule, dann erst ist das Ziel der Gleichberechtigung im Sinne einer Chancengleichheit erreicht. Erst dann besteht die Freiheit zu einer Entscheidung im partnerschaftlichen Geist, wie die Partner die gemeinsamen Aufgaben verteilen wollen.Dieser kleine Ausflug in eine scheinbar utopische Zukunft sollte eigentlich nur eines deutlich machen, nämlich wie weit wir heute noch von einer tatsächlichen Chancengleichheit entfernt sind. Aber schon im Land der Realitäten, nämlich im Jahr 1975, bleibt
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10032 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Christuns eine Vielzahl von ungelösten Problemen, die uns verpflichten, unserem selbstgesteckten Ziel der Gleichberechtigung der Frau ein weiteres Stück näherzukommen.Ich möchte gern vier Bereiche ansprechen, in denen die ungleiche Behandlung der Frau, ja, teilweise sogar die Diskriminierung der Frau zum Ausdruck kommt. Das ist erstens der Bereich der formalen rechtlichen Gleichstellung, zweitens der Bereich der sozialen und materiellen Gleichstellung, drittens der Bereich der Problematik der Bildung und Ausbildung von Frauen und schließlich viertens der Bereich der Wertnormen und der Rollenleitbilder.Zum ersten Punkt, nämlich der formalen rechtlichen Gleichstellung der Frau, können wir mit einiger Befriedigung zumindest in diesem Lande feststellen, daß dieses Ziel am meisten verwirklicht ist. Mit der Reform des Ehe- und Familienrechts, die wir in dieser Legislaturperiode noch verabschieden werden, setzen wir einen sehr wichtigen Schlußpunkt unter unser Bemühen, die tatsächliche rechtliche Gleichstellung der Frau in unseren Gesetzen zu verankern. Allerdings, die neue Rechtsetzung des Gesetzgebers wird nicht automatisch zu einer neuen Rechtswirklichkeit in der Lebensgestaltung der Ehepartner führen. Mit der Verpflichtung zur gemeinsamen Verantwortung der Eheleute aber, nämlich für alle Aufgaben in Haushalt und Familie, ist den Frauen zumindest ein entscheidender Durchbruch für ihre Interessen, für ihren Rechtsanspruch gelungen.Dieser erste Bereich leitet sehr schnell zum zweiten Bereich über, dem der materiellen und sozialen Gleichstellung. Hier wird nämlich in erschreckender Weise deutlich, daß die rechtliche Propagierung der Gleichstellung der Frau in der sozialen Lebenswirklichkeit, insbesondere in der Arbeitswelt, noch lange nicht dazu geführt hat, daß auch im Faktischen eine Gleichstellung und eine Gleichbehandlung der Frau besteht.Bevor ich aber das Thema der Diskriminierung der Frau in der Arbeitswelt anspreche, möchte ich einen Bereich streifen, der von großer Bedeutung für das Selbstwertgefühl unserer Frauen ist. Es geht um den Abbau der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Ehemann, die sich derzeit noch im geltenden Unterhaltsrecht, bei der Ehescheidung und in unserem derzeit gültigen Rentenrecht manifestiert. Mit der Einführung des Versorgungsausgleichs im Zusammenhang mit dem neuen Scheidungsrecht wird endlich ein wenn auch nur erster Schritt getan, um die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau vom Ehemann zu mildern. Dies kann aber nur ein erster Schritt sein; denn damit bleibt weiterhin das Problem ungelöst, daß die Ehefrau keinen eigenen Rentenanspruch erwerben kann, obwohl ihre Tätigkeit als Hausfrau und Mutter unzweifelhaft eine wichtige volkswirtschaftliche Aufgabe ist.Hier muß ich eine alte Forderung der FDP vortragen, die wir seit Jahren erheben, nämlich die Forderung nach Einführung des Renten-Splittings, das einen gerechten Ausgleich zwischen Ehemannund Ehefrau vorsieht. Wir freuen uns natürlich, daß wir inzwischen aus den Reihen der CDU/CSU für diese liberale Forderung Mitstreiter bekommen haben. Dabei will ich nicht verschweigen, daß wir gar nicht traurig darüber sind, wenn hier fortschrittliche Kreise der CDU/CSU ein gutes Konzept von der FDP abschreiben.Erst die Schaffung einer eigenständigen sozialen Sicherung der Frau, zu der wir den Einstieg mit der Öffnung der Rentenversicherung für nicht erwerbstätige Hausfrauen geschaffen haben, gibt der Frau die würdevolle Freiheit, indem sie dem Mann ein gleichberechtigter Partner sein kann, ohne das Gefühl der wirtschaftlichen Abhängigkeit zu haben.Lassen Sie mich aber zurückkehren zu dem Problem der sozialen Diskriminierung der Frauen in der Arbeitswelt. Hiermit hat sich schon recht eindrucksvoll der 50. Deutsche Juristentag 1974 beschäftigt und u. a. auf das Problem der Leichtlohngruppen und auf den geringeren durchschnittlichen Bruttostundenverdienst der Frau hingewiesen. Wenn wir uns die heutige Arbeitsmarktsituation ansehen, dann müssen wir feststellen, daß auf den Wartebänken der Arbeitsämter mehr Frauen als Männer sitzen und daß die Frauen, die Geld verdienen, im Durchschnitt ein Drittel weniger verdienen als Männer bei gleicher Leistung und Anstrengung.Wer geglaubt hat, daß mit der Abschaffung der Frauenlohngruppen das Problem der Diskriminierung gelöst worden wäre, der sieht sich nun mit dem verdeckten Problem der sogenannten Leichtlohngruppen konfrontiert. Zwar könnten die Tarifvertragsparteien wirksam und endgültig das Problem der Leichtlohngruppen im Rahmen der Tarifautonomie lösen, doch ist nicht abzusehen, ob die Arbeitgeber bereit sind, hier den berechtigten Forderungen der Gewerkschaften im Interesse der Frauen entgegenzukommen. Die Aufkündigung der Leichtlohngruppe II durch die IG Metall in Nordrhein-Westfalen hat zumindest bis heute bei den Arbeitgebern keine allzu große Gegenliebe gefunden. Es sieht ganz danach aus, als würde hier eine schwierige Verhandlung bevorstehen.Wer nun meint, er könnte mit dem formal-juristischen Einwand kommen und sagen, daß diese Leichtlohngruppe nicht nur Frauen umfaßte, sondern da ja auch Männer eingestuft seien, den sollte eine Tatsache sehr nachdrücklich stimmen, nämlich die, daß 88 °/o der dort eingestuften Arbeitnehmer Frauen sind. Dieses Parlament kann nur hoffen, daß die Tarifpartner in der Lage sind, eine wirklich befriedigende Lösung für das Problem der Leichtlohngruppen zu finden, um nicht selbst zu Überlegungen gezwungen zu werden, die letztlich — und das will sicherlich keiner in diesem Hause — einen Eingriff in die Tarifautonomie bedeuten würden.Der dritte Punkt, den ich vorhin angesprochen habe, umfaßt den Bereich der Bildungspolitik und die Tatsache, daß Frauen eben deswegen weniger verdienen, weil sie überwiegend in den unteren Lohngruppen arbeiten. Sie arbeiten deswegen dort, weil sie in der Mehrzahl immer noch eine mindere Schul- und Berufsausbildung haben. Wir wissen
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Christauch weiter: Sie verlieren deshalb ihre Arbeitsplätze viel schneller, weil schlechter qualifizierte Tätigkeiten am ehesten wegrationalisiert oder bei mangelnder Auslastung der Betriebskapazitäten an erster Stelle eingespart werden.Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems liegt nach wie vor in einer guten schulischen und beruflichen Bildung der Töchter, wenn die späteren Mütter in Beruf und Familie tatsächlich eine Chancengleichheit erreichen wollen. Dies ist nicht nur eine Aufforderung an staatliche Bildungsorganisationen; dies ist vor allem eine Aufforderung an die jeweilige Elterngeneration, die durch Vorleben von Partnerschaft ihre Kinder gar nicht erst in den Bannkreis der Reproduktion von einseitigen Rollenfixierungen geraten lassen darf.Aber auch der schulischen Bildung und Ausbildung kommt bei der Erziehung von Jungen und Mädchen zur Partnerschaft eine wichtige Aufgabe zu. Dafür brauchen wir die Koedukationsschule als Regelschule, in der Jungen und Mädchen in ihren individuellen Begabungen und Neigungen durch ein breit gefächertes Unterrichtsangebot gefördert werden. Die Schule soll zum Recht auf Differenzierung, aber auf Differenzierung bei Gleichwertigkeit hin erziehen. Das heißt, Jungen wie Mädchen müssen in wechselnde Lebensmodelle eingeübt werden, so daß sie sich später in voller Wahlfreiheit die familiären und die beruflichen Aufgaben teilen können. Die Bildungsinhalte und Leitbilder, die wir heute teilweise noch antreffen, bedürfen dringend einer Überprüfung bzw. einer Korrektur, wenn es nicht bei einem gutgemeinten Appell bleiben soll.Lassen Sie mich zum vierten und letzten Bereich kommen, zu dem der Wertvorstellungen und Rollenleitbilder, letztlich dem des gesellschaftlichen und individuellen Bewußtseins im Zusammenhang mit der Frage der Gleichberechtigung. Hier hat — das müssen wir sehen — der Gesetzgeber nur einen sehr geringen Einfluß. Er kann lediglich aufklärerische Tendenzen in dieser Richtung fördern, er kann sie unterstützen. Abgesehen von der Möglichkeit der Familie und Schule kommt hier eine große Aufgabe und Verpflichtung auf unsere Massenmedien zu, die praktisch dem politischen Anspruch, den wir heute hier in diesem Hause erheben, nämlich dem politischen Anspruch auf Gleichberechtigung der Frau, zuwiderhandeln, wenn sie durchgängig die alten Leitbilder und Wertvorstellungen reproduzieren.
An diesem letzten Punkt wird deutlich, daß die Möglichkeiten des Gesetzgebers begrenzt sind, der Frau bei der Suche nach einer neuen Identität zu helfen. Die Proklamierung des Jahres der Frau wird hoffentlich dazu führen, die öffentliche Diskussion zu diesem Thema zu beleben, und auch zu einer ent-entsprechenden Sensibilisierung für diese Problematik beitragen.Ich meine aber, es liegt an den Frauen selbst, sich für ihre eigenen Interessen zu engagieren und nicht nur Forderungen aufzustellen, sondern auch an der Durchsetzung dieser Forderungen mitzuwirken.Wenn nämlich die Frauen an der Klagemauer aus Passivität und Resignation verharren, dann wird sich, so fürchte ich, nicht allzuviel ändern, insbesondere schon deswegen nicht, weil die Männer von sich aus bestimmt nicht die Initiative zu einer Neubestimmung der Rollenverteilung ergreifen.Für die FDP wird das Jahr der Frau nicht am 31. Dezember 1975 enden, wie für uns dieses Thema nicht erst am 1. Januar 1975 eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe geworden ist.
Ich möchte bewußt noch einmal meine Eingangsworte aufgreifen und in Erinnerung rufen, daß nach unserer Auffassung die Proklamierung des Jahres der Frau nur dann einen Erfolg haben kann, wenn wir der Gesellschaft deutlich machen, daß es eben auch ein Jahr der Partnerschaft sein muß. Wenn es uns langfristig gelingt, die Frauen stärker in die Mitverantwortung und in die Mitgestaltung aller Lebensbereiche der Gesellschaft einzubeziehen, dann wird dies eine Gesellschaft sein, die von mehr Humanität geprägt ist. Dies könnte eine Gesellschaft sein, in der nicht nur das Meßbare und das in ökonomischen Maßstäben ausdrückbare Leistungs- und Erfolgsdenken gelten, sondern auch soziale und humane Wertmaßstäbe, die wir heute noch recht unzureichend und etwas schwammig mit dem Begriff „Lebensqualität" umschreiben.Zum Schluß ein Wort an die Männer, von denen ich weiß, daß sie diesem Thema doch etwas skeptisch gegenüberstehen. Diesen Skeptikern, die bei der Forderung nach Emanzipation der Frau gelegentlich allergisch reagieren, möchte ich insofern recht geben, als es natürlich fatal wäre, wenn die Frauen ihren Anspruch auf Emanzipation als ein reines Nachahmen des männlichen Rollenverhaltens mißverstünden.
Emanzipation der Frau unter Beibehaltung der weiblichen Elemente ist letztlich eine Veränderung zu mehr Menschlichkeit in einer gefühlsverarmten Streßgesellschaft.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Debatte.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 und 4 auf, die in einer gemeinsamen Debatte abgehandelt werden sollen:3. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung über die Lage der Nation4. a) Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Deutschlandpolitik— Drucksachen 7/2679, 7/2934 —b) Große Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Deutschlandpolitik— Druckachen 7/2568, 7/2933 —Das Wort zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung hat der Herr Bundeskanzler.
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10034 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 25 Jahre nach der Gründung der beiden deutschen Staaten kann über deren Realität niemand mehr hinwegsehen. Die Tatsache ihrer gleichzeitigen Existenz nebeneinander bestimmt sehr weitgehend die Lage der Nation.
Die beiden deutschen Staaten haben miteinander vielerlei Meinungsverschiedenheiten, aber sie haben auch vielerlei Gemeinsamkeiten. Sie beide nennen sich deutsch, und es gibt auf der Welt keinen dritten Staat, der sich so nennt.
Die Deutschen wollen nicht — und wer es etwa wollte, der könnte es nicht — sich von ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Nation lossagen. Aus einem in der DDR gegebenen Anlaß hat Ernst Bloch am 7. Oktober des letzten Jahres mit Recht gesagt: „ ... man kann nicht durch Volkskammerbeschluß die Zugehörigkeit zu einer zweitausendjährigen Geschichte aufheben und zu dem, was ... in einer Kulturnation aufgebaut ist."
Nach unserer gemeinsamen Überzeugung ist deshalb in der Tat das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten ein Verhältnis von besonderer Art. Wir bleiben dabei, auch wenn die Führung der DDR darin — fälschlich — den Versuch der Bundesrepublik zu sehen meint, der DDR einen internationalen Minderstatus aufzuzwingen. Die Bundesregierung spricht von der Besonderheit im Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander nicht etwa, um zu versuchen, die Souveränität der DDR anzutasten; sondern wir erblicken die Besonderheit darin, daß in beiden deutschen Staaten Deutsche leben und daß wir Deutschen einen Anspruch auf Gestaltung unseres nationalen Schicksals nach unserem eigenen Willen haben.
Wenn ein Deutscher im Sinne des Grundgesetzes im Ausland den Schutz unserer konsularischen Vertretung in Anspruch nehmen will, dann wird ihm dieser Schutz gewährt.Die Bundesregierung folgt damit exakt einem Beschluß des Rechtsausschusses des Bundestages vom 22. März 1973. Sie beabsichtigt nicht, davon abzuweichen. Diese Haltung der Bundesregierung entspricht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag. Dies wird auch draußen in der Welt verstanden. Um angemessene Regelungen zu finden, bedarf es nicht — und bedurfte es zu keiner Zeit — der Einmischung in Angelegenheiten dritter Staaten.Wie bereits in der Regierungserklärung hier am 17. Mai vorigen Jahres geschehen, so betone ich auch heute: Wir werden trotz aller — auch zukünftiger — Schwierigkeiten und Rückschläge nicht nachlassen in dem Bemühen, die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu verbessern.Die bisherige Entwicklung hat gezeigt, daß Erfolge in der Deutschlandpolitik einen langen Atem verlangen. Die Bundesregierungen der letzten Jahre haben stets vor Pessimismus oder Resignation ebenso gewarnt wie vor Leichtglauben oder Illusion. Es gilt z. B. das Wort, das am 5. April 1973 Willy Brandt hier an diesem Platz für die damalige Bundesregierung gesprochen hat, nach wie vor:Wir machen uns, was die Komplikationen der Probleme zwischen den beiden deutschen Staaten angeht, nichts vor; aber wir lassen uns auch nichts vormachen.
Der Grund für diese Haltung liegt darin, daß es wenig Sinn hätte, in den deutschen Fragen etwa an solche Ideale und Einsichten zu appellieren, die nun einmal bei der Führung der DDR nicht vorhanden sind. In entscheidenden Grundsatzfragen scheitert ein Konsens daran, daß beide deutsche Staaten sehr unterschiedlichen, zum Teil antagonistischen gesellschaftlichen und politischen Systemen angehören und daß sie vielfach gegensätzliche Interessen haben oder verfolgen. Gleichwohl gibt es auch gleichlaufende Interessen; vor allem aber gibt es vielerlei Möglichkeiten zur wechselseitigen Befriedigung von Interessen des jeweiligen Vertragspartners. Deshalb kommt es für die Entwicklung unserer Beziehungen darauf an, herauszufinden, auf welchen Gebieten es übereinstimmende oder wenigstens komplementäre Interessen gibt. Dazu wird verhandelt — mit der Zielsetzung, zu Vereinbarungen zu gelangen, wobei Fortschritte allerdings nur dann erzielt werden können, wenn beide Seiten das vorher Vereinbarte respektieren.Ich will bei der Bilanz heute morgen zunächst von den Belastungen reden. Unsere Beziehungen zur DDR sind erheblichen Belastungen ausgesetzt: Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl haben ihre Unmenschlichkeit nicht verloren. Jeder weiß auch: es wäre Illusion, zu glauben, mit Protesten hier Abhilfe schaffen zu können. Wir finden uns jedoch mit diesen Zuständen nicht ab, sondern wir bemühen uns beharrlich um Änderung.Wir wissen, daß die Überwindung der jetzigen Lage erst am Ende einer sehr langfristigen Entwicklung stehen kann. Wir meinen dazu allerdings, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und daß die humanitäre Verantwortung gegenüber den Menschen gerade auch in einem Staat gelten müssen, der sozialistisch sein will.
Heute werden auch immer noch unmenschlich harte Freiheitsstrafen in der DDR in sogenannten Fluchthelferprozessen verhängt. Ich wundere mich manchmal ein wenig, daß die DDR-Führung nicht er-
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Bundeskanzler Schmidtkennt, wie sehr Terrorurteile als Zeichen der Unsicherheit gelten müssen und als solche Zeichen gewertet werden.
Es kam im Frühjahr des letzten Jahres hinzu, daß die Regierung der DDR ihr Verhältnis zur Bundesregierung durch einen schwerwiegenden Spionagefall erheblich gestört hat und daß die Beeinträchtigung daraus andauert.Die DDR hat bestehende Vertragsbeziehungen stark belastet, indem sie nach der Errichtung des Bundesumweltamtes in Berlin vorübergehend zu Maßnahmen gegriffen hat, die durch das Transitabkommen nicht gedeckt gewesen sind.Die Regierung der DDR hat auch die Voraussetzungen mancher Vereinbarungen nachträglich empfindlich strapaziert. Die Ende 1973 vorgenommene einseitige Erhöhung des Mindestumtausches hat den bis dahin sprunghaft steigenden Reiseverkehr von Bürgern der Bundesrepublik in die DDR spürbar zurückgehen lassen. Ich habe mich mit Nachdruck dieser Frage angenommen, und wir haben schließlich erreicht, daß diese Maßnahme weitgehend zurückgenommen worden ist. Ich will nicht verschweigen, daß diese Rücknahme für die Führung drüben nicht ohne Schwierigkeiten möglich gewesen ist. Tatsächlich sind die Zahlen von Reisen aus der Bundesrepublik ebenso wie aus West-Berlin danach, d. h. im letzten Dezember, um fast die Hälfte höher gewesen als 1973, wo sie durch die vorhergegangene Zwangsumtauschverdoppelung stark beeinträchtigt waren. Diese Dezember-Zahlen für 1974 liegen nun inzwischen auch höher als die vom Dezember 1972, so daß sich eine positive Entwicklung, über mehrere Jahre verfolgt, deutlich abzeichnet.Unsere Genugtuung darüber macht den Hinweis nicht überflüssig, daß wir im Wiederholungsfall bei etwaigen einseitigen Maßnahmen der DDR, die gegen Geist oder Buchstaben getroffener Übereinkünfte verstoßen, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen könnten, auch nicht nach einer etwaigen Reparatur. Unsere Sorge ist dabei nicht nur, wie die DDR als unser Vertragspartner eingeschätzt werden muß, sondern unsere Sorge gilt auch dem Fortgang der Entspannung in Europa. Die DDR als ein mitteleuropäischer Staat muß sich ihrer Verantwortung für die Entspannung in Europa stellen.
Bei anderem Verhalten Ost-Berlins in den vergangenen Jahren hätten wir heute weiter sein können.Die Regierung der DDR hat es zu keiner Zeit leichtgemacht, das System der innerdeutschen Verträge und Vereinbarungen auszubauen. Aber es ist — damit komme ich nun auf die positive Seite der Bilanz zu sprechen — in zahlreichen, oft mühevollen Verhandlungen doch gelungen, Fortschritte im Interesse der Menschen in Ost und West zu erreichen. Die Ständigen Vertretungen in Ost-Berlin und in Bonn haben ihre Tätigkeiten aufgenommen. Unsere Vertretung am Sitz der Regierung der DDRwird täglich in Fragen tätig, für die es bisher überhaupt keine Möglichkeit der Behandlung gegeben hat. Beide Staaten befinden sich jetzt in einem dauernden Kontakt über praktische und politische Fragen, ohne auf das nächste Treffen von Sonderbeauftragten warten zu müssen. Deshalb laufen auch die früher begonnenen Verhandlungen der zahlreichen Delegationen und Kommissionen weiter, und sie zeitigen auch Erfolge. Ich nenne als Beispiele das Gesundheitsabkommen, die zwei Transfer-Vereinbarungen und auch die Verständigung zwischen den Spitzenorganisationen im Sport.Die neue Swingvereinbarung gibt der Wirtschaft drüben wie hier langfristige Voraussetzungen für den weiteren Ausbau der gegenseitigen Lieferbeziehungen. Dies liegt auch — ich wiederhole etwas, was hier vor Weihnachten schon gesagt wurde — im westdeutschen wirtschaftlichen und Beschäftigungsinteresse.
Diese Politik hatte schon Bundeskanzler Dr. Kiesinger in seiner damaligen Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 konzipiert und danach auch verwirklicht.Die ständigen Kommissionen für Grenzfragen, Verkehr und Berlin-Transit haben sowohl bei der Behandlung von grundsätzlichen Fragen wie auch in Einzelfällen nützliche Arbeit geleistet. Die Grenzkommission hat eine Regelung des Gesamtkomplexes Lübecker Bucht vorgelegt. Die verschiedenen Verhandlungen über den Ausbau unserer wirtschaftlichen Zusammenarbeit schreiten fort wie auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit insgesamt, und das Volumen des Wirtschaftsaustausches hat sich gut entwickelt.Ich will die Beispiele nicht zu weit ausdehnen, weil ich im übrigen gern davon ausgehen möchte, daß derjenige Teil der Ihnen vorliegenden schriftlichen Antworten der Bundesregierung auf zwei Große Anfragen, der die Ausgestaltung unserer Vertragsbeziehungen zur DDR betrifft, in diesem Haus mit besonderer Aufmerksamkeit studiert worden ist. Ich möchte mir wünschen, daß auch in der Öffentlichkeit umfassender über die vielfältigen Kontakte zur DDR berichtet würde. Leider werden häufig die Schwierigkeiten des deutsch-deutschen Geschäftes sehr viel breiter und spektakulärer dargestellt als die positiven Ergebnisse.
Ich will jedenfalls als Positivum erwähnen, daß die DDR-Führung bei den Bemühungen im Bereich individueller humanitärer Probleme, die ja im Interesse aller Betroffenen in Verschwiegenheit erfolgen — auch darüber ist sich dieses Haus immer einig gewesen , in letzter Zeit den Rahmen der Zusammenführung und der Rückführung erweitert hat.Es mag auf allen diesen Gebieten in Zukunft auch wieder Rückschläge geben. Wir haben darüber keine Illusionen. In seiner Regierungserklärung am 18. Januar 1973 hat Bundeskanzler Brandt dazu gesagt:Wir wissen, dieser Weg ist lang und steinig.Die Menschen und die Regierenden in den bei-
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Bundeskanzler Schmidtden deutschen Staaten haben nach vielen Jahren der Nicht-Beziehungen und der Feindseligkeit den Umgang miteinander zu erfahren und zu lernen. Schwierigkeiten und Reibungen werden uns nicht erspart bleiben.Diese nüchterne Einschätzung bleibt auch für die Zukunft richtig.Nun ein Wort zu Berlin. Ein Schwerpunkt der Verhandlungen des Jahres 1975 werden der Ausbau und die Verbesserung der Verkehrswege zwischen dem Bundesgebiet und Berlin sein. Ich messe dem große Bedeutung zu; denn dies hat es trotz aller Bemühungen früherer Bundesregierungen bisher nicht gegeben: daß beide Regierungen über die Verbesserung der Verkehrswege und damit über die Entwicklung der Bindungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin miteinander reden. Wir werden diese Chance nicht vertun.Im Rahmen der Absprache, die ich schon im September mit Herrn Honecker getroffen hatte, wird über eine Vielzahl von Projekten von ganz unterschiedlicher Größenordnung und Bedeutung gesprochen. Manches davon mag relativ schnell gehen. Andere Vorhaben werden sowohl für die Verhandlungen wie auch für die Ausführung längere Zeit beanspruchen. Ich habe neulich bei der Einweihung eines phänomenalen technischen Bauwerkes, eines neuen Autobahntunnels unter der Elbe, gelernt, daß innerhalb der Bundesrepublik Deutschland über die Finanzierung dieses Tunnels mehrere Bundesregierungen und mehrere Landesregierungen sechs Jahre miteinander verhandelt hatten, ehe überhaupt mit dem Bau angefangen werden konnte. Ich erwähne das hier, um zu zeigen, daß Autobahnprojekte z. B. auch innerhalb des eigenen Staates nicht in wenigen Wochen oder Monaten oder auch nur in einem einzigen Jahr gelöst werden können.
— Ich nehme nicht an, daß diese Zwischenrufe in Frage stellen wollen, was ich Ihnen berichtet habe.
Es werden sich also manche Vorhaben von relativ geringfügigem finanziellen Gewicht schnell realisieren lassen; andere Verhandlungen — das gilt auch für die Ausführung anderer Projekte — werden längere Zeit beanspruchen. Wir werden dabei sowohl intern als auch gegenüber der DDR auf ein angemessenes Verhältnis von Kosten und Nutzen achten. Wir werden diese Kosten-Nutzen-Analyse aber nicht auf ökonomische Kategorien beschränken können, sondern wir werden auch die menschlichen und politischen Verbesserungen mit in die Waagschalen dieser Analyse legen müssen.
Für uns bleibt die Lebensfähigkeit Berlins von elementarer Bedeutung. Wir werden auch künftig alles tun, um die Bindungen aufrechtzuerhalten und zu entwickeln, die zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland gewachsen und deren Aufrechterhaltung und Entwicklung durch das Viermächteabkommen bestätigt und bekräftigt worden sind.
Gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister habe ich am 16. Dezember 1974 in Berlin eine Besprechung mit führenden Personen unserer Unternehmen bzw. deren Organisationen und unserer Gewerkschaften gehabt. Wir haben dann auch zu mehreren Themen private Arbeitsgruppen gebildet. Dabei waren sich alle Teilnehmer in dem Willen einig, weiterhin jede Möglichkeit dafür zu nutzen, daß sich auch in Zukunft — Gott sei Dank ist die Entwicklung in letzter Zeit ja in diese Richtung gegangen — die Berliner Wirtschaft im Gleichklang mit der Wirtschaft des Bundesgebietes entwickeln kann. Man muß sogar sagen, daß sich die Berliner Wirtschaft in letzter Zeit etwas positiver entwickelt hat. Das ist für die Berliner eine erfreuliche Tatsache. Dies gilt beispielsweise für das Feld der Produktivitätsentwicklung und auch für den Arbeitsmarkt.Diese Personen, die sich am 16. Dezember, also kurz vor Weihnachten in Berlin getroffen haben, waren sich auch darin einig — ich will das erwähnen —, daß die Lage der Stadt und die Lage ihrer Wirtschaft im Vergleich zu früheren Jahren heute wesentlich positiver zu beurteilen ist.Zu demselben Punkt zitiere ich den amerikanischen Außenminister:Das Potential Berlins als ständiger Zündpunkt Europas ist durch das Viermächteabkommen wesentlich abgebaut worden. Die strikte Einhaltung des Abkommens betrachten die Vereinigten Staaten als eine Hauptbewährungsprobe für die Entspannung.So wurde es von Kissinger letztes Jahr in Moskau gesagt. Die Bundesregierung stimmt mit beiden Feststellungen überein. Das gilt auch für alle unsere Bündnispartner, die im Nordatlantikrat kurz vor Weihnachten in Brüssel die Bedeutung aller Teile des Viermächteabkommens für die Lebensfähigkeit und für die Sicherheit der Stadt unterstrichen und die im Kommunique ebenfalls hervorgehoben haben, daß zwischen der Entspannung in Europa und der Lage in bezug auf Berlin ein — ich zitiere — „essentieller Zusammenhang" besteht.Die Vielzahl der Kontakte zwischen der Bundesregierung und der Regierung der DDR — den Ministerien auf beiden Seiten — macht natürlich eine sorgfältige Koordination notwendig. Die laufenden Verhandlungen über die Folgeverträge zum Grundvertrag werden — wie bisher — von den dafür eingesetzten Delegationen und Kommissionen geführt. Deren Zusammensetzung berücksichtigt die Zuständigkeit der Bundesressorts und den in diesen Bundesressorts gegebenen Sachverstand.Für die neu zu beginnenden Verhandlungen werden wir eine Verhandlungsdelegation unter der Leitung von Staatssekretär Gaus bilden, deren Zusammensetzung im einzelnen je nach Verhandlungsthema wechseln mag, an der jedoch stets ein Vertreter des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen beteiligt sein wird. Der Bundesminister
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Bundeskanzler Schmidtfür innerdeutsche Beziehungen leitet im übrigen seit zwei Jahren einen Koordinationsausschuß hier in Bonn, an dessen Sitzungen je nach Verhandlungsgegenstand die Leiter der verschiedenen Delegationen, der Kommissionen, der Treuhandstelle für den Interzonenverkehr sowie natürlich Vertreter des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes und des Senats von Berlin beteiligt sind. In diesem Ausschuß werden die Verhandlungslinien vorbesprochen. Die Führung der Opposition wird darüber auf ihren Wunsch noch näher unterrichtet werden.Das Bundeskanzleramt ist und bleibt aus den bekannten Gründen zuständig für die Vertretung der DDR in Bonn, wie auch unsere Ständige Vertretung in Ost-Berlin dem Chef des Bundeskanzleramts untersteht. Ich selbst werde mich auch künftig in deutschlandpolitische Fragen persönlich einschalten, wenn es nach Lage der Dinge angebracht erscheint.Mit alledem setzt die Bundesregierung den heute einzig gangbaren Weg fort, in Deutschland zu einem geregelten Miteinander zu kommen. Zu diesem Weg möchte ich mit großem Respekt feststellen, daß es eine geschichtliche Leistung meines Amtsvorgängers Willy Brandt war, daß er — gemeinsam mit Walter Scheel — gerade noch rechtzeitig — als nämlich die beiden Weltmächte schon dabei waren, sich auf einen bis dahin ungeahnt weitreichenden Abbau ihrer langjährigen Konflikte und Konfrontationen zu verständigen — verhindert hat, daß die Weltpolitik der siebziger Jahre über uns Deutsche als Nation einfach zu ihrer eigenen, zu einer anderen Tagesordnung überging.
Die vertragliche Absicherung der Ostpolitik, gemeinsam mit unseren Verbündeten zustande gebracht, hat zugleich die deutsche Handlungsfähigkeit wesentlich erweitert und auch den Frieden, besonders den Frieden in Berlin, sicherer gemacht. Diese Politik beruhte und wird auch in Zukunft beruhen auf den Pfeilern Gewaltverzicht und Zusammenarbeit. Wenn die Regierung im anderen Teil Deutschlands bisher weder auf Gewalt ganz verzichtet hat noch ohne Vorbehalte mit uns zusammenarbeiten will, so kann das für uns kein Grund sein, unsere Politik zu ändern.
Denn immerhin hat diese Politik nach relativ kurzer Zeit, in ganz wenigen Jahren, schon Erfolge gebracht, die man doch damals in den sechziger oder fünfziger Jahren für sensationell gehalten haben würde.
Welch eine enorme Veränderung der Lage!
Am Anfang der sechziger Jahre hatten wir die die ganze Welt bedrohende Raketenkrise im Punkte Kuba. Selbst nach ihrer Beilegung, selbst nach den ersten die Welt umfassenden Entspannungsschritten zwischen Washington und Moskau, hat die damalige Bonner Politik — und dabei denke ich durchaus
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10038 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Bundeskanzler Schmidtauch an Ihre Bewegung in Form der Friedensnote vom März 1966, Herr Kollege Schröder — den dringenden Neubeginn der deutschen Ostpolitik noch nicht geschafft, weil sie — bei allem guten Willen im Jahre 1966 — von der anderen Seite als Umgehungsversuch verstanden wurde. Die deutschdeutsche Entwicklung blieb erstarrt und beschränkt infolge der Politik bloßer Nichtanerkennung. Man sollte das alles nicht vergessen.Wir haben auch nicht vergessen, wie danach dann, etwa Mitte der sechziger Jahre beginnend, die Wende der Deutschlandpolitik vorbereitet worden ist. Ich meine die Diskussionspapiere z. B. der Evangelischen Kirche in Deutschland oder des katholischen Bensberger Kreises oder den Austausch offener Briefe und den Versuch eines Redneraustausches zwischen meiner Partei, der SPD, und der SED; schließlich Ende 1966 die Bildung der Großen Koalition, bei der ja von Anfang an klar war — ich erinnere Sie an das Acht-Punkte-Papier, das im November 1966 von dieser Stelle durch den damaligen und jetzigen Fraktionsvorsitzenden der SPD präsentiert wurde—, daß mit dem Eintritt der Sozialdemokraten in die Regierung die Deutschland-und Ostpolitik alle in unserer Lage denkbaren Möglichkeiten ausloten und unsere Handlungsfähigkeit vergrößern sollte. Ebenso will ich erinnern an den Entwurf zu einem Generalvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten, den im Jahre 1968 die Freie Demokratische Partei vorgelegt hat.Aber erst im Jahre 1969, durch die sozialliberale Koalition, ist es dann möglich geworden, auf der gesicherten Grundlage der militärischen und wirtschaftlichen Bündnisse im Westen unseren geschichtlichen Beitrag zur Entspannung in der Welt zu leisten und damit zugleich dem Zusammenhalt der eigenen Nation zu dienen. Man muß sich darüber klar sein, daß dieser Weg, wie er dann 1969 mit Konsequenz beschritten wurde und seither beschritten worden ist, nur unter bestimmten internationalen Bedingungen möglich war,
daß er nur unter bestimmten internationalen Bedingungen zukünftig erfolgreich fortgesetzt werden kann
und daß wir Deutschen selbst — insbesondere auch wir, die Bundesrepublik — auf die Aufrechterhaltung dieser internationalen Bedingungen einerseits zwar einen erheblichen Einfluß, andererseits aber doch nur einen begrenzten Einfluß haben.
Um die wichtigste dieser internationalen Bedingungen vorweg zu nennen — ich formuliere es einmal vom theoretisch denkbaren Negativfall aus —: Falls etwa die gegenseitigen Bemühungen der beiden Weltmächte aufhören oder sich gar ins Gegenteil verkehren sollten, falls das Bemühen um Kooperation miteinander aufhören oder sich ins Gegenteil umdrehen sollte, würde die Kontinuität unseres deutschlandpolitischen Weges in der Tat gefährdet werden. Denn der Wille Washingtons und Moskauszu einem konstruktiven Verhältnis zueinander war und bleibt entscheidende Voraussetzung nicht nur für das Viermächteabkommen, sondern auch für unsere ganze Ostpolitik und ihren Erfolg.
Dieser Wille der beiden Weltmächte, der in beiden Lagern nicht ganz unumstritten ist, schlägt sich in einem fortlaufenden Prozeß des Verhältnisses zwischen diesen beiden Weltmächten nieder, in einem Prozeß, den man auf der ganzen Welt „Entspannung" nennt. Ich sage: ein Prozeß, keineswegs ein gegenwärtiger oder zukünftiger Endzustand, sondern ein Vorgang, ein Prozeß.Oder, um nun einen wichtigen Teilaspekt dieses eben geschilderten Sachverhalts besonders hervorzuheben: Nur solange die Sowjetunion an der Fortsetzung dieses Prozesses interessiert bleibt, kann die Kontinuität unseres ostpolitischen Weges und unserer deutsch-deutschen Politik gesichert werden. Wir tragen unsererseits bewußt dazu bei, daß die sowjetische Führung an der Fortsetzung des Ent-spannungs- und Normalisierungsprozesses interessiert bleibt.Dies muß die fortdauernde Interessierung auch jener osteuropäischen Staaten einschließen, die vertraglich und politisch mit der Sowjetunion verbunden sind. Das gilt auch für die DDR, für die ja ihrerseits die Zielsetzungen und die Interessen der Sowjetunion und ihrer anderen Verbündeten ausschlaggebendes Gewicht behalten. Alle diese Partnerstaaten, von denen ich bisher spreche, müssen infolgedessen auch erfahren können, daß ihr Interesse an der Fortdauer dieses Prozesses nicht nur Wunschvorstellungen entspricht, sondern daß es für sie tatsächlich von Nutzen und Vorteil ist, an diesem Prozeß mitzuwirken.
Der Nutzen liegt für sie vor allem in der größeren Sicherheit des allgemeinen Friedens und ihres eigenen Friedens sowie in der Förderung ihres eigenen wirtschaftlichen Fortschritts, des Fortschritts ihres eigenen Lebensstandards. Deshalb unser Wille zum Ausbau des wirtschaftlichen, des wissenschaftlichen, des technologischen Austauschs mit der Sowjetunion, mit den anderen Staaten des Warschauer Paktes und mit der DDR, deshalb unsere aktive Mühe um gute Ergebnisse bei der Genfer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der Wiener Konferenz für beiderseitige, gleichgewichtige Truppenverringerung, deshalb unser positives politisches Interesse am Erfolg von SALT zwischen Moskau und Washington!
Aber ich will natürlich auch den anderen Aspekt genauso deutlich beleuchten. Nicht nur weil alle diese Bemühungen, weil dieser Prozeß, von dem ich spreche, Nutzen und Vorteil für die östlichen Nachbarn und Partner bringt, sondern ebenso weil er Nutzen und Vorteil für die westlichen Partner im nordatlantischen Bündnis, in der Europäischen Gemeinschaft bringt, ebenso deswegen wird er betrieben, und nur unter der Bedingung, daß unsere west-
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Bundeskanzler Schmidtlichen Partner Nutzen und Vorteile von diesem Prozeß erlangen, werden sie ihn mit uns gemeinsam weiterhin betreiben. Nur unter der Bedingung, daß alle Beteiligten Nutzen und Vorteil auch für sich erkennen können, nur unter dieser internationalen Bedingung ist diese Deutschland-Politik auf die Dauer zu sichern.Oder um den westlichen Hauptaspekt ganz genauso auszusprechen wie vorhin den östlichen Hauptaspekt: Nur solange die Vereinigten Staaten von Amerika und unsere anderen westlichen Partner und Verbündeten an der Fortsetzung des Prozesses der Entspannung und am Fortschritt der Zusammenarbeit interessiert bleiben, nur so lange können wir die Kontinuität unserer Ostpolitik, unserer Deutschlandpolitik, unserer Berlin-Politik sichern. Auch der Westen, auch Frankreich und England m ü s s en Nutzen und Vorteil für sich gewinnen können — in Sachen Sicherung des Friedens, auf dem ökonomischen Felde und auf all den übrigen Feldern.
Bisher haben während dieses Prozesses kein Staat und kein Volk Europas Nachteile erlitten oder Schaden gelitten, im Gegenteil: Alle erkennen ihre Vorteile, und alle sagen das auch. Wir haben trotzdem Anlaß, dankbar zu sein. Denn wir Deutschen gewinnen durch diesen Prozeß jedenfalls einen zusätzlichen Nutzen, auf den die anderen Völker Europas nicht angewiesen sind, weil sie nicht im Zustand der Trennung und der Teilung leben müssen. Wir Deutschen gewinnen gegenüber all unseren Nachbarn von diesem Prozeß den zusätzlichen Vorteil, das Verhältnis der beiden getrennten Teile zueinander einvernehmlich regeln und verbessern zu können.Ich kann natürlich heute mittag die internationalen Bedingungen für den Erfolg unserer Politik gegenüber der DDR nur teilweise andeuten. Aber ich will den eingangs dieser Passage ausgesprochenen Satz in einer anderen Form wiederholen: Wir haben auf die Erhaltung dieser internationalen Bedingungen einen zwar nur begrenzten Einfluß, aber wir haben doch einen erheblichen Einfluß auf die Aufrechterhaltung dieser Bedingungen und dieses Prozesses. Es ist nicht der Einfluß einer Großmacht, wohl aber ist es das Gewicht eines tüchtigen, eines wirtschaftlich leistungsfähigen und in seiner inneren demokratischen Ordnung gefestigten Staates inmitten Europas, das wir in die Waagschale einbringen können.
Dieses Gewicht zugunsten der Sicherung des Friedens, zugunsten der Zusammenarbeit in die Waagschale einzubringen, das ist uns als moralische Pflicht geboten; es ist uns ebenso durch unser eigenes nationales Interesse geboten.Letztlich wird über den Fortbestand der deutschen Nation das Verhalten aller Deutschen in ihrer Gesamtheit entscheiden. Weder kann die Vitalität des nationalen Zusammengehörigkeitsbewußtseins durch ostdeutsche Beschlüsse abgeschafft werden, noch kann diese Vitalität allein durch westdeutsche Postulate und durch Bekenntnisse gestärkt werden. Vielmehr fließt die Bewahrung der gemeinsamen deutschen Substanz aus dem, was wir tun.
Die Bundesregierung würde lebhaft begrüßen, wenn sie diese Politik für die eine Nation in Zusammenarbeit mit der Opposition fortsetzen könnte. Es hieße ein Gebot der Selbstachtung befolgen, wenn diese Politik für die eine Nation im Zusammenwirken von Regierung und Opposition verwirklicht werden könnte. Eine Voraussetzung dafür wäre, daß die Opposition sich entschlösse, die rechtswirksam geschlossenen Verträge auch als solche zu behandeln und nicht so, als wären sie gar keine Verträge,
d. h., daß sie sich auf den Boden der Tatsachen und des geltenden Vertragsrechts stellen würden.
Ich will das nicht erschweren. Ich habe erst am 19. Dezember hier in diesem Hause gesagt, daß wir in der Ablehnung ideologischer Konzessionen sogar mit Herrn Erich Honecker und gewiß in diesem Hause — füge ich in Klammern hinzu — übereinstimmen. Sicherlich hat der Kollege Marx recht, der gesagt hat, man könne Gemeinsamkeiten nicht machen, um Gegensätze zu verdecken. Ich frage mich auch, ob denn zur Entwicklung von Gemeinsamkeiten willens sein kann, wer uns öffentlich vorwirft, wir hätten uns — ich zitiere — „erpreßbar gezeigt". Und ich erkenne keinen Ansatz für Gemeinsamkeit, wenn behauptet wird — ich zitiere —, die Bundesregierung habe „keinen entschiedenen und zielhaften Willen, Berlin am Leben zu erhalten und der Stadt eine Zukunft zu geben".
Heute steht fest: Was in den letzten fünf Jahren für Berlin und für ein verbessertes Nebeneinander im Interesse der Menschen in beiden deutschen Staaten geleistet worden ist — und auch alle unsere Verbündeten erachten dies als sehr viel! —, das mußte allerdings gegen den Widerstand der Opposition durchgesetzt werden.
Solange dies so bleiben sollte, werden die sozialliberale Koalition und die Bundesregierung auf diesem Felde allerdings auf die Mitwirkung der Opposition verzichten müssen.Die Vorstellungen und Absichten der CDU/CSU sind, wie uns scheint, auch in sich selbst widersprüchlich, wie Plenardebatten zeigen, wie z. B. in jüngster Zeit die Reaktionen ihrer Parteispitze auf den Besuch des Kollegen Leisler Kiep in Ost-Berlin wieder deutlich gemacht haben. Wir können leider noch keinen prägenden Einfluß zukunftsorientierter Kräfte erkennen.
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10040 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Bundeskanzler SchmidtImmerhin hatte es — um diese Passage zum Ende zu führen — trotz leidenschaftlich geführter politischer Auseinandersetzungen noch bis vor einiger Zeit ein Minimum vertraulicher Information und vertraulichen Austausches zwischen Regierung und Opposition gegeben, das im Interesse des Landes und im Interesse der Sache gut war. Die neue Fraktionsführung der CDU/CSU hat dann 1973 selbst dieses Minimum des Kontaktausschusses fortzusetzen abgelehnt. Ich will über ihre damaligen Motive heute nicht spekulieren, nachdem der Oppositionsführer neuerdings bessere Informationen erbeten und ja auch — Herr Professor Carstens — erhalten hat; von mir aus gesehen sollte man dabei bleiben.Meine Damen und Herren, weder in diesem Hause noch anderswo auf der Welt gibt es gegenwärtig eine gangbare alternative Konzeption zu unserer innerdeutschen Politik.
Und weil das so ist, deshalb werden wir uns durch nichts in dieser Politik, die wir im Interesse der deutschen Nation treiben, entmutigen lassen, auch nicht durch Vorgänge und Beschlüsse auf der anderen Seite;
denn weder die DDR-Verfassung von 1968 noch ihre Änderung von 1974 werden letztlich Wesentliches in der deutschen Geschichte bewegen.Wir Deutschen haben durch die Jahrhunderte immer ein schwieriges Verhältnis zur eigenen Nation gehabt. Am Schluß haben wir andere Völker um deren Selbstverständlichkeit beneidet, mit der sie sich zu einer Nation zusammenschlossen; denn wir selbst hatten eben nur selten die inhärente Neigung zum Bruderzwist überwinden können.Machtstreit der Herrscherhäuser, religiöse Gegensätze und regionaler Partikularismus haben das Reich, das in seinem Namen doch über Jahrhunderte hinweg den Anspruch erhob, die deutsche Nation zu repräsentieren, oft genug zum Kampfplatz — im wirklichen Sinne des Wortes: Kriegsschauplatz — Deutscher gegen Deutsche werden lassen, unter — zum Teil entscheidender — Mitwirkung ausländischer Mächte, die die Gelegenheit benutzten oder schürten. Andere Nationen erlebten auch Revolutionen, Bürgerkriege, Staatsstreiche. Aber in Deutschland kämpften deutsche Staaten gegeneinander, so im 17. Jahrhundert, so im 18. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert stand der machtpolitische Gegensatz Preußen-Österreich der nationalen Einheit im Wege, für die doch die Frankfurter Nationalversammlung manche Hoffnung schon in der Mitte des Jahrhunderts geweckt hatte. Allzu häufig war im Bereich der deutschen Nation den streitenden Parteien die Durchsetzung ihrer partikulären machtpolitischen Interessen wichtiger als das gemeinsame Schicksal.Nach 1945 befanden sich viele Deutsche lange Zeit in der Gefahr einer ähnlichen Geisteshaltung, die auch jetzt noch nicht in allen Köpfen ganz ausgeräumt ist. Es mag deshalb nötig sein, sich des geschichtlichen deutschen Bruderzwistes bewußt zubleiben — eines Erbes, das wir eben nicht pflegen, sondern überwinden müssen.
Die in unseren sittlichen Überzeugungen wurzelnden weltanschaulichen Gegensätze darüber, wie ein Staat, wie eine Demokratie, wie die persönliche Freiheit beschaffen sein sollen — Gegensätze zu denen, mit denen wir auf der anderen Seite Verträge auszuhandeln haben —, wollen wir nicht verkleistern oder verkleinern. Aber sowohl in der DDR als auch bei uns sollte man nicht vergessen: Karl Marx ist nicht in Ost-Berlin geboren worden, sondern in Trier, Friedrich Engels in Barmen; Hegel kam aus Stuttgart; Luther wurde in Eisleben geboren; Kant war Königsberger; Ferdinand Lasalle kam aus Breslau, Johann Sebastian Bach aus Eisenach. Gerhard Hauptmann kam aus Schlesien, Caspar David Friedrich aus Greifswald; aber Bert Brecht kam in Augsburg zur Welt, Schiller am Neckar und Goethe am Main. Sie alle gehören zusammen! Und wollte man drüben vergessen, daß Erich Honecker an der Saar geboren und aufgewachsen ist
und Ernst Thälmann aus Hamburg gekommen ist? Oder wollen Sie vergessen, Herr Jäger, daß unser Kollege Barzel aus Ostpreußen kommt, daß unsere Kollegen Wehner und Mischnick aus Dresden und der Kollege Genscher aus Halle kommen?
— Dies alles sind nur wenige der Namen. Auf Ihren Zwischenruf, Herr Jäger, sage ich Ihnen: Ich habe mit Absicht sowohl die Geschichte der gemeinsamen Kulturnation als auch die gegenwärtig politisch handelnde Generation --- beides zugleich — angeleuchtet, weil es sich um Namen handelt, die als Zeugen für gemeinsames nationales Schicksal genannt werden können. Was ja gar nicht wegdiskutiert oder wegdekretiert werden kann.Ich für meine Person — das mag mancher altmodisch finden — bin überzeugt, daß sich die Nation auch in Zukunft als ein starkes Element erweisen wird. Aber wir müssen das Unsere dazu tun!
Die deutsch-deutschen Kriege vergangener Jahrhunderte haben die Nation nicht ausgelöscht — sie hat es überdauert —; das hat auch der kalte Krieg in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nicht vermocht. Wir sind dafür, ihn zu überwinden! Wir sind dabei, ihn zu überwinden.
Für diese Notwendigkeit, ihn zu überwinden, gibt es keine Alternative. So, genauso, sehen es auch alle unsere Verbündeten. Ich nehme an, daß Herr Kollege Carstens vom französichen Staatspräsidenten jüngst nichts anderes gehört hat. So sehen es unsere Nachbarn in West und Ost, und so sieht es auch die Sowjetunion. Wir werden uns trotzdem mit Erich Honecker und seinen Kollegen noch über
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10041
Bundeskanzler Schmidtvieles streitig auseinandersetzen müssen, z. B. über ihren restriktiven Abgrenzungstrend, über die Nation, vor allem über den besseren Inhalt und die bessere Form von Gesellschaft und Staat — besser für die Menschen, die darin leben, meine ich —.
Aber dieser Streit braucht uns an der praktischen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil nicht zu hindern. Er muß uns nicht hindern, den Grundvertrag durch Nachfolgeverhandlungen auszufüllen; er darf uns nicht hindern, wenn wir unserem Volke und wenn wir unseren Nachbarvölkern und wenn wir dem gemeinsamen Frieden dienen wollen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Carstens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, die wir soeben gehört haben, waren richtige Feststellungen enthalten, die wir unterstreichen; so die Feststellung, daß die deutsche Nation fortbesteht, sowie die weitere Feststellung, daß dementsprechend auch eine einheitliche deutsche Nationalität und Staatsangehörigkeit fortbesteht.Es waren in dieser Regierungserklärung politische Forderungen enthalten, denen wir zustimmen: der Appell an die DDR, die Menschenrechte in ihrem eigenen Bereich zu gewähren; die Forderung, die Bindungen Berlins an die Bundesrepublik Deutschland zu verstärken, und schließlich der Grundsatz, daß unsere Behörden im Inland und im Ausland allen Deutschen, die sich schutzsuchend an sie wenden, Schutz und Hilfe zu gewähren haben.Die Rede des Bundeskanzlers enthielt einen Appell zur Gemeinsamkeit mit der CDU/CSU-Fraktion. Aber ich muß Ihnen sagen, Herr Bundeskanzler: In diesen Ihren Appell haben Sie so viel an falscher Sachdarstellung einfließen lassen, daß es mir schwerfällt, darin einen konstruktiven Beitrag zu dieser Diskussion zu sehen.
Vorweg eine mehr technische Bemerkung. Niemals hat es die CDU/CSU-Führung abgelehnt, vertrauliche Informationen seitens des Bundeskanzlers entgegenzunehmen. Wir haben nur gesagt und wir sagen, daß diese vertraulichen Informationen nicht diejenigen Informationen ersetzen können und dürfen, welche die Bundesregierung diesem Hohen Hause und seinen Ausschüssen zu geben verpflichtet ist.
Das ist ein großer Unterschied. Herr Bundeskanzler, wenn Sie meinen damaligen Brief noch einmal nachlesen würden, würden Sie feststellen, daß Sie hier leider etwas Falsches gesagt haben.Zum zweiten hat der Bundeskanzler hier den Eindruck zu erwecken versucht — einen Eindruck, der übrigens jetzt systematisch von vielen in der SPD und der FDP zu erwecken versucht wird —, als ob sich in den 60er Jahren und zu Beginn der 70er Jahre eine weltpolitische Entwicklung angebahnt hätte, die über unsere Lage, unsere Forderungen und Wünsche hinwegzurollen drohte, und als ob gewissermaßen die Politik der damaligen Bundesregierung im letzten Moment noch gerettet hätte, was zu retten war.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies ist eine Legende und eine Verfälschung des wirklichen Ablaufs der Geschichte.
Herr Bundeskanzler, Sie haben daran erinnert, daß ich bis Ende der 60er Jahre eine beamtete Funktion im Dienste unseres Staates innegehabt habe. Ich bin daher sehr wohl in der Lage, zu beurteilen, was richtig ist und was nicht.
Haben denn die Amerikaner uns, die Bundesrepublik Deutschland, gedrängt, die DDR völkerrechtlich oder nicht völkerrechtlich anzuerkennen?
Oder ist es nicht umgekehrt gewesen, daß wir die Amerikaner, die in dieser Frage zögernd waren, gedrängt haben, die DDR anzuerkennen?
Sind denn die Verhandlungen über den Grundvertrag im Jahre 1972 überhastet zum Abschluß gebracht und ist der Grundvertrag im Herbst 1972 paraphiert worden, weil sachliche politische Gründe dies notwendig machten, oder war es so, daß die Tatsache der unmittelbar bevorstehenden Bundestagswahl das Motiv für diese Entscheidung war?
Die jetzt nachträglich dieser Entwicklung gegebene Darstellung ist falsch, und solange Sie diese falsche Darstellung zur Grundlage Ihres Angebots für eine gemeinsame Deutschlandpolitik an die CDU/CSU-Fraktion machen, Herr Bundeskanzler, werden wir uns noch eine Weile länger darüber auseinandersetzen müssen.
Die Verhandlungen der Bundesregierung mit den osteuropäischen Staaten und mit der DDR haben wir nicht deswegen kritisiert, weil die Bundesregierung sich um Entspannung, Frieden und Gewaltverzicht bemüht hätte. Im Gegenteil, das waren Forderungen, die in den Jahren vor 1969 durch die damaligen CDU/CSU-Regierungen immer wieder erhoben und in gewissen Bereichen ja auch erfolgreich durchgesetzt worden sind. Es sind in diesen Jahren Handelsverträge geschlossen worden, auch mit der Sowjetunion. Der Handel hat sich ausgeweitet. Es haben in diesen Jahren auch Besuchsmöglichkeiten für Westdeutsche zu Verwandtenbesuchen in der DDR
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10042 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Dr. Carstens
bestanden, für West-Berliner zeitweilig, dann allerdings wurden sie unterbrochen. Aber es ist doch ganz abwegig, die Geschichte der 50er und 60er Jahre so darzustellen, als ob es damals ein eisiges Verharren gegeben hätte, ohne daß Kontakte bestanden hätten.
Die Jahre 1958 bis 1961 waren Jahre einer ernsthaften Krise um Berlin, daran besteht kein Zweifel. Aber niemand wird doch wohl behaupten wollen — obwohl es in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers ein wenig anzuklingen schien , die Krise um Berlin in den Jahren 1958/59 sei durch die Bundesrepublik Deutschland oder durch die damalige Bundesregierung ausgelöst worden. Im übrigen möchte ich doch daran erinnern dürfen, daß gewisse Grundsätze der damaligen Deutschlandpolitik gemeinsame Grundsätze aller Parteien dieses Hauses, insbesondere auch der SPD, gewesen sind.
Oder gibt es hier jemanden, der ernsthaft erklären wollte, daß Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer oder Fritz Erler sich zu ihrer Zeit für die Anerkennung der DDR als zweiten deutschen Staat eingesetzt hätten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
jetzt stehen sich die Panzer am Checkpoint Charlie nicht mehr gegenüber. Gewiß, das ist richtig. Aber ich denke, es wäre doch gut, wenn in diesem Zusammenhang auch erwähnte würde, daß in regelmäßigen Abständen militärische Machtdemonstrationen in Ost-Berlin stattfinden, die gegen das Vier-Mächte-Statut, das für Gesamtberlin gilt, verstoßen. Das ist doch eine militärische Aktion, die man nicht völlig ignorieren sollte.
Es ist absurd, der Opposition — der CDU/CSU-Fraktion oder CDU/CSU—vorzuwerfen, daß die jetzt zustande gekommenen menschlichen Erleichterungen gegen ihren Willen durchgesetzt worden seien. Das Umgekehrte ist richtig: wir werfen den damaligen Regierungen und der jetzigen Regierungskoalition vor, daß sie in der entscheidenden Phase ihrer neuen Ostpolitik, als sie nämlich die Weichen im Jahre 1970 stellte, diese Forderung nach mehr menschlichen Kontakten, nach menschlichen Erleichterungen total vernachlässigt hat.
In dem Bahr-Papier von 1970 — ich kann es nicht oft genug wiederholen —, in dem die Bundesregierung sämtliche damals erhobenen Forderungen der Sowjetunion zur Deutschlandpolitik erfüllte, findet sich das Wort „menschliche Erleichterungen" und „mehr menschliche Kontakte" nicht. Es findet sich auch das Wort „Berlin" nicht in dieser Erklärung, und natürlich ist von deutscher Nation und Selbstbestimmungsrecht überhaupt nicht die Rede. Das ist der Vorwurf, den wir Ihnen gemacht haben und den wir Ihnen weiter machen.
Jetzt allerdings treten Schwierigkeiten auf, Schwierigkeiten wegen der Einbeziehung Berlins in die Verträge mit der Sowjetunion. Wir hörten im November vorigen Jahres in dieser Hinsicht sehr optimistisch klingende Äußerungen aus dem Munde des Bundeskanzlers und des Außenministers, jetzt sei ein Fortschritt erzielt worden. Es war sogar von „Druchbruch" die Rede. Ich habe nicht gehört, daß in den verflossenen drei Monaten eine Einigung mit der Sowjetunion über die Einbeziehung Berlins in die noch ausstehenden deutschsowjetischen Verträge zustande gekommen sei. Sehen Sie, das ist der Vorwurf, daß Sie diese Frage nicht geklärt haben, bevor Sie im Bahr-Papier und in den anschließenden Verträgen die eigenen Positionen preisgaben und die Forderungen ihrer jeweiligen Partner erfüllten. „Wir haben uns alle Illusionen gemacht", sagt Herr Gaus. Wenn er das sagt und wenn er von uns allen spricht, dann meint er Sie, meine verehrten Damen und Herren von der SPD und der FDP. Herr Gaus ist wohl insofern ein unverdächtiger Zeuge, als er Ihnen politisch sicherlich näher steht als uns.
Die Rede, die der damalige Bundeskanzler Brandt 1973 gehalten hat, wo zum erstenmal einige Ansätze von Nüchternheit zu erkennen waren, beweist ja überhaupt nichts darüber, welche Motive und welche Illusionen die Bundesregierung in den Jahren 1970, 1971 und 1972 geleitet haben.Natürlich sind die abgeschlossenen Verträge, die in Kraft getreten sind, rechtswirksam. Ich habe es hier von dieser Stelle mehrere Male gesagt, und ich wiederhole es. Ich bitte Sie, Herr Bundeskanzler, doch sehr dringend, davon Kenntnis nehmen zu wollen. Dies ist der Standpunkt der CDU/CSU-Fraktion in dieser Frage, und niemand von der CDU/CSU-Fraktion hat jemals erklärt, daß diese Verträge nicht existent seien.
Aber für die Auslegung dieser Verträge aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland und soweit die Bundesrepublik Deutschland Einfluß auf die Anwendung der Verträge hat, ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundvertrag rechtlich maßgebend.
Für die Handhabung dieser Verträge ist, so hoffen wir jedenfalls, die gemeinsame Resolution politisch bindend, die einstimmig verabschiedete Resolution vom Mai 1972.Die Haltung der CDU/CSU-Fraktion zur Entspannungspolitik und zur Friedenspolitik ist oft dargestellt worden. Ich will und brauche das nicht zu wiederholen. Ich möchte nur zwei Punkte hervorheben. Zu unserer Auffassung und zu unserem Verständnis von Entspannungspolitik gehört allerdings, daß die eigenen Positionen in den Verhandlungen hartnäckig und notfalls geduldig vertreten werden. In diesem Zusammenhang muß ich Ihnen sagen, meine
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10043
Dr. Carstens
Damen und Herren, erfüllt mich mit einer gewissen Sorge, was in den letzten Wochen in der Presse über die Verhandlungen über die Grenze an der Elbe zu lesen war.
Hier sind offenbar auf Grund einer Indiskretion, die in der Bundesregierung ihren Ursprung hat, eine Rechtsauffassung und ein Rechtsgutachten in die Presse hineinlanciert worden, die unserem Standpunkt, daß nämlich die Grenze am östlichen Ufer, am rechten Ufer der Elbe verläuft, wenig günstig sind. Ich würde es begrüßen, wenn die Bundesregierung auch einmal die uns positiven, die uns günstigen Rechtsgutachten, z. B. das Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, verbreiten und daraus intensiv Argumente herleiten würde.
Zum anderen meine ich, daß die Entspannungspolitik, die wir betreiben und die wir befürworten, eine realistische Politik sein muß. Zu einer realistischen Entspannungspolitik gehört, daß wir die politisch offensiven Elemente in der Politik unserer östlichen Partner erkennen und zur Kenntnis nehmen. Dazu gehört die fortgesetzte Steigerung der Rüstungsanstrengungen durch die Sowjetunion; dazu gehören die immer wieder deutlich sichtbaren Versuche, die westeuropäische Einigung zu hindern; dazu gehören die deutlichen Versuche, die Stellung West-Berlins zu schwächen, indem man die Einbeziehung West-Berlins in Verträge, in die West-Berlin einbezogen werden müßte, ablehnt; dazu gehören die Fortsetzung des ideologischen Kampfes, die Diffamierung des Kapitalismus und des Imperialismus, womit doch ohne Zweifel unsere freiheitliche Ordnung gemeint ist. Zu einer realistischen Einschätzung der Entspannungspolitik gehört auch, daß man von der politischen Aktivität der kommunistischen Parteien in Westeuropa, einschließlich der DKP in der Bundesrepublik Deutschland, Kenntnis nimmt, die, wie wir wissen, der verlängerte Arm der SED in Ost-Berlin ist und die es sich zum Ziel gesetzt hat, den Sozialismus nach dem Modell der DDR in der Bundesrepublik Deutschland einzuführen. Das alles muß Teil einer realistischen Entspannungspolitik sein.Realistische Entspannungspolitik, glaube ich, bedeutet auch, zu erkennen, daß die DDR ihre Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik seit 1969 in gewissen Bereichen leider deutlich verschärft hat.
Ich erinnere daran, daß in dieser Zeit die automatischen Tötungsanlagen vervollkommnet wurden, daß bestimmte persönliche Kontakte, die bis dahin möglich waren, unterbunden wurden — einschließlich der Kontakte durch Briefe —, daß aus der Verfassung der DDR jeder Hinweis auf die deutsche Nation gestrichen wurde und statt dessen ein Passus in die Verfassung der DDR aufgenommen wurde, der lautet: „Die DDR ist auf immer und unwiderruflich mit der Sowjetunion verbündet." Das steht in der Verfassung der DDR.
Und auf den Spruchbändern anläßlich der 25. Wiederkehr der Gründung der DDR war in Ost-Berlin zu lesen: „Für ewig vereint mit den Brudervölkern der Sowjetunion."Dazu kommen die immer fortgesetzten und sich wiederholenden Haßtiraden — ich kann es leider nicht anders bezeichnen —, an denen sich durch die Entspannungspolitik leider nichts geändert hat und die weiter ein deutliches Element des kalten Krieges darstellen. In dem Lehrplan für die Schüler der neunten Klasse in der DDR vom Mai 1973 heißt es — ich zitiere wörtlich :Die Schüler sollen den Kapitalismus als menschenfeindlich erfassen, ihn verurteilen und zum glühenden Haß auf den Imperialismus als Todfeind der Völker erzogen werden.In einer Militärzeitschrift heißt es, daß Erziehung zum abgrundtiefen Haß gegen die menschenfeindliche Herrschaft des Imperialismus und Militarismus als untrennbares Element sozialistischer Bewußtseinsbildung gefordert wird, und die Armeeangehörigen werden — ich zitiere wieder wörtlich —„zum unerbittlichen Haß gegen die menschenfeindliche Herrschaft des Imperialismus" aufgerufen. Dies ist die Sprache eines totalitären Systems mit unverhüllt militaristischem Gepräge. Das ist das Ergebnis einer Politik, die vor Jahren unter dem Motto: „Wandel durch Annäherung" eingeleitet wurde.Meine Damen und Herren, was ist in dieser Lage zu tun? Ich möchte den Standpunkt der CDU/CSU-Fraktion in fünf Punkten zusammenfassen.Erstens. Berlin: Es ist von entscheidender Bedeutung, daß wir alle gemeinsam die Position West-Berlins stärken; dazu gehört seine feste Verbindung mit uns, mit der Bundesrepublik Deutschland.
Ich stelle fest, daß dies, was ich gesagt habe, mit dem übereinstimmt, was der Bundeskanzler gesagt hat.Aber ich meine, zur Festigung der Bindungen zwischen West-Berlin und uns sollte auch gehören, daß wir, die Fraktionen des Bundestages, in regelmäßigen Abständen unsere Sitzungen in Berlin abhielten.
Ich begrüße, daß die Fraktion der SPD und FDP dies in aller Kürze tun wollen.
Wir haben oft an Sie appelliert, und es ist erfreulich, daß Sie sich dazu entschlossen haben.
Aber es wäre aus meiner Sicht noch erfreulicher gewesen, wenn dies zu einem Zeitpunkt geschehen wäre, wo nicht der unmittelbare zeitliche Zusammenhang zu den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus so sichtbar gewesen wäre.
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10044 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Dr. Carstens
Zweitens. Wir müssen die deutsche Frage offenhalten. Wir müssen im Inneren und nach außen politische und diplomatische Anstrengungen unternehmen, um der Welt bewußt zu machen, daß die deutsche Frage nicht gelöst und nicht befriedigend geregelt ist.
„Die Ostverträge schaffen keinen definitiven Zustand, sondern sind Elemente eines Modus vivendi", so haben wir alle gemeinsam im Mai 1972 in der einstimmigen Resolution gesagt. Die deutsche Nation besteht fort. Eine deutsche Nationalität besteht fort. Das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung ist nicht erfüllt und besteht fort. Dies ist eine Forderung, die zu erheben wir nicht müde werden dürfen.Wir sollten nicht sagen, wenn diese Forderung vor dem Forum der Vereinten Nationen erhoben wird, daß man die Vereinten Nationen nicht mit den querelles allemandes, mit den deutschen Zwistigkeiten, behelligen sollte. Meine Damen und Herren, dies ist eine fundamentale Forderung der deutschen Politik, und jedes Volk der Welt, welches Mitglied der Vereinten Nationen ist, benutzt das Forum der Vereinten Nationen dazu, um seine elementaren Forderungen dort vor dem Forum der Welt zur Geltung zu bringen. Und auch wir sollten das tun.
Die CDU/CSU fordert, daß das deutsche Geschichtsbewußtsein wieder stärker belebt wird.
Da berühre ich mich mit dem, was der Bundeskanzler soeben gesagt hat. Ihnen hat das offenbar nicht gefallen, aber mir hat es ganz gut gefallen.
Ich möchte Ihnen nur sagen, Herr Bundeskanzler, die Zurückdrängung des Geschichtsunterrichts, die Verfälschung des Geschichtsbilds an den Schulen unseres Landes ist die Folge einer von SPD- und FDP-Regierungen in den entsprechenden Ländern jahrelang betriebenen systematischen Politik. Wenn wir daran etwas ändern wollen, Herr Bundeskanzler, dann möchte ich Ihnen vorschlagen — hier ist vielleicht ein Stück Gemeinsamkeit —: laden Sie einmal die Ministerpräsidenten und Kultusminister der deutschen Länder zu einem Gespräch ein. Laden Sie uns, die CDU/CSU-Fraktion, dazu ein,
und dann würde ich mich anheischig machen, an Hand der Geschichtsbücher, der Lehrbücher und der Rahmenrichtlinien für das Unterrichtsfach „Gesellschaftskunde" den Nachweis zu führen, daß in Hessen, in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen jahrelang der Versuch gemacht worden ist, nicht nur den Schulunterricht zu ideologisieren, Klassenkampf und Konflikt als die Grundmuster jeder Gesellschaft in die Kinder und in deren Bewußtsein hineinzubringen, sondern auch das Geschichtsbewußtsein als etwas Antiquiertes, als etwas der Vergangenheit Angehöriges, als etwas Unmodernes, als
und daß wir z. B. in dem Zusammenhang einmal daran erinnern sollten, Herr Kollege, daß es so etwas wie einen norddeutschen Städtebund, die Hanse, gegeben hat, zu der Städte wie Köln, Bremen, Hamburg, Lübeck, Magdeburg, Greifswald, Stralsund, Rostock und Wismar gehört haben, daß das eine der großen politischen Leistungen unseres Landes gewesen ist.
Herr Bundeskanzler, zu diesem Gespräch, das ich angeregt habe, laden Sie dann bitte Ihre Freunde Kühn, Girgenson, Osswald, von Friedeburg und von Oertzen ein. Es wäre mir ein großes Vergnügen, diese Diskussion mit ihnen darüber fortzusetzen.
— Seien Sie unbesorgt, verehrter Herr Kollege, ich bin schon anderen gewachsen gewesen, die glaubten, noch bedeutender zu sein als Sie, verehrter Herr Kollege.
Aber, Herr Bundeskanzler, ein Wort auch zu Ihrem eigenen Geschichtsverständnis. Ich weiß nicht, ob es stimmt: Ich habe im „Spiegel" in einem Interview von Ihnen den Satz gelesen, der lautet — ich zitiere —: „Bis vor einer Generation waren wir an der Entstehung von Konflikten meistens ursächlich beteiligt."
Herr Bundeskanzler, ich möchte Ihnen dringend empfehlen, die Geschichte des Deutschen Reiches seit 1871 einmal etwas genauer zu studieren. Dann werden Sie feststellen, daß große deutsche Reichskanzler vor 1918 und nach 1918 entscheidende Beiträge zur Wahrung des Friedens in Europa geleistet haben. Das sollten wir nicht unterdrücken lassen.
Die vierte Forderung, die ich stellen möchte, ist, daß wir im freien Teil Deutschlands für diejenigen Deutschen eintreten, deren Menschenrechte in der DDR verletzt werden.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10045
Dr. Carstens
— Meine Damen und Herren, das, was ich jetzt sage, ist bestimmt nicht komisch, sondern ist ausgesprochen tragisch. — In den Zuchthäusern Brandenburg und Cottbus vor allem sitzen Tausende von politischen Gefangenen ein, die hauptsächlich wegen Fluchtversuchs oder wegen Beihilfe zur Flucht verurteilt worden sind. Ich möchte Sie daran erinnern, daß sie wegen eines Delikts verurteilt worden sind, das nach der Konvention der Vereinten Nationen über die Menschenrechte ein garantiertes Menschenrecht darstellt, nämlich das Recht, seinen eigenen Staat jederzeit verlassen zu dürfen.
Viele von ihnen befinden sich in strenger Einzelhaft. Vor kurzem ist neben den drei bisher bestehenden Arten des Strafvollzugs in der DDR eine vierte Art zusätzlich eingeführt worden. Sie nennt sich verschärfter Strafvollzug. Sie ist niedergelegt in § 19 des Strafvollzugsgesetzes der DDR. Sie wird hauptsächlich auf politische Gefangene angewandt, und sie wird in diesem § 19 wie folgt beschrieben — ich zitiere wörtlich —:In der verschärften Vollzugsart erfolgt die Gestaltung des Vollzugs besonders durch die dem Zwangscharakter der Freiheitsstrafe entsprechende strenge Reglementierung des Verhaltens der Strafgefangenen durch hohe Anforderungen an die Erfüllung von Pflichten und die Anwendung der Täterpersönlichkeit angepaßter Erziehungsmaßnahmen, um eine nachhaltige Einordnung des Strafgefangenen in festgelegte Verhaltensnormen zu erreichen.Meine Damen und Herren, hinter diesen Worten verbirgt sich tausendfaches menschliches Leid!Unsere Versuche, zu gemeinsamen Erklärungen des Bundestages zu diesem Problem der Verletzung der Menschenrechte im anderen Teil Deutschlands zu kommen, sind leider immer wieder auf Schwierigkeiten gestoßen. Mir selbst ist, wenn ich davon gesprochen habe, hier aus dem Hause von Kollegen der sozialdemokratischen Fraktion entgegengerufen worden, ob ich denn glaubte, daß sich durch Proteste etwas ändern würde.Aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von SPD und FDP, glauben Sie nicht doch, daß ein gemeinsamer Appell dieses Hohen Hauses dem Verfolgten Mut machen könnte?
Darf ich Sie daran erinnern, daß der sowjetische Dichter Solschenizyn und der sowjetische Wissenschaftler Sacharow in leidenschaftlicher Form an die westliche Welt appelliert haben, wenigstens mit Worten für die dort in Gefängnissen Einsitzenden einzutreten, weil dieses Eintreten für die Verfolgten eine Quelle moralischer Stärkung sein würde!
Und ich meine, diesem Appell sollten wir uns, was die verfolgten Deutschen in der DDR anlangt, anschließen.Ich weiß, daß das schwierig ist. Ich weiß, daß es viel leichter ist, in manchen Kreisen eine Protesterklärung gegen Chile, Südafrika und Spanien zustande zu bringen als eine Protesterklärung gegen die DDR.
