Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung für den Ablauf der Plenarsitzungen heute und morgen folgendes vereinbart: Heute entfällt die Mittagspause; es bleibt aber bei der Festsetzung der Fragestunde für 14.00 Uhr. Punkt 9 der Tagesordnung, die zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Zweiten Steueränderungsgesetzes 1973, wird heute nach der Europadebatte aufgerufen, spätestens jedoch um 20.00 Uhr. Für den Beginn der Beratung des Jahresgutachtens 1973 und des Jahreswirtschaftsberichts 1.974 — Punkt 8 unserer verbundenen Tagesordnung -- bleibt es beim 29. März 1974, 9.00 Uhr. Die Tagesordnungspunkte 10 bis 41 werden im Anschluß an Punkt 8 der Tagesordnung aufgerufen.Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:Der Vorsitzende des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft sind Forsten hat mit Schreiben vom 19. März 1974 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden, bereits verkündeten Vorlagen keine Bedenken erhoben hat:Verordnung des Rates zur Festsetzung der Orientierungspreise für die in Anhang II der Verordnung (EWG) Nr. 2142/70 aufgeführten Fischereierzeugnisse für das Fischwirtschaftsjahr 1974Drucksache 7/1324 —Verordnung des Rates zur Festsetzung der Interventionspreise für frische oder gekühlte Sardinen und Sardellen für das Fischwirtschaftsjahr 1974— Drucksache 7/1370 —Verordnung des Rates zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 240/73 zur Festlegung der allgemeinen Vorschriften für die Regelung der Ausgleichsbeträge für Schollen— Drucksache 7'1421 —Verordnung des Rates zur Festsetzung der Auslösungspreise für Tafelwein für den Zeitraum vom 16. Dezember 1973 bis 15. Dezember 1974— Drucksache 7/1422 —Verordnung des Rates zur Verlängerung der Verordnung (EWG-EWG) Nr. 2716/72 zur Festlegung der Grundregeln für die Maßnahmen zur Steigerung des Butterverbrauchs bei bestimmten Verbrauchergruppen— Drucksache 7/1464 —Verordnungen des Rateszur Verlängerung der Verordnung Nr. 227/72 des Rates vom 31. Januar 1972 über die Einfuhr bestimmter Fischereierzeugnisse mit Ursprung in Tunesien in die Gemeinschaftzur Verlängerung der Verordnung Nr. 228/72 des Rates vom 31. Januar 1972 über die Einfuhr bestimmter Fischereierzeugnisse mit Ursprung in Marokko in der Gemeinschaft— Drucksache 7/1501 - Verordnung des Rates über die Bildung eines Ausgleichsvorrates an Olivenöl— Drucksache 7/1521 -Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung
Nr. 1411/71 hinsichtlich des Fettgehalts von Vollmilch
— Drucksache 7/1325Verordnung des Rates zur Festsetzung des gemeinschaftlichen Produktionspreises für Thunfische, die für die Konservenindustrie bestimmt sind, für das Fischwirtschaftsjahr 1974Drucksache 7/1323 —Der Vorsitzende des Innenausschusses hat mit Schreiben vom 4. März 1974 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden, bereits verkündeten Vorlagen keine Bedenken erhoben hat:Verordnung des Rates zur Änderung der Regelung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland dienstlich verwendeten Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Forschungsstelle— Drucksache 7/1562 --Verordnung des Rates zur Änderung der Regelung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Forschungsstelle, die in den Niederlanden dienstlich verwendet werden— Drucksache 7/1569 —Verordnung des Rates zur Angleichung der Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der sonstigen Bediensteten dieser GemeinschaftenDer Vorsitzende des Finanzausschusses hat mit Schreiben vom 18. März 1974 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden, bereits verkündeten Vorlagen keine Bedenken erhoben hat:Verordnungen des Ratesüber die Durchführung des Beschlusses des Gemischten Ausschusses EWG-Österreich zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Bestimmung des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in" oder „Ursprungserzeugnisse" und über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen sowie des Beschlusses Nr. 3/73 des Gemischten Ausschusses zur Festlegung der Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen im Zollbereichüber die Durchführung des Beschlusses des Gemischten Ausschusses EWG-Portugal zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Bestimmung des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in" oder „Ursprungserzeugnisse" und über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen sowie des Beschlusses Nr. 3/73 des Gemischten Ausschusses zur Festlegung der Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen im Zollbereichüber die Durchführung des Beschlusses des Gemischten Ausschusses EWG-Schweden zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Bestimmung des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in" oder „Ursprungserzeugnisse" und über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen sowie des Beschlusses Nr. 3/73 des Gemischten Ausschusses zur Festlegung der Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen im Zollbereichüber die Durchführung des Beschlusses des Gemischten Ausschusses EWG-Schweiz zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Bestimmung des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in" oder „Ursprungserzeugnisse" und über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen sowie des Beschlusses
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6052 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenNr. 3/73 des Gemischten Ausschusses zur Festlegung der Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen im Zollbereichüber die Durchführung des Beschlusses des Gemischten Ausschusses EWG-Norwegen zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Bestimmung des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung In" oder „Ursprungserzeugnisse" und über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen sowie des Beschlusses Nr. 3/73 des Gemischten Ausschusses zur Festlegung der Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen im Zollbereichüber die Durchführung des Beschlusses des Gemischten Ausschusses EWG-Island zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Bestimmung des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in" oder „Ursprungserzeugnisse" und über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen sowie des Beschlusses Nr. 3/73 des Gemischten Ausschusses zur Festlegung der Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen im Zollbereich— Drucksache 7/1530 — Verordnungen des Rateszur Einrichtung einer gemeinschaftlichen Überwachung derEinfuhren bestimmter Erzeugnisse mit Ursprung in Österreichzur Einrichtung einer gemeinschaftlichen Überwachung der Einfuhren bestimmter Erzeugnisse mit Ursprung in Finnlandzur Einrichtung einer gemeinschaftlichen Überwachung der Einfuhren bestimmter Erzeugnisse mit Ursprung in Islandzur Einrichtung einer gemeinschaftlichen Überwachung derEinfuhren bestimmter Erzeugnisse mit Ursprung in Norwegenzur Einrichtung einer gemeinschaftlichen Überwachung der Einfuhren bestimmter Erzeugnisse mit Ursprung in Portugalzur Einrichtung einer gemeinschaftlichen Überwachung derEinfuhren bestimmter Erzeugnisse mit Ursprung in Schwedenzur Einrichtung einer gemeinschaftlichen Überwachung derEinfuhren bestimmter Erzeugnisse mit Ursprung in der SchweizBeschluß der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zur Einrichtung einer Überwachung der Einfuhren bestimmter Erzeugnisse mit Ursprung in OsterreichBeschluß der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zur Einrichtung einer Überwachung der Einfuhren bestimmter Erzeugnisse mit Ursprung in SchwedenDrucksache 7/1446 --Verordnung des Rates über die bei der Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse in kleinen Sendungen, denen keine kommerziellen Erwägungen zugrunde liegen, zu erhebende Abgabe— Drucksache 7/1420 —Verordnung des Rates über die Verwendung des aktiven Veredelungsverkehrs im Handel mit Waren, die unter die Verordnung (EWG) Nr. 1059/69 fallen, zwischen den ursprünglichen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und den neuen Mitgliedstaaten sowie zwischen den letztgenannten untereinander- Drucksache 7/1465 —Der Vorsitzende des Finanzausschusses hat mit Schreiben vom 19. März 1974 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgende, bereits verkündete Vorlage keine Bedenken erhoben hat:Entscheidung des Rates zur Errichtung eines Europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit-- Drucksache 7'172 —Der Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 20. März 1974 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden, bereits verkündeten Vorlagen keine Bedenken erhoben hat:Verordnung des Rates übler die Zollregelung für bestimmte Fischereierzeugnisse mit Ursprung in Norwegen— Drucksache 7/1258 --Verordnung des Rates betreffend die Gewährung von Beihilfen für den Schiffbau-- Drucksache 7,1473 --Verordnung des Rates zur Eröffnung von Zollpräferenzen (teilweise Aussetzung der Zollsätze) für Fertigwaren aus Jute und Kokosfasern mit Ursprung in Indien und für Fertigwaren aus Jute mit Ursprung in Bangladesh- Drucksache 7/1558 —Verordnungen des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung von Gemeinschaftszollkontingenten für bestimmte Textilwaren mit Ursprung in Jugoslawienüber die Eröffnung von Zollpräferenzen für bestimmte Textilwaren mit Ursprung in Jugoslawien-- Drucksache 7/1568 -Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung von Gemeinschaftszollkontingenten für Kakaobutter und löslichen Kaffee mit Ursprung in den Entwicklungsländern— Drucksache 7;1577 --Überweisung von EG-VorlagenDer Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:Richtlinie des Rates zur Förderung forstwirtschaftlicher Maßnahmen— Drucksache 7/1848 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten , Haushaltsausschuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatVerordnung des Rates über reinrassige ZuchtrinderBeschluß des Rates zur Einsetzung eines Ständigen Tierzuchtausschusses— Drucksache 7/1849 überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatIch rufe die Punkte 5, 6 und 7 der Tagesordnung auf:5. Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Wahl der deutschen Mitglieder in das Europäische Parlament— Drucksache 7/1352 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Innenausschuß
RechtsausschußAuswärtiger AusschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GO6. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU betr. Europapolitik— Drucksache 7/1353 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Wirtschaft7. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, FDP betr. Stärkung des Europäischen Parlaments— Drucksache 7/1688 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß InnenausschußRechtsausschußHaushaltsausschußWir führen eine verbundene Debatte.Zu den Punkten 5 und 6 der Tagesordnung erteile ich dem Herrn Abgeordneten Amrehn das Wort zur Begründung. Die Fraktion der CDU/CSU hat eine Redezeit von 45 Minuten angemeldet. — Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa ist heute als politische Größe nicht vorhanden. Die Zerreißproben der letzten Monate haben das Gebäude der Neunergemeinschaft zwar nicht auseinanderfallen lassen, aber es zeigt beträchtliche Risse. Bei der Behörde in Brüssel breiten sich Ermüdung, Entmutigung und das Gefühl der Vergeblichkeit aus. Dennoch führen wir diese Bundestagsdebatte nicht, um das allge-
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Amrehnmeine Weihklagen über den bedauernswerten Zustand unseres Kontinents zu verstärken. Wir führen sie zu dem Zweck, in einer tiefernsten Krise der Europapolitik allen nationalen Eigensüchteleien zum Trotz der Öffentlichkeit ins Bewußtsein zu rufen:1. Die Einigung der demokratischen Staaten Europas ist jetzt noch notwendiger geworden, als sie jemals war.2. Der politische Einigungsprozeß ist auch heute möglich und hat Chancen, die es zu nutzen gilt.Entgegen allen Rückschlägen besteht die erste entscheidende Bedingung zur Schaffung Europas noch immer: Die Völker Europas wollen Europa. Das haben bisher alle Befragungen erwiesen. Die freien Völker Europas denken in ihrer Grundhaltung fast alle viel europäischer, als ihre Regierungen zu handeln gewillt sind oder glauben handeln zu können.Sieht man von den augenblicklichen Schwierigkeiten in England ab, kann es sich ein Politiker in einem Lande der Gemeinschaft heute in der Öffentlichkeit kaum noch leisten, nicht für die Europäische Union zu sein. Die Bewußtseinskrise ides freien Europa besteht in dem Widerspruch zwischen den Erwartungen der Völker und der Ohnmacht oder der Unfähigkeit der Regierungen, den hundertmal verkündeten Willen zur europäischen Einigung endlich in die Tat umzusetzen.Auch in diesem Augenblick soll selbstverständlich nichts von den großen Leistungen und Verwirklichungen europäischen Zusammenwachsens verkleinert werden. Die Gemeinschaft für Kohle und Stahl, dann der Gemeinsame Markt, zunächst der Sechs, ja allein die Zollunion, sind gewiß Veränderungen von geschichtlichem Ausmaß. Sie schlagen für alle Beteiligten nicht nur wirtschaftlich zu Buch, sie haben ihre tiefgreifenden Auswirkungen auf die heutige Stellung der Europäischen Gemeinschaft in der Welt gehabt. Dafür haben wir allen zu danken, die ihre ganze Kraft an. eine solche Aufgabe gesetzt haben und nicht aufhören, sie zu verwirklichen.Hier möchte ich auch der Rolle gedenken, die der Europarat in Iden 25 Jahren seines Bestehens als Wiege des europäischen Zusammenschlusses gespielt hat und weiter spielen wird, um die Beziehungen zwischen dem Teil-Europa der Neun und den weiteren acht Mitgliedern des Europarats immer mehr zu vertiefen. Die zahlreichen Konventionen des Europarates, insbesondere die Konvention über die Menschenrechte mit dem Anspruch jeder einzelnen Person auf Anrufung der Kommission für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind Meilensteine europäischer Rechtsentwicklung.Aber wahr ist leider auch, daß sich die Europäische Kommission der Neunergemeinschaft am 31. Januar gezwungen sah, über die Köpfe des Ministerrats hinweg an die europäischen Regierungen und an die Öffentlichkeit einen beschwörenden Notruf zu richten, indem es heißt:Europa macht eine schwere Belastungsprobe durch. Diese Belastungsprobe trifft Europa inmitten einer Krise, einer Krise des Vertrauens, einer Krise des Willens, einer Krise des klaren Verstandes.Es ist gewiß nicht völlig bedeutungslos, daß dieser Notruf immerhin von einem französischen Kommissionspräsidenten, Herrn Ortoli, mitgezeichnet ist. Noch deutlicher kann ein Appell eigentlich nicht sein. Er ist eine Anklage an die Regierungen, die ihre Stunde nicht erkennen. Er ist eine Aufforderung, der politischen Vertrauenskrise Herr zu werden durch mehr gesunden Menschenverstand und durch stärkeren Willen zur Einigung. Die Fraktion der CDU/CSU unterstützt diesen Appell der Europäischen Kommission. Sie richtet ihn eindringlich — und vor allem — an die eigene Regierung.
Unser Thema ist heute nicht, ob der Regionalfonds etwas mehr aufgestockt oder etwas mehr gestreut werden soll, auch nicht, ob es wieder zu einem Butterberg kommen kann, oder wie die Neuorientierung des Agrarmarktes aussehen müßte. Das sind alles ganz wichtige Fragen. Aber die Antwort darauf bestimmt sich danach, welche Grundorientierung die zukünftige Europapolitik überhaupt haben wird. Hohe Geldleistungen an einen Regionalfonds oder einen Währungsfonds oder andere europäische Kassen erfüllen nur dann ihren Sinn, wenn sie mit überzeugenden Schritten zur Einigung Europas verbunden werden.
Wir gehen von der Erfahrung aus und von der Erkenntnis, die manche schon früher zu haben glaubten, daß weder ein Gemeinsamer Markt noch eine Zollunion, weder Hunderte von Marktordnungen noch Tausende von Verordnungen aus sich selbst eine politische Union hervorbringen. Der belgische Außenminister van Elslande hat dazu kürzlich erklärt:Es ist unmöglich, auf dem gegenwärtig eingeschlagenen Weg und mit den derzeit angewandten Methoden die europäische Einigung zu verwirklichen.
Soweit van Elslande.
Gewiß enthält jede gemeinschaftliche wirtschaftliche Maßnahme auch ein Stückchen Politik. Aber es ist offenkundig zuwenig. Um die Staaten Europas auf dem Weg zur politischen Union voranzubringen, müssen die Regierungen endlich einen großen politischen Sprung wagen und dabei die Bleigewichte nationaler Engstirnigkeit über die Hürden werfen.
Nationale Interessen westeuropäischer Länder lassen sich künftig nur noch in einer Union und durch eine Union oder überhaupt nicht mehr verteidigen. Ohne einen großen politischen Schritt kommt in der Gemeinschaft auch wirtschaftlich nichts mehr voran.
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AmrehnBis dahin wird alles nur Stückwerk und kostspielige Wurstelei bleiben. Das können wir uns nicht mehr leisten. Die engere Verflechtung der westeuropäischen Länder ist eine Bedingung ihrer künftigen Selbstbehauptung. Sonst geht Europa völlig unter in den nächsten zehn Jahren, wie Staatssekretär Apel es in der „Zeit" erklärt hat. Dabei wird unter Selbstbehauptung nicht nur die bloße Existenz verstanden, sondern eine Existenz zur Bewahrung gemeinsamer Kulturwerte, eine Existenz mit demokratischen Grundüberzeugungen und freien Entfaltungsmöglichkeiten für jeden Bürger.Deshalb ist europäische Wirtschaft für uns nicht nur ein System steigender Produktionszahlen und wachsender materieller Güterversorgung. Das ist sie auch, aber vor allem ist sie Instrument und Grundlage zur Sicherung und Erweiterung des persönlichen Freiheitsraumes aller in der Gemeinschaft lebenden Europäer.Nicht erst die Ölkrise hat gezeigt, daß die europäischen Staaten ihr wirtschaftliches Schicksal nicht mehr einzeln meistern können. Sie bleiben aufeinander angewiesen. Galt dies schon für Schönwetterzeiten des Aufbaus und des Wachstums, so gilt es erst recht im Augenblick elementarer Gefährdungen ihrer wirtschaftlichen Grundlagen.Es heißt, die Europäische Gemeinschaft sei längst über den Punkt hinweg, von dem es wieder ein Zurück zu nationalen Wegen hätte geben können. Diese These stößt heute auf Zweifel. Aber selbst wenn Zollunion und Agrarmarkt unwiderruflich geworden sein sollten, sind sie wiederum zuwenig,
um die Versorgungs-, Ausbau- und Ausgleichsbedürfnisse eines Wirtschaftsverbundes von 250 Millionen Menschen industriell, monetär und sozial befriedigend zu lösen.
Daß Regierungen in der Ölkrise trotzdem nationale Auswege beschritten haben, befriedigt sich daher selbst nicht. Das Unbehagen an der Panik, aus der sie gehandelt haben, das Unbehagen am Verlust des gegenseitigen Vertrauens und der Solidarität und nicht zuletzt das Unbehagen an den schwerwiegenden Konzessionen, die einzeln für die Zusicherung von Öllieferungen gemacht worden sind, spiegelt im Grunde nur das Verlangen nach einem neuen und vertieften wirtschaftlichen Zusammengehen wider. Fragen der Energieversorgung, Fragen der Währungspolitik, Fragen des Außenhandels und der Außenwirtschaft lassen sich heute national nur noch als eine Art Flickschusterei betreiben. Wirkliche Lösungen erfordern gemeinschaftliche Maßnahmen nach innen und verstärkte Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft nach außen. Ohne einen politischen Flankenschutz der Energie- und Rohstoffzufuhr kann die wirtschaftliche Macht des Gemeinsamen Marktes schnell zusammenstürzen.Auf die Dauer wird es keine krisenfeste wirtschaftliche Ordnung der Gemeinschaft nach innen geben, wenn sie nicht gleichzeitig durch eine einheitliche Außenwirtschafts- und Außenpolitik abgesichert wird. Im Augenblick scheint eine solche Forderung fern von jeder Realität zu sein. Trotzdem ist der Zwang in einer scheinbar aussichtslosen Lage zu neuen konstruktiven Ansätzen unübersehbar.Eine Außenpolitik der Gemeinschaft wird vorwiegend als ein Instrument zur Verstärkung des westeuropäischen Machteinflusses in der Welt begriffen. Die Abwesenheit Europas von der nahöstlichen Bühne ist überall beklagt worden. Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Woanders dabei zu sein und mitzureden ist jedoch kein Selbstzweck. Der Sinn der europäischen Mitsprache besteht darin, für die friedliche Entwicklung und Prosperität an anderen Stellen der Welt Mitverantwortung zu übernehmen und auf diesem Wege die eigenen Lebensbedürfnisse aller Länder der Europäischen Gemeinschaft draußen mit sichern zu helfen. Das geht weder im Gegeneinander der westeuropäischen Staaten noch in der Form einer Bittprozession der einzelnen Außenminister zu den Quellen flüssiger Energie.
Die Gemeinschaft braucht ein einheitliches außenwirtschaftliches und außenpolitisches Vorgehen. Durch eine einheitliche Außenpolitik der Gemeinschaft kann Westeuropa einen ebenso notwendigen wie möglichen Beitrag zur Stabilisierung der Kräfte des europäischen Gleichgewichts leisten.Militärisch gibt es jetzt und für berechenbare Zukunft kein selbständiges oder unabhängiges Gleichgewicht in Europa. Das militärische Gleichgewicht wird nur durch das Atlantische Bündnis gesichert. Deshalb bleiben die Westeuropäer, ob es ihnen gefällt oder nicht, auf die Vereinigten Staaten und das Bündnis mit ihnen angewiesen.
Das Atlantische Bündnis ist das A und O eigener westeuropäischer Handlungsfähigkeit. Das wissen die Franzosen so gut wie wir. Westeuropäische Unabhängigkeit gibt es nur in den Grenzen der Selbständigkeit, die durch das Bündnis erst möglich gemacht wird, und es kann immer nur eine Selbständigkeit sein, die dem Bündnis noch zuträglich ist. Sie wird schwächer, je gestörter das europäische Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ist oder wenn Franzosen und Deutsche in Washington gegeneinander streiten. Je uneiniger Westeuropa in sich ist, desto mehr nötigt es die Vereinigten Staaten, die Balance mit der Sowjetunion unmittelbar und allein zu suchen.Vorwürfe gegen die Vereinigten Staaten über mangelnde Konsultationen sind unbegründet, solange es kein politisches Europa gibt, das von Amerika konsultiert werden könnte und nicht mit einem disharmonischen Chor, sondern wirklich mit einer Stimme antwortet.
Andererseits können die Westeuropäer insgesamt durch ihre Wirtschaftskraft und durch gemeinsame Außenpolitik ein Eigengewicht entfalten, das stark genug ist, um einerseits gegenüber Amerika ein hohes Maß an Verselbständigung möglich zu machen und um andererseits gegenüber der Sowjetunion
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Amrehnwenigstens ein Stück des westeuropäischen Defizits an militärischem Gegengewicht zu kompensieren. Daß daneben die Westeuropäer auch militärisch mehr zur Entlastung Amerikas beitragen und für ihre eigene Sicherheit in jedem Jahr mehr Anstrengungen machen müssen, versteht sich von selbst.Amerika hat den Europäern nach einem schrecklichen Zusammenbruch auf jede Art und mit allen verfügbaren Mitteln wieder Bewegungsfreiheit verschafft. Den Dank dafür sollten jedenfalls wir Deutschen nicht völlig vergessen. Es war Amerikas Ziel, Europa zu einem gewichtigen Partner diesseits des Atlantiks zu machen. Das ist ihm mit der Folge gelungen, daß die Gemeinschaft ihm wirtschaftliche Konkurrenz machen kann. Natürlich hat es damit auch seine eigenen Interessen vertreten. Aber es wäre absurd, von den Amerikanern den militärischen Schutz und die Stationierung von Truppen in Europa auch weiterhin zu verlangen und gleichzeitig unter dem Dach dieses Schutzes den Versuch zu machen, sie jetzt wirtschaftlich oder auch politisch vor das Schienbein zu treten.
Niemand verlangt, daß nicht auch die Europäer ihre Interessen massiv verteidigen. Deshalb war es vor einem Jahr ein vernünftiger Vorschlag der Amerikaner, die beiderseitigen Interessen, die in einer neuen Ara nicht mehr unbedingt identisch sein müssen, miteinander vernünftig abzustimmen und sich mit den Problemen zu befassen, die erst aus dem Erfolg der bisherigen amerikanisch-europäischen Zusammenarbeit entstanden sind. Diese Aufforderung hat bisher keine angemessene europäische Antwort gefunden. Das europäisch-amerikanische Partnerschaftsverhältnis besteht nicht nur im NATO-Bündnis. Es kann nur in dem Zusammenhang und in der Abstimmung — nicht unbedingt Übereinstimmung, aber doch Abstimmung — aller militärischen, währungspolitischen, finanziellen, handels- und gesamtpolitischen Elemente gedeihen, soweit sie beide Kontinente überhaupt angehen. Dieser Zusammenhang läßt sich nicht in seine Einzelteile auflösen, noch kann er durch formale Konsultation ausgefüllt werden. Dieser Gesamtzusammenhang bedarf einer neuen Beschreibung und einer neuen Festigung.Sicher begehen auch die Amerikaner schwere psychologische Fehler. Aber ihre Einladung zum Jahr Europas und zu einer neuen Atlantikcharta in Deutschland als „Monstrum" zu kennzeichnen war nicht die Tonart, um das gestörte Verhältnis aufzupolieren.
Das konnte nur Musik in den Ohren der Sowjetunion sein.
Im übrigen können nicht die Amerikaner das Europa bauen, das sie weiterhin wünschen. Das müssen die Europäer schon selber besorgen. Es ist unsere Verantwortung. Aber wir sind bisher nicht in der Lage, den amerikanischen Vorstellungen handfeste Vorstellungen der Gemeinschaft gegenüberzustellen.Der entscheidende Antrieb für die politische Union liegt darin, daß Westeuropa vor dem immer weiter steigenden Machteinfluß und dem kontinentalen Anspruch der Sowjetunion nicht bestehen kann, solange es zerrissen ist.
Moskau kann jede Störung des Einigungsprozesses wie des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten nur mit Befriedigung begrüßen und als Erfolg buchen. Den Zustand des politischen Auseinanderlaufens der Westeuropäer mit allen Kräften zu beenden, ist deshalb, besonders vor dem Hintergrund der Ostpolitik und ihrer Folgen, ein Lebensinteresse der Bundesrepublik Deutschland.
Der Bundesaußenminister hat am 25. August letzten Jahres erklärt:Die Europapolitik ist die Grundlage unseres außenpolitischen Handelns.Der Kanzler hat am 11. September im France-Soir erklärt:Die Einigung Westeuropas und das atlantische Bündnis stehen für mich obenan. Dieses Europa gilt es zu schaffen nicht irgendwann, sondern jetzt.Genau das ist unsere Meinung. Diese Worte klingen sehr gut und viel besser als das frühere Wort von den nächsten Generationen, das wir von diesem Platz gehört haben. Doch wir fragen: Wo bleiben die entsprechenden Aktionen der Bundesrepublik Deutschland?
Mit Erklärungen oder auch mit Resolutionen von Gipfelkonferenzen ist es nicht getan.Der Kanzler meinte am 12. November vor dem Europäischen Parlament mit Recht:Es kommt weniger auf die Worte an als auf die konkreten Ergebnisse.Und in Punkt 6 seiner Rede, die er dort gehalten hat, forderte er:Wir brauchen möglichst bald klare, realistische Vorschläge für den Weg zur Europäischen Union.Am 24. Januar dieses Jahres assistierte der Bundesaußenminister mit den Worten:Die Vorarbeiten für die Europäische Union müssen jetzt zügig in Gang kommen.Einen Monat später, am 27. Februar, verkündete er in einem ,,Bild"-Interview:Die Bundesregierung hat durchaus eine klare Vorstellung, wie die europäische Politik weitergehen und wie die Europäische Union von 1980 aussehen soll.Herr Bundesaußenminister, darüber würden wir nungern etwas mehr erfahren. Bis heute hat keineRegierung ein Konzept oder einen strategischen Plan
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Amrehnfür die institutionelle Struktur einer europäischen Währungs- und Wirtschaftsunion, geschweige denn einer politischen Union überhaupt vorgelegt. Noch ist der Begriff der Europäischen Union nur eine Worthülse, die mehr verdeckt als offenbart. Das Jahr 1980 als Jahr der Vollendung der Europäischen Union zu verkünden, ist doch nur ein Mittel der Vertröstung, weil es an überzeugender politischer Aktivität in der Gegenwart fehlt. Die Konferenzen von Den Haag, Paris und Kopenhagen haben jedesmal wieder etwas Hoffnung geweckt. Aber wo sind die notwendigen praktischen Schritte geblieben? Wo sind die drängenden Initiativen und Aktionen, die sich der Außenminister für die Zeit seiner Präsidentschaft im Ministerrat vorgenommen hatte, und zwar mit konkreten Vorschlägen, wie wir jenseits des Tagesgeschehens aus der Krise herauskommen und noch vor 1980 die Strukturen einer Union entwikkeln?Heute ist häufiger zu hören, wir hätten unsere europäischen Erwartungen von Anfang an zu hoch gespannt und wir seien zu ungeduldig für einen geschichtlichen Prozeß solchen Ausmaßes; nur deshalb könnte man enttäuscht sein, daß sich die Hoffnungen noch nicht verwirklicht hätten, die sich an die großen Aktionen Schumann, de Gasperis, Adenauers, Churchills und Spaaks geknüpft haben. Doch konnten in Wahrheit die Erwartungen bei der Beschleunigung der politischen und technischen Veränderungen und angesichts der sowjetischen Machtentfaltung gar nicht hoch genug angesetzt werden. Die Lage, wie sie war und ist, hätte uns im Gegenteil zu weniger Entschließungen und zu mehr Entschlüssen, zu weniger Routine und zu mehr Tempo antreiben müssen.Zu einem großen Teil ist der politische Einigungsprozeß an Grundsatzfragen gescheitert. Die einen waren von Anfang an für den demokratischen europäischen Bundesstaat — die CDU/CSU ist auch heute noch dafür —; andere sind gegen den Bundesstaat, oft in völliger Verkennung der Tatsache, daß auch in einem Bundesstaat bei den nationalen Regierungen die Aufgaben verbleiben, die nicht unbedingt auf eine zentrale Zuständigkeit übertragen werden müssen.