Lassen Sie mich dazu noch einen sowjetischen Schriftsteller zitieren, Wladimir Maximow. Er hat über die sogenannten progressiven Kreise im Westen folgendes gesagt:Sie werfen sich furchtlos in den ungefährlichen Kampf für die Befreiung der Angela Davis, gegen die Rassendiskriminierung in Südrhodesien oder für die Freiheit Afrikas oder Lateinamerikas, aber sie werden sofort zu Anhängern der Entspannung, wenn man es wagt, sie um eine Unterschrift zur Verteidigung von Wladimir Bukowski zu bitten.
Meine Damen und Herren, wir sind nicht in erster Linie aufgerufen, unsere Unterschrift für die Verteidigung Wladimir Bukowskis zu leisten, aber wir sind, so meine ich, alle miteinander aufgerufen, offen und geschlossen für die Menschen einzutreten, die in der DDR verfolgt und ihrer Menschenrechte beraubt werden.
Ich habe in dieser Frage an den Generalsekretär der Vereinten Nationen einen Brief gerichtet und ihn gebeten, bei seinem bevorstehenden Besuch in der DDR dieses Thema zur Sprache zu bringen. Und ich glaube, Herr Bundeskanzler, vielleicht könnte eine Gemeinsamkeit darin gefunden werden, daß auch Sie sich entweder mündlich oder schriftlich einem solchen Schritt anschließen.
Schließlich und endlich, meine ich, sollten wir alle miteinander versuchen, die Liebe zu unserem Land, zu unserem Vaterland, die in den beiden vergangenen Jahrzehnten manchmal in den Hintergrund zu treten schien, wieder zu wecken.
Als Helmut Kohl vor einigen Wochen in Leipzig war, wurde er von einem Arbeiter auf der Straße angesprochen, der zu ihm sagte: „Lassen Sie sich nicht durch das beirren, was unsere Regierung aus der Verfassung streicht. Wir sind und bleiben Deutsche." Und als im Dezember des vorigen Jahres ein 50 Jahre alter Mann aus Kirgisien mit Frau und fünf Kindern hier in der Bundesrepublik Deutschland eintraf, sagte er: „Reichtum brauche ich nicht, ich will nur deutsch sein."Ich meine, es ist an der Zeit, daß wir uns darauf besinnen, was es eigentlich heißt, deutsch zu sein. Ich meine, es bedeutet vor allem, unser eigenes Land, unser Vaterland zu lieben. Wir alle wissen von den Verirrungen, zu denen ein falsch verstandener Patriotismus in der Vergangenheit geführt hat. Niemand von uns wird überdies Vaterlandsliebe als ein absolutes und höchstes Gebot ansehen. Wir sehen das deutsche Vaterland, unser Land, und die deutsche Nation als Teil eines größeren europäischen Verbandes. Aber ich meine, innerhalb dieser
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Dr. Carstens
für jedermann einsichtigen Grenzen ist die Liebe zum Vaterland auch heute noch eine der nobelsten Regungen, deren der Mensch fähig ist.
Wenn wir in diesem Sinne vom Vaterland sprechen, dann meinen wir nicht nur die Deutschen, die jetzt in der Bundesrepublik Deutschland leben, sondern wir meinen auch die Mecklenburger, die Brandenburger, die Thüringer und die Sachsen, wir meinen die Schlesier, die Pommern und die Ostpreußen, ob sie nun hier bei uns oder in der DDR wohnen. Es ist ein Band, welches alle Deutschen in Ost und West zusammenschließt.
Dieses Band wird sich als stärker erweisen als vorübergehende, mit Gewalt errichtete Machtstrukturen. Dieses Band und das Bekenntnis zu ihm wird von manchen als revanchistisch verschrien. Aber es wird auch das ertragen, und es wird länger dauern als jene, die die Vaterlandsliebe zu verketzern suchen.
Lassen Sie uns den Haßtiraden aus der DDR die Liebe zu unserem Vaterland entgegensetzen!
Als wir Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland 1950 die Frage zu entscheiden hatten, welches unsere Nationalhymmne sein sollte, neigte der damalige Bundespräsident Theodor Heuss einer von dem Dichter Rudolf Alexander Schröder verfaßten Hymne zu. Adenauer aber war für das Deutschlandlied von Hoffmann von Fallersleben, und die dritte Strophe des Deutschlandliedes wurde als unsere Nationalhymne eingeführt. Wir singen sie seitdem bei manchen Anlässen. Ich meine übrigens, wir sollten sie noch häufiger singen, als wir es bisher getan haben.
Aber das Gedicht von Rudolf Alexander Schröder ist auch ein bewegendes Zeugnis von dichterischer Kraft und Vaterlandsliebe, und ich möchte meine Rede mit einer Strophe dieses Liedes schließen.
— Ich weiß nicht, wie Ihr Verhältnis zu Theodor Heuss ist, meine Damen und Herren. Für mich gehört Theodor Heuss zu einer der verehrungswürdigen Persönlichkeiten unserer Zeit, und ich meine, es lohnte sich vielleicht doch, einen Augenblick zuzuhören, wenn ich Ihnen das vorlesen werde, was Theodor Heuss im Jahre 1950 als die deutsche Nationalhymne ins Auge gefaßt hat.
Die zweite Strophe dieses Liedes lautet:
Land der Hoffnung, Heimatland, Ob die Wetter, ob die Wogen Über dich hinweggezogen,Ob die Feuer dich verbrannt, Du hast Hände, die da bauen, Du hast Herzen, die vertrauen,Lieb und Treue halten stand, Land der Hoffnung, Vaterland.
Das Wort hat der Abgeordnete Mattick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede des Oppositionsführers hat uns keine Chance gegeben, zu glauben, daß die Opposition bereit wäre, mit uns eine gemeinsame Politik zu entwickeln. Ich muß gestehen, der letzte Teil dieser Rede war ein Versuch der Ablenkung von der Wirklichkeit und der Wirklichkeit der eigenen Politik der Opposition.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wissen Sie eigentlich, wie oft Ihnen in der DDR von dem normalen Bürger, mit dem Sie dort sprechen — sicher waren nicht viele von Ihnen so oft da drüben wie ich —, das Wort entgegengehalten wird: „Ihr habt uns im Stich gelassen!" Und dann sprechen sie über 1945, 1949, 1954 und sagen: „Die Kette der westdeutschen Politik nach 1945 hat dazu geführt, daß wir uns hier in einem eigenen Staat einordnen mußten, weil uns gar kein anderer Weg blieb. Ihr habt uns im Stich gelassen!" Mit dem „ihr" meinen sie die Verantwortlichen für die deutsche Politik auf westlicher Seite nach 1945. Ich glaube, damit sollten Sie sich einmal näher auseinandersetzen, um auf die sachlichen Grundlagen der Deutschlandpolitik nach 1945 zurückzukommen.Der Oppositionsführer hat nach der Rede des Bundeskanzlers erneut versucht, Einzelheiten der dauernden Auseinandersetzung hier im Hause wieder hervorzuheben, anstatt den Versuch zu machen, auf eine gemeinsame Linie zu kommen, wenn er schon sagt, die Verträge hätten ihre Gültigkeit. Herr Professor Carstens, als wir die Vertragspolitik begannen, gab es eine Botschaft von Sozialdemokraten und anderer Gefangener aus Bautzen, mit der sie diese Friedenspolitik der neuen Regierung begrüßten und die Hoffnung ausdrückten, daß das auch für sie der Weg in die Freiheit sein kann. Sie wissen ganz genau, Herr Professor Carstens, was wir in dieser Zeit getan haben in dem Wissen, daß einem solchen Regime gegenüber Schreien, Protestieren nicht soviel Sinn hat wie Kleinarbeit am einzelnen Menschen, um ihm zu helfen. Sie, Herr Professor Carstens, wissen, wie vielen wir mit dieser Arbeit geholfen haben und wie viele, auf Grund unseres Bemühens um den einzelnen Menschen, der hinter Gittern Sitzenden nach Hause gekommen sind.
Sie haben von Geschichtsbewußtsein gesprochen. Herr Professor Carstens, Sie haben hier vor zwei Jahren in der Debatte über den Grundlagenvertrag mit der DDR an die Grundlagen des deutschen Nationalbewußtseins erinnert. Sie haben erinnert an die Bismarck-Zeit und sind auch auf 1848 gekom-
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Mattickmen. Dies ist sicher eine bedeutende Tradition, vor allem deshalb, weil in der Revolution von 1848 Demokratie und Nationalbewußtsein zusammenfielen. Sie haben nicht davon gesprochen, Herr Professor Carstens, daß dann das Bismarck-Reich mit dem Sozialistengesetz die entscheidenden Grundlagen einer Demokratisierung, nämlich das Werden der Arbeiterbewegung, geächtet und die Menschen vertrieben hat und es eine Zeit von 12 Jahren gegeben hat, in der das Bürgertum nach 1848 sich keine Mühe gegeben hat, gegen die Bismarcksche Antisozialisten-Position Stellung zu nehmen und denen zu helfen, die verachtet und geächtet waren und ihren Kampf im Lande nicht fortsetzen konnten.
Aber diese Tradition, meine Damen und Herren, gehört auch zur geschichtlichen Entwicklung. Es waren Sozialdemokraten und liberale Demokraten, die die Verbindung von Demokratie und Nationalbewußtsein aufrechterhalten haben. Es waren auch Sozialdemokraten, die die demokratische Tradition für Deutschland wesentlich über das Dritte Reich hinweggerettet haben. Die demokratische Legitimation der Bundesrepublik ist vor allem durch diejenigen begründet, die durch ihren Widerstand und für ihre Ideale im Dritten Reich im KZ waren und 1945 daran gingen, die neue demokratische Entwicklung einzuleiten.Sie dürfen auch nicht vergessen, daß es Sozialdemokraten waren, die 1945 in Berlin den Widerstand aufgebaut haben gegen die Gefahr der Einbeziehung Berlins in den Raum der sowjetischen Besatzungszone, und daß es lange gedauert hat, bis die Männer und Frauen, die hier im Westen den größten Einfluß hatten, überhaupt begriffen haben, um welche Auseinandersetzung es sich in Berlin gehandelt hat, vielleicht auch nicht begreifen wollten.Die nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts hatten nicht nur den Zweck der Bildung einer Nation, sondern der Verwirklichung der Demokratie und der Freiheit in einem demokratischen Staat und in einer demokratischen Gesellschaftsordnung. So kann — das sage ich Ihnen auch heute eine Politik der Wiedervereinigung der deutschen Nation ihre Motive nur in der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, der Demokratie und der Freiheit in Europa finden. Die Wiedervereinigung wird kein formaler Vorgang mehr. Sie wird eine historische Entscheidung in einem langen Prozeß über politische, soziale und gesellschaftliche Inhalte in Europa sein. Nur über diesen Weg eines Europas der sozialen Gerechtigkeit und Freiheit wird die Nation sich zusammenfinden können, in einem solchen Europa, in dem Gegensätze überwunden sind, die heute noch unüberwindbar scheinen angesichts von Spannungen, an denen auch wir noch beteiligt sind.Ich möchte heute an Sie appellieren, endlich einen Prozeß der sachlichen Auseinandersetzung auch mit der DDR zu beginnen. Wir könnten, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dieses gemeinsam tun, wenn Sie von Ihrer hoffnungslosenI Opposition gegen die Ostverträge und den Grundlagenvertrag herunterkämen; denn Sie müssen ja zunächst einmal das ist heute hier wieder deutlich geworden — in Ihrer eigenen Fraktion sich über den Weg klar werden, den Sie gehen. Hier hat man heute wieder die Empfindung, die einen dürfen reisen, die anderen reden, und das sind zwei ganz verschiedene Arten von Politik in bezug auf Ost- und Ostwestpolitik.Es gibt im Grunde genommen kein Dilemma der Deutschlandpolitik, die wir nach 1972 entwickelt haben, sondern es gibt nur ein Dilemma der CDU-Außenpolitik. Ihnen fehlt ein einheitliches Konzept, das einen Inhalt hat, mit dem man auch Politik machen kann. Um dieses zu erreichen, müssen Sie sich zunächst auf den Boden der Tatsachen stellen und eine Basis finden, die nicht nur im Innern, für die innere Auseinandersetzung, sondern auch nach außen vertretbar ist. Sie wollen die Gründe dafür, meine Damen und Herren, daß Ihre deutschlandpolitische Konzeption, die Sie hatten, gescheitert ist, immer noch nicht eingestehen. Ich glaube, solange Sie das nicht tun, wird auch in Ihren Reihen keine einheitliche Position in bezug auf die deutsche Außenpolitik möglich sein.Sie haben selbst durch die einseitige Westorientierung die Voraussetzungen geschaffen für die miese Lage, in der sich heute die Frage der deutschen Einheit befindet.
Es war an sich ja überhaupt nicht klar, Herr Kollege Mertes, für uns Berliner war es niemals klar, wie ernst CDU-Regierungen die Politik der Einheit Deutschlands überhaupt genommen haben,
ob sie es lediglich als Pflichtübung der Bevölkerung gegenüber angesehen haben, ob es sich um Lippenbekenntnisse handelte, die keine Grundlage in ihrer Politik fanden, oder ob sie sich so auf dem Irrweg befunden haben, daß sie davon ausgegangen sind, ihre Außenpolitik hätte zur Wiedervereinigung führen können. Jeder ist sich doch darüber im klaren gewesen, daß mit der Gründung der Bundesrepublik — jawohl, mit der Gründung der Bundesrepublik! — die Spaltung Deutschlands festgelegt, fundamentiert worden ist.
Man mag jetzt darüber reden: War das vermeidbar, war das nicht vermeidbar? Ich habe neulich auf diese Bemerkung eine Antwort von einem Ihrer Kollegen bekommen. Die Antwort lautete: Was sollte denn der alte Herr anders tun? — Nun gut, wenn man davon ausgeht, daß der alte Herr nichts anderes tun konnte, als dem Willen der Westmächte nachzugeben, ohne den Versuch zu machen, die deutsche Nation zusammenzuhalten, so wurde aber mit der Gründung der Bundesrepublik ein Weg beschritten, der zwar den Westdeutschen die Durststrecke verkürzt hat, der aber unweigerlich die 17 Millionen der Entwicklung, wie sie gekommen ist, ausgeliefert hat. So ist es zu erklären, wenn
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Mattickunsere Menschen drüben sagen: Ihr habt uns im Stich gelassen!
Damit müssen wir uns heute, glaube ich, abfinden.Meine Damen und Herren, es mag ein Zufall sein, daß diese Deutschlanddebatte heute, am 30. Januar, stattfindet. Dies ist ein historischer Tag, weil dieser Tag den sichtbaren Bruch mit der demokratischen Tradition, die in der Weimarer Republik begründet und versucht wurde, herbeiführte. Der 30. Januar 1933 war die Voraussetzung für den Zweiten Weltkrieg, der von Hitler willentlich vom Zaun gebrochen und vom deutschen Volk total verloren wurde. Er endete nicht nur in der bedingungslosen Kapitulation, sondern auch in der Abtrennung deutscher Gebiete vom ehemaligen Reich, in der Vertreibung von Millionen Menschen aus ihren Heimatgebieten, in der Aufteilung des restlichen Deutschland in Besatzungszonen, kurz in der territorialen Teilung unseres Landes, ganz zu schweigen von der Isolierung und Teilung Berlins.
Herr Abgeordneter Mattick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Bitte!
Herr Kol- lege Mattick, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß der 21. April 1946 — der Tag der Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der damaligen sowjetischen Besatzungszone — der Beginn einer neuen Form der Unfreiheit in Deutschland war?
Da würde ich Ihnen deshalb nicht zustimmen, weil es sich hier nur um einen Prozeß auf dem Wege des Bemühens der Sowjetunion gehandelt hat, den Raum, den sie auf Grund von Vereinbarungen mit den drei Westmächten in Deutschland übernommen hat, in ihre Richtung zu lenken. Aber mit der Zwangsvereinigung war die Entscheidung über die Bildung des DDR-Staates noch nicht gefallen, Herr Mertes.
Ich bleibe dabei: Die eigentliche Entscheidung über die Teilung ist mit der Gründung der Bundesrepublik und der DDR gefallen.
Man mußte wissen, meine verehrten Damen und Herren, was Westorientierung bedeutet. Ich will das nur feststellen, um Ihnen deutlich zu machen, wie das heute auch die Menschen drüben sehen. Die Auseinandersetzung zwischen Westdeutschen, Westberlinern und den Menschen in der DDR findet heute um diese Frage statt. Die Menschen drüben fragen: Was sollten wir denn anderes machen, als uns in diesem Staate einzurichten, nachdem die Entwicklung so gewesen ist? Was sollten wir denn machen? Wir mußten leben, wie ihr drüben lebt, und wir mußten unseinrichten und in diesem Staate leben. Wir konnten ihn nicht überwinden. Eine Hilfe dazu gab es auch nicht. Natürlich wollen wir jetzt, daß dieser Staat sich so entwickelt, daß es uns bessergeht.Ist das nicht ihr Recht? Ich meine, es wäre an der Zeit, mit dem Bürger der DDR so zu sprechen, daß er begreift: Wir sind auch unter den Bedingungen seines Staates an seinem Wohlleben interessiert. Wenn Sie nicht dieser Meinung sind und wenn Sie glauben, ständig durch Verketzerung eine Entwicklung fördern zu können, die Ihnen in Ihrer Vorstellung wohl noch vorschwebt, dann sind Sie völlig auf dem Holzweg.
Sie müssen doch wissen, es gibt nur eine Chance für die Überwindung der gespaltenen Nation: durch soziale Gemeinschaften, Freiheit und Demokratie ein neues Europa zu entwickeln, in dem die gespaltene Nation, in dem die nationalen Kräfte, die sich Deutsche nennen, wieder zusammenfinden können.
Wenn wir uns darüber einig sind, dann gibt es doch nur eine entscheidende Aufgabe, nämlich alles zu tun, was in unseren Kräften steht, um den Menschen zu helfen, die drüben leben, leben wollen, weil sie keinen Ausweg haben, leben müssen, weil ihnen nichts anderes übrigbleibt, als sich dort einzurichten.Dazu gehört sicher, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daß wir unsere Politik darauf einstellen, mit dem heutigen Regime, das drüben regiert, in Verhältnisse zu kommen, die es ermöglichen, daß Verketzerungen schrittweise abgebaut werden. Ich glaube, das ist der einzige Weg, den wir haben.Eine realistische Deutschlandpolitik haben wir eingeleitet. Der Abschluß der Verträge — des Grundlagenvertrages und der anderen Verträge — ebnete den Weg für Verhandlungen um Detailfragen und war nicht das Ende, sondern der Anfang einer Entwicklung. Jeder müßte begreifen: Mit diesen Verträgen beginnt sich überhaupt erst die Spannung zu zeigen. Bis dahin waren die Beziehungen ja tot. Da konnte es keine Spannung geben, sondern nur dauernde Gefahr. Mit dem Vertrag hat die Auseinandersetzung begonnen.Willy Brandt hat am 18. Januar 1973 hier gesagt:Wir wissen . .., dieser Weg ist lang und steinig. Die Menschen und die Regierenden in den beiden deutschen Staaten haben nach vielen Jahren der Nicht-Beziehungen und der Feindseligkeit den Umgang miteinander zu erfahren und zu lernen. Schwierigkeiten und Reibungen werden uns nicht erspart bleiben.Wir sind nie von der Vorstellung ausgegangen, daß mit den Verträgen alle Schwierigkeiten beseitigt sind, sondern umgekehrt, daß wir mit den Verträgen erst beginnen können, die Schwierigkeiten schrittweise abzubauen. Wir haben nie geglaubt, daß dies ein ungestörter Prozeß sein wird. Wenn auch imDeutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. ,Januar 1975 10049MattickGrundlagenvertrag aus den Gründen, die ich hier genannt habe, nicht alle Fragen geregelt werden konnten, eher sogar in manchen wichtigen Fragen ein Dissenz bestehenblieb, so bildet der Vertrag doch für beide deutschen Staaten eine Basis, eine Rechtsgrundlage, um darauf die Beziehungen zu entwickeln, die die weitere Teilung unseres Landes aufhalten können. Wir sind uns darüber im klarenwir sollten das der DDR-Führung auch ganz deutlich sagen —, daß der Grundlagenvertrag und die durch ihn ermöglichten Abkommen zur Regelung humanitärer und praktischer Fragen für keine der beiden Seiten Abmachungen darstellen, aus denen die eine Seite nur Rechte herleiten und Nutzen ziehen kann. Er enthält für beide Teile Rechte und Pflichten.Nun lassen Sie mich ein Wort an Herrn Ho n e c k er sagen. Wer für den Frieden ist, wer die friedliche Koexistenz will, weil ein Zusammenleben unter anderen Voraussetzungen nicht möglich ist, der muß für Verständigung sein; wer Verständigung will, der muß auch Kompromisse schließen. Die Sowjetunion hat dies mit der Vereinbarung über Berlin getan und damit ein Beispiel für eine vernünftige, den gegebenen Tatsachen entsprechende Politik gesetzt. Die DDR hat ihre Position durch die Entwicklung erheblich verbessern können.
Diplomatische Beziehungen mit 112 Ländern und die Mitgliedschaft in der UNO und in anderen internationalen Organisationen haben den Handlungsspielraum der DDR wesentlich vergrößert.
— Ja, so ist es und so muß es sein, wenn wir davon ausgehen, daß die Menschen drüben in diesem Staat zu einem vernünftigen Leben kommen sollen; denn wir können den Staat nicht beseitigen. Folglich müssen wir unseren Beitrag dazu leisten, soweit wir uns auch selber dadurch helfen und der deutschen Nation in ihrem Zusammenleben einen Dienst erweisen.
Beide deutsche Staaten tragen in ihrem Verhältnis zueinander die Verantwortung vor Europa und vor der Welt. Gutnachbarliche Beziehungen, die dem Zusammenleben und dem Frieden dienen sollen, müssen vor allen Dingen auch in Deutschland praktiziert werden.Diesem guten Zusammenleben stehen die Absperrmaßnahmen und manches andere der DDR gegenüber. Ich möchte hier in diesem Hause ausdrücklich sagen: Die DDR-Führung sollte sich doch einmal überlegen, welche Leistung der deutsche Arbeiter in der DDR in den letzten 20 Jahren vollbracht hat. Unter weit ungünstigeren Umständen und Voraussetzungen, unter weit ungünstigeren Gewohnheiten und Arbeitsbedingungen hat der deutsche Arbeiter auf der anderen Seite Leistungen vollbracht, die heute dazu führen, daß das Leben in der DDR, gesehen im Verhältnis des Ostblocks, sich weit überdem Normalen entwickelt hat. Ich meine, die DDR-Führung sollte doch auch begreifen, daß es jetzt an der Zeit ist, zu überprüfen, ob man die Bürger mit diesem Fleiß, mit dieser Leistung und mit dem Bewußtsein, daß man in diesem Staat auch etwas tun muß, noch durch diese Absperrmaßnahmen unter eine Kuratel stellen sollte, das nicht mehr in unsere Zeit paßt, das nicht in Europa paßt, das nicht in die Bedingungen der UNO-Charta hineingehört und das letztlich ein entscheidendes Spannungselement der heutigen Zeit ist.
Ich sage ganz offen: ich gehe davon aus, daß die Notwendigkeit, die die DDR-Führung früher einmal gesehen hat, heute auch von ihrem Standpunkt aus nicht mehr gegeben ist. Unser Appell drückt aus, daß uns daran liegt, daß sich die Beziehungen auch der Menschen untereinander zwischen beiden Teilen Deutschlands verbessern.Meine Damen und Herren, aber trotz allem, was uns in vielen Dingen trennt, scheint die DDR einer sachlichen Kooperationspolitik nicht mehr auszuweichen. Beide Teile Deutschlands sind unauflöslich in den globalen Entspannungsprozeß eingebunden. Es mag hüben wie drüben Scharfmacher und auch solche, die nie aus der Geschichte lernen, geben. Extreme berühren sich, aber der Grundsatz, daß den Deutschen nur sachliche Kooperation weiterhilft, I ist einerseits selbstverständlich und bezieht sich andererseits auf eine Lebensfrage.Die Sozialdemokratische Partei hatte am vorletzten Wochenende eine außenpolitische Konferenz, auf der wir auch Gäste aus anderen Ländern hatten. Im Rahmen der Erörterungen dort sagte der Vertreter der polnischen Gruppe, Professor Drobosielski, den viele hier in diesem Hause kennen: Entspannungspolitik ist für Polen eine Lebensfrage, eine Frage auf Leben und Tod. — Ich glaube, mit diesem einen Satz hat er einen tiefen Gedanken ausgedrückt. Er sagte: eine Lebensfrage. Wenn es nämlich keine Entspannung gibt, gibt es auch das zweite nicht, was er im Rahmen der Erörterungen zum Ausdruck gebracht hat: Wir Polen legen Wert darauf, nicht in Abhängigkeit von irgend einer Großmacht zu leben, sondern unabhängige Politik zu betreiben. Jeder mag diesen Satz gerade von diesem Mann durchdenken.Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen in einer Auseinandersetzung — Herr Carstens hat sie hier heute noch einmal aufgenommen — über das neue Nationaldenken der DDR. Herr Honecker hat wahrscheinlich in der Auseinandersetzung in seinem eigenen Volk über die Streichung des Wortes „deutsch" aus der Verfassung eine Reihe von Fragen erlebt, die ihn in Erstaunen versetzt haben und spürbar werden ließen, wieweit die Nation im Volke verankert ist.
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10050 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
MattickEr hat auf Fragen dieser Art folgendes gesagt:Unser sozialistischer Staat heißt Deutsche Demokratische Republik, weil ihre Staatsbürger der Nationalität nach in der übergroßen Mehrheit Deutsche sind. Es gibt also keinen Platz für irgendwelche Unklarheiten beim Ausfüllen von Fragebogen, die hier und dort benötigt werden. Die Antwort auf diesbezügliche Fragen lautet schlicht und klar und ohne jede Zweideutigkeit: Staatsbürgerschaft: DDR, Nationalität: deutsch. So liegen die Dinge.Soweit das Zitat von Herrn Honecker.Ich glaube, mehr können Sie eigentlich nicht erwarten, um auch von dieser Seite einen deutlichen Hinweis zu haben, daß die Voraussetzungen dafür, daß die Deutschen auch wieder einmal zusammenleben können, nicht ausgelöscht sind, sondern daß auch Honecker Bemerkungen machen muß, um den Menschen verständlich zu machen, was er und die DDR- Führung meinen.
Herr Abgeordneter Mattick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Herr Kollege Mattick, ist Ihnen bekannt, daß das sowjetische Staatsbürgerschaftsrecht ebenfalls eine sowjetische Staatsbürgerschaft und eine deutsche Nationalität kennt, und meinen Sie deshalb nicht, daß die positiven Schlußfolgerungen, die Sie aus den Honeckerschen Feststellungen ziehen, zu optimistisch sind?
Ich habe nicht verstanden, wie Sie das meinen. Herr Professor Carstens hat hier vorhin die Frage aufgeworfen: Was ist die Nation? Er hat außer acht gelassen, daß die Nation zur Zeit nur noch in dem menschlichen Bewußtsein der einzelnen Teile dieser Nation bestehen kann und daß die DDR-Führung ihren Bürgern — in der Nachfolge des Beschlusses den sie vor einem Vierteljahr gefaßt hat -- heute sagt: Wenn auf einem Formular nach der Nationalität gefragt wird, schreibst du logischerweise „deutsch". Dies ist doch mehr als nur eine Abfindung. Ich meine, wir sollten das zur Kenntnis nehmen und uns darüber nicht so sehr den Kopf zerbrechen. Wir sollten uns vielmehr darüber den Kopf zerbrechen, wie wir zu einer Entwicklung überleiten können, in der es wirklich möglich ist, über diese Dinge zu sprechen.Verehrte Anwesende, einige in der CDU setzen heute das fort, was als konkurrierendes Verhältnis zum Osten diesen Teil der Welt instabil halten soll. Der „Bayern-Kurier" erklärte am 5. August ganz offen den außenpolitischen Stil, den Franz Josef Str a u ß in seinem Part der CDU/CSU-Ostpolitik zu zeigen pflegt. Er schrieb:Eine von der CDU/CSU gebildete Bundesregierung, die sich einerseits für verstärkte europäische Integration einsetzt und andererseits diplomatische Kontakte mit China sucht, kann neue Unruhe unter den Völkern der Satellitenländer entfachen, was auch die KP-Führungen zwingt, ihre Einstellung gegenüber Moskau zu revidieren.Ich bitte, das sehr genau zur Kenntnis zu nehmen. Dies ist keine Entspannungspolitik, auch kein Wille zur Zusammenarbeit, sondern die Konfliktpolitik, die bis 1968 betrieben worden ist, die zur Mauer und zur Erstarrung geführt hat.
Wir werden diese Politik nicht mitmachen. Solange dies noch Denkmodelle in der Opposition sind, wird es, dessen bin ich sicher, leider auch keine Gemeinsamkeit geben können. Ich komme auf die Bemerkung zurück: Sie müssen erst bei sich selbst die Dinge in Ordnung bringen.Ich möchte noch ein Beispiel nennen. Da hat das „Neue Deutschland" an einem Tag 39 Worte in seiner Ausgabe über die Paraphierung der Swing-Vereinbarung gebracht. Das hat einen Mann in diesem Hause veranlaßt, innerhalb von fünf Stunden folgendes zu schreiben:Die DDR kann ihre Politik der Vertragsverletzungen durch einen neuerlichen Erfolg bestätigt sehen. Die Bundesregierung ist auf die Taktik der SED, Vertragsverletzungen zum Gegenstand neuer Verhandlungen zu machen, voll hereingegefallen. Die Bundesregierung leistet damit weiteren Erpressungen und Vertragsverletzungen der DDR Vorschub.Weiter heißt es dort:Im übrigen ist Bundeskanzler Schmidt mit der Mischung aus Verdunkelung, Dilettantismus und finanzieller Großzügigkeit in die Fußstapfen der Brandt/Bahrschen Deutschland- und Ostpolitik getreten.Sehen Sie, meine Damen und Herren, solange Sie solche Töne zulassen, gibt es leider keine Gemeinsamkeit und haben Sie keine Konzeption; sonst würden Sie das nicht zulassen.Ich möchte zu dieser Auseinandersetzung hier noch folgendes sagen. An sich hatte ich die Hoffnung, und zwar angesichts der Entwicklung, die wir hinter uns haben, vielleicht auch angesichts des Tages, der uns an einiges erinnert, und vielleicht auch durch die Tatsache, daß eigentlich viele Hörer draußen denken werden: „haben die heute keine anderen Sorgen, als über anderthalb Tage diese Debatte zu führen? gibt es nicht drängendere Fragen, deren Lösung uns anstünde?", dieser Tag könnte geeignet sein, einen gewissen Schlußstrich unter die Auseinandersetzung der Vergangenheit und unter die Aktuellen Stunden zu setzen, die dazu benutzt werden, bei jedem, was in der DDR und von der DDR nicht ganz funktioniert, bei jeder Kleinigkeit, bei jedem Ärgernis hier die Regierung herauszufordern und anzuklagen, statt gemeinsam mit der Regierung gegen diese Kleinlichkeiten, Ärgernisse und Schwierigkeiten anzugehen.
Sie klagen immer die Regierung an, weil Ihnen dieganze Richtung nicht paßt und es bei jeder Ausein-
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Mattickandersetzung nicht um den Punkt geht, sondern darum, wieder diese Regierung öffentlich zu diffamieren.Wir tragen dies in dem Bewußtsein, daß unsere Politik in den letzten fünf Jahren einen Weg eingeleitet hat, den wir uns von niemand zerstören lassen wollen, weil wir wissen, daß es dazu keine Alternative gibt, es sei denn ein neuer kalter Krieg oder seien es Weiterungen. Wir gehen mit dieser Politik in eine Zukunft, von der wir hoffen, daß Schritt für Schritt auch auf der anderen Seite der heute noch bestehenden Mauer Veränderungen eintreten, die allerdings nicht die Grenze und die Differenzen in der politischen Einstellung und der Gesellschaftsordnung beseitigen. Aber wenn es irgendeinen Punkt in der Welt gibt, meine Damen und Herren, wo der Beweis erbracht werden kann und muß, daß zwei Gesellschaftsordnungen nebeneinander, miteinander auskommen können und sich gegenseitig helfen können, dann ist das Deutschland, dann ist das Deutschland mit seiner geographischen Situation, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, mit dem Zustand Berlins — in zwei Teile gespalten —, einem Zustand, der auf die Dauer nur erträglich und möglich ist, wenn es eine solche Entwicklung zu einem friedlichen Nebeneinander und Miteinander zweier Gesellschaftsordnungen gibt.
Darum, meine ich, ist dieser Weg unser Weg, für uns, für die Menschen in unserem Lande, für die Menschen auf der anderen Seite, um die es nämlich geht, über die wir so viel reden, und früher fiel ja immer noch das Wort „unsere Brüder und Schwestern".
Sie werden ihre Existenz nur verbessern, wenn diese unsere Politik erfolgreich bleibt und fortgesetzt wird.
Das ist unsere Politik, und ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, daß wir auf der Ebene sachlicher Gemeinsamkeit in Zukunft Diskussionen darüber führen. Dazu bedarf es einer gewissen Einsicht in Ihren Reihen.Herr Professor Carstens hat hier von den Haßtiraden der anderen Seite gegen uns gesprochen. Meine Damen und Herren, es gibt einige Männer hier in diesem Hause, die jede Woche einmal Haßtiraden gegen die Regierung abladen. Sorgen Sie dafür, daß dies erst einmal aufhört! Dann wird mindestens unser moralischer Anspruch stärker sein, als er heute ist. Das muß ich angesichts dieser Auseinandersetzung hier doch sagen.
Ich möchte mir eine Schlußbemerkung erlauben und damit noch einmal auf unseren Kongreß zurückkommen. Professor Inosemzew vom Staatlichen Institut für weltwirtschaftliche Fragen und inter-nationale Zusammenarbeit in Moskau, der an unserem Kongreß teilgenommen hat, hat uns in einer Aussprache erklärt, die Sowjetunion sei heute an der Entwicklung einer Weltkrise nicht mehr interessiert
und sie werde auch nichts dazu tun, sie zu verschärfen. Die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet sei heute schon so weit entwickelt, daß die Sowjetunion selbst unter einer Weltkrise leiden würde. Dies ein gutes, interessantes Wort; ich nehme es ernst. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Wege.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Meine Damen und Herren, ich mache auf folgendes aufmerksam. Die Fraktion hat eine Redezeit von 50 Minuten angemeldet. Um Zeit zu sparen, werde ich jetzt nicht unterbrechen. Die Zeit bis 13.30 Uhr ist länger als 50 Minuten. Wir werden daher die Fragestunde um eine Viertelstunde oder 20 Minuten verschieben.
Bitte schön, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einigen Jahren konnte der erste Bericht zur Lage der Nation noch zu einem Bestseller werden. Das Thema war hochaktuell und traf damals auf ein unerhörtes Informationsbedürfnis. Der i Bericht wurde deshalb ausgiebig diskutiert. Demgegenüber ist die Entgegennahme des jetzt vorgelegten dritten Berichts und seine Kommentierung in der Öffentlichkeit als absolut undramatisch zu bezeichnen. Heute muß sich die Regierung schon noch etwas einfallen lassen, um den beachtlichen Informationswert auch voll wirksam werden zu lassen. Darauf, daß sich durch die gelieferten Informationen eine heilsame Wirkung für die Versachlichung unserer innenpolitischen Diskussion ergeben könnte, sollten wir keinesfalls verzichten. Gerade die vergleichende Darstellung der nüchternen Fakten aus beiden deutschen Staaten, nicht zuletzt auf den diesmal dokumentierten Gebieten der gesellschaftlichen und sozialen Bereichen, kann die Erkenntnis wachsen lassen, daß die Zustände hier lebenswert und dieser Staat liebenswert ist.Meine Damen und Herren! Das sich abschwächende Interesse der breiten Öffentlichkeit deutet darauf hin, daß die Deutschlandpolitik viel von ihrem spektakulären Charakter für den Bürger verloren hat. Er hat sich offensichtlich auf ein längeres Nebeneinander von zwei deutschen Staaten eingerichtet: Die stärkste Resonanz hat noch jener Teil des Berichts gefunden, der sich mit der Frage der Nation beschäftigt. Dies ist nur natürlich. Denn schließlich handelt es sich um ein Kernstück unserer Deutschlandpolitik, wie dies schon aus den Kasseler Punkten deutlich geworden ist.Meine Damen und Herren! Die in Deutschland entstandenen zwei Staaten mit entgegengesetzten Ge-
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10052 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Hoppesellschaftsordnungen haben vor zwei Jahren, nämlich am 21. Dezember 1972, den Grundlagenvertrag geschlossen. Sie haben damit einen Beitrag zur Entspannung und Sicherheit in Europa leisten wollen. Die deutsche Politik wäre zu einem internationalen Störenfried geworden, und die Bundesrepublik hätte ihre westlichen Verbündeten entnervt, wenn wir in Untätigkeit verharrt wären. Es war nicht mehr damit getan, die durch den Krieg herbeigeführte Teilung Deutschlands zu beklagen.
Wir mußten uns zu einem eigenen politischen Handeln bereit finden. Gerade aus nationalem Interesse war es nötig, sich in den Entspannungsdialog der Supermächte einzufügen. Nur so, meine Damen und Herren, konnten wir verhindern, zum Gegenstand und bloßen Objekt dieser auf Ausgleich gerichteten Politik zu werden. Der Herr Oppositionsführer stellt, so meine ich, die damalige Weltlage auf den Kopf, wenn er so tut, als hätte die Ostpolitik der Bundesregierung den Entspannungsdialog der Supermächte bestimmt. Nein, meine Damen und Herren, umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die von den Großmächten damals geschaffene Weltlage wurde und wird bis heute von einer weltweiten Entspannungsidee beeinflußt.
Die Kündigung des zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR abgeschlossenen Handelsabkommens signalisiert nicht das Ende dieser Politik. Es ist nur für alle deutlich geworden, daß Entspannungspolitik nicht Politik der Stärke mit anderen Mitteln sein kann. Wer vom anderen etwas verlangt und spektakulär durchsetzen will, was sich als Gesichtsverlust der anderen Seite darstellt, der überreizt. Meine Damen und Herren, leise Töne und Verhandlungen im stillen Kämmerlein dürften auch weiter hier erfolgversprechender sein.Was zur Ost- und Deutschlandpolitik hier heute vom Herrn Oppositionsführer ausgeführt worden ist, war in mancher Hinsicht bemerkenswert. J eden-falls, verehrter Herr Carstens, ist doch der Versuch kurios, Herrn Staatssekretär Gaus zum Kronzeugen der Opposition für ihre Kritik an der Deutschlandpolitik der Regierung stempeln zu wollen. Nun war dies vorauszusehen, und deshalb hat Herr Staatssekretär Gaus die Beratungen im Innerdeutschen Ausschuß genutzt, um die Unterstellungen der Opposition zurückzuweisen
und um sich mit dem dazu gezauberten Meinungsbild auseinanderzusetzen. Aber das ficht Sie offenbar überhaupt nicht an. Deshalb möchte ich sagen: Mehr Redlichkeit ist — so glaube ich — die primitivste Voraussetzung für ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit.Das gilt auch für die Art und Weise, in der Sie das so schwierige und heikle Thema der Grenzfestlegung im Elbbereich behandeln.Die Verletzungen der Menschenrechte in der DDR haben der Bundeskanzler wie der Oppositionsführer angeklagt. Hier gab es Gemeinsamkeiten. Es gab sie auch im Innerdeutschen Ausschuß, als wir gegen die inhumane Grenze mit Minenfeldern und Selbstschußanlagen protestierten. Aber diese Übereinstimmung scheint der Opposition einfach nicht zu reichen. Sie möchte sich ganz offensichtlich als Anwalt der Unterdrückten in den Vordergrund spielen. Selbst das wäre erträglich, wenn dieser Versuch nicht immer auf zweifelhaften Wegen und mit zweifelhaften Methoden verfolgt würde.Wenn Sie, verehrter Herr Kollege Carstens, den Widerspruch beklagen, den Sie hier im Haus erfahren, dann müssen wir uns doch wohl an die näheren Umstände erinnern. Die Opposition stößt immer dann auf Widerspruch, wenn internationalen Konferenzen, die sich mit internationalen Themen beschäftigen, ein innerdeutsches Problem aufgezwungen werden soll. Hier sind wir allerdings der Meinung, daß mit so viel Aufdringlichkeit nur störende Begleitmusik für internationale Konferenzen geliefert würde, was unseren Interessen kaum förderlich sein kann. Eine solche Haltung mag dem Prestigebedürfnis der Politiker in Ostberlin entsprechen. Wir können darauf sehr gut verzichten.Der Beitrag der deutschen Politik zur europäischen und internationalen Entspannung mußte den deutschen Politikern und dem deutschen Volk nicht von außen aufgezwungen werden. Nach der in den ersten Nachkriegsjahren herbeigeführten Westintegration, nach der Aussöhnung mit unseren Kriegsgegnern in Westeuropa, insbesondere Frankreich, und nach den Bemühungen um eine Versöhnung mit dem jüdischen Volk bestand bei den Menschen mehr als 20 Jahre nach Kriegsende eine ganz natürliche Sehnsucht nach Aussöhnung auch mit den Staaten des Ostblocks. Das schloß insbesondere das Verlangen nach Normalisierung der Beziehungen zum zweiten deutschen Teilstaat ein, gewiß das heikelste Kapitel deutscher Politik.
Brisant und schwierig; denn inzwischen war jedem mehr oder weniger bewußt geworden, daß der in der Präambel zum Grundgesetz erteilte Auftrag zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit einer geteilten Nation nicht mehr Inhalt unserer Tagespolitik sein konnte. Das Bedürfnis und der Zwang, Realitäten zu gestalten und sie politisch und inhaltlich konstruktiv zu formen, wurden mehr und mehr als vordringliche Aufgabe empfunden, stärker als die Hoffnung auf das verbleibende Ziel, auf Wiedervereinigung.Die in der Aussöhnung mit dem Osten herbeizuführenden Lösungen verlangten von der deutschen Seite die Bereinigung des territorialen Konflikts. Das war insbesondere im Verhältnis zu Polen offenkundig geworden, wo es anderenfalls keine Normalisierung geben konnte. Die territorial bezogene Entscheidung der deutschen Politik war möglich, weil in unserem Volk die Empfindungen dafür lebendig
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10053
Hoppewaren, wie sehr gerade das polnische Volk unter dem Krieg und seinen Folgen zu leiden hatte.Durch den Abschluß der Gewaltverzichtsverträge schuf die Regierung die Voraussetzungen für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu allen Ostblockstaaten und gab damit gleichzeitig einen entscheidenden Impuls für die Fortentwicklung unseres politischen Arrangements in Westeuropa; denn den in der EWG zusammengeschlossenen Staaten konnten wir die Hinwendung zu einem politischen Zusammenschluß Europas erst zumuten, nachdem sie durch unsere ostpolitischen Entscheidungen von unzumutbaren Hypotheken befreit waren.
Schon der französische Staatspräsident de Gaulle war nicht mehr bereit, das europäische Boot mit den Problemen der deutschen Ostgrenzen beschweren zu lassen.
Meine Damen und Herren, eine Politik der praktischen Vernunft mußte sich bewähren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger ?
Bitte sehr!
Herr Kollege Hoppe, soll ich aus Ihren letzten Worten zur Befrachtung des europäischen Zusammenschlusses mit deutschen Problemen entnehmen, daß für die Fraktion der FDP der Vorbehalt früher geschlossener Verträge und insbesondere der Bezug auf den Deutschlandvertrag und seinem Artikel 7, der nach wie vor auch für unsere westlichen Verbündeten bindendes Vertragsrecht ist, nicht mehr gelten soll?
Herr Jäger, Sie sollten daraus nur entnehmen — und ich hoffe, Sie werden es jetzt tun —, wie sehr Übereinstimmung zwischen der Ostpolitik dieser Regierung und der westeuropäischen Politik bestanden hat, so daß wir diese Außenpolitik, in die die Deutschlandpolitik eingefügt ist, als Einheit unseres politischen Tuns empfinden.
Meine Damen und Herren, die Ostpolitik hatte sich an der Notwendigkeit zu orientieren, die gefährdete Region Berlin aus den Streitigkeiten der Nachkriegsjahre herauszuholen und sie in einer Phase der Entspannung und Aussöhnung mit den Ostblockstaaten endgültig zu sichern. Auf die Zugriffe des Ostens 1948 mit der Blockade, 1958 mit der Chruschtschow-Drohung, dem Ultimatum und dem Bau der Mauer sowie der neuen politischen Offensive 1968 zur Durchsetzung der Drei-StaatenTheorie war bislang nicht mit einer umfassenden politischen Gegenaktion reagiert worden; von Fall zu Fall wurde der jeweilige Angriff immer nur punktuell abgewehrt. Immer dringender wurde deshalb die Forderung nach einer politischen Lösung, einer Lösung, mit der diesem Platz im Interessenausgleich zwischen Ost und West wieder ein zukunftsorientierter Inhalt gegeben werden konnte.Die Politik der sozialliberalen Koalition ist dieser Forderung nachgekommen. Mit den Verträgen von Moskau und Warschau und dem durch den damaligen Außenminister Walter Scheel damit zu einem Junktim verbundenen Viermächteabkommen über Berlin wurde eine befriedigende Lösung gefunden, eine Lösung, die gleichzeitig Möglichkeiten vertraglicher Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten eröffnete. Der Grundlagenvertrag hat dann eine qualvolle Periode deutscher Nachkriegsgeschichte beendet und eröffnete die Chancen zu einem geregelten Nebeneinander beider deutscher Staaten.Meine Damen und Herren, es sollte in dieser Debatte gelingen, eine nüchterne Bestandsaufnahme vorzunehmen. Es ist nicht sinnvoll, immer nur Schlaglichter zu debattieren; aktuelle Stunden können bei stets eingeengter Thematik leicht den Blick auf das Ganze verstehen. Es hilft nicht weiter, wenn die Bundesregierung immer nur Glanzstücke vorzeigt, und die Opposition immer nur schwarz malt und Schatten an die Wand wirft.
Nein, meine Damen und Herren, wir alle sollten die Schwierigkeiten und Ärgernisse, die uns die Ausfüllung des Viermächteabkommens und des Grundlagenvertrages noch bis auf den heutigen Tag erschweren, nicht beiseite schieben wollen oder auch nur gering werten.Aber auch die Opposition sollte nicht Feststellungen überhören oder negieren wollen, die zum Beispiel der amerikanische Botschafter getroffen hat. Nach seiner Überzeugung haben die Verträge der Bundesrepublik im Verhältnis zur DDR und den Ostblockstaaten einen neuen Anfang in den politischen Beziehungen ermöglicht, und Berlin — in seinen politischen Bindungen gefestigt, in seiner Lebensfähigkeit auf Dauer gesichert — die Chance eröffnet, von einem Konfliktfall internationaler Politik zu einem Schauplatz friedlicher Zusammenarbeit zu werden. Die Kritik der Opposition wirkt dagegen doch sehr blaß!Es wird nicht geleugnet, daß es in Berlin und bei der Fortentwicklung unserer Beziehungen zur DDR noch eine Reihe offener Fragen gibt. Eine andere Methode, mit der man unbequemen Themen ausweichen wollte, würde die Probleme nicht lösen. Vergeßlichkeit ist auch kein taugliches Mittel der Politik. Die Bundesregierung wird sich weiterhin mit aller Konsequenz dafür einzusetzen haben, daß das Viermächteabkommen in seinen außen- und innenpolitischen Inhalten voll realisiert wird. Eine Fortsetzung der Großmachtpolitik mit Berlin als Hebel der Politik darf es nicht geben und dürfen wir nicht zulassen.
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10054 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
HoppeWer von uns verlangt, daß wir das Viermächteabkommen strikt einhalten — und dazu sind wir bereit —, muß sich beim eigenen Wort nehmen lassen und das Viermächteabkommen seinerseits voll anwenden. Bundeskanzler Helmut Schmidt hat das in seiner Erwiderung auf den Toast des KremlFührers Breschnew bei seinem Moskau-Besuch denn auch sehr deutlich gesagt.Meine Damen und Herren, ich wiederhole es: wir erwarten von der Sowjetunion, daß sie der Bundesrepublik nicht länger das Recht bestreitet, Berlin in alle internationalen Verträge einzubeziehen, nachdem die Sowjetunion als Signatarmacht eben dieser Bundesregierung vertraglich eingeräumt hat, daß sie es tun kann.
Es darf nicht von der Interessenlage oder der Willkür der sowjetischen Regierung abhängen, welche Verträge auf Berlin erstreckt werden können und welche nicht.
Wenn der Statusvorbehalt die Einbeziehung nicht behindert, gibt es keine Gründe, die Vertragsausdehnung auf Berlin zu verweigern.
Auch die Tatsache, daß Berlin inzwischen in 19 Vertragswerke mit der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten einbezogen werden konnte, ändert nichts an der prinzipiellen Bedeutung dieser Frage.Der Opposition, so scheint mir, ist die Kritik oder gar die Schadenfreude an dieser Stelle ganz bestimmt verwehrt.
Denn wenn jemand in dieser für Berlin so eminent wichtigen Frage geschludert hat, dann war es gerade die CDU/CSU, als sie in der Regierungsverantwortung war.
Meine Damen und Herren, solange die Sowjetregierung der Bundesregierung den ihr eingeräumten Handlungsspielraum in den bilateralen Beziehungen selbst nicht voll zugesteht, wird sie es als Führungsmacht des Ostblocks auch ihren Bundesgenossen schwermachen, dem Viermächteabkommen voll gerecht zu werden. Das gleiche gilt für das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Bei der Aushandlung der Folgeverträge türmen sich immer noch Probleme auf. Die Einbeziehung Berlins in die Verträge wird auch hier zum Gradmesser der Ernsthaftigkeit der Entspannungspolitik.
Meine Damen und Herren, zu einem unbelasteten Verhältnis gehört ganz gewiß auch, daß die DDRnicht wieder ihre Muskeln auf den Transitwegen spielen läßt. Besondere Verkehrslagen können vertragswidriges Verhalten genauso wenig rechtfertigen wie der mögliche Hinweis, daß Dienst nach Vorschrift auch in der Bundesrepublik anzutreffen sei. Auch bei den Umtauschquoten sollte die DDR uns die Zumutung ersparen, mit einem „bißchen Vertragswidrigkeit" leben zu müssen.Aber, meine Damen und Herren, alles in allem haben wir guten Grund, mit Genugtuung auf das Erreichte zu schauen. Wer kritisch urteilen will, darf sich an der Gesamtschau nicht vorbeidrängeln wollen. Einzelkritik — gewiß zulässig — darf nicht in Miesmacherei ausarten. Zu dieser Methode neigt oft die parlamentarische Opposition.Inhalt und Ziele unserer Politik stehen mit dem in der Präambel des Grundgesetzes formulierten verfassungspolitischen Auftrag, die nationale und staatliche Einheit zu vollenden, im Einklang. Alle im Bundestag vertretenen Parteien haben sich bisher dem Wiedervereinigungsgebot ohne Vorbehalt oder Einschränkung verpflichtet gefühlt. Einer Erinnerung oder gar Aufmunterung durch das Bundesverfassungsgericht bedurfte es nicht.
Dennoch, meine Damen und Herren, hat der Grundlagenvertrag bei einem Teil der parlamentarischen Opposition Zweifel an seiner Verfassungskonformität und damit zugleich an der Verfassungstreue der Regierung aufkommen lassen. Als Anlaß nahm sie die Tatsache, daß die Bundesregierung in einem entscheidenden Punkt ihre politischen Zielvorstellungen nicht durchsetzen konnte. Die Regierung der DDR lehnte es ab, die besondere Lage in Deutschland und der Deutschen in dem Vertrag in der Weise zu beschreiben, daß sie in zwei Staaten leben und sich dennoch als Angehörige einer Nation verstehen. Das Bekenntnis zur Einheit der Nation ist nicht Bestandteil einer gemeinsamen Vertragspolitik geworden. Die offen gebliebene Frage nach der Einheit der Nation wurde vielmehr zum Streitpunkt zwischen den beiden deutschen Staaten. Die zukünftige Entwicklung ist daher nicht ohne Risiken. Wir alle haben bereits zur Genüge erfahren, wie sehr dieser Gegensatz Konflikte nährt. In der Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten wird er uns auch künftig Auseinandersetzungen bescheren.Die offen gebliebene nationale Frage ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag identisch mit dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes. Aber gerade unter dieser Prämisse hat das Gericht mit erfrischender Klarheit bestätigt, daß der Grundlagenvertrag zum grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebot nicht im Widerspruch steht. Die Bundesregierung hat durch den Vertrag nicht den Rechtstitel verloren, überall im internationalen Verkehr nach wie vor die staatliche Einheit des deutschen Volkes im Wege seiner Selbstbestimmung zu fordern
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10055
Hoppeund in ihrer Politik dieses Ziel mit friedlichen Mitteln anzustreben. Die Bundesregierung, Herr Jäger, hat diesen Spielraum auch voll genutzt und ihre Rechtsposition international notifiziert, ohne allerdings — vielleicht hätten Sie daran Lustgewinn gehabt — das Weltforum der UNO zu einem Schauplatz der deutschen Auseinandersetzung werden zu lassen.
Meine Damen und Herren, bei den Bemühungen um normale gutnachbarliche Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten spielen bei der beschriebenen Grundposition der Vertragspartner naturgemäß die praktischen und humanitären Bereiche eine entscheidende Rolle. Von hervorstechender Bedeutung sind also jene Bereiche, die der Erweiterung der persönlichen Kontakte dienen, und dazu gehören vornehmlich der Besuchs-, Reise- und Postverkehr.Wenn es dabei nach der erklärten Absicht der Bundesregierung darum geht, den nationalen Gedanken zu wahren und zu beleben, muß dies bei der bekannten Gegenposition der DDR fast zwangsläufig Abwehrmaßnahmen auslösen. Deshalb wird die Führung der DDR so lange auf Abgrenzung sinnen, wie das Bekenntnis zur Einheit der Nation politische Relevanz behält. Es scheint nämlich keinesfalls zwingend, daß die nationale Frage ihre gegenwärtige Bedeutung für die Wiedervereinigung ipso jure behält; ihr Eigengewicht könnte auch überschätzt werden. Wer wollte schließlich leugnen, daß selbst Optimisten die Überwindung der Zweistaatlichkeit in einem überschaubaren Zeitraum für so gut wie ausgeschlossen halten.
Meine Damen und Herren, die Identität von nationaler und staatlicher Einheit besteht in der Realität nicht mehr. Sie kann gegenwärtig allenfalls in zwei Phasen mit sich bedingenden Abhängigkeiten umgedeutet werden; der Zusammenhang bleibt dabei gewahrt, weil und solange die Einheit der Nation als zwingende Voraussetzung für die Rückgewinnung der staatlichen Einheit angesehen wird.Welche Bedeutung die DDR dem Gedanken von der Einheit der Nation beimißt, ist ihrer Verfassungsänderung aus Anlaß des 25. Jahrestages der Gründung der DDR zu entnehmen. Diese Änderung stellt den innen- wie außenpolitisch angesetzten Versuch dar, die Eigenstaatlichkeit rechtlich zu untermauern und besonders spektakulär herauszustreichen. Die Verfassungsänderung ist ein Mittel, das Staatsbewußtsein zu stärken, internationales Renommee zu erlangen sowie ideologische und politische Unabhängigkeiten zu demonstrieren. Der andere deutsche Staat will aus dem Schatten der Bundesrepublik heraustreten. Es geht ihm um mehr, als sich nur eigenes Profil zu geben; er will die Eigenstaatlichkeit auf Dauer absichern. Offensichtlich unternimmt die DDR dazu den Versuch, sich in einer Großnation der sozialistischen Gesellschaftsordnung anzusiedeln und sich damit von den Kriterien desüberkommenen Nationenbegriffs wie gemeinsame Sprache, gemeinsame Kultur und Geschichte zu lösen.Es kann daher auf unserer Seite eigentlich niemanden überrascht haben, daß die DDR ihren Auftritt in der UNO dazu benutzt hat, für die Anerkennung ihrer These von der sozialistischen Nation in einem Weltsystem zu werben. Im ersten Zugriff hat sie die Anerkennung dafür nicht erlangen können. Der Bundesaußenminister ist den vor der Vollversammlung vorgeschlagenen Konstruktionen der Herren Winzer und Norden mit Nachdruck entgegengetreten. Dem rein ideologisch konstruierten Nationalitätenbegriff der Kommunisten hat er die Auffassung von einem Selbstbestimmungsrecht entgegengestellt, das auf die Wiedererlangung der staatlichen Einheit in freier Selbstbestimmung abzielt. Dennoch wird die DDR mit Unterstützung der internationalen Solidarität des kommunistischen Lagers ihr Ziel weiterhin verfolgen und versuchen, in einem auf Zeit angelegten Gewöhnungs- und Ermüdungsprozeß langsam an Boden zu gewinnen. Diese Annahme wird erhärtet durch die Kontroverse, zu der es in der Plenarsitzung der UNO am 6. Dezember 1974 zwischen der Bundesrepublik und der DDR gekommen ist. Erneut sind dabei in den Reden des Kollegen Dr. Mertes für die Delegation der Bundesrepublik Deutschland und des Vertreters der DDR bei der UNO, Peter Florin, die gegensätzlichen Standpunkte deutlich geworden. Im Namen der Bundesregierung hat der UNO-Botschafter Freiherr von Wechmar die vom Kollegen Dr. Mertes vorgetragenen Ziele der Vertragspolitik noch einmal bekräftigt und der durch den Vertreter der DDR-Regierung vorgenommenen Verfassungsauslegung, die im Widerspruch zur Auffassung der Bundesregierung steht, widersprochen.Die DDR will mit der von ihr auf internationaler Ebene bezogenen Position die Bewußtseinsbildung in ihrem eigenen Herrschaftsbereich abschirmen. Die Entscheidung selbst wird sich aber bei den Menschen in den beiden deutschen Staaten vollziehen. Von uns allen wird es abhängen, ob der Wille zur Einheit der Nation in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus lebendig bleibt und sich als lebensfähig erweist. In den zwischenstaatlichen Beziehungen sind nach den Verfassungsänderungen der DDR die Auseinandersetzungen jedenfalls überall dort vorprogrammiert, wo die DDR auf dem Beweis und der Anerkennung ihrer staatlichen Eigenständigkeit und ihrer von der kapitalistischen Bundesrepublik deutlich abgehobenen sozialistischen Gesellschaftsidee bestehen muß. Dies läßt für die Verhandlungen über den Abschluß der Folgeverträge dort nichts Gutes erwarten, wo, wie zum Beispiel beim Rechtshilfeverkehr, mit der Frage der Staatsangehörigkeit schier unüberbrückbar scheinende Positionen aufgebaut sind. Die DDR wird uns diesen Konflikt nicht ersparen. Wir sollten darauf vorbereitet sein. Die öffentliche Diskussion über die deutsche Staatsangehörigkeit im Zusammenhang mit dem Abschluß eines Konsularabkommens zwischen der DDR und Österreich hat auf dieses Problem erneut aufmerksam gemacht.
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10056 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
HoppeDer Wille zur staatlichen Einheit bleibt also das Kernstück der deutschen Frage und der Deutschlandpolitik. Es ist also unsere Aufgabe, all jene Elemente der Bewußtseinsbildung zu benutzen und zu stärken, die diesen Willen in beiden deutschen Staaten bewahren. Deshalb ist alles an Austausch und Begegnungen von Menschen, Meinungen und Informationen zu fördern, was der Pflege der gemeinsamen Sprache, der gemeinsamen Kultur und dem gemeinsamen Geschichtsbewußtsein dient. Nur so kann die Chance für eine staatliche Einheit erhalten bleiben. Ob es dann einer späteren Generation tatsächlich gelingt, sie zu nutzen, vermag niemand zu sagen, auch nicht die Kritiker dieser Politik. Sicher ist nur, daß wir die Chance in der Auseinandersetzung mit den ideologischen Bastlern einer sozialistischen deutschen Nation ohne diese Anstrengung glatt verspielen würden.Allerdings werden wir diesen Problemen nicht mit Methoden beikommen, die letztlich immer nur zur Selbstblockade führen. Ohne den bestehenden Inhalts- und Qualitätsunterschied zwischen staatlicher Legitimität und eigenstaatlicher Existenz übersehen oder verwischen zu wollen, dürfen wir die Fehler der jüngsten Vergangenheit nicht wiederholen und die Probleme der Gegenwart nicht unnötig verschärfen. Es könnte sonst sehr leicht geschehen, daß die Renommiererfolge der Besuchsregelung von heute bei den Regierenden der DDR wieder jene Angstzustände erzeugen, die die Flüchtlingszahlen von gestern bei ihnen hervorgerufen haben.Meine Damen und Herren, die Erfolgsaussichten unserer nationalen Politik würden sicher wachsen, wenn dabei mehr Gemeinsamkeit erreicht werden könnte. So sehr es deshalb zu begrüßen ist, wenn Kollegen aus der Opposition — wie Barzel, Leisler Kiep und auch Herr von Wrangel — ihre Partei auffordern, sich auf den Boden der geschlossenen Verträge zu stellen,
so machen diese einsam gebliebenen Stimmen doch gerade deutlich, daß mit einer grundlegenden Änderung der Haltung der Opposition nicht zu rechnen ist. Und doch könnte eine konstruktive Opposition die Auseinandersetzung mit den kommunistischen Ideologen erleichtern. Auch innenpolitisch würde es helfen, keine neuen Gräben in unserem Volke aufzureißen. Leider ist nach den Erfahrungen der letzten Monate zu befürchten, daß doch aus rein taktischen Gründen die Konfrontation gesucht und die Polarisierung zum Mittel der Politik gemacht wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ?
Bitte, Herr Kollege Jäger!
Herr Kollege Hoppe, würden Sie mir nicht darin zustimmen, daß ein grundlegender Unterschied darin besteht, ob sich die Opposition, die diese Verträge bekämpft hat,
auf den Boden der Rechtsgültigkeit dieser Verträge stellt, wozu verschiedene Kollegen mit Recht aufgefordert haben, oder ob wir uns auf den Boden der Verträge in dem Sinne stellen, daß wir nunmehr diese von uns für falsch gehaltene Politik akzeptieren? Genau das wollten Sie doch jetzt mit Ihrem Beitrag insinuieren.
Herr Kollege, ich würde den Unterschied gern realisieren. Ich habe nur den Eindruck, Sie wissen überhaupt nicht, wie und wo Sie sich hinstellen sollen. Ich werde dazu noch einiges ausführen.
Meine Damen und Herren, die Hoffnung, daß die Opposition sich in dieser Frage doch noch auf ihre nationale Aufgabe besinnt und sich über parteipolitische Grenzen hinweg zu einem solidarischen Handeln bereit findet, will ich nicht aufgeben. Diese Hoffnung unterstellt bei der parlamentarischen Opposition, verehrter Herr Kollege Jäger, die Fähigkeit und den Willen zur einheitlichen Meinungsbildung und zum einheitlichen Handeln. Beides — das müssen Sie nun zugeben — ist aber doch sehr zweifelhaft geworden. Wer aufmerksam verfolgt hat, wie die politischen Aktivitäten in Ost und Fernost gerade aus Ihren eigenen Reihen kommentiert worden sind, stößt auf viel Konfusion und sieht nicht einmal den Ansatz einer Konzeption. Meine Damen und Herren, Ihnen scheint der fernöstliche Kommunist positiver Leistungen fähig, und deshalb ist er offenbar ein wohlgelittener Gesprächspartner, die räumlich näheren Kommunisten in der Sowjetunion sehen Sie dagegen nach wie vor als gefährlich und destruktiv an,
— Sie müssen sich das Bild, das Sie widerspiegeln, auch entgegenhalten lassen — und die unmittelbar angrenzenden Kommunisten deutscher Nation werden von Ihnen sogar als Gesprächspartner gemieden, Kontakte mit ihnen lösen nur Unmutsäußerungen aus.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Bitte!
Herr Kollege Hoppe, stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß wir im freien Teil Deutschlands der Sowjetunion nicht ihren Kommunismus vorwerfen, sondern die Tatsache, daß sie das deutsche Volk gegen seinen Willen spaltet?
Verehrter Herr Kollege Mertes, ich versuche nur, Ihnen deutlich zu machen, mit welch unterschiedlichen Maßstäben Sie die Bemühungen der Bundesregierung messen, praktische Politik auch mit kommunistischen Staaten zu treiben,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10057
Hoppeund zwar im Vergleich zu Ihrem eigenen Verhalten, wenn es darum geht, in Begegnungen mit Führern kommunistischer Staaten eine Aufwertung der Opposition oder einzelner Persönlichkeiten zu erlangen. Nur darum geht es.
Vielleicht sollten Sie sich auch einmal mit dieser Frage beschäftigen. Es könnte helfen, aus der jetzigen völlig verklemmten Situation herauszukommen. Die CDU, meine Damen und Herren, muß das Trauma ihres vermeintlichen Versagens im Jahre 1972 endlich überwinden.
Der Moskauer Vertrag war damals ratifiziert; der Grundlagenvertrag war paraphiert. Nach der Enthaltsamkeit der Union in den Abstimmungen über die Moskauer Verträge ist sie gegen den Grundlagenvertrag in der Bundestagswahl dann überhaupt nicht mehr angetreten.
Sie hat sich bewußt jeder wertenden Äußerung enthalten. Die Bevölkerung der Bundesrepublik aber hat in dieser Bundestagswahl in eindrucksvoller Mehrheit für die Verträge votiert. Deshalb, so meine ich, meine Damen und Herren, sollte diese Phase der Politik endlich abgeschlossen sein.
Das müssen auch Sie endlich begreifen.Meine Damen und Herren, unsere Politik kann sinnvoll nur darauf angelegt sein, durch stetige Kleinarbeit in den vor uns liegenden Jahren und vielleicht Jahrzehnten jene Dauerwirkung für die Zukunft zu erzielen, die es auch künftig ermöglicht, von der Einheit der deutschen Nation über die staatliche Teilung hinaus zu sprechen. Dafür kommt es auf spektakuläre Anfangserfolge sicherlich nicht an. Der Wert dieser Politik läßt sich nicht an Augenblickserfolgen messen. Der Wille zur Einheit der Nation darf den Inhalt unserer Politik aber nicht so penetrant bestimmen, daß die DDR dies als aggressive politische Handlung und Angriff auf ihre staatliche Existenz deuten kann.
Die Einheit der Nation dürfen wir weder als Fahnenbanner noch als Brett vor dem Kopf vor uns hertragen, Herr Kollege Jäger.
Über unser Ziel sollten wir miteinander nicht immer wieder neu streiten müssen. Ohne es aus den Augen zu verlieren, ohne Positionen aufzugeben oder auch nur verrücken zu lassen, sollten wir unsere Politik beharrlich fortführen und dabei den Gedanken an die Erhaltung der Nation zu einem starken Motor unseres Handelns werden lassen.
Dann — und genau damit, Herr Kollege Jäger, gebe ich Ihnen jetzt den gewünschten Aufschluß, der Ihre Zweifel ausräumen wird — kann die Karosserie der Politik, so meine ich, ruhig mehr Stromlinienform und Gleitfähigkeit bekommen.Dieser Teil unserer Politik, der nicht Innen- und nicht Außenpolitik ist, verlangt von den Regierenden und den Opponierenden so viel Kooperation wie nur irgend möglich. Er muß nicht von bejubelnden Erfolgsmeldungen begleitet werden; die können geradezu schädlich sein. Viel wird dabei von einer Opposition verlangt, vielleicht zuviel. Sie müßte ihre Aggressivität auf ein anderes Feld verlagern. Nur wenn die Opposition darauf verzichtet, die Regierung in diesem Bereich bewußt mies zu machen, kann andererseits die Regierung darauf verzichten, sich mit ihren Erfolgen im Bereich der Deutschlandpolitik zu brüsten.Das ist schwierig, fast scheint es unmöglich, und dennoch gibt es einen Bereich in der Deutschlandpolitik, in dem diese Selbstbescheidung im Augenblick jedenfalls noch — praktiziert wird: das ist die Arbeit der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Was wir darüber in den zuständigen parlamentarischen Gremien erfahren haben, ist eine stolze Bilanz von effektiver Arbeitsleistung in den ersten Monaten. Es scheint ein Zeichen politischer Vernunft zu sein, daß dennoch in der Öffentlichkeit wenig darüber geredet und geschrieben wurde. Dies könnte der Modellfall für die Zusammenarbeit bei der Behandlung delikater Fragen der deutschen Politik sein.Meine Damen und Herren, wenn die Opposition dagegen glaubt, auch hier auf die totale Auseinandersetzung nicht verzichten zu können, wird sie sich damit möglicherweise Wahlerfolge bescheren können; den Handlungsspielraum in der Deutschlandpolitik werden Sie damit ganz gewiß nicht vergrößern.
Wenn wir uns unseres eigenen Standorts und unseres gemeinsamen Zieles stets bewußt bleiben, wenn nicht ständig Mißtrauen genährt wird, können die Auseinandersetzungen mit der DDR mit Gelassenheit und Selbstbewußtsein durchgestanden werden: hart und nachgiebig in der Sache, geschmeidig in der Methode bei der Durchführung unserer Vorstellungen. Das sollte eigentlich gemeinsame Auffassung aller Fraktionen in diesem Hause sein.Mit einem solchen Verhalten würden wir die Kommunisten im anderen deutschen Staat auch nicht der Notwendigkeit entheben, sich selbst mit der für sie offenbar lästigen Frage der Einheit der deutschen Nation auseinanderzusetzen. Sie haben sehr wohl erkannt, daß sie mit der rigorosen Streichung aller nationalen Formeln aus ihrer Verfassung die Fortexistenz der Nation nicht in Frage stellen können.So hat der SED-Chef Honecker die 13. Tagung des ZK der SED im Dezember 1974 zum Anlaß genommen, die Verfassungsänderung in auffälliger Weise zu relativieren. Er wiederholt zwar die An-
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10058 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Hoppesieht, daß sich die DDR zu einer sozialistischen Nation entwickle, die sich in allen entscheidenden Merkmalen von der bürgerlichen Nation der Bundesrepublik Deutschland unterscheide. Andererseits differenziert er erstmals zwischen Staatsbürgerschaft und Nationalität. Nach seiner Meinung sind auch die Staatsbürger der DDR der Nationalität nach in der übergroßen Mehrheit Deutsche. Nach Honecker gibt es keinen Grund für Unklarheiten. Die Antwort auf die Frage nach der Staatsbürgerschaft lautet „DDR", die Antwort auf die Frage nach der Nationalität lautet „deutsch".Honecker knüpft mit dieser Definition an die herkömmliche deutsche Staatslehre an, die das Staatsvolk als die Summe aller Staatsangehörigen und das Volk im natürlichen Sinne als Nationalität, als eine unabhängig von Recht und Staat gesehene gesellschaftliche Gruppe erklärt. Honecker nimmt damit in der Frage der deutschen Nation dieselbe Position ein wie Professor Ludz und sein wissenschaftliches Team in den von der Bundesregierung vorgelegten „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation".Bemerkenswert erscheint nun, daß das Mitglied des SED-Politbüros Albert Norden in einer ganzseitigen Abrechnung mit den Kommunisten in Peking im Parteiorgan „Neues Deutschland" am 8. Januar 1975 zur Frage der deutschen Nation wieder eine andere Meinung kundtut. Er attackiert die chinesischen Führer mit dem Vorwurf, daß sie im offenen Widerspruch zur Existenz zweier deutscher Staaten mit entgegengesetzter Gesellschaftsordnung auf dem Territorium des ehemaigen Deutschen Reichs die von der Geschichte längst überholte These von der Einheit der Nation vertreten. Diese These gehört nach der Meinung Nordens zum „Arsenal der propagandistischen Hauptlosung des aggressiven Flügels der westdeutschen Monopolbourgeoisie".Meine Damen und Herren, ich will auf Text- und Ideologiekritik bewußt verzichten. Lediglich der Hinweis sei erlaubt, daß hier kurz hintereinander aus der Führungsspitze der SED das Thema der deutschen Nation sehr unterschiedlich behandelt wurde. Dennoch will ich nicht Spekulationen beleben, Albert Norden habe mit dem Mittel einer Auseinandersetzung mit den Maoisten seinen Ersten Sekretär auf den harten Weg der Verfassungsänderung zurückführen wollen. Aber bedeutsam bleibt, daß die Frage nach der Einheit der deutschen Nation auch für die Kommunisten in Ost-Berlin solche Virulenz hat, daß sie sich ständig damit beschäftigen und auseinandersetzen müssen. Dabei fällt es ihnen ganz offensichtlich vor der eigenen Bevölkerung verteufelt schwer, die Einheit der deutschen Nation wegzudiskutieren oder sie in ihrem Herrschafts- und Gesellschaftsbereich durch eine sozialistische Nation abzulösen.Noch ist also die Einheit der Nation lebendig und kräftig genug, um sich zu behaupten. Treiben wir eine kluge Politik, damit diese Überzeugung in der Bevölkerung der beiden deutschen Staaten nicht verlorengehen oder ausgelöscht werden kann!
Meine Damen und Herren, wir unterbrechen die Debatte zu diesen Tagesordnungspunkten. Wir setzen die Debatte gegen 15.20 Uhr fort.
Wir treten in die Beratung des Punktes 1 ein: Fragestunde
— Drucksachen 7/3135, 7/3173 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf.
Die Frage 89 des Herrn Abgeordneten Spranger wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 90 des Abgeordneten Böhm auf:
Nachdem für die erste Auflage der Zeitschrift „Dings-Bums" des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung bereits 110 000 DM ausgegeben wurden, frage ich, wie hoch die Kosten für den Nachdruck von weiteren 275 000 Exemplaren sind und von welchen Vereinen, Verbänden und Institutionen Nachforderungen dieser Zeitschrift an das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gerichtet wurden.