„Die Maschinerie der Gemeinschaft ist eines der Hemmnisse der Integration." Tatsächlich liegen beim Ministerrat noch heute über 500 unerledigte Vorlagen.Doch für die Auseinandersetzung um Theorien oder Technokratien, um Föderation oder Konföderation, um ein Europa der Vaterländer oder der Staaten keinen Schritt weiter. Nicht auf Bezeichnungen kommt es an, sondern auf den Willen zum politischen Einigungsprozeß, auf ebenso greifbare wie überzeugende Ergebnisse. Ist der Wille vorhanden, lassen sich auch die Wege finden, die allen Beteiligten zumutbar sind und ihren Interessen dienen.Kürzlich hat das langjährige Kommissionsmitglied und ihr vorletzter Präsident Mansholt denVorwurf erhoben, daß weder Frankreich noch Großbritannien noch Deutschland die politische Gemeinschaft wirklich gewollt hätten. Am 26. Februar 1974 erklärte dieser Sozialdedmokrat in einem Interview zu den mehrmals angekündigten Initiativen der Bundesregierung: „Ich will Willy Brandt nicht weh tun, aber es ist nichts geschehen." Er fährt fort, auch der Bundesaußenminister habe nicht gehandelt. Der luxemburgische Außenminister Thorn hat am 14. Dezember 1973 im Fernsehen mit dem Ausdruck der Verärgerung erklärt: „Wir haben über vieles gesprochen, nur noch nicht über die europäische Union."Nach diesen Erklärungen ist es wohl gut, die Verantwortung für den Stillstand nicht immer nur bei einem Land zu suchen. Man hat sich allgemein daran gewöhnt, in Frankreich das Land zu sehen, das den politischen Zusammenschluß am meisten behindert hat. Ich will diesen Eindruck nicht verwischen. Die jüngsten französischen Reaktionen auf die Erdölkrise haben ihn noch verstärkt; sie sind Europäern nicht mehr verständlich zu machen und haben anscheinend bis hinein in die französische Regierung Widerspruch gefunden. So ist die Aufgabe noch schwerer geworden, unter allen europäischen Partnern die notwendigen Übereinstimmungen zu entwickeln, auf denen eine politische Union tragfähig errichtet werden kann.Aber auch die gegenwärtigen Rückschläge können nicht verdecken, daß Frankreich nach Kultur, Geschichte und geistiger Tradition ein zutiefst europäisch geprägtes Land ist, dessen Schicksal mit dem seiner Gemeinschaftspartner verknüpft bleibt. Für keinen von ihnen kann eine Politik des leeren Stuhls noch Früchte tragen.Für das deutsch-französische Verhältnis gilt im besonderen, daß sich beide Seiten im Freundschaftsvertrag verpflichtet haben, so weit wie möglich zu einer gleichgerichteten Haltung in den Fragen der Europäischen Gemeinschaften und der europäischen politischen Zusammenarbeit zu gelangen. Durchaus zutreffend hat der Bundesaußenminister in „Le Monde" festgestellt: Die deutsch-französische Freundschaft ist ein Grundpfeiler des europäischen Einigungsprozesses. Ich setze hinzu: Selbstverständlich kann Frankreich nicht allein bestimmen wollen, wie die politische Union auszusehen hat. Aber das ist auch nicht der Kern des Problems. Die Schlüsselfrage lautet vielmehr, wie nach den jahrelangen und vergeblichen doktrinären Debatten die herrschenden, wenn auch keineswegs einheitlichen Vorstellungen der Europäer in Frankreich jetzt mit den Vorstellungen der Europäer in anderen Ländern so zur Deckung gebracht werden können, daß endlich ein sichtbarer und praktischer Fortschritt erzielt wird. Es gibt wichtige politische Kräfte in Frankreich, die dabei aufrichtig mithelfen wollen. Man darf es sich nicht so leicht machen, die Vorstellungen Frankreichs von Europa dahin zu mißdeuten, es wolle ein Europa nur unter Führung Frankreichs. In einem Europa der Freien und Gleichen kann es für keine Nation eine Vormachtstellung geben. Gäbe es sie, würde sie den Keim zu einem neuen Zerfall legen. Es ist ja nicht so, daß Frankreich nicht auch
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Amrehnselbst Vorschläge gemacht hätte. Die Fouchet-Pläne, die über 10 Jahre alt sind, die mit französischer Zustimmung Kompetenzen der Gemeinschaft für die Außenpolitik und für die Verteidigung vorgesehen hatten, sind damals auf Ablehnung gestoßen, weil sie manchem Partner nicht weit genug zu gehen schienen. Das Ergebnis ist, daß man nichts hat. Heute muß die Frage erlaubt sein, wo wir mit der politischen Union wohl stehen könnten, wenn damals der Fouchet-Plan I mit gegenseitigem Nehmen und Geben verwirklicht und ein ernster Anfang mit einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik gemacht worden wäre.Vor wenigen Monaten hat der französische Außenminister vor der Versammlung der WEU die Anregung gegeben, in Fragen der europäischen Verteidigung zu einer engeren Zusammenarbeit zu kommen. Sie steht nach französischer Ansicht sogar im Vordergrund der notwendigen europäischen Bemühungen. Natürlich weiß doch der Minister, daß die anderen Partner in der WEU nicht nur im atlantischen Bündnis, sondern auch in der Organisation der NATO stehen und daß wir die bewährte Zusammenarbeit in der Europa-Gruppe der NATO nicht aufgeben können oder werden. Wenn er es trotzdem für richtig hielt, als erster französischer Minister nach 10 Jahren vor der Versammlung der Westeuropäischen Union zu sprechen, zweitens dort den Willen der französischen Regierung zur Schaffung Europas erneuert und drittens auch seinerseits ausdrücklich die Unerläßlichkeit des atlantischen Bündnisses bekräftigt hat, so sollte die Substanz eines solchen Hinweises ausgelotet und ein solches Signal nicht durch Stillschweigen einfach übergangen werden. Solche Anregungen sollten auch nicht kurzerhand damit abgetan werden, daß die in der Westeuropäischen Union immerhin denkbare stärkere Zusammenarbeit in der Rüstung nicht als ein Schritt auf Europa hin gedacht sei, sondern nur als ein Instrument zur Teilnahme an der Rüstungsproduktion.
Die gegenseitige Verdächtigung der Motive des politischen Handelns kann nur zur Entfremdung und nicht zur Vertiefung der Freundschaft führen.Immerhin gibt es ja unter aktiver französischer Mitwirkung auch einige beachtliche Erfolge, die Außenpolitik der Neun in Teilbereichen aufeinander abzustimmen. Die Zusammenarbeit der politischen Direktoren der Auswärtigen Ämter, das sogenannte Davignon-Verfahren, hat einen gewissen Fortschritt gebracht. Sie hat es den Außenministern der Gemeinschaft ermöglicht, auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit nach einem geschlossenen Konzept vorzugehen; aber es genügt nicht. Dieser Weg muß ausgebaut werden. Man mag es beklagen, daß er sich nicht im Rahmen der Brüsseler Institutionen hat verwirklichen lassen. Auch wir finden es lächerlich, daß die neun Außenminister am Vormittag in Kopenhagen als Außenminister ihrer Länder zusammentreten und sich dann in ein Flugzeug setzen, um am Nachmittag in Brüssel als europäisches Minister-Komitee zu tagen. Wir möchten wünschen, daß solche haarspalterische Trennung von Funktionen ein und desselbe Personenkreises aufhört.Andererseits ist es durchaus denkbar, daß für die politische Zusammenarbeit auf dem Wege zur Einheit ein politisches Führungsorgan aus der Verantwortung der nationalen Kabinette hervorgeht und einstweilen mit der Verantwortung der nationalen Kabinette verknüpft bleibt. Dann ist auch der Einwand, dieser Weg führe von Brüssel weg, nicht begründet, weil am Ende die geschlossene europäische Einheit steht. Nur muß man deutlich sehen: ohne ein politisches Entscheidungszentrum geht es auch mit den wirtschafts- und währungspolitischen Institutionen in Brüssel nicht mehr vorwärts.
Die Frage lautet: was ist heute politisch machbar? Ist es zu wenig, und verzichte ich lieber auf jeden Fortschritt? Oder gehe ich den ungeliebten Umweg, um überhaupt weiterzukommen? Auch wenn es nicht schmeckt, muß heute ein Weg des Kompromisses gegangen werden, der die europäische politische Zusammenarbeit voranbringt und damit auch die Institutionen in Brüssel wieder fördert. Alles unter der Voraussetzung, daß der Prozeß des Zusammenwachsens neue Organe mit den bestehenden schließlich zusammenführt und dadurch die Sorge um den Bestand der bisherigen Gemeinschaften überflüssig macht.Was wir heute europäische politische Zusammenarbeit nennen, kurz als EPZ gekennzeichnet, ist ein kleines Stück dieser Wegstrecke. Wenn man sich dazu entschlossen hat, hat es jedoch keinen Sinn, es halbherzig zu tun, sondern dann muß alle Aktivität entfaltet werden, um die gleichen größeren Ziele zu erreichen, die wir ursprünglich auf anderen Wegen erreichen wollten.Erst vor wenigen Tagen hat das italienische Kommissionsmitglied Spinelli hier in Bonn neue Anregungen gegeben. Er war wie Mansholt und vorgestern der König der Belgier der Meinung, es sei jetzt Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland, den toten Punkt durch Initiativen und Forderungen zu überwinden.
Er entwickelte den Vorschlag, durch Delegierte der nationalen Parlamente im Europäischen Parlament ein europäisches Grundgesetz ausarbeiten zu lassen, das der Zustimmung der Völker unterworfen werden soll. Wir würden das unterstützen.Wichtig daran ist aber nicht so sehr, ob dieser Weg oder besser ein anderer zu verwirklichen ist. Wichtig ist, daß das europäische Bewußtsein der Öffentlichkeit neu mobilisiert wird und die Regierungen zu Entschlüssen angehalten werden.Aus diesem Grunde ist es auch überfällig, daß jetzt dem Europäischen Parlament mehr verantwortliche Aufgaben, insbesondere Haushaltsrechte, zugewiesen werden.
Diese Absicht wird mit unserem wie mit dem Entschließungsentwurf der Koalition in gleicher Weise
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Amrehnunterstützt. In diesem Zusammenhang können wir wieder nur die Frage aufwerfen, welche Anstrengungen die Bundesregierung bisher unternommen hat, um im Brüsseler Ministerrat Entscheidungen über die Erweiterung der parlamentarischen Kompetenzen wirklich durchzusetzen.
— Wir kennen keine. Der Berichterstatter des Politischen Ausschusses des Europäischen Parlaments hat in seinem letzten Berichtsentwurf vom Januar nur gesagt, die Bundesregierung habe angedeutet, sie wolle in absehbarer Zukunft ein Dokument mit konkreten Vorschlägen vorlegen; uns ist es unbekannt.
— Bitte?
— Ja, dem Ministerrat! Ich sage aber: wir kennen sie nicht, wir möchten sie einmal kennenlernen, wir möchten mit dazu Stellung nehmen, wir möchten Anregungen geben, wir möchten sehen, daß eine Vorlage nicht nur an den Ministerrat gegeben wird, sondern daß entschieden, gedrängt wird, Forderungen gestellt werden!
Mindestens auf der Grundlage der Vorschläge, die Sie, Herr Kollege Behrendt, im Europäischen Parlament selbst mit ausgearbeitet haben, sollte doch nun unsere Regierung die Erweiterung der Haushaltsbefugnisse des Parlaments im Europarat nicht nur einbringen, sondern auch durchzusetzen sich bemühen mit der Unterstützung aller Parlamente der Gemeinschaft. Dann müssen wir das aber auch kennenlernen!
Es ist ganz selbstverständlich, daß mit dieser Entwicklung ein entsprechender Schritt der Bewußtseinsbildung unter den europäischen Völkern einhergehen muß, und das ist das Motiv dafür, warum wir Ihnen den Vorschlag unterbreiten, zu nationalen Direktwahlen zum Europäischen Parlament zu kommen. Wer jetzt erwartet, daß das gleichermaßen und zu gleicher Zeit in allen Ländern geschehe, weiß, daß er eine utopische Forderung aufstellt. Aber es ist möglich, in verschiedenen Ländern nach verschiedenen Methoden auf Grund der verschiedenen Tradition der Länder nationale Direktwahlen möglich zu machen.Ich weiß ja, daß wir vor zehn Jahren selber dagegen waren, aber in der Zwischenzeit hat sich eben so viel entwickelt und ereignet, daß wir heute der Überzeugung sind: das ist überhaupt nur noch der einzige Weg, um zu demokratischen Entscheidungen, um zur Entwicklung eines Wahlmodus zum Europäischen Parlament zu kommen. Darin finden wirin einer Reihe anderer Länder, die entsprechende Anträge eingebracht haben, viel Unterstützung.
Und ich kann nur hinzufügen: Der Vorstand der Christlich-Demokratischen Union Europas hat sich erst gestern geschlossen dafür ausgesprochen, das in allen Ländern mit zu unterstüzen. Ich fordere Sie auf, dies mit zu unterstützen.
Herr Kollege Amrehn, ich weise Sie auf den Ablauf der Redezeit hin.
Eine Minute noch, Herr Präsident.
Zu unmittelbaren Aktionen berufen und verpflichtet ist in jedem Land die Regierung. Aus diesem Grund fordern wir die Regierung auf, für die von ihr sehr spät gesetzte Priorität der WesteuropaPolitik nun nicht weniger, sondern sehr viel mehr Willen und Leidenschaftlichkeit einzusetzen, als sie für ihre Ost-Politik an den Tag gelegt hat. Die Bundesregierung hat einen beträchtlichen Nachholbedarf an aktiver und überzeugender Europa-Politik. Sie hat noch ihren Beitrag zur Wiederherstellung des westpolitischen Gegengewichts zu ihrer Ost-Politik zu leisten. Die Bundesrepublik Deutschland hat nach ihrer geographischen Lage und nach den Möglichkeiten ihres politischen und auch wirtschaftlichen Einflusses die besondere Pflicht zu ideenreichem Handeln und zu vorwärtsdrängenden Initiativen. Fast könnte es zu spät sein. Der Durchbruch zu einem politischen Europa muß deshalb jetzt in Gang gesetzt werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt . Die Fraktion der SPD hat eine Redezeit von 45 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen haben diesem Hause einen Antrag vorgelegt, der dazu dienen soll, der Bundesregierung den Standpunkt des Deutschen Bundestages zu den Befugnissen des Europäischen Parlaments darzulegen und sie zu ersuchen, im Sinne dieser Vorstellungen im Ministerrat tätig zu werden. Der Zeitpunkt ist außerordentlich günstig gewählt, da der Rat Anfang April in seiner Sitzung Leitlinien beschließen will, die Grundlage des Konzertierungsverfahrens sein sollen, das mit dem Parlament vereinbart wurde.Die Koalitionsfraktionen haben allen Anlaß, der Bundesregierung dafür zu danken, daß sie bei den bisherigen Beratungen zusammen mit der niederländischen Regierung Vorschläge vorgelegt hat, die am weitesten den Vorstellungen des Europäischen Parlaments entgegenkommen und teilweise über die Vorschläge der Kommission hinausgehen. Herr Kollege Amrehn, daß Sie diese Vorschläge nicht ken-
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nen, obwohl Sie sie sicher hätten erfragen können, denn wir haben eine sehr informationsfreudige Bundesregierung, tut mir leid, ist aber vielleicht darauf zurückzuführen, daß Sie nicht im Europäischen Parlament sind und vielleicht nicht so unmittelbar an diesen Dingen interessiert sind.Wir finden es um so bemerkenswerter, daß die Bundesregierung bereit ist, über die Kommissionsvorschläge hinauszugehen, als frühere Bundesregierungen beispielsweise dem Begehren des Europäischen Parlaments nach einem Vermittlungsausschuß völlig ablehnend gegenüberstanden. So hat der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt und heutige Führer der Opposition Dr. Carstens in der Debatte vom 20. Mai 1965 erklärt, daß die — wohlgemerkt damalige — Bundesregierung befürchte, daß durch die Einsetzung eines solchen Gremiums unter Umständen eine sehr starke Verzögerung bei der Verabschiedung von Verordnungen eintreten könnte.
Angesichts der Verzögerungen, die beim Rat auch damals schon vorlagen, war das auch damals schon ein „äußerst überzeugendes Argument", Herr Kollege Dr. Carstens!Wir Sozialdemokraten haben auch Veranlassung, dem Bundeskanzler dafür zu danken, daß er als erster Regierungschef der Gemeinschaft überhaupt im Europäischen Parlament ein vielbeachtete Rede gehalten hat
und damit die Einstellung seiner Regierung zu diesem Parlament dokumentiert hat. Außerdem — das möchte ich hier auch einmal sagen, und ich hoffe, daß die Kollegen von der CDU/CSU aus dem Europäischen Parlament dem zustimmen — haben wir europäischen Parlamentarier es sehr wohltuend vermerkt, daß wir unter der deutschen Präsidentschaft mehr Gelegenheit als unter allen früheren Regierungen haben, den Ratspräsidenten entweder selber oder seinen Vertreter in den Ausschüssen oder im Parlament zur Verfügung zu haben, um mit ihm diskutieren zu können.
Wenn wir mit unserem Antrag trotzdem zum Ausdruck bringen, daß wir auch die Vorschläge der Bundesregierung zu den Befugnissen des Europäischen Parlaments nicht für ausreichend ansehen, dann tun wir das einerseits in voller Würdigung der Schwierigkeiten, die andere Mitgliedsländer selbst diesen Vorschlägen entgegensetzen, wir halten es aber auch für natürlich, daß ein Spannungsverhältnis zwischen Exekutive und gesamtem Parlament vorhanden ist, wenn es um die Befugnisse eines Parlaments geht.Zum Januar 1975 soll das bisherige System der nationalen Beiträge der Gemeinschaft durch Eigeneinnahmen ersetzt werden, völlig unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Anteil der zu harmonisierenden Mehrwertsteuer handelt oder aber um einen Anteil am Bruttosozialprodukt. Wir sind der Auffassung, daß nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch die nationalen Parlamente aufgerufen sind, ihre Einstellung zu den Haushaltsbefugnissen im Bereich der Gemeinschaft darzulegen.
Nach unserer Auffassung kann diese Haltung der nationalen Parlamente nur lauten:Erstens. Die Übertragung bisher nationaler Befugnisse auf die Gemeinschaft darf nicht zu einer schleichenden Aushöhlung demokratischer Entscheidungsbefugnisse und Kontrollen führen. Was den nationalen Parlamenten an Befugnissen entzogen wird, muß durch entsprechende Befugnisse des Europäischen Parlaments ersetzt werden.
Fortschritte in der Integration stellen keine Rechtfertigung dafür dar, das in den Einzelstaaten erreichte demokratische Niveau zu unterschreiten.Zweitens. Es muß ein für jeden Demokraten unerträglicher Gedanke sein, daß der Gemeinschaft Eigeneinnahmen in Höhe von über 20 Milliarden DM zur Verfügung stehen werden, ohne daß die Ausgaben der Entscheidung und Kontrolle durch ein Parlament unterliegen.
Drittens. Der Artikel 235 des EG-Vertrages, der es dem Ministerrat ermöglicht, den Aufgabenbereich der Gemeinschaft durch einstimmigen Beschluß zu erweitern, gewinnt zunehmend an Bedeutung. Ich erinnere nur an den Bereich der Sozial- und Regionalpolitik. Es sollte jeden Parlamentarier aufschrekken, daß bei dieser autonomen Vertragsänderung, die von elementarer Bedeutung sein kann, die nationalen Parlamente als Ratifizierungsorgane ausgeschaltet sind,
ohne daß das Europäische Parlament in diesem Bereich auch nur Mitwirkungsbefugninsse hat.
Viertens. Die Größenordnung der Mittel, über die von den Institutionen der Gemeinschaft verfügt wird, die absolut unzureichende parlamentarische Kontrolle und das vom Bundesfinanzminister wiederholt zu Recht kritisierte Fehlen eines Finanzkommissars bei der Kommission machen die Schaffung eines europäischen Rechnungshofes mit ausreichenden Befugnissen unaufschiebbar. In dieser Situation, vor einer entscheidenden Sitzung des Ministerrats, halten wir es für dringend erforderlich, daß sich der Deutsche Bundestag die Forderung des Europäischen Parlaments zu eigen macht. Was wir brauchen, ist eine Solidarität aller in diesem Hause mit den europäischen Parlamentariern.
Wir wollen die Position unserer Regierung bei den bevorstehenden Verhandlungen stärken und sie gleichzeitig ermuntern, bei den Verhandlungen voll für die Vorstellungen des Europäischen Parlaments einzutreten. Wir halten es für unvereinbar mit dem Selbstverständnis voll legitimierter Parlamentarier, diesen Bereich allein der Exekutive zu überlassen.
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Ich möchte einmal etwas selbstkritisch anmerken: Es war vielleicht ein Fehler der Parlamentarier überhaupt, daß sie die Integration zu weitgehend allein den Exekutiven überlassen
und sich zu wenig darin eingeschaltet haben.
Wir halten es aber aus einem weiteren Grund für erforderlich, jetzt das Thema der Haushaltsbefugnisse in dieses Parlament zu bringen. Der Immobilismus des Rates, der sich durch das sogenannte Luxemburger Agreement des Jahres 1966 noch verstärkt hat — dieses Agreement besagt, daß entgegen dem Vertragstext alle Entscheidungen bis hin zur Einführung von Verbundglas bei Kraftfahrzeugen einstimmig im Ministerrat getroffen werden müssen —, hat zu dem von Ihnen, Herr Kollege Amrehn, zu Recht kritisierten Berg der unerledigten Entscheidungen — es sind über 400; wir wollen uns hier um 50 oder 60 nicht streiten; wir wissen, daß es eine Zahl ist, die sich 500 nähert — beigetragen. Wir wissen durchaus, in welchen Schwierigkeiten sich der damalige Bundesaußenminister Schröder angesichts der von Frankreich betriebenen Politik des leeren Stuhls befunden hat. Ich stelle aber einfach fest — ich sage das ohne weitgehenden Vorwurf —, es war meines Erachtens ein Fehler, auf dieses Gentlemen's Agreement einzugehen, denn es ist mit ein Grund für viele Schwierigkeiten, die wir heute in dieser Gemeinschaft haben.
Wir müssen dringend fordern, daß die Mehrheitsentscheidungen als Regelfall entsprechend den Vorschriften des Vertrages wiederhergestellt werden.
In diesem Zusammenhang begrüßen wir die Vorschläge der Bundesregierung zur Verbesserung des Entscheidungsmechanismus des Ministerrats. Noch gravierender als der von mir angesprochene Punkt scheint mir der zu sein, daß der Ministerrat, der sich aus weisungsgebundenen Vertretern aller Regierungen zusammensetzt, allenfalls in Ansätzen so etwas wie eine europäische Identität gewonnen hat. Die Vertreter im Rat verstehen sich häufig — ähnlich Teilnehmern an internationalen Konferenzen —mehr als die Sachverwalter nationaler Interessen denn als Mitglieder einer europäischen Institution. Sie vergessen häufig, daß sich aus dieser Mitgliedschaft bestimmte Pflichten ableiten.Der Parlamentarische Staatssekretär im Außenministerium, Hans Apel, hat wiederholt darauf hingewiesen, daß es ein Europa à la carte nicht geben kann. Es wird kein Europa geben, wo sich jeder die Gerichte aussucht, die ihm besonders gut schmekken, und am Ende noch vergißt, daß er die von ihm gewählten Gerichte auch bezahlen muß. Es wird so nicht gehen, solange nicht die Überzeugung da ist, daß dieses Europa, das allen Vorteile bringt, aber auch von allen einen Einsatz und gewisse Opfer verlangt, diese Opfer wert ist. Ohne diese Überzeugung werden wir in diesem Bereich nicht weiterkommen. Wir haben unseren Antrag eingereicht, weil wir davon überzeugt sind, daß der schrittweiseÜbergang legislativer Befugnisse vom Rat auf das Parlament den Integrationsprozeß intensivieren und beschleunigen würde.Die Länder der Gemeinschaft haben die aktuellen Probleme in den Sektoren Energieversorgung und Wirtschafts- und Währungspolitik nicht, wie es unserer Meinung nach notwendig gewesen wäre, mit einem Mehr an Gemeinsamkeit aufgefangen, sondern ihr Heil weitgehend in der Flucht zum nationalen Kirchturm gesehen. Wir bedauern das sehr, denn diese Rückkehr ist, am Maßstab weltpolitischer Entscheidungen gemessen, ein Rückfall in die Kleinstaaterei, auch wenn es in Europa Länder gibt, die dies nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Das Ergebnis wird sein — ich will angesichts eines Ereignisses gestern in Frankfurt ein Bild aus diesem Bereich wählen und ein Zitat abwandeln —, daß die Europäer nicht Mitspieler, sondern Fußball im weltpolitischen Spiel sein werden.In dieser Situation brauchen wir keine neuen europäischen Visionen, keine neuen europäischen Deklamationen und nicht einmal, Herr Kollege Amrehn, eine schöne Zusammenfassung all dessen, was auf Gipfelkonferenzen bereits beschlossen worden ist. Ich habe Ihrer Rede nicht zu widersprechen, was den Inhalt betrifft, Herr Kollege Amrehn. Sie haben gemeinsames Gedankengut vorgetragen, von dem Sie wissen, daß auch diese Regierung dafür eintritt. Sie haben uns aber nicht gesagt, wie wir dabei mit dem Widerstand anderer Regierungen fertig werden sollen.
Sie haben gesagt, Herr Kollege Amrehn, wir brauchen den großen Sprung. Es ist schon etwas eigenartig, wenn am Krankenbett eines großen Sportlers alle darüber sinnieren, welche großen Sprünge und Leistungen er vollbringen könnte, wenn er voll gesund wäre; wenn man feststellt, daß die Wetterlage, die Aschenbahn und die Sprunggrube hervorragend sind, sich aber nicht darüber unterhält, daß es darauf ankommt, ihn erst wieder gesund zu bekommen, bevor man von seinen großen Sprüngen reden kann.
Darum, Herr Kollege Amrehn, wären wir für den weiteren Verlauf der Debatte äußerst dankbar, wenn Sie uns Rezepte zum großen Sprung aus dem Krankenbett vermitteln könnten. Das wäre sicher auch in anderen Bereichen ein gutes Rezept, das viel Nachahmung finden würde, wenn es wirksam wäre.Es ist sicherlich die Aufgabe der Opposition — niemand wird es Ihnen übelnehmen —, daß Sie der Bundesregierung, der Sie gegenüberstehen, vorwerfen, sie habe keine Pläne gehabt. Aber, Herr Kollege Amrehn, Sie sind ein in diesem Hause viel zu sehr respektierter Politiker, als daß wir annehmen müßten, daß Sie nicht gelesen hätten, welche Initiativen von dieser Regierung ausgegangen sind, wie viele Initiativen unerledigt sind
und an wein sie gescheitert sind. Es wäre durchauseinmal gut, wenn Sie — da denke ich vor allen
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Dingen an den Kollegen Marx — auch nach außen hin Verantwortlichkeiten klar darstellten und nicht für die Verantwortlichkeit, die andere trifft, immer nur die Bundesregierung haftbar machten.
Es hat mich gewundert, daß der Vorwurf, wir hätten zugunsten der Ostpolitik die Westpolitik vernachlässigt, nicht gekommen ist; Sie haben sehr lange gewartet. Herr Kollege Amrehn, wenn Sie sich aber — ich bitte Sie darum — einmal anschauen, was diese Bundesregierung — ich spreche von der Zeit ab 1969 — im europäischen Bereich gemacht hat, wie viele Initiativen von ihr ausgegangen sind, dann können Sie eines klar feststellen: wir haben Ost- u n d Westpolitik gemacht. Leider kann ich diese Feststellungen für die früheren Regierungen, die vorwiegend unter Ihrer Führung waren, nicht treffen. Da ist nur Westpolitik gemacht worden, und die war zum Teil auch nicht erfolgreich; aber Ostpolitik hat es damals überhaupt nicht gegeben.