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär Bölling!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, der Nachdruck der Zeitschrift „Dings-Bums" in einer Höhe von 275 000 Exemplaren hat unser Amt 45 000 Mark gekostet, der Vertrieb rund 4 000 DM. Von diesen 275 000 Exemplaren entfallen etwa 135 000 auf Nachforderungen der folgenden Vereine — es wird Sie interessieren, daß ich die kurz aufzähle : Jugendrotkreuz, Freie Jugendzentren, Stadtjugendringe und Stadtjugendämter, Arbeitskreiszentrum Bewährungshilfe, Friedrich-
Naumann-Stiftung, August-Bebel-Institut, Arbeiterwohlfahrt, Jungsozialisten, Jungdemokraten, Junge Union, SPD-Unterorganisationen, der Christliche Verein junger Männer, Sportjugend, Evangelische Jugend, Gewerkschaft der Polizei usf.
Zirka 35 000 Exemplare entfallen auf Anforderungen von einzelnen Interessenten. Das, scheint mir, ist auch auf das günstige Presseecho dieser Publikation zurückzuführen.
Zirka 30 000 Exemplare haben Mitglieder des Deutschen Bundestages bestellt und bekommen.
Über den Nahverkehr der Deutschen Bundesbahn sind etwa 75 000 Exemplare vertrieben worden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Böhm .
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, in welche Bundesländer anteilmäßig die neue Auflage und die alte Auflage der Zeitschrift „Dings-Bums" geleitet worden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann Ihnen dies im Augenblick nicht spezifizieren, Herr Abgeordneter. Ich verstehe wohl, wohin Ihre Frage zielt. Ich bin sicher sogleich bemüht, dies entweder zu bestätigen oder Ihnen dementieren zu können.
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Staatssekretär BöllingAber sollte es so sein, wie Sie in Ihrer Frage unterstellen, daß mehr Exemplare nach Hessen und Bayern gegangen seien, dann wäre das ja eigentlich nur ein gutes Zeichen dafür, daß dort das Interesse besteht, eine Jugend, die in weiten Teilen nach wie vor nicht genug politisch denkt, in den Stand verbesserter Information zu setzen.
Eine zweite Frage des Abgeordneten Böhm.
Herr Staatssekretär, wenn Sie unterstellen, daß dieses „Werk" — ich möchte das in Anführungszeichen setzen —, einen positiven Beitrag zur politischen Bildung darstellt, dann frage ich, warum die doch für die Funktionsfähigkeit des demokratischen Staates wichtige Rolle der parlamentarischen Opposition darin überhaupt keinen Niederschlag gefunden hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben die Absicht gehabt, mit dieser Zeitschrift, von der, wie Sie wissen, Herr Abgeordneter, bisher nur eine Nummer erschienen ist, über solche Tätigkeiten der Bundesregierung zu informieren, die für junge Menschen wichtig sind, und — wir haben darüber in diesem Hohen Hause schon einmal sprechen können — in einer solchen Form, daß dies von jungen Menschen auch zur Kenntnis genommen wird. Ich will die Möglichkeit überhaupt nicht ausschließen, daß wir in künftigen Nummern über solche Aktivitäten der Opposition berichten, von denen wir meinen, daß sie für die Situation der jungen Menschen hilfreich und nützlich sind.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Gansel.
Herr Staatssekretär, gehe ich richtig in der Annahme, daß die Masse der Nachbestellungen erst eingesetzt hat, als ein Mitglied der Opposition in diesem Hause eine aufsehenerregende Frage gestellt hat, in der er die zärtliche Berührung eines Frauenrückens mit dem kameradschaftlichen Klaps auf den Rücken eines Mastschweines verwechselte, und ist die Bundesregierung bereit, in der nächsten Nummer von „Dings-Bums" diesem Mitglied der Opposition — und dabei wäre ja zugleich die Rolle der Opposition zu würdigen -
ihre Anerkennung dafür auszusprechen, daß auf diese Art und Weise die Werbung für „Dings-Bums" erleichtert worden ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann nicht ausschließen, Herr Abgeordneter Gansel, daß diese Bemerkung im Deutschen Bundestag auf den
Vertrieb des Blattes positiv eingewirkt hat. Im übrigen will ich Ihre Anregung gerne an die Redaktion des Blattes weiterleiten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Franke .
Herr Staatssekretär, habe ich Sie eben richtig verstanden, daß Sie hier hauptsächlich zu einer Darstellung für die Regierung ansetzen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube, das ist völlig in der Ordnung. Ich kann Sie da mit einer Erklärung aus der Zeit von Bundeskanzler Erhard versorgen, daß wir nicht so uneigennützig zu verfahren brauchen, daß wir womöglich 70 % des Textteiles für die Darstellung der Opposition hergeben und nur 30 °/o für das, was von dieser Regierung für junge Menschen getan wird. Aber ich habe ja in der Antwort auf die Bemerkungen des Abgeordneten Böhm gesagt: Wenn da etwas Wichtiges, Nützliches und Relevantes ist, werden wir das gerne aufnehmen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reddemann.
Herr Staatssekretär, wenn Sie vor allem die Arbeit der Regierung in diesem Blatt klarmachen wollen und nicht die der Koalition, darf ich Sie fragen, warum dann vor allem über Abgeordnete der Koalition in diesem Blatt berichtet wird. Ich kann Ihnen das notfalls vorhalten, wenn Sie es nicht wissen sollten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe das Blatt gesehen, ehe es in den Druck ging, Herr Abgeordneter. Ich glaube, es ist eine ganz abgewogene Mischung von Beiträgen und Autoren. Im übrigen möchte ich Sie als jemand, der auch mit der Dramaturgie von Publikationen vertraut ist, wie ich meine, bitten, zu bedenken, daß dies eine erste Nummer ist. Ich wiederhole: Kommen da interessante Beiträge aus Ihren Reihen, werden wir die gerne daraufhin prüfen, ob sie für ein jugendliches Lesepublikum wertvoll sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, können Sie vielleicht dem Hohen Hause mitteilen, nach welchen Kriterien Sie dann diese Beiträge prüfen werden,
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10060 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Dr. Hupkaob sie etwa regierungskonformer oder weniger regierungskonform sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben schon in der ersten Nummer, Herr Abgeordneter Hupka,
nicht Propaganda und Agitation veranstalten, sondern über Sachthemen und deren Behandlung durch die Bundesregierung informieren wollen. Dieses ist das Kriterium.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie jetzt mehrmals davon gesprochen haben, daß Sie Beiträge der Opposition, die nützlich und sinnvoll sind, aufnehmen wollen, frage ich Sie, ob es Aufgabe der Regierung ist, das Parlament zu kontrollieren, oder umgekehrt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, es geht nicht um die sicherlich dann nur anmaßend zu nennende Vorstellung, daß eine Zensur des Parlaments stattfindet. Jede Zeitschrift prüft vielmehr die Beiträge, die ihr angeboten werden, unter dem Gesichtspunkt, ob sie für das besondere Lesepublikum von Interesse sind und ob sie die entsprechende Qualität haben.
Dies gilt ja für die Beiträge, die wir von Autoren des Regierungslagers bekommen haben, ganz genauso. Wir können ja nicht unbesehen alles drucken, was uns angeliefert wird. Das werden Sie doch sicherlich nicht postulieren.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Nordlohne.
Herr Staatssekretär, da in der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Dings-Bums" die Verbindung zu einer besonders qualifizierten Aussage des Bundeskanzlers — „5 % Preissteigerung seien besser als 5 % Arbeitslosigkeit" — hergestellt wird, möchte ich Sie fragen, wie denn in der Tat die jungen Leute angesichts der augenblicklichen Entwicklung diese Auffassung heute sehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube, daß wir die zweite Nummer, wenn wir sie planen, u. a. auch mit einem Beitrag füllen könnten, in dem wir nachweisen, daß das Thema der Jugendarbeitslosigkeit — entgegen den Fakten — von einigen in einer unsachlichen Weise dramatisiert worden ist.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Jäger .
Herr Staatssekretär, teilen Sie nicht meine Auffassung, daß — anders, als Sie es vorhin dargestellt haben — bei einer Zeitschrift, die aus Steuermitteln bezahlt wird, eine objektive Prüfung und nicht nur, wie bei jeder x-beliebigen Zeitschrift, eine Qualitätsprüfung stattzufinden hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielleicht, Herr Abgeordneter, versorgen Sie mich mit einigen Ratschlägen, was nach Ihrer Meinung die objektiven Maßstäbe bei der Beurteilung von journalistischen Beiträgen sind. Ich will mir die gerne angucken.
Vielleicht kann ich davon profitieren.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen.
Ich rufe die Frage 91 der Frau Abgeordneten von Bothmer auf. — Sie ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet; die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 92 des Herrn Abgeordneten Spranger wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 93 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Hält es die Bundesregierung für ein Zeichen der Normalisierung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen, wenn die Aussiedlungserlaubnis erst dann gewährt wird, falls sie überhaupt gewährt wird, nachdem im Durchschnitt fünf Anträge gestellt worden sind, und weiß sie zu ermessen, was das für den einzelnen Aussiedlungswilligen an zeitlichem und materiellem Aufwand bedeutet?
Zur Beantwortung, Herr Staatsminister Moersch!
Herr Abgeordneter, es ist problematisch, im Zusammenhang mit der Erteilung von Ausreisegenehmigungen durch polnische Behörden auf irgendeine Durchschnittszahl zurückzugreifen, da diese hinsichtlich des Einzelfalls wenig Aussagekraft besitzt. Es gibt Fälle, in denen eine Ausreisegenehmigung nach einem Antrag oder nach zwei Anträgen erteilt worden ist, andere Umsiedlungsbewerber wiederum erhielten die Erlaubnis zur Ausreise erst nach mehrfacher Antragstellung. Schließlich sind der Bundesregierung aber auch Fälle bekannt, in denen sich Umsiedlungswillige seit Jahren vergeblich um eine Ausreisegenehmigung bemühen und die Zahl der inzwischen gestellten Anträge die von Ihnen genannte Durchschnittszahl oft sogar übersteigt.Die Bundesregierung sieht mit Sorge die vielfältigen Schwierigkeiten, die sich für den betroffenen Personenkreis — u. a. auch in finanzieller und zeit-
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Staatsminister Moerschlicher Hinsicht — ergeben. In der Lösung dieses humanitären Problems im Gespräch mit der polnischen Regierung sieht die Bundesregierung eine vordringliche Aufgabe.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, es passiert ja schon seit drei Jahren, daß diese Anträge so oft gestellt werden müssen. Wieso hat die Bundesregierung hier bis jetzt noch nichts erreichen können? Woran liegt das?
Herr Abgeordneter, ich glaube, ich habe hinreichend dargestellt — es ist ja auch öffentlich bekannt —, daß die polnische Seite hierüber andere Auffassungen vertritt, als zu erwarten war.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, wäre es aber nicht Aufgabe der Bundesregierung, die polnische Seite hier an den Text und an den Inhalt der „Information" zu erinnern, worin ausdrücklich festgelegt ist, daß wir hier erfahren, welche Gründe dazu beigetragen haben, daß ein Antrag abgelehnt wird? Das ist bis heute nicht geschehen.
Herr Abgeordneter, die Mitteilung der Begründung ist wieder eine andere Frage. Ich brauche hier nur darauf zu verweisen, daß die Bundesregierung darauf drängt.
Ich rufe die Frage 94 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Ist für die Hunderttausende von deutschen Staatsangehörigen, die in den Oder-Neiße-Gebieten ihren Wohnsitz haben, der ungefährdete und freie Zutritt zu den Gebäuden der diplomatischen und konsularischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der Volksrepublik Polen im Sinne von Artikel 36 Abs. 1 a des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen und im Sinne des Mindeststandards des Völkerrechts für diplomatische und konsularische Beziehungen gesichert, und sind bisher Verstöße gegen dieses Zutrittsrecht zu verzeichnen gewesen?
Zur Beantwortung bitte, Herr Staatsminister!
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung ist bisher kein Fall bekanntgeworden, in dem jemandem der Zutritt zur deutschen Botschaft in Warschau verwehrt worden wäre.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Dr. Czaja.
Bedeutet dies, daß Sie, wenn Ihnen solche Fälle gemeldet werden, im Sinne dessen, was der Herr Bundeskanzler heute über den Schutz für die Deutschen im Sinne des Grundgesetzes gesagt hat, für diese Personen tätig werden würden?
Herr Abgeordneter, vielleicht darf ich hier die Rechtslage in Erinnerung rufen, die in diesem Falle wirksam ist, und Ihnen gleichzeitig sagen, daß wir uns in den Gesprächen mit Polen gerade darum bemüht haben, daß solche Behinderungen, solche Verweigerungen nicht eintreten. Ich habe Ihnen ja soeben gesagt, daß uns keine Fälle bekanntgeworden sind; es hat hier einige Erhebungen gegeben.
Die Volksrepublik Polen — Sie haben danach ja auch gefragt -- ist nicht Mitglied der Wiener Übereinkunft über konsularische Beziehungen. Der von Ihnen erwähnte Artikel 36 Abs. 1 der Wiener Übereinkunft entspricht jedoch einer allgemeinen Regel des Völkerrechts und gilt auch im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen. Bei der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen am 14. September 1972 hat der damalige Bundesaußenminister Scheel gegenüber dem polnischen Außenminister Olszowski erklärt, daß sich der Umfang der gleichzeitig aufgenommenen konsularischen Beziehungen nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts richten werde. Diese Erklärung hat die polnische Seite ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja!
Herr Staatsminister, haben Sie Beweise dafür, daß die eben von Ihnen dargestellte Berücksichtigung der Vereinbarung über den konsularischen Schutz tatsächlich von der polnischen Regierung bezüglich deutscher Staatsangehöriger, die im Oder-Neiße-Gebiet leben, zur Kenntnis genommen worden ist?
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung sind gelegentlich Berichte von Besuchern der Botschaft über Kontrollen durch die Miliz oder Befragungen über den Zweck der Vorsprache bei uns bekanntgeworden. Jedoch sind auch die Besucher, die dies berichtet haben, nicht an einer erneuten Vorsprache bei der Botschaft gehindert worden.
Ich rufe die Frage 95 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Hält nach den Erklärungen des Staatsministers Moersch in der Sitzung des Bundestages vom 23. Januar 1975 die jetzige Bundesregierung an der von der Regierung Adenauer vereinbarten sowjetischen Wohlwollenserklärung zur Ausreise von Personen, die als sowjetische Staatsbürger angesehen werden fest oder nicht, und warum bezieht sich dann der Staatsminister Moersch als Vertreter des Auswärtigen Amts auf eine angebliche, nicht existente Staatsangehörigkeit der Vorfahren der betroffenen Personen vor 200 Jahren?
Zur Beantwortung der Herr Staatsminister.
Herr Abgeordneter! Die Bundesregierung hält nach wie vor an den bei den Verhandlungen im April 1958 in Moskau getroffenen Repatriierungsvereinbarungen fest. Bevor ich auf deren Inhalt, soweit er von Ihnen, Herr Abgeordneter, in der Frage angesprochen ist, eingehe, darf ich des besseren Ver-
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Staatsminister Moerschständnisses wegen erläutern, welche Texte und Erklärungen hier maßgebend sind. Als Vereinbarung gelten der die Repatriierung betreffende Abschnitt des Moskauer Schlußkommuniqués vom 8. April 1958 und die von den beiden Delegationsleitern zum gleichen Zeitpunkt abgegebenen, zuvor ausgehandelten mündlichen Erklärungen. Der genaue Wortlaut ist in der von Ihnen angeführten Bundestagsdrucksache 3/545 wiedergegeben. Die dort ebenfalls abgedruckte Zusammenfassung und Würdigung der auf den einzelnen Gebieten getroffenen Vereinbarungen legt im einzelnen und unmißverständlich dar, welche Bindungen die sowjetische Seite eingegangen ist, und auch, welche Wohlwollenserklärung sie abgegeben hat.Sie, Herr Abgeordneter, beziehen sich auf diese Zusammenfassung, und zwar, wie ich annehme, auf Seite 26, Buchstabe b der Zusammenfassung. Hier heißt es — ich zitiere auszugsweise :Eine sowjetische Wohlwollenserklärung besteht zugunsten der Repatriierung der Vertragsumsiedler, die von den sowjetischen Behörden heute als sowjetische Staatsangehörige angesehen werden.Soweit das Zitat! Als Vertragsumsiedler sind Personen zu betrachten, die in den Jahren 1939 bis 1941 aus ihren angestammten Siedlungsgebieten in baltischen Staaten, in Galizien, Bessarabien und anderswo auf Grund von zwischenstaatlichen Verträgen in das damalige Reichsgebiet umgesiedelt wurden und die deutsche Staatsangehörigkeit am 21. Juni 1941 — also vor Kriegsausbruch mit der Sowjetunion — besessen haben. Nach Kriegsende wurden Angehörige dieses Personenkreises wieder in die Sowjetunion verbracht. Es handelt sich nicht um jenen Personenkreis, um den es in der vorausgegangenen Fragestunde ging.Ich glaube, daß Sie beim Lesen der Drucksache 3/545 irrtümlich die für die Vertragsumsiedler geltende Wohlwollenserklärung auf alle in der Sowjetunion lebenden Gruppen von Deutschen beziehungsweise von Volksdeutschen bezogen haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja?
Herr Staatsminister, wieso sind Sie der Auffassung, daß unter den in der Liste, von der hier die Rede war und nach der Kollege Graf Stauffenberg gefragt hat, aufgeführten 20 000 bis 25 000 Deutschen in Kasachstan nicht Administrativumsiedler waren?
Ich habe nicht gesagt, daß darunter keine sind. Ich habe nur gesagt, daß erste Prüfungen — die Liste war ja keineswegs abschließend geprüft — ergeben haben, daß es sich offensichtlich hierbei im wesentlichen um einen Personenkreis handelt, den ich als die Nachkömmlinge der Auswanderer aus dem frühen und mittleren 18. Jahrhundert gekennzeichnet habe. Das ist im Grunde eine Erkenntnis, die sich
aus einer ersten Prüfung der Unterlagen ergeben hat.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja!
Herr Staatsminister, ist Ihre Antwort aus der letzten Fragestunde bezüglich der Aktivlegitimation dahin gehend einzuschränken, daß für diese Personen, für die die Wohlwollenserklärung vorliegt, ganz bestimmt eine Aktivlegitimation gegeben ist?
Herr Abgeordneter, welche Legitimation für uns gegeben ist, geht aus den Dokumenten des Jahres 1958 ganz genau hervor. Die Tatsache, daß es sich um eine Wohlwollenserklärung handelt und daß hier gesagt wird, daß diese Personen von den sowjetischen Behörden heute als sowjetische Staatsangehörige angesehen werden, spricht ja wohl für sich. Sie wissen, was im Völkerrecht über die Inanspruchnahme von Staatsangehörigen, die als Doppelstaatler angesehen werden können, durch deren Sitzland jeweils ausgesagt ist. Ich brauche das, glaube ich, nicht zu zitieren; Sie haben das sicher ebenfalls bei sich.
Ich rufe die Frage 96 des Abgeordneten Graf Stauffenberg auf:
Trifft die Meldung des „Bonner General-Anzeigers" vom 22. Januar 1975 zu, die Bundesregierung sei der Meinung, eine unterschiedliche Bewertung ihrer bilateralen Beziehungen zu den einzelnen afrikanischen Ländern nach der jeweiligen Regierungsform sei nicht mehr praktikabel, und hat sich — bejahendenfalls — die Bundesregierung entgegen ihren entwicklungspolitischen Aussagen bisher in ihrer auswärtigen Politik gegenüber den Ländern der Dritten Welt überhaupt, in welchem Umfang und im Verhältnis zu welchen Ländern, von einer unterschiedlichen Bewertung nach den Regierungsformen leiten lassen?
Herr Abgeordneter, die Meldung im „Bonner General-Anzeiger" bezieht sich auf ein Informationsgespräch, das ein Angehöriger des Auswärtigen Amtes mit Pressevertretern vor Beginn der gegenwärtig tagenden Botschafterkonferenz in Nairobi über Entwicklungen in Afrika geführt hat. Die Bemerkung, die zitiert ist, ist insofern aus dem Zusammenhang gerissen, als an der in der Frage zitierten Stelle die Rede davon war, daß im Zuge gestärkten afrikanischen Selbstbewußtseins aus der Kolonialzeit übernommene Regierungsmodelle vielfach beseitigt worden sind, z. B. zugunsten von Militärregimen, worüber uns jedoch ein Urteil nicht zustünde. Soweit zum Hergang der Sache.Zum zweiten Teil Ihrer Frage lautet die Antwort: Nein. Die Bundesregierung läßt sich bei der Gestaltung ihrer auswärtigen Beziehungen in erster Linie von ihren eigenen Interessen leiten. Dazu zählt an vornehmster Stelle die Erhaltung des Friedens. Die Lösung der Probleme der Dritten Welt und ihrer Völker liegt nicht in der Konfrontation, sondern in partnerschaftlicher Zusammenarbeit, und dazu sind wir bereit.In vielen Ländern entsprechen die politischen Verhältnisse nicht unseren Vorstellungen von demokra-
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Staatsminister Moerschtischen Regierungsformen. Wir fühlen uns jedoch nicht dazu berufen, uns in die inneren Angelegenheiten anderer einzumischen, und schon gar nicht, uns zu Richtern über deren Regierungsformen aufzuwerfen. Unsere Außenpolitik und die Vertretung unserer außenwirtschaftlichen Interessen müssen frei bleiben von ideologischen Vorurteilen. Unsere Außenpolitik darf nicht dadurch Schaden leiden, daß andere als wir selbst über sie entscheiden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Graf Stauffenberg.
Herr Staatsminister, habe ich Sie richtig verstanden, daß sich demnach die Politik der Bundesrepublik gegenüber den Staaten Afrikas nicht verändert?
Ich habe den zweiten Teil Ihrer Frage mit Nein beantwortet. Kürzer kann ich mich nicht fassen.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Graf Stauffenberg.
Herr Staatsminister, habe ich es richtig in Erinnerung, wenn ich aus entweder Ihrem Munde oder dem Munde eines Vertreters des Auswärtigen Amtes vielleicht sogar des Herrn Außenministers — gehört habe, daß die geänderten Zeitläufte gewisse Änderungen in der Politik gegenüber den Staaten Afrikas notwendig gemacht haben?
Ich weiß nicht, auf was Sie anspielen. Aber es gibt eine unumstößliche Wahrheit in der Politik, und die heißt: Wenn sich die Verhältnisse irgendwo ändern, müssen wir auch unsere Politik entsprechend ändern können.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger .
Herr Staatsminister, stehen Ihre soeben gemachten erfreulichen Darlegungen zur Haltung der Bundesregierung gegenüber den Ländern der Dritten Welt nicht in einem erheblichen Widerspruch zu dem praktischen Verhalten, das die Bundesregierung in den letzten Monaten beispielsweise gegenüber Chile an den Tag gelegt hat?
Nein, Herr Abgeordneter.
Zu den Fragen 97 des Abgeordneten Dr. Wittmann und 98 und 99 des Abgeordneten Engelsberger teile ich mit, daß diese Fragen gemäß Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien unserer Geschäftsordnung nicht zulässig sind, da Sie im Zusammenhang mit der Debatte über Punkt 4 unserer Tagesordnung behandelt werden.
Ich rufe die Frage 100 des Abgeordneten Reddemann auf:
Was veranlaßte die Bundesregierung, beim Botschafter der Volksrepublik China das „Erstaunen des Bundeskanzlers" über Reisen deutscher Politiker nadi Peking auszudrücken?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatsminister!
Herr Präsident, darf ich die Fragen 100 und 101 zusammen beantworten?
Der Fragesteller hat keine Bedenken. Dann rufe ich auch die Frage 101 des Abgeordneten Reddemann auf:
Warum wurde dieses Erstaunen nicht auf dem normalen diplomatischen Weg des Auswärtigen Amts, sondern durch den Staatssekretär des Bundeskanzlers ausgesprochen?
Herr Abgeordneter, die Frage gibt dem Gespräch zwischen Staatssekretär Dr. Schüler und dem chinesischen Botschafter eine Wertung, die durch Zweck und Verlauf des Gesprächs nicht gerechtigt ist. Tatsächlich hat im Zuge der Vorbereitung des von Herrn Bundeskanzler Schmidt für 1975 geplanten Besuchs in der Volksrepublik China Staatssekretär Dr. Schüler im November 1974 mit dem chinesischen Botschafter über Terminierung und Ablauf der Reise des Bundeskanzlers gesprochen. Dabei wurde selbstverständlich auch der Zusammenhang mit anderen Besuchen deutscher Politiker in den vorangegangenen zwei Jahren seit der Aufnahme der Beziehungen im Oktober 1972 berührt. Die Zuständigkeit des Auswärtigen Amtes wurde durch dieses in meiner bisherigen Antwort erwähnte Gespräch in keiner Weise angetastet. Es handelte sich lediglich um die Vorbereitung einer Reise des Herrn Bundeskanzlers.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reddemann.
Herr Staatsminister, wenn es sich um eine solche Bagatellangelegenheit handelt, warum hat dann der Chef des Presse- und Informationsamtes, Staatssekretär Bölling, auf einer Bundespressekonferenz diesen Tatbestand eigens herausgestellt?
Er ist zu verschiedenen Umständen gefragt worden, und die Aufgabe des Regierungssprechers besteht im Antworten. Ich habe allerdings festgestellt, daß die gedruckte Zitierung dessen, was er gesagt hat, mit dem mir vorliegenden Stenographischen Protokoll nicht vollständig übereinstimmt und dieser Umstand Ihnen vielleicht die Fragestellung ermöglicht hat.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Reddemann.
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10064 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Ohne jetzt auf Ihre Unterstellung einzugehen, was mir leider nicht möglich ist, möchte ich fragen: Ist der Bundesminister des Auswärtigen über das Erstaunen, das Herr Schüler ausgedrückt hat, informiert worden?
Ich habe schon gesagt, daß Sie unterstellen, daß Herr Schüler ein Erstaunen ausgedrückt habe. Das ist aus dem Inhalt der Unterredung nicht zu erkennen, sondern es war anders. Ich habe das eben dargestellt.
Eine dritte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann.
Würden Sie dann bitte konkret sagen, was Herr Schüler dem chinesischen Botschafter ausgerichtet hat, über das Herr Bölling eine vielleicht mißverständliche Erklärung -- er redete eben so — abgegeben hat?
Herr Abgeordneter, Sie wissen, daß es nicht üblich ist, das im einzelnen vorzutragen. Ich bin gerne bereit, Ihnen den Vermerk über dieses Gespräch zur Verfügung zu stellen, wenn Sie damit volle Aufklärung erlangen könnten. Nur ist es sicher nicht üblich, im Bundestag Gesprächsunterlagen über Unterhaltungen mit Botschaftern auszubreiten. Da bitte ich um Verständnis.
Sie werden aber aus der Niederschrift ersehen, daß der Begriff, den Sie vorhin erwähnt haben, in dem Gespräch nicht vorkam.
Letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann.
Herr Staatsminister, könnten wir uns wenigstens darauf einigen, daß die Bundesregierung kein Recht hat, sich über die Reisen von Parlamentariern in andere Länder gegenüber Regierungen dieser Länder in unfreundlicher Weise aufzuhalten?
Herr Abgeordneter, wenn Sie das Protokoll der Pressekonferenz mit der Äußerung von Staatssekretär Bölling im Wortlaut vor sich haben, sehen Sie, daß Herr Staatssekretär Bölling eben dieser Meinung Ausdruck gegeben hat, so daß ich offen gestanden nicht ganz verstehe, wieso das in der Presseberichterstattung auf Unionspolitiker bezogen wurde. Mir liegt der Wortlaut vor, und ich kann das nicht finden.
Keine Zusatzfrage.
Die Frage 102 des Abgeordneten Dr. Dollinger wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet; die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Für die Beantwortung sage ich Ihnen unseren Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Ich rufe die Frage 37 der Abgeordneten Frau Dr. Neumeister auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung namhafter Experten, daß es angesichts des Zusammenhangs zwischen Hämodialyse und Transplantation sowie der schon weit fortgeschrittenen Vorarbeiten für ein Transplantationsgesetz in Schweden, Großbritannien und den Niederlanden dringend erforderlich ist, daß auch die Vorarbeiten an einem deutschen Transplantationsgesetz so schnell wie irgend möglich abgeschlossen werden, um so endlich den Ärzten eine gesicherte Rechtsgrundlage für die Behandlung sonst unheilbar Kranker zu geben?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. de With.
Die Bundesregierung ist mit Ihnen der Auffassung, daß die Transplantationsproblematik alsbald einer gesetzlichen Lösung zugeführt werden sollte. Auf Beschluß der 42. Konferenz der Justizminister und -senatoren ist im vergangenen Jahr eine Bund/Länder-Arbeitsgruppe gebildet worden, die zur Zeit mit den Vorarbeiten für ein Transplantations- und Sektionsgesetz befaßt ist. Auf Grund der bisherigen Beratungsergebnisse der Arbeitsgruppe hat eine Unterkommission im Dezember vergangenen Jahres Vorschläge für den Entwurf eines Transplantationsgesetzes erarbeitet, die Anfang Februar dieses Jahres auf einer weiteren Sitzung der Arbeitsgruppe möglicherweise schon abschließend behandelt werden sollen.
Die eingehenden Erörterungen der Arbeitsgruppe haben gezeigt, daß Fragen der Transplantation in vielfältiger Weise mit der Sektionsproblematik verknüpft sind. Die 44. Justizministerkonferenz hat deshalb die Arbeitsgruppe beauftragt, zugleich auch eine gesetzliche Regelung der Sektion anzustreben. Ob dieses Ziel in den nächsten Monaten erreicht werden kann, müssen die kommenden Beratungen ergeben. Andernfalls wird der Entwurf eines Transplantationsgesetzes gesondert erarbeitet werden müssen. Sie dürfen versichert sein, Frau Kollegin, daß die Bundesregierung alles in ihren Kräften Stehende tun wird, damit noch in dieser Legislaturperiode dem Parlament ein diesbezüglicher Gesetzesentwurf zugeleitet werden kann.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Neumeister!
Herr Staatssekretär, sind Sie einig mit mir, daß die Entwicklung eines solchen Gesetzes in seinen verschiedenen Phasen durch eine ganz gezielte Information für jeden einzelnen Bürger in der Bundesrepublik Deutschland begleitet werden muß, damit jedem einzelnen klargemacht werden kann, daß dieses Gesetz einzig und allein humanitären Zwecken dient?
Information in einer Demokratie kann nie von Schaden sein; sie ist notwendig. Ich gehe davon aus, daß eine Information angesichts dieser Problematik auch sehr hilfreich sein wird.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt.
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Herr Staatssekretär, werden in diesem Entwurf der Bundesregierung auch die Überlegungen einbezogen, die auf Grund des Entwurfs möglich sind, den der Präses der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Senator Dr. Seeler, im letzten Winter hat erarbeiten lassen?
Ich gehe davon aus, da nach meiner Erinnerung ein Mitglied der Kommission aus der Freien und Hansestadt Hamburg war, und weil ich ferner davon ausgehe, daß eine umfassende Sammlung aller Erkenntnisse vorgenommen wurde und vorgenommen werden wird.
Ich rufe die Frage 38 der Abgeordneten Frau Dr. Neumeister auf:
Sieht die Bundesregierung die Gefahr, daß bei einer verzögerten deutschen Transplantationsregelung die internationalen Transplantationsorganisationen die deutschen Kliniken immer weniger berücksichtigen und daß auf diese Weise praktisch schon jetzt die Versorgung mit Organen gefährdet ist, weil dieses internationale System notwendigerweise an das Vorhandensein nationaler Rechtsgrundlagen gebunden ist?
Bitte zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß eine baldige Verabschiedung eines Transplantationsgesetzes auch mit Rücksicht auf die internationale Zusammenarbeit auf dem hier in Frage stehenden Gebiet nützlich ist. Diesem Aspekt ist auch von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe stets besondere Beachtung geschenkt worden.
Keine Zusatzfrage.
Die Frage 39 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 40 des Abgeordneten Gansel auf:
Existiert im Bundesjustizministerium ein Aktenvermerk aus der Zeit vom 25. Oktober 1965 bis 1. Dezember 1966 darüber, daß der damalige Bundesjustizminister Dr. Jaeger dem ehemaligen Bundesverteidigungsminister Strauß nach Lektüre der Spiegel-Akten mitgeteilt hat, es sei „im Panzerschrank von Rudolf Augstein die Zielkartei bzw. Angaben über die Zielkartei für die atomaren Waffen der Bundeswehr" gefunden worden, und wie beurteilt die Bundesregierung eine solche Mitteilung in Anbetracht der Einstufung der Spiegel-Akten als geheime Verschlußsache?
Der Abgeordnete ist anwesend. Bitte, Herr Staatssekretär!
In den vom Bundesministerium der Justiz geführten Akten befindet sich kein Vermerk darüber, daß der damalige Bundesjustizminister Dr. Jaeger den ehemaligen Verteidigungsminister Strauß über Ergebnisse der Durchsuchung bei dem Herausgeber des Magazins „Der Spiegel" im Zusammenhang mit dem sogenannten Spiegel-Verfahren unterrichtet habe.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Kollege, wenn der damalige Bundesjustizminister Dr. Jaeger den ehemaligen Bundesverteidigungsminister Strauß über das Auffinden einer Atomwaffenkartei im Panzerschrank von Herrn Augstein informiert gehabt hätte, hätte er dann nicht nach allgemeinen Grundsätzen darüber einen Vermerk in den Unterlagen seines Hauses anfertigen müssen, wenn er überhaupt zu einer solchen Mitteilung befugt gewesen wäre?
Was die sogenannte Atomwaffenkartei anlangt, darf ich auf die Antwort meines Kollegen Berkhan verweisen, die klar und eindeutig war.
Was den zweiten Hinweis anlangt, so gibt es eine Bestimmung in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien und auch eine entsprechende in der VS-Dienstanweisung, wonach grundsätzlich entsprechende Vermerke notwendig sind.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Kollege, da uns der Kollege Jaeger als ein penibler Beamter bekannt ist und da auch das Bundesverteidigungsministerium gesagt hat, daß es eine solche Atomwaffenkartei gar nicht gebe, da aber der ehemalige Bundesverteidigungsminister Strauß in einem Zeitungsinterview behauptet hat, eine solche sei gefunden worden und deswegen hätten sich Herr Carstens und Herr Jaeger bei ihm entschuldigt: halten Sie es für möglich, daß in Anbetracht all dieser Umstände das Zeitungsinterview von Herrn Strauß eine Zeitungsente oder, vielleicht könnte man heute sagen, eine „Pekingente" gewesen ist?
Herr Kollege, mir obliegt es nicht, Bewertungen abzugeben, die Mitglieder dieses Hauses betreffen, auch wenn diese vormals das Amt eines Bundesministers innehatten. Ich glaube, ich habe Ihre Fragen, die Fakten betrafen, klar und eindeutig beantwortet. Die Schlüsse muß ich Ihnen überlassen.
Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereiches angelangt. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf.Die Fragen 41 und 42 des Abgeordneten Lenzer werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 43 des Abgeordneten Franke auf:
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10066 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Vizepräsident von HasselIst die Bundesregierung bereit — zur Erhaltung der Meinungsvielfalt — Soforthilfen far um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfende Tageszeitungen zu geben?Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner!
Zu dem mit Ihrer ersten Frage angeschnittenen Sachkomplex hat zuletzt namens der Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Kollege Baum, Stellung genommen. Dies vorausgeschickt, beschränke ich mich auf folgende Hinweise:
Auf Grund des von der Bundesregierung bereits am 30. April 1974 beschlossenen Sofortprogramms für die Tagespresse werden seit gut acht Monaten bedürftigen Zeitungsverlagen Kredithilfen aus einem Sonderprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau gewährt. Die Bundesregierung hat die Entscheidung über Hilfsmaßnahmen, die über das Sofortprogramm vom 30. April 1974 hinausgehen, von der Vorlage ausreichender Daten zur wirtschaftlichen Situation der Tagespresse abhängig gemacht. Die von der Bundesregierung veranlaßte Datenerhebung des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger ist noch nicht abgeschlossen, doch kann davon ausgegangen werden, daß die ausgewerteten Ergebnisse der Bundesregierung im Frühjahr vorliegen dürften. Die Bundesregierung hält daran fest, Entscheidungen über weitere Hilfen auf der Basis ausreichender Daten zu treffen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Franke.
Herr Staatssekretär, würden Sie den Wegfall der Mehrwertsteuer auf Vertriebserlöse nicht für eine große Hilfe halten?
Es ist sicher, daß bei Vorliegen der Daten alle in Frage kommenden wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen erörtert werden. Aber es ist ja eine Voraussetzung für solche wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen, daß man klar sieht, was mit einer solchen Hilfe tatsächlich bewirkt wird.
Die zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Franke.
Würden Sie dann das Bedauern darüber, daß gestern die Koalitionsparteien SPD und FDP im Finanzausschuß des Bundestages dem Antrag der Opposition, jetzt die Mehrwertsteuer auf Vertriebserlöse wegfallen zu lassen, nicht zugestimmt haben, mit mir teilen?
Ich kann dieses Bedauern so lange nicht teilen, als nicht durch eine klare wirtschaftliche Durchleuchtung der Situation der Tagespresse ersichtlich geworden ist, welche Maßnahmen wirklich den in Bedrängnis befindlichen Verlagen helfen können und welche Maßnahmen etwa dazu führen würden, daß der Konzentrationsprozeß wirtschaftlich noch beschleunigt wird.
Ich rufe Frage 44 des Herrn Abgeordneten Franke auf:
Wenn ja, ist die Bundesregierung bereit, zuerst der kurz vor der drohenden Einstellung stehenden „Neuen Hannoverschen Presse" in der Landeshauptstadt Hannover zu helfen?
Die Bundesregierung, Herr Kollege Franke, ist nicht in der Lage, Prioritäten zu setzen, die sich auf einzelne Verlagsunternehmen beziehen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Franke.
Herr Staatssekretär, würden Sie dann mit mir bedauern, daß an einem solchen Platz, nämlich in einer Landeshauptstadt, als Konsequenz Ihrer Unterlassungen nur eine einzige Zeitung erscheint?
Ich würde diese Unterstellung nicht akzeptieren können. Aber es ist richtig, daß wir bedauern würden, wenn durch die weitere Konzentration an diesem und an anderen Plätzen nur eine Zeitung existieren würde. Wir können allerdings den Zusammenhang zwischen der Haltung der Bundesregierung und dieser Tatsache nicht sehen, und ich möchte noch einmal betonen, daß es darauf ankommt, daß die betroffenen Verlage die Vorleistung erbringen, die anerkanntermaßen notwendig ist, nämlich der Bundesregierung über ihre wirtschaftliche Lage ausreichende Daten zur Verfügung zu stellen.
Eine zweite Zusatzfrage? — Bitte, Herr Franke!
Was, glauben Sie, Herr Staatssekretär, sollten die betroffenen Arbeitnehmer — Redakteure, Drucker usw. — tun, wenn in Hannover diese zweite Zeitung eingestellt wird?
Herr Kollege, wir haben es hier mit der Problematik und der Sorge all derer zu tun, die im Zuge der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung arbeitslos sind.
Eine Zusatzfrage, bitte, Herr Abgeordneter Sauer!
Da Sie die „Unterstellung" des Kollegen Franke zurückweisen, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, warum die beiden Herren Bundesminister Franke und Rohde, die doch hier auch hannoversche Wahlkreise vertreten, bisher die Unterschrift unter den Aufruf, die „Neue
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10067
Sauer
Hannoversche Presse" zu unterstützen und zu finanzieren, nicht gegeben haben?
Mir ist das nicht bekannt, und ich kann deshalb dazu keine Stellung nehmen.
Ich rufe Frage 45 des Herrn Abgeordneten Höcherl auf:
Hält der Bundeswirtschaftsminister an seiner Aussage in seinem Artikel Keine Sorge um die Arbeitsplätze" fest, daß es sich bei dem Konjunkturprogramm vom 12. Dezember 1974 nicht um Milliardenspritzen und nicht um einen Strohfeuereffekt handelt?
Herr Kollege Höcherl, der Artikel, auf den Sie sich beziehen, ist in der „Deutschen Zeitung — Christ und Welt" vom 27. Dezember 1974 erschienen. Er enthält eine abgewogene Darstellung der weltwirtschaftlichen Probleme, der binnenwirtschaftlichen Lage und der Entwicklungsaussichten für 1975, wobei insbesondere auf die Konzeption eingegangen wird, die den konjunkturpolitischen Beschlüssen vom Dezember 1974 zugrunde liegt. An diesen Aussagen halten wir fest.
Ich möchte aber darauf hinweisen, daß die von Ihnen in Ihrer Frage genannte Überschrift „Keine Sorge um die Arbeitsplätze" nicht von Minister Friderichs stammt, sondern von der Redaktion der Zeitung formuliert worden ist. Im Konjunkturprogramm vom Dezember 1974 drückt sich ja gerade das Bemühen aus, die derzeitige ungünstige Beschäftigungslage zu verbessern. Bei einem der gegenwärtigen Problemlage angemessenen Verhalten aller Beteiligten auch im politischen Bereich — bestehen nach Ansicht der Bundesregierung für diese Besserung gute Aussichten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Höcherl!
Herr Staatssekretär, Sie stimmen mir doch zu, wenn ich geschrieben habe, daß es sich hier um eine Milliardenspritze handelt?
Nein, Herr Kollege Höcherl, dem kann ich nicht zustimmen. Die Bundesregierung hat vielmehr mit ihrem Konjunkturprogramm ganz gezielt Schwerpunkte mit Langfristwirkung, insbesondere im Energiebereich, gefördert und damit eine Maßnahme eingeleitet, die zwar konjunkturelle Wirkung hat, aber nicht die Bezeichnung „Spritze" verdient. Damit würde eine Abwertung unterstellt, die wir diesen Maßnahmen nicht beilegen können und die auch nicht der Reaktion etwa der Öffentlichkeit oder der Wirtschaft entsprechen würde.
Die zweite Zusatzfrage des Herrn Kollegen Höcherl.
Herr Staatssekretär, wenn Sie dem schon nicht zustimmen, wären Sie dann bereit, der zweiten Bezeichnung „Strohfeuereffekt" zuzustimmen, weil man in wirtschaftlichen Dingen ja bekanntlich nichts voraussagen kann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist sicher richtig, daß es ungewöhnlich schwierig ist, in wirtschaftlichen Dingen etwas vorauszusagen. Um so bedeutungsvoller war es, daß alle Beteiligten in der Konzertierten Aktion die Maßnahmen der Bundesregierung begrüßt und zum Ausdruck gebracht haben — das gilt insbesondere auch für die Unternehmerseite —, daß sie diese Maßnahmen nicht nur unterstützen, sondern auch die Chance sehen, daß sie erfolgreich sind.
Keine Zusatzfrage.
Kann das Bundesernährungsministerium Auskunft darüber gehen, wie sich die landwirtschaftlichen Förderungsmaßnahmen gemessen an der Zielsetzung bewährt haben ?
Zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Logemann.
Herr Kollege Höcherl, die Fragestellung spricht sehr pauschal von landwirtschaftlichen Förderungsmaßnahmen, so daß ich annehmen muß, Sie meinen die Gesamtheit der agrarpolitischen Maßnahmen. Es gibt bereits eine Vielzahl von Kosten-Nutzen-Analysen. Eine Liste stelle ich Ihnen gern zur Verfügung. Aber dennoch werden nicht alle Bereiche landwirtschaftlicher Förderungsmaßnahmen erfaßt.
Die Bundesregierung ist trotzdem der Auffassung, daß sich die Förderungsmaßnahmen — gemessen an der Zielsetzung — bewährt haben. Die Maßnahmen werden ständig überprüft, und es werden notwendige Änderungen zur Weiterentwicklung vorgenommen. Auf die methodischen Probleme und die Bewertungsfragen von Zielsetzungen und Beiträgen im Zusammenhang mit Kosten-Nutzen-Analysen möchte ich Sie nur hinweisen.
Zur Zeit arbeitet mein Haus u. a. zusammen mit der Universität Bonn an einer Analyse der einzelbetrieblichen Maßnahmen der Gemeinschaftsaufgabe. Zu gegebener Zeit kann darüber berichtet werden.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Höcherl.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, können Sie hier ein ganz überzeugendes Beispiel vorführen.
Ich kann Ihnen Beispiele nennen, so die Untersuchungen von Flurbereinigungsverfahren. Wir ha-
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10068 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Parl. Staatssekretär Logemannben über den Wirtschaftswegebau in Südwürttemberg-Hohenzollern Kosten-Nutzen-Analysen gemacht, wir haben Untersuchungen der Förderungsmaßnahmen zur Verbesserung der Molkereistruktur vorgenommen und Nutzen-Kosten-Untersuchungen über die Landabgaberente. Ich habe hier einen ganzen Katalog.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Höcherl.
Herr Staatssekretär, können Sie an Stelle von alten Beispielen nicht ein ganz neues, das auf eigenen Erfindungen beruht, vorführen?
Dann würde ich das zuletzt genannte nennen. Ich habe soeben darauf hingewiesen, daß mein Haus zur Zeit an einer Analyse über die Auswirkung der einzelbetrieblichen Förderungsprogramme im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe arbeitet.
Ein völlig neues Gefühl für den Präsidenten. — Der Abgeordnete Gansel zu einer Zusatzfrage.
Herr Präsident, ich war zunächst eigentlich nur hier, um von dem Kollegen Höcherl den Trick zu erfahren, wie er seine beiden Fragen zu zwei ganz unterschiedlichen Ressorts unmittelbar hintereinander bringen konnte.
Diese Frage lasse ich nicht zu.
Ich habe auch eine sachliche Zusatzfrage.
So, das ist etwas anderes.
Zu einer sachlichen Zusatzfrage der Abgeordnete Gansel.
Herr Staatssekretär, beabsichtigt das Ministerium auch, eine erneute Kosten-Nutzen-Analyse der Molkereistrukturpolitik durchzuführen, nachdem das Gutachten der PROGNOS ergeben hat, daß es sich hier um einen Milliardenfehlschlag handelte, der allerdings schon unter der CDU/CSU-Bundesregierung begonnen wurde?
Herr Kollege Gansel, diese sachliche Zusatzfrage hat mit der Grundfrage nichts zu tun. Außerdem geht sie in den Bereich dessen hinein, den Sie schon eben einmal streiften, nämlich in den Bereich der Bewertung Ihrer Frage. Auf Grund der Richtlinien für die Fragestunde dürfen Sie keine Wertung in Ihre Frage hin- einbringen.
Herr Staatssekretär, Sie brauchen diese Frage nicht zu beantworten. Sie gehört nicht zur Grundfrage.
Die Fragen 47 und 48 sind bereits durch den Staatssekretär eines anderen Ressorts beantwortet worden.
Ich rufe Frage 49 des Abgeordneten Eigen auf:
Wie stellt sich die Bundesregierung zu der Äußerung der französischen Regierung, daß die französische Landwirtschaft eine Preisanhebung von mindestens 131/2 % erhalten wird und daß die französische Regierung wenn nötig mit nationalen Maßnahmen zusätzlich helfen würde?
Der Fragesteller ist anwesend. — Bitte schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, zur Beantwortung!
Herr Kollege Eigen, hinsichtlich der Höhe der zu beschließenden Preise hat die Bundesregierung bereits mehrfach geäußert, dieß diese u. a. den einkommenspolitischen Erfordernissen der Landwirtschaft gerecht werden, die stabilitätspolitischen Notwendigkeiten in Europa berücksichtigen und zu einer Verbesserung des Gleichgewichts auf einigen Agrarmärkten beitragen müssen. Die Bundesregierung geht mit diesen Vorstellungen in die weiteren Verhandlungen und sieht keinen Anlaß, den Verhandlungsergebnissen vorzugreifen.
Zur Frage zusätzlicher nationaler Maßnahmen geht die Bundesregierung davon aus, daß Frankreich wie auch alle übrigen Mitgliedstaaten die Entschließung des Rates vom 2. Oktober 1974 respektiert,
nach der die Vertreter der Regierung der Mitgliedstaaten erklärt haben, daß sie dafür Sorge tragen werden, daß die Regeln des EWG-Vertrages in bezug auf die derzeitigen und künftigen Beihilfen streng eingehalten werden.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Eigen.
Herr Staatssekretär, können Sie mich darüber aufklären, wieso es dann angehen kann, daß die Bundesregierung zu erkennen gegeben hat, daß sie unter dem Vorschlag der Kommission zur Preisanhebung abkommen will, obgleich Bundesminister Ertl im Ministerrat mit Recht bekanntgegeben hat, daß die Betriebsmittelkostensteigerung der Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland am höchsten ist?
Ich glaube, das letzte, was Sie eben als Aussage von Herrn Minister Ertl angeführt haben, ist für uns auch in Zukunft noch richtungweisend. Ich habe eben darauf hingewiesen, daß gerade die Entwicklung der Kosten für unsere Betriebsmittel bei der Beurteilung unserer Preisvorstellungen mitentscheidend sein wird.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10069
Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Eigen.
Herr Staatssekretär, sind Sie in Kenntnis davon, daß die Franzosen im Gegensatz zu Ihrer ersten Antwort auf meine Frage nicht nur 13,5 % Preisanhebung zugesagt haben, sondern darüber hinaus auch noch weiterhin Stützung für Milchviehhaltung in Kleinstbetrieben gewähren?
Das ist uns durchaus bekannt. Aber ich habe hier nur die Haltung der deutschen Bundesregierung zu vertreten. Ich habe Ihnen eben gesagt, nach welchen Kriterien wir uns bemühen werden, unsere Preisvorstellungen in Brüssel zu begründen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Susset.
Herr Staatssekretär, würden Sie vielleicht dazu beitragen, daß bei den künftigen Preisverhandlungen die neu herausgegebene EG-Statistik zu Rate gezogen wird, in der festgestellt wird, daß das Preis-Kosten-Verhältnis in der Landwirtschaft für die Bundesrepublik das schlechteste in allen EG-Staaten ist?
Herr Kollege Susset, ich würde nicht sagen, daß wir das schlechteste Preis-Kosten-Verhältnis haben. Aber unser Preis-Kosten-Verhältnis ist im Vergleich zu anderen EWG-Ländern recht ungünstig. Man muß bei solchen Vergleichen aber auch berücksichtigen, daß die Gewichtung der einzelnen Betriebsmittelkosten, die ja eine erhebliche Rolle spielen, dabei angerechnet werden muß.
Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Eigen auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung das Ergebnis der Abstimmung zum Problem Grenzausgleich für Agrarprodukte im Europäischen Parlament in Luxemburg?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär, bitte!
Die Bundesregierung hat ihre Auffassung zum Grenzausgleich für Agrarprodukte mehrfach, auch vor diesem Hohen Hause, klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht, Herr Kollege Eigen. Die Bundesregierung sieht auch nach der Entschließung des Europäischen Parlaments keine Veranlassung, ihre Haltung zu ändern.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Eigen.
Herr Staatssekretär, können Sie mir mitteilen, inwieweit die Mitglieder der FDP, die dem Bundesminister doch sehr nahestehen wer-
den, an dieser Abstimmung teilgenommen und wie sie votiert haben?
Verzeihung, diese Zusatzfrage lasse ich nicht zu. Es sind lediglich Fragen an die Bundesregierung zu richten und nicht Fragen über ein Dreiecksverhältnis zur Haltung eines oder mehrerer unserer Kollegen. Ich gebe Ihnen das Wort aber noch zu einer weiteren Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, inwieweit beachten Sie bei anderen Problemen die Äußerungen des Europäischen Parlaments?
Die Äußerungen des Europäischen Parlaments werden durchaus ernst gewertet und in meinem Hause auch fachlich durchberaten. Insofern beziehen wir alles, was im Europäischen Parlament bezüglich der Preisverhandlungen und anderer Dinge der EWG gesagt wird, durchaus in unsere Überlegungen mit ein.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Früh.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie eben gesagt haben, daß die Ausführungen des Europäischen Parlaments sehr ernst genommen werden, wofür ich Ihnen danke, darf ich die Frage anschließen, ob die Bundesregierung auch zur Kenntnis genommen hat, daß sich das Europäische Parlament in bezug auf die Preisvorschläge der Kommission unmißverständlich dahin äußerte, daß diese Vorschläge entschieden zu niedrig seien, um die Einkommen der Landwirtschaft der übrigen Einkommensentwicklung anzugleichen.
Ich habe die Entschließungen, die aus dem Europäischen Parlament gekommen sind, genau gelesen, und wir werden auch sie bei unseren Preisvorstellungen mit zu berücksichtigen haben.
Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich danke für die Beantwortung.Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung.Ich rufe die Frage 51 des Abgeordneten Dr. Enders auf:Trifft es zu, daß Krankenkassen und Versicherungsanstalten ihren Mitgliedern bei Bedarf Kuren im Ausland genehmigen, während Versorgungsämter den Beschädigten diese Heilbehandlung nicht gewähren?Der Fragesteller ist anwesend. Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Buschfort.
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10070 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Gestatten Sie, daß ich beide Fragen im Zusammenhang beantworte?
Keine Bedenken: Ich rufe zusätzlich die Frage 52 auf:
Ist die Bundesregierung bereit, darauf hinzuwirken, daß Kriegsbeschädigte bei bestimmten Krankheiten im Hinblick auf besseren Heilerfolg Kuren im Ausland durchführen können?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Ähnlich wie die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherungen können auch die nach dem Bundesversorgungsgesetz betreuten Beschädigten unter bestimmten Voraussetzungen Kuren im Ausland erhalten. Die Einweisung in Einrichtungen des Auslands übernimmt nach den Verwaltungsvorschriften zu § 11 des Bundesversorgungsgesetzes der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Voraussetzung für die Entsendung deutscher Kriegsbeschädigter in ausländische Einrichtungen ist allerdings, daß gleichwertige Häuser mit bestimmten, ortsgebundenen Heilmitteln und entsprechender Indikation in der Bundesrepublik Deutschland nicht vorhanden sind. Die gegenwärtigen Regelungen würden es zulassen, Kriegsbeschädigten bei bestimmten Krankheiten im Hinblick auf einen besseren Heilerfolg Kuren im Ausland zu genehmigen. Bei den vielseitigen Möglichkeiten der Krankenbehandlung im Inland handelt es sich aber nur um Ausnahmefälle.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Enders.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht für notwendig, diese anscheinend eng begrenzten Ausnahmegenehmigungen auszudehnen etwa auf Patienten, die von der Bechterewschen Krankheit betroffen sind, aber auch auf andere Patienten?
Ich denke, daß man immer dann, wenn der Kurerfolg im Ausland besser sein wird und wenn, wie gesagt, bei uns medizinisch Vergleichbares nicht vorhanden ist, solche Genehmigungen erteilen sollte. Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang aber auch sagen, daß die Zahl derartiger Auslandskuren im vergangenen Jahr mit 650 gar nicht so ganz gering gewesen ist.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Maucher.
Herr Staatssekretär, würden Sie wenigstens die Bemühungen unterstützen, Erholungskuren im Ausland zu ermöglichen, und würden Sie die Erfahrungen, die in Baden-Württemberg bereits gemacht worden sind oder gemacht werden, dann entsprechend auswerten?
Herr Kollege Maucher, ich kann im Moment die finanzielle Seite dieses Vorschlages nicht überblicken. Ich will Ihre Frage aber gern prüfen lassen.
Ich rufe die Frage 53 des Abgeordneten Maucher auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden hat, daß Kriegerwitwen nach Scheidung der zweiten Ehe auch dann Witwenrente zusteht, wenn die Scheidung auf alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe zurückzuführen ist, und ist die Bundesregierung bereit, auf Grund dieser Entscheidung in gleicher Weise bezüglich der Unterhaltsverpflichtung des geschiedenen Ehemannes nach der zweiten Ehe zu verfahren, d. h. daß die Zahlung eines Unterhalts in Zukunft nicht mehr von der Geltendmachung des Anspruchs abhängig gemacht wird?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Maucher, es ist zutreffend, daß das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit der sogenannten Verschuldensklausel in § 44 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes festgestellt hat. Danach lebt der Anspruch auf Witwenrente nach Scheidung der neuen Ehe einer Kriegerwitwe auch dann wieder auf, wenn die Witwe alleiniges oder überwiegendes Verschulden an der Scheidung trifft.
Ich gehe davon aus, Herr Kollege Maucher, daß Sie mit dem zweiten Teil Ihrer Frage die Vorschrift ansprechen wollten, nach der auf eine wiederaufgelebte Witwenrente u. a. auch Unterhaltsansprüche anzurechnen sind, die sich aus der neuen Ehe herleiten. Dazu möchte ich bemerken, daß diese Vorschrift durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts nicht in Frage gestellt wird. Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich, daß das Bundesverfassungsgericht darin eine sachgerechte Regelung sieht.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Maucher.
Herr Staatssekretär, ich glaube, Sie haben meine Frage nicht ganz richtig verstanden. Meine Frage bezieht sich darauf, daß ein Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung abgelehnt wird, wenn es die Witwe versäumt hat, einen Anspruch auf Unterhalt geltend zu machen.
Herr Kollege Maucher, ich gestehe gern ein, daß wir sehr gerätselt haben, wie Ihre Frage zu verstehen sei; wir haben uns dann für die Auslegung, wie ich sie vorhin vorgetragen habe, entschieden. Nachdem wir nun Ihre Frage falsch verstanden haben, will ich sie gern noch einmal prüfen und Ihnen dann eine schriftliche Mitteilung zukommen lassen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10071
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Maucher.
Herr Staatssekretär, habe ich Ihren ersten Satz richtig dahin verstanden, daß in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Tat alle Fälle angesprochen sind, in denen die Frau schuldig geschieden ist, also nicht nur die Fälle, in denen sie die Schuld auf sich genommen hat?
In meiner Äußerung hieß es: ..., wenn die Witwe alleiniges oder überwiegendes Verschulden an der Scheidung trifft.
Ich rufe die Frage 54 des Abgeordneten Sauter auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, in Bälde den landwirtschaftlichen Betriebshelferdienst als Einrichtung zum Ableisten des Wehrersatzdienstes anzuerkennen?
Herr Kollege Sauter, seit längerer Zeit sind gemeinnützige Einrichtungen wie der landwirtschaftliche Betriebshilfsdienst im Evangelischen Bauernwerk in HohenbuchWaldenbuch und der Verband des Katholischen Landvolks in Stuttgart als Beschäftigungsstellen des Zivildienstes anerkannt und beschäftigen landwirtschaftlich ausgebildete Zivildienstleitende als Betriebshelfer. Das Bundesamt für den Zivildienst wird auch andere dem Allgemeinwohl dienende Einrichtungen, die Zivildienstleistende als landwirtschaftliche Betriebshelfer beschäftigen wollen, als Beschäftigungsstellen des Zivildienstes anerkennen. Das Bundesamt für Zivildienst kann jedoch nur tätig werden, wenn ihm entsprechende Anträge vorliegen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Sauter.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihre Antwort so verstehen, daß dann, wenn Anträge beim Bundesamt in Köln von den entsprechenden Organisationen gestellt werden, diese auch befürwortet und diese Organisationen als Zivildienstverbände anerkannt werden?
Herr Kollege, davon dürfen Sie ausgehen. Voraussetzung ist allerdings, daß es sich um eine Einrichtung handelt, die dem Allgemeinwohl dient.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe dann die Frage 55 des Abgeordneten Horstmeier auf:
Werden arbeitslose Nebenerwerbslandwirte auf Grund ihrer Nebenerwerbstätigkeit in der Landwirtschaft versicherungspflichtig in der Krankenversicherung für Landwirte?
Der Fragesteller ist anwesend.
Herr Kollege Horstmeier, Ihrer Frage entnehme ich, daß Sie als Nebenerwerbslandwirt einen krankenversicherungspflichtig Beschäftigten meinen, der zugleich Landwirt ist und als Arbeitnehmer arbeitslos wird. Dieser Nebenerwerbslandwirt ist als Arbeitnehmer in der allgemeinen Krankenversicherung versichert.
Wenn er arbeitslos wird und Arbeitslosengeld bezieht, besteht Versicherungspflicht auf Grund der Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes bei der bisherigen Krankenkasse. In diesem Fall wird der arbeitslose Nebenerwerbslandwirt nicht versicherungspflichtig nach dem Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte.
Wird der Nebenerwerbslandwirt jedoch arbeitslos, ohne Anspruch auf Geldleistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz zu haben, beginnt nach dem Ende des krankenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Landwirte.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Horstmeier.
Herr Staatssekretär, wer stellt fest, ob der Landwirt eine selbständige Tätigkeit ausübt oder ob es sich um eine nebenerwerbliche Tätigkeit handelt?
Herr Kollege, zunächst einmal ist bei dieser Frage zu prüfen, ob der Betreffende einen Anspruch nach dem Arbeitsförderungsgesetz hat. Hat er einen Anspruch nach dem Arbeitsförderungsgesetz, bleibt er in der bisherigen Krankenkasse der allgemeinen Krankenversicherung. Hat er keinen Anspruch nach dem Arbeitsförderungsgesetz, wird er der Krankenkasse der Landwirte zugeordnet.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Horstmeier.
Herr Staatssekretär, sehen Sie nach der augenblicklichen Rechtslage, wenn diese Kriterien, die Sie eben nannten, zutreffen, eine Handhabe, daß jemand, der nach dem Verlust des Arbeitsplatzes außerhalb der Landwirtschaft also zwangsläufig nur noch Landwirt ist, in der bisherigen Pflichtkrankenkasse verbleibt?
Herr Kollege, wenn er als selbständiger Landwirt tätig wird, entfallen die Arbeitslosenleistungen, und zwar immer dann, wenn es sich nicht mehr um einen Nebenerwerb handelt. Hier haben wir die Festlegung im 20-Stunden-Bereich. Wenn diese Voraussetzung, noch Nebenerwerbslandwirt zu sein, entfällt, ist er Mitglied der landwirtschaftlichen Krankenversicherung.
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10072 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Ich rufe die Frage 56 des Herrn Abgeordneten Thürk auf:
Aus welchen Gründen glaubt die Bundesregierung, deutschen Grenzgängern, die im Inland wohnen, jedoch im Ausland arbeiten, die Gewährung von Kindergeld verweigern zu können, obwohl diese Grenzgänger im Inland ihre Steuern entrichten und demgemäß seit dem 1. Januar 1975 keine Kinderfreibeträge mehr erhalten?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Nach dem Einführungsgesetz zum Einkommensteuerreformgesetz steht am 1. Januar 1975 eine Erwerbstätigkeit im Ausland dem Kindergeldanspruch nach dem Bundeskindergeldgesetz nicht mehr entgegen. Allerdings entfällt der Anspruch auf Kindergeld, wenn für das gleiche Kind nach ausländischem Recht dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden. Erreichen diese Leistungen nicht 75 % der Höhe des Kindergelds nach dem Bundeskindergeldgesetz, so wird Kindergeld zur Hälfte gewährt. Diese Regelung, die auch bisher galt, soll Doppelleistungen vermeiden. Dies entspricht einem Grundsatz, der in allen Zweigen der sozialen Sicherheit und auch in anderen Staaten gilt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Thürk.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß der Steuerpflichtige, wenn er durch seine eigene gezahlte Steuer an der Aufbringung des Steueraufkommens beteiligt ist, auch einen Anspruch auf Kindergeld hat, welches den Bundesbürgern aus Steuermitteln gewährt wird, gleichgültig, ob im Ausland — dies wird bei der nächsten Frage noch zu beantworten sein — eine wie auch immer geartete Ausgleichszahlung geleistet wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich bin mit Ihnen der Auffassung, daß zunächst einmal jeder einen grundsätzlichen Anspruch nach deutschem Recht hat. Das kann aber nicht dazu führen, daß er bei uns eine Kindergeldleistung und im Ausland eine zweite, möglicherweise höhere Kindergeldleistung erhält. Was die Steuerregelung betrifft, so darf ich darauf hinweisen, daß ja nicht die holländischen Arbeitnehmer, die in der Bundesrepublik arbeiten, hier keine Steuern zahlen oder daß beispielsweise die deutschen Arbeitnehmer, die in Frankreich arbeiten, auch in Frankreich Steuern zahlen.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Thürk.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, wenn ich meine, daß die Ausgleichszahlungen in Frankreich — ich weiß nicht, ob Sie beide Fragen zusammen beantworten wollten — einen anderen Charakter haben und daß
immerhin für den steuerpflichtigen Deutschen, der im Ausland arbeitet, jedoch im Inland seine Steuern zahlt, insofern ein Negativum eingetreten ist, als er die Kinderfreibeträge eingebüßt hat, die ihm bislang zugestanden haben, so daß er also per Saldo immer schlechtergestellt ist?
Herr Kollege, meine erste Antwort bezog sich auf Staaten, die nicht der EG angehören. Von daher wäre es meines Erachtens nützlich, wenn ich jetzt zunächst einmal die zweite Frage beantwortete.
Ich rufe die Frage 57 des Abgeordneten Thürk auf:
Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß das z. B. in Frankreich an deutsche Grenzgänger bezahlte Kindergeld keinen Ausgleich darstellt, auch anders zu qualifizieren ist, da es vom Arbeitgeber aufgebracht wird, von einer Fülle von Bedingungen abhängig ist, nicht so hoch ist und keinen Ausgleich für die im Inland entfallenen Kinderfreibeträge darstellt, und sieht die Bundesregierung Möglichkeiten für Ausgleichsregelungen, wie sie z. B. für den öffentlichen Dienst aus ähnlichen Gründen angestrebt werden?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu Ihrer zweiten Frage möchte ich folgendes bemerken: Deutsche Grenzgänger in Frankreich haben auf Grund der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 für ihre in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Kinder Anspruch auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz. Die französischen Familienausgleichskassen haben der Bundesanstalt für Arbeit das Kindergeld zu erstatten. Bei Einführung dieser Regelung am 1. Oktober 1972 wurde im EWG-Recht eine Übergangsregelung geschaffen, nach der die in Frankreich als Grenzgänger beschäftigten Arbeitnehmer für ihre in der Bundesrepublik Deutschland wohnenden Kinder die französischen Familienbeihilfen erhalten, solange diese für ein Kind höher sind als das Kindergeld.
Diese im Interesse der Grenzgänger getroffene Maßnahme ist mit dem Inkrafttreten des Einkommensteuerreformgesetzes praktisch gegenstandslos geworden, da das deutsche Kindergeld in aller Regel höher ist als die französischen Familienbeihilfen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Thürk.
Ist Ihnen bekannt, daß die Leistungen, die in Frankreich in dieser Art gezahlt werden — wie ich in meiner Frage schon angeschnitten habe —, aus ganz anderen Quellen stammen, vom Arbeitgeber aufgebracht werden und auch an andere Bedingungen geknüpft sind, also nicht wie in Deutschland als Kindergeld unbedingt gezahlt werden, so daß die Voraussetzungen dort im Einzelfall ganz andere sein können und man zu ganz anderen Ergebnissen kommt, so daß es nicht gerechtfertigt ist, die Leistungen in Frankreich und in Deutschland einfach pauschal gleichzustellen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10073
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich bin der Meinung, daß es, wenn man die ganze Breite der Gegenseitigkeiten vergleichen wollte — von Österreich bis Dänemark, sage ich einmal —, eine Vielzahl von Unterschiedlichkeiten gäbe. Auf diese Unterschiedlichkeiten sollte man, glaube ich, nicht eingehen. Wir müssen beispielsweise sehen, daß auch in der Bundesrepublik der Staat für den öffentlichen Dienst bisher diese Leistungen als Arbeitgeber erbracht hat. Dort ist jetzt die bisherige Kindergeldregelung fortgefallen und dafür das Bundeskindergeldgesetz wirksam geworden. Hier eine differenzierte Regelung für alle Nationen zu finden, halte ich schlechterdings für unmöglich.
Ihre letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Thürk.
Habe ich Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung nicht beabsichtigt, eventuell durch diese gesetzlichen Regelungen im zwischenstaatlichen Bereich aufgetretene Ungerechtigkeiten oder Ungereimtheiten im Einzelfall zu überprüfen und mit Maßnahmen Abhilfe zu schaffen?
Herr Kollege, wir haben es hier im wesentlichen mit EWG-Recht zu tun. Diese Regelung ist bereits mit der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 vereinbart worden. Es bekommt keiner weniger, als er nach nationalem Recht erhalten würde. Wäre die französische Leistung höher, würde auch der deutsche Arbeitnehmer in Frankreich den höheren Betrag erhalten. Ist aber die deutsche Regelung besser, dann erhält er, obwohl sein Anspruch in Frankreich begründet ist, die deutsche Leistung. Ich glaube, daß das ausgleichende Gerechtigkeit und auch der Sinn solcher Übereinkommen ist.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 58 des Abgeordneten Gansel auf:
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10074 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10075
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10076 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10077
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10078 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich überlasse es aber dem Herrn Staatssekretär, ob er noch eine Antwort geben will. Andernfalls fahren wir in der Fragestunde fort.
Herr Kollege, ich kann feststellen, daß alle staatlichen Stellen darum bemüht sind, und daß auch die Deutsche Bundesbahn ihrerseits darum bemüht ist, in diesem Sinn zu verfahren.
Ich rufe die Frage 74 des Herrn Abgeordneten Josten auf:
Warum wurde die Bezeichnung der Autobahn A 14 geändert, nachdem bereits hundert/tausendfach Prospekte des Fremdenverkehrs sowie der Wirtschaft mit der Bezeichnung A 14 gedruckt waren?
Herr Kollege Josten, die im Jahre 1974 eingeführte neue Numerierung der Bundesautobahnen, bei der die bisherige Nummer A 14 in A 61 geändert wurde, berücksichtigt nicht nur die verwaltungsinternen Anforderungen, sondern trägt vor allem einer weiträumigen Lenkung und Steuerung des Verkehrs Rechnung; sie wird in die wegweisende Beschilderung aufgenommen.
Die bisherige Numerierung dagegen diente nur verwaltungsinternen Zwecken; auf ihre gelegentliche Übernahme in Werbeprospekte der Fremdenverkehrswirtschaft hatte der Bundesminister für Verkehr keinen Einfluß; er hat sie auch nicht veranlaßt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, treffen Nachrichten zu, daß die Autobahn A 14 bzw., wie Sie sie jetzt nannten, A 61 in der Bezeichnung wieder geändert werden soll?
Nein, Herr Kollege, diese Meldung trifft nicht zu. Für das neue Numerierungssystem, das hier in Frage steht, ist die Bezeichnung, wie ich sie soeben Ihnen mitgeteilt habe, vorgesehen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10079
Herr Staatssekretär, wird der Vorgang der hier genannten Autobahnumbenennung für Ihr Ministerium Veranlassung sein, zukünftig bei der Planung von Straßenbezeichnungen alle Gesichtspunkte rechtzeitig und sorgfältiger zu prüfen, damit unnötige Kosten vermieden werden?
Herr Kollege, ich habe Ihnen soeben schon gesagt, daß die bisherige Numerierung lediglich für verwaltungsinterne Zwecke bestimmt war und eine verkehrstechnische Systematik dieser bisherigen Benennung nicht zugrunde lag. Mit dem Rundschreiben „Straßenbau" Nr. 12/74 vom 15. Juni 1974 wurde das neue Numerierungssystem, und zwar nach den Kriterien, die ich soeben versucht habe zu erläutern, eingeführt. Es ist nicht auszuschließen, daß nach wie vor noch einige Autobahnbenennungen in der alten Art erfolgen, bis die endgültige Numerierung durchgeführt ist.
Ich rufe die Frage 77 des Abgeordneten Schlaga auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in den derzeit geltenden Richtlinien für die Geräuschmessung keine Höchstgrenze für Bremsgeräusche en Lkw, die zu unverantwortlichen Belästigungen der Bevölkerung führen, festgelegt worden ist, und ist sie bereit, die Messung auch der Bremsgeräusche mit in die allgemeinen Richtlinien für die Geräuschmessung aufzunehmen?
Herr Staatssekretär, im Hinblick auf den Ablauf der Fragestunde und mein Bemühen, gegebenenfalls die beiden Fragen des Abgeordneten Schlaga noch zur Beantwortung zu bringen, schlage ich vor — wenn es dem Herrn Fragesteller genehm ist —, daß Sie beide Fragen noch mündlich beantworten. Ich würde Ihnen dann noch eine Zusatzfrage einräumen, Herr Schlaga.
Wegen des Sachzusammenhangs hätte ich ohnehin darum gebeten, beide Fragen zusammen zu beantworten.
Da der Fragesteller ebenfalls einverstanden ist, rufe ich auch die Frage 78 des Abgeordneten Schlaga auf:
Auf welche Weise wird die Bundesregierung auf Hersteller- und Reparaturfirmen sowie technische Überwachungsvereine einwirken, um künftig die unerträglichen Bremsgeräusche abzustellen?
Die Richtlinien zu § 49 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung enthalten Vorschriften über die Messung der Motorbremsgeräusche sowie entsprechende Grenzwerte. Die gelegentlich auftretenden Geräusche an den Betriebsbremsanlagen der Lastkraftwagen können nicht beliebig erzeugt werden. Es ist bisher nicht gelungen, Bremsanlagen so zu beeinflussen, daß während der Durchführung eines Meßverfahrens reproduzierbare Ergebnisse gewonnen werden können. Nach dem Stand der Technik gibt es keine Möglichkeit, das gelegentliche Quietschen der Betriebsbremsanlagen der Lastkraftwagen konstruktiv sicher zu verhindern. Das Quietschen läßt sich lediglich durch entsprechende Wartung der Bremsanlage in gewissen Grenzen halten.
Die Bundesregierung sieht daher keine Möglichkeit, auf diesem Gebiet normativ tätig zu werden. Soweit mir bekannt ist, gibt es auch in anderen Ländern keine entsprechenden Vorschriften.
Eine Zusatzfrage.
Herr Kollege, Sie sprechen in Ihrer Antwort von einem gelegentlichen Quietschen. Darf ich Ihnen empfehlen, sich doch einmal an eine Ampel zu stellen, an der sehr viele Lastwagen gezwungen sind, zu halten und wieder anzufahren, bzw. an eine Straße, die in eine andere mündet, und sich anzuhören, .
Eine Frage, Herr Kollege.