— Herr Kollege Carstens, mir ist gesagt worden, daß Sie in der zweiten Fraktionsrunde kommen. Sie sind ein hervorragender Kenner der Materie, und Sie werden daher sicher noch die Möglichkeit haben, über diese Dinge etwas zu sagen.Was wir brauchen, sind keine weiteren großen Deklamationen, was wir brauchen — da stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege Amrehn —, ist die Umsetzung bereits gefaßter Beschlüsse. In diesem Zusammenhang muß einmal klar festgestellt werden: Gipfelkonferenzen können für die Integration Europas — auch wenn sie im Vertrag nicht vorgesehen sind — von entscheidender Bedeutung sein. Nur müssen manche Teilnehmer bedenken — ich blicke hier nicht auf unsere Regierungsbank —, daß den Beschlüssen Taten folgen müssen, daß nach der Gipfelkonferenz auch die Anweisungen an die Ratsmitglieder zur Umsetzung der Gipfelbeschlüsse kommen müssen. Daran hat es manchmal gefehlt.Wir glauben, daß es im Augenblick wirklich nicht darauf ankommt, neue Bereiche in die europäische Politik einzuführen, große Visionen in den Raum zu stellen, sondern wir glauben, daß es im Augenblick darauf ankommt, das zu fordern, das umzusetzen, was augenblicklich umgesetzt und verwirklicht werden muß.Dabei kommt — das habe ich bereits ausgeführt — der Stärkung der Haushalts- und Legislativbefugnisse des Europäischen Parlaments eine entscheidende Bedeutung zu. Bei dem, was wir vorschlagen, machen wir — ich sage es gleich vorweg — uns bewußt die Forderungen des Europäischen Parlaments zu eigen. Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich deutlich sagen, daß wir das, was wir heute in unserem Antrag vorschlagen, nur als Einstieg und nicht als ein endgültiges Konzept verstehen. Wir meinen, daßdieser Einstieg dazu führen muß, daß am Ende volle Haushalts- und Legislativbefugnisse für das Europäische Parlament stehen müssen, weil wir der Überzeugung sind, daß es eine europäische Union ohne ein voll legitimiertes Europäisches Parlament nicht geben kann und nicht geben wird.
Aus diesem Grunde ersuchen die Koalitionsfraktionen die Bundesregierung, dafür einzutreten, daß das Europäische Parlament ab 1. Januar 1975 folgende Befugnisse erhält:Alle Rechtsakte der Gemeinschaften mit finanziellen Auswirkungen, insbesondere alle — hier steht in der Vorlage leider noch „alte" ; dies ist ein Druckfehler, den ich hiermit korrigieren darf; wir meinen nicht die „alten", sondern alle Entscheidungen — Entscheidungen nach Art. 235 EWGV, bedürfen der Zustimmung des Parlaments, wobei im Konfliktfall der Rat von der Stellungnahme des Parlaments nur mit einer qualifizierten Mehrheit abweichen kann. Ich möchte Ihnen einmal sagen, welche Auswirkungen dieser Beschluß hat. Wenn wir das erreichen könnten, dann würden etwa 90 % aller Entscheidungen, die vom Rat getroffen werden, der Mitwirkung des Parlaments unterliegen, und damit hätten wir eigentlich schon einen recht guten Einstieg gefunden.Das Europäische Parlament muß berechtigt sein, den Haushalt der Gemeinschaften ganz oder teilweise abzulehnen und Änderungsvorschläge zu beschließen. Da gibt es Widerstand gegen die volle Ablehnung, und es gibt Widerstand gegen die teilweise Ablehnung. Der Widerstand gegen die teilweise Ablehnung ist mir persönlich nicht verständlich. Ich könnte mir vorstellen, daß ein Europäisches Parlament, das auf sich hält, im Falle erheblicher Widerstände gegen Einzelpositionen sich dazu veranlaßt sehen könnte, den gesamten Haushalt abzulehnen, obwohl es das nicht will und obwohl man sehr viel leichter mit einer teilweisen Ablehnung auskommen könnte. Wir bitten, dieses Argument bei den Verhandlungen auch zu verwenden. — Falls sich Parlament und Rat nicht über den Haushalt einigen können, so befindet darüber auf Antrag des Rates ein Vermittlungsausschuß, der sich paritätisch aus Mitgliedern des Parlaments und des Rates zusammensetzt. Falls im Vermittlungsausschuß keine Einigung zustande kommt, sollte die Stellungnahme des Parlaments vom Rat nur einstimmig — ohne Stimmenthaltungen — geändert werden können.Das Europäische Parlament muß das Recht erhalten, den Haushalt zu kontrollieren. Wir meinen, daß das nicht nur eine nachträgliche Kontrolle sein darf, sondern eine begleitende Kontrolle des Haushalts sein muß.Wir wollen einen europäischen Rechnungshof, der weniger bei einer anderen Institution als beim Parlament angesiedelt ist. Der Kollege Dr. Schäfer hat häufig eine Auffassung vertreten, die wir uns hier zu eigen gemacht haben. Er hat gesagt, der preußische König als Souverän hatte einen Rechnungshof, um zu prüfen, ob seine Auffassung von der
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Verwendung der Mittel auch entsprechend verwirklicht wurde. Dies auf heutige Verhältnisse übertragen, müßten Rechnungshöfe eigentlich von den Parlamenten ernannt werden; denn heute ist das Parlament der Souverän, und das Parlament hat ein elementares Interesse daran, die Verwaltung zu kontrollieren, ob sie sich an die Anweisungen hält, die das Parlament zur Ausgabe des Geldes gegeben hat. Wir bedauern, daß wir das auch in der Bundesrepublik noch nicht haben, meinen aber, daß wir diesen Punkt dort, wo ein Rechnungshof neu geschaffen wird, einmal in die Debatte werfen sollten.Nun komme ich zu einem sehr wichtigen Punkt, nämlich der Direktwahl der europäischen Abgeordneten. Ich tue dies ungern, aber ich habe festgestellt, daß weitgehend unbekannt ist, wie die heutige Regelung aussieht. Die heutige Regelung ist so, daß die europäischen Abgeordneten von den Parlamenten der Mitgliedstaaten aus ihrer Mitte ernannt werden. Das Parlament hat nach Art. 138 Abs. 3 einen Entwurf für allgemeine Wahlen nach einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten auszuarbeiten. Der Rat hat die Bestimmungen einstimmig zu beschließen. Das Europäische Parlament ist seiner Verpflichtung bereits im Jahre 1960 nachgekommen, der Rat bis heute nicht.Die SPD-Fraktion ist seit Bestehen der Gemeinschaft für eine Direktwahl der europäischen Abgeordneten eingetreten. Sie ist aber der Auffassung, daß angesichts der Tatsache, daß die Gemeinschaft ab 1. Januar 1975 über Eigeneinnahmen verfügen wird, der Übertragung von Haushaltsbefugnissen der zeitliche Vorrang gebührt.Wir haben, meine Damen und Herren von der Opposition, sogar Verständnis dafür, daß die Opposition aus Ungeduld einen nationalen Alleingang empfiehlt, zumal meine Fraktion und das ist das Pikante an der Situation — im Jahre 1965 einen beinahe identischen Antrag vorgelegt hat, den die heutige Opposition, die jetzt den Antrag stellt, damals abgelehnt hat. Wir haben nichts dagegen, wenn Sie unsere Vorschläge übernehmen — im Gegenteil, ganz falsch können Sie da nie liegen. Nur brauchen Sie manchmal dazu so lange, daß der Zeitgeist selbst über unsere weit vorausschauenden Vorschläge hinweggegangen ist.
Das gilt, glaube ich, für den Entwurf, den wir im Jahre 1965 vorgelegt haben. Dieser Entwurf hatte damals angesichts der Fusionsverhandlungen — das Parlament war beunruhigt, und zwar quer durch die Fraktionen, daß die Rechte des Europäischen Parlaments nicht ausreichend berücksichtigt werden eine gewisse Berechtigung, obwohl der Kollege Mommer bereits damals die Schwächen dieses Antrags dem Hause deutlich dargelegt hat. Noch deutlicher hat die heutige Opposition ihre Bedenken artikuliert.Da wir der Meinung sind, daß die Bedenken von damals heute durchaus ihre Berechtigung haben, werden Sie es uns sicher nicht verübeln, wenn uns diese Bedenken veranlassen, Ihren heutigen Antragabzulehnen. Bevor ich diese Ablehnung begründe, möchte ich Sie mit einigen Zitaten — ich hoffe, mit Genehmigung des Herrn Präsidenten — erfreuen.Der damalige Berichterstatter, der von uns allen sehr geschätzte Kollege Furler, hat ausgeführt:Der Ausschuß war mit Mehrheit —mit Ihrer Mehrheit —der Meinung, daß die Römischen Verträge eine solche Wahl einzelner Delegationen durch das Volk, wie sie hier vorgeschlagen wird, nicht für zuverlässig erklären.Weiter heißt es in dem Ausschußbericht des Kollegen Furler:Die Römischen Verträge sehen auch eine direkte allgemeine Wahl vor. Diese Wahl muß aber nach den Verträgen als eine allgemeine insgesamt für alle Mitglieder des Europäischen Parlaments in allen sechs Staaten der Gemeinschaft durchgeführt werden. Der Vertrag kennt keine Mittelsituation.Der von uns ebenfalls sehr geschätzte Kollege Burgbacher hat damals erklärt:Wir haben vor allen Dingen deshalb Bedenken, weil wir dann Direktwahlen zu einem Parlament erhalten, das nicht der Vorstellung des Bürgers von einem Parlament entspricht. Wir befürchten; daß in der unvermeidbaren Debatte in der Öffentlichkeit gefragt wird:— jetzt kommt es —Wozu wählen wir? Was haben die zu sagen? Was können die tun?Das deckt sich mit unserer Argumentation im Zusammenhang mit der zeitlichen Priorität. Der Kollege Burgbacher fuhr damals fort:Damit fügen wir der Sache, statt ihr förderlich zu sein, unter Umständen nur einen Schaden zu. Darauf werden wir noch kommen.Für die Bundesregierung sprach — das ist für uns sehr praktisch — der damalige Staatssekretär Dr. Carstens, der jetzt den Antrag betreffend Direktwahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments unterschrieben hat. Er machte sich die vorgetragenen— nicht alle — Bedenken zu eigen, auch die rechtlichen. Das wundert uns schon etwas, Herr Kollege Carstens. Ich meine, wir haben in diesem Hause manches an der Fähigkeit, uns zu wundern, verlernt— auf Grund verschiedener Vorkommnisse —, aber so viel haben wir uns noch erhalten, daß wir uns darüber wundern, daß Sie damals diese rechtlichen Bedenken geteilt haben und daß Sie, obwohl sich die rechtliche Situation bis heute um kein Jota geändert hat, heute als Initiator dieses Antrags auftreten. Aber Sie werden dafür sicherlich eine einleuchtende Erklärung aufweisen können.
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Ich will unsere Einwände gegen den Entwurf der CDU/CSU kurz zusammenfassen:Erstens. Der von Ihnen vorgeschlagene Weg kann — ich sage: leider — nicht zur Direktwahl der europäischen Abgeordneten führen, und zwar nach der eindeutigen Bestimmung des Art. 138. Denn an der Bestimmung, daß die Abgeordneten aus diesem Hause ernannt werden müssen, kommen Sie nicht vorbei, kam Mommer nicht vorbei, kommt niemand vorbei. Insofern müssen wir auf jeden Fall — bei aller unterschiedlichen Einschätzung, ob es überhaupt möglich ist — an dieser Bestimmung festhalten; das berücksichtigt ja auch Ihr Entwurf.Zweitens. Damit, meine Damen und Herren von der Opposition, reduziert sich aber Ihr Vorschlag, der „Wahl" genannt wird, auf ein Vorschlagsrecht an den Wähler. Darüber könnte man nun auch reden, wenn es dazu käme, daß dieses Vorschlagsrecht bindend wäre. Aber es kann gar nicht bindend sein. Durch die Notwendigkeit der Verknüpfung mit dem nationalen Mandat, durch die Möglichkeit — die Sie einräumen müssen —, auf das europäische Mandat zu verzichten, durch zur Zeit des Wahlkampfes nicht vorhersehbare Notwendigkeiten, auch der Arbeitseinteilung, auch durch ein Wechselspiel von Regierung und Opposition könnte sich ein ganz ande-des Bild ergeben. Wegen der nicht vorhersehbaren personellen Anforderungen können Sie nie sagen, daß diejenigen, die Sie den Leuten vorgeschlagen haben, dann auch gewählt werden. Konsequenterweise sagt der Entwurf auch: dann können andere genommen werden. Damit reduziert er sich auf ein Vorschlagsrecht, das nicht einmal bindend ist. Ich meine, man kann so etwas vorschlagen. Nur, wenn man es Wahlen nennt, dann treibt man hier einen Etikettenschwindel.
Herr Kollege Amrehn, Sie haben sich einen mobilisierenden Effekt versprochen. Den hätte ich auch ganz gern. Aber dieser mobilisierende Effekt tritt nicht ein. Darüber hat es früher in diesem Hause schon Debatten gegeben. Die zeitliche Koinzidenz mit der Bundestagswahl wird mit Sicherheit den europäischen Aspekt verdecken. Darum wollte man ja immer einen einheitlichen „Europatag" in allen Ländern, um gerade den europäischen Aspekt in den Beratungen sehr viel stärker zu haben. Dieser Vorteil wird aufgegeben, wenn Sie es mit den Bundestagswahlen zusammenlegen.Was Ihr Entwurf nicht erreichen kann — ich sage es hoffentlich für alle europäischen Parlamentarier in diesem Hause —, ist die dringend erforderliche Beseitigung des Doppelmandats. Es kann durch diesen Entwurf eben nicht beseitigt werden; das habe ich vorhin bereits begründet.Nun hätte ich auch gern Auskunft darüber, in welcher Weise die Legitimation der auf Ihren Vorschlag hin aus diesem Hause ins Europäische Parlament entsandten Mitglieder besser als früher sein soll. Denn möglicherweise schlagen Sie auch wieder Leute vor, von denen kein einziger auf der Liste stand.Ich glaube also nicht., daß hier ein Effekt eintritt. Ich habe gewisse Bedenken. Der mobilisierende Effekt tritt nicht ein, aber ein gewisser Verschleierungseffekt angesichts europäischer Wahlen, die dann darüber hinwegtäuschen, daß es in diesem Europa keine oder zumindest keine ausreichenden demokratischen Strukturen gibt.Nun ein Punkt, zu dem ich die Begründung auch aus früheren Protokollen übernehmen darf, da sie sich mit meinen Einwendungen voll deckt: Nationale Alleingänge, Herr Kollege Amrehn - das wissen Sie als erfahrener Parlamentarier noch besser als ich —, haben in dieser Gemeinschaft keinerlei Fortschritt gebracht, sie haben eher einen integrationshemmenden als einen integrationsfördernden Charakter.Wir messen den Initiativen, die das Europäische Parlament, in welchem unser niederländischer Kollege Patjn der Berichterstatter ist, ergriffen hat, eine große Bedeutung zu. Nachdem diese Initiative auch von Ihren Mitgliedern dort gestützt wird, meinen wir, daß wir jetzt nicht einen falschen Weg gehen sollten, auch wenn uns andere eventuell folgen; denn dies würde möglicherweise verhindern, daß wir das, was wir in den Verträgen als europäische Wahl vorgesehen haben, je erreichen. Wir sollten uns mehr auf die Initiative verlassen, die wir jetzt im Europäischen Parlament haben. Da wir heute nicht endgültig entscheiden können und auch noch nicht wissen, was die Vorschläge enthalten, sollten wir uns darauf verständigen, diese Vorschläge, die eine gewisse Flexibilität auch bei den nationalen Regierungen belassen, abzuwarten und dann auf Grund dieser Vorschläge neue Beschlüsse zu fassen.Wir sind aber — und damit komme ich zum Schluß — der Auffassung, daß dieses Parlament sich in der heutigen Europa-Debatte auf das Naheliegende und dringend Erforderliche beschränken sollte. Darum bitten wir auch um Zustimmung zu unserem Antrag Drucksache 7/1688.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Prof. Dr. Carstens. Die Fraktion der CDU/CSU hat eine Redezeit von 40 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/CSU hat heute eine Debatte über die Europapolitik beantragt, einmal, um der allgemeinen Sorge über die Entwicklung Europas Ausdruck zu verleihen, und zum anderen, um gemeinsam mit der Bundesregierung und den anderen Fraktionen des Bundestages nach Mitteln und Wegen zu suchen, aus der schwierigen und unbefriedigenden Lage herauszukommen, in der Europa sich befindet.Kaum ein Jahr in der Geschichte der europäischen Einigung seit dem Scheitern der EVG im Jahre 1954 hat eine solche Kette schwerer Rückschläge des europäischen Einigungsprozesses erbracht wie die verflossenen 12 oder 14 Monate. Ich sage dies un- geachtet der Tatsache, daß in dieser Zeit auch einige
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hoffnungsvolle Ansätze zu bestehen schienen. Ich rechne dazu — ich habe es gesagt; ich wiederhole es — die Schlußresolution der Regierungs- und Staatschefs in Kopenhagen vom Dezember vorigen Jahres. Aber leider stellte sich eben alsbald danach heraus, daß es sich hier um nichts anderes als um verbale Fortschritte handelte, denen die entsprechenden Taten nicht folgten, sondern denen im Gegenteil, wie wir wissen, ein schwerer deutsch-britischer Zusammenstoß in Brüssel unmittelbar auf dem Fuße folgte.Die Ölkrise stellte die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft auf eine Probe, die sie nicht bestanden haben. Nachdem sie zunächst den Versuch gemacht hatten, in der Nahost-Konfliktsituation mit einer Stimme zu sprechen, einer Stimme, die meiner Meinung nach schwach war und außerdem noch in die verkehrte Richtung tönte, fielen sie alsbald wieder auseinander, als jeder von ihnen versuchte, sich durch bilaterale Absprachen mit den arabischen Staaten Sondervorteile in der Ölbelieferung zu verschaffen.Zu den Rückschlägen im europäischen Einigungsprozeß gehört sicherlich auch das Ausscheiden unseres französischen Partners aus der Gruppe derjenigen Länder, die sich zu einem gemeinsamen währungspolitischen Floaten entschlossen haben. Es geht mir nicht darum, an der französischen Entscheidung Kritik zu üben. Die Methode der partiellen Integration, d. h. der Integration von Teilbereichen der Wirtschaftspolitik, während andere Bereiche in nationaler Souveränität verbleiben, führt notwendigerweise immer wieder zu schweren Spannungen. In solchen Spannungssituationen mag es keinen anderen Ausweg geben als den, den Frankreich gewählt hat. Trotzdem bleibt natürlich die Tatsache tief zu bedauern; denn sie wirft die Bemühungen um die Krönung des europäischen Einigungsprozesses durch eine Währungsunion zweifellos erheblich zurück.Über die Arbeitsweise der Europäischen Gemeinschaft äußerte sich vor einigen Tagen in Bonn ein Mitglied der Europäischen Kommission in einer, wie ich sagen möchte, erschütternden Weise. Die gemeinsamen Entscheidungsorganismen — so sagte er — arbeiteten zwar, d. h., die Sitzungen des Rates der Gemeinschaft und die Ministertreffen im Rahmen der politischen Zusammenarbeit fänden zwar periodisch statt, seien aber zu meist ergebnislosen Begegnungen geworden. Bei den Treffen erläutere jeder Minister den Standpunkt seiner Regierung und erkläre, daß seine Verhandlungsfreiheit und Kompromißmöglichkeit gering oder gleich null sei. Ich zitiere immer das betreffende Mitglied — es ist Herr Spinelli — der EG-Kommission: Der Präsident nehme dann Kenntnis von der Unmöglichkeit, zu einem Beschluß zu kommen, vertage die Entscheidung auf eine spätere Sitzung, wo sich dann das gleiche Spiel wiederhole.Vollends brach die Auseinandersetzung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mehrfach auf, wenn es sich darum handelte, das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Vereinigten Staaten zu definieren. Und in den Ost-West-Beziehungen ist Westeuropa ebenfalls weit von dem er-wünschten Zustand innerer Geschlossenheit entfernt. Ich darf daran erinnern, daß die wichtigen Verhandlungen über die Reduzierung von Truppen in Wien ohne Beteiligung Frankreichs stattfinden.Wir wollen uns nicht täuschen: Uns stehen möglicherweise — wahrscheinlicherweise — weitere Schwierigkeiten bevor. Die gestiegenen Ölpreise werden bei einigen Partnern zu Zahlungsbilanzschwierigkeiten führen, und die Versuchung, im nationalen Alleingang durch restriktive, handelsfeindliche Maßnahmen die Probleme zu lösen, wird wachsen.Zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten ist es während des letzten Jahres im Verhältnis zwischen Europa und den USA gekommen. Präsident Nixon sagte seine für dieses Frühjahr angekündigte Europareise ab. Es fielen Äußerungen — sowohl des amerikanischen Präsidenten wie seines Außenministers —, die an Schärfe in den europäisch-amerikanischen Beziehungen seit dem Ende des Krieges nicht Ihresgleichen haben.
Die Versuche des Bundesfinanzministers, nach seiner Rückkehr aus Washington — und auch des Bundesaußenministers — diese Stellungnahme zu verharmlosen, stehen leider in einem offenkundigen Widerspruch zu den Tatsachen.Die Verharmlosungstaktik ist eine der Taktiken, mit denen die Regierung ihre Probleme zu lösen versucht. Sie tut das, wie wir wissen, im innenpolitischen Bereich im großen Stil, und sie wendet dasselbe System und dieselbe Methode auf den Bereich der internationalen Beziehungen an. Aber, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister, ich möchte Sie darauf hinweisen, daß diese Taktik, auf die Dauer angewandt, nicht nur keines der vorhandenen Probleme zu lösen vermag, sondern im Gegenteil die Gefahr in sich birgt, daß die Probleme dadurch noch verschlimmert werden;
denn die amerikanisch-europäischen Spannungen sind, wie ich sagte, die schwersten seit Ende des Krieges.Sie haben wirtschaftliche Ursachen; darauf ist oft hingewiesen worden. Europa ist in zunehmendem Maße ein Konkurrent der Vereinigten Staaten geworden. Spannungen haben sicherlich auch in Veränderungen ihre Ursache, die in Amerika selber als Folge des Vietnam-Krieges eingetreten sind. Alles das ist oft gesagt worden und ist auch richtig. Aber nach meiner Auffassung liegt die entscheidende Ursache für die eingetretene Entfremdung im politischen Bereich.Die USA haben während der verflossenen Jahre in einer erstaunlichen Weise ihre politische Handlungsfähigkeit zurückgewonnen. Sie operieren an fünf, sechs Schauplätzen der Weltpolitik gleichzeitig, gegenüber Moskau, gegenüber China, in Südostasien, im Nahen Osten, gegenüber Lateinamerika und natürlich in Europa. Demgegenüber tritt Europa als geschlossene politische Einheit an keiner dieser Stellen auf. Die faktische Nicht-
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existenz des politischen Europa, das aber zugleich den Anspruch erhebt, in allen wichtigen internationalen Fragen mitzusprechen, ist nach meiner Auffassung die tiefste Wurzel für die eingetretene Entfremdung zwischen den Vereinigten Staaten und den westeuropäischen Ländern.Ich habe der Fragestunde der letzten Woche entnommen, daß der Bundesaußenminister und die anderen Außenminister der EG-Staaten den Versuch machen wollen, den Konsulationsmechanismus zwischen Westeuropa und den USA zu verbessern. Ich will Sie, Herr Bundesminister Scheel, bei diesen Ihren Bemühungen nicht entmutigen; es gibt gewiß vieles, was auf dem Gebiet der Konsultation verbessert werden muß. Aber ich möchte Sie dringend vor der Illusion warnen, daß Sie durch eine Perfektionierung des Konsultationsmechanismus irgendeines der großen sachlichen Probleme aus der Welt schaffen werden.
Für das schlechte europäisch-amerikanische Verhältnis trägt die Bundesregierung gewiß nicht die alleinige Verantwortung, aber sie trägt ein gerütteltes Maß an Mitverantwortung daran. Um das zu belegen, darf ich Sie bitten, mit mir kurz einige der wichtigen Ereignisse aus den letzten 12 Monaten Revue passieren zu lassen. Es begann im April 1973. Damals hielt Henry Kissinger noch in seiner Eigenschaft als politischer Berater des amerikanischen Präsidenten in New York eine Rede, in der er zur Erneuerung des amerikanisch-westeuropäischen Verhältnisses die Schaffung einer Atlantik-Charta empfahl. Der erste Kommentar dazu aus deutschem Munde war der des Kollegen Wehner, der diesen Plan öffentlich die „Skizze eines Monstrums" nannte. Herr Kollege Wehner ist im Moment leider entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nicht da. — Herr Kollege Wehner, o ich bitte um Entschuldigung; ich hatte Sie an dem Platz vermutet, an dem Sie sonst zu sitzen pflegen.
Herr Kollege Wehner hat gestern, als mein Kollege Wörner diesen Punkt berührte, Herrn Kollegen Wörner gefragt, ob er denn nicht die Resolution kenne, die das Komitee für die Vereinigten Staaten von Europa im Mai des vergangenen Jahres gefaßt habe. Ich hatte, da ich die Resolution offengestanden nicht im Kopf hatte, angenommen, daß da auch etwas Derartiges drin stünde wie, daß diese Vorschläge des Herrn Kissinger ein Monstrum seien. Ich möchte Ihnen aber doch vielleicht sagen dürfen, was in dieser Reslution tatsächlich steht:Das Komitee- so heißt es da —nimmt Kenntnis von der wichtigen Erklärung, die am 23. April für den Präsidenten der Vernigten Staaten von Henry Kissinger abgegeben wurde. Das Komitee ist der Auffassung, daß die Gemeinschaft auf diesen Versuch, die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa auf eine neue Grundlage zu stellen, aktiv reagieren müßte. Die wechselseitige undgleichberechtigte Prüfung der beiden Auffassungen, der amerikanischen und der europäischen, dürfte die Einleitung eines freundschaftlichen und ausgewogenen Dialogs zwischen den Vereinigten Staaten und Europa auf der Grundlage der Gleichberechtigung in dem Maße ermöglichen, wie Europa 1980 auf die Verwirklichung der Union zusteuert.Meine Damen und Herren, ich finde das eine durchaus staatsmännische Erwiderung auf das, was Kissinger einige Tage zuvor vorgetragen hatte. Aber die Erwiderung, dies sei ein Monstrum, meine sehr verehrten Damen und Herren, können wir mit dem besten Willen nicht als eine hilfreiche Geste bezeichnen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner?
Bitte schön!
Herr Carstens, sind Sie bereit, Ihrer Vorlesung hinzuzufügen, daß einer der Mitverfasser dieser Entschließung der hier vor Ihnen Stehende ist, und ferner einen der Mitbeteiligten, Ihren Kollegen Dr. Barzel, zu fragen — das müssen Sie jetzt nicht öffentlich tun —, ob dieser selbe Wehner dort nicht gerade für diesen Punkt Dialog geworben und gekämpft hat. Insofern geht es also um zwei Vorgänge. Es geht um den Vorgang, etwas, das von oben herab dekretierend Amerika eine weltpolitische und Europa eine regionale Verantwortung zuschiebt, durch den Dialog zu ergänzen.
Herr Kollege Wehner, ich kann hier selbstverständlich an den Kollegen Barzel keine Fragen richten; aber ich werde mich gern in dem Sinn erkundigen, den Sie angeregt haben. Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, daß ich gar nichts dagegen habe, daß Sie an dieser Resolution des Monnet-Komitees mitgewirkt haben,
sondern ich habe mir erlaubt zu kritisieren, Herr Kollege Wehner, daß Sie die wichtigen Erklärungen des Herrn Kissinger in Amerika in Ihrer ersten Reaktion als Monstrum bezeichnet haben. Es tut mir leid, Herr Kollege Wehner, das war in meinen Augen eine falsche Reaktion.
Die Reaktion der Bundesregierung zeichnete sich ebenfalls durch kühle Reserviertheit aus. Der Bundeskanzler sprach von Orientierungshilfe, und die Bundesregierung befand sich in dieser ganzen Phase der Entwicklung im Zustand einer eindeutigen Distanz gegenüber Amerika.Aber es kam noch schlimmer. Im Herbst des Jahres 1973 brach der vierte militärische Konflikt zwischen Israel und den arabischen Staaten aus, der, wie man sich erinnert, bis an den Rand einer weltweiten kriegerischen Konfrontation eskalierte. Die Dinge sind hier mehrfach vorgetragen worden; aber
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sie gehören in diesen Zusammenhang hinein, und ich wiederhole sie deswegen. Den wichtigsten Beitrag zur Wiederherstellung des Gleichgewichts im Nahen Osten und damit den wichtigsten Beitrag zur Herbeiführung einer friedlichen und dauerhaften Regelung leistete damals die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Welt hielt den Atem an und verfolgte mit Spannung und schließlich mit allgemeiner Erleichterung die politischen und militärischen Züge, die die amerikanische Regierung in jenen kritischen Tagen unternahm.Aber der einzige öffentlich geäußerte Beitrag der Bundesregierung während dieser lebensgefährlichen Phase des Konflikts bestand in einer Intervention gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, in der die Bundesregierung die Verschiffung amerikanischen Kriegsmaterials rügte. Es kommt in der Außenpolitik immer einmal vor, daß eine Regierung Fehler macht, zumal wenn die politischen Ereignisse schnell aufeinander folgen; aber hier handelt es sich um mehr. Hier handelt es sich nach meiner Auffassung darum, daß während der kritischen Tage dieses Konflikts die Kompaßnadel, die die Regierungen dieses Landes seit seinem Entstehen in ihrem politischen Verhalten geleitet hat, bei den maßgebenden Männern dieser Regierung für einige Tage blockiert war.
Der Pressesprecher der Bundesregierung empfand dies auch und sagte, es täte ihm leid, daß diese Protesterklärung an die Adresse der Vereinigten Staaten veröffentlicht worden sei.
Aber Herr Bundesaußenminister Scheel widersprach ihm sofort und sagte, nein, nein, die Veröffentlichung sei beabsichtigt gewesen, damit der neutrale Status der Bundesregierung allen deutlich sichtbar wurde. Auch in diesem Augenblick war die Kompaß-nadel bei dem Herrn Außenminister noch blockiert.Aber die Serie politischer Fehlentscheidungen ging dann weiter über die gemeinsame Resolution der Neun vom 6. November 1973 in Brüssel, diewir erinnern uns noch alle daran — wenige Tage später durch den Bundeskanzler vor diesem Hause als unbefriedigend bezeichnet wurde. Herr Kühn wurde nach Israel geschickt, um den Israelis zu erklären, daß das alles gar nicht so gemeint gewesen sei. Er sagte dort wörtlich —:Als Regierungschef meines Landes und als Stellvertreter Willy Brandts erkläre ich, daß wir auf seiten Israels sind.Über den Beschluß vom 6. November sagte Herr Kühn, dieser Beschluß werde nicht lange standhalten. Hier oszillierte die Kompaßnadel, sie schlug sehr stark von einer auf die andere Seite aus.Um ein anderes Bild zu gebrauchen: in diesem Slalomlauf der Außenpolitik der Bundesregierung während des verflossenen Jahres vollführte der Herr Bundesfinanzminister Schmidt auf einer Energiekonferenz in Washington im Februar dieses Jahres einen weiteren kräftigen Schwung. Er setzte sich für ein Zusammengehen Europas mit den USA in der Frage der Ölversorgung ein. Ich kritisiere die von Herrn Schmidt eingenommene Haltung nicht,
aber ich stelle fest, daß sie im diametralen Gegensatz zu der Politik der Bundesregierung stand, die diese noch drei Monate vorher betrieben hatte.
Und ich frage: Warum mußte der Bundesfinanzminister diese Position in Washington so vertreten und mit so schweren Ausfällen gegen die französische Delegation begleiten, daß der französische Außenminister kurz danach von Provozierungen und Brutalität sprach?
— Jeder sitzt in seiner Haut, Herr Kollege Corterier, jeder von uns ist in der Lage, wenn er will, seine Faust zu nehmen und auf den Tisch zu schlagen!
Ich sage Ihnen, dies ist für die Bundesrepublik Deutschland keine gute Politik!
Jawohl, Herr Kollege Wehner, ich sage dies. Versuchen Sie, mir ein einziges Ereignis nachzuweisen,
wo ich eine Politik des mit der Faust auf den Tisch Schlagens betrieben oder befürwortet hätte.
Sie werden feststellen, daß Ihnen das nicht gelingt.
Dann, meine Damen und Herren, kam es Anfang März dieses Jahres noch einmal zu einer amerikanisch-deutschen Auseinandersetzung in der Frage, ob die amerikanische Seite über einen weiteren Brüsseler Beschluß vorzeitig bzw. rechtzeitig orientiert und konsultiert worden war.Diese Zickzack-Kurs-Politik, meine Damen und Herren, hinter der überhaupt kein erkennbares, geschlossenes Konzept stand
und die an keiner Stelle zu einer klaren, überzeugenden, nach allen Seiten hin vertretbaren Äußerung führte, ist unserem Lande abträglich.
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Ich möchte die Regierung dringend bitten, damit aufzuhören, daß sie, wenn ihr gegenüber solche Kritik ausgesprochen wird, wie ich das hier tue, erwidert, die Kritik der Opposition schade den Interessen unseres Landes.
— Meine Damen und Herren, so einfach können Sie es sich nicht machen! Sie werden doch wohl nicht glauben, daß die Opposition in einer Art Anbetung vor Ihnen niederfällt und alles bewundert, was die Regierung auf außenpolitischem Gebiet tut!
— Ach, ich breche mir meine Knöchel nicht.
— Herr Kollege Wehner, meine Knochen sind in ganz gutem Zustand, seien Sie unbesorgt! — Meine Herren, ich sage noch einmal: Wir werden durchaus bereit sein, der Regierung dort, wo sie etwas Richtiges tut, das zu bestätigen, aber dort, wo sie etwas Falsches tut, wird sie von dieser Opposition weiter hin Kritik hören.
Und wir haben den Eindruck, meine Damen und Herren, daß zumindest einige Bürger in unserem Lande
diese Kritik der Opposition durchaus richtig verstehen.
Mit Enttäuschung kann man auch nur das Wirken des Außenministers in seiner Eigenschaft als Präsident der politischen Konsultationen und des Rates der EG registrieren. Welche Hoffnungen, meine Damen und Herren, waren an dieses halbe Jahr der deutschen Präsidentenschaft geknüpft?!
Drei Monate sind verstrichen und nichts hat sich ereignet,
außer daß der Bundesaußenminister—und hierbei, in Verkehrung der eigentlichen Rollen, assistierte ihm der Bundeskanzler dann ein wenig — immer wieder bemüht ist, die Verstimmungen, die mit den USA, mit England und mit Frankreich eingetreten sind, wieder auszubügeln.
Der Herr Außenminister wird hier, wie ich der Presse entnehme, eine bedeutende Rede, so wird da gesagt, halten,
— ja, doch, das steht heute morgen so in der Zeitung, Herr Scheel! — und es wird gesagt, daß diesvoraussichtlich seine letzte größere außenpolitischeErklärung sein werde. Dies ist ein inspirierter Artikel im „General-Anzeiger"; jeder, der sich da auskennt, merkt das sofort.
Ich will selbstverständlich nichts zu der Rede des Herrn Bundesaußenministers sagen, bevor er sie gehalten hat, obwohl man ihren Inhalt schon ein wenig dieser Pressemeldung entnehmen kann. Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Scheel, nur sagen: Wir wünschen Ihnen für die weitere Fahrt in Ihrem Lebenswagen, wohin er Sie auch schließlich führen mag, persönlich alles Gute,
aber Sie müssen sich hier heute vorhalten lassen, daß Ihre Leistungen für den europäischen Einigungsprozeß während der Dauer Ihrer Präsidentschaft die Erwartungen, die in Sie gesetzt wurden, enttäuscht haben.
Ich möchte, meine Damen und Herren, in sechs Punkten zusammenfassen, welches die Auffassung der CDU/CSU zu den anstehenden europäischen Fragen ist.Erstens. Ziel der deutschen Europapolitik sollte weiterhin die Schaffung eines politisch geeinten Europas sein. Außenpolitik, Verteidigungspolitik, Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik gehören zu den
— Das ist nicht neu, das weiß ich. Das haben Sie auch gesagt. Freuen Sie sich doch darüber, wenn wir einmal etwas sagen, das miteinander übereinstimmt. — Wir sind weiter der Meinung, daß dieses Europa durch eigene ständige Organe handlungsfähig gemacht werden muß und daß ein notwendiger Bestandteil ein direkt gewähltes, mit vollen Rechten ausgestattetes europäisches Parlament sein muß.Nun hat Herr Kollege Schmidt mich gegen den Antrag zitiert, den die CDU/CSU-Fraktion heute hier auf direkte Wahl der von der Bundesrepublik Deutschland zu stellenden Mitglieder des Europäischen Parlaments vorlegt.
Herr Kollege Schmidt, Sie haben mich aus einer Zeit zitiert, als ich Staatssekretär des Auswärtigen Amts war. Aber, Herr Kollege Schmidt, Sie werden mir doch sicherlich zugeben, daß die Perspektive eines Beamten
gegenüber der Frage, wie ein Parlament gewähltwerden sollte, nicht notwendigerweise identisch istmit der Ansicht des Parlamentariers zu dieser Frage,
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und als Parlamentarier bin ich in der Tat der Auffassung, daß dies ein Schritt in die Richtung -
Natürlich, das habe ich, aber ich war damals Staatssekretär, und ich bin jetzt Parlamentarier, und Sie werden mir doch wohl gestatten, in dieser Frage, die das Parlament in seinen Grundrechten und in seinen Grundpositionen berührt, eine Meinung vorzutragen, die ich heute habe.
— Ich komme sofort auf Sie, Herr Kollege Schmidt.Ich möchte Ihnen aber noch etwas Weiteres entgegenhalten. Die Frage des Zusammenspiels von Opposition und Regierung in der europäischen Einigungspolitik hat eine alte und lange Geschichte. Ich möchte die Kollegen der SPD-Fraktion an die Rolle erinnern dürfen, die Ihr damaliger Kollege Mommer hier gespielt hat in einer gleichfalls wichtigen Frage der europäischen Integration: Abschaffung von Paß-zwang und Visumzwang. Herr Kollege Mommer, damals in der Opposition, hat diesen Gedanken gegen den Widerstand der damaligen Regierung mit einer solchen Konsequenz und einer solchen Beharrlichkeit verfochten, daß schließlich das gesamte Parlament hinter seinen Antrag trat, und er hat sich damit durchgesetzt. Ich zolle ihm heute wegen dieses seines Verhaltens meine Achtung und meinen Respekt.Ich fordere Sie auf, meine Herren von der SPD-Fraktion: Folgen Sie dem Beispiel Ihres damaligen Kollegen Mommer, schließen Sie sich uns in dieser für das Parlament und das Selbstverständnis des Parlaments entscheidend wichtigen Frage an! Darüber, wie diese parlamentarische Direktwahl in der Bundesrepublik dann im einzelnen zu konstruieren sein mag, kann man ja sprechen. Es mag vielleicht den einen oder anderen Punkt in unserem Vorschlag geben, wo eine Änderung wünschenswert erscheint.
Aber wenn Sie mit uns in dem Prinzip übereinstimmen, hätten wir schon viel gewonnen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie zunächst noch die Frage des Herrn Abgeordneten Schmidt und dann eine Frage des Herrn Abgeordneten Corterier?
Selbstverständlich.
Bitte!
Herr Kollege Dr. Carstens, darf ich aus Ihren Aufführungen entnehmen, daß Sie heute als Oppositionsführer die damalige
Politik der Bundesregierung für falsch halten, und
zweitens, darf ich aus Ihren Äußerungen entnehmen — —
Herr Kollege, Sie können zunächst nur eine Frage stellen.
Dann lasse ich das „zweitens" weg und sage: und darf ich aus Ihren Äußerungen entnehmen, daß es unterschiedliche Rechtsstandpunkte für Staatssekretäre und Oppositionsführer gibt?
Es handelt sich hier nicht primär um eine rechtliche Frage, Herr Kollege Schmidt. Ich gehöre zu den Leuten, obwohl ich selbst der Zunft der Juristen angehöre, die nicht der Meinung sind, daß man jedes politische Problem auf seinen juristischen Kern reduzieren sollte. Hier handelt es sich vielmehr um eine eminent politische Frage, und in dieser Frage sollten wir Farbe bekennen.
Herr Kollege Carstens, darf ich jetzt noch die Frage des Abgeordneten Corterier aufrufen.
Aber bitte schön!
Bitte schön, Herr Kollege!
Herr Kollege Carstens, da Sie sich ausführlich auf Dr. Mommer berufen, darf ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich Herr Dr. Mommer in seiner Eigenschaft als Vizepräsident der Europa-Union Deutschlands ausdrücklich gegen Ihren jetzigen Entwurf gewandt hat, mit der Begründung, daß dieser Entwurf angesichts der völlig veränderten politischen Lage heute nicht mehr hilfreich sei.
Mir ist dies bekannt, Herr Kollege Corterier. Aber vielleicht würde sich Herr Kollege Mommer, wenn er diesem Parlament noch angehörte, dem Standpunkt nähern, den ich hier einnehme.
Meine Damen und Herren, der zweite kardinale Punkt für die Europapolitik unseres Landes muß nach unserer Überzeugung sein, daß die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich die unverzichtbare Grundlage jeder europäischen Politik ist. Sie ist zugleich das unverzichtbare Ziel unserer Politik, der Politik der Bundesrepublik Deutschland.Auch hier verkennt niemand die Schwierigkeiten. Mit seiner Forderung nach mehr Eigenständigkeit der europäischen Politik, nach mehr Selbständigkeit der europäischen Politik gegenüber den beiden
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Weltmächten hat Frankreich auch in unserem Lande vielfach Verständnis gefunden. Nur muß es sich nach meiner Auffassung und nach unserer Auffassung dann auch wirklich um ein eigenständiges Europa handeln. Das bedeutet, daß die nationalen Interessen dem gemeinsamen europäischen Interesse untergeordnet werden müssen. Es bedeutet, daß die europäischen Staaten bereit sein müssen, Entscheidungskompetenzen auf europäische Institutionen, die mit Handlungsfähigkeit ausgestattet sind, zu übertragen. Es bedeutet — in aller Offenheit gesagt —, daß, wenn es eine europäische Politik, eine europäische Stimme in der Weltpolitik geben soll, die jeweils nationale französische, englische, deutsche, italienische politische Stimme hinter diese europäsche Stimme zurücktreten und in ihr aufgehen muß. Ich halte es für unmöglich, daß man gleichzeitig eine größere Unabhängigkeit und mehr Eigenständigkeit für Europa fordern kann, ohne bereit zu sein, auf eigenständige nationale Politik in bestimmten, aber vitalen Bereichen zu verzichten.
Drittens. Die europäische Politik hat große Erfolge zu verzeichnen. Sie ist durch schwere Rückschläge vor allem während der letzten zwölf Monate gekennzeichnet gewesen. Nach unserer Auffassung dürfen wir uns durch diese Rückschläge nicht entmutigen lassen. Ich bin immer skeptisch gewesen gegenüber der These, jetzt sei in der Europapolitik der point of no return erreicht, jetzt könne es nur noch vorwärts weitergehen. Die Geschichte lehrt, daß es in Wahrheit solche poits of no return überhaupt nicht gibt.Aber ebenso entschieden möchte ich sagen, daß wir uns durch die Rückschläge in der Europapolitik nicht entmutigen lassen dürfen, an diesem Ziel festzuhalten, und daß, wenn an einer Stelle der europäische Einigungsprozeß ins Stocken kommt, wir nach anderen Möglichkeiten, nach anderen Bereichen suchen sollten, um ihn wieder in Gang zu bringen. Ich möchte mit besonderem Nachdruck hier sagen, daß die Ostpolitik ein solcher Bereich wäre. Im Bereich der Ostpolitik, Herr Bundeskanzler, Herr Außenminister, gibt es einen europäischen Nachholbedarf. Hier sollten Sie und sollten Ihre Energien ansetzen.Viertens. Das Bündnis zwischen dem sich einigenden Europa und den USA ist von entscheidender Bedeutung für die Sicherheit Europas. Dies ist hier oft gesagt worden. In diesem Punkte gibt es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen uns. Ich will das insbesondere von meinem Kollegen Wörner gestern und von meinem Kollegen Amrehn heute so eindrucksvoll Gesagte nicht wiederholen. Die Rolle des atlantischen Bündnisses ist gewürdigt worden; daß sich die europäische Einigung nicht gegen oder außerhalb dieses Bündnisses volziehen darf, sondern nur in ihm zustande kommen kann, ist gesagt worden. Aber alles dies bedeutet nach meiner Auffassung nicht, daß wir in jeder Frage die gleiche Politik betreiben müßten wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Nur meine ich, daß da, wo die Vereinigten Staaten von Amerika eine letzten Endes auch in unserem wohlverstandenen Interesse liegende Politikbetreiben, wie z. B. im Nahost-Konflikt, sich nicht ausgerechnet der europäische Selbständigkeitsdrang betätigen und zu einer Abwehr- und Gegenposition gegen diese amerikanische Politik führen dürfte.
Zu den Themen kritischer Auseinandersetzung mit den USA gehört zweifellos die amerikanische Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre, die zu großen Dollardefiziten in Amerika und zu einer Dollarschwemme in Europa mit all den schwerwiegenden Folgen geführt hat, die das für den europäischen Kontinent gehabt hat. Ich möchte auch ganz klar sagen, daß ich mich und daß sich die CDU/CSU mit aller Entschiedenheit gegen die Vorstellung wendet, als ob durch ein amerikanisch-sowjetisches Zusammengehen die Geschicke Westeuropas in irgendeinem bestimmten Sinne beeinflußt oder bestimmt werden können.
Ich unterstelle den Vereinigten Staaten eine derartige Absicht nicht, sage dies aber mit solchem Nachdruck, weil ich vor wenigen Tagen zu meinem großen Erstaunen in einer deutschen Zeitschrift gelesen habe, daß ein solches amerikanisch-sowjetisches Kondominium über Europa empfohlen wurde, u. a. mit ,der Begründung, dann würden sich auch die beiden deutschen Staaten einander annähern. Ich möchte mit aller Klarheit sagen, daß dies eine die Grundlagen der europäischen Einigungspolitik negierende Politik wäre.
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6070 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Das müssen Sie sich entgegenhalten lassen. (Zuruf des Abg. Mattick.)
Herr Kollege Wehner, ich entnehme aus Ihrer Frage, daß Sie dann schließlich vollständig über den Inhalt der damals getroffenen Vereinbarung unterrichtet worden sind. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn mir das gleiche in der Unterrichtung durch die Herren Bahr und Gaus zuteil geworden wäre.
Bei den Verhandlungen in Genf steht eine Erklärung über die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa zur Diskussion. Hier, meine Damen und Herren, kommt es entscheidend darauf an, daß die Grenzen nicht in einer Weise festgeschrieben werden, die die Möglichkeit einer friedlichen Veränderung im gegenseitigen Einvernehmen ausschließt. Mit anderen Worten, es kommt darauf an, daß in die in Genf abzugebenden Erklärungen die Grundsätze eingehen, die hier den Gegenstand der gemeinsamen Resolution aller Fraktionen dieses Hauses vom Mai 1972 gebildet haben. Entspannungspolitik muß Berlin zugute kommen. Die Entspannungspolitik darf das Zielder deutschen Nation nicht verlorengeben. Eine Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten muß der Tatsache Rechnung tragen, daß die Sowjetunion ihr Militärpotential seit 1969 ständig vergrößert; Herr Kollege Wörner hat das gestern dargelegt. Ich sage ja nicht, daß man deswegen keine Entspannungspolitik machen soll, aber ich sage, daß die Entspanungspolitik diesem Umstand Rechnung tragen muß,
und zwar in der Weise, wie Herr Kollege Wörner es gestern dargelegt hat.Herr Präsident, ich sehe, meine Zeit läuft ab. Ich wäre Ihnen aber sehr dankbar, wenn Sie mir im Hinblick auf die Fragen, die an mich gerichtet worden sind, einige weitere Minuten geben würden.Sechstens. Schließlich muß — das ist von entscheidender Bedeutung — die oft beschworene Priorität der Westpolitik gegenüber der Ostpolitik nicht nur verbal, sondern durch entsprechende Taten beachtet und durchgehalten werden.
Ich sage dies besonders im Blick auf die schon erwähnten Truppenreduzierungsverhandlungen in Wien. Dort handelt es sich um zwei Komplexe, nämlich um die Frage der Reduzierung der Truppen der beiden Supermächte, der USA und der Sowjetunion, einerseits und um die Frage der Reduzierung der einheimischen europäischen Streitkräfte andererseits. Ich spreche jetzt nur zu dem zweiten Punkt. Ich muß hier feststellen, daß aus der Sicht der CDU/ CSU gegen diesen Teil des Wiener Verhandlungskomplexes erhebliche Bedenken bestehen, weil die Möglichkeit einer weiteren sowjetischen Kontrolle über die Streitkräfte und die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik damit eröffnet wird, weil bei Realisierung dieses Projekts zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland eine sicherheitspolitische Barriere entstehen würde,
die den europäischen Einigungsprozeß mit Sicherheit behindern würde.
Meine Damen und Herren, da gibt nun die Regierung — das ist ganz typisch für die Regierung — ihren Unterhändlern in Wien die Anweisung, daß die Lösung dieses Problems der Reduzierung der in Europa stationierten einheimischen Streitkräfte die westeuropäische Einigung nicht behindern dürfe. Das ist so, als gäben Sie einem Chirurgen den Auftrag, einem Patienten ein Bein zu amputieren, und machten ihm dabei die Auflage, daß der Patient hinterher noch genauso schnell laufen können muß wie vorher. Das sind zwei nicht vereinbare Forderungen, die Sie aufstellen. Sie können nicht eine Zone europäischer Truppenreduzierungen realisieren wollen, die, nebenbei gesagt, im wesentlichen auf die Zone der Bahrschen Neutralitätspolitik beschränkt ist, und gleichzeitig sagen, das dürfe der westeuropäischen Einigung nicht hindernd im Wege
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Dr. Carstens
stehen. Dies ist einer der Punkte, in denen Sie Farbe bekennen müssen. Da hilft Ihnen ein solcher formelhafter Ausweg, wie Sie ihn suchen, nicht.Um noch einmal Mißverständnissen entgegenzutreten, möchte ich sagen, daß ich hier nicht gegen ausgewogene Truppenreduzierungen als solche rede. Vielmehr kritisiere ich das konkrete Konzept der Reduzierung solcher Streitkräfte, wie es von der Bundesregierung und von anderen Bündnispartnern — das gebe ich ohne weiteres zu — verfolgt wird, aber eben ohne Frankreich. Und an dieser Stelle, meine Damen und Herren, wäre die Bundesregierung gut beraten, wenn sie den Kontakt zu Frankreich suchte.Schließlich noch ein Wort über die Priorität der Westeuropapolitik. Sie bedeutet auch, daß sich die Bundesregierung mindestens mit der gleichen Intensität um die Probleme der Einigung Europas kümmern und um diese Einigung ringen muß, mit der sie sich ihrer Ostpolitik widmet. Statt dessen verfährt sie umgekehrt. Sie setzt ihre Politik gegenüber den osteuropäischen Nachbarn und gegenüber der DDRmit Priorität fort und opfert dabei— wir haben esin den gestrigen Debatten gehört — weitere wich-tige deutsche Positionen, während sie unseren westlichen Partnern, und zwar abwechselnd den USA, Frankreich und England, kräftigen Widerstand entgegensetzt. Der ominöse Ausspruch, wir Deutschen seien nicht die Zahlmeister Europas, ist nicht an sich falsch; falsch daran ist nur, daß er ausschließlich an die Adresse der westlichen Partner gerichtet wird.
Ich möchte am Schluß meine wichtigsten Gedanken noch einmal zusammenfassen. Die europäische Einigung leidet unter der Unvollkommenheit des Integrationsprozesses, der zunächst zwischen sechs und später zwischen neun westeuropäischen Staaten in Gang gesetzt worden ist. Sie leidet wohl noch mehr darunter, daß sie in das Spannungsfeld der weltpolitischen Auseinandersetzungen geraten ist. Sie leidet vor allem daran, daß über die Orientierung der westeuropäischen Politik im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten bestehen. Diese Meinungsverschiedenheiten werden sich nicht leicht überbrücken lassen. Unbezweifelbar steht die Bundesrepublik Deutschland hier im Zentrum von Auseinandersetzungen, weil sie sich vorgenommen hat, das atlantische Bündnis und die westeuropäische Einigung und die Freundschaft zu Frankreich zu realisieren, und durch die objektiven Gegebenheiten auch genötigt ist, dies zu tun. Die deutsche Politik muß diesen Spannungszustand ertragen. Sie muß den Kurs, den sie für richtig hält und dessen Konturen ich mir erlaubt habe hier vorzutragen, mit Festigkeit und Entschlossenheit weiterverfolgen. Sie muß vor allem die langfristigen Ziele der deutschen Politik im Auge behalten. Das Schlimmste, was sie tun kann, ist, einen unklaren Kurs zu steuern, so wie ich ihn vorhin im einzelnen 'beschrieben habe. Ein solches Verhalten ist Ausdruck innerer Schwäche und dient letztlich niemandem.Wir fordern 'die Bundesregierung, wir fordern die beiden Koalitionsfraktionen auf, ihre Europapolitik auf diese von uns geforderte Grundlage zu stellen.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Apel. Für ihn ist eine Redezeit von 45 Minuten beantragt worden.Dr. Apel, Parl. Staatssekretär 'beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Carstens, ich habe Ihre sieben Punkte zur Europapolitik vernommen. Wenn ich einmal von den demagogischen Ausfällen absehe
— und die sind Ihnen, lieber Herr Kollege Carstens, natürlich genauso wie anderen Kollegen in diesem Hause gestattet —, verstehe ich eigentlich nicht, wie Sie uns am Ende Ihrer Ausführungen dazu auffordern können, auf Ihre europapolitischen Leitsätze einzugehen. Es ist doch genau umgekehrt: Das, was Sie hier in sieben Punkten dargelegt haben, ist Europapolitik der sozialliberalen Koalition, solange sie sie zu verantworten hat. Ja, ich kann eigentlich noch einen Schritt weitergehen und sagen: das ist die europapolitische Konzeption in diesem Haus, solange wir Europapolitik machen.Das ist ja auch so ein bißchen Ihr Problem bei dieser Debatte, daß wir uns eigentlich, wie wir letzte Woche im Auswärtigen Ausschuß festgestellt haben, völlig einig darin sind, wie Europapolitik gemacht werden sollte. Nun müssen Sie natürlich eine Debatte führen, in der Sie beweisen, daß Sie es besser wissen als wir. Das ist eben doch nicht ganz so gut gelungen; das war mein Eindruck.
Lieber Herr Kollege — ich hätte fast gesagt: Barzel, aber ich will Ihnen nicht zu nahe treten — Carstens, lassen wir einmal die sieben Punkte beiseite, die auch sehr plakativ sind, und gehen wir hinein in die Problematik der europäischen Integration, wie sie sich jetzt für uns darstellt — ich glaube, für uns alle; wenigstens dies ist das Ergebnis der Beratungen im Auswärtigen Ausschuß gewesen —, nüchtern, sachlich, ohne Porzellan zu zerschlagen.Ich möchte mit einer Bemerkung von Ihnen, lieber Kollege Carstens, anfangen, in der Sie festgestellt haben, das Jahr 1973 sei eigentlich für das Einigungswerk Europas ein verheerendes gewesen. Es war sicherlich ein sehr schwieriges Jahr, und es war nicht das Jahr, welches wir uns gewünscht hatten. Aber verheerend war es nicht. Wir sollten das vor der öffentlichen Meinung unseres Landes auch nicht so stehenlassen, denn meiner Meinung nach können wir kein Interesse daran haben, Krisengerede dort
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6072 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Parl. Staatssekretär Dr. Apelauszulösen, wo eigentlich nur ein tiefgehender Klärungsprozeß stattfindet.Die Zollunion — das wissen wir alle — hat im letzten Jahr wie in diesem Jahr funktioniert. Wenn wir uns einmal die Exporte der Bundesrepublik in die Gemeinschaft anschauen, stellen wir fest, daß sich diese Exporte real von 1958 bis 1972 — die 73er Zahlen haben wir noch nicht — verachtfacht haben. Hier besteht also ein großer gemeinsamer Markt, in den mehr als 50% unserer Exporte zollfrei gehen, insofern präferenziert gegenüber den Exporten anderer hochindustrialisierter Räume, deren Exporte erst die Zollmauer der Gemeinschaft übersteigen müssen. Das ist eine großartige Sache.Wenn wir von Vollbeschäftigung in diesem Lande sprechen, dürfen wir keinem unserer Bürger den Eindruck vermitteln, als sei dieses Europa nicht von vitalem Interesse für unsere Arbeitnehmer wie für unsere Industriellen. Dazu hat natürlich auch unser Kollege Ertl wesentlich beigetragen. Dieses Europa hat uns 1973 wie 1974 die Sicherheit gegeben, daß wenigstens in diesem Bereich der menschlichen Ernährung uns niemand in dem Maße erpressen kann, wie man es im Bereich der Energie versuchte. Das ist eine wichtige Sache.Wenn wir dann noch die Tatsache mit einbeziehenich will Ihnen die Statistiken nicht vorlesen, wenigstens nicht alle —, daß wir uns im letzten Jahr wie in diesem Jahr zum erstenmal billiger ernähren konnten bzw. können als die Welt insgesamt, die zu Weltmarktpreisen kaufen muß, weil wesentliche Agrarpreise innerhalb der Gemeinschaft niedriger sind als draußen, so haben wir zum erstenmal nicht nur Ruhe und Sicherheit, daß wir immer satt zu essen haben werden, sondern wir bezahlen zum erstenmal auch sehr viel weniger. Das Verhältnis des Hartweizenpreises in der Gemeinschaft zum Einfuhrpreis auf den Weltmärkten, den wir bezahlen müßten, liegt bei 1 : 2, bei mehr als 1 : 2. Bei Zucker und Futtergetreide sind die Verhältnisse ähnlich.Meine Damen und Herren, bitte akzeptieren wir, daß das Jahr 1973 ein schwieriges Jahr war, auch schwierig, weil drei neue Länder in die Gemeinschaft eingetreten sind, daß aber dieses Jahr 1973 dennoch ein großer Erfolg war. Nirgends in der Welt gibt es Industrienationen, die es fertiggebracht haben, auf Dauer eine Zollunion, eine Agrarunion, Freizügigkeit der Arbeitsplätze, zunehmende Liberalisierung, auch in den Transfers geistiger Potenz, durchzuhalten.