... wie sich dieses gelegentliche Quietschen anhört, und ich möchte gleichzeitig an Sie die Frage richten — das können Sie bitte als zweite Frage werten, Herr Präsident —, ob die Regierung bereit ist, dem TÜV und den Herstellern entsprechende Auflagen zu erteilen? Denn ich halte es einfach nicht für angängig zu sagen, der Stand der Technik sei nicht so weit, daß ein Quietschen vermieden werden kann.
Herr Kollege, ich habe Ihnen eben schon deutlich gemacht — ich bleibe dabei —, daß das ein gelegentliches Quietschen ist, das allerdings an den von Ihnen genannten Stellen öfter auftreten kann. Aber es ist doch nicht die Regel und nicht die Norm, daß dieses Quietschen bei den Betriebsbremsanlagen auftritt; sondern das ist, wie ich deutlich gesagt habe, zum größten Teil auch eine Frage der Wartung. Insofern kann die Bundesregierung nicht normativ tätig werden.
Meine Damen und Herren, damit stehen wir am Ende der Fragestunde.
— Herr Kollege, ich habe Ihnen eine Zusatzfrage zugestanden. Sie haben daraus zwei gemacht. Ich bitteum Verständnis. Wir sind am Ende der Fragestunde.Die Fragen 75 und 76 des Abgeordneten Büchner , 79 des Abgeordneten Lemmrich, 80 des Abgeordneten Zebisch und 81 des Abgeordneten Böhm (Melsungen) werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
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10080 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenDa der Abgeordnete Memmel nicht im Saal ist, wird auch die Frage 82 schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Meine Damen und Herren, damit sind sämtliche Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen beantwortet. Ich danke dem Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.Nunmehr setzen wir die unterbrochene Debatte über die Punkte 3 und 4 — Erklärung der Bundesregierung über die Lage der Nation; Große Anfragen betr. Deutschlandpolitik — fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschlandpolitische Debatten haben in diesem Hause immer schon eine besondere Bedeutung gehabt. Diese Bedeutung hat sich zu früheren Zeiten an einem gefüllten Plenarsaal gezeigt. Das kann und konnte auch gar nicht anders sein; denn der Bundestag hat immer im Wissen um die außerordentlichen Schwierigkeiten und um die Kompliziertheit jener Probleme, die uns als geteiltes Land unmittelbar betreffen, seine Verhandlungen geführt.Wir wissen, daß die tragische und dramatische Entwicklung der deutschen Frage eine Folge des Krieges ist; daß sie darüber hinaus aber dem Willen der sowjetischen Politik entspringt, welche einem Teil unseres gespaltenen Landes eine Herrschaft aufgezwungen hat, die zwar ihrem Bild, ihren Machtbedürfnissen, niemals aber dem Willen der dortigen Menschen entsprach, die wir — ich sage das auch im Hinblick auf das, was der Kollege Mattick vorhin so etwas zynisch bemerkte — auch und im buchstäblichen Sinne als unsere Brüder und Schwestern empfinden.Denn: Deutsches Schicksal im getrennten Land zu behandeln war eine der wichtigsten Aufgaben des frei gewählten deutschen Parlaments. Lange Zeit sind wir — gemeinsam — davon ausgegangen, daß es, weil wir aus freien, allgemeinen und geheimen Wahlen, aus nicht manipulierten Wahlen, aus Wahlen, die nicht fremdem Willen unterworfen waren, hervorgegangen sind, unsere Aufgabe sei, in einem übertragenen und tieferen Sinne auch für jene Menschen im anderen Teil des Landes zu wägen, zu sprechen, Verantwortung zu fühlen, denen die freie Mitwirkung versagt ist.Natürlich — ich sage das als Bemerkung zu der einleitenden Rede des Bundeskanzlers — verschließen wir unsere Augen nicht vor der Wirklichkeit. Natürlich sehen wir — es hätte seiner Aufforderung gar nicht bedurft — nicht über die Wirklichkeit hinweg. Und natürlich wissen wir, daß mittlerweile Verträge geschlossen wurden, die vieles tiefgreifend verändern und die uns neue Pflichten auferlegen. Aber diese Verträge — und ich füge hinzu: die wir zwar kritisiert haben und kritisieren, die wir aber als geltend und rechtswirksam zustande gekommen betrachten — haben unsere klare Auffassung nicht um ein Jota geändert: daß nämlich drüben, jenseits dieser schlimmen Linie, an der mit Maschinen-pistolen das Recht der Menschen auf Freiheit und Selbstbestimmung gebrochen wird, Deutsche leben, die ein unlösbarer Teil unseres deutschen Volkes sind, deutsche Staatsbürger, Angehörige der einen deutschen Nation.
Vielleicht könnte man auf Grund einiger Bemerkungen in der Rede des Bundeskanzlers schon etwas weiter gehen. Aber ich will mich im Hinblick darauf beschränken und sagen: Zumindest für meine Freunde kann ich deutlich machen, daß niemand von uns die DDR als fremdes Land, als Ausland betrachtet; daß niemand von uns die Menschen drüben, sei es aus Verzagtheit oder aus Resignation, vergißt; übrigens auch jene nicht, die hinter Oder und Neiße leben.Wenn wir heute — diese Abschweifung sei mir bitte erlaubt — in den Zeitungen lesen, daß in der Tschechoslowakei immer noch über 380 Kinder warten, zu ihren Eltern zu dürfen, dann denke ich daran, daß wir doch einen Vertrag mit der Tschechoslowakei abgeschlossen haben, in dem versichert wird, man werde Anträge auf Familienzusammenführung „wohlwollend" prüfen. Wir warten darauf, daß das nicht nur eine Formel bleibt, sondern gelebte Wirklichkeit wird.
Wir können uns nicht der geschichtlichen Pflicht ledig betrachten, einer Pflicht, die uns zwingt, als Deutsche zu fühlen, zu denken und zu handeln. Deswegen übernehme ich von einem bedeutenden französischen Historiker und Philosophen, nämlich von Hippolyte Taine, einen Ausdruck, den er für sein Vaterland gebrauchte: Frankreich ist dort, wo man sich als Franzose fühlt. Ich sage also für uns: Deutschland ist dort, wo man sich als Deutscher fühlt. Ich setze hinzu — und zwar aus sehr aktuellem Anlaß —: als Deutscher, nicht, wie manche sagen, als „Bürger der BRD" oder als „Bürger der DDR" ; sondern als Deutscher.Ich sagte, daß wir hier oft und mit besonderer Ausführlichkeit — mitunter leidenschaftlich -- über unser Land und sein Schicksal, über seine Wege und unsere Vorstellungen zur Lösung seiner Probleme gesprochen und miteinander gestritten haben. Ich hoffe, daß es uns bei aller Kontroverse, die natürlich in der Sache noch drin ist, heute gelingt, auch an jene vielen Hunderttausende zu denken, die uns, solange es ihnen noch möglich ist, drüben zusehen und zuhören, und denen wir auch durch die Art, wie wir unsere und ihre, unsere gemeinsamen Anliegen, Fragen und Nöte hier behandeln, die Vorzüge von freier Rede und Gegenrede, von parlamentarischer Demokratie darstellen.Nur, meine Damen und Herren, wer die Diskussion der letzten Wochen verfolgt hat, wird finden, daß — ich sage es einmal so — trotz mancher Fanfare, die aus dem Regierungslager zu hören war, trotz manchem Rückfall in eine gleißende Formelwelt der Erfolgshoffnungen und Illusionen früherer Jahre doch — das hat die Rede des Bundeskanzlers für den, der genau zuhörte, wohl auch deutlich gemacht — ein erhebliches Stück mehr Nüchternheit —
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10081
Dr. MarxNüchternheit in der Beurteilung der Gegenwart und der mutmaßlichen Entwicklung — eingekehrt ist. Wir erleben also in den deutschlandpolitischen Dingen einen Prozeß, vergleichbar jenem in der Außenpolitik, denn zu hart hat die Wirklichkeit viele Hoffnungen und frohgemute Vorstellungen korrigiert, zu rauh bläst mancher Wind aus Ost-Berlin und Moskau, zu viele Dokumente flattern z. B. Ihnen, Herr Kollege Franke, als dem zuständigen innerdeutschen Minister auf den Tisch,
Dokumente, in denen ganz ungeschminkt die Grausamkeit der deutschen Wirklichkeit, die permanente Verachtung der Menschenrechte, die herzlose und ideologisch konsequente Knebelung der Freiheitsrechte von — immer noch, muß man sagen — Eltern, Kindern, Ehegatten und Freunden, die zueinander wollen, zum Ausdruck kommt. Jedesmal, Herr Bundesminister, wird Ihnen dies neu vor Augen geführt.Wer aber immerfort in einer solchen Weise mit den Tatsachen konfrontiert ist, der kann meiner Überzeugung nach nur noch mühsam die bisherige regierungsamtliche Propaganda aufrechterhalten.
Wer statt Verständigung Abgrenzung erfährt, wer statt konkreter Antwort auf seinen, ich sage einmal, ehrlichen Versuch der Versöhnung Honeckers unerbittliche Klassenkampfparolen hört, die Zurückweisungen der SED erfährt, in deren Augen ja Versöhnung so etwas wie Schwäche oder Verrat ist, wer die Minen, die das Hochwasser herüber-schwemmt, als unmittelbare und zusätzliche Gefahr für Bauern und Besucher mitten in Deutschland begreift, wer die Todesfallen, die Länge der Stacheldraht- und Hundelaufanlagen, die Tiefe des Grenzstreifens, die Anzahl der Wachtürme und der Bunker, wer dies alles immerfort zählen und registrieren muß, der sollte bei der Diskussion über die Lage der Nation mit gedämpfterer Stimme als bisher reden; er sollte Erfolg und Mißerfolg mit Augenmaß wägen und sich, wenn er es kann, frei von Propaganda, Rechenschaft geben über die Tatsache, daß, abgesehen von gestiegenen Besucherzahlen — und ich wiederhole, was wir immer gesagt haben: die wir begrüßen —, Abgrenzungspolitik und ihre schlimmen Auswirkungen noch immer die Wirklichkeit in Deutschland sind.
Weil ich, Herr Kollege Franke, gerade von den vielen Dokumenten des Unrechts in einem zerrissenen Land spreche, will ich an dieser Stelle doch einmal auf all die Briefe hinweisen, die Ihnen zugeschickt werden, Briefe, in denen die Menschen mitunter ganz verzweifelt um Hilfe bitten. Herr Kollege Franke, ich weiß, daß Ihr Haus vielen, die an die Versprechungen und an viele überbordende Zukunftserwartungen geglaubt hatten, negative Bescheide schickt und schicken muß. Mancher dieser Briefe liegt auch uns vor, wo die einzelnen geglaubt hatten, daß nun tatsächlich Normalisierung in Deutschland beginne, Handel und Wandel, größere Freizügigkeit, Rücksichtnahme, Verständnis füreinander, vielleicht sogar Verständigung. Manche hatten gedacht, nach den Verträgen, vor allem nach dem Grundvertrag, werde in Deutschland die Eiskruste, von der Willy Brandt am Tage der Unterzeichnung des Grundvertrages so bildhaft und doch so falsch gesprochen hatte, tatsächlich aufgebrochen. Sie hatten gehofft, daß nach all den Leistungen, die die westliche Seite erbracht hat, die östliche nun endlich den Forderungen der Menschlichkeit Raum gebe. Sie hatten gehofft, daß es nicht reiner Zynismus sei, wenn die DDR der Konvention über die Menschenrechte beitritt, und daß jetzt so, wie Egon Bahr das immerfort geglaubt, gedacht und hier gesagt hatte, die DDR ihre psychologisch begründeten Hemmungen endlich ablege und als Mitglied der Vereinten Nationen, aufgenommen in die Familie der Völker, sich an deren feierlich beschworene Pflichten halten werde.Viele dieser Briefe sind Dokumente der Enttäuschung, und man muß sagen: mitunter des Zorns. Wir verstehen diese Gefühle, wir teilen sie. Niemand muß sich wundern, wenn heute die Verbitterung bei vielen so groß ist, weil sie gestern noch an erzeugte Hoffnungen glaubten. Ich möchte mich gern an die Regierung und an die, die sie hier tragen, wenden und Ihnen sagen, Sie sollten alle daraus lernen und in Ihren Darstellungen dessen, was ist, und dessen, was realisierbar sein kann, endlich das Bramarbasieren lassen.Meine Damen und Herren, seit geraumer Zeit hat sich in amtlichen Verlautbarungen über deutschlandpolitische Fragen der Schwung gelegt; die weit aus- I holende Geste wurde knapper. Man merkt das sogar, wenn man sich die Antworten der Bundesregierung auf die beiden Großen Anfragen genau ansieht, wobei — ich bitte die Kollegen der Koalition um Vergebung, wenn ich das sage — ich bei der Lektüre der Großen Anfrage von SPD und FDP den Eindruck habe, daß es sich dort weit mehr um ein weit geöffnetes Weihrauchfaß
denn um eine parlamentarisch kontrollierende Anfrage gehandelt hat.
In jüngster Zeit sind manche Verlautbarungen der Bundesregierung — ich vermute, es ist so gemeint — offenbar zur Dämpfung jener Hoffnungen gedacht, die man früher hegte. Es ist plötzlich sogar schick, sich gegen Illusionen zu wenden.Die weltpolitische Entwicklung läuft, Herr Kollege Wehner, glaube ich, nicht nach jenem Fahrplan, von dem Sie hier gesprochen hatten, was Sie damals mit der Mahnung verbunden haben, wir sollten nicht durch allzu kritisches und langes Prüfen diesen Fahrplan durcheinanderbringen. Ich glaube, man wird sagen müssen, die Ostpolitik ist durch die konsequente sowjetische Westpolitik entzaubert worden. Die Dinge gehen jetzt langsamer, und manches stockt.Nachdem die DDR — und ich betone das — die meisten und wichtigsten Ziele erreicht hat, zeigt sie sich nur härter. Nachdem sie die vorhergehende
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Dr. Marxund die gegenwärtige Bundesregierung — Herr Bundeskanzler, ich formuliere das jetzt ausdrücklich so — auf Möglichkeiten der Erpreßbarkeit getestet hat, nimmt sie Gewährtes — und das ist im Grunde genommen ja wenig genug — zurück und verlangt, wenn sie es wiedergewährt, wie z. B. beim Zwangszoll für Einreisende im Zusammenhang mit dem Swing, einen neuen Preis.Man wird also sagen müssen, viel Wasser ist auf diese Weise in den Wein der Verständigung geschüttet worden. Die harten Fakten lassen sich nicht länger ignorieren, und daher mehren sich — ich wiederhole es — die Behauptungen, man habe sich zu keiner Zeit Illusionen hingegeben. Aber, meine Damen und Herren, so leicht kann man natürlich nicht den Inhalt vieler Erklärungen der letzten Jahre vergessen machen, und ich sage: auch vieles nicht, was ich mit Bitterkeit als schamlose Wahlpropaganda bezeichnen muß, wo vor den Wahlen ganz andere Dinge angekündigt waren, als man hinterher in der Lage — und ich sage: mitunter auch willens — war, zu tun.
Meine Damen und Herren, es gibt eine Legion von Zitaten aus Flugblättern und von Plakaten, aus Reden und Interviews. Ich will hier nur ein einziges Zitat vortragen, weil es meiner Auffassung nach besonders bildhaft den Charakter der damaligen — heute abgestrittenen — Illusionen und Gaukeleien darstellt. Herr Egon Bahr wurde im Norddeutschen Rundfunk am 30. Dezember 1972 gefragt — ich zitiere —:Sie werden gelegentlich als Architekt dieser Vertragspolitik bezeichnet. Um bei diesem Bild zu bleiben: Ist das Gebäude jetzt mit der Unterzeichnung des Grundvertrages fertiggestellt?Herr Bahr antwortete — ich zitiere wieder —:In den Grundsätzen ja. Das Fundament ist da, die Tragpfeiler sind da, die Mauern sind vorhanden, und auch das Dach ist fertig. Mehr als ein Richtfest kann gefeiert werden; denn das Dach ist, glaube ich, auch ziemlich wasserdicht, selbst wenn starker Regen kommen sollte, was ich nicht hoffe.Und Bahr fügte hinzu:Was jetzt kommt, ist die Innenausstattung: das Verlegen der elektrischen Leitungen, das Einsetzen der Türen, so daß sie nicht quietschen. Die Dielen sollen nicht knarren. Und dann die wohnliche Ausstattung.Der Reporter fragte ihn dann: „Wie lange wird das noch dauern?" Bahn antwortete:Das hängt im übertragenen Sinne von den Handwerkern ab. Ich hoffe, daß es nicht zu lange dauern wird.
Er fügte hinzu:Aber im Ernst: Es mag ein, zwei Jahre dauern, bis das wohnlich wird.Meine Damen und Herren, Sie sehen, welch trefflicher Handwerker der Kollege Bahr ist. Darf ich bitte sagen: Dieses Haus ist Pfusch!
Heute nun, nachdem sich an vielen Stellen Unebenheiten, Unklarheiten, fehlerhafte Formulierungen und die Hast des Aushandelns der Verträge zeigt, da unterschiedliches Verständnis und unterschiedliche Auffassungen ihre gefährliche Wirkung deutlich machen, wird da und dort — und darauf möchte ich jetzt eingehen — von Gemeinsamkeit in der Deutschlandpolitik gesprochen, von Gemeinsamkeit, die jetzt nötig sei. Alle Parteien, so sagt man, sollten in dieser wichtigen Frage zusammenstehen. Wenn ich recht verstanden habe, Herr Bundeskanzler, haben Sie heute morgen — für mich eindrucksvoll, wie ich zugebe; aber über die Sache müssen wir dann reden — von einer gemeinsamen Politik gesprochen, die Sie für nötig hielten; Sie sagten: eine gemeinsame Politik für die Nation. Aber, meine Damen und Herren, so neu ist die Erkenntnis doch nicht, daß man in schwierigen Zeiten bei nationalen Fragen Gemeinsamkeit finden sollte, weil sie besser sei als schroffe Konfrontation. Das haben wir früher in diesem Hause alle zusammen praktiziert. Warum also jetzt, nachdem es für die Regierung immer schwieriger wird, nachdem sie mit dem Grundvertrag auf Grund gelaufen ist, mehr Gemeinsamkeit? Diese Frage stellt sich, und ich will versuchen, sie zu beantworten.Herr Bundeskanzler, die CDU/CSU hat zu all den schwierigen Zeiten, die es natürlich in diesem Hause immer gab — und wer wäre ein besserer Zeuge dafür, Herr Wehner, als Sie selbst, der Sie lange Jahre Vorsitzender des Gesamtdeutschen Ausschusses waren —, stets darauf geachtet, daß die Grundlagen, die Zielvorstellungen der Deutschlandpolitik von allen demokratischen Kräften gemeinsam getragen werden. Die gemeinsamen Resolutionen, die wir hier in diesem Hause gemeinsam erarbeitet, miteinander diskutiert und miteinander verabschiedet haben, sind wichtige Zeugnisse unseres politischen Willens und unserer Fähigkeit, trotz Nuancen, trotz manchem Streit deutsche Probleme einvernehmlich zu behandeln.1969 aber, meine Damen und Herren, ist dies alles, wie ich noch einmal sagen muß, ohne Not und zum Schaden unseres Landes von der neuen, linken Regierung abgebrochen worden.
Damals hat man hier diesen Kurswechsel begründet, uns diffamiert und sich — ich sage es noch einmal — unter Beschimpfungen der Opposition, die wir nicht vergessen haben, von den früheren gemeinsamen Handlungen abgesetzt.Sie haben im Rückblick auf die Zeit von 1949 bis 1969 die geschichtlichen Tatsachen zu oft verbogen, und Sie, Herr Bundeskanzler, haben auch heute erneut an der Konstruktion einer Legende gearbeitet, wonach die Brandt/Scheel-Regierung sozusagen als Nothelfer unser Land vor einer drohenden Iso-
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Dr. Marxlierung gerettet hätte. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU hat darauf geantwortet.Um es deutlich zu sagen: Gemeinsamkeit kann nicht auf Unwahrhaftigkeit, auf Lebens- und Geschichtslügen begründet werden.
Es müßte sich also schon erheblich mehr in der Vorstellungswelt Ihrer Seite verändern, sowohl in der Form als auch im Inhalt.Gemeinsamkeit — ich wiederhole meine Bemerkung, die der Bundeskanzler heute morgen zitiert hat — kann man nicht herstellen, um Gegensätze zu verdecken. Aber diese Gegensätze sind — vielleicht an der einen oder anderen Stelle weniger —, wenn man sich nicht betrügt und genau hinsieht, noch immer vorhanden, und sie sind auch noch groß. Das macht die in der Diktion gegenüber früheren Erklärungen — ich denke etwa an die pathetischen Vorstellungen Ihres Vorgängers, Herr Bundeskanzler — gemäßigte Rede, die Sie heute hielten, auch noch klar.Mit für uns ganz und gar unakzeptablen Vorstellungen, Herr Kollege Mattick — verzeihen Sie, wenn ich sage: mit grotesken Behauptungen —, haben Sie heute mittag ein Bild der Ost- und Deutschlandpolitik entworfen, wodurch Sie selbst die vielleicht im Ansatz gewollte Gemeinsamkeit bereits verdorben haben.
Man kann nicht schizophren handeln, indem man auf der einen Seite immer noch an der durch die Wirklichkeit ständig korrigierten Deutschlandpolitik in diesen früher geprägten Formulierungen festhält, zugleich die CDU/CSU und ihre verantwortlichen Handlungen hart attackiert, und auf der anderen Seite dieselbe CDU zur Gemeinsamkeit aufruft. Das sind Handlungen, die nicht zueinander passen. Da muß man sich etwas anderes überlegen, wie man die Opposition in diesem Hause gewinnen kann. Dazu möchte ich gern noch einige Bemerkungen machen:Wir können uns ganz unmöglich falschen Lagebeurteilungen und verhängnisvoll falschen Einschätzungen von Charakter und Absichten der anderen Seite anschließen. Ich möchte hinzufügen: Je realistischer die Regierung und die sie tragenden Fraktionen werden — wenn ich „realistisch" sage, meine ich nicht die alte Formel, man müsse Realitäten anerkennen, sondern ich meine damit, man müßte in die Wirklichkeit hineinsehen und sie richtig begreifen—desto größer kann die Möglichkeit einer tragfähigen Basis für gemeinsames Handeln sein. Aber diese Basis ist heute nicht vorhanden.Gemeinsamkeit für künftige Politik würde bedeuten: Verständigung in den entscheidenden Einschätzungen und den eigenen Aktionen, rechtzeitige rückhaltlos offene und gründliche Information und sorgsames Umgehen mit politischen Vereinbarungen. Was wir aber da in den letzten Jahren immer wieder hörten, etwa auch im Zusammenhang mit den von uns früher mit viel Mühe gemeinsam formulierten Erklärungen zur Deutschlandpolitik, daß man sagt „Das alles ist vorbei, das alles gilt nicht mehr!", steigert nichtunseren Willen zur Gemeinsamkeit, steigert nicht unsere Hoffnung, daß es eine solche Gemeinsamkeit — deren Vernünftigkeit niemand abstreitet — geben könnte.Indem ich dies sage und mich nun der plötzlich aufbrechenden Diskussion um Konsularverträge, welche die DDR mit anderen Ländern abzuschließen sich anschickt, zuwende, finde ich, Herr Bundeskanzler — das Wort ist oft so gebraucht worden —, daß die Stunde der Wahrheit für die Deutschlandpolitik angebrochen ist. Leider ist es nicht, wie man versprochen hatte, gelungen, die Lage im gespaltenen Land zu entkrampfen. Die Gräben zwischen beiden Teilen Deutschlands sind nicht eingeebnet, sie sind an vielen Stellen sogar tiefer geworden. Man hat gesagt: Die Verträge sollten in Deutschland zum geregelten Nebeneinander und von diesem Nebeneinander zum Miteinander führen. Was daraus geworden ist, kann jedermann erkennen.Meine Damen und Herren, mancher Lärm, auch in der Presse, über künftige Konsularverträge, welche die DDR mit anderen Staaten abschließt, ist für mich nur ganz schwer zu verstehen; denn ich habe den Eindruck, daß man heute so tut, als sei man überrascht, wenn andere in einer Weise handeln, die angeblich niemand vorhergesehen hat. Dem deutschen Volk war immer gesagt worden, daß durch die Ostverträge und den innerdeutschen Grundvertrag unser außenpolitischer Spielraum erheblich erweitert wird. Herr Bundeskanzler, Sie haben heute morgen eine ähnliche Formulierung gebraucht.Ich würde einfach wünschen, auch im Angesicht der Auseinandersetzungen, die es in den letzten Wochen zu diesem Thema leider gab, daß Sie diese Ihre These noch einmal überprüfen. Man hat uns immer gesagt, durch besonders sorgfältige diplomatische Unterrichtungen habe man die anderen Staaten gebeten, in ihrem Handeln auf die besondere Lage in Deutschland Rücksicht zu nehmen. Nun zeigt sich die Hohlheit einer solchen Politik. Ich muß leider sagen, daß die Auseinandersetzungen, die hin und wieder, meistens publizistisch, mit dritten Staaten geführt werden, die durch den Grundvertrag veranlaßte Schwäche der außenpolitischen Position bloßstellen. Mir scheint, daß zu spät und am falschen Platz versucht wird, etwas festzuhalten, was in der Konsequenz dieser schlecht durchdachten Deutschland-Politik längst der Bundesregierung durch ihre linken Hände geronnen ist.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Friedrich?
Herr Kollege Marx, da Sie sich doch sonst immer auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag berufen,
wieso verschweigen Sie hier, daß dort ausdrücklich vermerkt ist, daß sich die Frage der Staatsbürgerschaft ausdrücklich auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes bezieht?
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10084 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Also, Herr Kollege Friedrich, ich habe Verständnis dafür, daß Sie von mir erwarten, ich könnte in zwei Sätzen sozusagen alles sagen, was Sie gerne hören oder was der Sache entspricht; ich komme noch darauf zurück, ich bitte um Ihre freundliche Geduld.
Wenn heute andere Staaten mit der DDR Konsularverträge abschließen, dann gehen sie davon aus, daß die DDR durch die ausdrücklichen Ermunterungen der Bundesregierung — urbi et orbi, könnte man sagen — zu einem Staat erklärt wurde, mit dem man nicht nur völkerrechtliche Verträge schließen könne und solle, sondern den die anderen Staaten auch völkerrechtlich anerkennen sollten und der dann vollberechtigtes Mitglied der Vereinten Nationen werde.Aber damals bereits — damals, ich meine: im Oktober 1969, also direkt nach Amtsantritt der Regierung Brandt/Scheel — bei der ersten Regierungserklärung und dann später bei den Verhandlungen Bahrs mit Gromyko in Moskau im Frühjahr 1970 und zuletzt beim Abschluß der Ratifikation des Grundvertrages, damals sind wichtige, über alles andere dominierende Entscheidungen gefallen. Ich werde nachher noch auf einige spezifische Probleme und notwendige Berücksichtigungen eingehen, die wir von Ländern erwarten dürfen und erwarten müssen, mit denen wir seit vielen Jahren eigene Verträge und Vereinbarungen abgeschlossen haben.Jetzt aber muß ich feststellen — und ich bediene mich der Formulierung „man", die Heidegger dazu veranlaßt hat, einen ganzen großen Aufsatz darüber zu schreiben —, jetzt muß „man" feststellen, daß „man" heute nicht plötzlich so tun kann, als ob „man" früher dem Grundvertrag nicht zugestimmt hätte.Bei der Vorbereitung dieser Debatte habe ich noch einmal nachgelesen, was in früheren Auseinandersetzungen in diesem Hause zu diesem Thema gesagt worden ist. Da finde ich bereits in der Debatte zur ersten Regierungserklärung Brandt, Datum 29. Oktober 1969, einen Satz unseres Kollegen Kurt Georg Kiesinger, in dem er sagt, daß durch die Vielzahl der nun folgenden Anerkennungen der DDR durch andere Staaten die Bundesregierung am Ende in ihrem Handeln nicht mehr frei sein werde. Am folgenden Tag hat Rainer Barzel hier wörtlich erklärt: „Je mehr Staaten die deutsche Spaltung sanktionieren, um so weniger Unterstützung auf der Welt haben wir für unsere Selbstbestimmungsrecht." Und so ging es weiter. Mahnungen und Mahnungen an die Adresse der Regierung, wenn man sich die damalige Diskussion noch einmal vor Augen hält, die Namen Gradl und Hallstein und Strauß und Zimmermann nennt, und ich denke an viele lange Debatten in den Ausschüssen in diesem Hause, wo wir, die CDU/CSU, immer wieder auf Wirkungen dieses Vertrages hingewiesen haben, die man dann nicht mehr ohne weiteres in der Hand hat.Man hat uns so Anfang November 1972 wohl präpariert den Grundlagenvertrag vorgelegt, just vor der Wahl. Die Bundesregierung hat damals die heiklen Tatsachen und die mutmaßlichen negativen Folgen dem deutschen Volk verschwiegen. Sie wußte sehr wohl, daß dieser Vertrag eine Lawine auslösen würde, gegen welche sie keinen Schutzzaun mehr würde errichten können. Ja, ich sage, daß bei allen Verträgen diejenigen, die dies alles ausgehandelt haben, gewußt haben, was die Buchstaben, was die Wörter, was die Sätze, was die juristischen Konstruktionen bedeuteten. Sie wußten genau, daß sie entscheidende Dinge nicht geregelt haben und daß gerade aus diesen Unterlassungen spätere Komplikationen entstehen würden. Sie wußten auch, wie der „Geist", der viel berufene Geist beschaffen war, in dem das alles formuliert wurde, der Geist bei ihnen und der Geist beim Partner. Es kann nicht sein, daß sie nicht die Folgen, wenn auch im engen Kämmerlein, bedacht haben, und es kann nicht sein, daß ihnen die Fachbeamten das gar nicht gesagt haben. Natürlich wußten sie, daß die DDR auf der Grundlage dieses Vertrages die Anerkennung erreichen und auf der Grundlage der Anerkennung versuchen würde, ihr eigenes Staatsbürgerrecht in Verträgen mit anderen Ländern durchzusetzen und anerkennen zu lassen. Und die östlichen Verhandlungspartner wußten das auch. Ihnen wird man nicht vorwerfen können, sie hätten ihre Absichten und Ziele verheimlicht, und daher machten sie bei diesem raschen Galopp mit Vergnügen mit.Meine Damen und Herren, man muß es noch einmal offen sagen: Beide Seiten einigten sich auf Texte, deren doppelbödiger Charakter, deren mehrdeutiger Sinn beiden klar war. Obwohl der damalige Außenminister, Herr Scheel, hier wiederholt gesagt hat, es dürfe in den entscheidenden Vertragspassagen keinen Dissens, also keinen Widerspruch geben, haben sie nach Worten und Formeln gesucht, die man wie eine Tarnkappe über das gestülpt hat, was man wirklich meinte.
Wir können auch nicht vergessen, wie es damals in Moskau wohl zugegangen ist, wo man mit dem Verhandlungspartner Formeln gesucht hat, von denen man wußte, daß man sie brauche, um zu Hause vor den kritischen Blicken der eigenen Opposition, des Volkes und der Richter in Karlsruhe bestehen zu können. Meine Damen und Herren, es ist für unser Land eine bittere Lehre, daß — ich sage: in Erinnerung an all das — der leichtfertige Umgang mit dem Recht sich nun gegen jene wendet, die früher voll Verachtung über den sogenannten Formelkram höhnten. Die gegenwärtige Diskussion um manches, was die Konsularverträge anlangt, hat dort ihre Wurzeln.Meine Damen und Herren, nachdem die Bundesregierung darauf verzichtet hat, die Staatsangehörigkeit eindeutig auszuhandeln, oder nachdem es nicht gelungen ist, darüber eine Vereinbarung zu finden, wurden wir auch im Ausschuß darauf vertröstet, daß ein späterer Prozeß einer, wie ich sage, imaginären Annäherung das alles vernünftig regeln lasse. Daher hat man einen Protokollvermerk als
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10085
Dr. Marxausreichend angesehen, in dem die Bundesregierung Herrn Bahr erklären ließ:Staatsangehörigkeitsfragen sind durch den Vertrag nicht geregelt worden.Daß eine Regelung aber offenbar als notwendig empfunden wurde, ist diesem Satz und der Stelle, an der er steht, wohl anzumerken.Die Feststellung der Ostberliner Seite verdient besondere Aufmerksamkeit, weil sie Ironie, ja, heute im Zusammenhang mit der Anerkennung eines DDR-Staatsangehörigkeitsrechts durch andere Staaten wird man sagen müssen: weil sie Zynismus verrät; denn Herr Kohl von seiten der DDR-Regierung hat zu Protokoll gegeben:Die Deutsche Demokratische Republik geht davon aus, daß der Vertrag eine Regelung der Staatsangehörigkeitsfragen erleichtern wird.So etwas nenne ich Zynismus.
Herr Abgeordneter Dr. Marx, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Kollegen Friedrich?
Herr Präsident, ich möchte, bitte, diesen Gedanken noch zu Ende führen, dann gerne.
Die DDR wußte, daß sie über den Grundlagenvertrag die Anerkennung erhält und daß sie nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen die Staatsangehörigkeit ihrer Bürger von außen bestätigt erhalten werde. Insoweit hat der Grundvertrag, was jetzt geschieht, tatsächlich erleichtert, und dies war die Formel, die nicht ohne Grund hineingeschrieben wurde. — Bitte sehr!
Bitte, Herr Kollege!
Nachdem Sie vorhin ausgewichen sind,
darf ich Sie fragen, warum Sie jetzt dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine viel weitere Auslegung geben, als dies nach der Begründung dieses Urteils überhaupt möglich ist.
Herr Kollege Friedrich, ich glaube, daß es erstens zu begrüßen ist, wenn wir endlich einmal mit einem größeren Ernst, als das bisher z. B. von Ihrer Seite geschehen ist, an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts herangehen.
Zweitens möchte ich Ihnen sagen, ich denke gar nicht daran, das Urteil etwas weiter auszulegen. Was ich im Augenblick tue, ist, daß ich noch einmal in aller Deutlichkeit klarmache, wozu leichtfertige Verhandlungen, Verhandlungen unter Zeitdruck Sie und dievon Ihnen getragene Regierung — und damit uns alle — leider geführt haben.
Meine Damen und Herren, in einer Debatte hier in diesem Hause — es war exakt am 15. Februar 1973 — über diesen Protokollvermerk sagte der Verhandlungs- und Formulierungsmeister Egon Bahr — ich zitiere —
— das war alles in Anführungszeichen, Herr Kollege Reddemann; auch das, was ich jetzt zitiere —:Das Ergebnis ist, daß der Vertrag Fragen der Staatsbürgerschaft nicht berührt, es also bei unserem Recht bleibt.Herr Kollege Friedrich, ich bitte, das nachzulesen. Herr Kollege Mertes wollte das damals genau wissen. Er unterbrach Herrn Bahr mit der Frage — ich zitiere Alois Mertes —:Ist Ihre Aussage über die Protokollerklärung der Bundesrepublik Deutschland betreffend Staatsangehörigkeitsfragen so zu verstehen, daß es eine Änderung des deutschen Rechts in dieser Frage nicht gibt und nicht geben wird?Herr Bahr hat geantwortet, wir hätten keine Verpflichtung übernommen. Und Herr Mertes fragt noch einmal:Es geht nicht darum, ob es eine Verpflichtung gibt, sondern darum, ob Sie hier die Aussage getroffen haben, daß es eine Änderung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts nicht gibt und nicht geben wird.Egon Bahr antwortete für die Bundesregierung — ich zitiere „Ich habe diese Aussage genauso getroffen." Meine Damen und Herren, das, was damals hier gesagt worden ist und was wir jetzt erleben, steht wirklich in einem schreienden Widerspruch zueinander.Ich darf bitte noch den ehemaligen Außenminister, Herrn Scheel, zitieren, der hier am 10. Mai 1973 — ich möchte sagen: ahnungsvoll und verschwommen zugleich — erklärte:Wir werden daher die Wirkungen des Vertrages erst später sicher beurteilen können.Und er fügte hinzu:Natürlich sehen auch wir die Gefahr, daß die Regelung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten in der Welt draußen den Eindruck hervorrufen könnte, die deutsche Frage sei jetzt gelöst. Deshalb— sagt der damalige Außenminister —haben wir nicht nur in Ost-Berlin und in Moskau, sondern auch bei den Regierungen in aller Welt keinerlei Zweifel an unserer Auffassung zur nationalen Frage erlaubt.Was bedeutet das Wort „erlaubt"?
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Dr. MarxAuch hier sage ich auf dem Hintergrund dessen, was wir jetzt erleben: Wir, die CDU/CSU, hatten an der Weisheit und an der Seriosität dieser Art von Politik immer gezweifelt. Deshalb fühlen wir bei dem Ringen des Außenministers um Verständnis in der schwierigen Lage, in der sich die Bundesrepublik Deutschland befindet, bei seinem Ringen um die Erhaltung und Fortbildung des einheitlichen Staatsbürgerrechts für alle Deutschen Sympathie. Er handelt dabei unserer Auffassung nach pflichtgemäß, und wir sind weit davon entfernt, ihm in den Arm zu fallen. Aber wir müssen, Herr Kollege Genscher, Ihnen selbst zugleich sagen, daß Sie damals, als diese unseriösen Beschlüsse gefaßt und diese merkwürdigen Konstruktionen beschlossen worden sind, als ein Mitglied der Regierung Brandt/Scheel Ihren Teil der Verantwortung durch Ihre Zustimmung auf sich genommen haben.
Wenn Sie, meine Damen und Herren, die Rede des Vorgängers unseres gegenwärtigen Außenministers noch einmal durchlesen, die er am 10. Mai 1973 hier gehalten hat, dann werden Sie feststellen, daß er sich selbst eine Frage stellt, die lautet:Wahrt der Vertrag unsere unverzichtbaren Interessen und Rechtspositionen in der nationalen Frage?Und er beantwortet sie mit dem Satz: „Die Bundesregierung bejaht diese Fragen."Herr Kollege Franke — ich nehme an, daß Sie nachher hier sprechen werden —,
ich würde Sie bitten, uns doch über das hinaus, was Sie vorbereitet haben, zu erklären, was Ihre Formulierung von dem gleichen 10. Mai 1973 bedeutet, wo Sie wörtlich sagten — ich zitiere —:Von besonderer Bedeutung ist der Umstand, daß ausdrücklich die Dinge ausgeklammert sind, die unter den gegebenen Verhältnissen nicht gelöst werden können: also die gegensätzlichen politischen Grundauffassungen, die gegensätzlichen Standpunkte ..., vor allem zu den Staatsangehörigkeits- und Vermögensfragen.Jetzt kommt der entscheidende Satz!Diese Ausklammerung ist für die — ich möchte sagen — Funktionstüchtigkeit des Vertrags bedeutsam.Herr Kollege Franke, das kann ich fünfmal lesen. Es versteht niemand, wieso gerade diese Ausklammerung, deren Wirkung wir jetzt erleben, für die Funktionsfähigkeit des Grundvertrages bedeutsam wäre. Dunkel ist der Sinn dieser Rede. Vielleicht kann uns dies aufgehellt werden.
Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat sich angewöhnt, bei vielen Erläuterungen zu abgeschlossenen Verträgen zu erklären, daß dadurch frühere Abkommen, Verträge und Vereinbarungen nicht berührt würden. Wir folgen ihr in dieser Feststellung und weisen dabei ausdrücklich darauf hin,daß natürlich Konsularverträge, die mit der DDR abgeschlossen werden mögen, weder die Staatsangehörigkeit aller Deutschen berühren noch sie zerstören können, noch daß damit Verträge, welche die Bundesrepublik Deutschland mit diesen dritten Staaten zu früherer Zeit abgeschlossen hat, berührt oder in ihrem Grundverständnis geändert werden.Wir werden wohl in Kürze im Auswärtigen Ausschuß dieses Thema, wie ich hoffe, ausführlich weiterbehandeln. Ich möchte daher der Bundesregierung zur dortigen Behandlung gleich eine Frage mitgeben. Es handelt sich um folgende Frage — ich bitte genau zuzuhören, weil sie sehr begründet ist —: Gibt es Verträge mit anderen Staaten ich meine zum Beispiel auch Verträge, die finanzwirksame Leistungen der Bundesrepublik Deutschland enthalten —, die ausdrücklich, oder weil man dies als selbstverständlich annimmt, auf der Grundlage des Art. 116 des Grundgesetzes abgeschlossen worden sind?Eine weitere Frage: Welche Sorge hat die Bundesregierung dafür getragen, daß die Verpflichtungen, die sich aus dem Deutschlandvertrag von 1954 ergeben, von jenen verbündeten Staaten voll berücksichtigt werden, die mit der DDR Konsularverträge abschließen wollen?Ich möchte zum Schluß feststellen, daß es uns natürlich nicht nur auf die Einhaltung völkerrechtlich gültiger Verträge ankommt, sondern daß wir vor allem wünschen, es werde sich künftig in keinem Land, in keinem westlichen, in keinem neutralen und in keinem Land der Dritten Welt etwa an der Behandlung jener Deutschen ändern, welche zu einer diplomatischen Mission der Bundesrepublik Deutschland gelangen, um dort einen Paß als deutsche Staatsbürger zu holen, der ihnen die freie Einreise in den westlichen Teil unseres gespaltenen Landes erlaubt. Es gehört zu der vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundvertrag festgelegten Schutzpflicht jeder freien deutschen Regierung, jedem Deutschen dann, wenn er es will, wenn er in den Geltungsbereich des Grundgesetzes gelangt, zu helfen.Der Herr Bundeskanzler hat sich heute vormittag nach einem Hinweis auf gewisse Entwicklungen der deutschen Geschichte, so wie er sie in diesem Augenblick wohl darstellen wollte, für seine Person überzeugt gezeigt — ich zitiere —, daß die Nation sich auch in Zukunft als ein starkes Element erweisen werde.Herr Bundeskanzler! Ich selbst wollte meine Rede nahezu mit den gleichen Worten enden und stelle also fest, daß wir in dieser Auffassung von gleichen Überlegungen ausgehen. Ich füge aber ebenso, wie Sie es getan haben, hinzu, daß wir das Unsere dazu beitragen müssen. Darum aber, was spezifisch das Unsere ist, unsere Leistung, und was sie künftig sein kann, darüber wird die Diskussion unter uns natürlich weitergehen müssen.Ich halte diese Diskussion, wenn sie in entsprechenden Formen — auch bei aller Notwendigkeit der kontroversen Auseinandersetzung — geführt wird, für fruchtbar und für wichtig für uns alle. Daß wir
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10087
Dr. Marxdabei ganz selbstverständlich die Aufgabe einer starken Opposition wahrnehmen und mit kritischer Sonde untersuchen, was die Regierung denkt, sagt und tut, dies ist unser Recht und unsere Pflicht. Aus diesem Selbstverständnis heraus und auf der Grundlage dessen, was der Vorsitzende unserer Fraktion heute vormittag gesagt hat und was ich selbst hier vorgetragen habe, wollen wir diese Debatte um unser Land und um seine Menschen fortsetzen. Es besteht dafür nach wie vor — man könnte sogar sagen: heute mehr als früher — aller Anlaß. Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Schütz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über Berlin wird zu Recht gesprochen, wenn es um die Lage der Nation geht. Deshalb will ich noch einmal feststellen: Die Beziehungen der Bundesrepubilk Deutschland zur Sowjetunion können nicht besser sein, als es die Lage in und um Berlin ist. Dieses Wort von Willy Brandt, ausdrücklich aufgenommen von unserem Bundeskanzler, bleibt gültig, und es gilt wohl selbstverständlich in besonderem Maße für das Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland.Die Gefahr, als Relikt des kalten Krieges hinter den Entwicklungen zurückzubleiben, hat Berlin, wie wir alle wissen, schon mit dem Viermächteabkommen hinter sich gelassen. Das war entscheidend für uns. Nun aber ist auch deutlich geworden, daß das kein einmaliger Akt war, kein einmaliger Vorgang, der uns nur auf eine neue Stufe gehoben hätte, auf der wir nun wiederum stehen bleiben müßten. Wir sind vielmehr am Fortgang der Entwicklungen zwischen Ost und West auf den verschiedenen Ebenen und am Fortgang der Entwicklung in der Europäischen Gemeinschaft und des Westens insgesamt voll und aktiv beteiligt. Wir sind also hineingenommen in die bilateralen und die multilateralen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland.Damit sage ich keinesfalls, daß 1974 ein Jahr ohne Schwierigkeiten gewesen wäre. Aber gerade an diesen Schwierigkeiten hat sich erwiesen, daß das Viermächteabkommen mit Schwierigkeiten fertig werden kann und auch fertig wird. Den Ausbrüchen aus dem Vereinbarten und den Verstößen gegen es sind jetztund das in einer solchen Debatte festzuhalten ist wichtig — deutlich Grenzen gesetzt. Die Gräben zwischen Ost und West und zwischen den beiden Staaten in Deutschland und in Berlin sind trotz allem, was nach wie vor unvermindert zu beklagen und anzuklagen ist, nicht tiefer geworden. Vor allem aber: Man kann sich jetzt, zumindest partiell — und das ist auch wichtig — verständigen.Ich will also in diesem Rahmen ein paar Bemerkungen über die Schwierigkeiten machen, mit denen wir es zu tun hatten, und auch über die Lage jetzt und über die Aussichten und die Erwartungen in Berlin. Die größten Schwierigkeiten brachte — erinnern wir uns — der Verstoß der DDR-Regierung gegen die Geschäftsgrundlage der Vereinbarung zwischen dem Senat und der Regierung der DDR über den Reise- und Besucherverkehr durch die Verdoppelung des Mindestumtausches bei Besuchen in Ost-Berlin und bei der Reise in die DDR. Insbesondere die Einbeziehung der Rentner in den Zwangsumtausch war sozial unerträglich. Diese Maßnahmen haben damals zu einem Rückgang der Besucherzahlen um fast 40 % geführt.Wir haben — erinnern wir uns — von Anbeginn auf die Rückkehr zur Geschäftsgrundlage dieser Vereinbarung über Reise- und Besucherverkehr bestanden. Das zu tun war selbstverständlich im Interesse der Bürger unserer Stadt; denn es kann nicht der Sinn von Vereinbarungen sein, die mühevoll errungenen Erleichterungen im Verlauf des Vollzugs dann wieder schmälern zu lassen. Wir waren unnachgiebig aber auch, weil klar war, daß dieses vereinbarungswidrige Verhalten der DDR das Viermächteabkommen als Ganzes mit betraf, daß es weitere vernünftige Entwicklungen zwischen den beiden Teilen Berlins und den beiden deutschen Staaten sehr erschweren und angestrebte Abmachungen von vornherein der Unglaubwürdigkeit aussetzen würde.Das haben wir — ich möchte das einmal klar unterstreichen — durch unsere eindeutige Haltung verhindert. Erstens. Mit der Rückkehr zur Geschäftsgrundlage der Reise- und Besuchsregelung ist den Berlinern geholfen worden, vor allem den älteren Berlinern, besonders den sozial Schwachen unter ihnen. Zweitens. Mit der Rückkehr zu dieser Geschäftsgrundlage ist dem Sinn und dem Geist des Viermächteabkommens entsprochen. Drittens. Mit der Rückkehr zu dieser Geschäftsgrundlage ist der Weg frei geworden für neue Vereinbarungen, für neue Schritte zu mehr Normalität.Zahlen zum Reise- und Besucherverkehr liegen Ihnen vor, und der Herr Bundeskanzler hat ja in seiner Erklärung auch davon gesprochen. Wir können jetzt sagen, bis auf die Erhöhung der Mindestumtauschsätze um 1,50 DM bzw. 3 DM ist mit dem 20. Dezember 1974 der Zustand vor dem 15. November 1973 wieder hergestellt. Und das heißt, die Führung der DDR ist jetzt nach einem Jahr des vertragswidrigen Verhaltens im wesentlichen wieder zur Geschäftsgrundlage zurückgekehrt. Dies ist, wie ich meine, ein Erfolg insofern, als wir damit allen bewiesen haben, daß es möglich ist, im Rahmen des Abkommens und gestützt auf das Abkommen selbst Vertragsverletzungen zu überwinden. So etwas dauert manchmal lange, aber es lohnt sich also, hartnäckig und fest zu bleiben.Es ist aber auch, meine Damen und Herren, ein Erfolg insofern, als damit der Weg frei wurde für neue Vereinbarungen, für neue Schritte zu mehr Normalität, Schritte, die man — ich sage das ganz deutlich -- auch zukünftig nur gehen kann, wenn sich alle an das halten, was einmal vereinbart worden ist.Der andere Teil des Viermächteabkommens, auf den die Berliner ganz unmittelbar reagieren, weil
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Regierender Bürgermeister Schützsie unmittelbar betroffen sind, ist das Transitabkommen. Wir haben bekanntlich im vergangenen Jahr drei behindernde Aktionen der DDR auf den Zugangsstraßen von und nach Berlin gehabt. Wir haben in allen drei Fällen die Rechtswidrigkeit dieser Aktionen gegenüber der DDR geltend gemacht, und diese Eingriffe wurden dann auch kurzfristig eingestellt. Bei diesen Verstößen auf den Transitwegen ist deutlich geworden, daß die Führung der DDR offenbar meint, sie habe noch immer ein Störpotential. Aber dabei ist auch klar geworden, daß jetzt erstmals auch die Grenzen für DDR-Maßnahmen deutlich sind. Im Gegensatz zu früher gibt es erst jetzt seit dem Abkommen verbindliche Maßstäbe für das Verhalten der DDR auf den Transitwegen; und die DDR muß sich für ihr Verhalten dort verantworten.
Ich möchte allerdings deutlich machen, wie ernst wir alle Störungen dieser Art nehmen müssen, seien sie noch so lokalisiert und seien sie noch so zeitlich begrenzt. Wir sind deshalb dankbar, daß die Bundesregierung in der Transitkommission jeden rechtswidrigen Vorfall mit einer Eindringlichkeit behandeln läßt. Und ich danke unseren drei westlichen Schutzmächten dafür, daß sie in jedem einzelnen Fall klar und unmißverständlich ihren und damit unseren Rechtsstandpunkt klargestellt haben.Im übrigen darf über diese Vorkommnisse hinweg, meine Damen und Herren, nicht vergessen werden, daß der Transitverkehr sonst abkommensgemäß verläuft.Die dritte grundlegende Regelung aus dem Viermächteabkommen sind die Bindungen Berlins an den Bund, von denen es heißt, daß sie aufrechterhalten und daß sie entwickelt werden. Beides ist geschehen, und zwar so, daß Berlin Grund hat, zufrieden zu sein.
Ich möchte dabei gar nicht den Akzent allein auf das Beispiel der Errichtung des Umweltbundesamtes legen. Natürlich sind uns neue Institutionen in Berlin recht; sie geben der Stadt mehr Gewicht. Aber ich möchte bei dieser Gelegenheit zum Ausdruck bringen, daß wir im verläßlichen Verhältnis des Bundes zu Berlin — im Aufrechterhalten also und in der kontinuierlichen Weiterführung des Geschaffenen, im Entwickeln also — die Basis, die Grundlage unserer Lebensfähigkeit sehen. Die umfassende Verbundenheit Berlins mit dem Bund, bei den bekannten Einschränkungen, die die Schutzmächte uns mit unserem Willen und zu Recht auferlegen, und das umfassende Engagement des Bundes in Berlin ist tausendfach bewiesen und hat sich tausendfach bewährt.
Von größter Wichtigkeit ist für uns, daß die Bundesregierung in internationalen Verträgen, und damit auch in den Verträgen mit osteuropäischen Staaten, Berlin voll einbezieht. Das ist jetzt inzwischen auf vielen Gebieten geregelt; das ist in den etwa 20 Verträgen mit osteuropäischen Staaten geschehen, die nach dem Inkrafttreten des Viermächteabkommens abgeschlossen worden sind. Wir haben Grund zu der Annahme, daß die Einbeziehung auch in die vier Bereiche gelingt, über deren Regelung noch mit der Sowjetunion verhandelt wird und unter denen die Rechtshilfe und die technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit besonders bedeutend sind. Aber wo es bisher noch nicht zufriedenstellend geregelt werden konnte, da muß jeder wissen — und das weiß auch jeder in Ost und in West —: wir werden weiterhin dafür sorgen, daß unsere Interessen berücksichtigt bleiben.Man muß sich allerdings erinnern, daß das früher nicht immer so war. Frühere Bundesregierungen haben Berlin oft nicht in Verträge mit osteuropäischen Staaten einordnen können,
und sie haben diese Verträge dann früher doch unterzeichnet. Diese Periode ist jetzt überwunden, und wir können jetzt in Berlin davon ausgehen: die Bundesrepublik Deutschland wird Abkommen und Verträge, mit welchem Staat auch immer, nur abschließen, wenn die Stadt und ihre Notwendigkeiten voll und uneingeschränkt berücksichtigt sind.
Deshalb, meine Damen und Herren, begrüßen wir es, daß der Bundeskanzler bei seinen Gesprächen in Moskau so unmißverständlich darauf bestanden hat, daß Berlin in den Geltungsbereich der unterschriftsreifen und der noch ausstehenden Abkommen einwandfrei einbezogen sein wird.
Die Vertretung Berlins durch den Bund nach außen funktioniert also, aber es gibt auch da und dort noch Schwierigkeiten.
So hoffen wir, daß die Aktionen der Sowjetunion und der DDR gegen die Vertretung Berlins durch die Bundesrepublik bei der UNO bald beendet sein werden. Diese Hoffnung gilt auch für die möglichen Einwendungen der Sowjetunion gegen die Integration Berlins in die Europäischen Gemeinschaften. Die Einbeziehung Berlins in die europäischen Verträge ist so alt wie die Europäische Gemeinschaft selbst, und sie ist so selbstverständlich wie für irgendeinen Teil der Europäischen Gemeinschaft. Die Gemeinschaft hat das vor zwei Wochen unübersehbar deutlich ausgedrückt, als sie beschloß, das Europäische Zentrum für Berufsbildung in unserer Stadt anzusiedeln. Berlin ist damit die erste Stadt in Deutschland, in der eine europäische Institution dieser Art angesiedelt wird. Darauf sind wir in Berlin stolz, darüber können sich alle freuen, und ich danke denen, die diese Entscheidung herbeigeführt haben.
Jede Polemik gegen die Errichtung dieser Institutionin Berlin ist, wie ich meine, unbegründet. Ich er-
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Regierender Bürgermeister Schützinnere daran, daß auch für die Sowjetunion die Zugehörigkeit Berlins zur Europäischen Gemeinschaft über den weitaus längsten Zeitraum ganz selbstverständlich war.In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, fordere ich wiederum, daß die osteuropäischen Staaten endgültig davon absehen, Berlin bei Veranstaltungen, auf denen es gemeinsam mit der Bundesrepublik Deutschland auftritt, in irgendeiner Weise separieren zu wollen.
Die Zusammengehörigkeit Berlins mit dem Bund auch in dieser Beziehung ist im Viermächteabkommen festgelegt. Es ist nicht auszuschließen, daß auch in diesem Jahr in dieser oder jener Beziehung Schwierigkeiten auftreten werden. Wir gehen nach wie vor davon aus, daß weder die Führung der DDR noch ihre Verbündeten uns in Berlin mit Zeichen großer Liebe überschütten werden. Aber wie alle Verträge und insbesondere das Viermächteabkommen und der Grundlagenvertrag sich als kräftig erwiesen haben, mit kleineren und größeren Verstößen und Schwierigkeiten fertig zu werden und sie zu überwinden, so werden sie das auch in Zukunft tun.Darf ich, Herr Präsident, kurz etwas zur wirtschaftlichen Lage der Stadt sagen. Sie war im ganzen zufriedenstellend, wenn man an die schwierige Ausgangssituation denkt und daran, mit welchen Entwicklungen wir es anderswo zu tun haben. Dabei bilden ohne Zweifel der überdurchschnittliche Produktivitätsstand der Berliner Industrie ebenso wie die Berlinförderung des Bundes die Grundlagen, auf denen die Leistungsfähigkeit der Berliner Wirtschaft durch private Initiative, aber in enger Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen weiter ausgebaut wird. Auf diesen Grundlagen ist es bisher schon gelungen, die Standortnachteile der Berliner Industrie zu überwinden und die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt der Entwicklung im Bundesgebiet anzugleichen.Zur weiteren Entwicklung der Wirtschaft verweise ich auf das Ergebnis der Wirtschaftskonferenz, über die der Bundeskanzler vorhin schon gesprochen und die im Dezember in Berlin stattgefunden hat. Sie ist ein neues Beispiel dafür, daß diese Bundesregierung wie auch ihre Vorgänger ihre Verantwortung für unsere Stadt ernst nimmt. Ich sage dafür an dieser Stelle meinen und unseren ausdrücklichen Dank.Auch und gerade im Blick auf die Wirtschaftskonferenz des Herrn Bundeskanzlers will ich hier deutlich machen: Unser Dank bezieht sich nicht nur auf die wirtschaftlichen Hilfen, er bezieht sich genauso auf die feste und klare Haltung, mit der die Bundesregierung die Interessen Berlins im innerdeutschen Rahmen ebenso wie international vertreten hat. Ich mache damit nicht in Optimismus, der sich für uns in Berlin schon auf Grund der Erfahrungen aus mehr als 25 Jahren in Grenzen hält. Aber wieviel Dynamik in dieser Politik steckt und welche Entwicklungen sie ermöglicht und freisetzt, ist, wie ich meine, an den Vorschlägen erkennbar, die dieDDR am 9. Dezember, gestützt auf die Kontakte mit der Bundesregierung, vorgelegt hat und von denen der Bundeskanzler hier schon gesprochen hat.Die von der DDR angebotenen Verhandlungen über die Verbesserung der Transitwege und über andere für Berlin interessante Fragen sind im Augenblick Gegenstand intensiver Beratungen zwischen der Bundesregierung und dem Senat von Berlin. Eine auch nur teilweise Verwirklichung der Vorschläge würde den Menschen und der Wirtschaft in dieser Stadt zugute kommen und würde darüber hinaus in einer sehr praktischen Weise die Bindungen Berlins an den Bund stärken. Unter anderem sind bedeutende Verbesserungen auf dem Schienenwege vorgesehen; und die Öffnung des Teltow-Kanals von Westen her würde eine ganz entscheidende Verbesserung für den Schiffsverkehr von und nach Berlin bedeuten.Von hoher Attraktivität und jedem in seiner Bedeutung unmittelbar einleuchtend ist das Projekt einer Autobahn von Berlin in den norddeutschen Raum. Meine Damen und Herren, das kostet viel Geld, und Geld ist knapp. Das ist uns in Berlin so klar, wie es der Bundesregierung klar ist. Wir haben für alle finanziellen Überlegungen und Erwägungen volles Verständnis. Aber fraglos wäre beispielsweise diese Autobahn — für welchen Verlauf immer man sich auch entschiede — für Berlin von kaum zu überschätzender Bedeutung. Zusammen mit einer grundlegenden Verbesserung des Bauzustandes der Autobahn Berlin—Helmstedt und anderen bedeutenden Verbesserungen auf den Schienenwegen würden unmittelbar einleuchtende Verbesserungen für die Menschen und die Wirtschaft Berlins eintreten, einmal praktisch: das Bundesgebiet rückte uns näher, und wir ruckten näher an den Bund — wir haben davon gesprochen, daß es sich etwa um eine Stunde handeln würde —, und dann: kaum etwas könnte unsere Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland augenfälliger unterstreichen als der Ausbau der Verkehrsverbindungen von und nach Berlin.
Wir in Berlin hoffen, daß die Verhandlungen mit der DDR-Führung über dieses und die anderen Projekte erfolgreich verlaufen werden. Dabei begrüßen wir es übrigens besonders, daß eine einheitliche Verhandlungsführung auf unserer Seite beschlossen worden ist und daß mit ihr der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin beauftragt wurde. Auch dadurch wird daran erinnert, daß die Bundesrepublik für uns nicht ein Staat ist, zu dem Berlin, wie es der Erste Sekretär der SED kürzlich meinte, vielseitige Beziehungen wie zu anderen Staaten aufnehmen und entwickeln kann, sondern daß wir zu diesem Staat, daß wir in Berlin zu dieser Bundesrepublik Deutschland gehören.Es kommt nun darauf an, aus Vorschlägen und Überlegungen Tatsachen zu machen. In Zusammenarbeit mit der Bundesregierung werden wir daran gehen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die in der
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Regierender Bürgermeister SchützVorschlagsliste der DDR enthalten sind. Dabei wird klargestellt: Das Geld, das unsere Seite dabei bezahlen wird, darf nur verwendet werden, um unser e Verkehrsbedürfnisse zu befriedigen. Oder umgekehrt: Keine D-Mark darf darüber hinaus etwa der DDR zur Befriedigung ihrer eigenen Wünsche oder ihrer eigenen Verkehrsbedürfnisse zukommen.
Dies bedeutet, daß wir uns nicht mehr nur damit auseinandersetzen, wie Bestehendes zu festigen und zu erhalten ist; wir gehen wirkliche Schritte nach vorn, unsere Stadt ist also politisch vorangekommen.Ich möchte deshalb zusammenfassen: Die politische Entwicklung in Berlin ist überwiegend befriedigend. Unsere Annahme, daß Berlin auch in diesem Jahr und weiterhin zufriedenstellend vorankommt, ist begründet. Wir danken den gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrepublik, wir danken der Bundesregierung, die dies durch ihre klare Haltung und durch die Unterstützung unserer Position möglich gemacht hat, und wir in Berlin danken unseren westlichen Schutzmächten; ihre Garantien bleiben die Grundlage unserer Lebensfähigkeit, und diese Garantien bleiben und sind die Grundlage unserer Freiheit.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Franke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat vor einigen Wochen dem Deutschen Bundestag ihre Antworten auf die beiden Großen Anfragen zur Deutschlandpolitik zugeleitet. Zusammen mit dem Bericht zur Lage der Nation, den der Bundeskanzler hier gegeben hat, bilden diese schriftlichen Antworten die Grundlage für die heutige Debatte.Im Vorfeld dieser Debatte, in den letzten Wochen, war in der Öffentlichkeit häufig die Frage zu hören, ob in der Deutschlandpolitik nicht doch mehr Gemeinsamkeit zwischen Regierung und Opposition gefunden werden könne. In dieser Frage steckt vielleicht ein Wunsch, ganz sicher aber spricht daraus das Bewußtsein, daß die Art, wie die parlamentarische Diskussion um die Deutschlandpolitik seit einiger Zeit geführt wird, der Sache selbst nicht bekommt, ja, ihr sogar Schaden zufügt. Hierbei kann das Recht der Opposition auf Kritik und Kontrolle gar nicht in Frage stehen. Nur: Die Art der Auseinandersetzung, die von der Opposition gewählt und für tunlich gehalten wurde, ist nicht gut für den Umgang zwischen uns. Sie ist jedoch vor allem nicht gut für die Sache, um die wir ringen, um die wir aber auch in der Auseinandersetzung miteinander gleichermaßen bemüht sein sollten.Man muß sich darüber im klaren sein, was man tut. Wer es hier an diesem Platz passend findet, forsch und radikal mit seinen Vorbedingungen undForderungen zu sein, muß wissen, daß er unmittelbare Wirkungen auf die Verhandlungen und das in ihnen Erreichbare ausübt. Erwartungen nämlich, die zur Vorbedingung erklärt werden, oder Forderungen, die vom Verhandlungspartner öffentlich verlangen, Unrecht zuzugeben, sind niemals ein konstruktiver Beitrag zu Verhandlungen — und in unserer Lage ganz bestimmt nicht gegenüber der DDR.
Ein Weiteres zur Art der Auseinandersetzungen. Unfundierte Verdächtigungen, das Polemisieren an den Tatsachen vorbei, die Wirklichkeitsferne von Forderungen — das alles muß auf die Dauer eine Verhärtung züchten, die der Fähigkeit zu Ausdauer und Geduld, den unerläßlichen Voraussetzungen für jede Deutschlandpolitik, abträglich ist. Keiner sollte sich und andere darüber hinwegtäuschen, daß Verträge und Vereinbarungen immer nur einen Interessenausgleich herstellen können. Die Bundesregierung hat dies auch in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Koalitionsparteien betont. Vereinbarungen, Regelungen und Zusammenarbeit — das ist festzustellen — können prinzipiell nur dort erzielt werden, wo entweder ein gemeinsames Interesse vorliegt oder wo abweichende Interessen gegeneinander aufgewogen und in einem für beide Seiten tragbaren Kompromiß verbunden werden können.
Die Art aber, wie hier mit mancher Überheblichkeit und mit viel Vereinfachung mit den schwierigen Problemen der Entspannung in Deutschland in der Polemik verfahren wurde, kann nur dazu führen, daß die oppositionelle Kritik hier im Hause und von ihr beeinflußt ein erheblicher Teil der kritischen Diskussion in der Öffentlichkeit die Fähigkeit verlieren, Grenzen und Möglichkeiten des politischen Handelns im Bereich der Deutschlandpolitik objektiv zu erfassen und korrekt zu bewerten.
Gerade die Opposition spricht immer von mangelnder Ausgewogenheit, wenn sie gegen unsere Abmachungen mit der DDR polemisiert. Umgekehrt muß ich nun fragen: Wo ist die Ausgewogenheit Ihrer Position, meine Damen und Herren von der Opposition?
Sie erklären Ihre Bereitschaft, mit der DDR zu verhandeln und Verträge zu schließen, um die Chancen des Zusammenlebens der Menschen in beiden deutschen Staaten zu verbessern. Aber verweigern Sie nicht gleichzeitig die Einsicht in die Bedingungen und Zusammenhänge, mit denen diese Politik zu tun hat? Das zeigt sich an der Unsicherheit, die Sie befällt, wenn es einer von Ihnen wagt, sich vor Ort einen Eindruck vom anderen deutschen Staat und seinen Repräsentanten zu verschaffen. Das zeigt sich deutlich auch an Ihrer Großen Anfrage.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10091
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger ?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte!
Herr Bundesminister, fänden Sie es nicht in Ordnung, wenn Sie nun von Ihrer schon längere Zeit andauernden Oppositionsbeschimpfung endlich zur Sache, zur Lage unserer Nation übergingen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe eingangs gesagt, daß in dieser Debatte die Grundlage für die Ausführungen, die hier zu machen sind, sowohl die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers zur Lage der Nation als auch die beiden Großen Anfragen sind. Ich nehme an, daß Sie Ihre Große Anfrage hier mit vollem Ernst und voller Absicht eingebracht haben.
Die Antworten auf diese Anfrage gehören nun einmal dazu. Ich bemühe mich darum, dem gesamten Komplex Rechnung zu tragen.
Ich möchte nun das Thema weiterführen. Ich habe eben darauf abgehoben, daß in Ihrer Großen Anfrage zum Ausdruck kommt, daß sie mit einer anderen Motivation als die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen eingebracht worden ist. Ein Vergleich mit der Großen Anfrage der Koalitionsfraktionen läßt den Unterschied, den ich meine, hervortreten.Die Fraktionen der SPD und der FDP fragen ganz grundsätzlich, welche politischen, ideologischen, psychologischen und anderen Faktoren, Entwicklungs- und Erfolgsmöglichkeiten die Deutschlandpolitik beeinflussen. SPD und FDP fordern zur sachlichen Aussprache eine Bilanz dessen, was die Vertragspolitik erbracht hat und nicht erbracht hat.
SPD und FDP fragen nach den Perspektiven dieser Politik auch für Berlin und besonders für die Einheit der Nation. SPD und FDP fordern Auskunft über die weiteren Möglichkeiten, aber auch über die Grenzen der Verwirklichung von mehr menschlichen Kontakten, und schließlich fragen sie auch nach den Abhängigkeiten der Deutschlandpolitik von der europäischen und internationalen Situation.In ihrer schriftlichen Antwort hat sich die Bundesregierung um sorgfältige und umfassende Antwort bemüht, und ich hoffe, daß die Debatte hieran nicht vorbeigeht.In der gebotenen Sachlichkeit hat sich die Bundesregierung auch mit den Fragen der Opposition auseinandergesetzt. Die Opposition nimmt in der beigefügten Begründung in Anspruch, mit ihren Fragen eine angeblich negative Entwicklung, eine Entwicklung entgegen den Vertragszielen, zu offenbaren. Dabei werden in der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU fast ausschließlich Fragen nach Erscheinungen oder Maßnahmen in der DDR gestellt, die von uns gemeinsam beklagt und abgelehnt werden, die aber zum allergrößten Teil durch die Unterschiedlichkeit der Systeme und den fortexistierenden Widerspruch im Verständnis der Interessen bedingt sind und die darum auch, wie in einer aufrichtigen Diskussion eingestanden werden sollte, durch das Mittel auszuhandelnder Vereinbarungen nicht beseitigt werden können. Das heißt nicht, daß nicht immer wieder Anstrengungen zur Änderung unternommen werden müssen.Ich greife ein gravierendes Beispiel heraus. Die DDR versperrt und vermint ihre Grenzen zur Bundesrepublik, und sie tut das nicht erst seit gestern und vorgestern. Darüber verhandelt sie nicht mit uns. Sie verhandelt nicht über ihre Strafgesetzparagraphen zur „Republikflucht". Sie verhandelt nicht über ihre Grenzbefestigungen. Niemand — auch Sie nicht, meine Damen und Herren von der Opposition — kann sie zu solchen Verhandlungen zwingen. Was wir aber tun können und darum auch tun müssen, ist, trotz dieser Belastungen das Feld gemeinsamer Interessen mit der DDR abzustecken und Möglichkeiten einvernehmlicher Regelungen und Zusammenarbeit zu entwickeln, um in diesem Zusammenhang ein Mehr an Verbindungen zu erwirken. Das sind mühevolle und schwierige Etappen auf dem Weg, der allein zu einem friedlichen Nebeneinander führen kann und bei dem — das wird auch die DDR erkennen müssen — trotz der fortbestehenden Gegensätze und trotz klarer ideologischer Trennlinien Sperranlagen und Minen niemals in die Landschaft passen können.Meine Damen und Herren, ich bin mir bewußt, daß im Grunde niemand einen anderen Rat weiß, als den Weg einer solchen Politik weiterzugehen. Dennoch wird in der Oppositionsanfrage versucht, aus der fortlaufenden Technisierung und Perfektionierung der Grenzanlagen durch die DDR einen Beweis gerade gegen diese Politik zu drehen. Das ist falsch und, wo es wider besseres Wissen geschieht, auch unredlich. Ich scheue mich nicht, es ganz drastisch auszudrücken. Der Schußautomat, der heute, zu dieser Stunde, an irgendeinem Streckenabschnitt der 1346 km langen Grenze, die unser Vaterland teilt, an irgendeinem Metallgitterzaun montiert wird, ist kein Beweis gegen die Vertragspolitik; denn die Ursachen, die dieses grausame, widerwärtige Instrument hervorbringen, gehen der Vertragspolitik zeitlich und auch der Sache nach voraus. Ja, er beweist schließlich nur die Notwendigkeit, daß wir alles uns Mögliche versuchen und unternehmen müssen, damit trotz der gewaltsamen Absperrung möglichst viele Verbindungen hinüber und herüber zustande kommen und der Zustand ungeregelter Fragen sich allmählich reguliert. Diese Notwendigkeit besteht
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10092 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Bundesminister Frankefür jeden, der sich an diesen schrecklichen Zustand an der Grenze nicht gewöhnen kann.Noch einmal: Die Erscheinungen, auf die die Fragen der CDU/CSU abzielen — Abgrenzung, Abriegelung, Agitation, Schießbefehl, Stacheldraht —, keiner von uns leugnet sie weg oder versucht, sie zu verharmlosen. Es ist aber unseriös und bleibt fruchtlos, damit den Versuch zu machen, die Behauptung vom negativen Ergebnis der Politik der Bundesregierung zu begründen.
Die Bundesregierung hat mit ihrer Vertragspolitik und dem Abschluß des Grundlagenvertrags der Lage, wie sie ist, Rechnung getragen und dabei Verbesserungen erreicht.Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit einfügen: Dem dauernden Mühen der Opposition, der Regierung nachzusagen, sie habe Illusionen geweckt und hervorgerufen,
muß ich entgegenhalten, daß bei jeder sich bietenden Gelegenheit hier von diesem Platz aus Bundeskanzler Brandt, Bundeskanzler Schmidt, auch jeder Minister und jeder Redner der Koalitionsfraktionen davor gewarnt haben, Illusionen aufkommen zu lassen.
Ich zitiere jetzt wörtlich, damit das bei dieser Gelegenheit mit Datum noch einmal festgehalten wird,um Ihre Versuche, das Wasser zu trüben, zu stören.Am 22. Mai 1970, und zwar auf der Pressekonferenz, die der Bundeskanzler nach dem Treffen in Kassel gab, hat er gesagt:Die Bundesregierung hat sich keinen Wunschvorstellungen hingegeben. Ich möchte trotzdem noch einmal vor falschen Hoffnungen warnen. Der Weg zu vertraglichen Regelungen zwischen den beiden deutschen Staaten wird lang und schwierig sein. Die Zeit arbeitet nicht automatisch für die Vernunft und für den Frieden.Am 17. Januar 1971 hat der damalige Bundeskanzler erklärt:Wir machen uns keine Illusionen: Entspannung oder sogar Kooperation sind nicht Fragen eines einmal zu fassenden Beschlusses, sondern Prozesse, die ihre Zeit brauchen. Nur in der Theorie schließen sich Konfrontation und Kooperation aus, in der Praxis werden ie lange nebeneinander existieren zwischen Ost und West, in der Welt und in Deutschland. Die Auseinandersetzung — politisch und ideologisch — wird die Politik in Europa und Deutschland nach wie vor bestimmen.Oder ein späteres Zitat, vom Dezember 1972:Es wäre nicht gut, eine rosa Brille des Optimismus aufzusetzen. Gerade nach diesen vielen Jahren werden wir sicher Schwierigkeiten haben. Es wäre unnatürlich, wenn es nicht knirschte, wenn nun die Räder des Nebeneinander und vielleicht Miteinander zum ersten Male greifen sollen und geölt werden müssen.Bei jeder Gelegenheit wurden Illusionen und übertriebene Hoffnungen nicht gefördert, sondern im Gegenteil: es wurde davor gewarnt. Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, verdiente in dieser Diskussion auch von seiten der Opposition mehr Sachlichkeit.