Herr Kollege Carstens, ich zähle zu den Vorteilen europäischer Integration auch die politische Zusammenarbeit. Sie selbst haben auf die KSZE hingewiesen. Die KSZE ist ein Zeichen dafür, wie sich die Neun auch außenpolitisch bewegen und bewähren können, allerdings unter einer Prämisse — und darüber wird noch zu sprechen sein —: daß die Interessengleichheit der Neun gegeben ist. Wenn das nicht der Fall ist, werden Kompromisse notwendig, und Kompromisse bergen dann natürlich auch den Kern von Schwierigkeiten in sich.Ich möchte zu einem weiteren Punkt meiner Bemerkungen kommen, nämlich zu dem Problem Europas in diesem Jahre und zu den Schwierigkeiten, die wir haben, und zu der Frage, die Sie aufgeworfen haben: Was tut ihr denn nun eigentlich in der Präsidentschaft? Muß nicht die Präsidentschaft die Initiative ergreifen? Muß nicht von der Präsidentschaft gefordert werden, daß den Dingen zum Durchbruch verholfen wird? Ich glaube, wir müssen hier etwas nüchterner an die Dinge herangehen. Präsidentschaft in Westeuropa ist nicht zu vergleichen mit Premierminister, Kanzler oder einer anderen politisch auf Grund der Verfassung hervorgehobenen Führungspersönlichkeit.
Präsidentschaft heißt vielmehr schlicht und ergreifend — ich will das mal ein bißchen überzeichnen, aber so ähnlich ist es —, daß dort jemand sitzt, das Wort erteilt und versucht, nach einer längeren Debatte die Dinge zusammenzuführen und zu einem Kompromiß zu bringen. Aber er hat überhaupt nicht die Möglichkeit, einen oder mehrere widerspenstige Partner am Tisch zum Einlenken zu bringen; das um so weniger, als wir seit 1966/67 — nach der großen Krise in der Europäischen Gemeinschaft , einer Zeit, in der Sie in diesem Lande die politische Verantwortung trugen, im Prinzip im Ministerrat alles einstimmig entscheiden müssen, selbst Antwortbriefe an Herrn Nixon von 16 Zeilen.Nun will ich gleich hinzufügen: ich mache Ihnen daraus nicht den Prozeß. Ich sage nicht: aha, also hat die CDU schuld, weil sie 1966 den Luxemburger Kompromiß geschlossen hat — —
— Nun, Herr Wagner, hier wird so viel absurdes Theater von Ihnen aufgeführt; warum sollte ich mich an dem nicht beteiligen?
Aber ich will das nicht. Ich will es nicht, um so mehr, lieber Herr Wagner, als Sie, wenn ich es versuchte, natürlich meine Jungfernrede von damals hervorziehen würden, in der ich im Gegensatz zu dem heutigen Debattenstil Herrn Schröder als Außenminister gut zugeredet habe. Ich habe ihm gesagt: Es blieb uns ja gar nichts anderes übrig, als diesen Kompromiß zu machen; denn wir konnten damals Europa nicht an dem Widerstand de Gaulles und Frankreichs kaputtgehen lassen. So ist doch die Situation auch heute noch. Ich warne davor, daß wir uns in diesem Hause einreden, wir könnten durch blinden Aktionismus — was das auch immer sein mag — Europa voranbringen.
Ich sage Ihnen: Sie werden, wenn Sie das versuchen — —
— Na ja, bei Herrn Carstens, insbesondere aber beiHerrn Amrehn sind solche Töne angeklungen. WennSie das versuchen, — wenn nicht, um so besser.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6073
Parl. Staatssekretär Dr. ApelDann nehme ich also hiermit zur Kenntnis, daß die Opposition unseren Weg der kleinen praktischen Schritte der Europapolitik voll deckt.
Dann nehme ich das zur Kenntnis; das ist sehr gut. Nur fällt dann, lieber Herr Carstens, noch mehr von Ihrem Gebäude aus aufgebauter Kritik in sich zusammen. Dann frage ich mich wirklich, was das soll.
— Na schön, also gut, das mag durchaus sein — aus Ihrer Sicht, daß ich unterentwickelt bin; das kann durchaus sein. Aber ich äußere mich dazu nicht, wie ich das sehe, weil das ja auch nicht zweckmäßig ist. Gut. Wenn es also so ist, daß Aktionismus keinen Zweck hat, weil man dann ganz kühl von unseren Partnernn ein Nein erhält — nun will ich hier europäische Hauptstädte nicht namentlich aufführen; die sind uns ja allen bekannt —, dann hat es auch keinen Zweck, Ideen in die Welt zu setzen, nach denen eine europäische Legislative vorbereitet werden soll, ein europäisches Grundgesetz. Wir kommen in Europa, ob es uns schmeckt oder nicht, nur so weit, wie die anderen wollen.
Eines will ich Ihnen zugeben, und deswegen habe ich ja auch Ihren sieben Punkten weitgehend zugestimmt: Töricht wäre es, gefährlich für Europa, wenn wir — Bundesrepublik, Bundestag — unser Europa-Bild nicht klar und nüchtern den europapolitischen Vorstellungen unserer Partner entgegenstellten. Dies wäre allerdings töricht.
Und damit gibt es hier auch keine Konflikte. Wir wollen die Europäische Union als eine Föderation. Diese Europäische Union wird, wie im Pariser Gipfel festgelegt, alle Beziehungen der Gemeinschaft zu umfassen haben. Dazu gehört dann auch die Außenpolitik und auch die Sicherheitspolitik. Und dazu gehört ein voll wirksames Europäisches Parlament. Dieses ist die Zielvorstellung.Nur, wenn uns Partner sagen: „Unsere Zielvorstellung ist es nicht" — eine der Partnerregierungen hat doch ihre Zielvorstellungen in diesen Wochen sehr nüchtern auf den Tisch gelegt, und eine andere ist vielleicht dabei, das auch zu tun; das werden wir ja am Montag und Dienstag im Ministerrat sehen —, bleibt uns doch überhaupt nichts anderes übrig, als im Interesse der europäischen Integration Kompromisse zu schließen, allerdings Kompromisse, die völlig klar sind, die in der Klarheit des Geistes und in der Klarheit politischen Wollens geschlossen werden. Wir müßten bei einem solchen Kompromiß sagen: Gut, dies ist das Europa, das wir zur Zeit mit euch machen können. Wenn dieses nur ein intergouvernementales Europa sein soll mit Zollunionund Agrarunion, dann tut uns das schrecklich leid, wir protestieren gegen diese Sicht, aber wir machen dann wenigstens dieses. — Nur muß man dann den Partnern sagen: Liebe Freunde, dies schließt in der intellektuellen Klarheit und politischen Sauberkeit dann allerdings auch gewisse Ansprüche und Forderungen aus. -- Man kann also nicht das intergouvernementale Europa wollen — um es einmal zugespitzt zu sagen — und gleichzeitig die Poolung aller Devisenreserven. Dies geht nicht, das ist nicht machbar.
Man kann uns nicht sagen: wir wollen Zollunion und Agrarpolitik und mehr nicht, aber gleichzeitig einen riesenhaften Regionalfonds und eine Sozialunion mit riesenhaften finanziellen Engagements. Dies geht nicht.
Meinen Beitrag, den ich zu Regionalfonds und Regionalpolitik geleistet habe, habe ich unter diesem Aspekt gesehen. Europa à la carte — Herr Kollege Schmidt, Sie haben mich zitiert — gibt es nicht. Das gesamte Menü wird gegessen und nicht nur die Nachspeise serviert, wobei natürlich völlig klar ist, daß das Menü von allen komponiert und finanziert werden muß
— auch gewürzt, Herr Marx.Wenn das so richtig ist und wir zur Zeit zwar unsere europäische Zielvorstellung darstellen, sie aber nicht verwirklichen können, dann müssen wir, meine ich, um Europa zu retten, um die krisenhafte Zuspitzung zu vermeiden, in den nächsten Monaten unser Schwergewicht auf folgendes legen.Erstens Zollunion, Agrarunion, Freizügigkeit der Arbeitskräfte, gemeinsame Entwicklungshilfepolitik, insbesondere gegenüber den Assoziierten, und die politische Zusammenarbeit der Neun festhalten, mit Zähnen und mit Klauen verteidigen.Zweitens werden wir in den nächsten Monaten ein Paket von Dingen vorzulegen haben, die machbar sind: Energie-Solidarität — nicht nur kurzfristig, sondern auch mittelfristig —, Regionalfonds, Sozialunion, endlich Befugnisse für das Europäische Parlamennt, endlich Anwendung des EWG-Vertrages hinsichtlich der schrittweisen Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat und einiges andere mehr.
Ich habe mit großer Freude gelesen, daß der Ratspräsident am Montag eine Erklärung abgeben wird, die dieses europäische Konsolidierungspaket extensiv, aber deutlich darstellen wird. Das finde ich sehr gut, um so mehr, als das voll abgestimmt ist mit dem, was die EG-Kommission will.Lassen Sie mich einige Sätze zur Wirtschafts- und Währungsunion sagen. Sie ist in einem desolaten Zustand; unbestritten. Wir sollten uns auch nicht vormachen, das sei sehr schnell zu verändern. Die wirtschaftlichen Zielsetzungen, die wirtschaftlichen Notwendigkeiten der Mitgliedsländer gehen weit auseinander, und, was sehr viel schlimmer ist, die
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6074 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Parl. Staatssekretär Dr. Apelgesellschaftlichen Strukturen sind unterschiedlich. Wir können also, meine ich, in den nächsten Monaten, in den nächsten Jahren nur Strukturen zusammenbringen, Zielvorstellungen in der Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik aufeinander zubewegen, um dann eine realistische Basis für die Wirtschafts-und Währungsunion zu haben. Die Marschgeschwindigkeit muß so orientiert sein, daß sie auch vom Troß europäischer Integration nachzuvollziehen ist. Sonst sind wir allerdings in der Gefahr, daß wir Vorstellungen und Wünsche erwecken, die uns unsere Bürger nicht mehr abkaufen. Das ist doch das Problem europäischer Integration heute: Man hat zuviel Worte, zuwenig Taten gesehen.Woran das liegt, hat Herr Carstens sehr deutlich gesagt. Herr Carstens hat ein Mitgliedsland angesprochen, hat an seine Europapolitik und an die logische Konsistenz dieser Politik appelliert. Ich will das nicht tun. Ich kann mich hier voll auf Herrn Carstens stützen. Hier liegt in der Tat ein schwieriges Problem.Einige Bemerkungen zur europäischen politischen Zusammenarbeit, weil auch Herr Carstens diese Zusammenarbeit apostrophiert hat. Ich glaube, wir sollten unseren Partnern und uns selbst eines deutlich sagen: Europäische politische Zusammenarbeit der Neun hat nur einen Sinn, wenn die europäische ökonomische Integration vorangeht. Es kann keine europäische politische Zusammenarbeit der Neun geben, wenn nicht die ökonomische Basis in Ordnung ist. Dann ist von der Logik her auch gar nicht einzusehen, wenn Europa intergouvernemental bleibt und Zollunion und Agrarunion und nicht mehr beinhaltet, daß ausgerechnet neun und nicht elf oder zwölf außenpolitisch zusammenarbeiten.Ich sage das in dieser Deutlichkeit nicht an die Adresse des Deutschen Bundestages, sondern an die Adresse anderer, damit sie nicht meinen, europäische politische Zusammenarbeit könnte ein Substitut für ökonomische Integration in diesem Lande und in Europa sein.
Europäische politische Zusammenarbeit hat nur Sinn von der Zielvorstellung der europäischen Union her, von der Zielvorstellung des Aufeinanderzulaufens der ökonomischen und der politischen Integration her, die in der europäischen Union verwirklicht sein wird. Wenn der eine Aspekt hinkt, hinkt der andere Aspekt auch.Nichts macht das plastischer als der euroarabische Dialog. Das kann kein Dialog sein, der an der Europäischen Gemeinschaft vorbeigeht, das kann kein Dialog sein, in dem nicht auch über den Import algerischen Weins, tunesischer Frühkartoffeln und anderer interessanter Produkte in die Gemeinschaft geredet wird. Ein Dialog über hehre politische Grundsätze führt zu nichts. Es muß ein Dialog der Realitäten sein, und da müssen alle, die diesen Dialog wollen, alle neun, insbesondere diejenigen, die diesen Dialog besonders fördern, wissen, daß sie in diesem Dialog nach ökonomischen Opfern gefragt werden, weil sie Produzenten von Produktensind, die dann aus diesen Ländern präferenziell eingeführt werden müssen.Ich möchte zu den mehr außenpolitischen Problemen kommen, die Herr Carstens angesprochen hat, insbesondere zu unserem Verhältnis zu den USA. Herr Carstens, ich weiß nicht, ob Sie die Fernsehstatements von Herrn Kissinger beim vorletzten oder war es der letzte? - Aufenthalt gesehen haben. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie Herr Kissinger auf die Frage, wie es denn nun mit dem deutsch-amerikanischen Verhältnis sei, wörtlich ungefähr gesagt hat, man habe nun lange nachgedacht und gesucht, aber man habe leider oder Gott sei Dank — wie Sie wollen -- überhaupt kein Problem im deutschamerikanischen Verhältnis gefunden, über die man hätte sprechen können.
Das hat er gesagt. Nun wollen Sie uns hier irgendwelche Probleme —
— Gut, dann nennen Sie mal eins, Herr Aigner! Fangen Sie mal an, eins zu nennen! Nu mal los! Da ist das Mikrophon, ran und eins nennen!
— Was denn nun? Also ist nichts.
Also kann ich nichts machen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Aigner?
Gibt es wirklich keine Frontstellungen zwischen den Vereinigten Staaten und uns in den Energiefragen? Gibt es keine Frontstellungen in der Agrarpolitik zwischen uns und den Vereinigten Staaten? Gibt es keine Frontstellung in der Sicherheitspolitik zwischen den Vereinigten Staaten und uns? Wenn es keine gibt, dann frage ich Sie nur, wo Sie die letzten Jahre waren.
Gut, Herr Aigner, dann wollen wir einmal darüber reden. Helmut Schmidt hat jetzt gerade ein neues Offset-Abkommen abgeschlossen. In der NATO gibt es nur vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und den USA. Wollen Sie das bestreiten? Sie bestreiten es nicht. Gut. Wie ist es dann in der Frage der Agrarpolitik? Natürlich gibt es hier Probleme. Aber, lieber Herr Aigner, wo wird denn die Agrarpolitik gemacht? In Brüssel, und darauf will ich gern kommen. Ich will gern darauf kommen, was es hier an Schwierigkeiten gibt. Nur sind dies keine bilateralen Probleme Bundesrepublik—USA, sondern Probleme EWG—USA.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6075
Parl. Staatssekretär Dr. ApelNehmen wir also gemeinsam zur Kenntnis, daß es Ihnen nicht gelungen ist, uns Probleme anzureden, und daß wir über das Problem Europa—USA zu reden haben.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Aigner?
Herr Apel, hat nicht Herr Carstens heute vormittag mit Recht auf die Tatsache verwiesen, daß der Protest der Bundesregierung in dem entscheidenden Augenblick, wo die Vereinigten Staaten im Nahostkonflikt zu unseren Gunsten reagiert haben, nicht nur Atmosphärisches zerstört hat, so daß wir heute in vielen Punkten wegen dieser atmosphärischen Bedingungen nicht mehr zum Zuge kommen?
Ich bleibe bei der Äußerung von Herrn Kissinger. Im übrigen versage ich mir Bemerkungen hierzu, weil das nicht geeignet ist, in diesem Rahmen debattiert und ausgetragen zu werden.
Da müßte man einiges mehr dazu sagen, und da müßte man auch einmal fragen, ob das alles so gelaufen ist, wie es vernünftig war.
— Ja so ist es, Herr Kollege Jenninger; man kann nicht alles auf dem offenen Markt austragen, auch wenn Herr Carstens und andere uns dazu aufgefordert haben. Das geht nicht.
Nun lassen Sie mich auf die Frage USA und EWG kommen. Da will ich folgende Feststellung treffen: Wir müssen hier wählen, ob wir eine europäische politische Zusammenarbeit wollen oder nicht. Ich sage, wir wollen sie. Dann wird die europäische politische Zusammenarbeit stets ein Kompromiß von neun Meinungen sein, und dann wird sie auch in ihren Ergebnissen — das bezieht sich z. B. auf die Nahosterklärung — nicht voll befriedigend für alle Partner sein. Das ist immer das Ergebnis eines fairen Kompromisses. Dann wird es auch Partner geben, die uns sagen werden z. B. die USA —: Dies finden wir nicht so besonders gut. Wenn wir auf der einen Seite Partnerschaft mit den USA, auf der anderen Seite politische Zusammenarbeit der Neun wollen, sitzen wir in dieser Schwierigkeit. Da gibt es nur einen einzigen Weg, und das ist der Weg, den der Bundeskanzler seit Jahren fordert. Zuerst war man jenseits des Atlantiks nicht ganz aufmerksam auf diese Forderung, dann war man diesseits des Atlantiks zurückhaltend damit, auf diese Forderung einzugehen. Ich hoffe, daß sich das jetzt überall applaniert. Es gibt nur eine Möglichkeit, nämlich zu sagen: Wenn es so ist, dann müssen wir ein Dialogverfahren haben, das die europäische Identität ermöglicht, aber den USA die Möglichkeit gibt, diese Identitätnicht zu einer Frontstellung gegen amerikanische Interessen werden zu lassen.
Das ist der einzige Weg, den wir gehen können, und für diesen Weg werden wir streiten. Wir werden einen Dialog zu finden haben, der Europa europäisch läßt, aber die USA in die Partnerschaft einbezieht. Wir akzeptieren nicht eine Option, die man uns aufzwingen will, entweder das europäische Europa in der Frontstellung gegen die USA oder, wie andere es sehen, Europa als 51. Staat der Vereinigten Staaten; oder ist es der 52.? Sie gucken so; ich habe mich vielleicht verzählt.
— Ja, dies ist doch beides Unsinn, Herr Marx. Dies sind beides unsinnige Optionen. Wir wählen nicht zwischen diesen Optionen, sondern wir sagen: dies ist das eine -- politische Zusammenarbeit der Neun — mit den Problemen des Kompromisses, dies ist das andere — atlantische Partnerschaft —, und beides muß so verknüpft werden, daß es permanent einen konstruktiven Dialog gibt. Der Bundeskanzler hat diese Probleme sehr früh gesehen. Hätte man nur überall eher auf ihn gehört!Nun sind wir damit natürlich mitten im Problem, nämlich in der Frage: Wie verhalten wir uns eigentlich, wenn nervöse Äußerungen diesseits und jenseits des Atlantiks fallen? Sollen wir dann, wie Herr Carstens anscheinend meint, ebenfalls Äußerungen tun, oder ist es vernünftiger, die Gemüter sich beruhigen zu lassen, das Schiff auf Kurs zu halten und hinter den Kulissen Politik zu machen, die zur Verständigung und zur Anpassung der Positionen führt? Ich bin der Meinung, nur das Zweite geht, Herr Carstens. Wir setzen auf einen Schelm nicht anderthalbe.
Außerdem stelle ich mit großer Zufriedenheit fest, daß überall in den betroffenen Ländern die demokratische Opposition — einmal heißt sie wirklich „demokratische" Opposition, in anderen Ländern ist sie die demokratische Opposition — Äußerungen von maßgeblichen Politikern selbst so zurechtrückt, wie sie zurechtgerückt gehören.Lassen Sie mich abschließen. Die Priorität westeuropäischer Integration bleibt unsere Priorität. Wir wissen, daß die Bundesrepublik als das Land, das innerhalb der Neun eine beachtliche politische Stabilität hat, das innerhalb der Neun über eine beachtliche Wirtschaftskraft verfügt, das innerhalb der Neun bei allen Parteien — so sehe ich das wenigstens bis dato noch — ein klares Bekenntnis zur westeuropäischen Integration vorfindet, daß diese Bundesrepublik mit diesen drei wesentlichen Elementen — Einigkeit in der politischen Zielsetzung, politische Stabilität und ökonomische Kraft — eine besondere Verantwortung für Europas Integration hat. Wir werden diese Verantwortung wahrnehmen.Nur muß man notfalls auch einmal einige Monate den Partnern die Chance geben, nationale Irrwege
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6076 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Parl. Staatssekretär Dr. Apelzu Ende zu gehen. Sie müssen merken — nur so geht es, weil wir ihnen nichts befehlen können —, daß ihr Weg gegen ihr mittelfristiges nationales Interesse gerichtet ist. Dann werden wir allerdings bereitstehen müssen, um Europa erneut voranzubringen.Wenn wir uns in dieser Zielsetzung einig sind, hat diese Debatte einen großen Wert gehabt, um so mehr, als die Turbulenzen europäischer Integration in den nächsten Monaten noch eher zunehmen als abnehmen können. Wir sind fest entschlossen, Europa voranzubringen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Bangemann. Für ihn hat die Fraktion der FDP 40 Minuten Redezeit beantragt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir den Prozeß zur europäischen Union aus dem Wege der bloßen Deklamation herausführen wollen, dann können wir die Entschließung und den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion nicht annnehmen; denn beides bewegt sich auf dem gleichen Irrweg der Deklamation.Mit Recht ist hier beklagt worden — eigentlich von allen , daß es im Augenblick so etwas wie zwei Ebenen der europäischen Politik gibt: Es gibt die Ebene der kleinen, aber harten Tatsachen — beispielsweise bei der Vereinheitlichung der Wasserzähler —, und es gibt die mehr in Gipfelregionen angesiedelte Ebene der großen, aber leeren Worte. Der Entwurf, den die CDU/CSU-Fraktion hier vorgelegt hat, fügt sich in diese großen und leeren Worte ziemlich nahtlos ein. Das gilt von dem Entschließungsentwurf wie auch von dem Gedanken, im nationalen Rahmen eine Direktwahl einzuführen.Eine Direktwahl ohne Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments, meine Damen und Herren, ist genau ein Schritt in die falsche Richtung, die schon vieles genommen hat, was in der Verganngenheit — vielleicht im guten Willen, Europa zu bauen — unternommen worden ist. Denn damit bauen Sie eigentlich nur wieder einen neuen Türken auf, einen der Türken, von denen die Bevölkerung schon viel zu viele gesehen hat. Man macht ein großes und mit viel Aufwand verbundenes Verfahren zur Direktwahl und wählt einen Abgeordneten, der im Parlament überhaupt keine Befugnisse hat. Wie soll denn ein Wähler das auffassen?
— Aber sicher doch. Sie gehen doch in Ihrem Entwurf davon aus — und zwar heute; ich nehme an, daß dieser Gesetzentwurf, wenn er, wie üblich verkündet worden ist, dann auch Geltung haben soll , daß Sie jetzt und heute, also ohne Rücksicht auf die Befugnisse, die das Parlament heute hat,
einen solchen Gesetzentwurf verabschieden wollen,Herr Amrehn. Da Sie — ,das muß ich leider auchsagen — von den tatsächlich vorliegenden Entwürfen 1 offenbar noch gar keine Kenntnis genommen haben, obwohl das keine Geheimpapiere sind, sondern sie offen auf dem Markt daliegen und Sie ohne weiteres hineinschauen können, muß ich annehmen, daß Sie in aller Naivität tatsächlich davon ausgehen, dieses Wahlverfahren jetzt einzuführen. Und dann rufen Sie die Bevölkerung auf, ein ungeheuer wichtiges demokratisches Instrument, nämlich die Auswahl und die Wahl eines Abgeordneten, anzuwenden, ohne daß damit eine politische Auswirkung verknüpft ist. Das nenne ich einen Türken aufbauen, auch wenn das ein europäischer Türke ist; er wird dadurch nicht besser.
Dasselbe gilt natürlich auch von dem Entschließungsentwurf. Denn in diesem Entschließungsentwurf steht alles, was durchaus richtig, gut und schön ist. Aber das nützt uns nun eben nichts. Das muß man auch leider Herrn Carstens sagen. Es nützt ja nun gar nichts, die Dinge zunächst einmal so darzustellen, wie sie sind, ohne daß man nun konkrete Ableitungen daraus zu möglichen Handlungen vorlegt. Ich finde, die Opposition verfolgt hier eine klassische Oppositionspolitik, und zwar mit großer Bravour und viel Brillianz. Es wäre schade, wenn Sie das nicht noch einige Jahre tun könnten. Sie finden sich richtig in Ihre Rolle hinein. Sie malen die Umwelt möglichst düster, damit 'die kleinen Kerzenstummel, die Sie aufstellen, dann noch als großes Licht angesehen werden.
Eine Direktwahl ohne Haushaltsbefugnisse des Parlaments —
- Also, entschuldigen Sie mal, Herr Carstens, Sie werden sicherlich -- dafür sind Sie nun inzwischen doch bekannt — in Ihrer Fraktion nicht so ungeordnet diskutieren, daß Sie ein Mitglied Ihrer Fraktion, das sich an der Diskussion beteiligt, auffordern, völlig unsystematisch auf einen Zuruf von Ihnen einzugehen, sondern Sie erwarten ja sicher, daß in dieser Diskussion an entsprechender Stelle geantwortet wird. Ich werde das auch tun.
- Sehen Sie, die Opposition kann sogar in derVorfreude auf das, was ich jetzt sage, hier verharren; das ist doch auch etwas, was wir für Sie tun.
Eine Direktwahl ohne Haushaltsbefugnisse, meine Damen und Herren, wäre deswegen der falsche Weg, weil das gleichzeitig auch ein Zeichen dafür
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6077
Dr. Bangemannwäre, daß man nicht ein Europa einer stärkeren Demokratisierung will; und das wollen Sie doch wohl auch. Denn mit ein Kern der Schwierigkeiten liegt darin, daß, wie alle das hier gesagt haben, die eigentlichen europäischen Entscheidungen im Augenblick im Ministerrat und nicht im Parlament getroffen werden. Daß der Ministerrat auch von den nationalen Parlamenten nur sehr schwer kontrolliert werden kann, haben wir hier schon häufig gesagt. Das Kabinett des Herrn Metternich war, historisch betrachtet, wenigstens eine Vorstufe einer demokratischen Entwicklung, während der Ministerrat ein Schritt nach hinten ist. Man muß sehen, daß demokratische Staaten, Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft, die sich teilweise in handfesten Revolutionen die Mitwirkungsrechte des Parlaments erkämpft haben, hier ohne Not einem Entscheidungsinstrument zugestimmt haben, das auf die Stufe Metternichscher Kabinettspolitik zurückgefallen ist, ohne demokratische Legitimation, ohne demokratische Kontrolle, auch ohne öffentliche Kontrolle.
Es ist doch ein völlig unbefriedigender Zustand, daß man hier Ministern — manchmal sogar auch unseren; diese nehme ich davon gar nicht aus das Alibi verschafft, zu uns in die nationalen Parlamente zu kommen und zu sagen: Wir haben uns angestrengt, aber leider hat es nicht geklappt; die Dänen waren dagegen.
Die dänischen Minister gehen nach Hause und sagen: Es tut uns sehr leid; wir haben, wie Sie wissen, sehr für Europa gekämpft, aber die Niederländer wollten nicht. So wird die Verantwortung hin- und hergeschoben, meine Damen und Herren, weil ein Grundprinzip demokratischer Entscheidung nicht vorhanden ist: die öffentliche Auseinandersetzung über solche Probleme. Europa wäre viel weiter, wenn man z. B. in Frankreich offen austragen müßte, welche Partei und welcher Politiker sich in einem gegebenen Moment gegen die Solidarität Europas ausgesprochen hat.
Wir müssen Europa auch zu einem innerpolitischen Problem in den Mitgliedsländern machen. Das muß in die innenpolitische Auseinandersetzung eingeführt werden.
— Ja, Herr Carstens, wenn Sie dem zustimmen, warum fordern Sie denn das nicht? Warum sagen Sie denn nicht: Hier liegen die Probleme?, sondern machen den lächerlichen Vorschlag, hier bei uns eine Direktwahl durchzuführen, die daran nun wirklich überhaupt nichts ändert.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Amrehn?
Bitte!
Herr Kollege, warum weigern Sie sich, zuzugeben, daß unser Antrag auf Durchführung von Direktwahlen mit der Aufforderung an die Bundesregierung verbunden ist, dafür zu sorgen, daß dem Europäischen Parlament größere haushaltsrechtliche und legislative Befugnisse gegeben werden, und warum nehmen Sie nicht Kenntnis davon, daß ich vorhin ausgeführt habe: Beides muß Hand in Hand gehen?
Herr Amrehn, Sie haben das nicht miteinander verbunden. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß zunächst einmal Ihr Gesetzgebungsvorschlag, die Initiative zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, vorliegt. Das könnte man heute beschließen.
— Darf ich auf Ihre Frage antworten? — Dann haben Sie hier diesen Entschließungsantrag vorgelegt. In dem steht ganz hinten, und zwar völlig unverbindlich im Sinne der Deklamationen, die Sie beklagen:
Deshalb wird die Bundesregierung aufgefordert, Initiativen zur Stärkung der haushaltsrechtlichen und legislativen Befugnisse des Europäischen Parlaments zu ergreifen.
Sie übersehen dabei, daß seit geraumer Zeit ein Kommissionsvorschlag, der vom Parlament Billigung erfahren hat, dem Ministerrat vorliegt und demnächst entschieden werden muß.
Sie übersehen, daß die Bundesregierung selber Vorschläge gemacht hat; daran gehen Sie einfach vorbei. Sie produzieren Papier und wollen dann noch, daß wir das politisch ernst nehmen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wagner ?
Bitte!
Da Sie es sich hier nun so sehr einfach machen, Herr Bangemann, möchte ich fragen: Ist Ihnen nicht bekannt, daß es Vorschläge und Anregungen, eine Direktwahl im europäischen Rahmen durchzuführen, schon seit vielen Jahren gibt, es damit aber nicht vorangegangen ist? Ist Ihnen ferner nicht aufgegangen, daß die Aussage, einerseits dem Europäischen Parlament, weil es nicht direkt gewählt ist, keine Befugnisse geben zu können, andererseits dieses Parlament aber nicht direkt wählen zu können, weil es keine Befugnisse hat, einen Zirkelschluß beinhaltet und daß unser Antrag den Versuch darstellt, aus diesem
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6078 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Dr. Wagner
Zirkelschluß endlich einmal an einer Stelle herauszukommen?
Herr Wagner, das ist eine pure Behauptung, die Sie ganz mühevoll in eine Frage gekleidet haben, so daß man eigentlich gar nicht antworten sollte. Es ist mir bekannt — und ich habe Herrn Amrehn darauf hingewiesen, dem das offenbar nicht bekannt ist —, daß solche Vorschläge dem Ministerrat jetzt zur Entscheidung vorliegen. Das liegt vor, und darüber muß entschieden werden.
— Das ist doch eine ganz andere Frage. Ich muß wirklich sagen: es ist mühsam, sich über so etwas mit Ihnen zu unterhalten, wenn Sie nicht wissen, was im Ministerrat zur Entscheidung vorliegt.
Herr Amrehn hat es nicht gewußt, und aus dem Initiativgesetzentwurf geht auch hervor, daß Sie es nicht wissen; denn Sie fordern die Bundesregierung auf, Initiativen zu ergreifen, die sie schon längst ergriffen hat. Das ist doch Unsinn!
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Aigner!
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Bangemann, ich kenne das Papier sehr genau, das dem Ministerrat vorliegt und das von unserem ständigen Vertreter ausgearbeitet wurde. Aber wissen Sie, daß dieses Papier erstens weit hinter den Forderungen der gemeinsam gefaßten Entschließung des Europäischen Parlaments liegt und daß zweitens sogar die Entschließung, die Sie uns heute vorlegen, hinter der Entschließung des Europäischen Parlaments steht?
Herr Aigner, das weiß ich alles. Wir haben ja deswegen den Teil II unseres Entschließungsantrags so gefaßt, daß —
— Ja, wenn ich zu einem Thema rede, versuche ich mich jedenfalls vorher darüber zu informieren, was dazu vorliegt.
— Na, Herr Wagner, ich würde an Ihrer Stelle ruhig sein. In Ziffer II unseres Entschließungsentwurfs — lesen Sie das doch bitte mal nach, gucken Sie doch mal in das hinein, was wir vorschlagen! —
beziehen wir uns auf einen Vorschlag, der die meiste Aussicht auf Verwirklichung hat und der davon ausgeht, genauso wie Sie das sagen, diesen Zirkelschluß zu vermeiden. Nur, Sie wollen ihm entrinnen, indem Sie einfach zunächst einmal das Parlament und dann auch nur in einem Mitgliedsland wählen. Dabei bedienen Sie sich einer bloßen verbalen Deklamation, daß die Bundesregierung etwas tun sollte, was sie schon längst getan hat.
Das ist keine anständige und vernünftige Methode, die europäische Union voranzubringen.
Wie kann man das nun machen?
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Aigner?
Darf ich vielleicht weitergehen, Herr Kollege, weil es, glaube ich, nicht zu einer weiteren Klärung führt, wenn Sie noch einmal fragen und ich noch einmal antworte. Das bringt jetzt nichts weiter ein.
— Ja, es tut mir leid, wenn Sie das nicht befriedigt. Aber dann müssen Sie eben vorher Ihre Initiativen ein bißchen besser vorbereiten.Wie kann man das nun machen? Zunächst einmal ist die Frage der europäischen Union sicherlich keine Frage der Europapolitik allein. Insofern hat Herr Carstens recht, wenn er einen Zusammenhang mit der aktuellen politischen Situation herstellt. Diese aktuelle politische Situation allerdings ist nun nicht ganz so einfach, wie sie vielleicht in den Kategorien von 1965 noch war; denn es gibt eine ganze Reihe von Verwerfungen in den außenpolitischen Strukturen, die gar nicht auf die Bundesregierung allein zurückgehen, die aber vorhanden sind und auf die man sich einstellen muß. Darauf kann man sich nicht einfach einstellen, indem man sagt: Wir müssen die amerikanische Freundschaft bewahren. Wir müssen vor allen Dingen natürlich darauf achten, daß wir die Freundschaft zu Frankreich nicht verlieren. Das sind nun die Rezepte, die vielleicht in den 50er und 60er Jahren noch weitergeholfen haben, aber eben heute nicht mehr, wo sich die Situation in den bilateralen Verhältnissen, aber auch in den multilateralen Verhältnissen ganz entscheidend geändert hat.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6079
Dr. BangemannSie wissen doch — ich meine, das zu betonen ist eigentlich überflüssig; man kommt sich schon manchmal komisch vor, wenn man solche Selbstverständlichkeiten sagen muß , daß das Verhältnis der USA zu der UdSSR, auf das wir nur einen indirekten Einfluß haben, mit Sicherheit anders ist, als Sie es beschrieben haben; mit Sicherheit entstehen dort andere Schwierigkeiten, als Sie sie beschrieben haben, auch für uns, Schwierigkeiten, auf die wir uns einstellen müssen. Das war auch eine Motivation für unsere Ostpolitik, daß wir gesagt haben: In dieser bilateralen Änderung zwischen den USA und der UdSSR vollzieht sich etwas ohne unseren Einfluß, wenn wir uns daraus ausschalten; deswegen müssen wir uns dort einschalten. Das geht nun nicht anders, als daß man dann auch in Konfliktsituationen kommt. Das gleiche gilt natürlich auch für andere bilaterale Verhältnisse, auf die wir nun überhaupt keinen Einfluß haben, z. B. für das Verhältnis zwischen der UdSSR und China.Das gilt aber auch im Verhältnis USA—Europa. Ich finde, man sollte darüber nicht hinwegsehen. Weder wirtschaftlich noch politisch wird dieses Verhältnis auf der Basis der einfachen gegenseitigen Freundschaft klassischer Art, wie sie in den 50er und 60er Jahren bestand, weiterbestehen können.
Das heißt nicht, daß ich nicht ein freundschaftliches Verhältnis will, sondern das heißt, daß man erkennen muß, daß sich die Voraussetzungen für eine solche Freundschaft geändert haben, daß die Dinge schwieriger geworden sind, daß man in Konkurrenzsituationen hineinkommt. Das gilt gerade im Verhältnis USA—Europa. Man braucht ja nur das Wort „Sojabohnen" zu erwähnen, um deutlich zu machen, worum es dabei geht. Dabei geht es nicht bloß um eine politisch bedingte faktische Nichtexistenz Europas, sondern hier geht es um ganz handfeste Interessengegensätze. Die sind nämlich zum Teil die Wurzel dieser Mißverständnisse gewesen. Ich finde, daß Herr Wehner mit seiner Reaktion auf diese Darstellung und auf den Vorschlag einer Atlantik-Charta recht hatte, solange nicht feststand, was man darunter im einzelnen zu verstehen hatte, und solange das ein Versuch war, Europa in der Tat in ein Verhältnis zweiten Ranges zu setzen, indem man von „regionaler Bedeutung" sprach. Solange das nur so im Raum stand, war das in der Tat eine Vorstellung, die nicht Basis eines partnerschaftlichen Verhältnisses sein konnte.
Über die Wortwahl mag man sich streiten, aber daß der Sachverhalt nicht anders dargestellt werden konnte, darüber kann es, wie ich glaube, keinen Streit geben. Auf keinen Fall würde ich das, was der Kollege Amrehn gesagt hat, als eine zureichende Basis für einen gemeinsamen europäischen Standpunkt auch gegenüber der UdSSR ansehen. Er hat davon gesprochen, daß Europa leider deswegen in seiner Nichtexistenz so bedroht sei, weil man dadurch keinen zureichenden Schutz gegen die Bedrohungen durch die UdSSR habe. Das ist nun wirklich die Vorstellung, die wir überwunden glaubten: Europa als Gatter für die erschreckten Schafe, die sich vor dem Wolf UdSSR umeinander scharen. Das ist in der Tat ein Monstrum im wahrsten Sinne des Wortes.
Diese Situation, meine Damen und Herren, wird aber auch durch einen Konflikt bestimmt, den die Wissenschaftler vorhergesagt haben und den die Politiker lange Zeit nicht sehen wollten, nämlich durch den Nord-Süd-Konflikt und durch die Auseinandersetzung innerhalb der Europäischen Union über die gesellschaftlichen Strukturen dieser Union. Auch darüber soll man sich keinen Täuschungen hingeben, die Europäische Union setzt sich, wenn sie entsteht, aus Mitgliedsländern zusammen, die unterschiedliche gesellschaftliche Voraussetzungen haben und auch unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie eine gerechte soziale und gesellschaftliche Ordnung in der Europäischen Union aussehen soll. Das war doch wohl, wenn ich das richtig verfolgt habe, ein ganz wesentlicher Bestandteil etwa der Entscheidung der Norweger. Sehr viele norwegische, überhaupt sehr viele skandinavische Politiker, auch die Dänen, sind deswegen gegenüber der politischen Union zurückhaltend, weil sie ganz andere Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt haben als beispielsweise die Franzosen. Das muß man doch sehen. Wenn man das in diesem Zusammenhang einfach nicht erwähnt, ist das schon eine Gefahr für den Fortschritt dieser Politik.Ich möchte noch einen weiteren Punkt anführen: Die europäische Identität, was immer das auch sein mag, ist noch nicht die europäische Union. Es gibt eine Identität in vielen Bereichen innerhalb der Mitgliedsländer, auch jetzt innerhalb der Gemeinschaft, es gibt aber noch nicht dadurch die Europäische Union. Ich möchte hier für meine Fraktion ganz klar machen, daß das bedeutet, daß wir innerhalb der Gemeinschaft mit einer Verfassungsdebatte über die Europäische Union sofort beginnen müssen. Das heißt, wir können nicht etwa den pragmatischen Versuch fortsetzen, der bisher von einigen vielleicht noch mit Erfolgsaussichten versehen worden ist, daß man sich über sehr viele Dinge einigt, so daß das Gewicht, das man geschaffen hat, so erdrückend wird, daß die Europäische Union schließlich aus dem Automaten der Vereinheitlichungsvorschriften herausgezogen werden kann. Das wird nicht funktionieren, meine Damen und Herren. Das vereinheitlichte europäische Auto, auch die vereinheitlichte europäische Wurst und das vereinheitlichte europäische Brot sind noch nicht die politische Union.
Sie wird nur entstehen, wenn wir eine institutionelle Debatte beginnen, allerdings auch mit sehr viel Fantasie. Ich halte gar nichts davon, daß man sich jetzt in eine fruchtlose Auseinandersetzung begibt, ob das ein Bundesstaat, ob das ein Staatenbund sein soll, ob es ein Europa der Vaterländer oder das Vaterland Europa sein soll und was dergleichen Dinge mehr sind. Wir müssen vielmehr von den Institutio-
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Dr. Bangemannnen ausgehen, die vorhanden sind, und mit sehr großer und meiner Meinung nach auch unorthodoxer Fantasie institutionelle Strukturen entwickeln, die eben möglicherweise noch nicht da waren. Das ist ja nicht weiter schlimm, die politische Union muß ja keinen Vorgänger haben.In der praktischen Aufgabe möchte ich das unterstreichen, was Herr Apel gesagt hat. Ich bin in der Tat der Meinung, daß es ganz verhängnisvoll wäre, wenn wir die Krisensituation jetzt so lösen wollten, daß wir den Kopf in den Sand stecken und auf das neue europäische Hoch warten. Das kommt dann mit Sicherheit nicht. Ich bin wie Sie der Meinung, daß man die Arbeit, die wir jetzt begonnen haben, fortsetzen muß, allerdings dann um diese institutionelle Debatte ergänzen sollte. Man sollte endlich zu den mehrheitlichen Beschlüssen kommen, denn hier liegt mit Sicherheit im Ministerrat der schwerwiegendste Mangel, daß man sich von den im Vertrag vorgesehenen Entscheidungsmechanismen entfernt hat und zum Prinzip der einheitlichen Stimmabgabe übergegangen ist, weil das in der Tat zu diesen mit Recht beschriebenen und beklagten Zuständen im Ministerrat geführt hat.Meine Damen und Herren, das wäre das, was meine Fraktion zu dieser Europadebatte durch mich beitragen wollte. Wir werden das noch durch die weiteren Diskussionsrunden ergänzen.Ich möchte zusammenfassen. Ich meine erstens, daß wir Europa am besten dann voranbringen, wennI wir es zu einer innerpolitischen Frage in den Gemeinschaftsländern machen, wenn Europa zum Gegenstand von Wahlauseinandersetzungen in Frankreich, in Italien und in England wird. Ich bin zweitens der Meinung, daß wir unsere Arbeit fortsetzen müssen. Wir müssen das schaffen, was die Engländer „community at work" nennen; das ist nämlich eine Basis, von der aus sich dann alles weitere fortsetzen kann. Wir müssen auch die Wirtschafts- und Währungsunion fortsetzen; denn ohne eine solche Union nach den Grundzügen des beschlossenen Stufenplans wird es auch keine europäische Union geben. Ich warne davor, jetzt den politischen Willen zur Einigung an die Stelle all dessen setzen zu wollen, was wir zuvor in Sachgebieten, etwa bei der Wirtschafts- und Währungsunion, schon begonnen haben.Dies alles, meine Damen und Herren, müssen wir gleichzeitig tun. Es hat keinen Sinn, hier falsche Prioritäten aufzubauen. Es ist völlig sinnlos, z. B. auf MBFR zu verweisen — damit bin ich jetzt bei dem Punkt, den Herr Carstens noch hören wollte — und etwa zu sagen: Dadurch, daß die Franzosen dort nicht beteiligt sind, können wir Fortschritte bei MBFR nicht hinnehmen, weil sie gleichzeitig die europäische Einigung behindern müssen oder sicherheitspolitische Barrieren aufbauen können, die man dann nur schwer überwinden kann.Herr Carstens, zunächst einmal muß man sagen: Das ist natürlich ein Vorwurf nicht an die Bundesregierung, sondern an einen Partner, ein Vorwurf der Bundesrepublik an Frankreich. Wir sind ja nichtschuld daran, daß Frankreich an den MBFR-Verhandlungen nicht teilnimmt.
— Dann ist das aber etwas ganz anderes. Dann, Herr Carstens, schlagen Sie ja vor — und ich bin Ihnen sehr dankbar für diesen Zuruf —, daß wir, die Bundesrepublik, aus den MBFR-Verhandlungen ausscheiden.
Das ist ja wohl nun Politik, wie sie von Ihnen nicht verantwortet werden kann.
— Gut. Aber was soll das sonst bedeuten? Ich meine, wir sollten hier diese falschen Prioritäten nicht noch einmal vor uns selber aufbauen, die einmal zwischen den Atlantikern und den Franzosen bestanden haben. Das sind die Irrwege der Außenpolitik, die immer dann eingeschlagen werden, wenn man Konzeptionen vom Prinzip her machen will. Das, Herr Carstens, ist eine Beamtenposition; die sollten Sie jetzt als Parlamentarier aufgeben.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Scheel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich gehört habe, daß Herr Kollege Carstens heute nachmittag nicht mehr hier sein kann, will ich, bevor ich mit meiner Rede beginne, zu dem letzten Punkt schnell eine Auskunft geben. Vielleicht können wir die Probleme dadurch klären.Ich sehe die Schwierigkeiten, die Sie, Herr Kollege Carstens, genannt haben, genauso wie Sie. Da gibt es Probleme, die natürlich dadurch entstanden sind, daß Frankreich eine besondere Rolle für sich reserviert hat, nicht in MBFR, sondern in der NATO, und aus dieser besonderen Rolle heraus bei MBFR eine ebenso reservierte Position eingenommen hat. Die Schwierigkeiten sind nur durch das zu überwinden, was Sie vorgeschlagen haben: durch sehr enge Kontakte mit Frankreich. Ich darf Sie völlig beruhigen: Diese sehr engen Kontakte mit Frankreich haben wir bilateral in diesem Punkt seit langer Zeit, nämlich von Beginn an, gepflogen, weil wir nicht wollen, daß es hier zu irgendwelchen auseinanderlaufenden Entwicklungen kommt.Das wollte ich vorab sagen, weil es, wie ich glaube, ein so wichtiges Gebiet ist, daß es einer sofortigen Klärung bedarf.Jetzt erlauben Sie mir, daß ich etwas zu der allgemeinen Frage sage. Dem Hohen Hause liegen zwei Anträge zur Europapolitik vor. Das ist das zentrale Gebiet unserer Politik. Es zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Gebiet verdient unsere Aufmerksamkeit heute mehr denn je. Ich möchte deshalb die Gelegenheit dieser Debatte benutzen, zu Ihnen nacheinander über die gegenwärtige Lage
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Bundesminister Scheelund unsere Ziele zu sprechen: Wirtschafts- und Währungsunion, europäische Union, Europäisches Parlament, Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft.Europa im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, das ist leider und paradoxerweise kein gutes Omen. Sogenannte Krisen geben nun einmal bessere Schlagzeilen her als der stille kontinuierliche Fortschritt. Ich könnte Ihnen die europäische Entwicklung der letzten zwanzig Jahre an Hand solcher Schlagzeilen ins Gedächtnis rufen. Wir vergessen ja so schnell: Was wissen wir heute noch vom Abbruch der Verhandlungen über ein europäisches politisches Statut,
vom Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, von den Schwierigkeiten bei der Einführung des Gemeinsamen Marktes für Getreide, von der Politik des leeren Stuhles, vom Hähnchenkrieg — wenn Sie sich daran noch erinnern —, von den nervenzermürbend langen Verhandlungen der Kennedy-Runde? Wer erinnert sich noch an die Niedergeschlagenheit, an die Verzweiflung, die uns in dieser Zeitspanne immer wieder ergriffen hat? Und ähnliche Gefühle empfinden wir heute.Der Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Herr Ortoli, hat am 31. Januar eine Erklärung abgegeben, die Herr Amrehn heute morgen schon zitiert hat. Ich will noch einmal den wesentlichen Inhalt wiederholen, weil er wirklich den Kern der augenblicklichen Lage darstellt. Er sagte:Europa macht eine schwere Belastungsprobe durch. Es steht vor einer neuen Situation, die seine Schwächen und seine Abhängigkeit grell ins Licht rückt, gleichzeitig aber auch die Notwendigkeit seiner Einheit überdeutlich macht. Diese Belastungsprobe trifft Europa inmitten einer Krise: einer Krise des Vertrauens, einer Krise des Willens und einer Krise des klaren Verstandes.Vertrauen, Wille, klarer Verstand -- das sind drei Eigenschaften, die ein Mensch, ein Volk, eine Gemeinschaft von Völkern selbst haben muß. Die kommen nicht von außen, und wenn es daran fehlt, muß man die Gründe bei sich selber suchen.Was ist geschehen? Die gemeinsame Geschichte der erweiterten Gemeinschaft der Neun hat auf der Gipfelkonferenz im Oktober 1972 in Paris begonnen. Unsere Staats- und Regierungschefs einigten sich damals auf eine respektgebietende Liste von Vorhaben. Ich nenne nur einige davon: Übergang zur zweiten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, engere Koordinierung der Wirtschaftspolitiken mit der Inflationsbekämpfung als vorrangiges Ziel, Errichtung eines Fonds für Regionalentwicklung, gemeinsame Energiepolitik, gemeinsames Handeln, um der steigenden Verantwortung gerecht zu werden, die Europa in der Welt zukommt, und schließlich als „vornehmstes Ziel" wie es die Regierungschefs genannt haben , die Europäische Union vor dem Ende dieses Jahrzehnts.Das war im Oktober 1972. Ein Jahr später — im Dezember 1973 auf der Gipfelkonferenz in Kopenhagen — ist der Kurs unverändert. Hinzu kommt eindeutliches Gefühl der Dringlichkeit. Man spricht von „Beschleunigung der Arbeiten", „schnelleren Fortschritten", „unverzüglich zu machenden Vorschlägen", alles dringliche Formulierungen, wenn auch recht allgemein gehalten.Hinzu gekommen ist auch der starke Akzent der Energiepolitik; denn in der Zwischenzeit waren die Folgen des Krieges im Nahen Osten und die Schwierigkeiten mit der Ölzufuhr auch über Westeuropa gekommen. Seien wir ehrlich: Wir alle sind dieser Herausforderung nicht mit dem Maß an Gemeinsinn und an Solidarität begegnet, wie es dem Dokument über die europäische Identität entsprochen hätte, das wir Neun am 14. Dezember 1973 selbst verabschiedet haben.
Die Solidarität mit Holland haben wir den multinationalen Mineralölgesellschaften überlassen.
Wir waren voller Nachsicht gegen uns selber. Wir sagten: Das ist verständlich; das sind akute neue Schwierigkeiten, mit denen wir uns erst einmal zurechtfinden müssen.Aber können wir Neun die gleiche Nachsicht und das gleiche Verständnis für unsere eigene Schwäche auch dort walten lassen, wo wir uns den eigenen Weg in Kenntnis der Schwierigkeiten selbst vorgezeichnet hatten und wo wir nun — scheinbar überrascht — feststellen, daß er stellenweise steil und steinig ist?Ich meine das Stagnieren der Währungs- und Wirtschaftsunion, ich meine das endlose Disputieren im Brüsseler Rat über Detailfragen. Wenn das so weitergeht, dann wird schon der Erörterung des Themas Europa etwas Unwirkliches anhaften, dann wird der Überdruß der Menscher so groß werden, daß keine Regierung, keine politische Gruppe es noch wagen kann, von d er europäischen Einigung zu sprechen.
Solch ein Gefühl darf nicht wachsen, meine lieben Kollegen; leicht, allzu leicht könnte es umschlagen in eine Abneigung gegen den Staat schlechthin.Ein gesundes Europa braucht gesunde Staatendas ist richtig , und die Staaten hängen wiederum von der gesunden Gesellschaft ab. Deshalb sind wir stolz darauf, daß sich die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Verständnis für soziale Fragen sehen lassen kann. Deshalb sind wir stolz darauf, daß wir mit der Mitbestimmung und mit der Vermögensbildung Pionierarbeit geleistet haben und weiter leisten werden.Wer erstarrten Formen in der Entwicklung der Gesellschaft das Wort redet, der könnte ebensogut dem Meer Ruhe gebieten; er wird scheitern. Deshalb ist auch der historische Vergleich, den ich manchmal höre, falsch, im Europa vor dem Ersten Weltkrieg, im damaligen Europa der Vaterländer, habe es mehr Keime der Einheit gegeben als heute, weil man von einem Ende des Kontinents bis zum anderen ohne Paß reisen konnte — freilich, aber nur, wer Gold-
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Bundesminister Scheelmünzen in ausreichender Menge in der Tasche hatte, meine verehrten Kollegen!
Das war das Europa einer einzigen Gesellschaftsschicht, nicht das zukunftsbezogene soziale Europa, das wir wollen.
Dort gab es keine Freizügigkeit für den Arbeiter, die wir heute haben, auch keine Niederlassungsfreiheit für die Industrie.Die technische und wirtschaftliche Entwicklung hat jene Lage, hat auch die behutsam vorwärtstastenden Regierungen von heute überrollt. Grenzüberschreitende konsortiale Lösungen und internationale Arbeitsteilung haben sich in der Gemeinschaft längst durchgesetzt. Jeder Unternehmer weiß — Herr Apel hat hier eben eindrucksvolle Zahlen vorgetragen --: Wenn es den Gemeinsamen Markt nicht gäbe, wenn wir noch Zollschranken quer durch Europa hätten, würde er sich an diesen Schranken wundreiben, wäre er weltweit nicht konkurrenzfähig, hätten nicht Industrie und Landwirtschaft aller Gemeinschaftsländer ein gesichertes Einkommen.Ein Beispiel: Jeder sechste Personenwagen, der in der Bundesrepublik Deutschland neu zugelassen wird, ist eine französische Marke.
Der wirtschaftliche Austausch, die gesellschaftliche Wirklichkeit haben die Grenzen längst überwunden. Nachhinken tun die Regierungen, meine verehrten Kollegen!
Dafür gibt es hunderterlei Erklärungen: die Tradition ehemaliger Großmächte, die Rückzugsgefechte auch des staatlichen Zentralismus, das Beharrungsvermögen nationaler Bürokratien dies alles verstellt den Blick für das Neue, aber Unausweichliche. Europa kann nicht entstehen als Verlängerung des Willens einer einzigen Nation oder mehrerer Nationen. Europa kann auch nicht entstehen aus einem Mächtegleichgewicht innerhalb der Neun.Wer Europa will, muß schon woanders ansetzen, an einem übergeordneten, dem nationalen Interesse manchmal sogar scheinbar zuwiderlaufenden Gemeingut. Wer Europa will, der muß verzichten und der muß auch zurückstecken.Ich sage dies bewußt gerade auch nach meinen Gesprächen mit dem neuen britischen Außenminister. Ich kenne die Erklärungen der britischen Parteien vor der Wahl, auch die jüngsten Äußerungen der britischen Regierung. Ich akzeptiere jedoch nicht, daß dies Stillstand bedeutet oder europäisches Flickwerk auf Jahre hinaus. Hoffen wir, die Einigung der Landwirtschaftsminister am vergangenen Wochenende war ein gutes Omen.Ich weiß, wie schwer der europäische Bund voranzutreiben ist. Denken Sie nur an das Wohlstandsgefälle innerhalb der Gemeinschaft. Es gibt Gegenden, dort beträgt das Pro-Kopf-Einkommen nicht einmal ein Fünftel dessen, was der Durchschnittsbürger in den hockindustrialisierten Regionen der Gemeinschaft verdient. Dabei sind Vollbeschäftigung und gesicherte Arbeitsplätze keineswegs überall in der Gemeinschaft eine Selbstverständlichkeit. Die Ströme ausländischer Arbeiter beweisen es. Darum ist die Regionalpolitik so wichtig, die nationale und die europäische Regionalpolitik. Ein europäischer Lastenausgleich könnte den Lebensstandard in der Gemeinschaft homogener machen. Wir wollen die kulturelle Vielfalt der europäischen Landschaften erhalten, aber nicht die Kluft zwischen hochindustrialisierten Gegenden und sogenannten Notstandsgebieten.Kurz- und mittelfristig müssen wir jedoch die wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Unterschiede innerhalb Europas als gegeben hinnehmen. Solange werden auch die Interessen der Wirtschafts-und Währungspolitik von Land zu Land auseinanderklaffen. In der Bundesrepublik Deutschland haben wir zum Glück keine nennenswerte Arbeitslosigkeit. Wir wollen nicht, daß unsere Wirtschaft zu schnell expandiert, weil sonst Engpässe auftreten und die Kosten in die Höhe schnellen würden. Uns liegt in erster Linie daran, daß Einkommen und Ersparnisse ihren Wert behalten. Die Preise steigen auch bei uns, aber sie steigen langsamer als bei unseren Partnern in der Gemeinschaft.