Darum würdigt sie die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen als wichtigen Beitrag, eine solche Diskussion zu erleichtern bzw. zu ermöglichen.Wichtig ist, daß wir uns immer wieder einige Voraussetzungen klarmachen, auf denen die heutige Deutschlandpolitik basiert. Dazu gehört: Die Verhandlungen und Verträge mit der DDR waren und sind notwendig. Schon die Große Koalition hat das gewußt. Aus keinem anderen Grund bot sie der Regierung der DDR Verhandlungen an. Somit lag das Interesse an Verhandlungen und Verträgen von Anfang an nicht einseitig bei der DDR, und dabei ist es geblieben.Meine Damen und Herren, um das hier auch bei dieser Gelegenheit zu betonen und damit eine Frage von Ihnen, Herr Marx, aufzugreifen: Sie wollten von mir hören, wie meine Ausführungen vom 10. Mai 1973 zu verstehen seien. Hier ging es darum, deutlich zu machen, daß die ausdrückliche Ausklammerung der Probleme, die sich aus der unterschiedlichen, ja, gegensätzlichen Rechtsauffassung über die Rechtsgrundlagen der Existenz beider Staaten auf deutschem Boden ergeben, es erst möglich machte, Vereinbarungen zur Ausgestaltung der Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten zu erreichen. So schwierig ist das nun einmal. Ich glaube, wir müssen das in einer solchen Stunde so offen ansprechen, damit wir gemeinsam bemüht sind, das, was Wirklichkeit ist, auch zu erkennen und zu praktzieren.Sehen Sie, meine Damen und Herren, die innerdeutsche Verhandlungspolitik ist und bleibt in die internationale Entspannungspolitik eingebunden. Das hat fördernde Wirkung, schafft aber auch Abhängigkeiten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr!
Herr Bundesminister, da Sie die Bemühungen vor 1969 erwähnt haben: Können Sie bestätigen, daß die Große Koalition am Tag nach dem Brief des Bundeskanzlers Kiesinger vom Juni 1967 an den Vorsitzenden Stoph hier vor diesem Hause ausdrücklich bestätigt hat, eine Preisgabe der Rechtsposition des einen Deutschland könne allerdings niemals in Frage kommen?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10093
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, zu diesem Thema äußere ich mich auch noch. Ich habe sogar die Zeit der Großen Koalition bemüht, um aufzuzeigen, daß die Notwendigkeit, zu vertraglichen Vereinbarungen zu kommen, von niemandem in Zweifel gezogen werden sollte, auch heute nicht.
Ich habe außerdem versucht, gewisse Voraussetzungen, die wir dabei erkennen müssen, als Grundlage der praktischen Politik herauszustellen. Man darf sich nicht nur in theoretischen Forderungen verlieren.Ich sage noch einmal: Die systembedingten Gegensätze und Unterschiedlichkeiten sind durch Verhandlungen und Verträge nicht aus der Welt zu schaffen. Verhandeln bedeutet Gleichberechtigung der Partner. Keiner kann den anderen zum Verstoß gegen dessen vitale Interessen zwingen. Das, meine Damen und Herren, ist der Hintergrund von Notwendigkeiten und Bedingungen. Wer ihn übersieht oder einfach von sich fortschiebt, kann den Ertrag dieser Politik nicht gerecht beurteilen.Zum Ertrag ist folgendes festzustellen: Zwischen den beiden deutschen Staaten herrscht heute ein Vertragszustand. Statt des Fehlens jeglicher geregelten Beziehungen haben wir Vereinbarungen, die Ansprüche begründen und Maßstäbe setzen und im Prozeß der Ausgestaltung der Beziehungen berufbar und anwendbar sind.Die Grundlagen für die Beziehungen wurden durch den Vertrag vom 21. Dezember 1972 geschaffen. Die grundsätzlichen Rechtspositionen der Bundesrepublik Deutschland blieben gewahrt. Darüber hinaus ist die Grundlagenregelung dynamisch angelegt. Die konkrete weitere Ausgestaltung der Beziehungen sowie die Entwicklung und Förderung der Zusammenarbeit sind vertragliche Verpflichtungen, desgleichen, daran gebunden, die Regelung praktischer und humanitärer Fragen.Lassen Sie mich hierzu einfügen: Herr Kollege Marx hat recht; es erreichen mich Briefe, in denen sich Bürger in der DDR darüber beklagen, unter welchen Bedingungen sie leben müssen. Auch aus dem Kreis derjenigen Personen, die Familienangehörige als Häftlinge in der DDR wissen, bekomme ich Schreiben. Aber ich bekomme eine viel größere Zahl an Briefen, aus denen Dankbarkeit für die Politik zu ersehen ist, die wir mit der DDR betreiben, Dankbarkeit dafür, daß wir im vertraglichen Bemühen versuchen, Dinge zu regulieren, wie das bisher in dieser Dimension nicht einmal denkbar war.
Sehen Sie, ich ertrage manche Kritik und manche unsachliche Äußerung leichten Herzens, wenn ich für mich in Anspruch nehmen kann, daß ich einen Teil dieser Politik mittrage und dabei zählbar Menschen habe helfen können, die nichts von Theorien und Forderungen haben, sondern nur von einer Normalisierung durch praktische Maßnahmen.
Wenn Herr Ministerpräsident Filbinger sich in einem Fall, in dem wir übrigens viel mehr gewirkt haben, als er anscheinend weiß, als jener darstellen zu können glaubt, der durch sein Verhältnis zu Herrn Honecker humanitäre Probleme durch einen Brief lösen kann, dann frage ich mich: warum schreibt der Mann denn nicht mehr Briefe an den Herrn Honecker und läßt zu, daß Sie hier von Tausenden von ungelösten Problemen sprechen?
Diese Schizophrenie geht nicht an. Sie müssen diesesschwierige Werk nicht noch unnötig belasten mitden Dingen, die Sie hier dazwischen gebracht haben!
Wie ich eben darstellte, ist auch die Regelung praktischer, humanitärer Fragen in diesem Zusammenhang mitzusehen. Demgemäß stehen wir heute in einer weitverzweigten Verhandlungssituation. Auf einer Vielzahl von Gebieten des praktischen Zusammenlebens finden Verhandlungen statt. Erste Ergebnisse, z. B. im Gesundheitswesen, im Sport, beim Kontentransfer, im Reiseverkehr und bei der Post, liegen vor. Wer will das leugnen? Das sind Ergebnisse dieser Politik. Wir haben nicht gesagt, daß damit schon die Vollendung erreicht ist. Aber wir sind einen Weg gegangen, der Erfolge bringt. Kommen Sie mit den Menschen zusammen, die als Reisende aus der Bundesrepublik in der DDR waren und zurückkehren! Sie erleben, welche Hoffnung die Menschen dareinsetzen, daß wir diese Politik weiter betreiben und uns nicht in demagogischen Protesten und Forderungen verlieren, die derzeit unerfüllbar sind.
Die Lage Berlins ist sicherer geworden. Der zivile Zugang ist rechtlich garantiert. Die Bindungen an den Bund sind bestätigt. Die Veränderung ist offenkundig. Früher zerbrachen wir uns die Köpfe, wie bei einer jederzeit möglichen willkürlichen Blockierung der Zugangswege zu reagieren sei. Da haben wir zusammengesessen in Kommissionen und haben Überlegungen angestellt, was wir machen können. Heute sitzen wir mit dem Rotstift und rechnen aus, welche Verkehrsstrecken am vordringlichsten zu tragbaren Kosten verbessert werden sollten. Das ist doch eine wesentliche Veränderung in der Qualität der Probleme, um die es geht.
Das alles wollen Sie leugnen und bagatellisieren? Die praktische Deutschlandpolitik sieht so aus und besteht nicht in der Entwicklung von Postulaten, die sicherlich auch ihr Gewicht haben mögen; aber hier geht es um praktische Politik.Einige der jetzt zur Verhandlung stehenden Maßnahmen haben ganz sicher erhebliche finanzielle Auswirkungen. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden und in den Hintergrund treten, daß eine Reihe von Verbesserungen speziell im Reiseverkehr keine neuen, besonderen Kosten verursachen, son-
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10094 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Bundesminister Frankedern eine Erweiterung und Verbesserung der bestehenden Möglichkeiten bedeuten. Bei anderen, besonders langfristigen Maßnahmen wie etwa dem Bau einer Autobahn, wird die Frage der Kosten eine ganz erhebliche Rolle spielen. Alle vorschnellen Kritiker bitte ich jedoch, zu berücksichtigen, daß die Verbesserung der Verkehrswege zwischen dem Bundesgebiet und Berlin überwiegend im Interesse der Bevölkerung Berlins und der Lebensfähigkeit dieser Stadt liegt. Diese Tatsache sollte uns zurückhaltend gegenüber Milchmädchenrechnungen machen, zumal hiermit auch die Gefahr verbunden ist, einer Chance zur Verbesserung der Bindungen und Verbindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland verlustig zu gehen.
Die Frage der Finanzierung, die im übrigen Verhandlungsmaterie ist, muß möglichst nüchtern und kaufmännisch betrachtet werden.Die bisher getroffenen Vereinbarungen funktionieren im großen und ganzen reibungslos. Sie haben zu erheblichen Verbesserungen in der Praxis geführt.
Wo Schwierigkeiten auftreten, versuchen wir, sie auf den vertraglich vereinbarten Verhandlungswegen beizulegen. Dieses Verfahren — ein anderes gibt es nicht — hat sich im Falle des Mindestumtausches und des Transitverkehrs bewährt. Im Falle der Vollautomatisierung des Telefonverkehrs steht ein Ergebnis in Aussicht. Die Politik der Erleichterung des innerdeutschen Warenverkehrs wurde und wird von der SPD/FDP-Regierung konsequent fortgeführt, aus wirtschaftlichen, aber vor allen Dingen auch aus politischen Erwägungen heraus. Die Ausweitung des innerdeutschen Handels hilft, wirtschaftliche Bindungen zu festigen. Das aber liegt auch in unserem politischen Interesse.Die Vereinbarungen, die wir getroffen haben, kommen den Menschen erkennbar zugute. Die Kontakt- und Verbindungsmöglichkeiten wurden erweitert, erleichtert und verbessert.
Davon zeugt die steigende Zahl der Reisen und Kontakte. Sie mögen es glauben oder nicht; ich werde Ihnen jetzt tatsächlich wieder Zahlen nennen, damit endlich einmal auch hier eingesehen wird, daß schließlich diese Zahlen von millionenfacher Begegnung von Deutschen von hüben und drüben berichten und von niemand geleugnet werden können. Hier einige Beispiele: Rund 5,9 Millionen Westdeutsche und West-Berliner reisten 1974 in die DDR und nach Ost-Berlin; 2,8 Millionen waren es 1971, dem Jahr vor dem Inkrafttreten der betreffenden Verträge. 479 Telefonleitungen bestehen derzeit zwischen den beiden deutschen Postbereichen; nur 34 Leitungen waren es Anfang 1970. 5,8 Millionen Telefongespräche wurden 1973 zwischen West und Ost geführt; 1970 waren es ganze 800 000.In der Statistik gibt es Knicke und Rückschläge. Zur Wirklichkeit gehört es aber jetzt, daß man so etwas in Verhandlungen korrigieren kann und korrigieren konnte, daß die Gesamtentwicklung mit Stetigkeit aufwärts zeigt und es in dieser Entwicklung überhaupt keine Vergleiche zu der Zeit vor den Verträgen gibt. So hat nach der Korrektur der Mindestumtauschregelung
der grenznahe Verkehr wieder erheblich zugenommen. Die letzten Zahlen aus dem Januar dieses Jahres weisen gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres eine Steigerung um 51,8% aus. Insgesamt wird sich nach einiger Zeit herausstellen: Die Beziehungen zwischen den Menschen in beiden deutschen Staaten werden sich durch die Vertragspolitik auf einem erhöhten, intensiveren Niveau stabilisieren.Meine Damen und Herren, die Lage unseres Vaterlandes ist so, daß nicht unsere Worte, nicht unsere Klagen, nicht Deklarationen uns überdauern werden, sondern allein die Anstrengungen, die wir unternommen haben, um den Zusammenhalt der Menschen unseres Volkes zu wahren. Das schließt auch ihren Schutz ein, wo immer dies in unserer Macht steht. Dazu gehört auch das Beharren auf Rechtspositionen, namentlich auf solchen, in denen der Grundlagenvertrag keine Lösung gebracht hat wie in der Frage der Staatsangehörigkeit. Hier klafft ein nicht überbrückter Gegensatz zwischen unserem Standpunkt und dem der DDR. Mit diesem Gegensatz müssen wir leben und Sorge tragen, daß unser Standpunkt klar und eindeutig bleibt. Das ist geschehen und geschieht weiterhin.Im politischen Bereich setzt sich das Ringen um die Einheit der Nation fort. So erstaunlich und erschreckend, wie manche es jetzt darstellen, ist es nicht, wenn Honecker auf dem Dezemberplenum der SED sagte, im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland repräsentiere die DDR das „sozialistische Deutschland", oder wenn er sagt: „Als Deutsche haben wir Anteil an der deutschen Geschichte". Wer glaubt denn im Ernst, daß die nationale Frage in Deutschland ausgestanden sei?! Diese Bundesregierung bestimmt nicht. Das hat sie in Wort und Tat zur Genüge bewiesen. Das hat sie eindringlich gerade jenen immer wieder vor Augen geführt, die glaubten befürchten zu müssen, mit der Aufnahme von geregelten staatlichen Beziehungen zur DDR werde die deutsche Teilung ein für allemal besiegelt. So ist es eben nicht. Im Gegenteil, wir glauben, daß dieser Schritt getan werden mußte und dies jetzt fortzusetzen ist, um die deutsche Frage offenzuhalten und zu verhindern, daß sie in totale Entfremdung, Gleichgültigkeit und Resignation absinkt. Das war doch eine der Gefahren, vor der wir nach 20 Jahren Teilung in Wirklichkeit standen und die es abzuwenden galt, und ich glaube, daß das gelungen ist.Unser Bemühen um Normasilierung und Zusammenarbeit mit dem anderen deutschen Staat, der jetzt auch wieder seine deutsche Nationalität zu-
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Bundesminister Frankegibt, schließt den Wettbewerb um die nationale Frage ein. Anders haben wir es nie verstanden. Zu diesem Verständnis gehört aber wesentlich auch, daß der Wettbewerb den Frieden nicht gefährden und die Zusammenarbeit zum Wohle der Menschen nicht behindern soll.Ich sehe keinen nächsten Konflikt aufsteigen, wenn der Erste Sekretär der kommunistischen Partei in der DDR die Ansicht kundgibt, „daß beim Fortschreiten des revolutionären Weltprozesses der Sozialismus auch um die Bundesrepublik Deutschland keinen Bogen machen wird. Dies ist jedoch eine Sache der Zukunft." Wir sollten uns angewöhnen, nicht so sprunghaft auf Verlautbarungen der DDR zu reagieren, wie das da und dort geschieht. Einmal wird Klage geführt, wenn die DDR ihre politische Verantwortung für die ganze deutsche Nation aus ihrer Verfassung streicht — und bei dieser Verantwortung konnte es sich ja schließlich nur um eine revolutionäre handeln , wenig später wird dann verschreckt reagiert, wenn Honecker von der deutschen Nationalität der DDR-Bewohner spricht. Das eine wie das andere ändert nichts an den Grundtatsachen. Ihnen haben wir uns zu stellen, ihren Erfordernissen entsprechend müssen wir handeln und Politik machen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete von Wrangel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, hätten es begrüßt, wenn der Herr Regierende Bürgermeister Schütz schon früher die Skepsis geäußert hätte, die heute in einigen wenigen Passagen seiner Erklärung zum Ausdruck gekommen ist.
Wenn Sie, Herr Regierender Bürgermeister, sagen, Berlin sei in die multinationalen und bilateralen Probleme mit einbezogen, so kann ich nur sagen, daß es heute leider — gerade in der Außenvertretung Berlins — eine Fülle von bedauerlichen grauen Zonen gibt, die neue, schwere Konflikte verursachen können.
Meine Damen und Herren, ich will aber hier auf Details nicht eingehen, weil dies von meinen Freunden Wohlrabe und Kunz noch geschehen wird.Herr Kollege und Bundesminister Franke, ich bin enttäuscht über das, was Sie hier gesagt haben. Ich meine, daß wir doch wohl erwarten durften, daß Sie eine sachkundige Ergänzung zu unseren Fragen geben würden. Statt dessen haben Sie sich hier — und das steht Ihnen nicht zu — als Zensor für die Fragen aufgespielt, die die CDU/CSU zu Recht gestellt hat.
Ich möchte darüber hinaus auch sagen: Welche Fragen seriös und welche Fragen unseriös sind, Herr Kollege Franke, dies, glaube ich, können wir selber besser beurteilen als Sie.
Nun ist, meine Damen und Herren — ich komme darauf noch zu sprechen —, vom Herrn Bundeskanzler, vom Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU und auch von anderen immer wieder die Problematik der Interessenidentität, des Interessenausgleichs zur Sprache gebracht worden. Lassen Sie mich an dieser Stelle nur so viel sagen: Die ganze Vertragspolitik dieser Regierung krankt doch daran, daß Sie eine Vertragspolitik gemacht haben, ohne vorher über die Frage der Interessenidentität nachzudenken.Noch eine Bemerkung möchte ich hier zur Problematik der Gemeinsamkeit gleich machen dürfen, nämlich die, Herr Kollege Franke, daß — ich verkürze hier das, was Kollege Marx gesagt hat — Gemeinsamkeit kann doch nie bedeuten, daß die Opposition einen konformistischen Kniefall vor der Exekutive macht.
Ich weiß, daß Sie es gar nicht gerne hören, wenn wir immer und immer wieder, gerade weil wir geltende Verträge respektieren, versuchen, Sie an dem zu messen, was Sie selber gesagt haben.
So ist z. B. das, was Sie in dem Grundvertrag als hehre Ziele und gute Absichten hineingeschrieben haben, in der Praxis doch weitgehend Substanz. Die hehren Ziele und guten Absichten sind in der praktischen Deutschlandpolitik mehr und mehr in den Hintergrund gerückt, und wir haben ja heute auch — zwar nicht vom Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen aber von anderen aus der Koalition — skeptischere Töne als zu früheren Zeiten gehört. Zur Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion kann ich nur sagen — dies hat Ihre Rede, Herr Bundesminister Franke leider eben auch gezeigt; sie sollte wohl eine Art Jubelaktion sein —, daß sich durch die ganzen Ausführungen eine fatale Schönfärberei zieht.
Im Zusammenhang mit den Todesautomaten spricht die Regierung in ihrer schriftlichen Antwort von — man merke! — „baulichen Veränderungen". Dies empfinde ich als eine Verhöhnung all dessen, was wir doch in diesem Hohen Hause hoffentlich an Wertvorstellungen gemeinsam besitzen. Herr Bundesminister Franke, sind wir wirklich so weit, daß wir aus Gründen falsch verstandener Opportunität die politische, ideologische Offensive der DDR nicht mehr mit dem Mut und dem selbstverständlichen Vokabular überzeugter Demokraten zurückweisen und das Unrecht beim Namen nennen, das die deutsche Nation leider weiterhin erleidet?Wir empfinden bei dieser Entwicklung ganz bestimmt keine Schadenfreude. Im Gegenteil! Uns
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Baron von Wrangelwäre es lieber gewesen, wenn trotz der fundamentalen Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag eine sichtbare, effektive Reduzierung von Unmenschlichkeiten erreicht worden wäre. Aber Sie müssen sich — ich sage es noch einmal — genau an dem messen lassen, was Sie immer und immer wieder seit dem Jahre 1969 hier verkündet haben. Ich darf mit Erlaubnis der Frau Präsidentin zitieren. Unter dem Titel „Der Grundvertrag zwingt die DDR zur Wahrung der Menschenrechte" verkündet der sozialdemokratische „Vorwärts" im Jahre 1973: „Die Erkämpfung der Menschenrechte in der DDR muß als eines der entscheidenden Ziele und Zwecke des Grundvertrages angesehen werden."
Die Tatsachen zeigen, daß die Bundesregierung es nicht einmal vermocht hat, den Erwartungen ihrer eigenen Parteifreunde gerecht zu werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dies sind doch alles Dinge, die nicht rechtsverbindlich sind und jeden Tag zurückgenommen werden können. Außerdem kann von der Wiederherstellung der Geschäftsgrundlage überhaupt keine Rede sein; denn ein großer Teil derjenigen, die nach drüben fahren, muß weiter sehr viel höhere Beträge zahlen.
als dies vor der Verdoppelung des Zwangsumtausches der Fall gewesen ist.Lassen Sie mich — ich glaube, daß das notwendig ist, weil Sie ja immer von der Chance des Grundvertrages sprechen — noch einmal einige Beispiele nennen, auch wenn Ihnen das unbequem ist. In der Präambel — das sind so hochtrabende Worte — ist von dem Bestreben die Rede, einen Beitrag zur Entspannung in Europa zu leisten. Wollen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, denn ernsthaft behaupten, daß die Militarisierung in der DDR und die Haltung der DDR — gerade die feindselige Haltung, Herr Regierender Bürgermeister, gegenüber West-Berlin — diesen Grundsatz etwa bekräftigen?
In Artikel 1 ist von der Entwicklung „gutnachbarlicher Beziehungen" die Rede. Es kann doch wohl kaum zu den gutnachbarlichen Beziehungen im innerdeutschen Bereich gehören, wenn die DDR sich auf Abgrenzungsmaßnahmen konzentriert, eine intensive Spionage betreibt sowie eine Indoktrinierung der DDR-Jugend zum Haß auf den Klassenfeind Bundesrepublik Deutschland.In bezug auf Art. 2 — wir müssen das wieder sagen — gilt natürlich dasselbe. Und in Art. 3 ist ferner von der Verpflichtung die Rede, Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen und sich der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten. Die Repressalien undDrohungen der DDR bei der Errichtung des Umweltbundesamtes, die Schikanen auf den Transitwegen und die anmaßenden Angriffe gegen West-Berlin sind eine Verhöhnung dieses Vertrages. Minen, Drohungen, Repressalien, Erpressungen sind eine bestimmte, scheußliche, moderne Art von Gewalt, der sich totalitäre Staaten heute bedienen.
Dasselbe gilt für Art. 5, in dem von dem Bemühen die Rede ist, die Streitkräfte und die Rüstung in Europa zu vermindern, und genauso für Art. 7, nach dem im Zuge der Normalisierung ihrer Beziehungen praktische und humanitäre Fragen geregelt werden sollen. Ich empfinde das Verhalten der DDR anders als der Kollege Franke: als eine permanente Demonstration der Anormalität. Wie will man so normale Beziehungen erreichen?
Ich muß auch sagen — bei früheren Gelegenheiten haben wir darüber diskutiert —, daß in den Folgeverträgen und -vereinbarungen meistens das vereinbart worden ist, was die DDR haben wollte, aber viel weniger das zum Zuge kam, was wir als Bundesrepublik Deutschland in die Verhandlungen einbeziehen wollten. Die DDR versucht, die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des innerdeutschen Handels — übrigens die einzige Klammer, die sie im innerdeutschen Bereich selber anerkennt, weil sie Nutzen daraus zieht — festzulegen. Andererseits aber tut sie alles, um den Beziehungen einen völkerrechtlichen Charakter zu verleihen, ja diesen völkerrechtlichen Charakter mit allen Erpressungen durchzusetzen.Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, gehen nun in eine neue Verhandlungsrunde. Wir möchten Sie angesichts von fünf Landtagswahlen wirklich dringend davor warnen, wieder einmal durch innenpolitische Jubelaktionen im deutschlandpolitischen Bereich Ihre eigene Verhandlungsposition und damit die Position der Bundesrepublik Deutschland zu schwächen.
Ich habe eingangs von der Problematik der Interessenidentität gesprochen. Es gibt doch — Herr Kiesinger, Sie haben darüber in früheren Jahren und Jahrzehnten viel Richtiges gesagt — eine Faustregel für Verhandlungen zwischen Staaten, die von dieser Regierung manchmal — oder sehr oft — hartnäckig ignoriert wird. Das ist die Frage nach der Interessenidentität der Verhandlungspartner. Diese Frage hätten Sie freilich — das muß man immer wieder sagen — schon zu Beginn der Vertragspolitik stellen müssen; denn das war ja doch die Auseinandersetzung, die wir damals immer wieder mit der Bundesregierung Brandt und der Koalition geführt haben. Wenn keine Interessengleichheit vorhanden ist, sind Vereinbarungen und Verträge — wir erleben das doch — auf Sand gebaut. Sie werden zum Spielball unterschiedlicher Interpretationen; sie laufen Gefahr, zu einem Fetzen Papier degradiert zu werden. Und ich glaube, daß diese Bundesregierung gerade auf Grund der Entwicklung, die wir nun erlebt haben, sich end-
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Baron von Wrangellieh auf diesem Gebiet einem wichtigen Lernprozeß unterziehen muß.
Natürlich gibt es Gebiete, auf denen wir uns um eine Versachlichung der Auseinandersetzung bemühen. Wir tun dies doch auch vor allem, um das Verhandlungsgewicht der Bundesrepublik Deutschland zu stärken.
Der Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen hat dies Herr Hoppe erwähnte das heute mittag zu der Frage der Minenfelder — sichtbar zum Ausdruck gebracht. Ihre Aufgabe wäre es doch, jetzt, auch wenn es schmerzlich ist, einzugestehen, daß Sie durch falsche Analysen und falsche Diagnosen in der Deutschland- und Außenpolitik immer wieder falsche Therapien empfohlen haben.Es ist die Pflicht der Bundesrepublik Deutschland, dafür zu sorgen, daß die Deutschlandpolitik in ihrem Stellenwert angehoben und nicht degradiert wird. Wer zum Beispiel — dies zieht sich ja auch wie ein roter Faden durch die Diskussion, die wir heute führen — in der Frage der völkerrechtlichen Anerkennung — und, Herr Bundeskanzler, Sie müssen doch wissen, daß in der großen Koalition Bundeskanzler Kiesinger immer gesagt hat: Wir tun alles unterhalb dieser Schwelle der völkerrechtlichen Anerkennung — nachgibt, wer nicht deutlich macht, daß er die Vertretungspflicht für ganz Deutschland offensiv wahrzunehmen gedenkt, wird morgen — Herr Regierender Bürgermeister! — eine Berlin-Krise von schwerwiegendem Ausmaß herbeiführen. Wer es versäumt, sich um ein normales Verhältnis zur deutschen Nation und zum deutschen Vaterland zu bemühen, wird sich übermorgen mit einem neuen deutschen Chauvinismus konfrontiert sehen, der sich möglicherweise mit dem Kommunismus zu einer unheiligen Allianz gegen die Demokratie verbindet.Eine letzte Bemerkung: Faschisten und Kommunisten — heute war ja viel von Geschichte und historischen Entwicklungen die Rede — haben in diesem Jahrhundert schon viel Unheil über Deutschland und Europa gebracht. Diese Bundesrepublik Deutschland hat die historische Aufgabe, Wiederholungen mit anderen Varianten zäh und mit großer Deutlichkeit zu verhindern.
Sie muß das ohne alle Abstriche tun. Dies gehört mit zum Selbstverständnis unseres Staates. Sie muß die Glaubwürdigkeit unserer Demokratie hervorheben, und deshalb, meine Damen und Herren von der Bundesregierung und der Koalition, nehmen Sie doch endlich unsere Mahnungen in diesem Bereich ernst!
Das Wort hat Herr Bundesminister Genscher.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist indieser Debatte die Frage nach der Gemeinsamkeit, ihren Möglichkeiten und ihren Perspektiven gestellt worden, eine ernst zu nehmende Frage. Dafür war es wichtig, daß der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU hier noch einmal für seine Fraktion bekundet hat, daß die Opposition die Verträge respektiert und sich auf den Boden der Verträge stellt.
— Herr Kollege, wir stellen uns auf den Boden der Verträge, wie wir sie hier zur Annahme vorgeschlagen haben, wie sie angenommen sind und wie sie eine authentische Interpretation durch das höchste deutsche Gericht erfahren haben. Das sollte zwischen uns unbestritten sein.
Wichtig ist für die Frage, ob eine gemeinsame Außenpolitik, ob eine gemeinsame Deutschlandpolitik — das ist das Thema heute — möglich ist, die Frage der Ziele. Diese Ziele sind vorgegeben durch die Verfassung, der wir uns alle verbunden fühlen, und wir haben bei einer wichtigen Debatte in der zweiten Hälfte des letzten Jahres, als wir unsere Verhandlungsposition für die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hier diskutiert haben, festgestellt, daß auch die Opposition anerkannte, daß die Bundesregierung in den wichtigen Fragen, die die Zielsetzung deutscher Außen- und Deutschlandpolitik angehen, die Position so vertritt, wie Sie sie auch akzeptieren können.Aber, meine Damen und Herren, wichtig ist auch — und diese Frage hat Herr Kollege Carstens hier angeschnitten — die Frage der Aufrichtigkeit der Argumente und die richtige Betrachtung der Vergangenheit. Ich hätte mir allerdings gewünscht, die heutige Debatte wäre mehr zukunftsgerichtet gewesen. Aber Sie haben noch einmal die Frage aufgeworfen, ob es denn eigentlich im Ansatz der Politik der sozialliberalen Koalition eine Alternative gegeben hätte. Wenn der Vorsitzende der Oppositionsfraktion dem Bundeskanzler vorwirft, er betreibe eine Art Geschichtsklitterung, wenn er hier ausführt, die Entspannungspolitik wäre über uns hinweggegangen, hätten wir sie nicht sozusagen im letzten Moment noch in unserem Sinne beeinflußt, — meine Damen und Herren, wer das ernsthaft in Frage stellt, weiß der denn nichts davon, daß es im Moment die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gibt, daß es Abrüstungsverhandlungen in Wien gibt, daß die beiden Großmächte in SALT I und SALT II über Entspannung auch in der Praxis sprechen? Die deutsche Frage lautete doch in diesem Zusammenhang: Wollen wir uns davon ausschließen, wollen wir den Versuch machen, das aufzuhalten, oder wollen wir nicht vielmehr eine solche international auch von unseren Verbündeten betriebene Entspannungspolitik mit fördern, um in diese Entspannungspolitik unsere eigenen nationalen
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Bundesminister GenscherZiele mit einbringen zu können? Das war die Frage, die uns gestellt war.
Diese Frage haben wir beantwortet durch die Politik, wie sie seit 1969 eingeleitet worden ist. Ich finde, daß die Opposition, wenn sie heute ihre Kritik an der Regierungspolitik reduziert, wenn sie sagt: „Wir kritisieren ja eigentlich an eurer Politik nur die Art, wie ihr sie betrieben habt, die Methode der Verhandlungsführung", aufrichtig genug sein sollte, mindestens zuzugeben, daß sie am Beginn diese Politik auch von Grund auf und im Ansatz bekämpft und kritisiert hat.
Es ist richtig, daß Sie heute sich eher auf diese reduzierte Kritik und Betrachtung versteifen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Bitte schön, Herr Kollege Mertes!
Herr Bundesaußenminister, könnten Sie dem Hause bitte erklären, warum bei Beginn dieser Deutschlandpolitik in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 die Regierung Brandt/Scheel ohne vorherige Konsultation mit den für Deutschland mitverantwortlichen drei Westmächten und ohne vorherige Beratung im Parlament die sowjetische Zwei-Deutschland-Forderung erfüllt hat?
Herr Kollege, zunächst kann man beim besten Willen nicht sagen, daß eine Regierung, die sich gerade der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR verschlossen hat, die Forderung der sowjetischen Deutschlandpolitik übernommen habe. Genau das Gegenteil ist der Fall gewesen.
Und der Grundvertrag —
— Aber, verehrter Herr Kollege Abelein, die Position, die den beiden Staaten in Deutschland durch den Grundvertrag zugewiesen worden ist, ist doch ganz sicher nicht die sowjetische Position, die bis zum Abschluß des Grundvertrages mit der Forderung nach der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR vertreten worden ist.
— Herr Kollege Abelein, das ist nicht eine quantitative Frage, über die wir hier reden,
sondern die Frage, ob das Verhältnis zwischen derBundesrepublik Deutschland und der DDR in derForm bestimmt ist, wie der Grundvertrag es tut, oder ob wir die DDR völkerrechtlich anerkannt hätten. Das ist eine hochqualitative Frage,
wie es das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in einem für uns positiven Sinne ausdrücklich anerkannt hat.
Ich glaube, daß Sie jetzt nicht versuchen sollten, das, was im Grundvertrag geschehen ist, in die Nähe der ursprünglichen sowjetischen Forderungen zu bringen. Das wäre sicher kein Erfolg für unsere Seite; das würden vielmehr andere Leute gern hören oder lesen.
Ich glaube, wir sollten auch hier in der Interpretation sehr vorsichtig sein.Meine Damen und Herren, was also diese Debatte heute, wenn die Opposition sagt, sie trete auf die Basis der Verträge, leisten kann oder leisten sollte, ist doch eigentlich eine Beantwortung der Frage, ob die Opposition der Meinung ist, die Bundesregierung verfolge auf der Grundlage der geschlossenen Verträge die richtige Politik, d. h. sie mache das Beste aus diese Verträgen, oder ob die Opposition der Meinung ist, man könnte aus diesen Verträgen durch andere Verhandlungsführung noch Besseres machen.
Das müßte das Thema sein, und hier erwarten wir Vorschläge und kritische Anregungen auch aus den Reihen der Opposition in dieser Debatte. Bis zur Stunde jedenfalls haben wir sie noch nicht gehört,
allerdings mit einer Ausnahme: Der Kollege Marx hat zu einer wichtigen, zu einer außerordentlich delikaten Frage, nämlich zur Frage der Staatsbürgerschaft, Stellung genommen. Ich möchte ausdrücklich meine Befriedigung darüber zum Ausdruck bringen, daß er schwierige Fragen in den Auswärtigen Ausschuß verwiesen hat, wohin sie gehören. Ich habe mich trotzdem, Herr Kollege Marx, manchmal gefragt, wofür und wogegen Sie eigentlich bei der Behandlung dieses Themas sprechen.Eines muß ich klarstellen. Die Bundesregierung hat zu keiner Zeit die Öffentlichkeit darüber im unklaren gelassen, wie sich das Problem der Staatsbürgerschaft im In- und Ausland nach Abschluß des Grundvertrages auswirken kann. Sie wissen, das ist im Ausschuß geschehen, und ich möchte noch einmal die Entschließung des Rechtsausschusses verlesen, wo genau das festgelegt ist, was wir heute als Handlungsmaxime betrachten. Dort heißt es:Insbesondere haben alle Deutschen auch nachdem Inkrafttreten des Vertrages gemäß Art. 1
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Bundesminister GenscherAbs. 1 des Grundgesetzes Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Organe der Bundesrepublik Deutschland. Alle deutschen Staatsangehörigen haben auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages Anspruch auf den Schutz der diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland. In der Bundesrepublik Deutschland genießen die in der Deutschen Demokratischen Republik lebenden Deutschen die vollen staatsbürgerlichen Rechte.Ich denke, das ist genau die Position, die dem Grundgesetz entspricht, die dem Grundvertrag entspricht und nach der auf Weisung meines Amtsvorgängers seit dem Beginn des Jahres 1973 die deutschen Auslandsmissionen sich verhalten haben. So werden wir uns künftig verhalten, und eine gemeinsame Position in diesem beschränkten Bereich ist sicher eine Stärkung unserer gesamten Position.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger?
Bitte schön!
Herr Bundesminister, sind Sie nicht auch der Auffassung, daß die Position der Bundesregierung in dieser Frage, die wir unterstützen, eine bessere und sicherere wäre, wenn 1972 ohne Rücksicht auf den bevorstehenden Wahltermin so lange mit der DDR verhandelt worden wäre, bis mindestens eine übereinstimmende Erklärung in dem Sinne erzielt worden wäre, daß die Staatsangehörigkeit von diesem Vertrag unberührt bleibt?
Aber Herr Kollege, in der Feststellung, daß der Grundvertrag die staatsbürgerlichen Fragen nicht regelt,
liegt doch genau die Feststellung, daß die Staatsbürgerschaft unberührt bleibt.
Ich weiß nicht, wie man sich klarer ausdrücken kann. — Aber, Herr Abelein, Sie werden ja nachher sicher noch Gelegenheit haben, dazu ein paar Bemerkungen zu machen.
Meine Damen und Herren, wenn wir heute primär über deutschlandpolitische Fragen sprechen, so ändert das nichts an der Tatsache, daß die deutsche Frage ein zentrales Problem der deutschen Außenpolitik ist. Denn das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander — und das müssen Sie immer wieder bedenken — ist nicht eine Frage von ausschließlich deutschem Interesse, sondern hat eben auch einen Stellenwert im weltweiten Prozeß der Entspannung. Herr Kollege, unsere Nachbarn und unsere Bündnispartner — das bitte ich nie zu unterschätzen — sind am Fortgang dieses deutschdeutschen Dialoges nicht weniger interessiert, als wir es selbst sind. Nicht umsonst findet das Deutschlandgespräch zwischen den Drei Mächten und uns — auch nach dem Grundvertrag, auch nach dem Berlin-Abkommen — vor jeder NATO-Konferenz statt. Wir tragen — das müssen wir bei jeder Entscheidung auch hier in diesem Hause wissen — ein großes Stück Verantwortung für den Fortgang der internationalen Entspannungspolitik. Es ist nur schwer vorstellbar, daß es zwischen den beiden Machtblöcken zu mehr wirklicher Entspannung kommen könnte, als zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR erreicht werden kann. Es ist schwer vorstellbar, sagte ich, aber es ist eben vorstellbar. Dies würde dann bedeuten, daß die Entspannungspolitik über uns hinwegrollte, ohne daß wir dabei auch ein Stück in den Fragen vorankämen, die uns, die die Menschen in Deutschland besonders bewegen.
— Herr Kollege Mertes, nur eingeordnet in die internationale Entspannungspolitik, nur im Gleichtakt mit ihr haben wir eine Chance, Tempo und Richtung dieser Politik auch in unserem Sinne mit zu bestimmen.
Wer wollte sagen, er könnte gegen diese internationale Entspannungspolitik etwas für die Deutschen im geteilten Deutschland tun? Das ist die Frage.
— Bitte schön!
Herr Abgeordneter Mertes!
Herr Bundesminister, teilen Sie meine Meinung, daß eine Entspannungspolitik, die über die elementaren Interessen des deutschen Volkes hinweggehen würde, den Namen „Entspannungspolitik" nicht verdiente?
Herr Kollege, es wäre nicht das erstemal, daß ein
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Bundesminister GenscherVolk oder daß ein Staat, der einen Teil eines Volkes vertritt, in eine Isolierung geriete und daß sich internationale Prozesse über seine nationalen Interessen hinweg vollzögen. Diese Gefahr hat die sozialliberale Koalition erkannt, und danach hat sie seit 1969 im eigenen, aber auch im internationalen Entspannungsinteresse gehandelt.
Meine Damen und Herren, ich will mit dieser kurzen Intervention eigentlich nur deutlich machen, was diese Debatte leisten müßte. Ich wiederhole: Sie müßte leisten, daß wir auf der Grundlage der geschlossenen Verträge in eine Diskussion über die richtige Anwendung, die optimale Nutzung der Verträge eintreten,
daß aber nicht jeder Redner der Opposition uns mit einer Art Vergangenheitsbewältigung von diesem Thema, das auf die Zukunft gerichtet ist, wegführt.
Meine Damen und Herren, ein letztes Wort zu dem, was Herr Kollege Carstens hier in dem Sinne gesagt hat, wir müßten das Vaterlandsgefühl neu entdecken. An wessen Adresse richtet er eigentlichdiese Mahnung?
Glauben Sie wirklich, daß in den demokratischen Parteien dieses Landes nicht jenes Maß an gesundem Patriotismus vorhanden ist, das uns gerade in einem geteilten Land zutiefst bewegt und erfüllt? Allerdings meine ich, daß Patriotismus in dieser Stunde nicht nur bedeutet zu reden, sondern auch im Interesse der geteilten Nation zu handeln. Das ist Gegenstand unserer Politik.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ronneburger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei Große Anfragen zur Deutschlandpolitik, ein Bericht zur Lage der Nation und die Debatte darüber — dies, meinte ich, sollte eine Gelegenheit zu einer Bestandsaufnahme der Deutschlandpolitik sein, wie sie in den Schriftlichen Antworten der Bundesregierung auf die beiden Großen Anfragen weitgehend enthalten und jetzt durch eine Vielzahl von Äußerungen in dieser Debatte noch ergänzt worden ist.Aber ich mache kein Hehl daraus, daß ich in diese Debatte, meine Damen und Herren, auch mit der Hoffnung gegangen bin, diese Aussprache könnte von jener Methode der Aktuellen Stunden wegführen, von der Erörterung von Einzelproblemen, herausgelöst aus dem Gesamtzusammenhangder deutschlandpolitischen Problematik, abgehandelt in Fünf-Minuten-Beiträgen, in Hektik und — lassen Sie mich auch das in aller Nüchternheit sagen, gerade wenn man Gemeinsamkeit will — angeheizt immer wieder durch Emotionen der Firma Abelein & Co.
— Herr Dr. Marx, auf Ihre Sachlichkeit komme ich nachher noch zurück.
— Ja, ich teile Ihre Hoffnungen auf den endlichen Erfolg. Aber ich glaube, dieser Erfolg in bezug auf eine Gemeinsamkeit, meine Damen und Herren von der Opposition, wird sich nicht einstellen, wenn wir jetzt etwa versuchen, das, was an Polemik auch in der heutigen Debatte wieder gewesen ist, nicht zu erwähnen oder unter den Tisch zu kehren. Wenn wir in dieser Debatte nicht offen miteinander umgehen, wird es zu der Gemeinsamkeit nicht kommen, von der Herr Dr. Marx in seinen Ausführungen allerdings schon gesagt hat, daß er die Basis dafür nicht sehe, wenn er auch im Abschluß seiner Ausführungen noch einmal dazu aufgerufen hat. Sie haben etwa in der Mitte Ihrer Ausführungen gesagt, Herr Dr. Marx, die Basis für die Gemeinsamkeit sei aus Ihrer Sicht im Augenblick nicht gegeben.
-- Gut, wir werden darüber heute sicherlich noch mehr hören, und wir werden darüber auch noch mehr zu sprechen haben.Ich hatte auch gehofft, heute könne der Versuch stattfinden, von den doch wohl gemeinsamen Zielen der Deutschlandpolitik her — denn diese Ziele, meine Damen und Herren, lassen sich letzten Endes aus unserem Grundgesetz ablesen — zu einer möglichen Übereinstimmung jedenfalls über die Motive dieser Politik zu gelangen.Ich sage das so nachdrücklich, weil ich meine, daß man, wenn zumindest eine solche Gemeinsamkeit gefunden werden könnte, Differenzen, Meinungsverschiedenheiten in der Frage, auf welchen Wegen denn in der aktuellen Situation das gemeinsame Ziel jeweils erreichbar sei, leichter würde tragen können.Nur eines möchte ich dann gerne sagen. Herr Dr. Marx, Sie haben unterstellt, diese Worte von der Gemeinsamkeit, die hier ja auch sehr deutlich von der Koalitionsseite in dieser Debatte gesprochen worden sind, seien sozusagen eine Art Kapitulation von der Koalitionsseite her gewesen, ein Hilferuf nach der rettenden Hand der Opposition
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Ronneburgerin einer schwierigen Situation der Deutschlandpolitik.
— In diese Richtung ging doch wohl Ihre Äußerung. Übertreibung macht deutlich. Herr Dr. Marx, das haben auch Sie an anderen Stellen praktiziert.Voraussetzung einer solchen Gemeinsamkeit schien uns, wenn wir von ihr gesprochen haben, vielmehr zu sein, daß eine größere Erfolgsbasis für die gemeinsame Politik gefunden werden könnte, wenn man sich zu einem solchen Miteinander entschlösse.Schließlich sind wir auch davon ausgegangen, Herr Dr. Marx, daß gerade aus Ihrer Fraktion sehr wohl Stimmen zu hören waren, die eine solche Gemeinsamkeit befürworteten, obwohl Sie die Basis dafür nicht sehen. Herr Dr. Marx, vielleicht ist meine Enttäuschung über Ihre Ablehnung in dieser Frage unbegründet. Ich hätte nach dem, was Sie über die Reise und die Gespräche von Herrn Kiep gesagt haben, vielleicht damit rechnen sollen, daß Sie hier die Möglichkeit nicht sehen, die nach meiner Meinung in unser aller und auch im Interesse aller Deutschen in beiden Teilen unseres Vaterlandes liegt.
Voraussetzung dafür, daß wir in dieser Frage mehr miteinander als gegeneinander arbeiten, wäre allerdings, daß Sie in der Opposition Ihre Aufgabe nicht so sehen, wie Herr Dr. Kiesinger im WDR-Mittagsmagazin am 6. Mai des vorigen Jahres die Aufgabe der Opposition beschrieben hat. Ich darf mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren:Ja,— so lautete die Aussage von Herrn Dr. Kiesinger —die CDU ist Opposition, sie ist Opposition im Bundestag, und sie ist Opposition im Bundesrat, d. h., sie ist bundespolitisch Opposition.So weit will ich ihm noch zustimmen.
— Frau Berger, warten Sie bitte den nächsten Satz ab, denn jetzt kommt es überhaupt erst. Hier heißt es:Und es ist Aufgabe der Opposition, die Regierung in Schwierigkeiten zu bringen, so lange, bis die Regierung abgelöst ist.Genau hier liegt das falsche Verständnis dessen, was in einem demokratischen, parlamentarischen Staatswesen Aufgabe der Opposition ist.
Nach diesem Ausspruch sehen Sie also über Ihren legalen Wunsch hinaus, die Regierung abzulösen und nach der nächsten Wahl selber Regierungsverantwortung zu übernehmen, zwischen den WahlenIhre Aufgabe darin, der Regierung Schwierigkeiten zu machen, statt der Verfolgung der gemeinsamen Ziele — und über die gemeinsamen Ziele in diesem Zusammenhang waren wir uns doch wohl einig — Ihre Unterstützung zu geben, um um so eher im Interesse all derer zu handeln, die heute so oft wieder beschworen worden sind und deren Schicksal auch Herr Dr. Marx mit bewegten und bewegenden Worten hier wieder einmal geschildert hat.Wir müssen hier von der Frage sprechen, welche Möglichkeiten denn eigentlich für eine Deutschlandpolitik gegeben waren, und uns heute die Erfolge dieser Deutschlandpolitik ohne jede Euphorie einmal vor Augen führen. Herr Dr. Marx, Entschuldigung, ich komme immer wieder auf Sie zurück, weil in Ihren Äußerungen eigentlich am meisten von dem zu spüren war, was die gemeinsame Arbeit erschweren könnte: Die Verbesserung der Situation Berlins haben Sie nicht einmal erwähnt; sie war Ihnen in diesem Zusammenhang offenbar nicht einige Zeilen Ihrer Reden wert.
— Gut, dann darf ich in diesem Falle gespannt sein auf das, was da noch kommt.
Aber selbst angesichts dieser Ankündigung, Herr Dr. Marx, war enttäuschend, was Sie über die Vermehrung der Besucherzahlen gesagt haben, über die Vermehrung der Zahl derjenigen deutschen Menschen, die über diese Grenze, durch diese Mauer hin und her gehen.
— Ja, Sie haben gesagt: trotz der zugegebenermaßen gewachsenen Zahlen. Ich bitte, es nachzulesen.
— Ich glaube, es hat sehr wenig Zweck, daß wir uns jetzt über einzelne Formulierungen streiten, weil, Herr Dr. Marx, die Tendenz in Ihren Ausführungen meiner Meinung nach unstreitig so war, wie ich sie jetzt wiedergebe.Meine Damen und Herren, wissen Sie eigentlich gar nicht um die Resignation, um die Enttäuschung, die sich bei den Deutschen in der DDR in der Mitte der 60er Jahre auszubreiten begann? Sind Sie nicht drüben gewesen? Haben Sie nicht in Gesprächen gehört, wie diese Menschen ihre Enttäuschung darüber geäußert haben, daß wir uns in der Bundesrepublik so wenig um ihr Schicksal kümmern, daß uns bestimmte Prinzipien höher stehen als die Bereitschaft, auch einmal über solche Dinge hinwegzuspringen um des Schicksals dieser Menschen willen, um der Verbindung willen, um ihnen zu zeigen, daß uns an der Verbindung mit ihnen gelegen war?
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RonneburgerNur wenn Sie das nicht wissen sollten, ist es erklärbar, daß Sie den größeren Besucherstrom nicht in einem ganz anderen Zusammenhang sehen und in einem ganz anderen Maße zu werten versuchen.Ich will gerade nach dem, was Herr Professor Carstens heute morgen gesagt hat, noch einmal auf die Frage der Einheit der Nation und vor allen Dingen auf das zurückkommen, was er zur Frage der geschichtlichen Basis der heutigen Situation im geteilten Deutschland gesagt hat.Wenn wir von der Einheit der Nation sprechen, dann wird normalerweise immer aus der Präambel des Grundgesetzes der eine Satz zitiert „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden".
Nur, Herr Dr. Mertes, ich hätte gern, daß man sich in diesem Zusammenhang dann auch einmal den Schlußartikel 146 vor Augen hält,
der lautet: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist".
Hier, in diesem Spannungsbogen, liegt die eigentliche Aufgabe; sie liegt nicht nur in dem, was in der Präambel über die Einheit und Freiheit und deren Vollendung gesagt ist.
In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf: Sind die Bundesrepublik Deutschland auf der einen Seite und die DDR auf der anderen Seite immer noch ein Provisorium? Sind diese beiden Staaten auf deutschem Boden heute eigentlich nur noch Stationen auf dem Weg zu diesem angestrebten Ziel? Wenn wir diese Frage untersuchen und überlegen wollen, kommen wir nicht umhin, zu fragen, wie denn eigentlich dieses Problem in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland gesehen wird. Ich möchte etwas davor warnen, daß wir immer die Regierung der DDR, ihre politischen Ziele und ihre restriktive Abgrenzungspolitik uns gegenüber als das Haupthindernis auf dem Wege zur Erhaltung der deutschen Nation sehen. Ich würde gern jeden von uns in diesem Saal und jeden draußen im Land darauf aufmerksam machen, daß in der Gleichgültigkeit vieler Bundesbürger eine viel größere Gefahr für die Erreichung dieses Zieles liegt als in allem, was eine Politik tut, die mit Sicherheit unseren Widerspruch herausfordert und dadurch sicherlich auch Aktivitäten hervorruft, die unseren Zielen förderlicher sein können.
Wenn wir diese Frage der Zugehörigkeit zur deutschen Nation und der Stabilität dieser einen deutschen Nation untersuchen, sollten wir — Herr Professor Carstens und auch der Herr Bundeskanzler haben dies heute morgen getan — in das 19. Jahrhundert zurückblicken und an das Jahr 1806 denken, an die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Wir sollten über Frankfurt hinweg den Blick auf jenen Tag richten, an dem in Versailles die kleindeutsche Lösung mit der Folge etabliert wurde, daß dieser Verzicht auf einen Teil des ursprünglichen Gebietes dieses Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation inzwischen zu einem tatsächlichen Verzicht wurde, daß also die Existenz der Nation in ihrem vollen Umfang offenbar kein so sicherer Besitz ist — selbst unter so relativ stabilen Verhältnissen, wie wir sie in jener Zeit hatten —, wie wir uns das manchmal gern vorstellen möchten.Wenn wir von dieser Sicht der Dinge her sehen, daß 1945 zweifellos eine abermalige starke Belastung des Begriffs der deutschen Nation eintrat, daß eben diese deutsche Nation 1945 nicht ohne deutsche Schuld, aber gegen unseren Willen in eine Teilung geführt worden ist, die wir bis heute nicht haben überwinden können, dann — so meine ich — sollten wir nicht übersehen, daß in diesem Zusammenhang nicht nur das Moment der äußeren zwangsweisen Teilung seine Bedeutung hat, sondern auch das Abschneiden von Traditionen und das Einengen des Bewußtseins von der gemeinsamen deutschen Geschichte. Diese Einengung kann nicht auf dem Wege der Simplifizierung, wie Herr Professor Carstens das heute morgen getan hat, auf die Verdrängung des Geschichtsunterichts aus den' Schulen zurückgeführt werden, sondern sie hat im wesentlichen ganz andere Ursachen. Die Ursachen liegen nämlich darin, daß es ein verständliches, ein nachfühlbares Bestreben der jungen Generation gibt, durch die Ereignisse der Jahre von 1933 bis 1945 nicht belastet zu sein. Für diese jüngere Generation und auch für manchen aus unseren Jahrgängen ist daher das Jahr 1945 das Jahr Null einer neuen Geschichte, der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Denn mit den Jahren von 1933 bis 1945 wird nicht etwa nur ein Abschnitt der deutschen Geschichte gedanklich ausgeklammert, sondern es wird alles den Berg hinuntergedrückt, auch das, was vorher war.Ich stimme insofern völlig mit Herrn Carstens, obwohl ich die Ursachen anders sehe, darin überein, daß in diesem Abschneiden von unserer Tradition und Geschichte für die Erhaltung der deutschen Nation eine ganz schwerwiegende Behinderung zu sehen ist. Hier liegt eine wesentliche Aufgabe von uns allen, dies zu verhindern und zu erreichen, daß wir zwar mit der Bundesrepublik Deutschland, mit unserem Staat zu leben haben, daß wir ihn aber immer noch in dieser einen Hinsicht als ein Provisorium und tatsächlich als einen Schritt auf einem Wege betrachten.
Ich möchte in diesem Zusammenhang aber nachdrücklich davor warnen, zu überschätzen, was die DDR mit ihrer Verfassung getan hat. Die Streichung
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Ronneburgerdes Passus von der deutschen Nation wird keine geschichtlichen Wirkungen haben. Das, was wir hier bei uns möglicherweise versäumen, halte ich für viel schwerwiegender, gerade weil die immer wieder erfolgte Erwähnung der sozialistischen Nation drüben und der bürgerlichen Nation hier, der Staatsangehörigkeit „DDR" und Nationalität „deutsch" uns ja zeigen, daß dieses Problem drüben mindestens die gleiche Brisanz hat wie auch bei uns. Nationen werden nicht durch Federstriche geschaffen, sie werden aber auch nicht durch Federstriche aufgelöst.Ich bin Herrn Gradl, Ihrem Kollegen in der Opposition, sehr dankbar, daß er in einer Veröffentlichung zu Fragen des Nationalbewußtseins nachdrücklich darauf hingewiesen hat, Deutschlandpolitik erfordere ständiges Ringen, auch um die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Dies ist eine grundlegende notwendige Erkenntnis, eine Erkenntnis, die gerade ihre Bedeutung gewinnt — auch das sollten Sie nicht übersehen — im Zusammenhang mit dieser Deutschlandpolitik, die seit 1969 betrieben wird. Denn diese Deutschlandpolitik hat auch ihre Wirkung in unserer eigenen Bevölkerung gehabt. Es kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß das Interesse für deutschlandpolitische Fragen in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland heute lebendiger und aktiver ist, als es das bis 1969 war.
Tradition — ich habe das neulich einmal gehört,ohne die Quelle jetzt angeben zu können —, Tradition wurde kürzlich einmal definiert als die Bemühung, eine Flamme am Brennen zu halten und nicht Asche aufzubewahren. Hier erwähne ich dies in diesem Zusammenhang, weil ich auch gerade Sie in der Opposition vor einer Illusion bewahren möchte.Wir hatten in dieser Frage nicht etwa viel Zeit. Herr Professor Carstens hat heute morgen gefragt, ob denn eigentlich die USA uns gedrängt hätten, in diese Verhandlungen mit der DDR einzutreten, oder nicht.
Da muß ich Herrn Professor Carstens fragen, ob er es eigentlich immer für richtig und angebracht hält, daß wir mit unseren politischen Entscheidungen warten, bis irgend jemand anders, auch möglicherweise ein Verbündeter, uns dazu drängt, oder ob es nicht vielmehr darauf ankommt, daß wir unsere eigenen Maßnahmen in dem Moment, wo sie im Gesamtzusammenhang richtig und notwendig sind, von uns aus beschließen und in die Wege leiten.
Ich sage noch einmal: wir hatten in dieser Frage nicht viel Zeit. Die Zeit arbeitete nicht für uns, wenn wir sie nicht ganz entschieden nutzten. Wir konnten es uns, meine Damen und Herren, einfach nicht mehr leisten, Deutschlandpolitik lediglich als Abgrenzung von der DDR zu betreiben. Die Unterschiede der zwei Staaten auf deutschem Boden, die Gegensätzlichkeit gesellschaftlicher Entwicklungen als Dauervorwand sozusagen für das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen der DDR hätte gerade jene Voraussetzungen verspielt — und dann vermutlich unwiederbringlich —, auf denen die deutsche Nation heute noch beruht. Ich betone dieses „noch", nicht weil ich in dieser Frage resignieren will, sondern weil diese genannten Voraussetzungen im Bewußtsein der deutschen Menschen liegen und weil unsere Verantwortung in dieser Frage über die Generationen hinausreicht, wegen der Langfristigkeit der zu lösenden Probleme über die Generationen hinausreichen wird, zu deren persönlichen Erfahrungen die Existenz eines einheitlichen deutschen Staates noch gehört.Ich halte dies für um so wichtiger, als diese Abkehr in unserer Deutschlandpolitik vom Prinzip der Abgrenzung sich darin begründet, daß gerade diese Abgrenzung als Mittel oder vielleicht sogar noch mehr als Ziel der Politik von der Regierung der DDR betrieben wird. Hier richte ich auch an diejenigen, meine Damen und Herren, die von der Opposition bisher heute hier gesprochen haben, eine sehr nachdrückliche Frage. Abgrenzung, das ist die Politik der Regierung der DDR, und wer einmal über die Situation dieser Regierung nachdenkt, wird möglicherweise sogar die Motive erkennen können, in denen sie begründet ist.
— Sie können es so nennen, wenn Sie wollen. Auf die Formulierung lege ich im Moment nicht so entscheidenden Wert.
Diese Politik der Abgrenzung wird ja als Mittel und Ziel der DDR-Politik von uns gar nicht bestritten. Nur frage ich Sie: Was eigentlich soll denn nach Ihrer Meinung dieser Politik der Abgrenzung entgegengesetzt werden? Was wäre denn damit für die deutsche Nation und ihre Erhaltung gewonnen, wenn auch wir abgrenzten und wenn damit dieses Auseinanderleben unaufhaltbar weitergegangen wäre
und, Herr Jäger, Sie und Ihre Freunde möglicherweise
damit wirklich den Grundgesetzauftrag zu einer Illusion gemacht hätten?
— Herr Jäger, ich meine, Sie sollten sich nicht aufregen. Sie sind in Ihren Formulierungen und Ihren Fragestellungen nicht so vorsichtig, wie Sie es von uns gerne hätten. Und wenn wir gerade bei Fragestellungen sind: nicht alle Ihre Fragen sind so, daß die Antworten auf sie ohne Heiterkeit des Hauses gegeben werden können. Ich will hier kein besonderes Ereignis nennen, aber daß Fragestellung
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Ronneburgerzu Ihren Spezialitäten gehört, spricht noch nicht für die Qualität der Fragen.
Herr Kollege, gestatten Sie die Zwischenfrage des Herrn Kollegen Mertes?
Ja, bitte!
Herr Kollege Ronneburger, würden Sie es am 30. Januar 1975 für richtig halten festzustellen, daß es gut ist, wenn man rechtzeitig die eigenen demokratischen Werte hochhält und sich gegen jede Wertneutralität nach rechts und nach links sauber abgrenzt?
Ich habe keine Bedenken, diese Frage zu bejahen, da es nicht in der Politik dieser Regierung oder dieser Koalition liegt, demokratische Grundwerte von irgend jemand innerhalb oder außerhalb dieses Hauses in Frage stellen zu lassen.
Im übrigen frage ich mich, sehr verehrter Herr Kollege Dr. Mertes, woher Sie eigentlich die Begründung für diese Frage eben genommen haben.
Aber kommen wir zu dem Problem zurück: Was eigentlich wäre denn der Politik der Abgrenzung seitens der DDR entgegenzusetzen, wenn nicht unser Bemühen, über diese Versuche hinweg jene Menschen zu erreichen, die als Deutsche und als Bürger der DDR jenseits dieser schmerzlichen Grenze leben, deren Gesamtzustand heute ja mehr als einmal besprochen, dargestellt und beklagt worden ist? Wie anders soll man denn auf diese Politik der Abgrenzung reagieren, die zu beseitigen sicherlich nicht in der Macht desjenigen liegt, der Gewalt nicht anzuwenden wünscht? Ich glaube, in dieser Frage sind wir ja wohl sicherlich einig.
Herr Carstens hat heute morgen diese Abgrenzung noch einmal sehr deutlich dargestellt, aber auch er hat die Frage nicht beantwortet, wie man denn auf diese Abgrenzung im positiven Sinne anders reagieren soll, als es diese Bundesregierung und mit ihr die Fraktionen der Koalition zur Zeit und seit 1969 tun.
Selbstverständlich gibt es Gegensätze und Antagonismen der politischen Zielrichtungen, die auch mit einem Vertrag nicht aus der Welt geschafft werden können. Von dieser Realität der Antagonismen und Gegensätze geht ja auch der Grundvertragexpressis verbis aus. Er klammert diese Dinge nicht aus, er verschweigt sie nicht einmal, sondern er spricht von ihnen und nennt die Punkte, über die keine Gemeinsamkeit zu erzielen war.Herr Professor Carstens hat heute gefragt, wann denn die deutsche Frage möglicherweise gelöst sei. Ich kann ihn nur noch einmal nachdrücklich auf das Grundgesetz verweisen und bitten, dort nachzulesen, was auf diese Frage einzig und allein als Antwort gesagt werden kann.Meine Damen und Herren, der Grundvertrag und das, was wir in der Deutschlandpolitik bis heute erreicht haben, sind sicherlich noch nicht die Lösung der deutschen Frage, und sie können es auch nicht sein. Doch ich sage hier aus voller Überzeugung: Der Grundlagenvertrag, diese Tendenz der Deutschlandpolitik, war ein notwendiger, ein wichtiger Schritt dazu, auf dem Wege über Gewaltverzicht durch Verhandlungen und Folgeverträge ein weiteres Auseinanderleben der beiden Teile Deutschlands zu verhindern, Zusammenarbeit zwischen Menschen, Organisationen und Institutionen zu ermöglichen.Damit kommen wir zu der anderen Frage, zu der ich jetzt im einzelnen gar keine Erfolgsbilanz mehr darstellen will. In direktem Zusammenhang mit dieser nationalen Frage steht doch selbstverständlich das Bemühen dieser Deutschlandpolitik, den Menschen, vor allen Dingen auch denen im anderen Teile Deutschlands, zu dienen. Dies ist der zweite Aspekt der Deutschlandpolitik dieser sozialliberalen Koalition. Ich war darauf vorbereitet, dies mit einigen Zahlen und Fakten unter Erwähnung der Situation in Berlin im einzelnen darzulegen. Das ist inzwischen von anderer Seite her mehrfach geschehen. So hat u. a. der Herr Regierende Bürgermeister insbesondere die Lage in Berlin nachdrücklich und eindringlich dargestellt.
Ich kann darauf verzichten, das im einzelnen auszuführen. Nur: daß diese Menschen drüben, um die es uns gemeinsam geht, Ziel auch dieser Politik sind, sollte nicht übersehen werden.
Ich hatte mich dann auch darauf vorbereitet, meine Damen und Herren, in dem Sinne der Erreichung von Gemeinsamkeit einige Zitate aus Ihren Reihen zu bringen, von denen ich meine, daß sie sich nicht wiederholen dürften, wenn wir diese Gemeinsamkeit tatsächlich erreichen wollen. Ich kann inzwischen auf frühere Zitate verzichten, weil mir die heutige Debatte genügend neues Material geliefert hat.
Ich erinnere z. B. daran, daß Herr Kollege Dr. Marx in seinen Ausführungen Unterstellungen gegenüber den Zielsetzungen der Deutschlandpolitik gebracht hat, die nun wirklich die Frage stellen lassen, ob in dem Sinne, wie Sie es vorhin beantwortet haben, die Basis für eine Gemeinsamkeit gegeben ist. Auch Herr Professor Carstens — darauf ist von meinen
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RonneburgerFreunden zum Teil schon hingewiesen worden — hat ja einige Unterstellungen hier heute gemacht, die nun wirklich schwer als Angebot der zukünftig gemeinsamen Arbeit gesehen werden können.Aber eines aus Ihren Ausführungen, Herr Dr. Marx, würde ich denn doch gern aufgreifen. Sie haben heute noch einmal gesagt, was Sie innerhalb und außerhalb dieses Hauses schon mehrfach ausgeführt haben: daß der Graben quer durch Deutschland heute tiefer sei als vorher. Ich bestreite Ihnen diese Aussage mit allem Nachdruck.
Auch hierzu wäre es vielleicht gut, die Zahlen zu wiederholen, die Herr Minister Franke vorhin hier genannt hat. Dieser Graben, Herr Dr. Marx, ist nicht tiefer geworden. Ich sage Ihnen: Uns kommt es darauf an, mit dieser Politik zu erreichen, daß mehr Möglichkeiten entstehen, diesen Graben zu überspringen, diese Grenze zu überschreiten, diese Mauer legal zu überwinden.Und wenn hier immer von dem Schicksal der deutschen Menschen die Rede ist, so frage ich mich, Herr Dr. Marx: Haben Sie eigentlich nicht damals im Fernsehen die Szenen beobachtet, wie bei der Wiedereröffnung der Grenzübergänge nach Ost-Berlin die West-Berliner zum ersten Mal wieder nach drüben konnten? Ist das eigentlich alles vergessen? Ist das nicht das Schicksal von Menschen? Und ist hier nicht etwas erreicht worden, was nun gerade in diesem Sinne ein Schritt voran ist in einer Politik, die dem Menschen dienen soll? Wissen Sie eigentlich nicht, meine Damen und Herren, daß jeder Schritt, den ein Deutscher ob von Ost nach West oder von West nach Ost — über diese Grenze hinweg tut, ein Schritt auf dem Wege zum Erreichen dieses Zieles ist, von dem wir immer sagen, daß wir es gemeinsam anstreben wollen?Abschließend möchte ich die Frage noch einmal aufgreifen, die auch Herr Professor Carstens heute morgen behandelt hat, nämlich die Frage nach der Abgrenzung in den 50er und 60er Jahren und nach der Gemeinsamkeit dieser Politik in jenen Jahren. Dabei möchte ich auf jeden Fall zunächst einmal für meine Partei in Anspruch nehmen, daß wir schon sehr früh auf die Notwendigkeit einer Änderung dieser politisch starren Haltung hingewiesen haben.
— Sie wissen vielleicht, Herr Professor Abelein auch wenn Ihr Zwischenruf vermuten läßt, daß Sie es nicht wissen— daß auch damals die FDP derkleinere Koalitionspartner war,
und daß es innerhalb einer Koalition Kompromisse geben muß, in denen sich der kleinere nicht immer durchzusetzen vermag. Aber daß wir innerhalb dieser Koalition — das werden diejenigen aus Ihrer Fraktion, die damals dabei waren, nicht bestreiten — damals durch unsere Freunde diese Wünsche und Mahnungen bereits geäußert haben, danach erkundigen Sie sich bitte einmal bei denen, die es aus ihrer eigenen persönlichen Erfahrung wissen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Ronneburger, bei voller Würdigung der menschlichen Erleichterungen für den Zusammenhalt der deutschen Nation: Geben Sie mir zu, daß der jetzige internationale Status der DDR, die der entscheidende politisch-rechtliche Preis für diese menschlichen Erleichterungen gewesen ist und daß dieser Preis zur Vertiefung der Spaltung Deutschlands in einem ganz anderen Sinne führen kann?
Nein! Das bestreite ich ganz ausdrücklich, Herr Dr. Mertes. Sehen Sie einen entscheidenden Unterschied darin, ob dieser Prozeß der internationalen Anerkennung der DDR sich möglicherweise hätte verlangsamen lassen oder ob er mit unserer Billigung sozusagen in einem kürzeren Zeitraum abgelaufen ist? Wissen Sie, Herr Dr. Mertes — natürlich wissen Sie es! —, daß es ja schon zu Beginn dieser Verhandlungen eine ganze Reihe von Staaten in der Welt gab, die mit der DDR diplomatische Beziehungen aufgenommen hatten bzw. mit ihnen darüber in Unterhandlungen waren?
— 14 Staaten finden Sie unbedeutend?
— 14 Staaten als Beginn einer Entwicklung finden Sie unbedeutend, Herr Professor Abelein?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Herr Kollege Ronneburger, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß der Prozeß der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR sich bereits in voller Entwicklung befand und daß wir, wenn wir noch länger zugewartet hätten, weniger bei den Verhandlungen um den Grundlagenvertrag erreicht hätten?
Gerade das, Herr Kollege, versuchte ich den Damen und Herren von der Opposition klarzumachen.
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Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Dr. Mertes?
Eine entscheidende Frage, Herr Dr. Mertes — wenn Sie mir jetzt einen Satz dazwischen gestatten — ist doch, wie wir unser Verhältnis zur DDR sehen und ob wir deutlich zu machen vermögen, daß zwischen uns und der DDR, zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, ein Verhältnis besteht, das anders ist, als zu anderen Staaten der Welt, das heißt, daß wir diese DDR in unserem Verhältnis zu ihr nicht als Ausland ansehen.
Herr Kollege, gestatten Sie zwei weitere Zwischenfragen?
Ja.
Herr Jäger hat sich zuerst gemeldet.
Herr Kollege Ronneburger, ist Ihnen nicht erinnerlich, daß das Bestreben zur Anerkennung der DDR durch Drittstaaten außerhalb des Ostblocks in größerem Umfang erst in dem Augenblick einsetzte, als diese Staaten erkennen konnten, daß die neue Bundesregierung nach 1969
an der bisherigen Politik, nämlich der Nichtanerkennungspolitik, nicht mehr festzuhalten bereit war?
Herr Kollege Jäger, ich möchte Ihre Frage gern mit einem Zitat aus einem Interview des Außenministers der Vereinigten Staaten, Herrn Kissinger, beantworten. Ich bitte genau zuzuhören:
Eine rein pragmatische Politik entbehrt völlig der Beziehung zur Wirklichkeit und führt zu leerer Pose.
— Augenblick. Soviel Zeit werden Sie haben, Herr Professor, um das ganz zu hören. —
In der Außenpolitik steht man immer vor einer schwierigen Wahl. Man steht alle Zeit vor dem Problem, daß man im Augenblick der Entscheidung nicht weiß, wie das Ergebnis sein wird. Man braucht die moralische Überzeugung, damit man die Kraft hat, die schwierige Wahl in einem Augenblick zu treffen, da der Erfolg ungewiß ist.
Das nehme ich auch für die Entscheidungen der sozialliberalen Koalition in dieser Frage in Anspruch. Aber ich nehme zugleich in Anspruch, daß wir die moralische Überzeugung von der stärkeren Kraft
unserer demokratischen Argumente auch gegenüber den Staaten des Ostblocks und gegenüber der DDR haben und daß wir darum in diesen Wettbewerb und diese Auseinandersetzung mit einem gehörigen Maß an Selbstvertrauen und Sicherheit dessen, daß wir uns dort bewähren werden, hineingegangen sind.
Bitte!
Herr Kollege Ronneburger, ist Ihnen bekannt, daß bis zur Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 nur zehn kommunistische Staaten, fünf arabische Staaten und Kambodscha die DDR völkerrechtlich-diplomatisch anerkannt hatten?
Herr Professor Abelein hat soeben schon die Zahl 14 genannt. Wenn ich mich recht erinnere, trifft diese Zahl zu jenem Zeitpunkt zu. Aber sie ist ja auch nicht als absolute Zahl zu sehen, sondern als Beginn einer Entwicklung;
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einer Entwicklung, die wir mit Sicherheit nicht hätten aufhalten können. Aber lassen wir jetzt die Spekulationen. Daß diese 14 Staaten nicht allein geblieben wären, ist, glaube ich, etwas, was auch von Ihnen nicht bestritten werden kann.
Ich möchte abschließend gerne noch auf einen Umstand hinweisen, der mir wichtig erscheint. Wenn es uns tatsächlich um die Menschen geht, die in der DDR leben, dann sollten wir doch nüchtern sehen und uns darüber im klaren sein, daß in der augenblicklich gegebenen Situation der Weg zu diesen Menschen und der Weg, auf dem man sich um sie kümmern und ihnen möglicherweise Hilfe bringen kann, eben nur über jenen Staat geht, den es nun einmal gibt, ob Sie ihn mit Anführungszeichen schreiben oder nicht; der Weg kann nur über diesen Staat gefunden werden. Diese Sicht der Realität ist es, die ich heute morgen bei Herrn Professor Carstens vermißt habe,
als er sagte, man habe in den 50er und 60er Jahren keine Politik der Abgrenzung betrieben.Entscheidend ist die Frage, ob man denn bereit war, angesichts dieser Realität den einzig gangbaren Weg zu suchen, um denen nahe zu sein und zu helfen, die heute in dieser Debatte immer wieder genannt und deren Schicksal immer wieder beklagt worden ist. Daher halte ich die Aufforderung durch Herrn Professor Carstens zur Vaterlandsliebe für unnötig. Entscheidend ist, was getan wird, und entscheidend ist, wer aktiv für die Erhaltung der Nation wirkt und eintritt und wer dafür unter Umständen auch das Risiko jener in moralischer Überzeu-
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Ronneburgergung getroffenen Entscheidung eingeht, von dem ich vorhin gesprochen habe.