Dort beurteilt man die Prioritäten anders: Ein Land mit offener oder versteckter Arbeitslosigkeit, mit brachliegenden Produktionskapazitäten, wird zunächst einmal seine Wirtschaft in Schwung bringen wollen — selbst auf die Gefahr hin, daß dabei auch die Inflation in Gang kommt.Alles auf einmal kann man eben nicht haben. Mit wirtschafts- und währungspolitischen Zielkonflikten werden wir leben müssen. Jeder europäische Staat hat da seine eigenen Interessen und Vorstellungen und läßt sich ungern von den anderen hineinreden.Trotzdem sage ich: Ohne wirtschafts- und konjunkturpolitische Konvergenz kann es keine Währungsgemeinschaft und letzten Endes keine dauerhafte Garantie für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr geben. Wir haben eine Zollunion geschaffen; wir haben einen Gemeinsamen Agrarmarkt. Das ist nicht gering zu achten. Dies sind jedoch keine Errungenschaften, auf denen wir uns selbstzufrieden und sorglos ausruhen dürfen. Sie bleiben gefährdet, solange die Wirtschafts- und Konjunkturpolitik der europäischen Staaten auseinanderstrebt.Wer hier den Sprung über die Hürde nicht wagt, der riskiert den Zerfall der Gemeinschaft. Die Römischen Verträge sind als Konzept dynamisch angelegt. Es muß ständig etwas Neues in der Perspektive der Europäischen Gemeinschaft hinzukommen. Wenn die Dinge, wie jetzt, ins Stocken geraten, dann wird jene Dynamik, dann wird der Geist der europäischen Verträge verletzt. Stillstand bedeutet — das hat einer Ihrer Kollegen gesagt — in diesem Fall Rückschritt. Und wenn wir an die Zukunft denken: Eine
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6083
Bundesminister ScheelEuropäische Union, der nicht der konsolidierte Schatz gemeinschaftlicher Wirtschafts- und Währungspolitik zur Verfügung stünde, hätte keine Substanz und würde keinen wirklichen Fortschritt bedeuten.Es geht mir hier nicht darum, ein Sündenregister der europäischen Staaten aufzustellen oder gar pharisäerhaft Gott zu danken, daß wir nicht so sind wie jene Zöllner. Kein Volk darf das von ihm Erreichte für selbstverständlich und für unvergänglich halten.Wesentlich ist dabei, meine Damen und Herren, auch die gemeinsame Währungspolitik, und hier das Stichwort „europäische Währungsschlange". Vier Gemeinschaftsländer, Frankreich, Großbritannien, Irland und Italien, gehören dieser Währungsschlange zur Zeit nicht an. Schuld daran sind Schwierigkeiten, für die wir Verständnis haben und die, so hoffen wir, vorübergehen werden. Jetzt gilt es, dafür zu sorgen, daß der enge Verbund von fünf Mitgliedstaaten im währungs- und wirtschaftspolitischen Bereich erhalten bleibt.Weiter: Zwischen dieser sogenannten Restschlange und den frei floatenden anderen Mitgliedstaaten müssen wir unbedingt eine Brücke suchen. Das sind nicht leere Worte. Die Bundesregierung hält mit allen Konsequenzen am Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion fest.Ich habe — das möchte ich in dem Zusammenhang sagen — mit großer Freude eine Bemerkung gelesen, die der französische Wirtschafts- und Finanzminister, Giscard d'Estaing, vor drei Wochen in einem Zeitungsinterview gemacht hat, das Sie sicherlich kennen werden. Er sagte:Ich stimme ganz mit der traditionellen Haltung der Bundesrepublik Deutschland überein, die darin bestanden hat, zu sagen, das Wesentliche sei die Koordinierung der Wirtschaftspolitiken.Meine Damen und Herren, die Wirtschafts- und Währungsunion ist ein ehrgeiziges Ziel, ein ehrgeiziges Vorhaben. An ihr müssen sich die Geister scheiden, denn auf ihrer höchsten Stufe führt sie zur Integration in Bereichen, welche die Staaten bisher eifersüchtig gehütet haben. Keine Formel wie die des „Europa der Nationen" führt uns an der Grundfrage vorbei, wieviel Souveränität jeder künftig auf die Gemeinschaft zu übertragen gedenkt. Der Ministerrat in Brüssel ist keine Staatenkonferenz, wie sehr sich der eine oder andere auch bemühen mag, den Rat zu einer solchen Konferenz zu reduzieren. Der Ministerrat ist das Organ einer wachsenden Gemeinschaft.Wenn wir schon über Zielvorstellungen reden, so habe ich eines nie verstanden: wie man auf der einen Seite das Ziel, das Endstadium in einem europäischen Staatenbund sehen und auf der anderen Seite gleichzeitig von einem Europa mit einem eigenen politischen Willen sprechen kann.
Glücklicherweise kann man eine solche Meinungheute eigentlich gar nicht mehr ernsthaft vertreten;denn jedermann weiß: Wir haben den europäischenAgrarmarkt, und er funktioniert — ich muß sagen: mit all den Einschränkungen, die wir dazu immer noch machen müssen , weil die neun Staaten wichtige nationale Entscheidungsbefugnisse auf Gemeinschaftsorgane übertragen haben.Die Wirtschaft und jeder politisch interessierte Bürger beklagen mit Recht den zähflüssigen Entscheidungsprozeß in Brüssel, Es wäre ungerecht, dafür in erster Linie den umfangreichen Verwaltungsapparat der Kommission verantwortlich zu machen. Es liegt auch am Ministerrat. Vor allem auch er ist gemeint, wenn alle Teilnehmer der Kopenhagener Gipfelkonferenz ein schnelleres Verfahren für die Regelung der den Gemeinschaftsinstanzen unterbreiteten Fragen gefordert haben.Es gibt ein solches Verfahren. Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit sind nach dem System der Römischen Verträge die vorgesehene und typische Form der Sachentscheidung durch Ratsbeschluß. Ich weiß, dieses Verfahren wird nicht praktiziert, weil manche vor dem Sprung ins Ungewisse zurückschrecken. Deshalb wird so lange diskutiert, bis man sich einigt, und zwar in jeder Frage.Gewiß trifft es zu, daß in der Gemeinschaft der politische Grundsatz „nicht überstimmen, sondern sich verständigen" möglichst Gültigkeit haben soll. Er darf aber nicht dazu führen, daß die Gemeinschaft in unvernünftiger Weise auch bei unwichtigen Fragen blockiert und damit über kurz oder lang auch desintegriert wird. Erleichterungen brächte schon die häufigere Stimmenthaltung. Sie könnte auch dann praktiziert werden, wenn man das Entscheidungsverfahren Einigung statt Abstimmung nennt. Auf längere Sicht muß ein gleitender Übergang vom Konsensverfahren zu Mehrheitsentscheidungen in Gang gebracht werden.Das herkömmliche Souveränitätsdenken gründet sich auf ein System von Beziehungen unter Staaten, in welches das Mißtrauen geradezu institutionell eingewoben ist. Langfristige oder gar unauflösbare Verbindungen mit unübersehbaren veränderlichen Auswirkungen sind mit diesem Denken nur schwer vereinbar. Von diesem Hemmnis müssen wir uns freimachen. Kein Staat kann Souveränitätsbefugnisse auf die Gemeinschaft übertragen und gleichzeitig die Entscheidungen, welche die Gemeinschaft als Träger europäischer Souveränität fällen wird, für alle Zukunft vorprogrammieren.Bereitschaft zum Risiko und Vertrauen auf die Vernunft aller Europäer muß da sein und nicht nur — um mit Hamlet zu sprechen — „ein banger Zweifel, welcher zu genau bedenkt den Ausgang — ein Gedanke, der, zerlegt man ihn, ein Viertel Weisheit nur und stets drei Viertel Feigheit hat".Meine sehr verehrten Damen und Herren, für mich ist heute kein Tag diplomatischer Zweideutigkeiten. Für mich ist dies die Stunde der klaren Aussagen. Ich trete für ein föderiertes Europa ein. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist dessen Kernstück. In Paris haben sich die neun Staats- und Regierungschefs vorgenommen, das Werk spätestens am 31. Dezember 1980 zu vollenden. In Kopenhagen haben sie diesen Vorsatz bekräftigt.
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Bundesminister ScheelWarum sollte ich ausgerechnet heute und ausgerechnet hier von diesem klaren Ziel und von diesem festen Termin abrücken?Die Europäische Union, die für 1980 geplant wird, wird noch weitere Bereiche umfassen als Wirtschafts- und Währungsunion. Ich bin realistisch genug, um zu erkennen, daß sie dann nicht schon alle bundesstaatlich organisiert sein werden oder organisiert sein können. Das macht nichts. Das Ende dieses Jahrzehnts ist nicht das Ende des europäischen Einigungsprozesses. Es ist aber eine entscheidende Etappe in diesem Prozeß.Die Organe der Europäischen Gemeinschaft sind dabei, Vorschläge für die Europäische Union auszuarbeiten. Die Bundesrepublik Deutschland hat als Präsidialmacht vor kurzem eine Initiative in dieser Frage ergriffen. Wir haben den ständigen Vertretern der anderen Mitgliedstaaten in Brüssel ein erstes Arbeitsdokument vorgelegt. Diese Aufzeichnung der Präsidentschaft behandelt die Probleme vom Inhalt, nicht von der Form her. Zum allerersten müssen wir uns über die Bereiche verständigen, die in die Zuständigkeit der Europäischen Union fallen sollen. Wenn dies geschehen ist, werden wir auch die geeigneten Institutionen entwickeln. Denn Gemeinschaftsinstitutionen müssen sein — das ist völlig klar; ohne sie kommen wir nicht aus als ein, einigendes Band, das notfalls die auseinanderstrebenden Kräfte zusammenhält. Wenn man von europäischen Institutionen spricht, dann klingt das nach Beamtenscharen und riecht das nach Aktenstaub. Nur zu leicht vergißt die Öffentlichkeit, daß auch das Europäische Parlament in Straßburg eine europäische Gemeinschaftsinstitution ist. Im Parlament weht ein frischerer Wind als in Amtsstuben.
Das Parlament ist das berufene Bindeglied zwischen den europäischen Bürgern und dem — nota bene notwendigen Europa der Bürokraten. Das Europäische Parlament könnte, wenn es die ihm angemessenen Befugnisse erhalten hat, in vollem Umfang zur Quelle der demokratischen Legitimation werden, die sich sonst auf dem langen Weg von den nationalen Parlamenten zu den übrigen europäischen Instanzen zum Teil verflüchtigt.
Ich freue mich deshalb, daß die Rolle des Europäischen Parlaments in den heutigen Anträgen zur Diskussion steht. Es gibt zwei Fragenkreise; der eine betrifft das Wahlverfahren und der andere die Befugnisse. Meine Haltung ist hier dieselbe wie gegenüber der Europäischen Union: Die Substanz ist noch wichtiger als die Form. Ich weiß, die Direktwahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments ist schon in den Römischen Verträgen vorgesehen. In den Jahren, in denen mich der Deutsche Bundestag nach Straßburg entsandte, wäre es mir vielleicht noch lieber gewesen, hätte ich sagen können: Deine Wähler wünschen ausdrücklich, daß Du und gerade Du sie hier vertrittst. Eines scheint mir jedoch nicht weniger wichtig zu sein: Wir müssen uns vor jedem Schritt hüten, den die Menschen als leere Geste, als Lippenbekenntnis zur europäischenSache werten könnten, und das ist heute morgen in den Beiträgen hier schon deutlich geworden. Das heißt: sorgen wir erst dafür, daß es in Straßburg wirklich etwas zu entscheiden gibt,
und dann erst, meine Damen und Herren, wollen wir über das Wahlverfahren reden.Das, worauf es doch ankommt, ist, daß wir die Gesetzgebungsbefugnisse des Europäischen Parlaments stärken. In Artikel 235 — heute hat ein Kollege darauf hingewiesen — heißt es: „Wenn es zur Erreichung eines Zieles der Gemeinschaft nötig ist, dann kann die Vertragsmaterie erweitert werden." Mit anderen Worten: es kann Neues hinzukommen. Lassen Sie uns doch vorsehen — und wir machen diesen Vorschlag —, daß dieses Neue nur mit der Zustimmung des Europäischen Parlaments hinzugefügt werden kann. Die Bundesrepublik Deutschland hat es schon im vergangenen Oktober so gefordert.
Wir haben allerdings, das muß ich sagen, im Ministerrat wenig Unterstützung unterhalten. Eben darum wiederhole ich diesen Vorschlag hier vor dem Deutschen Bundestag. Wir werden nämlich in dieser Frage auch im Ministerrat nicht locker lassen, meine Damen und Herren.
Und noch eins! Vom nächsten Jahr an soll der Haushalt der Gemeinschaft vollständig aus eigenen Mitteln finanziert werden. Das rührt doch an das Budgetrecht, an die historische Wurzel unseres westlichen Parlamentarismus. Liegt es da nicht nahe, daß das Europäische Parlament das Recht erhält, den Haushalt abzulehnen, daß der Europäische Rechnungshof Einnahmen und Ausgaben der Gemeinschaft, auch wenn sie in ,den Mitgliedstaaten anfallen, autonom prüft? Auch diesen Vorschlag hat die Bundesregierung unterbreitet; auch hierzu — das muß ich sagen — gab es Meinungsverschiedenheiten im Ministerrat. Und eben darum wiederhole ich den Vorschlag vor dem Deutschen Bundestag, nicht aus Mutwillen, sondern weil ein jeder von uns Abgeordneten für diese Beschlüsse mit Leidenschaft eintreten sollte! Für mich ist das nicht irgendeine Frage; für mich ist das der Ausdruck eigenen parlamentarischen Selbstbewußtseins und parlamentarischen Selbstvertrauens.
Das Europa der Neun beschäftigt sich aber nicht nur mit seiner inneren Verfassungsentwicklung; es betreibt nicht nur Nabelschau. Von Anfang an, seitdem die Sechs darangingen, die Zollschranken zwischeneinander niederzudrücken, gab es auch Außenwirkungen. Sobald die Absatzbedingungen für italienische Apfelsinen in den nördlichen Nachbarländern verbessert wurden, horchten die Apfelsinenproduzenten außerhalb der Gemeinschaft auf und fürchteten für ihre Exportchancen. Aus bloßen Außenwirkungen entwickelten sich im Laufe der Zeit Außenbeziehungen der Gemeinschaft.
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Bundesminister ScheelDie Gemeinschaft hat mit 48 Staaten Abkommen geschlossen, mit 43 afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten verhandeln wir seit Juli vergangenen Jahres über ein einheitliches neues Abkommen. Wir dringen darauf, daß unsere Gemeinschaft bald eine weltweite Entwicklungspolitik zustande bringt. Mit umfassenden Abkommen zwischen der Gemeinschaft und den Mittelmeerländern wollen wir einen Beitrag zur wirtschaftlich-industriellen und sozialen Entwicklung dieses Raumes leisten. Auch für Handelsverträge mit den Staatshandelsländern ist die Gemeinschaft ausschließlich zuständig. Sie sehen also: die Europäische Gemeinschaft betreibt in einem weiteren Sinn auch jetzt schon Außenpolitik, und eben von diesen Außenbeziehungen soll jetzt die Rede sein.Wir haben seit über drei Jahren die Europäische Politische Zusammenarbeit. Viele außenpolitische Fragen stellen sich jedem von uns; manche berühren die Stellung Europas in der Welt. Unsere acht Partner und wir bemühen uns, hier zu gemeinsamen Erkenntnissen und zu gemeinsamem Handeln zu kommen. Das gelingt uns nicht immer; umständlich ist es in jedem Fall. Doch der gute Wille fehlt keinem von uns, und die Erfahrung nimmt von Mal zu Mal zu. Die politische Zusammenarbeit hat keinen festen Mittelpunkt. Wir ziehen — wie weiland Karl der Große von Pfalz zu Pfalz — jedes halbe Jahr in eine andere Pfalz. Zuletzt war es Kopenhagen, jetzt ist es Bonn, und die nächste Pfalz wir bald Paris heißen. Die Folge ist: unserer politischen Zusammenarbeit fehlt es an Kontinuität. Das fängt bei ganz alltäglichen und lebensnahen Dingen an: alle sechs Monate muß sich jeweils wieder ein anderer nationaler Beamtenstab den Kopf zerbrechen, wie man die Sitzungen abhält, die Delegierten unterbringt und verköstigt, wo man dieses oder jenes Dokument findet, das gerade dringend gebraucht wird.
Hier könnte ein kleines, möglichst unbürokratisch arbeitendes, international besetztes Sekretariat wertvolle Dienste leisten. Dessen laufend wachsender Erfahrungsschatz könnte der Präsidentschaft über die Verwaltungsroutine hinaus auch die politischen Aufgaben erleichtern, wenn wir das alle wollen.Zwischen Europäischer Gemeinschaft und Europäischer Politischer Zusammenarbeit gibt es wesentliche Unterschiede. In der Europäischen Gemeinschaft bilden völkerrechtliche Verträge die Grundlage, hier auf der anderen Seite lockere Abmachungen der Regierungen. Dort sind die Aufgaben und die Zuständigkeiten genau umschrieben, und hier auf dieser Seite hängt alles allein vom politischen Willen ab. Ich habe nichts gegen saubere begriffliche Unterscheidungen, die man hier anwenden muß. Ich bringe für diese sauberen begrifflichen Unterscheidungen zwischen Gemeinschaft und sogenannter PZ sogar erhebliche Opfer. Warum hätte ich sonst vor einem halben Jahr mit meinen acht Kollegen erst in Kopenhagen über politische Zusammenarbeit sprechen, dann mit ihnen gemeinsam ins Flugzeug steigen und in Brüssel in demselben Kreis weiter verhandeln sollen, nun aber über Gemeinschaftsfragen — und das alles an einem einzigen I Tag?!
Die Lust an Definitionen und an Distinktionen darf nur nicht den Blick für Zusammenhänge trüben. In der Gefahr sind wir eine ganze Weile gewesen. Auch in den Außenbeziehungen Europas greift nämlich eins ins andere. Ein aktuelles Beispiel ist der beginnende Dialog zwischen Westeuropa und den arabischen Staaten. Damit haben sich mit gutem Grund — verbunden mit einigem Wirbel, wenn ich das sagen darf — der Ministerrat der Gemeinschaft und die Gremien der politischen Zusammenarbeit befaßt. Solche übergreifenden Zusammenhänge werden wir in Zukunft noch häufiger haben. Dem müssen wir im organisatorischen Bereich Rechnung tragen. Die Europäische Union, auf die wir hinsteuern, soll einmal alle Beziehungen der Mitgliedstaaten umfassen. Deswegen müssen wir natürlich heute darauf achten, daß die europäischen Strukturen, so wie sie bis jetzt entwickelt sind, nicht unverbunden nebeneinander herlaufen und mit der Zeit gegen unseren Willen erstarren, ohne daß sie sich begegnen würden.Die Verbindung zwischen diesen beiden nebeneinan der herlaufenden wesentlichen Elementen der europäischen Einigung könnte bei der Präsidentschaft ansetzen. Sie, die Präsidentschaft, wird in beiden Bereichen, nämlich in der Gemeinschaft und der Politischen Zusammenarbeit, jeweils von Beinselben Land gestellt. Und hier ist die Nahtstelle, die wir nutzen sollten. Die europäischen Regierungen wären gut beraten, wenn sie durch eine Heraushebung des Präsidenten aus dem Kreis der Kollegen im Rat, wenn sie durch Zuweisung vor allem einer längeren Amtsdauer an ihn und durch die Unterstellung des Politischen Sekretariats, von dem ich soeben gesprochen habe, unter seine Weisungen Energien für eine konstruktivere und kontinuierliche Arbeit freisetzen würden. Hand in Hand damit müßte eine Erweiterung der Verantwortung des Präsidenten gegenüber dem Europäischen Parlament gehen. Denn es ist nachgerade unerträglich — die Kollegen wissen das —, wenn ich als Präsident nach Straßburg gehe und dort an einen Text gebunden bin, den meine Kollegen mit mir einstimmig beschließen müssen; das geht einfach nicht.Nicht nur die beiden Grundtypen der Zusammenarbeit zwischen den Neun dürfen auf die Dauer nicht isoliert nebeneinder stehen. Wir müssen uns noch immer der Bindung zwischen dem Europa der Neun und Westeuropa im weiteren Sinne bewußt bleiben. Ich habe heute schon einige Male den Ausdruck „Westeuropa" gebraucht und damit die Europäische Gemeinschaft gemeint — eine Verallgemeinerung, die nur Stilmittel und keinesfalls Anmaßung gegenüber unseren anderen Nachbarn sein soll.Am 6. Mai werden 17 Staaten — darunter auch wir in Straßburg das 25jährige Bestehen des Europarats feiern. Freiheit der Einzelperson, politische Freiheit und Herrschaft des Rechts — diese Grundsätze standen dem Europarat Pate; ihnen hat er in der Europäischen Konvention zum Schutz der
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6086 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Bundesminister ScheelMenschenrechte und Grundfreiheiten stärkere Durchschlagskraft gegeben. Als Forum für die Begegnung von Staaten, die sich in ihrem Handeln von allen diesen Grundsätzen leiten lassen, ist der Europarat unentbehrlich und unersetzlich.
Er wird unersetzlich bleiben, auch wenn die Neunergemeinschaft sich eines Tages im Ministerausschuß durch einen einzigen Außenminister vertreten lassen wird.Westeuropa, meine verehrten Kollegen, betreibt seine Politik in einer Welt, in der es zwei Supermächte gibt. Sein Standort in dieser Konstellation ist klar.Gegenüber der Sowjetunion haben wir Neun keine feindlichen Absichten, weder als Einzelstaaten noch als Einheit. Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zeigt dies. Wir nehmen alle an dieser Konferenz teil, wir arbeiten eng zusammen -, doch in einem konstruktiven Geist, gegen niemanden in Frontstellung. Als wirtschaftliche Realität hat die Sowjetunion die Europäische Gemeinschaft zur Kenntnis genommen. Ich hoffe, sie wird sich bewußt werden, daß sich auch auf allen anderen Gebieten der Zusammenschluß der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft gegen niemanden richtet, daß die politische Einigung Europas der Entspannung und dein Frieden dienen soll.
Über das Verhältnis Amerika/Europa haben wir am vergangenen Sonntag mit Außenminister Kissinger erneut gesprochen. Ich habe ihm gesagt: Die Bundesregierung will alles tun, um die Kohäsion der Allianz zu erhalten und zu festigen. Sie wird sich im übrigen in der Öffentlichkeit zurückhalten, um diplomatisch wirksam zu bleiben. Aber wir sehen die Dinge, wie sie sind, und wir sagen unseren Partnern die Wahrheit, wie wir sie sehen.Außenminister Kissinger hat mir bestätigt: Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Bundesrepublik Deutschland sind miteinander im reinen. Herr Apel hat schon darauf hingewiesen. Auf der Seite der militärischen Zusammenarbeit ist dies bereits von Präsident Nixon auch für alle Partner des Atlantik-Paktes bestätigt worden. Er hat in seiner ja vielzitierten Rede in Chikago gesagt: „Bei der Ausarbeitung der Gemeinsamen Erklärung an der Sicherheitsfront sind wir planmäßig vorangekommen".Will ich mit dieser eher beruhigenden Erklärung über die Beziehungen der Bundesrepublik zu den USA sagen, daß auch für die Zukunft alles in Ordnung sei? Mitnichten, meine Kollegen. Und warum?Es gibt keine zwei Gemeinwesen auf der Welt, die gesellschaftlich, ökonomisch und politisch mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als die Vereinigten Staaten und die Staaten Westeuropas. Aber wie groß ist zugleich die Disparität der Lebensdimensionen der beiden! Dort ein großer Staat kontinentalen Ausmaßes, der die Schwelle zum postindustriellen Zeitalter überschritten hat, die Arbeitskräfte heute schon überwiegend auf dem Dienstleistungssektor einsetzt.Eine solche, von der Schubkraft der modernen Technologie vorangetriebene Gesellschaft setzt Daten für alle. Sie schafft sich ihre eigene Umwelt, paßt sich nicht nur einer vorgegebenen Umwelt an. Ein solcher Großstaat hält sich geradezu notwendigerweise für den Träger des Fortschritts. Seine Dynamik und sein Erfolg drängen ihn zur Verabsolutierung der eigenen Wertskala. Abweichende Vorstellungen vermeintlich rückständiger Gesellschaften werden von ihm häufig als fortschrittshemmend, als irrational empfunden. Diese abweichenden Vorstellungen verstoßen in seinen Augen gegen notwendige und daher moralisch „richtige" Entwicklungsgesetze. Sie sind mehr Hindernisse, die überwunden werden müssen, als Einwände, die man berücksichtigen müßte.Wie anders sieht es in den mittleren und kleinen Staaten Westeuropas aus! Die für diese Staaten repräsentativen Typen haben manches mit den Liliputanern in Jonathan Swifts „Gullivers Reisen", jenem Buch aus dem frühen 18. Jahrhundert, gemeinsam. „Ihnen" — ich zitiere daraus — „kommt nur das schön vor, was die gleiche Größe wie sie hat ... Sie sehen genau, aber nicht auf große Entfernung." Im Kleinen exakt, im Großen unsicher, sind sie nuanciert, phantasievoll, listig, empfindlich und mißtrauisch. Sie neigen dazu, Schwierigkeiten, denen sie begegnen, böswilligen Manipulationen der Großen zuzuschreiben.
Sie sehen nur schwer objektive, fortschrittsbedingte Entwicklungen, die hinter solchen Schwierigkeiten stecken.
Dem Großen bringt dieses Mißverhältnis Bürden: wie Gulliver muß er nämlich Verständnis für die Sitten, Gesetze und Vorurteile der Liliputaner aufbringen, um einen Ausgleich zu erzielen. Wie jener muß sich der Große selbst beschränken, um zum Ziel zu gelangen. Darin liegen Schwierigkeiten und Risiken. Sie sind jedoch einer großen Unternehmung wie der atlantischen Partnerschaft und eines großen Landes, wie es die Vereinigten Staaten sind, würdig.Meine Kollegen, nach diesem nur scheinbar literarischen Exkurs bin ich politisch mitten im Thema. Wir Westeuropäer sind noch keine Einheit. Trotzdem beanspruchen wir gelegentlich schon heute, als Einheit behandelt zu werden. Unsere politische Zusammenarbeit bezieht nolens volens Themen von großer Tragweite mit ein, von Tragweite auch für das Weltgleichgewicht. Den Vereinigten Staaten, einer Weltmacht, kann dies nicht gleichgültig sein. Deshalb sind Konsultationen nötig. Aber auf welchen Gebieten? Sicher dort, wo einer von beiden, Amerika oder Westeuropa, das Risiko auch für den anderen erhöhen kann. Das bezieht sich nicht nur auf das militärische Risiko. Alles, was politisch das Weltgleichgewicht berührt, sollte über den Atlantik hinweg abgestimmt sein, und zwar in beide Richtungen, meine Damen und Herren. Machen wir uns doch keine Illusionen: Konsultationen, auch wenn der Große den Kleinen konsultiert, ändern nichts
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6087
Bundesminister Scheelam Gewichtsunterschied. Aber gerade deswegen gibt es noch eine weitere für das Selbstgefühl Westeuropas wichtige Seite der Frage, nämlich: Zwischen gebotener Abstimmung und eigenständiger Selbstverwirklichung Westeuropas muß eine klare Grenze gezogen werden.Westeuropa wird — ich kann es mir nicht anders denken — auch in seiner endgültigen Form eng und beständig mit den Vereinigten Staaten verbunden sein. Bisher haben die Europäer einzeln, für sich, mit den Amerikanern gesprochen; später wird der Gesprächspartner ein einiges Europa sein. In der Zwischenzeit werden wir einzeln und zu Neunt mit Amerika sprechen, Auskünfte einholen, Meinungen austauschen und gegenseitig Rücksicht nehmen. In dem schwierigen europäischen Übergangsstadium darf keine Kluft entstehen zwischen gestern und morgen. Deswegen sind wir dabei, ein befriedigendes europäisch-amerikanisches Konsultationsverfahren auszuarbeiten. Doch durch ein solches Verfahren können wir nicht an jedem Tisch, an dem die Neun ihr politisches Handeln, ihre inneren Verfassungsstrukturen, ihre Zukunft besprechen, auch für die Vereinigten Staaten einen Platz freihalten, genauso wenig wie in jeder Amtsstube des Weißen Hauses oder des State Department ein steinerner Gast aus Europa sitzt.Wie wäre es denn, wenn wir das einige Westeuropa schon hätten? Dann würde sich die europäische Regierung auch erst intern eine Meinung bilden, bevor sie auf deren Grundlage mit der amerikanischen Regierung spräche. Das heißt natürlich nicht, daß die Meinungen der Europäer dann unabänderlich wären und die Konsultation zur bloßen Information degradiert würde.Die Bundesregierung ist sich der Grenzen ihres Einflusses bewußt, sie maßt sich keine Schiedsrichterrolle an. Die Bundesregierung kann auch nicht die bestehenden Meinungsunterschiede zwischen Frankreich und Amerika aus eigener Kraft überwinden. Was sie jedoch tun kann, ist, durch eine klare Lageanalyse, durch Wahrhaftigkeit gegenüber dem einen wie dem anderen zur Aufklärung von Mißverständnissen, zum Abbau von Emotionen beizutragen.Wir haben kein Allheilmittel. Es ist wichtig, daß die Europäer, daß unsere Bürger das wissen. Was wir aber erreichen können, ist, zu verhindern, daß sich der Zustand verfestigt, den der Kollege Kiesinger am 27. Februar 1967 schilderte. Er sagte damals über das Verhältnis Amerika—Europa:So kann es nicht weitergehen. Wir reden ja überhaupt nur noch über Streitfragen miteinander. Wir reden ja gar nicht mehr über gemeinsame Politik.Das darf, so fahre ich jetzt fort, nicht unser bleibendes Los sein. Bei den Bürgern auf beiden Seiten des Atlantik muß jene Grundauffassung der gegenseitigen Verflechtung der Schicksalsgemeinschaft zum festen Teil ihres Bewußtseins werden, die Präsident Nixon in den sechziger Jahren in die Worte faßte:Die Vereinigten Staaten können sich aus Europaebenso wenig zurückziehen wie aus Alaska.Ist es vermessen zu erwarten, daß diese klare Aussage, die der jetzige Präsident damals gemacht hat, umgewandelt wird in eine dauerhafte Bindung der Vereinigten Staaten in Form einer langfristigen Garantie für die Präsenz der Streitkräfte in Europa?