Nichts gegen die Vaterlandsliebe. Aber die Rede von ihr alleine tut es nicht.Mit Genehmigung der Frau Präsidentin würde ich gern abschließend noch aus einer Erklärung des Kuratoriums unteilbares Deutschland vom 17. Juni 1973 zitieren. Es heißt hier:Die Teilung Deutschlands ist gegen den Willen der Deutschen, aber nicht ohne deutsche Schuld zustande gekommen. Das System der Mächte, das sich als Antwort auf den unmenschlichen Nationalsozialismus schließlich ergeben hat, wird die Grundstruktur des europäischen Kontinents für eine überschaubare Zukunft bleiben. Gegenwärtig leben wir Deutsche in zwei völlig gegensätzlichen gesellschaftlichen und politischen Ordnungen. Gerade deshalb müssen wir auf die Sicherung des Friedens und den Abbau der Spannungen hinarbeiten.Und abschließend noch einen Satz etwas weiter unten:Es ist Aufgabe der vor uns liegenden Zeit, das Bewußtsein der Einheit der Nation zu erhalten. Gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur sind unauslösliche Bestandteile dieser Einheit der Nation. Die durch jahrelange Trennung verschütteten menschlichen Beziehungen gilt es Schritt für Schritt noch zu beleben.Ich hoffe, wir alle sind uns der Verantwortung bewußt, die damit vor uns allen ausgesprochen ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Kreutzmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vorsitzende der Unionsfraktion, Herr Professor Carstens, hat sich heute, einen Appell des Bundeskanzlers aufgreifend, dafür ausgesprochen, in den Schulen wieder einen verstärkten Geschichtsunterricht einzuführen. Ich meine aber, daß seine Rede eine eindrucksvolle Demonstration für die Notwendigkeit des zeitgeschichtlichen Unterrichts gewesen ist.
Herr Professor Carstens hat, um nur ein Beispiel zu nennen, behauptet, Verwandtenbesuche, Besuche von Berlinern in der DDR und der Transitverkehr hätten auch in den fünfziger und sechziger Jahren weitestgehend funktioniert. Ich glaube, das kann man doch nicht sagen. Herr Professor Carstens, es gab damals, zumindest seit 1961, keine, oder nur in ganz krassen Ausnahmefällen, Besuche von Personen unter 60 Jahren aus der DDR in der Bundesrepublik.Heute können jährlich etwa zwischen 40 000 und 60 000 solcher Besucher bei besonderen Familienanlässen in die Bundesrepublik kommen. Der Transitverkehr — das wissen wir doch alle, und wir habenunsere eigenen Erfahrungen damit gemacht — war damals ständigen Repressalien ausgesetzt. Einen grenznahen Verkehr hat es überhaupt nicht gegeben. Und seither haben 380 000 Menschen im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs Besuche bei ihren Verwandten und Angehörigen in dem anderen deutschen Staat gemacht.An der Zeitgeschichte aber vollends vorbei ist Herr Kollege Dr. Carstens gegangen, als er den Anschein zu erwecken versuchte, als ob die heutige Opposition seit Gründung der Bundesrepublik unablässig für die staatliche Einheit der Nation eingetreten wäre und in ihrer Politik stets nur dieses eine Ziel vor Augen gehabt hätte. Daß dem nicht so war, lassen Sie mich an Hand einiger Zitate deutlich machen, wobei ich gleich dazu sagen möchte: Manche müssen sehr aus der Zeit heraus gesehen und verstanden werden. Was wir aber von Ihnen erwarten, ist, daß Sie auch die Politik dieser Regierung aus dieser Zeit und ihren Notwendigkeiten heraus sehen und begreifen.
Wir sind der Meinung, daß diese Regierung die Politik macht, die in der Deutschlandfrage und der Ostpolitik die aus der Zeit heraus einzig richtige ist, während Sie nach unserer Meinung wenigstens in Teilen ihrer Fraktion in dieser Politik in eine Vorstellungswelt zurückgefallen sind, von der kürzlich eine kirchennahe Zeitung einmal geschrieben hat, sie passe eigentlich mehr in die Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts, in die Zeit der Paulskirche oder die Heinrich von Treitschkes.
Aber nun zu den erwähnten Zitaten. Sie tun heute so, als müsse diese Regierung immer gedrängt werden, die Rechte Berlins wahrzunehmen. Wie aber sah Ihre Berlin-Politik teilweise in den vergangenen 25 Jahren aus? Lassen Sie mich hier einen gewiß für Sie unverdächtigen Zeugen zitieren: ich meine Ernst Lemmer. In seinen Erinnerungen „Manches war doch anders" heißt es über eine Sitzung der damaligen Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU am 6. und 7. Februar 1947:Vor allem wurde über die Frage diskutiert, wo der Sitz einer zu bildenden überzonalen Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU sein sollte. Wir Mitteldeutschen traten selbstverständlich für Berlin ein. Dabei stießen wir jedoch auf unerwarteten Widerstand bei vielen angesehenen und auch sonst geschätzten westdeutschen Freunden. Besonders Adenauer widersetzte sich unserem Vorschlag ganz entschieden ... Eine Tatsache war nicht zu übersehen: Unsere Freunde im Westens vertrauten uns nicht mehr uneingeschränkt.Was man den Berlinern von Staatssekretär Lahr mit den Pässen zumutete, ist in diesem Haus oft genug erwähnt worden. Ich darf hier vielleicht noch an einen anderen Vorgang erinnern. Auf eine Intervention des damaligen Berliner Bürgermeisters Willy Brandt hin antwortete der Staatssekretär van Scherpenberg im Auftrag von Minister Heinrich von Brentano über die Frage der Nichteinbeziehung Berlins
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Dr. Kreutzmannin einen deutsch-sowjetischen Konsularvertrag und den zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik im Frühjahr 1958 abgeschlossenen Handelsvertrag:Wie Ihnen aus Ihren Gesprächen mit dem Herrn Bundesminister und Botschafter Lahr bereits bekannt ist, hat die sowjetische Seite während der gesamten Verhandlungsdauer trotz wiederholter Bemühungen unserer Delegierten abgelehnt, Berlin-Klauseln in irgendeiner Fassung, nicht nur in der Fassung „Land Berlin", in die Verträge aufzunehmen. Bei dieser Haltung der Sowjetunion gab es für die Bundesregierung keinen anderen Weg als den der Unterzeichnung der Verträge ohne Berlin-Klausel. Sie werden meine Auffassung teilen, daß das Zustandekommen der Verträge ohne Berlin-Klausel einem Scheitern der Verhandlungen vorzuziehen war.Diese Regierung hat sich bei jedem ihrer Verträge, den sie seit dem Grundvertrag, seit dem Berlin-Abkommen geschlossen hat, immer wieder leidenschaftlich und mit Nachdruck bemüht, eine erfolgreiche Berlin-Klausel in den Verhandlungen zu erreichen.Daß sich diese Äußerung von damals, von Adenauer und danach, nicht nur auf die geographische Lage Berlins bezogen, sondern daß sie grundsätzlich gemeint waren, möchte ich an einem Zitat aus dem „Spiegel", Nummer 35/1961, deutlich machen, wo aus einem Brief Adenauers zitiert wird:Ich habe Herrn Kaiser ausdrücklich erklärt, daß es für den Westen wie für den Süden Deutschlands ganz ausgeschlossen ist, daß nach einer Wiedererrichtung Deutschlands die politische Zentrale des neuen Deutschland in Berlin ihren Sitz finde. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob und von wem Berlin und der Osten besetzt seien.
Und Herr Dr. Dregger geht nach Berlin in Wahlversammlungen und verkündet dort, daß das Ziel sein müsse, Berlin müsse wieder die Hauptstadt Deutschlands werden!Was schließlich Ihre Einstellung zur deutschen Einheit in jenen Jahren betrifft, in denen sie unzweifelhaft noch eher möglich war als heute, so lassen Sie mich auch dazu einige Zitate in Erinnerung bringen. Ich tue das nicht, um mich etwa an diesen Zitaten zu begeistern, sondern um Ihnen vielleicht damit einmal einen Anlaß zum Nachdenken zu geben, Sie herunterzubringen von dem hohen Roß Ihrer Beurteilung der Politik dieser Regierung und Sie zu veranlassen, sich einmal einige Gedanken über Ihren eigenen Weg zu machen.Nach der amerikanischen Zeitschrift „Newsweek" vom 30. September 1954 sagte Bundeskanzler Adenauer zu dem damaligen französischen Ministerpräsidenten Mendès-France:Sie verlieren nichts, wenn Sie die deutsche Ein-heit opfern; doch wir sind bereit sie zu opfern,wenn wir in ein starkes westliches Lager eintreten können.
Sagen Sie nun nicht, das sei über 20 Jahre her, und das sei eben eine der spezifischen Eigenheiten des damaligen Bundeskanzlers gewesen.
Vielleicht lesen Sie noch einmal die Rede Thomas Dehlers vom 23. Januar 1958 in diesem Hause nach, aus der die ganze Verzweiflung dessen spricht, der Ihre damalige Deutschlandpolitik miterlebt und miterlitten hat! Da heißt es u. a.:Da kam die Berliner Konferenz, Januar bis Februar 1954 . . . Ich bin damals im Auftrage meiner Fraktion nach Berlin gefahren, Beobachter bei dieser Konferenz war damals der jetzige Botschafter Blankenhorn. Er empfing mich mit den Worten: „Herr Dehler, Sie brauchen keine Angst zu haben, es kommt nichts zustande." Der Herr Bundeskanzler hat hinterher gesagt: „Da war nichts auszuhandeln, und da ist nichts einzuhandeln."Sehen Sie, und da werfen Sie dieser Regierung vor, sie habe mit ihrer Politik die deutsche Einheit verspielt oder zumindest aussichtsreiche Positionen aufgegeben!Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch noch einige Zitate von Herrn Strauß erwähnen. Er erklärte 1958 in diesem Bundestag:Ist es denn die Wiedervereinigung, die uns in t erster Linie drängt, quält, bedrückt und treibt? Es ist doch weniger die Wiedervereinigung im Sinne der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, es ist doch mehr das Herzensanliegen der Wiederherstellung demokratischer und menschenwürdiger Zustände in diesem Gebiet.
1968 sagte er:Und ich glaube nicht an die Wiederherstellungeines deutschen Nationalstaates, auch nicht innerhalb der Grenzen der vier Besatzungszonen.Ich habe diese Zitate hier nicht deswegen gebracht, um die in diesem Hause beliebte Kunst, Widersprüche aufzuzeigen, zu üben. Ich habe sie hier vorgebracht, um deutlich zu machen, wie wenig es für diese Opposition angebracht ist, dieser Regierung ein Versagen in der deutschen Frage zu unterstellen.
Sie hat versucht, aus der deutschen Realität heraus zu handeln und von dem Zusammenhalt der Nation zu retten, was noch gerettet werden kann. Das ist nicht möglich mit deklamatorischen Erklärungen, mit ständigen Anklagen und mit dem Sonnen in der eigenen Rechthaberei. Politik für den Zusammenhalt der Nation in unserer Zeit ist harte Kärrnerarbeit, ist das Bemühen, in Geduld und Ausdauer den Menschen in Deutschland so viel Menschlichkeit wie
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Dr. Kreutzmannmöglich zu retten, so viel Zusammenarbeit zu bewahren, wie unter den gegebenen Umständen möglich ist.
Was diese Regierung von ihren Vorgängerinnen unterscheidet, ist, daß sie den Mut hat, nach der Einsicht zu handeln, mit dem alleinigen Beharren auf Rechtsstandpunkten und mit dem Appellieren an die nationalen Gefühle könne man auf die Dauer nur einen immer stärkeren Prozeß der Entfremdung heraufbeschwören. Sie hat deshalb alles darangesetzt, fern von jedem Versuch politischer Infiltrationsaktionen die menschlichen Kontakte zu erhalten. Daß dafür ein Preis zu bezahlen war und zu bezahlen ist, war doch letzten Endes auch schon Ihrem Bundeskanzler Kiesinger klar, als er seinerzeit die ersten Direktverhandlungen mit der DDR einleitete. Glauben Sie doch nicht, es wäre möglich gewesen, lange Zeit Verhandlungen auf höchster Ebene mit der DDR zu führen, ohne daß man gezwungen gewesen wäre, diesen Staat in irgendeiner Form anzuerkennen!Ich möchte hier mit allem Nachdruck sagen: Wenn Sie dauernd davon reden, wir hätten die Basis gemeinsamer Politik verlassen und damit eine gemeinsame Deutschlandpolitik unmöglich gemacht, so fällt dieser Vorwurf auf Sie zurück. Nicht wir haben diese gemeinsame Basis verlassen; diese Basis wurde von Ihnen verlassen, als Sie Angst vor Ihrer eigenen Courage bekamen,
als Sie sich wieder auf die Evergreens Ihrer Wahlpropaganda besannen und zu einer Politik zurückkehrten, in der kein Platz für Direktgespräche und Verhandlungen mit der DDR war — auch wenn Sie immer wieder das Gegenteil betonen. Das mag Ihnen als Partei hier und da genützt haben; den Menschen im geteilten Deutschland haben Sie damit keinen Schritt weitergeholfen.Der DDR fiele sicher die Rechtfertigung ihrer Abgrenzungspolitik erheblich schwerer, wenn nicht manche Äußerungen aus Ihrem Lager dazu benutzt würden, diese Abgrenzungspolitik zu rechtfertigen. Sie hätte dann auch nicht die Ausrede parat, man wisse ja nicht, was mit den Verträgen würde, wenn Sie wieder an die Macht kämen und Ihre Politik der Nichtanerkennung weiterführen könnten. Ihren Beteuerungen, Sie könnten die Verträge ja nicht rückgängig machen, man müsse mit ihnen leben, schenkt man ja dort drüben keinen Glauben, und das wird so lange der Fall sein, wie Sie den Verträgen jede Besserung der Beziehungen absprechen. So naiv sind Sie doch wirklich nicht, um zu glauben, mit diesen Verträgen hätte man aus einem kommunistischen Regime in der DDR ein demokratisches machen können.
Das hätten Sie niemals erreicht. Nun tun Sie so, als ob man das von dieser Regierung erwarten könne. Diese Verträge sind ja nicht mehr als ein Anfang. Sie sind aber immerhin eine Möglichkeit zum Einstieg in das Bemühen, die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten zunächst einmal zu normalisieren und auf längere Sicht dann gutnachbarliche Beziehungen herzustellen.Ich weiß, daß schon das Zusammenbringen des Begriffes „gutnachbarlich" mit der DDR bei vielen von Ihnen Leibschmerzen auslöst. Wie wollen Sie in den Beziehungen zur DDR aber eigentlich vorankommen, wenn Ihre Haltung nur von Emotionen bestimmt ist und Sie solche Perspektiven für ganz und gar ausgeschlossen halten?
Das kann man doch nur, indem man die kommunistische Ideologie für so stark und dynamisch, für so unüberwindbar hält, um weder an ihre Änderung noch an ihre Vermenschlichung zu glauben, daß man sich ihr, um es noch krasser zu sagen, rettungslos unterlegen fühlt. Das aber scheint mir gegenüber der Idee der freiheitlichen Demokratie und ihrer Durchschlagskraft, die wir ja wohl alle in diesem Hause vertreten, mehr als nur kleinmütig zu sein.Grund zu solchem Pessimismus hätten wir, wenn die Verträge tatsächlich jenes Fiasko verkörperten, das Sie ihnen unterstellen. Dem ist aber nicht so. Allein aus meinem eigenen kleinen Lebensbereich kann ich Ihnen berichten, daß mit Hilfe des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen und der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin im letzten Jahr zwei Häftlinge entlassen wurden — darunter eine junge Frau, die bei dem Versuch, die Grenze bei Preßburg zu überschreiten, gefaßt wurde und wegen Republikflucht zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt war —, daß ein Brautpaar zusammengeführt wurde, das acht Jahre darum gekämpft hatte, zusammenzukommen, daß ein Theologiedozent der Ostberliner Universität, der dort Bücherkarren schieben mußte, um sein Leben zu fristen, in die Bundesrepublik umsiedeln konnte, daß eine ganze Reihe von Vereinen und Organisationen — sogar Ihre „Junge Union" — die Möglichkeit hatte, Besuche im benachbarten Thüringen zu machen, daß Tausende die Transitstrecke nach Berlin benutzten. Sie können doch nun nicht kommen und sagen, das alles sei nichts; die Lage sei im Gegenteil schlechter als vorher.Im ganzen haben uns die Verträge viel mehr gebracht, als in diesem Lande oft erkannt und zugegeben wird. Das ist genau wie bei der Steuerreform: Die Millionen, die positive Erfahrungen gemacht haben, reden kaum. Sie haben ja auch keine besonderen Sensationen zu verkünden. Ich habe noch nie in einer Zeitung der Bundesrepublik eine Schlagzeile gelesen, in der etwa stand: Der 17 000 000. Besucher auf den Transitwegen!
Sie sagen nun: Ihr redet von Entspannung, und drüben ist nichts davon zu spüren; drüben rüstet man weiter, man fängt schon in den Kindergärten an, Haß gegen den Kapitalismus und die westliche Welt zu predigen; von morgens bis abends werden die kommunistischen Lehren eingepaukt.
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10110 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Dr. KreutzmannNiemand von uns stellt sich vor dieses System und ist bereit, dieses System politisch etwa zu verteidigen. Wir sind Sozialdemokraten und haben uns der Idee des freiheitlichen Sozialismus, nicht aber der Idee der Diktatur des Proletariats verschrieben. Daher haben die Kommunisten auch nie eine andere politische Gruppierung so hart bekämpft wie die Sozialdemokratie.
Die Indoktrinierung und die militärischen Anstrengungen des Systems dort drüben sind ja aber keineswegs ein Zeichen seiner Stärke. Dadurch wird vielmehr deutlich, daß man es nötig hat, sich mit allen Mitteln an das System zu klammern und es mit den rigorosesten Methoden zu verteidigen. Man weiß, daß jeder Besucher aus der Bundesrepublik, der über seine Lebensumstände berichtet, eine potentielle Gefahr darstellt. Das Maßnehmen an den Realitäten war und ist für das System der DDR immer gefährlich. Die Realität, daß sich die Menschen in den beiden deutschen Staaten einander näher fühlen, als ihr Konnex zu den Menschen eines anderen Landes sein kann — sie mögen noch so freundschaftlich zu diesem Land stehen —, kann man doch nicht einfach wegdiskutieren. Daran ändern weder neue Verfassungsparagraphen, aus denen man jedes Bekenntnis zur Einheit Deutschlands gestrichen hat, noch die Einführung eines besonderen Staatsbürgerrechts etwas.Daran ändern auch Versuche nichts, die Darstellung der Nation als Geschichts- und Willensgemeinschaft gegenüber den objektiven Gegebenheiten als subjektive Schwärmerei und unwissenschaftlich abzutun. Solche Versuche wurden drüben ja jüngst gemacht. Eine Nation, die aus Geschichte und Bekenntnis wächst und gewachsen ist, kann man nicht durch eine Ideologie zerstören. Sie ist nur dann zu zerstören, wenn der Wille derer, die sich zu dieser Nation bekennen, mit Gewalt gebrochen wird oder erlahmt. Ob die Nation bestehen bleibt, liegt nicht nur an der Kraft der Menschen in der DDR, mit der sie an der Nation festhalten. Es liegt auch ganz und ganz besonders an uns, ob wir die Verbindung zu den Menschen im anderen Deutschland pflegen und eine Politik betreiben, die diese Verbindung möglich macht.Dazu bedarf es der Geduld und der Zeit, die Sie ja sonst immer bei Verhandlungen fordern. Sie sollten sie auch bei der weiteren Entwicklung der deutschen Frage haben.Wir werden aber noch viel mehr Geduld und viel mehr Zeit brauchen, wenn wir, wie es bisher der Fall war, unsere Kräfte in der deutschen Frage ausschließlich im Kampf gegeneinander verbrauchen. Es gab einmal eine Zeit in diesem Hause, in der man gemeinsam nach gangbaren Wegen gesucht hat. Sie haben dann begonnen, unter Gemeinsamkeit in der Deutschlandfrage zu verstehen, daß sich alle anderen in diesem Bundestag nach Ihnen zu richten hätten. Das war aber nach dem Scheitern Ihrer Politik und nach dem Wandel, der sich auf der weltpolitischen Bühne vollzog, unmöglich. Es ist schwer, nach diesen Vorgängen den Weg zu mehr Gemeinsamkeit indieser für unser ganzes Land so entscheidenden Frage zu finden. Ich habe den Eindruck, daß Ihnen das ganz besonders schwerfällt.Ich habe hier ein Interview des Kollegen von Wrangel, in dem er es als den Sinn dieser Debatte bezeichnet, mit Gemeinsamkeit einen neuen Anfang in der Deutschlandpolitik zu suchen. Ich habe nicht den schüchternsten Versuch eines wahr gemeinten Brückenschlags von Ihrer Seite während der ganzen Debatte zu spüren bekommen.
Ich habe im Gegenteil den Eindruck gehabt, daß Sie fest entschlossen sind, auf Ihren Wegen weiterzumachen. Ich meine, Sie sollten es sich nicht so leicht machen. Die Geschichte könnte einmal zum Ankläger über die vertane Chance einer deutschen Demokratie werden, auf die dieses Land in seiner Geschichte so oft gehofft hat.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Gradl.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst eine Bemerkung zur Frage der parlamentarischen Kritik machen. Anlaß dazu gibt mir nicht nur der Verlauf der heutigen Debatte, aber besonders eine Berner-kung, die der Herr Bundesaußenminister einleitend gemacht hat. Er hat hier selber die Frage gestellt, was denn diese Debatte eigentlich leisten könne. Dann hat er mit ernstem Gesicht gesagt, die CDU müsse nunmehr klarmachen, wie diese Verträge besser gemacht werden könnten.
Aber ganz so ernst, Herr Minister, können Sie das nicht gemeint haben. Es kann doch wohl nicht Ihr Ernst gewesen sein, die Verträge in Frage zu stellen. Wir haben sie nicht gemacht. Aber wir sind durch sie gebunden. Wir haben die Verträge hinzunehmen. Deshalb war ja unser Ringen in der Zeit der Entstehung der Verträge so hart und war unsere Kritik so bitter: weil wir der Überzeugung waren — und übrigens noch sind —, daß die Regierung über diese Verträge im Stadium ihres Werdens nicht hart genug verhandelt hat und daß sie zu hastig verhandelt hat. Wir sind durch die Verträge fixiert. Eine solche Aufgabe können Sie uns hier also nicht auferlegen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Genscher?
Herr Kollege, sollte Ihnen entgangen sein, daß ich dem Sinne nach folgendes gesagt habe: Wenn es die CDU ernst meint mit der Feststellung, daß sie auf dem Boden der Verträge stehe, hat sie zwei Möglichkeiten, nämlich entweder die Regierung bei der Anwendung der Verträge zu unterstützen, oder zu sagen, wie die Regierung die Verträge noch besser anwenden und in unserem Sinne nutzen könnte, als sie es eh schon tut. Das könnte diese Debatte leisten, wenn sie konstruktiv ist.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10111
Herr Kollege Genscher, als Sie Ihre Bemerkung machten, habe ich mir als Antwort auf Ihre Frage, was die Opposition machen könnte, auf diesen Zettel geschrieben: das Beste daraus machen! Und Sie haben später hinzugefügt: die optimale Nutzung dieser Verträge.
Da stimmen wir wieder überein. Nur bin ich mir nicht ganz sicher, ob wir einer Meinung darüber sind, was dabei jeweils das Beste ist. Aber im Prinzip, Herr Minister, stimmen wir dann wieder überein.
— Lassen Sie das Wort „Gemeinsamkeit"! Ich gehöre, wie Sie wissen, zu denen, die von Anbeginn an für Gemeinsamkeit in der Deutschlandpolitik eingetreten sind. Ich habe das getan, solange ich in diesem Hause bin, und ich bin auch heute dafür.
Dieser Begriff ist aber so abgewetzt worden, daß man sich schon überlegen muß, ob man das, was heute erwünscht ist, nicht anders ausdrücken muß. Ich finde, in dem Zustand, in dem wir uns heute befinden, wäre — auch im Verhältnis zwischen Regierungsparteien und Opposition — schon viel gewonnen, wenn wir zu einer strengeren Versachlichung der Auseinandersetzungen kämen. Darum sollten wir uns bemühen. Ich habe aber den Eindruck: Dies ist eine Forderung, die immer nur an uns gerichtet wird,
während doch zumindest verlangt werden müßte, daß von beiden Seiten der entsprechende Beitrag geleistet wird.
Wenn man zu mehr Sachlichkeit kommen will, muß man die Rolle der Opposition im Parlament in Kauf nehmen. Sehen Sie, wir sind dazu da, zu kritisieren. Einmal haben wir zu kritisieren aus Sorge, daß die Anspruchsmöglichkeiten, die uns die Verträge geben, nicht energisch genug genutzt bzw. verteidigt werden. Das ist unsere Sorge. Sie können dazu Ihre Gegenargumente anbringen, aber es ist legitim, daß die Opposition in diesen Dingen sehr kritisch ist. Die zweite Aufgabe unserer und jeder parlamentarischen Kritik ist, die Regierung zu bedrängen. Wozu sonst ist die Opposition da? Wie anders kann sie die Regierung dazu treiben, das Optimale zu machen— denn die Regierung macht doch die Politik —, als dadurch, daß sie die Regierung durch ihre Kritik bedrängt? Und wenn sie bedrängen will, verehrter Herr Kollege Genscher, dann muß die Kritik doch wohl auch klar und deutlich sein.Das ist unbequem, das gebe ich zu. Jedem ist Kritik in der Regel unbequem.
— Nein? — Dann sind Sie ein besserer Mensch als z. B. ich. Kritik ist unbequem, aber Sie dürfen es nicht dazu kommen lassen, daß die Kritik, die wir von der Opposition betreiben, abgewertet wird —auch in diesem Hause habe ich das gehört, vor allem aber draußen — als Nörgelei. Das geht nicht.Bitte, verstehen Sie unsere Situation! Ich wiederhole: Wir haben die Verträge nicht entworfen, aber wir sind durch diese Verträge gebunden. Wir dürfen im nationalen Interesse nicht den Eindruck erwecken, als ob unsere Politik die sei, Verträge, die rechtsgältig zustande gekommen sind, wieder vom Tisch zu wischen. Die Deutschen sind die letzten, die sich das leisten können. Die Konsequenz ist dann aber, daß wir um so energischer, um so entschiedener — manchmal auch überspitzt, das gebe ich zu, aber wer überspitzt nicht einmal im Eifer des Gefechts — unsere Kritik sagen. Dies wollte ich doch zu überlegen geben — nicht weil ich mich dazu besonders berufen fühle, sondern weil das der Eindruck war, den ich in dieser Debatte hier und auch sonst gewonnen habe. Und Sie, Herr Minister, haben mich dazu animiert; ich danke Ihnen.
Aber nun zu meinem eigentlichen Thema. Ich habe mir mit dem Blick nach vorn zwei Schwerpunkte vorgenommen; da wird auch wieder Kritisches enthalten sein. Ich sage vorweg: Wenn wir z. B. die Entwicklung des Besuchs- und Reiseverkehrs und seine Ordnung zwischen den beiden Seiten kritisieren, dann heißt das doch nicht, daß wir nicht sehen, daß sich ein Reisestrom ergeben hat. Jeder in der CDU/CSU hat gesagt: Dies muß man natürlich als ein Positivum im Sinne des deutschen Zusammenhalts begrüßen. Das tun wir. Aber wir sind nicht dazu da, Loblieder zu singen, sondern wir sind dazu da, jeweils auf die Schattenseite zu zeigen und auf die Punkte, die nach unserer Meinung nicht in Ordnung sind, aber in Ordnung gebracht werden könnten.Sehen Sie, Herr Minister Franke, in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU zur Deutschlandpolitik erklärt die Bundesregierung, sie werde mit Zähigkeit und Ausdauer darauf hinwirken, daß die unerträglichen Verhältnisse an der Grenze zur DDR abgebaut werden. Die Regierung hat ferner auf die Erklärung des Bundesaußenministers Genscher vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 23. September vorigen Jahres verwiesen, daß es nicht nur der formellen Anerkennung der Menschenrechte durch die DDR bedürfe, sondern auch ihrer praktischen Durchsetzung.Soweit, so gut. Wer wollte dem nicht zustimmen? Aber nun sieht man sich, wie sich das gehört, die Wirklichkeit an. Da muß man sagen: Solange die DDR ihre Grenze zur Bundesrepublik zu einer blutigen Grenze macht und solange die DDR-Bevölkerung — außer Rentnern von Westreisen fast völlig ausgeschlossen ist, bleibt es eben so, daß weiterhin wichtigste Menschenrechte verletzt sind, und zwar massiv verletzt.Nun führe ich einige Zahlen und Vorgänge an, um das zu beweisen. Die Regierung weist auf die Tatsache hin, daß 38 000 Männer und Frauen der DDR unterhalb des Rentenalters im vergangenen Jahr nach Westdeutschland und West-Berlin wegen
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10112 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Dr. Gradldringender Familienangelegenheiten reisen durften — eine Zahl, die im ersten Augenblick groß erscheint. Aber überlegen Sie einmal: Im Jahresdurchschnitt sind das pro Tag ganze 100 DDR-Bürger, bei 17 Millionen Einwohnern.Ich weiß um die Fragwürdigkeit von Vergleichen, aber ich wage folgenden Vergleich. Wenn man unterstellt, daß das Bedürfnis nach Reisemöglichkeiten bei dringenden Familienangelegenheiten ebenso stark ist, wie es bei den Westberlinern in der Zeit war, als es dort der Passierscheine für dringende Familienreisen bedurfte, wenn man ferner berücksichtigt — und also nicht übersteigert —, daß die Familienbande zwischen West-Berlin und seiner unmittelbaren Umgebung natürlich intensiver sind als die zwischen Westdeutschland und Mitteldeutschland, wenn man das in Rechnung stellt, wäre doch das mindeste, wenn es bei der Bewilligung der Ausreisen in dringenden Familienfällen normal zuginge, daß diese Zahl von 38 000 zehnmal so groß sein müßte, sehr vorsichtig gerechnet.
Wenn Sie dann sehen, daß die Zahl der dringenden Familienreisen gegenüber dem Jahre 1973 um gut 3 000 zurückgegangen ist, dann wird an diesen nüchternen Zahlen offenbar, wie intensiv die bürokratischen — ich möchte fast sagen: die politbürokratischen — Erschwernisse in der DDR zur Verhinderung von solchen Reisen aus dringenden Familiengründen sind.
Nehmen wir einen anderen Fall, die Rentnerreisen! Sehr stark werden sie herausgestellt — selbst von Herrn Honecker in seinen Darstellungen — als üppige Leistung der DDR. Die Rentnerreisen machen in der Tat die beachtliche Zahl von über 1,3 Millionen 1974 aus, mehr als 1973, und über eine Viertelmillion mehr als 1972. Aber darin stecken doch wohl auch Doppelzählungen. Denn seit Oktober 1972 wurde es ja möglich, daß das 30-Tage-Kontingent aufgeteilt werden konnte. Man müßte also wissen, um die Entwicklung genau zu sehen aber das kann man wahrscheinlich nicht statistisch erf assen —, wie die Zahlen wirklich sind. Aber lassen wir es dabei! Es ist trotz allem eine erfreuliche Zahl des Reiseverkehrs der älteren Leute.Für die Verträge allerdings darf man die Rentnerreisen nicht in Anspruch nehmen. Denn die Rentnerreisen haben, wie Sie alle wissen, 1964 zur Zeit von Bundeskanzler Erhard begonnen; damals sind sie möglich geworden.
Ich fasse also zusammen. Die DDR-Regierung hat für die DDR-Bürger im Reiseverkehr eine große und dringende Nachholpflicht. Solange sie nicht aufholt, bleibt sie im Verstoß gegen den Grundvertrag, in dem sie sich — das ist heute häufig zitiert worden auf gute Nachbarschaft und auf die Menschenrechte verpflichtet hat. Gut, dies sagen wir alle, und wir sagen es oft. Ich habe diesen Sachverhalt mal zu personifizieren versucht. Wie sieht das denn in Wirklichkeit aus? Mit 20 Jahren hat ein jungerDDR-Bürger in der Regel seine Militärpflicht absolviert, seine Schulbildung hinter sich, und außerdem ist er volljährig, auch nach DDR-Recht. Er ist 1955 geboren, kennt nichts anderes als die DDR, ist, wenn man das so sagen darf, voll „DDR-geformt". Dennoch mißtraut ihm das Regime so sehr, daß er bei der jetzigen Reiseregelung bis zum Jahre 2020 warten müßte, ehe er sich am Rhein oder in den Alpen umsehen darf.
Das ist die Wirklichkeit drüben. Ich werfe Sie hier nicht Ihnen vor, beileibe nicht. Aber denjenigen, denen wir es vorzuwerfen haben, müssen wir es ja wohl auch von der Tribüne dieses Hauses aus sagen. Selbst ein Mann, der heute vierzig Jahre alt ist, müßte bis zum Jahre 2000 warten! Das ist der gegenwärtige Zustand! Formal mit 18 volljährig, real noch mit 60 unmündig — so werden die Deutschen drüben behandelt und, wie ich meinen möchte, beleidigt.
Nun wird von seiten der Regierung empfohlen, man solle die Andersartigkeit des DDR-Systems und seiner Funktionsabläufe beachten. Man soll also, in die Normalsprache übersetzt, nichts Unzumutbares fordern. Natürlich weiß jeder von uns: Politik verlangt, daß man sich auch in die jeweilige Gegenseite hineindenkt, in ihr Sein und in ihr Wollen. Klar! Aber wenn man ein anderes Verhalten der DDR erreichen will, dann muß man sie mit Augenmaß zwar, ohne Maximalismus, aber eben doch politisch, moralisch und rechtlich bedrängen. Die eigenen Ansprüche müssen einfach in Bereiche vorstoßen, die der DDR- systemimmanent gesehen, unbehaglich sein werden. Man darf sich von Einsichten und Rücksichten nicht zu falscher Selbstbeschränkung verleiten lassen. Die richtige Haltung scheint mir, nicht mit Illusion, sondern mit Realismus auf Fortschritte zu drängen, aber eben drängen.Der Herr Bundeskanzler hat heute vormittag einen Satz gesagt, der unter diesem Gesichtspunkt, wie ich glaube, ein bißchen näher betrachtet werden muß. Er hat gesagt, es hätte wenig Sinn, in den deutschen Fragen an Ideale und Einsichten zu appellieren, die bei der Führung der DDR nicht vorhanden sind. Wenn man das so hört, ist der erste Eindruck, daß der Satz einleuchtend klingt. Denkt man aber nach, dann stellt man fest, er ist ja nur bedingt richtig und in gewisser Weise gefährlich. Es gibt übergeordnete Ideale der Menschlichkeit und der Menschheit, z. B. die Ideale, die den Menschenrechtskatalogen der Vereinten Nationen zugrunde liegen und denen sich auch die DDR nicht entziehen darf,
nicht nur weil sie sie unterschrieben hat, sondern weil dies moralische Gesetze sind, die sich die Menschheit, repräsentiert durch dieses Organ Vereinte Nationen, selbst auferlegt hat. Auch wenn sie der DDR nicht genehm sind und wenn sie sie nicht wahrhaben will, und wenn sie bei ihr nicht vorhanden sind, muß man dennoch auf sie drängen. Wenn sie diese Ideale nicht haben will, muß man auf diesen Idealen um so hartnäckiger beharren. Dies ist notwendig, auch wenn man das Prinzip bejahen
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10113
Dr. Gradlkann: Unzumutbares zu fordern ist, realistisch gesehen, nicht richtig, weil man dadurch der anderen Seite unter Umständen nur das Neinsagen erleichtert. Ich sagte deshalb auch: mit Realismus drängen.Dies vorausgeschickt, bin ich der Meinung, daß es für die DDR zumutbar ist, das Reisealter in einer ersten Phase um 20 Jahre herabzusetzen. Wer in den 40ern steht, der hat sich auch dort seinen persönlichen Raum geschaffen, der hat seinen vertrauten Wohn- und Arbeitsplatz, der hat seinen Kreis von Verwandten, Freunden und Kollegen. Das alles gibt kein Mensch leichthin auf. Die Flüchtlinge können am besten beurteilen, wie schwer ihnen das Weggehen gefallen ist. Und wenn jemand regelmäßig herauskönnte, fiele es ihm um so leichter zurückzugehen, weil der letzte Ausweg dann ja doch immer offen bleibt. Sehen wir die Rentnerreisen an: Dort bleibt von tausend auch heute noch ungefähr nur einer im Bundesgebiet. Ich meine also, solange die DDR — und dies ist mein dringendes Ersuchen an die Regierung — nicht zur unmittelbaren Vermenschlichung der Grenze fähig ist, kann und muß sie das wenigstens mittelbar tun und den Zustand durch stufenweise Senkung der Reisealtersgrenze vermenschlichen. Es muß jedenfalls verlangt werden, daß die Bundesregierung nicht nur, wie sie sagt — ich habe das einleitend zitiert —, zäh und ausdauernd, sondern auch dringlich und nachdrücklich auf schnelle und kräftige Schritte beim Abbau der Reisebeschränkungen im Interesse guter Nachbarschaft drängt.Ich darf noch in bezug auf Gespräche mit Verantwortlichen der DDR ein grundsätzliches Wort hinzufügen. Die Konfrontation der Systeme hat ja so breite und tiefe Wirkungen, daß der volle politische und weltanschauliche Meinungskampf unumgänglich ist. Ich meine dies gar nicht nur wegen der gewaltsamen Abgrenzung. Daß diese Abgrenzung eine Schande ist, eine Schande des deutschen Kommunismus, darüber brauchen wir hier kein Wort zu verlieren. Und wenn hier heute vormittag bestimmte Gestalten genannt worden sind, dann möchte ich das auch tun und gestehen — für mich, ich nehme an, für Sie auch —: Es ist wirklich unvorstellbar, daß — bei aller Kritik, die man an ihnen üben kann — Gestalten wie Marx, Engels, Liebknecht und Rosa Luxemburg ihre Ideale in Deutschland um diesen Preis, der an der Mauer und an den Minenstreifen täglich gezahlt wird, hätten sichern wollen. Deswegen sage ich, diese Mauer ist nicht nur eine Schande überhaupt, sie ist eine besondere Schande für den deutschen Kommunismus.
— Ja, das glaube ich auch.Aber ich habe diese Bemerkung, daß man dem Weltanschauungskampf nicht ausweichen kann, aus einem anderen Grunde gemacht. Ich verweise z. B. — und darauf muß man, glaube ich, hier bei einer deutschlandpolitischen Debatte zur Lage der Nation auch hinweisen — auf die Verweigerung hinreichender religiöser Unterweisung und auf das staatliche Erziehungsmonopol, das der SED-Staat für denatheistischen Materialismus beansprucht. Verehrte Kollegen, ich weiß nicht, wer von Ihnen die Veröffentlichungen gelesen hat. Aber wer es getan hat, wird mir zustimmen, daß die Aussagen der Kirchen in der DDR — bei aller Loyalität gegenüber der Obrigkeit — ergreifend deutlich sind. Hier begeht die DDR eine zwar unblutige, aber keineswegs weniger tiefe und vor allem lang wirkende Verletzung der Menschenrechte. Dagegen anzugehen gehört auch zum Einsatz für die Menschenrechte, den wir zu leisten haben, ohne Haß und Verfälschung, aber klar. Wenn der DDR-Satz gilt, daß es keine ideologische Koexistenz geben kann, dann gilt er auch gegen die DDR.Die andere Überlegung, die ich hier ausbreiten will, ist die: Zur Lage der Nation gehören immer Perspektiven. Darüber ist heute in dem Bericht zur Lage der Nation eigentlich nichts gesagt worden. Dies habe ich vermißt, und deshalb sollte man dies vielleicht einmal im nächsten Jahr nachholen, weil die Menschen ja auch wissen müssen, wie sich die Bundesregierung — ganz gleich, welche, ganz gleich, wer sie bildet — über längere Sicht hin die Entwicklung der deutschen Nation, die in diesem desolaten Zustand der Teilung existieren muß, vorstellt. Ich nenne das die langfristige Dimension der Deutschlandpolitik.Es ist sinnlos, irgendwelche Termine, Fristen oder so etwas zu geben. Das hat neulich jemand auf der Regierungsseite probiert. Ich fand — und ich glaube, seine Regierungskollegen auch —, das war unklug. Gewiß ist nur eins: daß die Zeitspanne bis zur Überwindung der Spaltung ungewiß lang ist. Also muß neben der aktuellen Politik, über die wir heute hier in der Hauptsache debattiert haben, auch langfristig vorgesorgt werden. Hier jedoch liegt Wesentliches im argen, und hier, Herr Kollege Ronneburger, finden Sie die Erklärung dafür — Sie werden es gleich sehen —, daß unser Fraktionsvorsitzender heute so sehr darauf bedacht war, daß der Begriff des Vaterlandes wieder zu einem lebendigen Begriff in unserem Volk, in unserem Land wird. Natürlich nicht etwa, weil wir angenommen haben, irgend jemand hätte hier eine patriotische Vorhaltung nötig.Ich gehe von den Materialien zum Bericht über die Lage der Nation aus. In diesem Lagebericht kann man folgendes sehen: 1974 äußern hinsichtlich des staatlichen und nationalen Charakters der Bundesrepublik und der DDR immerhin 31 % der befragten Bundesbürger die Auffassung, beide seien nicht nur zwei Staaten, sondern auch zwei Nationen. Eine Umfrage, die heute von anderer Seite bekanntgegeben wurde, bestätigt das in etwa.Nun mag dabei schlichtes Sich-nicht-zurecht-Finden in der komplizierten Problematik der deutschen Frage eine Rolle spielen. Aber dennoch, meine ich, bleibt diese Zahl ein Alarmsignal, zumal eine Aufgliederung nach Altersgruppen ergibt, daß in der Gruppe der 18- bis 29jährigen der Anteil derer, die meinen, daß es nicht nur zwei Staaten, sondern auch zwei Nationen sind, sich auf 43 % beläuft.
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10114 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Dr. GradlÜbrigens förderte — das ist aber keine Sache der Parteienwerbung — dieselbe Befragung, für männliche Arbeitnehmer nach Parteien aufgegliedert, zutage, daß das Verhältnis bei beiden Parteien gleich ist.
Es gibt auch eine trostvolle Zahl: Das Ziel der Wiedervereinigung wird weiterhin von der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung bejaht. 78 % halten sie für wünschenswert, nur 6 % halten sie für nicht wünschenswert. Dies ist eine wichtige Zahl, weil es drinnen und draußen so viele Mißdeutungen über die Denkweise und den Willen der Deutschen gibt. Sie beweist, daß die Deutschen in der Bundesrepublik an der nationalen Einheit festhalten wollen, auch wenn immerhin 40% die Wiedervereinigung gegenwärtig für aussichtslos halten.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, dieses Willens- und Erwartensspektrum verlangt dringend nach einem intensiven Informations- und Willensbildungsprozeß. Angesichts des Fließens der Jahrgänge und der Jahrzehnte darf man sich nicht einfach darauf verlassen, daß die Zusammengehörigkeit menschlich und politisch genügend lebendig bleibt. Gerade weil Deutschlandpolitik vorsorglich auf lange Sicht angelegt sein muß, bedarf sie permanent einer komplementären politischen Pädagogik. Die Frage nach Deutschland als Ganzem muß— mag es noch so lange dauern — von einer überwältigenden Willensmehrheit der Deutschen engagiert getragen werden. Nur dann bleibt sie eine offene Frage und der Anspruch wirksam.Zu der Entwicklung eines entsprechenden Prozesses gehört zunächst, daß weit mehr als bisher der nachwachsenden Generation Land und Leute der DDR nahegebracht werden. Ich habe neulich gesagt— und viel Zustimmung dafür bekommen —, daß man der jüngeren Generation die mitteldeutschen Landschaften wieder nahebringen soll, daß man sie zu einem gewohnten Reiseziel der Bundesdeutschen überhaupt machen soll. Es muß ja nicht immer Teneriffa sein. Zumal Jugendliche sollte man zu solchen Reisen ermuntern.Aber das, was im Grunde langfristig entscheidend ist, ist das Geschichts- und Nationalbewußtsein; beides geht ja ineinander über. Ich darf Herrn Bundespräsidenten Scheel zitieren: Alles müsse getan werden, um unsere eigene Geschichte für uns zurückzugewinnen. Unseren jungen Menschen müsse die deutsche Geschichte als Ganzes wieder nahegebracht werden. Ich möchte das sehr unterstreichen; denn geht das Bewußtsein der geschichtlichen Einheit in der Folge der Generationen verloren, werden die geschichtlichen Wurzeln vergessen, dann sinkt ein Volk sehr schnell zur bloßen Zweckgemeinschaft herab. Es verliert seine Persöhnlichkeit und kann Werkstoff für fremde Mächte werden.Der Verband der Historiker und der Verband der Geschichtslehrer haben vor gut eineinhalb Jahren in einem Brief an die Kultusminister der Länder überzeugend und aktuell die Notwendigkeit eines vollwertigen Geschichtsunterrichts dargelegt.Kenntnis der Vergangenheit, so schrieben sie, sei unerläßlich für eine rational bestimmte Orientierung in Gegenwart und Zukunft. Wörtlich heißt es dann:Der Verzicht auf historisches Bewußtsein be freit nicht von unnötigem Wissensballast, sondern er macht den Menschen blind gegenüber seiner eigenen Entwicklung und verkürzt das Denken und die Urteilsbildung.
Durch Beschäftigung mit der Geschichte lernt der Mensch, sich selbst in seiner Perspektive zu sehen. Damit öffnet der Geschichtsunterricht auch den Weg zu ideologischem Abstandnehmen und erzieht zu wirklichkeitsnahem und kritischem Denken. Indem er die Pluralität von Positionen verdeutlicht und zugleich überdauernde Normen und Werte verstehen lehrt, trägt er zum Verständnis und zur Anerkennung freiheitlich-demokratischer Verfassungen entscheidend bei.Das ist eine allgemeine Aussage. Aber darf ich hinzufügen, daß das alles ganz besonders von unserem Volk zu beachten ist; denn sein Geschichtsbewußtsein ist gebrochen, sein Nationalbewußtsein ist verunsichert, seine Einheit ist gespalten,
seine Gegenwart durch Gewaltprediger und schreckliche Vereinfacher gefährdet. Und dazu ist es der hautnahen Einwirkung einer totalitären Ideologie ausgesetzt. Das ist unsere Situation.Vor einiger Zeit kam in den Rahmenrichtlinien für die Gesamtschulen Nordrhein-Westfalens eine Unterrichtseinheit „Entstehung der Bundesrepublik" heraus. Ich habe sie hier. Es ist ein dickes Werk. Wer sie einsehen will, dem stelle ich sie gerne zur Verfügung, aber ich brauche sie nachher wieder. Ich habe sie gelesen. Sie war das Ergebnis einer vom Kultusministerium beauftragten Gruppe: „Versuchsbeqleitende Forschung Gesamtschule, Sektion Gesellschaft/Politik".Über das Grundgesetz heißt es u. a., es sei Ausdruck der Interessen der westlichen Alliierten und des Kapitals.
Die Parteien hätten im Nachkriegsdeutschland versagt, dem Volk voller Mißtrauen gegenübergestanden usw.
Was darin über den Marshallplan steht, habe ich noch genau im Ohr, weil mir und meinen Kollegen das im Juni 1947 in Berlin der Oberst Tulpanow gesagt hat, als er uns den Marshallplan ausreden wollte. So ist das Lehrmaterial.Zwei Professoren, Jeismann und Kosthorst, die sich mit diesem Zerrbild einer Unterrichtsgestaltung in der Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10115
Dr. GradlDeutschlands auseinandergesetzt haben, haben ihre Kritik so zusammengefaßt: Einerseits werde das Grundgesetz als eine Art von den Siegern verhängtes Diktat und Reparationsbegehren verleumdet, also so, wie einst die politischen Rechtsgruppen die Weimarer Verfassung denunziert haben. Andererseits wird die alte linksradikale These der Weimarer Zeit wieder mobilisiert, daß die SPD die Revolution verraten habe. Nach jener Unterrichtseinheit hat sich nur die Kommunistische Partei nach dem Kriege anerkennenswert verhalten; sie hat insbesondere vermutet — so wörtlich —, „daß die Einführung des Grundgesetzes die Spaltung Deutschlands manifestieren" würde.Verehrte Kollegen, das wird als Lehranweisung hingeschrieben, als ob nicht längst schon vor dem Grundgesetz im sowjetischen Besatzungsbereich die Spaltung durch Zwangsvereinigung, Gewalt, Gleichschaltung, terroristische Enteignung und all das andere, was wir aus jener Zeit kennen, vollzogen worden wäre.Aber das besonders Interessante ist, daß die DDR selber heute nicht einmal mehr leugnet, sondern sich damit brüstet, daß es eine kommunistische Minderheit war, die nach dem Kriege die kommunistische Verwandlung des sowjetischen Besatzungsbereichs betrieben hat. Wer sich darüber näher informieren will, kann das nachlesen in der neuen DDR-Geschichte, herausgegeben 1974 vom Zentralinstitut für Geschichte bei der Ostberliner Akademie der Wissenschaften.Meine verehrten Kollegen, daß eine solche Unterrichtseinheit überhaupt möglich ist, ist schlicht skandalös.
Ich gebe zu, daß sie immerhin nach öffentlichem Protest wieder zurückgezogen worden ist.
Aber sie war möglich, und die Zurücknahme hindert Allgemeine Studentenausschüsse, ASTAs, gar nicht, solche und ähnliche Unterrichtseinheiten in Tausenden von Exemplaren als — ich zitiere — „fortschrittliche Ansätze für den Unterricht" nun von sich aus zu verbreiten und sich dessen zu brüsten.Es gibt viele Beweise dafür, wie heute in der Bundesrepublik die deutsche Geschichte von verirrten und wühlerischen Ideologen als politökonomisches Spielfeld mißbraucht, zu einer bloßen Folge von Klassenkämpfern pervertiert und wie vor der Jugend die Bundesrepublik verächtlich gemacht wird. Ich finde, es wird allerhöchste Zeit, und zwar für alle, sich hier in diesem Hause intensiv darum zu kümmern, wie in unserer freiheitlichen Demokratie Geschichte und Nation dargestellt und entstellt werden!
Aufmerksamkeit ist um so mehr geboten, als in der DDR im Dienste des ideologischen und politischen Ringens Nationalbewußtsein gegen die Bundesrepublik mobilisiert wird.Was man tun kann? Man muß sehr vieles tun, im Erziehungs- und Bildungsprozeß, in der Gestaltung der Lehrpläne, des Informations- und Lehrmaterials an Schulen und Hochschulen und in der Bestimmung der Lehrposition. Es geht heute — soweit sind wir! — um Lernende und Lehrende, um beide. Beiden muß eine objektive Darstellung der Geschichtsabläufe und eine unserer freiheitlichen Demokratie gemäße Information und Deutung vermittelt werden. Verehrte Kollegen, Historiker und Pädagogen aus unserem Lande und europäischen Nachbarländern arbeiten seit Jahren zusammen, um das geschichtliche Lehrmaterial von beiderseitigen Verzerrungen freizumachen. Das ist ausgezeichnet. Aber ähnliche Anstrengungen sollten großzügig und systematisch in Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern von Politikern und Historikern auch in unserem eigenen Lande hinsichtlich des Wesens und der Geschichte der eigenen Nation und des Anspruchs auf ihre Einheit geschehen.Ich weiß, es gibt gute Ansätze; aber sie reichen nicht aus. Ein stärkerer Anlauf ist notwendig. Ich kann hier nicht im einzelnen darauf eingehen, aber ich möchte doch anregen, daß einmal ein interfraktionelles Gespräch über dieses Thema geführt wird, und daß vielleicht der an diesen Fragen besonders interessierte Innerdeutsche Ausschuß mobilisiert wird.Gegen eine Andeutung, die heute in einem ähnlichen Zusammenhang — ich glaube, es war bei Herrn Carstens — gemacht worden ist, möchte ich sagen, um Mißverständnissen vorzubeugen: Geschichte und Nation sollen nach unserem Willen nicht etwa dem kritischen Denken entzogen werden.
— Ja, Herr Wehner, das ist selbstverständlich.
— Heute vormittag, Herr Wehner, hat jemand einen Zwischenruf gemacht — ich glaube, bei Herrn Carstens , der mich nun veranlaßt hat, dies hier klarzustellen.Geschichts- und Nationalbewußtsein heißt die Aufgabe, nicht etwa Heroenkult und Nationalismus.Zum Schluß ein Wort zum Nationverständnis der DDR-Führung; das gehört in diesen Zusammenhang. Die jüngste Verfassungsänderung der DDR — sie ist heute einige Male hier angesprochen worden — wird vielfach als Ausstieg aus der Nation gedeutet. Dies, meine ich, ist ein Irrtum. Die Wirklichkeit ist komplizierter, und sie ist noch herausfordernder.
— Also stimmen wir wenigstens darin überein.
— Gut!In der DDR entfaltet man einen nationalen Alleinanspruch auf alle großen Gestalten und Vorgänge der deutschen Geschichte und Kultur. „Nationalität:
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Dr. Gradldeutsch", sagt der Erste Sekretär der SED, die sich nach wie vor „sozialistische Einheitspartei Deutschlands" nennt, und ihr Zentralorgan „Neues Deutschland". Und Herr Schnitzler verkündet am 18. November 1974 über den schwarzen Kanal: „Wir sind stolz, Deutsche zu sein. Alle guten Traditionen der deutschen Geschichte sind bei uns zu Hause. Es ist ein untauglicher Versuch, die sozialistische Nation von der deutschen Geschichte zu trennen."Gemeint ist mit allem, die DDR sei das Deutschland der Zukunft. Zwar gebe es, so doziert man drüben, zwei deutsche Staaten, die jeweils die eine Seite des Grundwiderspruchs unserer Epoche zwischen Sozialismus und Imperialismus verkörpern. Da das Wesen der Nation von ihrer sozialökonomischen Struktur bestimmt werde, gebe es also auch zwei deutsche Nationen. Aber die kapitalistische Nation in der Bundesrepublik sei von der Geschichte bereits zum Sterben verurteilt, und die in der DDR lebendige sozialistische deutsche Nation trete die historische Nachfolge an. Die DDR werde im Einklang mit der Geschichte die Klassenspaltung überwinden und die Einheit der Nation wieder schaffen, natürlich kommunistisch.Meine Damen und Herren, man kann dies vielfältig deuten. Man kann das deuten als Überzeugung, als unhistorische Simplifizierung, als ideologische Verranntheit, als nationalkommunistischen Verführungsversuch, als taktische Reaktion darauf, daß die Deutschen in der DDR nach wie vor an Deutschland festhalten, als pseudonationale Tarnung der Angst vor dem freiheitlich-demokratischen Wettbewerb. Wie auch immer, unverkennbar — täuschen wir uns darüber nicht — beanspruchen die DDR-Kommunisten operativ die deutsche Nation der Zukunft. Sie tun so, als ob ihr Anspruch historisch selbstverständlich und seine Erfüllung bereits im Gange ist.Meine Damen und Herren, jeder im Lande sollte wissen, wie unser innerdeutscher Gegenspieler, wie die DDR-Führung ihre Politik um Deutschland sieht und anlegt. Es ist ein harter Satz, den ich jetzt ausspreche, aber ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich sage, daß wir Bundesdeutschen einem dramatischen Wettbewerb um die deutsche Nation überhaupt entgegengehen. Nur haben wir ihn, so fürchte ich, noch gar nicht recht ins Bewußtsein genommen.Ich lasse einen Gedanken beiseite und darf mit der folgenden Bemerkung schließen: Wir alle stehen in dieser Situation in besonderer Pflicht und vor einer unerhörten Herausforderung. Wir dürfen weder von Resignation noch von irgendwelchen Schwierigkeiten uns verleiten lassen, uns damit irgendwie abzufinden. Die Herausforderung ist so ernst, wie sie die andere Seite darstellt.Mit das Wichtigste ist, daß die geschichtliche Persönlichkeit und die nationale Zusammengehörigkeit der Deutschen in ihnen lebendig bleiben. Deutschlandpolitik überhaupt und freiheitliche Deutschlandpolitik insbesondere würden sonst ihr Fundament verlieren.Wir müssen wissen — und von daher müssen wir uns den Mut nehmen —: unser aller Festhalten anDeutschland als Ganzem ist doch kein nationalistischer Selbstzweck. Es ist ein Festhalten daran, daß alle Deutschen in einer Ordnung freier Demokratie und praktizierter menschlicher, politischer und sozialer Grundrechte gemeinsam sollen leben können nach ihrem eigenen Willen, alle Deutschen nach ihrem eigenen Willen. Darum geht es, in den Geschichtsstunden unserer Schulen und in der Geschichtsstunde der Nation.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jahn .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit vielen Stunden verfolge ich die Debatte, ich gebe zu, mit zunehmender Ungeduld und mit zunehmender Enttäuschung.
Wo, so frage ich Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, bleibt Ihr Beitrag zur Sache?
Herr Kollege Gradl, Sie haben gesagt, es sei Ihre Sache und Ihre Aufgabe, Kritik zu üben. Sie berufen sich auf Ihr Recht zur Kritik. Ich antworte Ihnen: Sie haben nicht nur das Recht, Sie haben auch die Pflicht, Kritik zu üben. Nur fürchte ich, Sie haben noch immer gar nicht verstanden, was eigentlich Kritik in dieser Auseinandersetzung bedeuten kann und nach unserer Überzeugung auch bedeuten muß.
Ihre Auseinandersetzung mit diesem Thema üben Sie in zweierlei Weise. Entweder benutzen Sie dieses Parlament zu phantastischen Beschimpfungen à la Abelein,
oder Sie sprechen über das, was noch nicht erreicht ist, was beklagenswert ist, was — und da sind wir, Herr Kollege Gradl, in vielen Fragen sicher in der Lage, zu einer übereinstimmenden Meinung zu kommen — an der gegenwärtigen Situation immer noch unbefriedigend ist, ohne daß Sie sich auch mit der Frage auseinandersetzen, was eigentlich in der Vergangenheit von Ihnen und durch Ihre Politik erreicht worden ist und was sich, seitdem es nicht mehr diese, sondern unsere Politik ist, bereits zum Besseren geändert hat.
Ich hatte gesagt — —
— Bitte!
Herr Jahn — —
Verzeihung, erst einmal muß gefragt werden. Gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Gradl?
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Ich gestatte.
Wir sind doch hier in einer so intimen Runde — —
Nein, das sind wir gar nicht, sondern wir sind im Deutschen Bundestag.
Herr Kollege Jahn, Sie haben, glaube ich, nicht zur Kenntnis genommen, daß hier heute drei Punkte miteinander verbunden sind,
a) zwei deutschlandpolitische Anfragen und b) der Bericht zur Lage der Nation. Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß man, wenn man sich zur Lage der Nation zu äußern hat -- und ich versuchte, das zu tun —, über die Tagespolitik hinaus auf die Entwicklung in der Zukunft und auf das in bezug darauf Notwendige eingehen muß?
Natürlich muß man darauf eingehen, aber man muß sich doch auch der Frage stellen, Herr Kollege Gradl, wie das denn nun eigentlich gemacht werden soll, wie das erreicht werden soll, was Sie hier als wünschenswert darstellen. Auf diese Frage bleiben Sie doch jede Antwort schuldig.
— Nein, er hat es nicht gesagt.
Sehen Sie, ich hatte gehofft, der Herr Carstens würde nach der feierlichen Ankündigung, er habe hier fünf Punkte für die Darstellung der Politik der Opposition zu nennen, wenigstens einen Beitrag leisten. Wie ernst er seine eigenen fünf Punkte und diese Debatte nimmt, zeigt übrigens seine seit längerer Zeit von mir beobachtete eindrucksvolle Abwesenheit und Nicht-mehr-Beteiligung an dieser Debatte.
— Ich rede hier jetzt davon, daß ich mich mit Bemerkungen von Herrn Carstens auseinandersetze, der nicht da ist.
Man wird doch wohl noch sagen dürfen,
daß er an dieser Debatte offenbar so wenig Interesse hat, daß er es nicht für nötig hält, sich daran zu beteiligen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Seiters?
Bitte!
Herr Kollege Jahn, wie beurteilen Sie denn die Tatsache, daß der Bundeskanzler auch schon über einen längeren Zeitraum nicht anwesend ist und praktisch die gesamte Regierungsbank leer ist?
Die Beiträge, die von Ihrer Seite bisher zu dieser Debatte geleistet worden sind, rechtfertigen es durchaus, daß man ihr mit gemindertem Interesse begegnet.
Ich mache gar keinen Hehl daraus, daß mir eine intensivere und kontinuierliche Beteiligung der Regierung an dieser und an anderen Debatten wünschenswert und notwendig erscheint. Meine Damen und Herren, das ändert aber noch nichts daran, daß dieser Punkt hier auch angesprochen werden muß. Die fünf Punkte, mit denen Herr Carstens uns heute morgen, ich kann eigentlich nicht sagen: überrascht hat, sondern mit denen er versucht hat, hier wenigstens den Anschein zu erwecken, es gäbe eine Position der Opposition, waren doch nichts anderes als ein schöner Schleier vor der Unfähigkeit auf Ihrer Seite, eine sachliche Alternative und einen eigenen Beitrag zur Deutschlandpolitik zu leisten.
Allerdings ist in diesem Zusammenhang ein Wort gefallen, das ich von der eben getroffenen Charakterisierung ausdrücklich ausnehmen muß und das ich als ausgesprochen giftig empfunden habe. Die Behauptung des Herrn Carstens, wir bzw. die Bundesregierung hätten im Laufe der mehrjährigen Vertragsverhandlungen die menschliche Frage — jetzt zitiere ich Herrn Carstens — total vernächlässigt,
ist eine ungeheuerliche und eine unverschämte Verleumdung. Ich weise sie hier in aller Form zurück.
Diese Politik — darüber sollten wir wenigstens nicht mehr streiten müssen —, unsere Politik im Bemühen um die Veränderung der Verhältnisse auch in ganz Deutschland, ist doch gerade darauf angelegt, im menschlichen Bereich Erleichterungen und Verbesserungen zu erreichen.
Wenn Sie meinen, einer Sachauseinandersetzung in dieser Weise aus dem Wege gehen zu können, und wenn Sie meinen, hier in dieser Weise die Atmosphäre vergiften zu sollen, machen Sie doch von vornherein jedes hier im Hause andeutungsweise fallengelassene Wort von Gemeinsamkeit unglaub-
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Jahn
würdig, selbst wenn Sie es draußen nachdrücklicher sagen, als Sie es hier drinnen zu tun bereit sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Herr Kollege Jahn, ich möchte Sie bei voller Würdigung der Absichten der Bundesregierung Brandt/Scheel in Sachen menschlicher Erleichterungen fragen: trifft es zu, daß sie die Statuskonzessionen, die rechtlich-politischen Konzessionen v o r den Verhandlungen über die menschlichen Erleichterungen gemacht hat?
Erstens: Es gibt keine Statuskonzessionen, wie Sie es nennen.
Zweitens: Die Anerkennung der Wirklichkeit, in der wir uns bewegen, war eine gebotene Voraussetzung dafür, daß man in diesem Land überhaupt eine Voraussetzung schaffen konnte, über menschliche Erleichterungen und Weiterentwicklungen zu verhandeln. Begreifen Sie das doch bitte endlich einmal!
Daß wir mit dieser Politik die richtige Entscheidung getroffen haben, das beweisen — darauf kann ich mich beziehen — die Antworten der Bundesregierung auf die beiden Großen Anfragen, das beweisen die Ausführungen, die Bundesminister Franke heute hier gemacht hat, das beweisen schlicht die Tatsachen. Sie können keine Phase Ihrer Politik in und um Deutschland nennen, in der es möglich gewesen wäre, so viel für die Menschen in diesem Lande zu tun, wie in den letzten Jahren erreicht werden konnte.
Meine Damen und Herren, ich frage mich, ob Sie eigentlich in der inneren Lage und Verfassung sind, zu dieser schwierigen Frage der Politik in und für Deutschland einen eigenen Beitrag zu leisten. Haben Sie eigentlich gar kein Gespür dafür, daß Sie uns doch nicht immerzu, Monat für Monat und Debatte für Debatte, mit der Erklärung abspeisen können, Sie erkennten die Verträge als gültig an? Haben Sie denn gar kein Gespür dafür, daß das in einem demokratischen Land eine pure Selbstverständlichkeit ist?
Sie tun so, als sei das ein großartiger Beitrag, eine großartige Leistung zur Politik in diesem Lande.
Daß Sie das tun, ist eine pure Selbstverständlichkeit.
-- Dazu komme ich ja.Meine Damen und Herren, Sie können sich doch von der Auseinandersetzung um die Frage, was Sie denn eigentlich alternativ wollen und anzubieten haben, nicht mit dieser Selbstverständlichkeit hin-wegstehlen,
sondern Sie müssen noch einen Schritt weitergehen — und diesen Schritt sind Sie bisher offenbar nicht bereit zu vollziehen —: Sie müssen endlich auch auf den Boden dieser Verträge treten. Sie müssen sie als vorhanden anerkennen. Sie müssen anerkennen, daß ohne diese Verträge Politik in Deutschland und für Deutschland überhaupt nicht möglich ist.
Es nützt Ihnen wenig, wenn Sie hier sagen, Sie forderten menschliche Veränderungen und Verbesserungen. Es nützt Ihnen wenig, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Sie forderten Verbesserungen im Verkehr, Sie forderten eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen, Sie forderten eine Verbesserung der Lage Berlins. Dies alles ist doch gar nicht glaubwürdig, solange Sie nicht selber zu der Voraussetzung ja sagen, ohne die diese Veränderungen und Verbesserungen nicht erreicht werden können. Diese Voraussetzung sind die Verträge.
Solange Sie diese Voraussetzung nicht akzeptieren, meine Damen und Herren, kann das sage ich Ihnen — Ihre Politik im Grunde nur als eine Absage nicht nur an die Politik dieser Regierung und dieser Koalition verstanden werden, sondern auch an eine konstruktive Deutschlandpolitik.
Ich frage Sie: Wie wollen Sie denn eigentlich etwas verändern? Wie sollen denn die Mängel, die Sie beklagen, überwunden werden? Glauben Sie, Sie kommen auf die Dauer davon, wenn Sie sich immer darin erschöpfen, hier Anklagen zu erheben, die Plattform des Deutschen Bundestages nahezu ausschließlich dazu zu benutzen, Beschwerden vorzubringen? Glauben Sie denn im Ernst, damit könnten Sie auf die Dauer Ihrer Pflicht als Opposition gerecht werden? Meinen Sie denn, daß dann, wenn Sie mit dieser Frage nicht fertig werden, das Ausweichen auf die Auseinandersetzungen über Lehrmethoden und Rahmenpläne diese Notwendigkeit bei Ihnen ersetzen kann?Meine Damen und Herren, das alles sind Themen, über die man reden kann, vielleicht sogar reden muß; ich will das gar nicht in Abrede stellen. Aber wie kann man denn miteinander debattieren, wie
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Jahn
kann man miteinander über diese Frage sprechen, wenn Sie sich als nicht fähig erweisen, in dieser Auseinandersetzung eine eigene klare Position zu finden?Ich frage Sie: Brauchen Sie nicht eigentlich genauso wie wir eine klare Position, von der aus Sie die Auseinandersetzung mit dem anderen deutschen Staat so führen können, daß Sie glaubwürdig argumentieren können? Ich behaupte: Sie sind dazu in Ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht fähig.
Wie soll man denn eigentlich anders Ihren Streit um jene Reise des Herrn Kiep verstehen? Da hat einer von Ihnen nun einmal den richtigen Gedanken, im Rahmen seiner Möglichkeiten und in seiner Verantwortung als Abgeordneter dieses Hauses mit der anderen Seite, mit Vertretern aus dem anderen deutschen Staat, mit den Vertretern jener völlig gegensätzlichen Auffassung in der deutschen Frage zu sprechen. Und was geschieht mit ihm? Er wird von Ihnen gescholten, er entgeht mit Mühe und Not einer Verurteilung, er erweist sich als ein Außenseiter, als ein Einzelgänger, statt daß Sie in Ihrer eigenen Fraktion einmal die Frage aufwerfen, wie Sie denn auf die Dauer diese Auseinandersetzung bestehen wollen.
Sie, meine Damen und Herren, so fürchte ich, verdecken mit all diesen Verhaltensweisen nur die inneren Schwierigkeiten, in denen Sie selber sich befinden. Im Grunde ist die Auseinandersetzung in Ihren eigenen Reihen über die Frage, wie Sie denn nun eigentlich in dieser Politik Stellung beziehen sollen, bis zum heutigen Tage noch nicht ausgestanden. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie schon ernsthaft aufgenommen worden ist. Ich habe den Eindruck: Die Form, in der Sie diese Debatte führen, ist nichts anderes als ein Ausdruck für diese innere Unsicherheit und für den Mangel an Selbstvertrauen, ohne das man heute der schwierigen Frage der Deutschlandpolitik nicht gerecht werden kann.Gemeinsamkeit, davon ist hier die Rede gewesen. Herr Kollege Marx hat, wenn ich es recht verstanden habe, etwas vom hohen Roß herunter gesagt, dieses Stichwort komme in die Debatte, weil die Regierung oder weil die Koalition in dieser Frage in Schwierigkeiten sei. Ich sage Ihnen: So wie Sie diese Debatte hier und heute führen, kann unsere Antwort darauf nur sein: Sie selber sind noch gar nicht so weit, daß man mit Ihnen ernsthaft über Gemeinsamkeit sprechen kann.
Wir haben diese Politik gegen Ihren Widerstand eingeleitet und durchgesetzt. Wir haben sie bestanden und haben sie in der kurzen Zeit, seitdem wir sie betreiben können, zu den Möglichkeiten geführt, die ihr unter den vorhandenen Verhältnissen und Voraussetzungen gegeben sind. Wir haben für diese unsere Politik einen klaren und eindeutigen Auftrag,den wir auszuführen haben und den wir weiter ausführen werden. Wir haben das gegen Sie durchsetzen müssen, und wir sehen aus dem, was Sie bisher an Beiträgen zu dieser Politik geleistet haben, noch keine Aussicht darauf, daß Sie Ihre bisherige, auf ein ständiges Nein ausgerichtete Politik zu korrigieren bereit oder auch nur fähig wären.Wenn diese Frage hier dennoch diskutiert wird, dann nicht deshalb, weil sich jemand in Schwierigkeiten befindet, sondern — Herr Kollege Marx, dies sage ich nun einmal gerade zu der Frage der Gemeinsamkeit in allem Ernst —
weil ich glaube, es wäre gut, wenn wir über alle Parteien und über alle Fraktionen in diesem Hause hinaus wenigstens in einigen Grundpositionen zu der Verständigung kämen, die uns zu einer geschlosseneren Auseinandersetzung mit dem anderen deutschen Staat in die Lage versetzen würde.
Ich sage: Objektiv wäre es gut! Bisher lassen Sie uns bei diesen Bemühungen allein. Ich sage nicht: im Stich, weil wir mittlerweile längst unter Beweis gestellt haben, daß wir dies durchaus können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ?
Bitte!
Herr Kollege Jahn, meinen Sie nicht, daß Ihr Appell zur Gemeinsamkeit, den Sie eben an uns richteten, glaubwürdiger klingen würde, wenn ihm nicht Ihre harte und manchmal unsachliche Polemik vorangegangen wäre?
Herr Kollege Jäger, Sie erliegen einem zweifachen Mißverständnis. Erstens denke ich nach dem, was ich hier gehört habe, gar nicht daran, hier Appelle an Gemeinsamkeit loszulassen. Ich habe lediglich zu sagen versucht, weshalb ich glaube, daß das ein Thema wäre, über das man ernsthaft miteinander sollte reden können.Zweitens sage ich: Dazu sind — und dies mußte deutlich gemacht werden — bisher bei Ihnen die Voraussetzungen überhaupt noch nicht vorhanden, und diese Debatte hat leider auch keine Voraussetzungen dafür erkennen lassen.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Marx hat gesagt, man müsse, wenn man diesen Punkt errei-
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Jahn
chen wolle, zunächst einmal ohne Illusionen ganz sachlich und ganz nüchtern über die Situation sprechen, in der wir sind. — Einverstanden. Nur, Herr Kollege Marx: Warum verschweigen Sie denn, daß der Bundeskanzler heute morgen mit seinem Bericht zur Lage der Nation eben diesen von Ihnen geforderten und im Grunde gar nicht beantworteten oder aufgenommenen ungeschminkten, sachlichen klaren Bericht gegeben hat? Da haben Sie doch eine Voraussetzung. Da sind doch in klaren, nüchternen und in der Sache der Wirklichkeit gerecht werdenden Darlegungen alle Voraussetzungen genannt, auf denen unsere Politik beruht. Ich frage Sie: Warum setzen Sie sich denn damit nicht auseinander? Warum versuchen Sie denn nicht, wenigstens dies, was Sie doch wohl im Ernste nicht als eine sachliche Grundlage in Abrede stellen können, für sich selber und für das Entwickeln einer eigenen Position zu nutzen?Ich möchte jedenfalls in dieser Debatte doch eines sagen: Dem Bundeskanzler und der Bundesregierung gebührt Dank für diesen nüchternen Bericht.
Wir sagen ja zu diesem Bericht, weil er eben jene von Ihnen, Herr Kollege Marx, genannten Voraussetzungen erfüllt. Er begibt sich nicht in unklare Überlegungen. Er sagt an keiner Stelle etwas von Erwartungen, die nicht begründet werden können, sondern er gibt die Lage wieder, wie sie ist, mit ihren Schattenseiten und mit ihren guten Seiten.Solange Sie nicht in der Lage sind, mit einem sachlichen Beitrag dazu eine Fortführung der Debatte zu ermöglichen, so lange muß ich Ihnen sagen, zwingen Sie uns, ob wir es wollen oder nicht, ob wir über Gemeinsamkeit abstrakt oder konkret philosophieren oder nicht, diesen unseren Weg weiterhin allein zu gehen.
Dies ist Ihre Sache. Ich habe dies hier gar nicht zu beklagen. Ich habe darzulegen versucht, weshalb es auch nach meiner Überzeugung Gründe dafür gibt, diese Frage der Gemeinsamkeit nicht leichtfertig zurückzuweisen und diese Frage der Gemeinsamkeit nicht einfach vom Tisch zu wischen.
Aber ich muß Ihnen auch sagen: Wann endlich wollen Sie denn die Voraussetzungen dafür schaffen, daß wir dies ernsthaft miteinander diskutieren können?Damit es hier keine Mißverständnisse gibt: Wir sagen nicht nur ja und wir sagen nicht nur Dank für diesen Bericht zur Lage der Nation, sondern wir sagen auch weiterhin und uneingeschränkt ja zu der Politik, die uns bis zu diesem Bericht zur Lage der Nation, der heute hier möglich war, geführt hat, und wir sagen ja dazu, daß diese Politik weitergeführt wird.
Wir sagen ja dazu, daß die Anstrengungen — trotz aller Einwendungen, die Sie für Kritik ausgeben —, die erforderlich sind, um diese Politik weiter möglich zu machen und weiter zu entwickeln, fortgeführt werden. Wir sagen auch ja zu jenem Maß an Geduld und an Mühe
und an Dauerhaftigkeit des Bemühens, das notwendig ist, wenn man in unserem Lande ernsthafte Politik betreiben will. Sie haben Ihre Position. Sid müssen mit sich selber einmal ins klare kommen darüber, wie Sie auf die Dauer die Frage nach einer eigenen Position und einem eigenen Beitrag zu dieser Politik beantworten wollen. Wir haben unseren Weg und unsere Politik hinreichend deutlich gemacht und bekennen uns zu dem, was an Schwierigkeiten nach unserer Überzeugung zu überwinden sein wird. Wir bekennen uns aber auch — ohne einen falschen Stolz, jedoch mit dem Maß an Genugtuung, das durch das bisher Erreichte gerechtfertigt wird — zur Politik dieser Regierung und dieser Koalition.
Das Wort hat der Abgeordnete Hösl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem Beitrag des Kollegen Jahn —
— Ich möchte keine Qualifikation der Person geben. Aber die Aussage, die hier gemacht wurde, hat mit dem Thema heute nun nicht allzuviel zu tun.Herr Kollege Jahn, ich glaube nicht, daß wir damit die Gemeinsamkeit herbeiführen, indem wir ständig die Eigenständigkeit eines politischen Weges beschwören und geradezu wie ein Gesundbeter hier auftreten.
Hier geht es heute um viel wichtigere Dinge. Ich bin weit davon entfernt zu polemisieren. Mir liegt vielleicht gar nicht die polemische Art, und insbesondere habe ich angesichts des Themas nicht die Fähigkeit dazu, zumal man jahrelang im innerdeutschen Ausschuß um die Fortentwicklung der innerdeutschen Beziehungen mit bemüht ist. Ich betone, daß hier eine Mitarbeit nie in Frage gestellt war.Auf dieser Grundlage muß ich doch feststellen, daß die heutige Bestandsaufnahme im Rahmen dieser deutschlandpolitischen Debatte eindeutig die verweigerten Menschenrechte im Vordergrund gezeigt hat. Ich war erstaunt und angenehm überrascht, daß selbst der Herr Bundeskanzler heute diese Tragik an den Anfang seiner Ausführungen stellte. Ich habe aus seiner Versicherung, mit Herrn Honecker
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Höslum mehr Menschlichkeit zu verhandeln die Hoffnung geschöpft, daß auch im Ausschuß, Herr Minister für innerdeutsche Beziehungen, eine etwas offenere Information hinsichtlich der Bemühungen um mehr Menschlichkeit erfolgt und gesichert wird.Andererseits muß ich trotz der bekundeten Einmütigkeit des Kollegen Jahn hier doch deutlich machen, daß man nach den Aussagen der Bundesregierung in dieser Debatte erneut die Frage nach dem Verständnis für die nunmehr fünf Jahre betriebene Deutschlandpolitik stellen muß. Diese Frage wird von vielen Menschen in unserem Lande in immer stärkerem Maße gestellt. Denn das, was proklamierte Politik ist, läßt sich mit der Lebenspraxis im geteilten Deutschland nicht mehr vereinbaren.
Der Herr Bundeskanzler und Herr Professor Carstens haben uns sehr eindrucksvoll die traurige Bilanz über den Verbleib der Menschenrechte aufgemacht, die ja letztlich in Art. 2 des Grundlagenvertrags vereinbart sind. Wenn wir diesem Problem ansprechen, müssen wir die Entwicklung sehen. Die Bundesregierung hatte in ihrer Antwort erklärt, es sei eine Übung aus der Vergangenheit, diese menschlichen Probleme der Vertraulichkeit zu unterstellen. Ergo sind wir in dem uns allen sehr nahegehenden Problem der Sicherung der Menschlichkeit im geteilten Land vor die Schwierigkeit gestellt, daß uns die parlamentarische Überwachung wegen des von der Regierung immer wieder vorgezogenen Schleiers der Vertraulichkeit nicht möglich ist. Ich sehe darin eine Erschwernis für die Beratungen des innerdeutschen Ausschusses. Auch der Bürger im Lande kann zu keiner Beurteilung dieser politischen Haltung kommen.Nun ist es nicht so, wie hier vielfach betont wurde, daß wir den Vertrag oder die Verträge oder die gegebenen Rechtsgrundlagen nicht anerkennen würden. Man hat die Wahrung der Menschenrechte vereinbart, und wir wollen die Wahrung der in diesem Vertrag gesicherten und ausgehandelten Rechte. Denn es stellt sich doch heute die Frage, meine sehr verehrten Damen und Herren: Haben wir einen Vertrag ohne Partner? Haben wir vielleicht überhaupt keine partnerschaftliche Vertragsgrundlage? Wenn heute Herr Minister Franke gegenüber der Opposition erklärt hat, man könne die DDR nicht zur Verhandlung zwingen, so möchte ich Sie einmal fragen, Herr Minister: Was halten Sie dann vom Wert dieses Vertrages, den Sie doch mit der DDR abgeschlossen haben?
Ich muß Ihnen sagen, ich hoffe auf das Wort des Bundeskanzlers, das er heute vor diesem Hause gegeben hat, daß er mit Herrn Honecker um mehr Menschlichkeit ringen wird. Es waren doch Sie, Herr Minister, der hier von vielen sehr eindrucksvollen Bekundungen des Dankes für Ihre Bemühungen um die Freilassung von Tausenden oder Hunderten vonpolitischen Häftlingen im anderen Teil unseres Landes gesprochen hat. Sie haben dies hier vorgetragen, und wir haben Verständnis dafür. Ich glaube, wir haben dies sogar in gleicher Weise empfunden wie Sie. Es kann aber auf die Dauer nicht so sein, daß wir mit den Petitionen in der Tasche schweigend in unserem Lande herumgehen, die Bitten, sich um die Freilassung der in der DDR inhaftierten Angehörigen zu bemühen, mit uns herumtragen und vor aller Welt schweigen.Ich muß Sie fragen: Hat die Vertragsgrundlage nicht geradezu eine Verpflichtung geschaffen, vor dem Hintergrund der gemeinsamen Mitgliedschaft in der UNO gegenüber der Welt unsere politischen Bitten, Sorgen und Nöte auch deutlich zum Ausdruck zu bringen?
Die Tatsache, daß ständig die Anprangerung der Nöte eines geteilten Landes unterdrückt wird, ist für eine parlamentarische Demokratie auf die Dauer unerträglich.
Hier muß der Opposition das Recht zugesprochen werden, die Regierung eindringlichst aufzufordern, auf die Sicherung der Vertragserfüllung hinzuwirken.
— Herr Kollege Marx, wem sagen Sie das! Wenn dieser gefährlichen Aushöhlung des Grundvertrages nicht sofort begegnet wird, befürchte ich, daß die spätere Korrektur einer nach Buchstabe und Geist zuwiderlaufenden Vertragspraxis auf Grund des eigenen schuldhaften Verhaltens nicht mehr erreichbar sein wird.Wie soll die Weltöffentlichkeit über ein frei gewähltes Parlament urteilen, das eine vertragswidrige Haltung hingenommen hat? Herr Kollege Hoppe hat heute morgen gesagt, die DDR sollte uns nicht zumuten, ständig mit so einem bißchen Vertragswidrigkeit dahinzuleben. Das ist sehr gut, da stimmen wir überein. Nur meine ich, wir sollten von vornherein auch nicht ein bißchen Vertragswidrigkeit bei einem für die Menschen in Deutschland geschlossenen Vertrag hinnehmen. Wir sollten hier auf die korrekte Einhaltung der vertraglichen Abmachungen drängen.Wir können über die vielen Unrechtstaten im anderen Teil Deutschlands nicht schweigen. Es ist eine Pflicht dieses Hauses, die Regierung aufzufordern, daß sie alle politisch wirksamen Mittel einsetzt, um die Vertragserfüllung und die Wahrung der Menschenrechte zu sichern. Sie können versichert sein: Es sind viele Menschen in unserem Lande, die diese Forderung voll unterstützen. Es ist kein Geheimnis, daß die sorgenvollen Stimmen in unserem Lande ständig anwachsen.Ich habe mich gewundert, daß man nicht mehr zur Haltung der britischen Regierung gesagt hat, die die DDR, nachdem eine englische Staatsbürgerin dort wegen Fluchthilfe zu mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war, durch eine ganz ein-
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Höslmütige Haltung auf dieses Terrorurteil und seine Menschenunwürdigkeit hingewiesen hat und deren Außenminister sogar einen bereits angesagten Besuch in der DDR abgesagt hat. Die Dame ist mittlerweile durch einen Beschluß des Zentralkomitees freigelassen worden. Mir ist nie bekannt geworden — ich werde es wohl auch kaum von unserer Regierung erfahren —, welche Mittel die britische Regierung zur Freilassung ihrer englischen Staatsbürgerin eingesetzt hat.Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Aussagen der Bundesregierung seit dem Verhandlungsbeginn und dem Vertragsabschluß lassen die Tragik aller Deutschen, die Mühen um die Sicherung der Menschenrechte vermissen, so daß die Gefahr einer Selbsttäuschung — und wer hat dieses Empfinden nicht?! — befürchtet werden muß. Die Bundesregierung erklärt in ihrer Antwort, daß die vertrauliche Behandlung — ich sagte es vorhin — eine Übung der Vergangenheit gewesen sei. Ich muß mich einfach fragen, warum man hier seit eineinhalb Jahren auf der Rechtsgrundlage des Grundvertrages die neue Position schweigend übergeht. Hier muß ich wiederum die Frage stellen: Hat dieser Vertragsabschluß keine bessere partnerschaftliche Beziehung schaffen können? Zwar betont die Regierung in vielen Aussagen den Vertragserfolg, aber die Lebenspraxis in unserem Lande — und wer leugnet denn, daß bei dringenden Familienanlässen, selbst beim Tode der Eltern, den Menschen drüben die Reiseerlaubnis verweigert wird — sieht anders aus. Dadurch, daß diese Dinge aller außer acht gelassen werden, ergibt sich, wie mir scheint, kein klares Bild von den Beziehungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands.Und das versteht der Bürger in unserem Lande nicht. So wird die Familienzusammenführung in immer stärkerem Maße in Petitionen an Herrn Honecker, den Staatsratsvorsitzenden der DDR, angestrebt. Ich frage, ob die Bundesregierung ihrer Fürsorgepflicht wirklich nachkommt, wenn sie hier erklärt — wie der Herr Minister heute nachmittag —, es sollten noch mehr Leute an Herrn Honecker schreiben, um mehr Menschen freizubekommen. Soll dieser Weg wirklich die Vertragserfüllung durch die DDR herbeiführen?
— Herr Präsident, ich bin gleich so weit.
Ich möchte hier eine Sache nicht ansprechen, weil sie eine ungeschriebene Tatsache ist. Nur, Humanität und Menschenrechte können keine materielle Abgeltung verlangen. Diese Gegebenheiten sollten uns alle in diesem Hause — einschließlich der Bundesregierung — zum Nachdenken veranlassen und uns im Bemühen um Regelungen mit dem Vertragspartner auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen zusammenführen. Auch die Weltöffentlichkeit würde dann sicherlich eine deutlichere Wertung und eine stärkere Bereitschaft für das deutsche Anliegen finden, so daß die heutige Aussage des Herrn Bundeskanzlers, die Welt gehe auf eine andere Tagesordnung über, nicht zuträfe. Dann, meine sehr verehrten Damen und Herren, hätte diese Debatte ihrenWert gehabt und wäre nicht an den Zielen einer Politik für alle Deutschen vorbeigegangen.
Meine Damen und Herren, es ist im Ältestenrat vereinbart worden, daß wir gegen 20 Uhr die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt unterbrechen, die Aussprache morgen fortsetzen und jetzt in der Tagesordnung mit Punkt 6 fortfahren.
Bevor ich Punkt 6 der Tagesordnung aufrufe, muß ich leider auf folgendes verweisen: Im Verlauf der letzten Stunde ist bei einer Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes bei dem Redner Jahn ein Zwischenruf des Abgeordneten Wehner gekommen: „Jetzt kommt diese Rechnung des Unmenschen noch einmal! Zum zweitenmal! Typisch!"
Ich rüge diesen Ausdruck.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Februar 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die deutsche Gerichtsbarkeit für die Verfolgung bestimmter Verbrechen
— Drucksache 7/130 —
Bericht und Antrag des Auswärtigen Ausschusses
— Drucksache 7/3169 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Bangemann
Ich danke dem Herrn Berichterstatter und frage ihn, ob er zur Ergänzung das Wort wünscht. — Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache in zweiter Beratung und erteile das Wort Herrn Dr. Schöfberger. -- Bitte noch einen Augenblick, Herr Abgeordneter!
Ich höre gerade, daß interfraktionell vereinbart worden ist, daß nach dem jetzt aufgerufenen Tagesordnungspunkt die Debatte zu den Großen Anfragen zur Deutschlandpolitik noch heute abend fortgesetzt werden soll.
— Bis 23 Uhr!
Herr Abgeordneter Schöfberger, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das deutsch-französische Zusatzabkommen hat diesem Hohen Hause über lange Jahre hinweg Schwierigkeiten bereitet. Die Fraktion der SPD wird heute dem Ratifizierungsgesetz zustimmen. Das Abkommen stammt vom 2. Februar 1971. Es wurde dem Bundestag am 13. Juli 1971 zugeleitet. Aus mehreren Gründen, darunter der vorzeitigen Auflösung des 6. Deutschen Bundestages,
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Dr. Schöfbergersind zwischen dem Abschluß und der Ratifizierung des Abkommens immerhin vier Jahre vergangen. Wir bedauern dies, weil wir meinen, daß dadurch das deutsch-französische Verhältnis unnötig belastet und der berechtigte Unmut einer beachtlichen Öffentlichkeit provoziert wurde.Um so mehr würden wir es begrüßen, wenn sich heute auch die Opposition entschließen könnte, das Abkommen mit zu ratifizieren. Die Haltung der Opposition in den Ausschüssen läßt allerdings das Gegenteil befürchten. Deshalb verbleibt uns nur die herzliche Bitte an Sie: Offenbaren Sie heute endlich Ihre eigentlichen politischen Ablehnungsgründe und verbergen Sie Ihre politischen Motive nicht länger hinter rechtlichen Bedenken, die man ausräumen kann.
Was bewegt eigentlich die Opposition, wenn sie es sogar in Kauf nimmt, das deutsch-französische Verhältnis durch die Nichtratifizierung dieses Abkommens nachhaltig zu belasten?
Wir Sozialdemokraten stimmen aus zwei Gründen dem Abkommen und seiner Ratifizierung zu. Wir wollen einen völkerrechtlichen Zustand beenden,
der dieses deutsch-französische Verhältnis erwiesenermaßen empfindlich gestört hat, und wir wollen Personen, die im dringenden Verdacht des vielfachen Mordes stehen, endlich der gerechten Strafe zuführen.
— Wenn Sie etwas anderes wollen, so ist das Ihre Sache. — Deshalb hat das Abkommen für uns eine außenpolitische und eine rechtspolitische Bedeutung. Gestatten Sie mir dazu folgendes auszuführen.Von Teilen der französischen und der deutschen Öffentlichkeit ist der falsche Eindruck erweckt worden, als sei die Nichtverfolgung bestimmter Verbrechen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit allein auf Versäumnisse der deutschen Gerichte und Staatsanwaltschaften zurückzuführen. Diese Behauptung ist falsch.
Auf Grund des Überleitungsvertrages aus dem Jahre 1955 hatten die deutschen Staatsanwaltschaften und Gerichte überhaupt nicht die Möglichkeit, solche Verbrechen zu verfolgen. Es ist dies also kein Versäumnis der Bundesrepublik. Die drei Alliierten wollten sich vielmehr mit voller Absicht die Bestandskraft ihrer Gerichtsurteile vorbehalten und haben deshalb die deutsche Gerichtsbarkeit ausdrücklich ausgeschlossen.Die Klausel im Überleitungsvertrag mag nicht zuletzt auf französischer Seite von einem gewissenMißtrauen gegenüber der deutschen Rechtspflege des Jahres 1955 getragen gewesen sein. Jedenfalls glaubte man damals in Frankreich, der französischen Öffentlichkeit die Aufhebung von Urteilen französischer Gerichte und die Ersetzung dieser Urteile durch freisprechende Urteile deutscher Gerichte nicht zumuten zu können.Bei dieser Motivation haben die Alliierten aber dann offenbar das Problem der sogenannten Abwesenheitsurteile französischer Gerichte übersehen. Dieses Problem gibt es nur in Richtung auf Frankreich, weil der britische und der amerikanische Strafprozeß solche Abwesenheitsurteile nicht kennt. In der Folgezeit führte das zu unerträglichen Ergebnissen. Etwa 1 000 Deutsche sind wegen Verbrechens während der Kriegszeit in den ersten Nachkriegsjahren von französischen Gerichten in Abwesenheit zum Tode, zur lebenslangen oder langjährigen Freiheitsstrafe oder zur langjährigen Zwangsarbeit verurteilt worden. Die französischen Behörden und Gerichte wurden dieser Verurteilten nicht habhaft; diese konnten in der Regel untertauchen und nach 1955 in der Bundesrepublik wiederauftauchen, ohne Gefahr zu laufen, noch vor irgendein deutsches Gericht gestellt zu werden. Nur in wenigen Fällen ist es vorgekommen, daß Betroffene die französische Grenze als Touristen oder als Kraftfahrer überschritten haben und dann in Frankreich erneut vor Gericht gestellt wurden.Die meisten der wegen Kriegsverbrechen in Abwesenheit Verurteilten — und darunter sind solche, die wegen sechsfachen Mordes beschuldigt wurden oder wegen der Verschleppung von 60 00 bis 65 000 französischen Juden in die Vernichtungslager — haben keinen einzigen Tag irgendeine Strafe verbüßt, weder in Frankreich noch in der Bundesrepublik. Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs mußte in mehreren Fällen Strafverfahren dieser Art einstellen, weil der Überleitungsvertrag entgegenstand. Besonders empörend war das Ergebnis dann, wenn es zu Prozessen gegen kleinere Übeltäter kam, in denen die Haupttäter als Hauptentlastungszeugen auftraten
und anschließend als freie Männer völlig unbehelligt den Gerichtssaal verließen, um sich wieder ihrer bürgerlichen Tätigkeit zuzuwenden. Im Ergebnis haben diese Personen also ein völkerrechtliches Schlupfloch ausnutzen können und sind der gerechten Strafe bis heute entgangen. Das, glaube ich, muß durch die Ratifizierung des Zusatzabkommens geändert werden. Für uns Sozialdemokraten ist diese Ratifizierung deshalb ein Akt der elementaren Gerechtigkeit.
Wir verkennen dabei nicht die besonderen Probleme etwaiger einschlägiger nachfolgender Prozesse. Strafverfahren, die dreißig Jahre nach der Tat stattfinden, leiden unter erheblichen und nicht selten unüberwindbaren Beweisschwierigkeiten. Das Durchschnittsalter der Angeklagten wird bei 65 Jahren liegen. Vernehmungs- und Verhandlungsunfähigkeiten werden besonders häufig sein. Dies kann und
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10124 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Dr. Schöfbergermuß und wird auch im Einzelfall für den Ausgang des Strafprozesses entscheidend sein. Dies darf jedoch kein rechtsstaatliches Argument sein, um während einer laufenden Verjährungsfrist generell auf jede weitere Strafverfolgung zu verzichten. Ein derartiges Ergebnis wäre mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren.Noch ein Wort zur Frage der mittlerweile eingetretenen Resozialisierung der betroffenen Täter, eine Frage, die in den Beratungen des Rechtsausschusses eine besondere Rolle gespielt hat. Herr Kollege Dr. Wittmann von der CSU hat im Rechtsausschuß sinngemäß gesagt, man könne doch Täter wegen eines — wie er sich auszudrücken beliebte — „einmaligen kleinen Fehltritts vor dreißig Jahren" dann nicht mehr bestrafen, wenn sie inzwischen resozialisiert seien.
— Ich nehme zur Kenntnis und gebe es hier wieder, daß sich Herr Kollege Wittmann im Anschluß daran, aber unter meiner bisherigen Unkenntnis, wegen dieses Ausdrucks entschuldigt hat.Ich selbst halte sehr viel vom Gedanken der Resozialisierung und wünsche, daß er den Strafvollzug beherrsche. Ich halte in diesem Zusammenhang jedoch weniger von einer Resozialisierung, die nicht während eines Strafvollzugs oder nach einem Strafvollzug, sondern auf Grund eines völkerrechtlichen Schlupflochs erfolgt. Tm übrigen kann es doch nicht um „kleine Fehltritte" gehen, wenn Mord und Massenmord in Frage stehen. Auf diese Delikte steht lebenslängliche Freiheitsstrafe; diese Sanktion und ihr Vollzug verdrängen wesensgemäß jeden Resozialisierungsgedanken, weil man während eines lebenslänglichen Vollzugs doch wohl nicht im Wege der Resozialisierung auf den richtigen Gebrauch der anschließenden Freiheit vorbereitet werden kann.Abschließend möchte ich mich mit zwei Argumenten auseinandersetzen, die die Opposition nach ihren bisherigen Darstellungen hindern, dem Ratifizierungsgesetz zuzustimmen.Erstens: Die Opposition hat befürchtet, daß nach dieser Ratifizierung eine unübersehbare Zahl von Prozessen auf uns zukommen würde. Wegen der angeblich ungeklärten Verjährungsfrage sollten dies auch Prozesse wegen Totschlags, wegen Körperverletzung mit Todesfolge, Geiselnahme und aller Formen der Teilnahme an diesen Delikten sein. Wir stimmen mit dem Ausgangspunkt der Überlegung überein und sind auch der Meinung, daß nur noch Verbrechen des Mordes verfolgt werden sollen. Andere Delikte, insbesondere das Delikt des Totschlags, sollen wegen der inzwischen vergangenen Zeit nach dem Grundsatz des Rechtsfriedens, der in diesem Fall dann vor der Gerechtigkeit kommt, nicht mehr verfolgt werden.
— Auch die vertragschließenden Partner, sehr geehrter Herr Kollege, sind davon ausgegangen, daß die Strafverfolgung nur noch für Mord eintreten soll. Dies ist in allen Verhandlungsprotokollen festgehalten. Kein Vertragschließender will mehr erreichen. Auf diese Frage komme ich noch. Das Abkommen selbst spricht von einer Strafverfolgung, wenn und soweit dies nach deutschem Recht noch möglich ist. Und nun stellen Sie die berechtigte Frage: Warum schreiben wir dann das nicht in das Abkommen hinein, wenn das sowieso selbstverständlich und einhellige Meinung ist? Ich möchte versuchen, darauf eine Antwort zu geben.§ 69 Abs. 1 des Strafgesetzbuches ist Bestandteil des deutschen Rechtes und bestimmt die anstehenden Verfahren. Daraus ergibt sich nicht nur nach meiner Meinung, sondern nach herrschender Überzeugung und höchstrichterlicher Rechtsprechung, daß alle Kriegszeit-Delikte unterhalb des Mordes, also insbesondere das Delikt des Totschlags, spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 1969 verjährt sind. Nur einige Vertreter der Lehre — nicht jedoch in der Rechtsprechung — sind der Meinung, daß der Überleitungsvertrag von 1955 selbst diese Verjährung und ihren Ablauf unterbrochen hätte. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seinem Beschluß vom 26. Februar 1969 dazu folgendes, und dies ist ein Ausspruch, der eine Aufnahme dieses Gedankens in das Ratifizierungsgesetz völlig überflüssig macht — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten —:Daß die Strafverfolgung durch die Besatzungsgerichte einer Strafverfolgung durch deutsche Gerichte im Sinne von § 69 StGB gleichsteht, ergibt sich auch aus den Vorschriften des Art. 10 des Kontrollratsgesetzes Nr. 13 in der Fassung des Art. 2 des Kontrollratsgesetzes Nr. 28. Danach trat während der Beschränkung der deutschen Gerichtsbarkeit eine Fristhemmung dann nicht ein, wenn für die Sache statt eines deutschen Gerichts ein Besatzungsgericht zuständig war.Nach dieser eindeutigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über den ungehemmten Ablauf der Verjährungsfristen ist es rechtspolitisch völlig überflüssig, das in das Ratifizierungsgesetz zu schreiben. Außenpolitisch ist so etwas immer bedenklich, wenn nicht schädlich. An Ratifizierungsgesetzen sollte man nicht herumdeuteln, weil dadurch außenpolitische Mißverständnisse entstehen könnten.Ich darf also als Ergebnis festhalten, daß für künftige Strafprozesse nur noch Mordanklagen in Betracht kommen und dies bis zur Mordverjährung bei Kriegstaten am 31. Dezember 1979.Das zweite Argument der Opposition bezieht sich auf die angeblich geschmälerten Verteidigerchancen. Der Vertrag sieht in der Tat vor, daß nur Staatsanwälte und Gerichte Zugang zu französischen Akten haben sollen. Hier kommt insbesondere das französische Militärarchiv Meaux in Frage. Die Verteidiger sollen diesen Zugang nicht haben. Die Opposition sieht darin eine bedenkliche Schmälerung der Verteidigerchancen.
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Dr. SchöfbergerDazu möchte ich folgendes ausführen. Es ist international völlig ungebräuchlich, ausländischen Privatpersonen — und um solche handelt es sich bei deutschen Rechtsanwälten in Frankreich — behördliche Archive oder Akten zu öffnen oder gar zur Verfügung zu stellen.Nach der deutschen Strafprozeßordnung bedeutet dies auch keine Schmälerung der Verteidigungschancen im Strafprozeß. Die Argumente der Opposition können von jedem entkräftet werden, dem der Strafprozeß und seine Praxis nicht gänzlich unbekannt sind. Ich nenne die Punkte.Erstens. Nach § 160 der Strafprozeßordnung hat die Staatsanwaltschaft auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln, also unter Umständen Beweisstücke aus französischen Archiven auch entlastender Art herbeizuholen.Zweitens. Nach § 147 der Strafprozeßordnung ist der Verteidigung die stetige und vollständige Akteneinsicht möglich. Sie kann also über diese Akteneinsicht Kenntnis der herbeigeholten Akten in der Vorbereitungsphase erlangen.Drittens. Nach § 193 der Strafprozeßordnung hat die Verteidigung ein Anwesenheitsrecht bei einer vorweggenommenen Beweisaufnahme in Form des Augenscheins. Wenn also in Frankreich ein solcher Augenschein durch den Richter stattfinden sollte, könnte der Verteidiger mit dabei sein.
Viertens. Nach § 244 StPO ist das Gericht auch verpflichtet, bei der Beweisaufnahme nicht nur belastende, sondern alle Beweismittel — auch entlastende Beweisstücke aus Frankreich — heranzuziehen.
Fünftens. Es ist dem Verteidiger unbenommen, jederzeit Beweisanträge zu stellen. Und wenn ich das nach meiner Praxis beurteile, ergibt sich hier eine geradezu hervorragende Möglichkeit, in bezug auf ein Archiv, das im fernen Frankreich und nicht für jeden zugänglich ist, Beweisanträge zu stellen und auf diese Weise den Prozeß über Gebühr zu verschleppen. Die Verteidigerchancen werden hier also nicht geschmälert, sondern sind sehr, sehr umfangreich und können sehr, sehr gut ausgeschöpft werden.Und das letzte Argument: Nach § 250 der Strafprozeßordnung gibt es den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und den Grundsatz der persönlichen Vernehmung. Aktenstücke, die Wahrnehmungen einer Person zum Inhalt haben, können nicht unmittelbar in den Prozeß eingeführt werden. Die Wahrnehmungsperson kann nur unmittelbar selbst vernommen werden. Und wie schwierig es ist, Zeugen einer vor 30 Jahren begangenen Tat aus Frankreich herbeizuschaffen, das weiß jeder.Es gibt also insgesamt, meine Damen und Herren, keinen zwingenden Grund, die Ratifizierung dieses Abkommens entweder abzulehnen oder das Ratifizierungsgesetz mit Selbstverständlichkeiten aufzufüllen. Wer dies trotzdem unternimmt, wird nicht von mir und nicht von der Sozialdemokratie, aber von hier im Raume nicht beteiligten Dritten doch in den Verdacht gebracht, sich im Ergebnis — wenn auch unbeabsichtigt — vor Personen zu stellen, die immerhin des vielfachen Mordes mit erheblichen Beweismaterialien angeschuldigt werden.
Vor diesem Verdacht sollten Sie sich, meine Damen und Herren, bewahren. Wir Sozialdemokraten wollen uns jedenfalls vor diesem Verdacht schützen, wir wollen der Gerechtigkeit Vorschub leisten, und deswegen werden wir dem Zusatzabkommen zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jaeger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Abkommen, über das wir heute zu befinden haben, hat eine Vorgeschichte, auf die einzugehen sich ganz unabhängig davon lohnt, wie man am Ende über dieses Gesetz abstimmt. Es ist nicht, wie es heute fast scheinen möchte, eine französische Initiative, sondern eine deutsche aus dem Jahre 1968.
Der Stellenwert in der französischen Politik dürfte also nicht ganz so hoch sein, wie es uns gelegentlich weisgemacht wird.
Das Interessante ist, daß der eigentliche Urheber dieser Sache der Herr Kollege Dr. Ehmke — damals kurzzeitig Staatssekretär im Justizministerium, in dem er später Minister wurde — ist, der sich am 28. Juli 1967, während der Großen Koalition also, an seinen Kollegen im Auswärtigen Amt gewandt hat. Das, was innenpolitisch an der Sache bedeutsam ist, ist die Tatsache, daß weder der Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger noch das Bundeskanzleramt, noch das Kabinett mit dieser Angelegenheit befaßt wurden.
Es gab, obwohl es doch schließlich rechtspolitisch wie außenpolitisch eine hochwichtige Angelegenheit ist, dazu keinen Kabinettsbeschluß, und die Minister, die der CDU/CSU angehörten, haben von der Sache überhaupt nichts erfahren —
ein bedenkliches Zeichen für die Loyalität der Sozialdemokraten in der Großen Koalition.
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10126 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Dr. JaegerMeine Damen und Herren, darüber, ob die Initiative des Herrn Dr. Ehmke zweckmäßig war, kann man durchaus geteilter Meinung sein. Der jetzige Bundesaußenminister, der für diese Sache natürlich keine Verantwortung trägt, hat im Auswärtigen Ausschuß erklärt, er wolle sich nicht zur Weisheit des Vertrages als solchen äußern; und ich habe für seine Zurückhaltung Verständnis, auch wenn wir in der Opposition nicht so schamhaft zu sein brauchen, wie es der Herr Außenminister war. Man sollte sich wirklich einmal überlegen, wieso wir in diese Lage gekommen sind. Nicht wir Deutschen sind es schuld, wenn bestimmte Verbrechen nicht von unserer Justiz verfolgt werden konnten. Die Alliierten hatten sich die Verfahren vorbehalten. Sie hatten die deutsche Gerichtsbarkeit ausgeschlossen. Sie trugen allein die Verantwortung. Das hat sich als sehr nachteilig erwiesen, denn wer nicht gerade auf Grund des Urteils alliierter Gerichte hingerichtet wurde, wurde, selbst wenn er ursprünglich zum Tode verurteilt war, und erst recht, wenn er nur zu Freiheitsstrafe verurteilt war, nach wenigen Jahren entlassen und kam also viel billiger weg als die anderen, die der deutschen Justiz unterstellt worden waren.
Ob sich nun aber die deutsche Seite, die ja nichts dafür konnte, daß sie von der Rechtsverfolgung ausgeschlossen war, unbedingt nach der Verantwortung drängen mußte, kann man verschieden beurteilen. Wahrscheinlich hätte ich diese Frage im Jahre 1955, zehn Jahre nach Kriegsschluß, bejaht. Ich habe allerdings große Bedenken, ob man 30 Jahre nach Kriegsschluß wirklich noch in nennenswertem Maße der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen kann — bei dem Alter, dem Gesundheitszustand und vor allem, wie jeder Jurist weiß, bei den Beweisschwierigkeiten und den Erinnerungslücken aller Beteiligten.Trotz dieser kritischen Bemerkungen, die ich aus der Praxis heraus mache, ändert sich nichts daran, daß die Fraktion der CDU/CSU dem Anliegen dieses Abkommens grundsätzlich nicht negativ gegenübersteht. Der außenpolitische Gesichtspunkt ist dabei nicht vorrangig, denn rechtspolitische Fragen beantworten wir zuerst unter rechtlichen Gesichtspunkten. Wir wollen aber nicht verleugnen, daß nun, da das Abkommen da ist, in gewisser Hinsicht eine neue Situation geschaffen ist und daß es nun für Frankreich eine gewisse Bedeutung erlangt hat. Schließlich kann die Union sich ja rühmen, auf deutscher Seite die Architektin der deutsch-französischen Freundschaft gewesen zu sein. Schon deshalb wird sie an dieser Freundschaft festhalten.
— Aber es wirkt noch in unsere Zeit, trotz der Politik Ihrer Regierung!
Meine Damen und Herren, der Hauptgesichtspunkt, warum wir diesem Abkommen nicht, wie man uns unterstellt, negativ gegenüberstehen, ist der Umstand, daß wir, die große Mehrheit der Christlich Demokratischen und Christlich Sozialen Union, damals im Jahre 1965 und im Jahre 1969 für die Verlängerung der Fristen — einmal für die Stichtagverschiebung, einmal für die Verlängerung der Verjährungsfrist um insgesamt 14 Jahre — gestimmt haben. Ich selbst habe damals, 1965 und 1969, für meine Fraktion dieses Ja begründet, und ich habe nicht die Absicht, auch nur einen Satz von dem, was ich damals gesagt habe, zurückzunehmen. Wie wir es gemeint haben, möchte ich Ihnen mit einem Zitat aus einer Rede belegen, die unser kürzlich verstorbener Freund Dr. Süsterhenn — es war eine seiner letzten Reden in diesem Hause — anläßlich der letzten Verjährungsdebatte am 26. Juni 1969 gehalten hat. Ich zitiere nur zwei Sätze:Niemand in unserem Lande, am allerwenigsten die CDU/CSU-Fraktion dieses Hauses, denkt daran, einen Mörder seiner verdienten Strafe zu entziehen. ... Der alte deutsche Rechtssatz „Mord schreit zum Himmel, gleich wann und warum er begangen wurde" hat auch für heute seine Gültigkeit.Deshalb, Herr Kollege Dr. Schöfberger, möchte ich das, was Sie am Anfang Ihrer Rede gesagt haben, ganz entschieden zurückweisen, nämlich daß die Union politische Motive hinter rechtlichen Gedanken verberge. Das ist nicht wahr. Wenn wir damals in der viel weitertragenden Frage der Verjährungsverlängerung grundsätzlich ein Ja gesprochen haben, gibt es für uns kein politisches Motiv, warum wir heute bei einer verhältnismäßig kleinen Angelegenheit nein sagen sollten,
zumal wir wissen, daß gerade auch auf französischem Boden furchtbare, schreckenerregende Verbrechen begangen worden sind.Es gibt aber noch einen Grund, warum wir dieses Abkommen beachtlich finden und ihm durchaus noch eine zusätzliche positive Seite abgewinnen können: Dieses Abkommen ist eine Widerlegung der geistigen Grundlagen der sozialdemokratischen Strafrechtspolitik, wie sie insbesondere von Herrn Minister Jahn, aber auch von seinen beiden Vorgängern dargelegt worden ist. Denn die Sozialdemokraten haben uns doch immer erklärt, in einem modernen Strafrecht seien nur der Schutz der Gesellschaft und die Resozialisierung maßgebend; die Sühne habe da nichts mehr zu suchen.
Wenn Sie in diesem Gesetz einen Sinn suchen wollen — und es wird natürlich einen Sinn haben —, dann kann es doch einzig und allein die Sühne sein. Die Gesellschaft brauchen Sie vor den Systemtätern von damals nicht mehr zu schützen. Sie haben nur in ihrem System Verbrechen begangen, in einem rechtsstaatlichen System tun sie es nicht. Abzuschrecken brauchen Sie diese Leute auch nicht mehr. Die sind genug abgeschreckt. Und Resozialisierung ist schon gar kein Problem; denn diese Täter haben sich alle resozialisiert, viel besser, als man es manchmal vielleicht hätte wünschen können.Nein, meine Damen und Herren, wenn Sie diese Leute noch fassen wollen, können Sie es nur aus
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10127
Dr. Jaegerdem Begriff der Sühne heraus. Wir von der Christlich Demokratischen und der Christlich Sozialen Union freuen uns, daß hier doch de facto anerkannt ist, daß auch heutzutage die Sühne der erste und wichtigste aller Zwecke des Strafrechts ist.
Meine Damen und Herren, die Bedenken, die wir im einzelnen haben, sind verschiedenen Gewichts. Es sind solche, die noch tragbar sind, und solche, die wir für untragbar halten, solche, die reparabel sind, und solche, die irreparabel sind. Das Glück ist, daß die irreparablen tragbar, die untragbaren aber reparabel sind, wenn der gute Wille bei der Koalition noch kommen sollte.Das erste ist der Einwand, daß bei den in Deutschland begangenen Taten, bei denen ein Versäumnisurteil französischer Gerichte vorliegt, wenn die Betroffenen in Frankreich nicht mehr verfolgt werden sollen, ein rechtskräftiges Urteil von deutscher Seite vorliegen muß, daß entgegen unserer Strafrechtstradition Einstellung des Verfahrens nicht genügt. Das ist für denjenigen, der schuldlos ist — es handelt sich ja um den Schuldlosen, bei dem eingestellt oder freigesprochen würde —, sicherlich eine schwere Belastung. Immerhin handelt es sich nicht um allzu viele Fälle, und ich bin der Auffassung, dieser Fehler läßt sich noch ertragen.Ernster ist schon die Tatsache, daß trotz eines rechtskräftigen deutschen Urteils ein neues Strafverfahren in Frankreich möglich sein wird, wenn die Tat in Frankreich begangen worden ist. Das steht im Gegensatz zu Art. 7 Abs. 8 des NATO-Truppenstatuts, in dem alle Entsendestaaten, also auch Frankreich, darauf verzichtet haben, noch Pönalverfahren durchzuführen, wenn sie in Deutschland bereits durchgeführt worden sind.Beide Punkte sind kein Beweis für die Verhandlungskunst der Bundesregierung.Trotzdem möchten auch wir, nachdem der Vertrag vorliegt, weitere, neue Verhandlungen vermeiden, schon wegen des Zeitverlustes, der eintreten würde Wir sind der Meinung, daß man beide Punkte, wenn sonst keine Einwendungen vorlägen, schließlich noch hinnehmen könnte, zumal internationale Verträge selten vollkommen sind, und wir uns in den letzten fünf Jahren daran gewöhnt haben, daß Verträge, die unter sozialdemokratischen Ministern ausgehandelt wurden, recht oft ganz besonders unvollkommen sind.
Dei beiden nächsten Punkte sind diejenigen, die für uns von großem und entscheidendem Gewicht sind. Meine Damen und Herren, daß der deutschen Justiz keine Originalakten zur Verfügung gestellt werden, ist bedauerlich und eigentlich unverständlich. Aber das wird das Strafverfahren nicht verhindern. Dafür ist die Akteneinsicht in umfangreichen und schwierigen Fällen gestattet. Ich glaube, nach so vielen Jahren werden die meisten Fälle, wenn schon nicht umfangreich, so doch wenigstens schwierig sein.Aber was wir für bedenklich halten und was wohl jeder, dein an einem rechtsstaatlichen Verfahren liegt, für bedenklich halten muß, ist, daß es hier Rechte für Richter und Staatsanwälte, nicht aber für die Verteidiger gibt.
Ich wundere mich sehr, daß Herr Kollege Dr. Schöfberger, der, wie ich glaube, doch selber Rechtsanwalt ist, Rechtsanwälte für Privatpersonen hält. Wir waren und sind immer der Meinung — und ich bin gerade als Justizminister von dieser Meinung ausgegangen —, daß Rechtsanwälte Organe der Rechtspflege sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schöfberger?
Ich gehe mit Ihnen davon aus — auch als Rechtsanwalt —, daß die Rechtsanwälte hier Organe der Rechtspflege sind. Aber sind Sie der Meinung, daß sie ohne weiteres auch im Ausland als solche anerkannt werden?
Da Frankreich ein Rechtsstaat ist, habe ich keine Zweifel, daß auch die französischen Advokaten Organe der Rechtspflege sind, die Franzosen also für unseren Standpunkt Verständnis haben werden.
Ich gebe zu: es ist ein besonders guter Zug der deutschen Strafrechtspflege, daß Staatsanwälte die Pflicht haben, auch positive Momente, die für den Angeklagten sprechen, zu berücksichtigen. Aber wenn das die Grundlage des ganzen Strafprozesses sein soll, könnte man ja am Ende auf Verteidiger überhaupt verzichten. Das aber, glaube ich, will doch in diesem Hause niemand.Mein Damen und Herren, Sie müßten sich einmal ernsthaft überlegen, wie diese Beschränkung der Rechte der Rechtsanwälte in Übereinstimmung steht mit Art. 6 Abs. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, in der es heißt, daß dem Angeklagten ausreichende Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung gegeben werden muß. Die Vorbereitung der Anklage ist hier jedenfalls ausreichender als die der Verteidigung.Wir haben zwei Anträge unterschiedlichen Wortlauts gestellt, im Rechtsausschuß und im Auswärtigen Ausschuß, um hier im Mantelgesetz eine Änderung herbeizuführen; denn es bedarf keiner Änderung des Abkommens selbst. Diese Anträge wurden uns abgelehnt, auch die mildere Fassung des zweiten Antrags.Das wichtigste und schlechthin unüberwindliche Bedenken aber, das wir gegen die jetzige Fassung des Gesetzentwurfs haben, ist die Unklarheit über den Umfang der Verjährung. Hier in Deutschland kann aus jener Zeit nur noch Mord bestraft werden, weil die Frist von 30 Jahren noch nicht abgelaufen ist; alle anderen Verbrechen sind verjährt. Nach diesem Vertrag aber können die anderen Ver-
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Dr. Jaegerbrechen nur dann als verjährt angesehen werden, wenn die Verjährungsfrist nicht durch den Überleitungsvertrag unterbrochen wurde, wenn also die Verjährung nicht seit 1955 geruht hat. Die Bundesregierung ist der Meinung, daß es ein solches Ruhen nicht gegeben hat, daß der Überleitungsvertrag keine Unterbrechung der Verjährungsfrist bedeutet hat. Ich bestreite auch nicht, daß sich die Mehrheit der Rechtswissenschaft dieser Haltung anschließt. Ich bin auch selber gar kein Gegner dieser Auffassung. Aber, meine Damen und Herren, es gibt ja auch eine Minderheit der Rechtswissenschaft, und unsere Gerichte sind in der Entscheidung frei.Wenn ich in der Denkschrift der Bundesregierung zu diesem Gesetz aus den Zeiten des Ministers Jahn lese: „Praktisch kommt nur noch Mord für eine Strafverfolgung in Betracht", dann wundere ich mich über diese Formulierung bei einem Justizministerium, dessen Qualität ich kenne und dessen exakte Formulierung doch heißen müßte: „Rechtlich kommt nur noch Mord in Betracht". Wenn man diesen völlig unjuristischen Ausdruck „praktisch" schreibt, dann ist daran doch schon der Zweifel erkennbar.
Der Berichterstatter, Herr Kollege Bangemann, der ein Anhänger dieses Gesetzes ist und, wie ich ihm gern bestätige, trotzdem einen ausgesprochen objektiven Bericht verfaßt hat, welcher auch die Meinung der Opposition klar zum Ausdruck bringt, hat erklärt, die Mehrheit sei überzeugt, diese Gefahr bezüglich der Gerichte sei zu vernachlässigen, denn die Meinung des Gesetzgebers sei eindeutig. Meine Damen und Herren, ich will das nicht bestreiten. Auch ich schließe mich für meine Person und für unsere Fraktion der Auffassung der Bundesregierung über die Verjährung an. Aber was hilft es, daß die Meinung des Gesetzgebers eindeutig ist in einem Lande, in dem eben nicht die Meinung des Gesetzgebers, sondern das Gesetz selbst maßgebend ist? Sie wissen gerade aus der Verjährungsdebatte, daß es ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1969 gibt, zu dem man stehen mag, wie man will; alle sind sich einig: Es hat nicht die Meinung des Gesetzgebers zum Ausdruck gebracht, weil weder die Abgeordneten dieses Hauses — wir alle — noch die beteiligten Justizminister noch die Fachbeamten im Justizministerium das Problem der Bestrafung der Gehilfen bei Mord für die Verjährung in der Bestimmung, die in ein ganz anderes Gesetz eingefügt worden ist, überhaupt erkannt haben. Ein Beweis dafür, wie sehr auch in unserer Zeit der Text des Gesetzes gilt und nicht das Motiv des Gesetzgebers!Im übrigen steht in einem Brief, den der jetzige Justizminister, Dr. Vogel, am 3. September des letzten Jahres an den Rechtsausschuß geschrieben hat: „Ganz zweifelsfrei ist die Rechtslage indessen nicht." Nun, wenn sie nicht ganz zweifelsfrei ist, dann findet sich leicht ein Richter, der eben eine andere Meinung hat als das Ministerium. Herr Kollege Bangemann als Berichterstatter hat in seinem Schriftlichen Bericht mit Recht ausgeführt, daß einein keinem Fall voll auszuschließende Unsicherheit bestehe; die Mehrheit wolle sie aber in Kauf nehmen, denn Sie sei unwahrscheinlich.Meine Damen und Herren, die Rechtswissenschaft ist keine Nationalökonomie. Bei ihr geht es nicht um Wahrscheinlichkeiten, sondern um Sicherheit.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. Oktober 1974 findet sich der Leserbrief eines hohen Juristen, in dem zu lesen steht: „Nach Sinn und Wortlaut des § 69 StGB ... muß angenommen werden, daß die Verjährung seit dem Inkrafttreten des Überleitungsvertrags am 5. Mai 1955 geruht hat".Diese von der Mehrheit und von der Bundesregierung abweichende Meinung vertritt ein Mann, der Generalstaatsanwalt gewesen ist, also den höchsten Rang des öffentlichen Anklägers hat, den es in den deutschen Ländern gibt. Es ist Erich Heimeshoff, der auf diesem Gebiet sicherlich über ganz besondere Erfahrungen verfügt. Wenn aber schon ein alterfahrener Generalstaatsanwalt diese Meinung vertritt, dann ist doch zu erwarten oder zu befürchten, daß bei der in gewisser Hinsicht kultivierten Individualität mancher jüngeren Richterpersönlichkeit sich doch der eine oder andere findet, der sich auf diese Rechtsmeinung beruft und dann in dieser Weise sein Recht findet.Damit aber, meine Damen und Herren, ist die Rechtssicherheit nicht mehr garantiert, denn wenn die Meinung des Generalstaatsanwalts Heimeshoff von einem Gericht akzeptiert wird, dann wird der Totschlag bestraft, wenn er in Frankreich begangen worden ist, aber nicht, wenn er in Polen, in der Tschechoslowakei, in Belgien, Luxemburg, Holland oder Italien oder in sonst irgendeinem Land begangen wurde. In Deutschland wird er nur bestraft, wenn er an Franzosen begangen wurde, nicht an anderen Ausländern, nicht an Deutschen und damit weithin auch nicht dort, wo er am meisten begangen wurde: an Juden.Das ist doch in höchstem Maße bedenklich. Wenn die Denkschrift zur Begründung dieses Gesetzentwurfs und dieses Abkommens sagt, „Gerechtigkeit und Grundsatz der Gleichbehandlung gleichliegender Fälle" seien das Motiv für dieses Abkommen — eine respektable Meinung —, dann muß das auch im Abkommen oder im Gesetzentwurf eindeutig ausgesprochen werden; dann dürfen die gleichliegenden Fälle nicht verschieden behandelt werden, weil es unter Juristen verschiedene Rechtsmeinungen über die Verjährung gibt.Die Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit, die daraus folgert, ist in unseren Augen untragbar. Das Problem aber ist ganz einfach zu lösen. Man braucht mit Frankreich nicht neu zu verhandeln, man braucht nur — wie wir vorgeschlagen haben — eine Bestimmung in den Gesetzentwurf hineinzuschreiben, nach der nach diesem Übereinkommen nur noch Mord verfolgt werden kann.Meine Damen und Herren, das wird keine politischen Turbulenzen hervorrufen; denn wie wir offiziell von der Bundesregierung gehört haben — auchDeutscher Bundestag 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10129Dr. Jaegerunsere privaten Kontakte zu Frankreich haben das bestätigt —, war ja nur die Bestrafung von Mord die Verhandlungsgrundlage. Frankreich erwartet also nur eine Mordverfolgung. Ein Herr eines Ministeriums hat im Auswärtigen Ausschuß gesagt, diese Auffassung habe expressis verbis, also ausgesprochen, wörtlich, den Verhandlungen zugrunde gelegen. Demnach kann doch Frankreich nicht enttäuscht sein, wenn nur Mord verfolgt wird und wenn wir nicht etwa das Übereinkommen ändern, sondern nur den Sinn des Übereinkommens rechtlich unzweifelhaft verdeutlichen, wie es die Anträge im Rechtsausschuß und im Auswärtigen Ausschuß getan haben.
Im übrigen: Diese Rücksichtnahme auf die deutschfranzösische Freundschaft, die Meinung, daß man an einem solchen Abkommen oder auch nur am Mantelgesetz nichts ändern dürfe, überrascht uns; denn es gab einmal in den deutsch-französischen Beziehungen ein Abkommen, das viel bedeutsamer war als dieses, weil es nicht Vergangenheit bewältigte, sondern zukunftsorientiert war: der deutsch-französische Freundschaftspakt. Gegen den Widerstand Konrad Adenauers, Gerhard Schröders, der CDU/CSU haben SPD und FDP es erzwungen, daß hier eine Präambel hineinkam, die nicht drin war, die etwas verdeutlichen sollte, was sicherlich eine Selbstverständlichkeit deutscher Politik war, was aber von französischer Seite durchaus nicht angenehm aufgefaßt werden konnte und aufgefaßt wurde.
Sie, meine Damen und Herren, widerlegen sich sozusagen durch die Erinnerung an dieses Ereignis selbst. Im übrigen aber: mit dieser ungleichen Behandlung gleicher Fälle, wie im Falle einer abweichenden Meinung eines Gerichts von der Rechtsansicht des Ministeriums — und in einem Rechtsstaat ist das ja möglich, Gott sei Dank möglich; manchmal allerdings geschieht es auch dort, wo es nicht viel Sinn hat, das ist unterschiedlich , ist doch das Vertrauen in unsere Rechtsstaatlichkeit gefährdet.Ich glaube, Deutsche und Franzosen haben, so unterschiedlich ihre Rechtspflege organisiert ist, dieselben Prinzipien und dieselbe Auffassung vom Wesen des Rechtsstaats. Ich glaube auch, gerade nach der Zeit des Nationalsozialismus müssen wir auch in Dingen, die vielleicht dem einen oder anderen nicht so sehr bedeutsam erscheinen mögen, mit dem Gedanken des Rechtsstaates ausgesprochen sorgfältig umgehen. Gerade dafür werden die Franzosen Verständnis haben.Zweimal hat die Koalition unsere Anträge abgelehnt. Der Vermittlungsversuch des Kollegen Bangemann ist gescheitert. Seine Formulierung erschien uns nicht ausreichend und betraf nur einen der beiden Punkte. Trotzdem haben wir, um das Mögliche zu versuchen, uns bereit erklärt, zu verhandeln. Die Sozialdemokraten haben mit jener Festigkeit, Starrheit oder Sturheit, wie Sie es nennen wollen, abgelehnt, die sie immer dann auszeichnet, wenn sie die Opposition nicht brauchen; und der Mehrheit in diesem Hause sind sie ja mit ihrem Koalitionspartner sicher.Wir sind immer noch zu Verhandlungen bereit.
Wir könnten heute abend noch die Sitzung unterbrechen, uns auf eine Ergänzung des Gesetzes einigen, und Sie würden unsere Zustimmung bekommen. Wir sind auch im Bundesrat noch zu Verhandlungen bereit, an dem Sie ja nicht vorbeikommen werden. Denn wir sind keine grundsätzlichen Gegner des Anliegens dieses Abkommens. Wir bedauern aber, ihm nicht zustimmen zu können. Die rechtsstaatlichen Gesichtspunkte, die ich vorgetragen habe, zwingen uns heute zu einer Ablehnung.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bangemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diesem Zusatzabkommen und unserer heutigen Debatte ist eine ganze Reihe von politischen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit vorhergegangen, auf die man im Interesse der Sache nicht näher eingehen sollte. Ich bin der Meinung, wir sollten unsere Debatte hier an der Sache führen und nicht an den manchmal sehr vordergründigen politischen Beweggründen, die manche der Diskutanten in der öffentlichen Diskussion meiner Meinung nach bewegt haben, sich daran zu beteiligen.
Ich bin ganz sicher, daß wir diese Debatte nach den beiden Beiträgen der Kollegen auch in diesem Sinne zu Ende bringen können.Aber ich glaube, es ist doch notwendig, darauf hinzuweisen, daß ein Vorwurf, der auch ein wenig bei dem angeklungen ist, was Herr Kollege Schöfberger gesagt hat, und der in der Öffentlichkeit erhoben worden ist, der Vorwurf der Verschleppung nämlich, nicht zutrifft. Ich habe in meinem Bericht auf die Daten hingewiesen. Ich will sie jetzt nicht alle noch einmal verlesen. Aber die Auflösung des 6. Deutschen Bundestags hat ganz sicher dazu beigetragen, daß eine frühere Ratifizierung dieses Zusatzabkommens nicht möglich gewesen ist. Dem Grundsatz der Diskontinuität folgend, mußte das Gesetzgebungsverfahren im 7. Deutschen Bundestag neu aufgenommen werden. Es ist, glaube ich, in der üblichen Frist, mit der üblichen Beschleunigung und in der üblichen Weise vorangegangen. Auch dies geht aus der Zusammenstellung der Daten hervor.Ich möchte auch das nicht aufgreifen, was Herr Kollege Schöfberger zur Haltung der Opposition gesagt hat. Ich nehme es Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, ab, wenn Sie sagen — durch Herrn Jaeger —, es gehe Ihnen hier um bestimmte rechtliche Bedenken, die Sie in zutreffender Weise ausgeräumt haben wollen.
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10130 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Dr. BangemannIch hatte bei der Debatte im Auswärtigen Ausschuß den Eindruck, daß in der Tat diese Motivation Ihre Position bestimmt hat. Es wäre angesichts sowohl der Rechtsfragen, die hier aufgetaucht sind, wie auch der außenpolitischen Fragen, über die wir heute zu debattieren und zu entscheiden haben, sicher angebracht, uns gegenseitig nicht fälschlicherweise Motivationen zu unterstellen, die der eine oder andere bei dieser Debatte ganz sicher nicht hat.
Das bedeutet, meine Damen und Herren, daß auch Sie von der Opposition sich noch einmal überlegen sollten, ob die Gründe, die durch den Kollegen Jaeger vorgetragen worden sind, ausreichen, dieses Abkommen abzulehnen, und zwar bei Abwägung beider Bereiche, die hier berührt sind, sowohl des rechtlichen Bereiches wie auch des außenpolitischen Bereiches.
Was Sie hier vorgetragen haben, vermag jedenfalls mich und meine Fraktion nicht zu überzeugen. Das sind Argumente, die aus den Beratungen sowohl des Rechtsausschusses wie auch des Auswärtigen Ausschusses bekannt sind. Ich will darauf der Reihe nach eingehen.Zunächst einmal hat Herr Kollege Jaeger darauf hingewiesen, daß in der Tat in der Rechtswissenschaft eine Mehrheitsmeinung die Auffassung vertritt, der Überleitungsvertrag habe keine Unterbrechung der Verjährungsfrist bewirkt, während eine Minderheit davon ausgeht, daß das möglicherweise der Fall sein kann. Dieses aber, Herr Kollege Jaeger — und ich glaube, das ist jedem Juristen geläufig , ist ja nichts Außergewöhnliches. In der Regel werden in der Rechtswissenschaft unterschiedliche Meinungen zu bestimmten Fragen vertreten. Ich glaube, es gibt kaum ein rechtliches Problem, zu dem in der Rechtswissenschaft völlig einhellig eine bestimmte Meinung vertreten wird, es sei denn, es ist eine so augenfällige Rechtstatsache, daß darüber gar kein Streit herrschen kann. Es geht hier also nicht um den Begriff der Rechtssicherheit. Der Begriff der Rechtssicherheit ist sowieso ein relativer Begriff, weil Rechtssicherheit immer nur im Rahmen von menschlichen Möglichkeiten hergestellt werden kann. Juristen verkörpern in diesem Zusammenhang vielleicht besonders deutlich eine menschliche Grundtatsache, daß nämlich alles bezweifelt und über alles gestritten werden kann.
— Natürlich ist Rechtssicherheit ein Zielbegriff, aber dieser Zielbegriff ist mit dem, was die Bundesregierung hier vereinbart hat und was wir heute zu ratifizieren haben, durchaus anvisiert worden.Ich will auch das Problem der Verjährung, auf das Sie hingewiesen haben, Herr Kollege Jaeger, noch einmal berühren. Ohne jeden Zweifel ist es so, wenn man von der Mehrheitsmeinung ausgeht, daß dieses Problem nicht zusätzlich auftreten kann. Ich glaube, insoweit sind wir uns alle einig. Wenn man das als richtig unterstellt, was in der Rechtsprechung und in der Rechtswissenschaft mehrheitlich vertreten wird,
dann ist in der Tat das Ergebnis das, daß nur Mord nach der Ratifizierung dieses Zusatzabkommens noch verfolgt werden kann.
Von diesem Ausgangspunkt müssen wir gemeinsam ausgehen, denn dieser Ausgangspunkt ist, wie ich glaube, auch von Ihnen nicht bestritten worden. Ihre Anträge gingen ja nur dahin, diese Unsicherheit, die in der Rechtswissenschaft besteht, durch eine gesetzgeberische Aktion auszuräumen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Erhard ?
Ja, bitte!
Herr Kollege Bangemann, ist Ihnen nicht bekannt, daß die Mehrheit der Rechtswissenschaft genau die entgegengesetzte Auffassung von der vertritt, die Sie hier wiedergeben? Sie können das in einem umfangreichen Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes dieses Hauses nachlesen. Ist Ihnen das nicht bekannt?
Ich habe dieses Gutachten selbstverständlich gelesen. Wenn das so wäre, müßte ich es sehr oberflächlich gelesen haben. Der Kollege Schöfberger geht genau wie ich — wie ich glaube, mit Recht — davon aus, daß sowohl die Rechtswissenschaft wie auch die Gerichtsurteile, die hier herangezogen werden können, für denjenigen, der dieser Meinung folgen will, das Problem nicht entstehen lassen. Deswegen hat die Bundesregierung in ihrer Denkschrift darauf verwiesen, daß praktisch nur noch Mord verfolgt wird.
Das Wort „praktisch" in diesem Zusammenhang wenn ich das noch sagen darf, Herr Kollege — ist von einigen Kollegen aus juristischen Gründen bezweifelt worden, indem sie sagten, einen solchen Ausdruck könne es für einen Juristen nicht geben. Es ist aber so zu verstehen, daß bei Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung das Zusatzabkommen eben auch keine neue Strafverfolgung eröffnen kann.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Abgeordneten Erhard
?
Herr Kollege Bangemann, haben Sie übersehen, daß diese Auffassung sich ausschließlich auf einen Satz in einer Begründung des Bundesverfassungsgerichts
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10131
Erhard
bezieht, während sowohl Oberlandesgerichte wie Landgerichte genau den gegenteiligen Standpunkt, also den, daß hier die Unterbrechung eingetreten ist, so daß die Verjährung ruht, bereits in Entscheidungen vertreten haben?
Herr Kollege, ich habe mich auf die Meinungen bezogen, die in der Rechtswissenschaft zu diesem Problem vertreten werden. Herr Kollege Schöfberger hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts herangezogen. Ich darf das vielleicht noch sagen, falls Sie meinen Bericht nicht gelesen haben. In meinem Bericht habe ich nur von der in der Rechtswissenschaft vertretenen Meinung gesprochen. Ich selbst habe in diesem Zusammenhang Gerichtsurteile nicht herangezogen. Deswegen ist es, wenn man diese Auffassung für richtig hält, meiner Meinung nach ganz klar, daß nach dem Zusatzabkommen Strafverfolgungen nur dann noch möglich sind -- zusätzlich zu dem bisherigen Rechtszustand —, wenn es sich um Mord handelt.
Lassen Sie mich nun auf die Frage eingehen — ich glaube, diese Frage, die Herr Jaeger angesprochen hat, ist ganz wichtig —, welcher Zusammenhang zwischen einer solchen zusätzlichen Strafverfolgung und den Prinzipien besteht, die wir bei Strafverfolgung in unserem Rechtsstaat ganz allgemein verfolgen. Da ist es völlig unverständlich, wenn Sie, Herr Kollege Jaeger, nachdem Sie Ihre Auffassung zur Verjährung hier noch einmal bekräftigt haben, die Sie in der vorangegangenen Debatte zu dieser Frage für Ihre Fraktion dargelegt haben, dann sagen, daß Sie dieses Zusatzabkommen 1955 ganz anders beurteilt hätten, während Sie es heute — möglicherweise aus Erwägungen, die Sie nicht mehr weiter ausgeführt haben, die aber damit zusammenhängen — ablehnen würden. Ja, dann frage ich Sie, Herr Kollege Jaeger: Wenn nach Ihrer Meinung Sühne tatsächlich das erste und alleinige Prinzip im Strafrecht ist, was hindert Sie denn daran, dieses Zusatzabkommen auch heute noch zu bejahen? Es müßte ja Ihrem Sühnegedanken völlig entsprechen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Jaeger?
Bitte!
Herr Kollege Bangemann, würden Sie, da Sie es offenbar überhört haben, zur Kenntnis nehmen, daß ich trotz dieser Bedenken grundsätzlich positiv zu diesem Abkommen stehen und die Ablehnung nur aus den beiden letztgenannten Gründen — Rechtsanwälte und Verjährungsfrage — erfolgt, daß ich aber andererseits der Meinung bin, daß man die Prozesse im Jahre 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, viel besser hätte durchführen können als heute, wo so viele tot sind, so viele alt geworden sind, so viele krank sind und die Beweisschwierigkeiten so groß geworden sind?
Aber Herr Kollege Jaeger, ich habe das ja zur Kenntnis genommen. Abergerade in dem, was Sie jetzt sagen, liegt ja das Problem der Verjährungsfristen. Das Problem der Verjährungsfristen und der Verlängerung der Verjährungsfristen, für die Sie eingetreten sind, liegt ja nicht allein darin, welchen Strafzweck man verfolgt, sondern es liegt gerade auch darin, wie die Rechtssicherheit in einem solchen Verfahren herzustellen ist. Und verbietet es nicht geradezu die Rechtssicherheit in manchen Fällen, ein solches Verfahren zu beginnen, bei dem man weiß, daß die Beweismittel durch Zeitablauf unzulänglich sein müssen? Sie bestätigen nachträglich unsere Argumente gegen Ihre damalige Haltung.
Aber darum geht es hier gar nicht, sondern es geht in der Tat — und man kann diese Frage stellen — um die Frage: Welchen Strafzweck kann man sinnvollerweise zur Legitimation der Verfolgung derjenigen Straftaten heranziehen, die durch das Zusatzabkommen betroffen sind? Ich meine, meine Damen und Herren, daß wir auch hier uneingeschränkt an dem einzigen Zweck von Strafverfolgung festhalten müssen, nämlich an dem der Resozialisierung. Wer in diesem Zusammenhang als Strafzweck die Sühne einschmuggeln will und uns unterstellen wollte, wir wollten damit als den ersten Zweck der Strafe die Sühne anerkennen, der geht an der grundsätzlichen Einstellung meiner Fraktion völlig vorbei.
Für uns — ich glaube, auch für die Sozialdemokraten —
nein, ich möchte den Gedanken zu Ende führen — steht die Tatsache im Vordergrund, daß ein Straftäter durch die Strafverfolgung und die Vollstrekkung der Strafe in die Gesellschaft zurückgeführt werden muß. Es kann hier nicht der altbiblische Gedanke der Sühne im Vordergrund stehen.Nun gibt es allerdings bei den Taten, die hier zur Debatte stehen, einen entscheidenden Unterschied; diesen Unterschied darf man hierbei nicht außer acht lassen. Er besteht darin, daß die Straftat, um die es normalerweise in einem Strafverfahren geht, in einem Staat, in einer Gesellschaft begangen worden ist und in diesem Staat und durch diese Gesellschaft verfolgt wird, während die Straftaten, um die es hier geht, in der Auseinandersetzung von Staaten begangen worden sind, so daß sie insoweit aus dem Rahmen einer rein innerstaatlichen und innengesellschaftlichen Beurteilung herausfallen. Das ist der entscheidende Unterschied.
Und diesen Unterschied muß man bei einem solchen Abkommen selbstverständlich berücksichtigen, gerade dann, wenn man die politischen Gesichtspunkte würdigen will, die hier über das rein Rechtliche hinaus sicherlich angesprochen werden müssen.Lassen Sie mich nun noch auf den Einwand eingehen, die Verteidigerrechte seien eingeschränkt. Ich
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Dr. Bangemannmuß Ihnen sagen, Herr Kollege Schöfberger, das, was Sie gesagt haben — ich selbst bin ja auch Anwalt —, hat mich nicht überzeugt. Aber das heißt nicht, daß das, was Herr Jaeger gesagt hat, mich überzeugt hätte.
— Bitte sehr!
Darf ich daraus schließen, Herr Kollege Bangemann, daß Sie nur von Ihren eigenen Ausführungen überzeugt sind?
Nein, Herr Lenz! Das dürfen Sie nicht daraus schließen.
— Hätten Sie Ausführungen gemacht, dann hätten Sie sicherlich andere als Herr Jaeger gemacht. Und ich wäre dann von den Ihren überzeugt gewesen.Ich will nun auf die Argumente eingehen, die Herr Kollege Schöfberger vorgebracht hat. Er hat gesagt:Erstens. Entlastendes wie auch Belastendes wird durch die Staatsanwaltschaft ermittelt. Deshalb sei hier der Verzicht auf unmittelbare Einsicht durch den Verteidiger erträglich. Wenn Sie das einem Verteidiger sagen, dann springt er an die Decke. Denn wozu brauchen wir denn einen Verteidiger, meine Damen und Herren, wenn die Staatsanwaltschaft immer in einer solchen Weise vorgeht!
Das ist ein Ziel, das die Staatsanwaltschaft verfolgen sollte; das ist auch völlig unbestritten. Aber daß ein Verteidiger eine legitime originäre eigene Aufgabe in der Wahrnehmung von Verteidigerrechten hat, ist doch klar.Zweitens. Die Akteneinsicht sei ja in jedem Falle dadurch gewährt, daß man Akten einsehen könne, die im Strafverfahren hergestellt werden. Ja, meine Damen und Herren, darum geht es doch gerade, daß man eben nicht nur die Akten einsehen wollte, die im Strafverfahren hergestellt worden sind, sondern alle möglichen anderen Akten auch.Drittens. Der Augenschein biete ein Anwesenheitsrecht. Das ist natürlich richtig, aber es geht hier ja gar nicht um Augenscheineinnahme, sondern es geht schlicht und einfach um die Begutachtung von Dokumenten.Viertens. Das Gericht muß auch das Entlastende heranziehen. Hier gilt dasselbe wie zu Punkt 1.Fünftens. Beweisanträge durch Verteidiger könnten dazu dienen, gerade in einer solchen ungünstigen Situation den Prozeß möglicherweise zu verschleppen. Ich weiß nicht, mit welchen Richtern Sie es in München zu tun haben; aber wenn ich das versuchen würde, dann würde ein solcher Beweisantrag wegen Verschleppungsabsicht abgelehnt.Sechstens. Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme würde gewährleisten, daß Personen unmittelbar vernommen werden. Das ist natürlich richtig,wenn solche Zeugen noch da sind. Aber überall da, e wo solche Zeugen nicht mehr vorhanden sind, müssen Sie auf Dokumente zurückgreifen, und dann nützt es Ihnen nichts, daß der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme hier angeführt wird. — Das sind also keine zureichenden Argumente.Aber, Herr Jaeger, es geht hier doch um folgendes: Sie können in einer internationalen Vereinbarung, in einer Vereinbarung zwischen zwei Staaten, nicht erzwingen, daß ein bestimmter Vertragspartner dieser Vereinbarung Ihnen Rechte zubilligt, die er nicht einmal seinen eigenen Verteidigern zubilligt, nämlich eine uneingeschränkte Einsicht in Archive, die eben möglicherweise — auch in Frankreich — nur beschränkt der Einsicht zugänglich sind.Das ist auch ein ungewöhnliches Verfahren. Sie wissen, daß wir in den Beratungen gehört haben, daß selbst bei Rechtshilfeabkommen eine solche weitgehende Verteidigerposition nie erreicht worden ist, und deswegen ist es ungewöhnlich und völlig ohne jedes Vorbild, diese Rechte zu verlangen.Wenn Sie sagen — Sie haben es so im Auswärtigen Ausschuß formuliert —, ein Verfahren sollte nur durchgeführt werden, wenn dem Verteidiger bestimmte Rechte zugebilligt werden, dann tun Sie ja genau das gleiche, was Sie am Überleitungsvertrag mit Recht kritisiert haben: Sie billigen nämlich einem anderen Staat die letzte Entscheidung darüber zu, ob ein Verfahren durchgeführt wird oder nicht. Weigern sich die französischen Behörden, einem Anwalt eine solche Akteneinsicht zu gewähren, dann wird das Verfahren nicht durchgeführt. Was ist denn das für eine rechtliche Regelung? Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, gerade die Juristen unter Ihnen, vielleicht auch die früheren Justizminister, sich einmal zu überlegen, welche rechtlichen Konsequenzen ein solches Verfahren hätte. Das ist meiner Meinung nach völlig unmöglich. Dieses kann also nach meiner Meinung auch kein Argument zur Ablehnung des Vertrages sein.Lassen Sie mich zum Schluß, meine Damen und Herren, ganz kurz noch einmal darlegen, warum meine Fraktion, die Freien Demokraten, der Ratifizierung dieses Zusatzabkommens zustimmen werden. Wir sind erstens der Meinung, daß die rechtlichen Zweifel, die bei Ihnen noch vorhanden sind, zureichend ausgeräumt werden können, daß ein verbleibender Rest zu dem Risiko gehört, das auch in einem Rechtsstaat akzeptiert werden muß, weil es ein Risiko ist, das durch menschliche Bemühungen nicht ausgeräumt werden kann. Das war der erste Punkt.Zweitens sind wir der Meinung, daß wir den Anschein, schon den „bösen Schein" einer Begünstigung der Personen, die Sie auch nicht begünstigen wollen, vermeiden sollten.Meine Damen und Herren, es geht hier darum, daß wir schlicht und einfach zurückkehren zu dem Grundsatz der Rechtsgleichheit, der vor dem Überleitungsvertrag und auch durch den Überleitungsvertrag eben nicht gewahrt worden ist. Deshalb brauchen wir das Zusatzabkommen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10133
Dr. BangemannDieses Zusatzabkommen soll gewährleisten — das ist unser Ausgangspunkt bei seiner Beurteilung —, daß Täter, die in Abwesenheit in Frankreich verurteilt worden sind und heute bei uns nicht verfolgt werden können und die in aller Regel sogar Haupttäter sind, in gleicher Weise wie nur minder Beteiligte verfolgt werden können. Wer das als Ausgangspunkt verwischen will, durch welche Argumentation auch immer, verwischt unseren eigenen Standpunkt; denn uns kann es nur darum gehen, auch bei einem internationalen Vertrag, auch bei einem Vertrag mit einem befreundeten Nachbarland, diesem Land und der Öffentlichkeit zu sagen: Eine Demokratie lebt auch von der formalen Verteidigung ihrer Rechtsstruktur; d. h. eine Demokratie, die ihre eigene Rechtsstruktur in Gefahr setzt, die Rechtsungleichheiten nicht aus eigenem Antrieb heraus beseitigen will, gefährdet sich selbst.Jeder Staat, der mit uns in Freundschaft leben will — ich gehe davon aus, daß das bei Frankreich in hohem Maße der Fall ist —, muß diesen unseren Standpunkt anerkennen, weil er allein der Fundierung dieser Freundschaft zwischen Demokratien dienen kann. Das ist für uns Freie Demokraten das Motiv, diesem Zusatzabkommen zuzustimmen. Wir wollen damit die Achtung vor dem Recht als wesentliches Element demokratischer Entscheidung deutlich herausstellen und wollen gleichzeitig sagen, daß diese Achtung vor dem Recht auch Basis unserer freundschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern sein muß.
Meine Damen und Herren, als nächstem Redner erteile ich dem Herrn Abgeordneten Erhard das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sicher, die Vorstellung, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, ist faszinierend. Unter diesem Gesichtspunkt verdienen der Vertrag und das Ratifikationsgesetz eine zusätzliche Betrachtung.
Das Ziel des Vertrages ist, so haben wir gehört, diejenigen Personen der Strafverfolgung und der eventuellen Bestrafung zuzuführen, die als nationalsozialistische Gewaltverbrecher in allen Formen der Teilnahme verdächtigt sind. Man muß auf Grund der Ergebnisse der Beratungen in den Ausschüssen, vor allem im Rechtsausschuß, fragen, ob dieses Ziel wohl erreicht werden kann.
Von Frau Klarsfeld aufgeschreckt, ist Herr Lischka Symbolfigur der hier gemeinten Personen und Täter geworden. Von den bisher bekannten 925 Personen, die in Abwesenheit verurteilt wurden, gehören 23 zu dem Komplex der Judenverfolgung und -vernichtung in Frankreich.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Niegel?
Ja.
Herr Kollege Erhard, würden Sie vielleicht die Freundlichkeit haben, den amtierenden Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Dr. Schmidtt-Vockenhausen, darauf aufmerksam zu machen, daß die wegen Hausverbotes bekannte Dame, Frau Klarsfeld, in diesem Hause anwesend ist, damit sie aus diesem Hause entfernt wird?
Herr Kollege Niegel, ich weiß das nicht; ich kann den Herrn Präsidenten nicht darauf aufmerksam machen. Aber wenn dem so ist, wird er sich ganz sicher zu entsprechenden Reaktionen veranlaßt sehen.
Herr Kollege Niegel, ich betrachte das, was Sie soeben gesagt haben, als einen Mißbrauch des Fragerechts.
Im übrigen möchte ich dem Hohen Hause sagen: Ich fühle mich durch Frau Klarsfeld absolut nicht beeinträchtigt.
— Herr Wehner, Sie erwarten darauf von mir doch sicher keine Antwort.
Nach unserem heutigen Recht handelt es sich hier also um einen Teil des an dem Judenvolk begangenen Völkermordes. Von diesen 23 Personen sind bei uns ganze 20 der Strafverfolgung bekannt.
Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dem Redner die Möglichkeit geben würden, hier verständlich zu sprechen.
Und unter diesen 20 Personen, meine Damen und Herren, befinden sich die drei Prominenten Lischka, Hagen und Heinrichsohn. Alle diese Täter werden aber — und das muß man hier sagen, damit wir später nicht an falschen Vorstellungen kranken werden — kaum wegen eines Tötungsdelikts bestraft werden können. Bei diesen Tätern ist es völlig gleichgültig, ob der Vertrag eindeutig auf Mord beschränkt wird oder nicht. Wir haben im Rechtsausschuß die zuständigen Staatsanwälte gehört; sie haben dort eingehend berichtet. Danach sollen alle Betroffenen und außerdem über 300 Zeugen allein in diesem Sachkomplex ausnahmslos gesagt haben, es sei ihnen damals nicht bekannt gewesen, daß die Festgenommenen, Inhaftierten und später Deportierten hätten getötet werden sollen. Im Lager Drancy in Frankreich ist nicht getötet worden; das war ein reines Sammellager. Unmittelbare Tötungen werden auch
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diesen Schreibtischtätern oder sonstigen Beteiligten nicht zur Last gelegt.Wenn es bei diesem Ermittlungsergebnis bleiben sollte, meine sehr verehrten Damen und Herren, werden die Verfahren wahrscheinlich eingestellt, oder sie werden voraussichtlich mit Freisprüchen enden, das heißt, die Verfahren, wegen derer wir hier glauben, einen solchen Vertrag abschließen zu sollen, um dieses Ziel zu erreichen!Übrigens, gegen Lischka sind bereits sechs Ermittlungsverfahren vom Generalstaatsanwalt in Berlin eingestellt worden, obwohl Lischka im Zentrum der Vernichtungsmaschinerie tätig war, ich meine im Reichssicherheitshauptamt in Berlin, und zwar nach seiner Tätigkeit in Frankreich; hier war er also näher mit den Massenvernichtungen in Berührung. Darüber haben die „Deutschland-Berichte" im September 1974 eingehend informiert.Eine weitere ganz geringe Zahl — drei Personen wurden im Rechtsausschuß genannt — gehört zu den Betroffenen. Und davon könnte einer wegen verbrecherischen Tuns im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof als typischer nationalsozialistischer Gewaltverbrecher angesehen werden. Bei den beiden anderen Fällen handelt es sich um Vorgänge — wenn uns der Sachverhalt richtig wiedergegeben wurde —, die in den militärischen Bereich gehören. Es bleiben dann also zirka 900 in Abwesenheit Verurteilte. Für die Strafverfolgung noch erreichbar mögen etwa 500 sein; die zuständige Stelle in Ludwigsburg meint, bis etwa 550. Waren das auch NS-Täter? Aus den entsprechenden Gesinnungen heraus vielleicht der eine oder andere. Ganz überwiegend aber sind es ehemalige Soldaten.
Verurteilt wurden sie — der letzte übrigens erst 1957 — in Abwesenheit nach einem nur gegen Deutsche gerichteten Gesetz, das nach Ende des Krieges in Frankreich erlassen wurde. Vielleicht schuldig geworden sind diese Personen in der teilweise grausam und erbittert geführten Auseinandersetzung mit der französischen Résistance. Ich habe großen Respekt vor dem gefährlichen und mutigen Engagement der Angehörigen des französischen Widerstandes. Es ist auch nur zu verständlich, daß sie in ihrem Volk besondere Achtung genießen und als Helden gefeiert werden.Demgegenüber müssen aber wir aus unserer Sicht damals wie heute feststellen, daß bewaffnete Widerstandsgruppen in einem militärisch besetzten Gebiet Freischärler sind. Gerade das ohne das näher auszuführen — macht die unterschiedliche Beurteilung der insoweit in Rede stehenden Taten deutlich, und diese müssen dadurch aus der Verfolgbarkeit ausgeschlossen werden, daß in diesem Vertrag die Begrenzung auf Mord Wirklichkeit wird. Bei diesen kämpferischen Auseinandersetzungen können bestimmte Taten durchaus als Mord anzusehen sein; sicher aber viele als Totschlag, und zwar, meine Damen und Herren, auf beiden Seiten.In den Strafverfahren, die vor uns stehen werden, wird dieser unselige Zeitabschnitt unserer Geschichte aufgerollt werden. Alte Leidenschaften werden geweckt, Wunden werden wieder aufgerissen, Verbitterung, vielleicht Haß wird wieder lebendig, und zwar auch wiederum auf beiden Seiten. Diese Gefahr droht ganz massiv, wenn das Abkommen, wie ich eben sagte, nicht auf Mord beschränkt wird. Wenn das nicht geschieht und solche Verfahren vor uns stehen, dann kann das dem deutsch-französischen Verhältnis mit Sicherheit nicht förderlich sein. Die inzwischen verstrichene Zeit von mehr als 30 Jahren hat beruhigt und geheilt. Soll das für unsere Völker vergeblich gewesen sein?Es besteht die Gefahr, meine Damen und Herren, daß dieser Vertrag und dieses Gesetz keine Bestrafung der typischen nationalsozialistischen Gewalttäter ermöglicht, wohl aber sich als ein Gesetz gegen die Landser des Zweiten Weltkrieges erweisen könnte.Wie konnte die Bundesregierung solches übersehen? Warum hat die Bundesregierung in dem vernüftigen Bestreben, Mörder dem gerechten Urteil zuzuführen, diese Gefahren nicht erkannt und in den Vertragsverhandlungen nicht Wege gesucht, diese zu vermeiden?Sicher sind wir weitgehend einig in dem Bestreben, Schwerkriminelle endlich der Strafverfolgung zuzuführen. Ob sie bestraft werden, wie Herr Kollege Schöfberger unterstellt, wissen wir nicht; wir können den Verfahren nicht vorgreifen. Aber ist dieses Bestreben auch dann noch gerechtfertigt, wenn Hunderte früherer Soldaten in Ermittlungsverfahren und Strafverfahren verwickelt und durch die Instanzen gezogen werden, ohne daß sie Schwerkriminelle sind? Ist es vertretbar, als Ausweg oder Lösung für die Unebenheiten in diesem Vertrag, die soeben von beiden Seiten des Hauses zugegeben und deutlich gemacht wurden, auf die Möglichkeit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts als letzte Instanz bei Verletzungen des Gleichheitssatzes zu verweisen, wie das im Ausschuß auf unsere Einwendungen ausdrücklich geschehen ist? Darf der Gesetzgeber solche Unsicherheiten den Gerichten und den betroffenen Bürgern zuschieben, ohne daß dadurch Schaden im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung entsteht? Der Gesetzgeber darf das nach meiner Ansicht nicht. Seine fehlende Bereitschaft zur klaren Entscheidung ist ein Stück Verantwortungslosigkeit und beruht auf irrationalen Erwägungen, oder es mangelt schlicht an Mut.Es gibt sicher auch eine von der Gerechtigkeit geforderte Überlegung, daß man nicht eine große Zahl von Menschen mit Strafverfahren überziehen darf, um ganz wenige möglicherweise zu fassen und zu bestrafen. Das Mißverhältnis, die Quantität kann aus Recht Unrecht machen. Das Verlangen nach höchster Gerechtigkeit kann, ja muß von einer bestimmten Schwelle an zur sicheren Ungerechtigkeit führen; das haben schon die Römer gewußt. Ich fürchte, daß diese Schwelle mit diesem Gesetz in der jetzt vorliegenden Fassung zusammen mit dem Vertrag überschritten wird. Das dient dann nicht mehr
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Erhard
der Stärkung des Rechtsbewußtseins in unserem Volke, nein, es zerstört den Glauben an das Recht und die Hoffnung auf Gerechtigkeit.Was eigentlich, Herr Kollege Bangemann, ist mit Ihrer Partei geschehen? Wie eigentlich verhalten Sie sich zu dem, was Sie in den Debatten um die beiden Elemente der Verjährung hier gesagt haben? Wo ist der Herr Kollege Spitzmüller? Ich sehe ihn nicht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
— Herr Kollege Bangemann, der Herr Kollege gestattet keine Zwischenfrage. — Bitte!
Haben Sie, Herr Kollege Spitzmüller — er wird mich wahrscheinlich über das Mikrophon hören —, die Meinung, die Sie hier am 25. März 1965 geäußert haben, geändert? Ich darf Sie aus der Debatte von 1965 zitieren. Es heißt dort nach einem Vorspruch über Gerechtigkeit wörtlich:
Da komme ich zu einem schrecklichen Ergebnis, zu dem Ergebnis nämlich, daß wir, was immer wir auch tun, der Idee der Gerechtigkeit nicht nahekommen, daß wir uns ihr vielleicht um Zentimeter nähern, uns aber auch gleichzeitig wieder von dieser Mehrgerechtigkeit entfernen.
Ist das heute nicht noch deutlicher, weil in den rechtlichen Folgen bei diesem Vertragswerk noch zusätzlich ungewisser?
Der damalige Bundesjustizminister Bucher — wir wissen: FDP —, der Staatsminister Dr. Haußmann, Frau Dr. Diemer-Nicolaus, Herr Busse beschworen den Bundestag, die Strafverfolgungsverjährung nicht zu manipulieren und zu verlängern. Jetzt sagt man, die Annahme dieses Gesetzes sei politisch notwendig, es lasse sich ja alles lösen. Wie klassisch
— und ich meine, richtig — stellte Dr. Dehler hier im Bundestag am 10. März 1965 fest:
Wenn da einer sagt,
— Herr Kollege Bangemann, das gilt besonders Ihnen —
etwas sei zwar wirtschaftlich falsch oder auch sittlich fragwürdig oder rechtlich falsch, es sei aber politisch notwendig, dann war es immer auch politisch falsch.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Bangemann?
Jetzt gestatte ich die Zwischenfrage. Bitte!
Herr Kollege, sehen Sie denn nicht, daß das Zusatzabkommen die Frage der Verjährung, die Sie jetzt mit den Zitaten angesprochen haben, überhaupt nicht berührt? Das Zusatzabkommen will ja nur die Gleichheit der Behandlung der gleichen Täter wegen der gleichen Straftaten unter der Geltung unserer jetzigen Verjährungsfristen herstellen. Sind Sie bereit, zuzugeben, daß die Verjährungsfristen, die jetzt bei uns gelten, nicht unser, sondern Ihr Werk sind?
Herr Kollege Bangemann, ich bin durchaus bereit, Ihnen ganz klar zu sagen, daß die jetzt geltenden Verjährungsfristen auf Grund einer breiten Mehrheit einschließlich der CDU/CSU so gelten, wie sie gelten. Das ist nicht das Problem. Das Problem liegt darin, daß ohne die Beschränkung auf Mord jetzt Totschlag und andere Delikte der Verfolgung neu preisgegeben oder zugeführt werden, wo sie doch in anderen Bereichen in der ganzen Bundesrepublik längst verjährt sind. Wir eröffnen dort neue Strafverfahren, wo in anderen Fällen bereits die Verjährung eingetreten ist. Genau das ist ja doch das Ärgernis an diesem Vertrag, wie er jetzt aussieht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Moersch? — Bitte, Herr Kollege!
Sind Sie mit mir der Meinung, daß dieses Abkommen dadurch nicht nur möglich, sondern auch in der Konsequenz notwendig geworden ist, daß die Mehrheit Ihrer Fraktion in diesem Hause damals entgegen dem Wunsch der FDP der Verlängerung der Verjährungsfristen zugestimmt hat?
Nein, darin stimme ich Ihnen absolut nicht zu. Das hätte dann ja damals auch schon geschehen können, denn wir sind ja seit langem in diesem Fragenkomplex durchaus nicht unwissend.Erinnern wir uns daran: Herr Bucher trat als Bundesjustizminister zurück, weil der Beginn der Verjährungsfrist gesetzlich festgelegt und damit die Vollendung der Verjährung hinausgeschoben wurde. Auch 1969 lehnte doch die FDP die Verlängerung der Verjährungsfrist ab. Es ist interessant, was uns 1969 derselbe Herr Dr. Bucher hier gesagt hat:Denjenigen, die bei dieser Entscheidung — was ich gar nicht einmal als absolut unangebracht bezeichnen möchte — vielleicht einen Blick auf die Wirkung im Ausland werfen, gebe ich nur zu bedenken, daß die Wirkung genauso unerfreulich sein wird, wenn die Gerichte zwangsläufig infolge des „in dubio pro reo" in immer mehr Fällen auf Freispruch erkennen.Ich füge heute hinzu: Was wird man in Frankreich sagen, wenn die Verfahren z. B. gegen Lischka und andere mit Einstellung oder Freispruch enden und wir das auf diplomatischem Wege nach Frankreich berichten müssen? Was wird man sagen, wenn Verfahren eingestellt werden, weil die Verurteilung in
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Erhard
Abwesenheit durch ein französisches Militärgericht eine Tat betroffen hat, die nach deutschem Recht nicht strafbar ist? Über jedes Verfahren muß ja berichtet werden.Ein weiterer Gesichtspunkt: Damals klagte Dr. Bucher über den Fehler, der von der deutschen Regierung gemacht worden sei, indem die Regierung es über lange Jahre abgelehnt habe, sich um das Belastungsmaterial aus dem Osten zu kümmern.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die zentrale Stelle in Ludwigsburg, die auch die Frankreich betreffenden Fälle erfaßt, hat sich seit 1966 um Material aus Frankreich gekümmert. Aber Abwesenheitsurteile und auch Anwesenheitsurteile, also selbst Urteile aus ganz normal durchgeführten Strafverfahren, die für die Ermittlungen bedeutsam sein konnten, wurden von Frankreich bis heute nur im Tenor, aber nicht in ihrem Wortlaut bekanntgegeben. Von deutscher Seite ist seit 1955 nicht ein einziger Antrag auf Erteilung einer sogenannten Botschafterbescheinigung, die nach dem Überleitungsvertrag hätte erteilt werden können, gestellt worden. Herr Kollege Jaeger hat es angedeutet: Beide Seiten haben also offensichtlich an die Strafverfolgung nicht so recht herangewollt oder das Problem vor sich hergeschoben. Es ließe sich dazu eine ganze Menge zusätzlich sagen; ich will dies nicht tun.Jetzt soll man glauben, dieses Gesetz mit dem Abkommen führe zu mehr Gerechtigkeit. Wir müssen, so glaube ich, sorgfältig darauf achten, daß gesetzliche Regelungen und deren Folgen nicht das Gegenteil der beabsichtigten Wirkungen haben dürfen. Es wäre sicher schmerzlich und schädlich zugleich, wenn in unserem Volke eine breite Empfindung entstünde, die ich grob etwa folgendermaßen skizzieren will: Waren im zweiten Weltkrieg nur Deutsche Rechtsbrecher? Warum wird gleiches Unrecht nicht gleich behandelt, unabhängig von der Nationalität? Warum nur immer wir und nicht auch die anderen? Damit würden die Verfahren in ihren Ergebnissen doch wohl sicher nicht mehr anerkannt, und die Besinnung über Recht und Unrecht würde durch andere Gefühle überlagert. Ein solches Gefühl wird noch zusätzlich durch die Tatsache heraufbeschworen und verstärkt, daß die jetzige Regierung die an Deutschen im Osten im Rahmen der Vertreibung und auch an anderer Stelle — nicht im Osten -verübten Verbrechen öffentlich verschweigt und anderen Regierungen selbst namentlich bekannte Täter nicht nennt und deren Strafverfolgung nicht fordert, wie das erst jüngst in der Fragestunde vom 15. Januar in der Antwort auf die Frage des Kollegen Dr. Czaja sehr deutlich geworden ist.Warum, so frage ich, fehlt in dem heute zur Abstimmung anstehenden Abkommen jedes Element der Gegenseitigkeit? Beruht das etwa auf dem politisch motivierten Druck, den die damaligen Justizminister Heinemann und Ehmke in Richtung auf das Zustandekommen des Abkommens ausgeübt haben?Meine Damen und Herren, wir sollten die von mir beschworenen Gefahren von unserem Volke abwehren, anstatt sie selbst herbeizuführen. Ich halte dies für mindestens ebenso wichtig wie die erforderliche Rücksichtnahme auf eine Verstimmung in Frank-reich und vielleicht auch in anderen Ländern. Deshalb können wir diesem Gesetzentwurf und dem Abkommen nicht zustimmen. Wenn das Abkommen auf Mord beschränkt würde und die Fairneß des Verfahrens gewährleistet würde, wäre die Position eine andere.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Friedrich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Sprecher der Opposition haben in ihren Ausführungen ausschließlich auf der Grundlage der Diskussionen des Rechtsausschusses argumentiert. Wenn der Auswärtige Ausschuß bei der Behandlung dieses Vertrages federführend war, dann ist das für uns nicht nur eine formelle, sondern auch eine politische Frage.
Sicher, es waren Probleme des Rechts, die diesen Vertrag auslösten, nämlich die Frage, ob es möglich sein darf — und es ist möglich —, daß in unserem Land Menschen leben, die sich der gleichen Sache schuldig gemacht haben, von denen aber nur die einen bestraft werden, während die anderen — im gleichen Verfahren mit anwesend — frei laufen können. Nichts ist doch schlimmer für die Glaubwürdigkeit des Rechts als die Bestätigung des im Volksmund bekannten Satzes: Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen.
Sie erwecken hier den Eindruck, als ob die sozialliberale Koalition — dazu, Herr Kollege Jaeger, wird noch etwas zu sagen sein — dies nun aufgegriffen habe. Es waren Staatsanwälte und Richter — wie Sie wissen, auch aus einem CDU-Land —, die gefordert haben, daß diese Gesetzeslücke geschlossen wird. Wenn wir diesem Gesetz zustimmen — —
— Nein, ich möchte mich zu dieser Zeit kurz fassen.
-- Lassen Sie mich reden. Ich werde dazu noch etwas sagen.
Herr Abgeordneter Lenz, wie Sie wissen, ist es das Recht jedes Redners, Fragen abzulehnen.
Wenn wir diesem Gesetz zustimmen, dann doch deshalb, weil wir überzeugt sind, daß nur Mord verfolgt werden wird.Aber es überrascht mich, mit welch leichter Hand die Opposition die politische Bewertung dieses Gesetzes in bezug auf unser Verhältnis zu Frankreich hier vom Tisch schiebt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10137
FriedrichSo leicht kann man es sich nach den internationalen Diskussionen nicht machen.
— Das ist nicht nur eine Frage des Verhältnisses zu Frankreich, Herr Kollege Mertes, sondern dies ist — wir hatten hier heute eine Debatte über die deutsche Teilung — der zweite Teil der deutschen Teilung. Dieses Gesetz hängt nämlich mit den Ursachen der deutschen Teilung eng zusammen.Wir haben uns immer gegen den Vorwurf gewehrt, daß das deutsche Volk mit den Verbrechen des Nationalsozialismus identifiziert wird. Vor allem haben wir uns dagegen gewehrt, daß man damit die junge Generation belastet. Aber hängt unsere Glaubwürdigkeit in diesen Fragen nicht davon ab, wie eindeutig wir uns denen gegenüber stellen, die sich in dieser schlimmen Zeit des Verbrechens des Mordes schuldig gemacht haben? Das ist eine ganz entscheidende Frage.
Wir haben in dieser Woche eine besondere Art von Aufmerksamkeit für dieses Gesetz, weil es 30 Jahre sind, daß Auschwitz befreit worden ist. Wem das nicht genügt, dem sage ich: Ich glaube, wir dürfen am 30. Januar nicht den Eindruck erwecken, als ob wir Deutschen — hier ist das Wort „resozialisiert" gefallen — unsere Vergangenheit resozialisiert hätten.
Hier sehen wir unsere Verantwortung.
Hier muß ich etwas zurückweisen, Herr Kollege Jaeger. Ich habe es mir notiert. Man sollte es nicht ganz so behandeln, so sagten Sie, wie es uns weisgemacht wird, und Sie sprachen von Herrn Ehmke mit seiner Weisheit. Ich weiß, daß Sie ein Jurist sind. Ich bin es nicht. Nur sollte ein Jurist in Fragen, wo es um den Umgang mit dem Recht geht, nicht so schnoddrig werden.
Dies können Sie hier so nicht behandeln. Wenn in Baden-Württemberg nach Prozessen die Staatsanwälte fordern, daß diese Gesetzeslücke beseitigt wird, dann können Sie hier nicht mit den Worten „weil es bei Bahr und Ehmke so üblich ist" einem Kollegen von früher so en passant einen Tritt erteilen.
Dies ist nicht die richtige Argumentation in einer solchen Diskussion.Das Bundesjustimzinisterium ist auf Wunsch zweier Länder, eines CDU- und eines SPD/FDPregierten Landes, tätig geworden. Wie üblich wurde, da es zwei Ressorts betraf, das Auswärtige Amt tätig. So ist die Sache. Dann wurde das im Kabinettbehandelt, und alle Ressorts stimmten zu. Der Bundesrat hat dieses Gesetz zweimal ohne Einwand passieren lassen. Das ist rechtlich für die endgültige Behandlung nicht relevant, aber politisch ist es interessant, daß Sie sich im Rechtsausschuß der Stimme enthalten, dann im Auswärtigen Ausschuß gegen genau die gleichen Anträge stimmen und jetzt ankündigen: Wir werden im Bundesrat darüber reden müssen.
— Ich habe die Frage vorhin nicht zugelassen; ich kann das hier jetzt auch nicht tun. — Wer meint, dieses Gesetz scheitern lassen zu können, trägt die Verantwortung für die Belastung des deutschfranzösischen Verhältnisses,
trägt die Verantwortung für die Belastung unseres Ansehens hinsichtlich des Umgangs mit dem schlimmsten Erbe unserer Vergangenheit. Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Das Wort hat der Herr Bundesjustizminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einige Äußerungen in der Debatte machen es erforderlich, vom Standpunkt des Bundesministeriums der Justiz Stellung zu nehmen.
Ich möchte dies in aller Kürze und unter Beschränkung auf das Wesentliche tun.Sie, Herr Kollege Jaeger, haben die Aufmerksamkeit auf die Vorgeschichte des Abkommens gelenkt und haben besonders hervorgehoben, daß zwei sozialdemokratische Minister die Initiative ergriffen haben. Ich glaube, Sie haben das nicht als Tadel gemeint, und ich möchte ganz ausdrücklich sagen, daß Sozialdemokraten sich dieser Initiative nicht zu schämen haben.
Sie haben hinzugefügt, daß Herr Bundeskanzler Kiesinger von dieser Initiative keine Kenntnis gehabt habe. Ich bin nicht in der Lage, dazu Stellung zu nehmen, aber ich bin ganz sicher, daß Herr Bundeskanzler Kiesinger diese Initiative in ihrer vollen Kenntnis unterstützt und nicht behindert oder unmöglich gemacht hätte.Ich sehe mich in dieser Auffassung um so mehr bestärkt, als die erste Anregung, mit der französischen Regierung in Verhandlungen einzutreten, vom Justizministerium Nordrhein-Westfalen im August 1966 ausging. Ministerpräsident und Justizminister in Nordrhein-Westfalen war damals in Personalunion Herr Meyers. Die zweite Anregung, die in kürzeren Abständen wiederholt wurde, kam aus
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10138 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Bundesminister Dr. Vogeldem Justizministerium Baden-Württemberg, und zwar in der Zeit, in der Herr Bundeskanzler a. D. Kiesinger Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg gewesen ist. Unter Ministerpräsident Filbinger sind diese Mahnungen in dringlicher Form wiederholt worden.Sie, Herr Kollege Jaeger, haben zum zweiten diese Debatte dazu benützt, sich über die Frage des Strafzwecks zu äußern, und haben bei dieser Gelegenheit an einer von Ihnen den Sozialdemokraten zugeschriebenen Auffassung Kritik geübt. Ich glaube, es ist auch in diesem Falle nützlich, einen Blick in das Gesetz zu werfen und sich die Fassung des § 46 des Strafgesetzbuches zu vergegenwärtigen, das dieser Bundestag nahezu einstimmig verabschiedet hat und das am 1. Januar 1975 in Kraft getreten ist. Dieser Paragraph lautet — ich darf ihn mit Genehmigung des Präsidenten zitieren —:Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.Ich sehe keinen Sinn darin, diese Verständigung des Bundestags über elementare Fragen unseres staatlichen Gemeinschaftslebens bei dieser Gelegenheit in Frage zu stellen.
Zum dritten: Es ist Kritik geübt worden mit der Begründung, daß andere Staaten ein solches Abkommen nicht schließen würden, ja daß andere Staaten noch nicht einmal bereit seien, in solchen Fällen Auskünfte zu erteilen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das mag sein, aber ich glaube, wir haben hier unser Haus zu bestellen und rechtliche Regelungen zu treffen, die wir vor unserer Verfassung und unseren Maßstäben verantworten können. Das ist unsere Aufgabe.
Zum Vierten ist in dem Diskussionsbeitrag des Kollegen Erhard noch einmal die generelle Problematik der Verfolgung weit zurückliegender NS-Gewalttaten aufgeworfen worden. Ich meine, dieses Haus hat in einer denkwürdigen Beratung, nämlich in der Beratung, die zum Gesetz vom 4. August 1969 geführt hat, in einer Beratung, die, wie ich glaube, zu den Höhepunkten in der parlamentarischen Geschichte dieser Bundesrepublik gehört, diese Frage ein für allemal entschieden. Ich sehe keinen Sinn darin, auch diesen Konsens bei dieser Gelegenheit in Frage zu stellen.Nun zu den zwei speziellen Rechtsbedenken, die Sie, Herr Kollege Jaeger, artikuliert haben. Sie haben behauptet, der Überleitungsvertrag ermögliche auch die Strafverfolgung von Taten, die sonst schon verjährt sind, also auch von anderen Straftaten als Mord, Anstiftung und Beihilfe zum Mord. Diese Auffassung, Herr Kollege Jaeger, ist falsch. Sie widerspricht dem Gesetz, sie widerspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, und sie widerspricht der Literatur.Von der zutreffenden Auffassung, daß infolge der Geltung der Verjährungsvorschriften nur noch Mord, Beihilfe und Anstiftung zum Mord verfolgt werden können, ist die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen ausgegangen. Diese Auffassung hat ihren Niederschlag auch im Vertrag selbst gefunden, der sich ausdrücklich darauf bezieht, daß lediglich Straftaten zu verfolgen sind, die nach deutschem Recht noch verfolgbar sind. Zum deutschen Recht gehört aber eben auch die herrschende Rechtsmeinung, gehören die Auslegungsgrundsätze, die zur Interpretation deutscher Rechtsbestimmungen entwickelt worden sind. Diese Rechtsmeinung ist auch im Ausschußbericht ausdrücklich festgehalten.Es ist schwer zu verstehen, warum Sie, meine Herren von der Opposition,
diese Frage dennoch zum Gegensand der Auseinandersetzung machen. Gerade dadurch wird sie erst zur Streitfrage. Sie beschwören ja erst die Gefahr herauf, die Sie angeblich bannen wollen. Indes: Die Rechtsprechung wird sich nicht an einzelnen Debattenbeiträgen, sondern an der Rechtslage und dem übereinstimmenden Willen aller an der Gesetzgebung Beteiligten orientieren. Gerade deshalb ist, von außenpolitischen Erwägungen ganz abgesehen, auch aus juristischen Gründen kein Anlaß ersichtlich, dies noch einmal in das Ratifizierungsgesetz zu schreiben. Wir schreiben ja auch sonst nicht alle Selbstverständlichkeiten und alle herrschenden Rechtsmeinungen noch einmal in die Ratifizierungsgesetze. Warum also gerade hier?Genausowenig stichhaltig sind Ihre Ausführungen, Herr Kollege Jaeger, zur Frage der Akteneinsicht des Verteidigers. Die Einsichtnahme durch Staatsanwälte entspricht in diesen Fällen einer seit dem Jahre 1964 geübten Praxis, einer Praxis, die übrigens auf einen gemeinsam von CDU und SPD hier im Bundestag gestellten Antrag zurückgeht. Sie entspricht auch der Praxis in allen Rechtshilfeabkommen. Bis zu dieser Stunde ist niemand auf den Gedanken gekommen, in der Einsichtnahme durch den Staatsanwalt eine Beeinträchtigung der Verteidigung zu erblicken.Ich möchte deshalb dem Ratschlag, die Beratungen noch einmal zu unterbrechen, ausdrücklich widersprechen. Ich meine, der Bundestag ist gut beraten, wenn er das Abkommen heute verabschiedet. Er wäre noch besser beraten, wenn er es mit einer breiten Mehrheit täte.
Unter ein dunkles Kapitel unserer Geschichte würde auf diese Weise vom Gesetzgeber ein würdiger und überzeugender Schlußstrich gezogen. Sie sollten diese Chance nicht vertun.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10139
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Anträge zur Geschäftsordnung waren nicht gestellt.
Wir treten in die Abstimmung ein. Ich rufe Art. 1, — Art. 2, — Einleitung und Überschrift auf. — Wer dem Gesetz in der zweiten Beratung, die ich mit der Schlußabstimmung verbinde, zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben.
Gegenprobe!
Ich frage nach Stimmenthaltungen. — Keine Stimmenthaltungen.
Das Gesetz ist in der zweiten Beratung und der Schlußabstimmung angenommen.
Nun kehren wir wieder zu der Debatte über die Punkte 3 und 4, Deutschlandpolitik, zurück. Ich schlage vor, daß wir eine Minute warten, bis die Damen und Herren, die das Haus verlassen wollen, dies getan haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Jäger .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich ein kurzes Wort zu den Ausführungen sagen, die vor der inzwischen geführten Debatte zum deutschfranzösischen Vertrag der Herr Kollege Jahn zu dem gemacht hat, was unser Fraktionsvorsitzender über die Bemühungen dieser Bundesregierung gesagt hat, mehr Menschlichkeit zu erreichen, und zu den Angriffen, die der Kollege Jahn dabei gegen unseren Fraktionsvorsitzenden gerichtet hat.
Herr Kollege Jahn, der schärfste Teil der Unmenschlichkeit in Deutschland besteht an der Trennungslinie zwischen den beiden Teilen Deutschlands. Genau an dieser Stelle hat sich einer jener unglaublichen Vorfälle von Untätigkeit der Bundesregierung zugetragen, den der Kollege Carstens sicher im Auge hatte, als er in seinen Ausführungen die Bundesregierung kritisiert hat. Lassen Sie mich das in wenigen Worten darstellen.
Seit dem Abschluß und dem Inkrafttreten des Grundvertrages hat die DDR die Anbringung von Selbstschußanlagen, die neueste und teuflischste Form der Menschenjagd an der innerdeutschen Grenze, unverändert und unverdrossen weitergeführt. Wir mußten dann in der Fragestunde von der Bundesregierung erfahren, daß bis zur Stunde über dieses Thema mit der DDR überhaupt noch nicht verhandelt worden ist. Meine Damen und Herren, hier zeigt sich doch, daß ein eminent menschliches Anliegen von dieser Bundesregierung aus Furcht, den Machthabern drüben auf die Zehen zu treten, nicht aufgegriffen wird. Wenn das von uns kritisiert wird, Herr Kollege Jahn, dann tun wir nicht bloß das Rechte, sondern dann tun wir als Opposition unsere Pflicht,
Herr Abgeordneter gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jahn?
Bitte schön!
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal bitten, daß die Damen und Herren, die Gespräche führen wollen, dies freundlicherweise außerhalb des Saales tun mögen, damit der Redner und der Zwischenfrager zu verstehen sind.
Bitte, Herr Kollege Jahn!
Herr Kollege Jäger, könnte es sein, daß Sie bei der Rede Ihres Fraktionsvorsitzenden nicht so ganz aufgepaßt haben und Ihnen entgangen ist, daß ich aus dieser Rede ein ganz bestimmtes, an einer ganz bestimmten Stelle gebrauchtes Zitat gerügt habe?
Herr Kollege Jahn, ich habe jetzt nicht zu einzelnen Zitaten Stellung genommen, sondern ich habe festgestellt, daß der Herr Kollege Professor Carstens durchaus schwerwiegenden Anlaß hatte, zu rügen, daß diese Bundesregierung zuwenig für die dringlichsten Anliegen der Menschen in unserem geteilten Lande tut.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines der Kernstücke des Grundlagenvertrages, über den wir heute mitdiskutieren, ist sein Artikel 1, in dem die DDR von uns die Anerkennung ihrer Gleichberechtigung erhalten hat, wobei die Bundesregierung hoffte, das zu erhalten, was in diesem Artikel 1 tatsächlich steht, nämlich die Entwicklung normaler gutnachbarlicher Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland. Ich weise darauf hin, daß hier der Maßstab für die gutnachbarlichen Beziehungen ausdrücklich die Normalität ist, d. h. gutnachbarliche Beziehungen haben wir dann, wenn sie der Norm entsprechen, wie sie in den Beziehungen zu unseren anderen Nachbarn seit Jahren gültig ist. Genau dieses Ziel muß im Auge behalten werden, wenn der Vertrag einen Sinn haben soll.Die Bundesregierung sagt in der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU, es habe Fortschritte in dieser Richtung, nämlich zur Entwicklung normaler gutnachbarlicher Beziehungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands gegeben. Diese Antwort — Herr Bundesminister Franke, ich nehme an, daß Sie für die Abfassung dieses Textes verantwortlich sind — ist der Ausdruck der gleichen Oberflächlichkeit und Selbstgerechtigkeit, welche die gesamte Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage von vorn bis hinten durchzieht.Meine Damen und Herren, schon die Abgrenzungspolitik der DDR ist mit normalen gutnachbarlichen Beziehungen unvereinbar. Aber neben dieser Abgrenzungspolitik hat die Bundesregierung, von einer kleinen Ausnahme abgesehen, auf die ich noch
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10140 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Jäger
zu sprechen kommen werde, kein Wort darüber verloren, daß es noch eine weitere Strategie, eine weitere Politik der DDR gibt, die der Pflicht zur Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen noch weitaus mehr widerstreitet als die Abgrenzungspolitik. Ich meine die Politik der DDR zur sozialistischen Machteroberung auch in der Bundesrepublik Deutschland.
Diese Politik der DDR, meine Damen und Herren, sieht die Bundesregierung nicht, will sie nicht sehen oder bagatellisiert sie. Der 30. Januar, meine Damen und Herren, an dem wir heute debattieren, sollte für uns Deutsche Anlaß genug sein, darüber nachzudenken, daß wiederum, wie vor jenen unseligen 42 Jahren, eine politische Kraft in Deutschland am Werk ist, um dieses Land erneut in eine Diktatur zu bringen.
Dafür, meine Damen und Herren, gibt es täglich — ich betone: täglich — neue Zeugnisse. Lassen Sie mich aus der allerjüngsten Zeit nur einige wenige zitieren.In dem Aufruf der Partei- und Staatsführung der DDR zum 30. Jahrestag der deutschen Kapitulation, den man dort den 30. Jahrestag der Befreiung vom Hitler-Faschismus nennt, heißt es:Stets seinen Platz im revolutionären Weltprozeß gut auszufüllen, darin sieht das Volk unserer Republik das Vermächtnis der Befreiung des 8. Mai 1945.Damit niemand im unklaren darüber sei, was damit gemeint ist, sagte Herr Honecker erst Mitte Dezember — ich darf mit Erlaubnis des Präsidenten auch dies zitieren —:In der geschichtlichen Kontinuität hat eine qualitative Veränderung stattgefunden. Mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik wurde die Herausbildung der sozialistischen Nation als Prozeß in Gang gebracht. Er geht unaufhaltsam weiter und wird sich auch in den nächsten Jahrzehnten fortsetzen. Das ist nicht die Frage eines Federstrichs, sondern die Ingangsetzung eines revolutionären Aktes.Und er fährt fort:Im übrigen sind wir nach wie vor der Ansicht, daß beim Fortschreiten des revolutionären Weltprozesses der Sozialismus auch um die Bundesrepublik Deutschland keinen Bogen machen wird.
Meine Damen und Herren, Herr Bundesminister Franke, auch Sie haben dieses Zitat heute in die Debatte eingeführt. Die Art und Weise, wie Sie diese wichtige Aussage des ersten Mannes der DDR hier bagatellisiert haben, unterstreicht eindrucksvoll die Leichtfertigkeit, mit der die Bundesregierung auf solche gefährlichen Ankündigungen reagiert.
Meine Damen und Herren, es gibt in dem Aufruf, den ich vorhin zitiert habe, schließlich noch eine andere Stelle, die Sie nachdenklich machen sollte. Die Staats- und Parteiführung der DDR sagt hier im zweiten Abschnitt:Heute ist die sozialistische Gemeinschaft die einflußreichste Kraft in der internationalen Arena. Sie gibt der ganzen Welt das Beispiel, wie die Probleme unserer Zeit im Interesse unseres Volkes zu lösen sind.Es kann doch niemand darüber hinwegsehen, daß die DDR hier die Forderung erhebt, daß ihre Lösungen für die Probleme unserer Zeit auch die Lösungen für unser Volk und für die anderen Völker sind. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der imperiale Machtwille des Weltkommunismus hier auf deutschem Boden von deutschen Anhängern dieses Weltkommunismus eine ganz neue, eine ganz entscheidende und eine hochaggressive besondere Ausprägung erfährt, wie die DDR den Prozeß der Machteroberung bei uns vorantreiben will.
Meine Damen und Herren, der wichtigste Teil der Strategie 'der sozialistischen Machteroberung in ganz Deutschland ist die Zersetzungs- und Unterwanderungspolitik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, die auch nach dem Abschluß des Grundvertrages von der DDR unvermindert und ohne jede Schmälerung fortgeführt wird. Sie bietet sich um so mehr an, als sie auch die ungefährlichste Form der Machteroberung ist: Sie kommt um die Gefahr der Auslösung eines Krieges 'herum und hat darüber hinaus für die SED-Machthaber den Vorteil, daß sie das Prinzip der friedlichen Koexistenz, ein Prinzip, das eine ganz besonders gefährliche Propagandawaffe ist, nutzbar machen kann.
Die Verträge— er meinte also wohl auch den Grundvertrag —entsprechen den Grundsätzen der friedlichen Koexistenz. Sie regeln Beziehungen zwischen Staaten unterschiedlicher politischer Gesellschaftssysteme. Sie versuchen keine ideologische Koexistenz herzustellen.Das, meine Damen und Herren, ist genau der kommunistische Begriff der Koexistenz, und daß ein Mitglied dieser Bundesregierung das so kritiklos übernimmt, ja sogar propagiert, zeigt mit erschrekkender Deutlichkeit, wie diese Bundesregierung auf die Herausforderung antwortet, die der militante
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10141
Jäger
Kommunismus für die Freiheit. unseres Landes darstellt.
Wie diese friedliche Koexistenz in Wahrheit aussieht, hat vor wenigen Tagen in einer Sendung von Radio Moskau wieder einmal — zum soundsovielten Male! — beredten Ausdruck gefunden. Dort spricht Professor Baglaj in einem Beitrag zu diesem Thema von der friedlichen Koexistenz, und er sagt folgendes — ich darf zitieren —:Die friedliche Koexistenz negiert nicht nur keineswegs das Recht der geknechteten Klassen auf Kampf gegen den Imperialismus, auf Kampf für ihre Unabhängigkeit und Freiheit, sondern sie schafft sogar günstigere Voraussetzungen für diesen Kampf und erschwert die aktive bewaffnete Einmischung der Stoßkräfte des Imperialismus in diesem Kampf. Die sozialistischen Länder leisten bekanntlich Hilfe und Unterstützung in diesem Kampf und betrachten ihn als gerecht und legal.Hier haben wir doch, meine Damen und Herren, klassisch formuliert die neue grundlegende Theorie vom Recht der Kommunisten auf die gerechte und legale Intervention in den kapitalistischen Ländern, wenn es dem nach kommunistischen Wortschatz geprägten Klasseninteresse dieser Länder entspricht. Das sollte Sie hellhörig machen, meine Damen und Herren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Arndt ?
Bitte sehr!
Herr Kollege! Ist Ihnen klar, daß diese Theorie so „neu" ist, daß sie vor mehr als 50 Jahren von Lenin schon schriftlich niedergelegt worden ist?
Herr Kollege Arndt, ich gehe mit Ihnen davon aus, daß diese Theorie unverändert seit Lenin gilt. Aber um so erschreckender ist es, daß diese Regierung und die sie tragenden Fraktionen — dazu gehören auch Sie — bis zum heutigen Tage aus der Gefährlichkeit dieser Theorie überhaupt keine Konsequenzen ziehen.
Meine Damen und Herren, diese Zersetzungs- und Unterwanderungspolitik der SED in ganz Deutschland — vor allem bei uns — hat zum Ziel, den Abwehrwillen und die Abwehrfähigkeit unseres demokratischen Staates gegen diese Politik der friedlichen Koexistenz zu schwächen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kleinert?
Bitte sehr! Aber ich darf darum bitten, daß das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Ja!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Jäger! Wären Sie nicht bereit, einmal zu erwägen, ob eine ganz ruhige, vernünftige und sachliche Politik all derjenigen, die nicht in kommunistischen Ländern leben, mit all ihren positiven Folgen für die Staatsbürger besser geeignet wäre, ihren Anliegen zu entsprechen, als das Herumtheoretisieren um zweierlei Systeme?
Herr Kollege Kleinert! Ich werde auf den praktischen Teil, der aus dieser Theorie erwächst, gleich noch zu sprechen kommen. Jene ruhige, besonnene und vernünftige Politik haben frühere Bundesregierungen in diesem Lande jahrelang gemacht.
Und, meine Damen und Herren, wenn die jetzige Regierung eine ebenso ruhige, vernünftige und kluge Politik gemacht hätte, dann wäre es für die Kommunisten zweifellos viel schwerer, heute bei uns ihre aktive Politik der Zersetzung zu betreiben.
Meine Damen und Herren, der Grundvertrag konnte nicht verhindern, daß der lange Marsch durch die Institutionen, den die Kommunisten bei uns angetreten haben, unverändert weitergegangen ist. Das Hauptinstrument dabei ist die Deutsche Kommunistische Partei, die bei dieser Zersetzungspolitik eine stille, möglichst unauffällige, aber um so wirkungsvollere Rolle spielt. Diese Partei — das haben wir erst in dieser Woche von der Bundesregierung gehört — wird heute mit ungeheuren Millionenbeträgen von der SED subventioniert. Die Regierung hat uns erklärt, daß die Schätzungen zutreffen, wonach die kommunistischen Infiltrationsbestrebungen insgesamt mit jährlich rund 100 Millionen DM von Ost-Berlin finanziert werden.
Bei dieser finanziellen Größenordnung ist das keine Bagatelle mehr, sondern ein zentraler Angriff auf jene Pflicht zu gutnachbarlichen Beziehungen, die die DDR übernommen hat.
Das Groteske dabei ist schließlich, wenn wir uns die Dinge genauer überlegen, daß bei den umfangreichen Zahlungen, die die Bundesrepublik aus verschiedenen Rechtspflichten heraus Jahr für Jahr an die DDR leistet, wir, die Bundesrepublik Deutschland, wirtschaftlich im Endeffekt unsere eigene Unterwanderung und Zersetzung mitfinanzieren und mitbezahlen.
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10142 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Jäger
Drei Merkmale sind es, die die Taktik und die Politik der Zersetzung der DKP besonders prägen. Es ist das die Infiltration wichtiger gesellschaftspolitischer Bereiche, die Infiltration der Betriebe, der Gewerkschaften, der Hochschulen und Schulen und die Infiltration staatlicher Verwaltungsstellen und der Bundeswehr. Ich darf insoweit auf den umfangreichen und sehr guten Bericht verweisen, den der Arbeitskreis I unserer Fraktion vor wenigen Tagen der Öffentlichkeit übergeben hat und der genau in die Lücke hineingestoßen hat, die die Bundesregierung dadurch aufriß, daß sie nicht in der Lage war, ihren Verfassungsschutzbericht für das Jahr 1974 rechtzeitig vorzulegen.
[CDU/CSU) : Sie
wollte nicht!)Nur eine Zahl möchte ich doch anführen. Von den 760 Delegierten beim letzten Parteitag der DKP im November 1973 waren allein 207 bereits Mitglieder von Betriebsräten, und 322 dieser Delegierten des DKP-Parteitags waren bereits Funktionäre im DGB oder seinen Einzelgewerkschaften. Da soll sich doch keiner hinstellen und nicht sagen:
Diese Partei hat bereits beträchtliche Fortschritte bei ihrer Zersetzungs- und Unterwanderungsbewegung gemacht.Das zweite Instrument ist die Volksfrontpolitik. Unter dem Stichwort Aktionsgemeinschaft wird versucht, Teile aus demokratischen Parteien dieses Landes herauszubrechen und zum gemeinsamen Kampf gegen unsere freiheitliche Grundordnung zu gewinnen. Der Unvereinbarkeitsbeschluß, den die SPD gefaßt hat, ist unterlaufen, in großen Teilen nicht befolgt worden. Ich zitiere keine CDU-Schrift, sondern ich zitiere den letzten uns vorliegenden Verfassungsschutzbericht der Bundesregierung, wo es wörtlich heißt — ich darf mit Genehmigung des Präsidenten zitieren —:Die Bemühungen der DKP und der SED, Sozialdemokraten für gemeinsame Aktionen zu gewinnen, waren erfolgreicher als in früheren Jahren.
Das sagt die Bundesregierung.Die Anbiederung, die hier betrieben wird, ist gleichzeitig eine Anbiederung an unsere Gewerkschaften, von denen ja schon Lenin gesagt hat, daß sie das wichtigste Ziel der Unterwanderung zu sein hätten.Herr Schelepin, früherer Chef des KGB, ist heute der Chef der sowjetischen Gewerkschaften. Obwohl er in der Bundesrepublik Deutschland als ein Mann gesucht wird, der des Mordes verdächtig ist, wird er vom DGB in die Bundesrepublik eingeladen.
Diese Symptome zeigen alle zusammen, daß diese Bundesregierung nicht bereit ist, zur Kenntnis zunehmen, daß sie vor der entscheidenden Herausforderung steht, die unserer Gesellschaft, die unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung gestellt ist. Wir, das freie Deutschland, sind doch auch die letzte Hoffnung für die Deutschen drüben hinter der Grenze, hinter Mauer und Stacheldraht. Wenn wir ihnen diese Hoffnung nehmen, dann haben wir in der Deutschlandpolitik einen Schritt der Zerstörung begangen, der nicht wiedergutzumachen ist.
Wir, meine Damen und Herren, haben kein Recht, durch die weitere Duldung des Marsches der Kommunisten auf ihrem Weg durch die Institutionen den Deutschen die Hoffnung wegzunehmen, deren alleinige Hoffnung eine freie Bundesrepublik Deutschland ist.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Böhm .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gut anderthalb Jahre nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrags am 21. Juni 1973 fragen sich die Menschen an der Zonengrenze, ob sich die hohen Erwartungen erfüllt haben, die im Zusammenhang mit diesem Vertrag erweckt wurden, und wie sich die Wirklichkeit des Lebens an der Demarkationslinie quer durch Deutschland tatsächlich verändert hat.
Wo, wenn nicht hier im Herzen Deutschlands, müßten sich die positiven Folgen der Entspannung und der Zusammenarbeit ausdrücken? Bei einer Bilanz der Entwicklung an dieser Zonengrenze ist festzustellen: Das große Wort des damaligen Sonderministers Egon Bahr, gesprochen kurz vor der 72er Wahl, daß der Schießbefehl hinfällig werde, wenn der Grundvertrag erst unterschrieben sei, ist mit den Realitäten nach Inkrafttreten dieses Vertrags ebensowenig in Einklang zu bringen wie die Erklärung des hessischen Ministerpräsidenten Albert Osswald vom März 1972, es gebe handfeste Informationen des Inhalts, daß die DDR den unmenschlichen Schießbefehl nach der Ratifizierung der Ostverträge nicht mehr praktizieren werde.Solche Erklärungen, meine Damen und Herren, erwiesen sich als eine Täuschung der Bürger in Deutschland oder als Selbsttäuschung über die Folgen der Politik der SPD/FDP-Koalition. Die Errichtung automatischer Tötungsanlagen an der Zonengrenze bedeutet nichts anderes als die Automatisierung des unmenschlichen Schießbefehls. Herr Minister Franke sprach im Zusammenhang mit diesen automatischen Tötungsanlagen, es handle sich um eine technische Perfektionierung der Grenze. Meine Damen und Herren, gerade diese Einstellung zeigt die Verharmlosung der Unmenschlichkeit, die
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10143
Böhm
in solchen Darstellungen der Regierung zum Ausdruck kommt.
Durch die Installation dieser automatischen Tötungsanlagen ist an der Grenze quer durch Deutschland eine neue Qualität des Tötens entstanden, die nicht mehr dem individuellen Gewissen einzelner unterworfen ist.
Meine Damen und Herren, die Zulassung des grenznahen Verkehrs in Form von Tagesaufenthalten ist ein Fortschritt, jedoch nicht annähernd mit dem vergleichbar, was man an anderen Grenzen im allgemeinen als „kleinen Grenzverkehr" bezeichnet. Bürokratisches Antragsverfahren, willkürliche Entscheidungspraxis, zu wenige Grenzübergänge, zu kurze Aufenthaltszeit in der DDR und zu hohe Kosten für die Reisewilligen haben dazu geführt, daß von den 6,5 Millionen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland, die in den 65 Stadt- und Landkreisen wohnen, die für den grenznahen Verkehr zugelassen sind, die Möglichkeit zu Tagesaufenthalten in der DDR im vergangenen Jahr nur von rund 331 000 Bürgern genutzt worden ist.Bedauerlicherweise haben wir uns angewöhnt, diesen grenznahen Verkehr in West-Ost-Richtung als „kleinen Grenzverkehr" zu bezeichnen. Das geschieht auch auf amtlichen Hinweisschildern, in amtlichen Erklärungen und Schreiben, und auch der Kollege Dr. Kreutzmann hat heute diese Bezeichnung in der Debatte gewählt. Dabei ist diese Bezeichnung nichts anderes als ein Etikettenschwindel, weil sie den falschen Eindruck hervorruft, man könne in beiden Richtungen an dieser Grenze frei hin- und herfahren, spontan und ohne Genehmigung. In aller Welt wird nämlich unter „kleinem Grenzverkehr" verstanden, daß die Bürger auf beiden Seiten einer Grenze hin- und herreisen können zur Arbeit, zu günstigeren Einkaufsmöglichkeiten, oder auch, daß es ihnen erlaubt ist, die Grenze an anderen als den offiziellen Grenzübergängen zu überschreiten, um z. B. den Acker oder die Wiese zu bewirtschaften, die auf der anderen Seite der Grenze gelegen sind.Niemand wird bestreiten, daß ein solcher Zustand an der innerdeutschen Grenze fern aller heutigen Realität ist. Die Anwendung des Begriffes „kleiner Grenzverkehr" im Zusammenhang mit der Zonengrenze durch Deutschland bedeutet also nichts anderes, als daß einmal mehr ein Begriff aus der Welt des Normalen zur Beschreibung anomaler Verhältnisse angewendet wird.
Dieser leichtfertige Gebrauch des Begriffes „kleiner Grenzverkehr" hat mit dazu geführt, daß ausländische Besucher oder auch Bürger aus den von der Zonengrenze weiter entfernten Teilen der Bundesrepublik heute oft erstaunt sind, wenn sie bei Besuchen an der Zonengrenze von den tatsächlichen Bedingungen des innerdeutschen Reiseverkehrs hören und feststellen müssen, daß die Grenze von der DDR immer dichter gemacht wird.Nur wenn der grenznahe Verkehr richtig eingeordnet und dargestellt wird, kann er von den Kommunisten nicht dazu benutzt werden, von dieser Grenze ein Bild zu zeichnen und zu verbreiten, das mit der Wirklichkeit nichts gemein hat. Der grenznahe Verkehr darf nicht zum Alibi für die Verharmlosung und das Totschweigen von Unrecht in Deutschland werden.
Diese Wirklichkeit in Deutschland, das sind seit 1949 105 Tote an den Grenzbefestigungsanlagen der DDR. Das sind allein im vergangenen Jahr 136 bei der zentralen Erfassungsstelle der Länderjustizverwaltungen in Salzgitter neu registrierte Gewaltakte durch Anwendung von Schußwaffen, Selbstschußanlagen oder Minen. Diese Wirklichkeit sind fast 1 000 Kilometer Metallgitterzaun durch Deutschland, Stacheldrahtzäune, Lichtsperren, Hundelaufanlagen und über 1,5 Millionen verlegte Minen quer durch Deutschland.
Ende 1974 war die Zonengrenze von der DDR auf einer Länge von 134 Kilometern mit automatisierten Tötungsanlagen versehen, und 40 °/o davon wurden nach Inkrafttreten des Grundvertrages im Juni 1973 bis heute angelegt.
Diese bittere Realität in Deutschland darf nicht verschwiegen und mit dem Hinweis auf geschaffene Reisemöglichkeiten verharmlost werden.
Die DDR, die sich im Grundvertrag zu guter Nachbarschaft und zur Achtung der Menschenrechte verpflichtet hat, muß wissen, daß die Beseitigung dieser gegen ihre eigene Bevölkerung gerichteten Sperranlagen unverzichtbar für eine dauerhafte Entspannung in Deutschland und Europa ist.Für die Menschen im Zonenrandgebiet hat die systematische Politik der DDR zur totalen Abgrenzung, bei der sich auch nicht die Spur von Humanisierung abzeichnet, herbe Enttäuschung ausgelöst, die begreiflich ist angesichts des großen Erwartungshorizontes, den Sie gezüchtet haben. Festzustellen bleibt: Die durch die totale Abgrenzung bedingte Verkrampfung der innerdeutschen Situation dauert an der Zonengrenze unter dem Eindruck der täglichen Ausbauarbeiten der DDR an ihrem Sperrsystem und des Ausschlusses der Nachbarn auf der östlichen Seite vom grenznahen Verkehr unvermindert an.Angesichts der großen von der DDR entgegengenommenen Leistungen der Bundesrepublik ist es an der Zeit, daß nunmehr auch die DDR ihren Beitrag zur Entspannung und zur Verbesserung der Situation der Menschen im Zonenrandgebiet leistet.
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Böhm
Bei den jetzt beginnenden neuen Gesprächen mit der DDR müssen auf diesem Gebiet echte Fortschritte erreicht werden, um dem Ziel gutnachbarschaftlicher Beziehungen und der Achtung der Menschenrechte näherzukommen.Herr Minister Franke spricht oft davon — auch heute wieder —, es gehe um praktische Politik. Natürlich geht es auch uns um praktische Politik. Aber wir haben heute vermißt, daß die Regierung hier das Paket auf den Tisch gelegt hat, mit dem sie in die jetzt beginnenden Verhandlungen mit der DDR tatsächlich geht und auf der Grundlage des Bestehenden weitere Schritte menschlicher Erleichterung erreichen will. Ich möchte Ihnen von der Regierung sagen, wie ein solcher Katalog — so meine ich — minimaler Fortschritte menschlicher Erleichterungen, mit dem Sie in diese Verhandlungen gehen sollten, aussehen könnte.1. Es muß ein echter kleiner Grenzverkehr entwickelt werden,
d. h. es muß ein echtes Hin und Her der Menschen und eine Veränderung des derzeitigen Charakters des Einbahnstraßenverkehrs in West-Ost-Richtung geben, der zur Zeit den Reiseverkehr an der Zonengrenze prägt. Die DDR sollte endlich auch ihren Bürgern Tagesaufenthalte in der Bundesrepublik Deutschland gestatten.2. Die Ausdehnung der Tagesaufenthalte auf zwei Tage oder wenigstens auf volle 24 Stunden nach der Einreise in die DDR müßte erreicht werden, damit auch Übernachtungsmöglichkeiten bei den Verwandten und Bekannten in der DDR genutzt werden können.
3. Wir brauchen die Aufhebung des Drucks auf mitteldeutsche Bürger, die sich angeblich „freiwillig" verpflichten, von der Aufnahme westdeutscher Besucher oder von Kontakten zu ihnen abzusehen. Auch solte es keine Einschränkung bei Briefkontakten mehr geben dürfen.4. Notwendig ist die Schaffung von mehr Zonengrenzübergängen auf Schiene und Straße. Die zur Zeit bestehenden Übergänge sind nicht ausreichend, die sich jetzt formal bietende Möglichkeit der Tagesaufenthalte voll nutzen zu können.5. Die über 300 Orte und über 200 Ortsteile in der DDR, die unmittelbar an der Zonengrenze gelegen und nach wie vor Sperrgebiet sind, sich aber gerade als Orte für einen echten kleinen Grenzverkehr anbieten würden, müssen für den Reiseverkehr geöffnet werden.
6. Das bürokratische Antragsverfahren für Tagesaufenthalte muß vereinfacht, und die Bearbeitungsfristen verkürzt werden.7. Die DDR muß die Erhöhung des Zwangsumtauschs voll zurücknehmen. Im grenznahen Verkehr sollte zunächst der gleiche Tagessatz angestrebt werden, der auch bei Besuchen von Bürgern West-Berlins und der Bundesrepublik in Ost-Berlin gilt. Wir wissen, daß Visagebühren und Straßenbenutzungsgebühren noch immer eine unangemessene Belastung der Bürger darstellen, die aus der Bundesrepublik in die DDR einreisen wollen.8. Bemühen Sie sich um die Zulassung und Förderung von Kontakten zu Kultur- und Sportvereinen beiderseits der Demarkationslinie im Rahmen des grenznahen Verkehrs!9. Versuchen Sie, Kontakte von Kreis zu Kreis und Gemeinde zu Gemeinde beiderseits der Demarkationslinie zur Pflege menschlicher Kontakte und zur Zusammenarbeit in Fragen des Umweltschutzes und in Katastrophenfällen zu ermöglichen! Bemühen Sie sich um die Möglichkeit zu freundschaftlichen Beziehungen zwischen Kreisen, Städten und Gemeinden beiderseits der Demarkationslinie!10. Setzen Sie sich für die Senkung des Reisealters für Mitteldeutsche ein, die in die Bundesrepublik Deutschland reisen wollen!11. Gehen Sie mit dem konkreten Ziel in die neuen Verhandlungen, eine großzügigere Handhabung der DDR bei Reisen in dringenden Familienangelegenheiten zu erreichen! Eine verräterische Statistik: Durften auf diesem Wege im November 1972 — wahrscheinlich zufälligerweise im Monat der Bundestagswahl — 6129 DDR-Bürger in die Bundesrepublik reisen, so waren es im selben Monat des Jahres 1973 nur noch 3456 und im November 1974 nur 2881.
Meine Damen und Herren, das ist ein Paket konkreter Forderungen, die wir Ihnen für die Verhandlungen, die jetzt anstehen, mit auf den Weg geben. Wir hätten gewünscht, von Ihnen eine Darstellung dessen zu erhalten, was Sie bei diesen Verhandlungen erreichen wollen.
Auch auf seiten der Bundesrepublik sollten Maßnahmen zur Förderung des innerdeutschen Reiseverkehrs ergriffen werden. Ich denke an die Möglichkeit, das Begrüßungsgeld für Rentner nicht nur zweimal, sondern bei jedem Besuch zu zahlen, und an steuerliche Erleichterungen für Aufwendungen, die bei der Aufnahme von DDR-Bürgern in der Bundesrepublik entstehen, aber auch bei der steuerlichen Anerkennung von Sonderausgaben für Reisen in die DDR.Meine Damen und Herren, wir meinen, daß die Bundesregierung die deutsche Sache fest und entschlossen vertreten sollte. Sie hat dabei die volle Unterstützung der CDU/CSU-Opposition. Das Recht ist auf der Seite der freien Menschen im freien Deutschland. Wir wollen keine Politik des Wandels durch Anbiederung. Wir befinden uns im Einklang mit den Menschenrechten und der Charta der Vereinten Nationen, wenn wir als Endziel die Freizügigkeit für Menschen, Meinungen und Informationen und das Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen verlangen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10145
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Geßner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede des Kollegen vor mir hat eben den Eindruck erweckt, als sei die CDU/CSU seit 1949 in der Opposition, als sei sie nicht mit für das verantwortlich, was sich an tragischen Ereignissen auf innerdeutschem Boden abgespielt hat.
Die Liste dessen, was noch gemacht werden sollte, stellt im Grunde genommen eine Anklage gegen das dar, was Sie 20 Jahre lang nicht zuwege gebracht haben.
Herr Böhm, es fehlte nur noch, daß Sie die Ablösung von Honecker gefordert hätten. Ich wundere mich fast, daß Sie dies nicht getan haben. Das, was Sie hier vorgetragen haben, machte wieder deutlich, daß Sie nicht bereit sind, einer Politik der kleinen Schritte zuzustimmen.
Was Sie uns zu bieten haben, ist die Politik des Alles-oder-Nichts.
Dies ist schon früher Ihr Konzept gewesen. Wer eine solche Politik fordert, wird scheitern, so wie Sie auch gescheitert sind.
Ihre Regierungen haben seit 1949 20 Jahre geschlafen,
und wenn Sie in jenen Jahren eine vernünftigereDeutschlandpolitk gemacht hätten, wäre heute füruns vieles, vieles möglich und leichter zu bewegen.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wissen sehr wohl um die historische Schuld, die Sie in 20 Jahren Versagen auf sich geladen haben.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, heute ist schon mehrfach klargestellt worden, daß die Streichung des Begriffs der Nation aus der DDR-Verfassung keineswegs bedeutet, daß die deutsche Nation nicht mehr bestehen würde. Die Absichten sind klar. In der Debatte ist es schon gesagt worden: Hier geht es um ein langfristiges Abgrenzungsmanöver der SED. Es gibt keinen Zweifel, daß dieses Manöver scheitern wird. Die deutsche Nation besteht, weil die Menschen sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR von dem selbstverständlichen Willen beseelt sind, Deutsche zu sein. Die deutsche Nation wird weiter bestehen, weil diese Menschen weiter Deutsche bleiben wollen. Daran kann keine Verfassungsänderung etwas machen.Allerdings muß ich sagen, es wäre angebracht gewesen, daß sich die Opposition in Sachen Verfassungsänderung der DDR etwas anders verhalten hätte, als wir es aus offiziellen Verlautbarungen entnehmen mußten. Einer Verlautbarung des CDU-Vorsitzenden Kohl entnehme ich, daß diese Maßnahme zur Vertiefung der Spaltung Deutschlands beigetragen hat. Diese Einschätzung ist absurd und gefährlich zugleich. Sie erweckt den Eindruck, daß die von der SED beabsichtigten Wirkungen eintreten würden,
d. h. die Erklärung von Kohl dient denen, die mit Hilfe der Verfassungsänderung die Einheit der Nation auflösen wollen.
Auch das Verhalten der Opposition in dieser Frage insgesamt hat erneut deutlich gemacht, daß sich die SED auf die politische Tapsigkeit von CDU und CSU noch immer verlassen kann.
— Daß Ihnen das peinlich ist, Herr Marx, brauchen Sie nicht zu sagen. Das ist doch völlig klar.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Auslassung von Herrn Strauß eingehen,
die, wie mir scheint, den Interessen der Nation ebenfalls außerordentlich schädlich gewesen ist. Ich zitiere aus der „Frankfurter Allgemeinen":Wir wollen, daß man wieder zu einer würdigen Einstellung der deutschen Nation gegenüber findet. Jedes Volk, auch das deutsche, braucht ein Nationalbewußtsein. Indem Strauß bestreitet, daß unser Volk ein würdiges Nationalbewußtsein besitzt, macht er sich zum Helfershelfer derer, die auch die Nation für immer spalten wollen.
Es gibt keinen Zweifel, meine Damen und Herren, daß die Tatsache der Anerkennung der DDR als Staat keinesfalls die Auflösung der Nation bedeutet. Im übrigen spüre ich sehr deutlich, daß mir Ihr Protest recht gibt. Es gibt keinen Zweifel darüber — und die Historie liefert genügend Beweise dafür —, daß es sehr wohl möglich ist, daß zwei oder mehrere
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10146 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975
Dr. GeßnerNationen durchaus unter dem Dach einer Nation vereint sein können.
Umgekehrt ist es möglich, daß zwei oder mehrere Staaten auch unter dem Dach einer Nation vereint sein können. Auch in der deutschen Geschichte ist dies nichts Neues.Ich lege Wert darauf, diese Feststellung zu treffen. Meine Damen und Herren, ich denke, Sie stimmen hier mit mir überein. Die Einheit der Nation ist für uns keine Konstruktion, sondern eine Realität. Die Verdächtigungen der CDU/CSU, die Bundesregierung sei in ihrer Haltung zur Existenz der Nation wankelmütig, bedeutet eine Ermunterung für die SED, die Probe aufs Exempel zu machen. Das ist Ihr Patriotismus, den Sie hier zur Schau tragen.
Wir stellen die Existenz der Nation durch unsere Politik nicht in Frage. Wir fördern vielmehr ihren Zusammenhalt. Alle Versuche zur Verunsicherung der Öffentlichkeit durch die Opposition werden nichts ändern. Ich habe die feste Auffassung, die auch in der Bevölkerung zutiefst verwurzelt ist: Die Opposition mißgönnt der Regierung, was sie, die Regierung, seit 1949 an Leistungen zustande gebracht hat.
Wie groß auch immer unsere Erfolge sein mögen: nie wird die Opposition bereit sein, Leistungen der Koalition anzuerkennen.Die Opposition weiß um ihre historische Schuld in Sachen deutscher Frage, und hier liegt ein tiefer Grund, weswegen die Opposition keine Mühe scheut, wider besseres Wissen ein Versagen der Bundesregierung zu konstruieren. Durch diesen Versuch will sich die CDU/CSU nachträglich ein Alibi für jahrzehntelang bewiesene Unfähigkeit in der Deutschlandpolitik verschaffen.
In den Reihen der Opposition weiß man sehr wohl, daß ihre Beurteilung in der Historie um so schlechter sein wird, je erfolgreicher die Bundesregierung den Normalisierungsprozeß vorangetrieben hat.Es gehört auch zur Taktik der Opposition,
zur Zeit Unmögliches zu verlangen. Ich finde, die Tatsache, daß hier Forderungen aufgestellt werden, deren Erfüllung zur Zeit unmöglich ist, scheint darauf hinauszulaufen, daß die Opposition die Bundesregierung offensichtlich höher einschätzt, als sie dies nach außen hin zuzugeben bereit ist. Es stünde meiner festen Überzeugung nach der Union gut an, ihre Politik einer Korrektur zu unterziehen.Was nun neben der widersprüchlichen die destruktive Seite des Verhaltens anlangt, so gibt sie auch in einem anderen Punkt wichtigen Aufschluß. Ihr fortgesetztes Nein macht offenkundig, daß die CDU weiterhin auf dem Boden ihrer früheren Tatenlosigkeit steht. Dies bedeutet: Wenn sie regierte, würde der Prozeß der Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR auch weiterhin stattfinden. Es gibt keinen erkennbaren Grund, daß sich dieser Prozeß ins Gegenteil verkehren würde.
Kein redlicher Mensch wird in Abrede stellen können, daß in der Regierungszeit der CDU/CSU die Kontakte der Menschen über die Grenzen hinweg immer schwieriger geworden sind.
Durch ihre Tatenlosigkeit und Versäumnisse ist die Union für diese Entwicklung von Schuld nicht freizusprechen.Und es gibt keinen Zweifel: Auch die Deutschlandpolitik der CDU/CSU hat für die Menschen in Deutschland von jeher die Wirkung einer Abgrenzungspolitik gehabt. So erleben wir die interessante Tatsache, daß die Abgrenzung nicht das alleinige Privileg der SED ist. Zweimal Abgrenzung, jeweils unter einem anderen Gewand, das ist der gemeinsame Nenner von Opposition und SED.
Ohne gesundes Selbstvertrauen in die eigene Sache ist meiner festen Überzeugung nach keine Deutschlandpolitik möglich. Auch heute fehlen der Opposition ein gesundes Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein.
Und ich sage Ihnen: Was uns die Union an Kritik entgegenhält, ist nicht zuletzt auch Ausdruck eines tiefen politischen Minderwertigkeitskomplexes,
eines Minderwertigkeitskomplexes, der mit geeignet ist, die Bundesrepublik weltweit zu isolieren. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es kein Wunder, daß sich die Opposition in ein Netz von Widersprüchlichkeit verfangen hat.
Die Union würde mit ihrer Politik — dies ist heute schon mehrfach gesagt worden — die Bundesrepublik in eine weltweite Isolierung hineintreiben. Die Opposition behindert durch Unsachlichkeit und Verdummungsmanöver den eingeleiteten Prozeß der
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 146. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Januar 1975 10147
Dr. GeßnerEntkrampfung und gibt gleichzeitig vor, die Interessen der Nation zu wahren.
Die Opposition ist nicht bereit, die DDR als Staat anzuerkennen, versteigt sich aber gleichzeitig zu der Behauptung, sie könne mit der DDR-Führung erfolgreicher verhandeln als die Bundesregierung. Die Wahrheit ist, daß der Verzicht auf diesen Schritt absolute Handlungsunfähigkeit in der Deutschlandpolitik bedeutet.Die Opposition beklagt, es gebe keine Gemeinsamkeiten mehr mit der Koalition, gleichzeitig macht sie aber Gemeinsamkeiten in wichtigen Grundpositionen davon abhängig, daß die Bundesregierung Fortschritte als Mißerfolge kennzeichnet. Diese unzumutbare Bedingung beweist, daß die Opposition an deutschlandpolitischer Gemeinsamkeit in Wirklichkeit nicht interessiert ist.
Nicht wir haben den Boden der Gemeinsamkeit verlassen, sondern Sie haben ihn verlassen.
Die Opposition beklagte in den vergangenen Monaten, die Gespräche zwischen Bundesregierung und DDR seien ins Stocken geraten. Aber als die DDR vor einigen Wochen in einem Aide-mémoire eine Reihe interessanter Vorschläge unterbreitete, hatte die Union nichts Eiligeres zu tun, als sich insgesamt abwertend zu äußern.Es ist die Selbstverständlichkeit eines jeden Staates, mit anderen Staaten in der Welt vernünftige Beziehungen unterhalten zu wollen. Dies gilt auch für die Volksrepublik China. Wie aber will die Opposition die Interessen der Nation wahren, so muß ich sie fragen, wenn sie trotz aller Gegenbeteuerungen versucht, Rotchina gegen die Führungsmacht des Warschauer Paktes auszuspielen? Wie soll man es verstehen, daß die Pekingreise des Kollegen Strauß von der Opposition zwar allgemein begrüßt wurde, die Kontaktgespräche des Kollegen Leisler Kiep jedoch auf sehr heftige Kritik von seiten der Opposition gestoßen sind? Was soll man davon halten, daß der Kollege Strauß einerseits erklärt, seine Reise nach China habe in erster Linie der politischen Erkundung gedient, andererseits jedoch die politische Aufwertung eines der mächtigsten kommunistischen Führer in einer Weise expressis verbis zum Ausdruck bringt, wie dies seit Bestehen der Bundesrepublik noch von keinem Politiker einer demokratischen Partei getan worden ist?
Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten möchte ich zitieren. In einer Illustrierten der Bundesrepublik erklärt Strauß unter anderem folgendes
auf die Frage „Sind Sie eigentlich ein Bewunderer von Mao?" :Es war das Gefühl, einer großen, die Zeitgeschichte gestaltenden Persönlichkeit gegenüberzusitzen, die immerhin einem der größten Reiche der Welt eine Prägung aufgedrückt hat.Man braucht weder in Heldenverehrung zu verfallen noch europäische Moralmaßstäbe anzuwenden, sondern man steht hier einer geschichtlichen Leistung und einer weltpolitischen Größe mit Respekt und Achtung gegenüber.Meine feste Überzeugung, meine Damen und Herren, ist: Eine derartige Äußerung aus dem Munde eines führenden Sozialdemokraten wäre von der Opposition mit Sicherheit als Verrat an der Freiheit gebrandmarkt worden.Immer hören wir von der Opposition, sie habe ein geschlossenes politisches Konzept. Aber wie kann dies möglich sein, wenn der Kollege Strauß einerseits erklärt ich zitiere wörtlich — „Ich glaube nicht an die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates, auch nicht innerhalb der Grenzen der vier Besatzungszonen", wenn aber andererseits der Kollege Abelein der Bundesregierung vorwirft, sie haben den Begriff der „Staatsnation" aufgegeben?Was gilt nun? Dies zu erfahren wäre eine sinnvolle Aufgabe Ihrer Sprecher in dieser Debatte gewesen. Wir bedauern diese Widersprüchlichkeiten, denn sie erschweren die konstruktive Diskussion, die zu führen eine vornehme Aufgabe dieses Parlaments wäre.Wir, meine Damen und Herren, werden unseren Weg weitergehen, zielstrebig und behutsam zugleich. Schon heute steht fest, daß die Erfolge unserer Politik das Weitergehen rechtfertigen. Wir übersehen nicht die Steine, die beiseite geräumt werden müssen. Aber wir wissen, daß es zu diesem Weg keine Alternative gibt. Daß wir ihn gegangen sind, werden auch spätere Generationen mit Dankbarkeit vermerken.
Meine Damen und Herren, entsprechend den interfraktionellen Vereinbarungen im Ältestenrat unterbreche ich hier die Debatte zu den Punkten 3 und 4 der heutigen Tagesordnung und schließe die Sitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 31. Januar 1975, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.