Ist es unrealistisch zu erhoffen, daß Washington uns einen gleichbleibenden Mindestbestand an Truppen in Europa zusagt, eine Zusage, die dann nicht wie bisher von Jahr zu Jahr wiederholt zu werden braucht?Meine sehr verehrten Damen und Herren, versuchen wir, die Dinge in Europa nüchtern zu sehen; nur dann können wir uns über die Lösungsmöglichkeiten verständigen. Ich darf meine Anregungen für die Lösungsmöglichkeiten, die ich gegeben habe, zusammenfassen: Ein politisches Sekretariat, eine hervorgehobene Präsidentschaft als Bindeglied zwischen Gemeinschaft und politischer Zusammenarbeit eine Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments, ein gleitender Übergang zu Mehrheitsentscheidungen.Hat einiges Aussicht, verwirklicht zu werden? Ich weiß es jetzt nicht. Ein starker Wille wird ohne Zweifel nötig sein, und ungewiß bleibt trotzdem vieles: die Haltung der britischen Regierung, die Entwicklung der Innenpolitik in den Partnerländern diesseits und jenseits des Atlantiks, die Möglichkeit des Ausgleichs von Interessengegensätzen. Es empfiehlt sich daher für uns alle, eher von ungünstigen Annahmen auszugehen. Jede Verbesserung, die sie erfahren, wird uns dann willkommen sein. „Wo bleibt denn da das Vertrauen, wo bleibt die Zuversicht?" werden Sie mich fragen, meine verehrten Kollegen. Ich halte es da mit Walther Rathenau. Vor bald 60 Jahren, mitten im ersten Weltkrieg, sagte er in einem Vortrag über Probleme der Friedenswirtschaft:Optimismus des Urteils hat uns niemals genützt; Pessimismus der Stimmung wäre das Verderblichste, das uns begegnen könnte. Ich glaube, der richtige Wahlspruch wird der sein, daß das Urteil kühl bleibt, daß man jeder Gefahr ohne Furcht ins Auge blickt, daß man sich aber die Stimmung, den Willen und die Entschlußkraft des höchsten Optimismus und der höchsten Zuversicht erhalten muß.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Strauß.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst darf ich aus Gründen der parlamentarischen Höflichkeit eine Bemerkung an die Adresse der Vorredner machen: Lediglich meine Verpflichtung, vor dem Wirtschaftsrat der Union heute vormittag einen nicht verschiebbaren Vortrag zu halten, hat mich
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Strauß
an der beabsichtigten Teilnahme während der letzten eineinhalb Stunden gehindert.
- Ihnen, Herr Kollege Wehner, wäre es am liebsten, wenn die Opposition statt der Regierung zurückträte.
— Von Mißachtung des Parlaments — —
Meine Damen und Herren, ich bitte um Aufmerksamkeit für den Redner.
Herr Kollege Wehner, Sie mögen sich am besten mit sich selber auseinandersetzen! Das war für uns immer sehr nützlich.Wir haben aus Anlaß der von der Fraktion der CDU/CSU gestellten Anträge heute wieder einmal eine Europadebatte. Die Mitglieder dieses Parlaments, die diesem Hause von Anfang an oder seit vielen Jahren angehören, werden sich der zahlreichen Anlässe erinnern, bei denen wir uns hier über das Thema der Einigung Europas und des Verhältnisses der Vereinigten Staaten von Amerika zu diesem Europa unterhalten haben. Ich möchte sagen: Der Bundestag trägt im Frühling 1974 auch wieder Europa. Aber das sollte kein Anlaß sein, die Welt als in bester Ordnung befindlich darzustellen, wie es von seiten der Regierungsvertreter neben vielen richtigen Bemerkungen — in etwas euphorischer Wiedergabe der Lage gemalt worden ist. Denn wieder einmal haben wir zwar Einigkeit und Übereinstimmung darin, daß Europas Einheit vorangetrieben werden soll und die Atlantische Allianz gestärkt werden muß; aber es gibt doch keinen Zweifel, daß wir heute von der europäischen Einheit nicht nur aus Gründen materieller Gegensätze weiter weg sind als vor geraumer Zeit. Es gibt keinen Zweifel darüber, daß die Atlantische Allianz trotz der allseitigen Bekräftigung in einem Zustand der Unordnung und der Verwirrung ist wie noch nie seit ihrer Gründung. Beides ist vom Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU in deutlich gezeichneten Strichen herausgestellt worden.Es ist eigenartig, wenn der Vertreter der Bundesregierung, Staatssekretär Apel, davon sprach, daß 1973 kein verheerendes Jahr für Europa gewesen sei; man dürfe kein Krisengerede anstellen, wo nur ein tiefgreifender Klärungsprozeß vor sich gehe. Klärungsprozesse sind an sich wünschenswerte Vorgänge. Aber das Wort „Klärungsprozeß" im Zusammenhang mit dem zu verwenden, was sich in den letzten Jahren ereignet hat, ist reiner Euphemismus, ist wieder einmal der Mißbrauch der Sprache zur Beschönigung eines Zustandes, dessenWirklichkeit zu analysieren, dessen Tatsachen zu erkennen die einzige Voraussetzung ist, um überhaupt auf dem Boden der Tatsachen und der Wirklichkeit nicht nur zu einer Klärung, sondern auch zu einer Änderung zu gelangen.Von der Bundesregierung vernehmen wir, daß alles in bester Ordnung sei. Ich kann sicherlich auch dem Teil der Auführungen des Herrn Bundesaußenministers zum Teil zustimmen, den ich noch nicht gehört habe, und vielem von dem, was ich gehört habe. Aber entscheidend war nicht das alles, Herr Bundesaußenminister, was Sie angeschnitten haben, sondern das, was Sie in Ihrer Rede offensichtlich ausgespart oder jedenfalls nicht mit den wirklichkeitsnahen Farben gezeichnet haben, mit denen diese Probleme gezeichnet werden müssen.Natürlich ist die Welt in bester Ordnung — ich sage es jetzt humorvoll — aus der Sicht des Herrn Bundeskanzlers und seines Beifahrers hoch oben auf dem Wagen, ohne daß die beiden allerdings noch wissen, wer eigentlich fährt.
Sie jedenfalls schon lange nicht mehr!Das Jahr 1973 hätte nicht nur nach der Vorstellung des damaligen Sicherheitsberaters des amerikanischen Präsidenten, Henry Kissinger, das Jahr Europas werden sollen. So klangen an seinem Beginn die Glocken. Es ist alles anders geworden, und wir siehen nicht nur in einem Klärungsprozeß. Wir stehen in einer tiefgreifenden Krise, deren Ursachen bei dieser Debatte von seiten der Regierung und ihrer Vertreter noch nicht mit wahrheitsnahen Strichen herausgestellt worden sind.Vielleicht werden es manche für eine Übertreibung halten, wenn ich sage, daß das Jahr 1973 eher ein Jahr der Sowjetunion geworden ist, wenn ich Anfang und Ende überdenke und dabei auch die wirtschaftlichen Probleme einbeziehe, über die in dem Zusammenhang noch zu reden sein wird. Es ist sicherlich auch eher ein Jahr der Vereinigten Staaten von Amerika geworden — trotz allem!Ich möchte hier entgegen manchen Deutungen, mit denen amerikanische Erklärungen und amerikanische Aktionen abgewertet werden, in aller Deutlichkeit sagen — im Anschluß an das, was der Herr Kollege Carstens gesagt hat —, daß amerikanische Erklärungen keinen Versuch darstellen, damit etwa innenpolitische Schwierigkeiten zu überspielen oder zu übertönen. Die amerikanische Innenpolitik geht uns nichts an; von den Rednern hat sich auch niemand etwa in diese Innenpolitik eingemischt. Aber man hört landauf und landab immer wieder diese Darstellung, als würden hier innenpolitische Probleme der Amerikaner etwa außenpolitische Erklärungen und Aktionen beeinflussen. Jedenfalls, als der Friede auf dem Spiele stand wie Kollege Carstens es vorher sagte —, hat trotz aller innenpolitischen Diskussionen in den Vereinigten Staaten von Amerika dort der Apparat und die politische Spitze, und zwar mit minuziöser Präzision, funktioniert,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6089
Straußwährend die Europäer leider nur geredet haben, und das erst nach einer längeren Schrecksekunde.Das Hin und Her der Erklärungen über den Atlantik bringt uns nicht weiter. Die Vorwürfe, die erhoben werden, dann die halbe Zurücknahme dieser Vorwürfe, dann die Wiederholung dieser Vorwürfe — all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine zunehmende Entfremdung eingetreten ist. Ich habe volles Verständnis dafür, Herr Bundesaußenminister, daß die Sprache der Diplomatie nicht immer die Sprache der schonungslosen Zeichnung der wirklichen Fakten sein kann. Aber umgekehrt sollten sich auch die Spitzen der deutschen Regierung und ihrer Außenpolitik nicht von dem gefährlichen Aberglauben leiten lassen, daß diplomatische Erklärungen, daß höfliche Formulierungen und auch — auch das sage ich gelassen und nicht ironisch — gemeinsame, geradezu eine idyllische Harmonie darstellende Familienfotos nicht verbergen können, welch tiefe Meinungsverschiedenheiten hier mit einem potentiell tragischen Charakter für beide Seiten des Atlantiks vorliegen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Man wird das aus diplomatischen Kommuniqués nie entnehmen können.Natürlich hat Staatssekretär Apel recht und gleichzeitig unrecht — das ist ja das Schreckliche an solchen Äußerungen —, wenn er sagt, daß es zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland keine bilateralen Probleme gebe, die nur diese beiden betrafen. Aber unsere Verpflichtung als Bundesrepublik Deutschland sowohl mit unserer wirtschaftlichen Kraft wie mit unserer geographisch gefährdeten Lage wie mit unserer demgemäß bestehenden, von den Fakten her gezeichneten größeren Abhängigkeit — wäre es gewesen, darauf hinzuwirken, daß diese atlantische Konfrontation zwischen den USA und den Europäern entweder nicht zustande kommt oder gemildert wird. Unsere Pflicht wäre es gewesen, darauf hinzuwirken, daß sich die Europäische Gemeinschaft in Zeiten der Krise nicht in zunehmendem Maße auf dem niedrigsten Nenner antiamerikanischer Tendenzen, auf ziemlich faul formulierte Kompromisse einigen kann.
Natürlich wird, wie das in den letzten Tagen in der Presse auch geschah, die Frage gestellt: Soll man eigentlich diesen ganzen transatlantischen Disput ernst nehmen oder mit Gelassenheit betrachten nach dem Motto „Das geht schon wieder vorüber, so schlimm wird es nicht werden"?Ich möchte hier meine Meinung und die Meinung meiner politischen Freunde zum Ausdruck bringen — ich sage es in einer Paraphrase —: Nach meiner festen Überzeugung werden Historiker des nächsten Jahrzehnts oder der nächsten Generationen mit höchster Wahrscheinlichkeit das Jahr 1973 als einen tiefgreifenden Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte, als eine historische Zäsur bewerten. Man soll nicht glauben, daß große geschichtliche Verschiebungen, große geschichtliche Gesteinsverschiebungen, immer mit einem Donnerkrach erfolgen. Essind die leisen Vorgänge, die sozusagen auf Zehenspitzen durch das Land gehen, es sind die millimeterweisen, von Tag zu Tag kaum merkbaren Veränderungen, die, über Jahre hinweg fortgesetzt, uns auf einmal zu der schrecklichen Feststellung bringen, daß sich die europäische Welt, die atlantische Welt und das ganze Kräfteverhältnis auf der Welt entscheidend verändert haben.Hier gilt es nicht, jähen Katastrophen vorzubeugen - die werden uns voraussichtlich, wie wir alle hoffen, nicht unterlaufen —, sondern hier gilt es, geschichtlichen Änderungsprozessen zuvorzukommen, an deren Ende die Europäer gar nicht einmal mehr die Möglichkeit haben werden, ihre politische Einigung ohne Zustimmung des Moskauer Kräftezentrums zu vollziehen.
Die ganze transatlantische Diskussion und die damit verbundenen Schwierigkeiten haben eine lange Vorgeschichte und werden ein schicksalhaftes, vielleicht ein schicksalentscheidendes Nachspiel haben.Wenn ich vorher sagte — das darf ich auch im Zusammenhang mit dieser Debatte zum Ausdruck bringen, weil in diesem Bundestag die Themen ja wohl nicht mehr so einschränkend ausgelegt werden, wie es gelegentlich schon unterlaufen ist --, daß das Jahr 1973 eher ein Jahr der Sowjetunion als etwa ein Jahr der Europäer war, so möchte ich nur in Stichworten darlegen, was ich meine. Zu Beginn dieses Jahres ist der Generalvertrag — der Grundvertrag, der Grundlagenvertrag -- in Kraft getreten, der den Sowjets die Erreichung ihrer strategischen Nachkriegsziele rechtlich abgesichert hat. Der Grundlagenvertrag war für die Sowjets die Voraussetzung dafür, in der jetzigen Phase der Genfer Konferenz diese zunächst bilateral erfolgte Absicherung nunmehr auf alle europäischen Konferenzteilnehmer zu erstrecken und dies als gesichertes Ergebnis nach Hause zu tragen.Schaue ich auf das Ende dieses Jahres, dann darf ich einige Tatsachen oder Zahlen erwähnen, die — für sich selber genommen manchen gar nicht so erschrecken mögen, die aber in der Gesamtheit zeigen, daß schon eine tiefgreifende Änderung begonnen hat.Die Ölverknappung — oder richtiger gesagt: die drastische Steigerung der Einstandspreise für Rohöl — hat die wirtschaftliche Welt Europas noch stärker durcheinandergebracht, als es vorher schon andere Faktoren nach dem Ende des ehemaligen Weltwährungssystems getan hatten. Die Tatsache, daß nach einer Schätzung der OECD Japan, die Vereinigten Staaten und Kanada — diese beiden noch am wenigsten davon betroffen —, die europäischen ölverbrauchenden Länder und die Entwicklungsländer für dasselbe Quantum Rohöl nach den Preisen des ersten Halbjahres 1974, die nur bis zum 30. Juni fixiert sind — dann beginnt die Preisfestsetzung von neuem —, zusammen etwa 50 Milliarden Dollar mehr zahlen müssen als nach den Preisen des ersten Halbjahres 1973, die Tatsache, daß die Bundesrepublik allein davon wird beim Jahreswirtschaftsbericht zu reden sein — 15 bis 20 Milliarden DM
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6090 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Straußmehr für ihr Quantum Öl nach diesem Preis wird aufbringen müssen, all diese Tatsachen belasten nicht nur uns, sondern belasten auch die Zahlungsbilanz Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und der anderen Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft.Dieser Zustand hat in Verbindung mit der Entwicklung des Goldpreises als Folge des Weltwährungsverfalles der Sowjetunion ungeheure wirtschaftliche Vorteile verschafft. Die Verdoppelung des Goldpreises innerhalb kurzer Zeit hat dem zweitgrößten Goldproduzenten der Welt, der auch heute noch täglich auf dem Züricher Markt Gold verkauft, Vorteile verschafft, die heute noch nicht quantitativ ausgedrückt werden können. Dasselbe gilt auch für das Rohöl. Denn die Sowjetunion hat sich selbstverständlich den arabischen Ölpreisen angeschlossen und sie zum Teil noch übertroffen.Wenn man — ich sage es hier ohne jede Emotion — am Ende des Jahres vom Kremel nach Westen geblickt hat, erkannte man die Entfremdung zwischen USA und Europa, nicht als Folge nur der europäischen Verhaltensweise — die Schuld liegt nie allein bei einem —, und ferner die Uneinigkeit der Europäer in den wesentlichen Fragen, das Entschwinden der Wirtschafts- und Währungsunion in heute nicht mehr nennbare Fernen.All das hat doch ohne jeden Zweifel für uns die Frage aufgerollt: welchen Charakter wird denn das Europa von morgen haben? Es ist doch nicht so, als ob die Gestaltung der europäischen Gesellschaft und der europäischen Staatenwelt nur ein innenpolitisches Problem der europäischen Gemeinschaft wäre, in dem wir uns für unbegrenzte Zeit entweder abwartend verhalten, halb entscheiden oder nicht entscheiden können. Um uns herum geht die Welt ja weiter. Wir sind hier in einem dynamischen historischen Prozeß, in dem wir entweder Objekte bleiben — und in noch größerem Maße werden — oder durch zu treffende Maßnahmen und nicht nur durch schöne Reden wieder Mitgestaltende werden können, wenn wir das Selbstbestimmungsrecht über uns behalten und das Mitbestimmungsrecht in uns lebenswichtig berührenden Fragen wieder — zum Teil jedenfalls — bekommen wollen.
Wir unterstützen selbstverständlich — das darf ich an die Adresse der Bundesregierung sagen — alles, was Sie unternehmen auf dem Wege zur Wirtschafts-und Währungsunion, zur Agrarunion, zur Sozialunion, auf dem Wege zu einer gemeinsamen Entwicklungspolitik. Das sind nicht die Fragen, in denen sich Regierung und Opposition in verschiedenen Meinungen oder gar etwa in harter Konfrontation gegenüberstehen. Nur erweckt die Regierung hier mit ihren Reden den Eindruck, als ob sie aus dem geschichtlichen Prozeß ausgetreten sei, einen Logenplatz einnehme und von da aus mehr oder minder interessiert zuschaue, wie das Weitere sich in der Welt abwickeln werde. Die Frage: wird dieses Europa ein amerikanisches Europa, soll es ein französisches Europa werden, oder wird es ein sowjetrussisches Europa?, ist doch nicht auf unbegrenzte Dauer hinauszuschieben. Die Antwort, die wir allegeben — so habe ich auch die Reden der Kollegen aus anderen Fraktionen verstanden --: was wir wollen, ist doch ein europäisches Europa, das kooperativ nach dem Osten schaut, aber in Lebens- und Wesensgemeinschaft und militärischer Sicherheitsgemeinschaft mit den USA, dem großen Partner jenseits des Ozeans in langfristiger Dauerverbindung stehen muß.
Hier — nicht in falschen Entscheidungen, sondern in den Versäumnissen — liegt das Hauptversagen dieser Bundesregierung, die sich so gerne darauf beruft: „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land", die nach dem Motto redet: „Wir sind wieder was geworden, wir haben wieder politische Handlungsfreiheit". — Ja, wo ist sie denn, diese politische Handlungsfreiheit? Sie ist sehr eingeschränkt, diese politische Handlungsfreiheit. Man hat die Ostpolitik damit begründet, daß sie uns die Handlungsfreiheit gebe, weil damit eine ganze Menge Ballast abgeworfen werden könne. Das wäre nur richtig, wenn es sich hier um die Liquidation der Vergangenheit handelte. Das wäre nur richtig, wenn diese Politik auf dem Hintergrund eines konsolidierten Westens, sowohl der europäischen Einheit als auch einer wieder konsolidierten atlantischen Gemeinschaft, getrieben werden könnte. Ich verstehe auch — ich weiß, das wird Protest und Widerspruch auslösen —, daß diese Bundesregierung nicht in der Lage ist, sich im Westen immer so zu verhalten, wie es vielleicht sogar ihrer Überzeugung, jedenfalls der sachlichen Notwendigkeit entsprechen würde; denn wer angesichts der immer mehr schwindenden Attraktivität, der fragwürdigen Methoden und der schrumpfenden Ergebnisse der Ostpolitik, der innenpolitisch gefährdeten Ostpolitik, weiterhin handlungsfähig sein will, der muß im Westen dann sehr, sehr kurze Schritte machen.Wenn ich das für mich allein sagen würde, könnte man sagen: typisch. Aber wir bekommen ja in letzter Zeit eine ganze Reihe höchstinteressanter Bundesgenossen, wenn z. B. nicht nur Professor Steinbuch sich in der diesem Hause bekannten Weise öfter äußert, sondern einer der echten Bewunderer, der intellektuellen Förderer und der geistigen Multiplikatoren der Regierungspolitik Brandt/Scheel — auch ihrer Ostpolitik --, Herr Golo Mann, jetzt auf einmal das entdeckt. Wir danken ihm sehr dafür, daß er den Mut hat, herauszutreten, den andere nicht haben, die zur gleichen Erkenntnis gekommen sind, den Mut, das zu sagen, was wir von Anbeginn in diesem Hause seit Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im Herbst 1969 gesagt haben.
Er hat in diesen Zusammenhang von „Ost-Locarno" gesprochen und hat geschrieben:Wußte man in Bonn genau und klar, was man mit den Ostverträgen wollte? Verfolgte man ambivalente, schwankende Ziele? Dies will ich gestehen: Hätte ich zur rechten Zeit den großen Plan Egon Bahrs gekannt, jene sogenannte Fallstudie, jenes historisch unsagbar unwissende Projekt eines Ost-Locarno, demzufolge nach
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6091
StraußAuflösung der beiden Militärblöcke die Russen der Bundesrepublik hätten zur Hilfe kommen müssen, wenn sie von den Polen angegriffen worden wären und umgekehrt, hätte ich dieses Knabenwerk gekannt, meine Befürwortung der Ostverträge wäre noch vorsichtiger umschrieben gewesen, als sie es war. Keine Außenpolitik kann beliebig viele Energien in beliebig vielen Richtungen verbrauchen.
Im Zusammenhang mit diesem Thema, das uns heute gestellt ist, möchte ich nicht die „Kriegsgeschichte" der letzten Jahre schreiben, sondern sagen, daß die Regierung die ganze Priorität, die ganze Kraft — soweit man bei dieser Regierung und ihrem Anhang im Volke heute noch von Kraft reden kann, aber dafür können Sie dann die Opposition als Hilfstruppe heranziehen heute auf die Konsolidierung des Westens konzentrieren muß, auf die Wiedererlangung von Fortschritten in Richtung europäischer Einheit und auf die Konsolidierung der Atlantischen Allianz.
Das ist ein großer Unterschied: West-Locarno oder Ost-Locarno! Aber das würde in die Geschichte führen.In dieser Zeit, in der größte europäische Einigkeit und stärkste atlantische Solidarität notwendig wären und praktisch das Gegenteil der Fall ist, laufen die Verhandlungen über SALT II, über die Beschränkung der strategischen Waffen zwischen USA und Sowjetunion, Verhandlungen, die für unsere zukünftige Sicherheit und für die Frage, ob dieses Europa europäisch werden wird und werden kann, von entscheidender Bedeutung sind. Wo ist die Stimme der Europäer? Auf militärischem Gebiet ist sie noch am ehesten zu hören. Es laufen aber auch die Verhandlungen über das, was man MBFR nennt — gegenseitige, ausgewogene Truppenreduzierung. „Gegenseitig" ist übriggeblieben. Von „ausgewogen' kann angesichts der Verhältnisse, in denen wir militärisch leben, ohnehin schon keine Rede mehr sein. Wenn es hier nicht wieder zu einem vollen Konsensus zwischen den Vereinigten Staaten und Europa kommt,
wird dieses Europa kein europäisches Europa mehr werden können, wird dieses Europa nicht über sich selbst und seine Zukunft bestimmen können.Ich kann deshalb auch nicht den französischen Außenminister verstehen bei allem Respekt vor seiner intellektuellen Brillanz und seiner rhetorischen Effizienz — wie er bei dieser Lage die Meinung vertreten kann, daß die Aufrechterhaltung der amerikanischen Truppenpräsenz keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung sei.
Denn die Sonderrolle, die Frankreich — ihm jedenfalls von allen zugestanden und von ihm beansprucht — in der Atlantischen Gemeinschaft spielen kann - eine Sonderrolle außerhalb der Militärorganisation —, kann angesichts der gegebenen militärischen Verhältnisse — Kollege Wörner hat gestern ja eingehend darüber gesprochen — doch nur weiterhin ohne tödliches Risiko für alle fortgesetzt werden, wenn amerikanische Truppen in der Masse auf deutschem Boden stationiert bleiben mit allen Konsequenzen, die damit verbunden sind. Sonst hört dieser Traum auch auf.
Ich darf eine für manchen vielleicht etwas selbstgefällig klingende Bemerkung machen. Ich habe im Juni 1966 in „US News and World Reports" ein Interview gegeben Interviews haben ja ihreeigenen Schicksale: habent sua fata libelli und habe damals eine ganze Menge Gegenwind geerntet, um noch den mildesten Ausdruck zu gebrauchen. Ich habe mir damals die Behauptung erlaubt, daß die moralischen und materiellen Konsequenzen des erst in den Höhepunkt tretenden Vietnam-Krieges die amerikanischen Reserven, die amerikanischen Möglichkeiten in einem Ausmaß strapazieren werden, daß die unausbleibliche Folge der immer stärkere Druck von amerikanischer Seite auf teilweisen Abzug ihrer Truppen sein würde.Ich habe vorher gesagt, ich hätte dafür viel Gegenwind bekommen. Man sagte, das wäre eine Beleidigung des amerikanischen Bundesgenossen, das wäre eine Störung der transatlantischen Beziehungen, das wäre eine Vergiftung der Verhältnisse. Wer damals die Dinge so beurteilt hat, daß der Vietnam-Krieg lange Zeit vor seinem Höhepunkt steht, lange Zeit kein Ende nehmen wird, entgegen den damals offiziellen Prognosen, wer im Jahre 1968 in den USA erlebt hat, wie sich dort das feeling of overcommitment, das Gefühl des Überlastetseins und zugleich das Gefühl des Alleingelassenwerdens zum ersten Mal stärker bemerkbar gemacht hat, der hat die ersten Anfänge des Problems erlebt, das uns heute gestellt ist und das gelöst werden muß, wenn diese europäische Gesellschaft in Freiheit überleben will.Sicherlich sind die Amerikaner keine Engel der Nächstenliebe, die nur um ihrer europäischen Freunde willen das Opfer bringen, Truppen in Europa zu stationieren; sicherlich vertreten sie ihre eignen massiven Sicherheitsinteressen, auch in Europa. Sie sind auch um ihrer selbst willen da und nicht um unserer blauen Augen oder der gemeinsamen Ideale willen. Aber es gibt in der Außenpolitik auch für parlamentarisch kontrollierte Regierungen keine unbeschränkte Handlungsfreiheit. Auch sie können nicht das, was sie sachlich für richtig halten, in unbegrenztem Maße fortsetzen.Ich meine damit etwas, was im amerikanischen Parlament — in beiden Häusern immer stärker aufkommt, in der amerikanischen Bevölkerung immer stärkere Resonanz findet: einen wachsenden Zug zum Isolationismus: Raus aus diesen Welthändeln, wir waren viel zu lange drin, haben uns viel zu sehr engagiert, haben viel zu viele Opfer gebracht. Die Frage, warum sie reingegangen sind, ob
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Straußsie es richtig gemacht haben, entzieht sich unserer Beurteilung, ist auch hier nicht gestellt. Jedenfalls: heraus! Kein amerikanischer Präsident kann sich auf die Dauer diesem Druck des Parlaments und der Öffentlichkeit entziehen, wenn nicht das Verhältnis zwischen den beiden Partnern zu beiden Seiten des Ozeans wieder in ein vernünftiges Gleichgewicht gebracht wird.
Gerade die Entwicklung der strategischen Waffen — wobei ich in der Hauptsache nicht etwa auf Waffen abstellen will — wird es den Amerikanern immer noch erlauben, ihre Selbstverteidigung durchzuführen, wenn wir bereits den Glückszustand genießen werden, von der Breschnew-Doktrin gegen jede gesellschaftliche Abweichung geschützt werden; zumindest was den außenpolitischen Einfluß anbetrifft.In dieser Zeit, wo die Verhandlungen über die strategischen Waffen, über den Truppenabzug laufen, sind die Europäer uneiniger denn je und schauen sich die Amerikaner und die Europäer mißmutig und manchmal gelegentlich sogar fast feindselig gegenseitig ins Gesicht. Daran ist die Bundesregierung nicht ganz unschuldig, weil sie den Part, den sie hätte spielen können und spielen sollen, aus einer Reihe von Rücksichtnahmen — ich habe sie vorher nur angedeutet nicht spielen wollte, jedenfalls nicht gespielt hat. Wenn ich das in einem Satz zusammenfassen darf: Die Bundesrepublik hat leider aufgehört, ein wirtschaftspolitischer, gesellschaftspolitischer und außenpolitischer Stabilisierungsfaktor in Europa und in der atlantischen Welt zu sein.
Und von dieser Verantwortung und dieser Teilschuld kann die Bundesregierung nicht freigesprochen werden.Die Regierung ist für alles. Sie ist selbstverständlich für einen guten Waffenstillstand im Nahen Osten. Dafür sind wir auch. Die Regierung ist dafür, daß alle Beteiligten in der Sicherheit anerkannter Grenzen leben dürfen. Da ist nur noch die unbedeutende Frage zu lösen, was anerkannte sichere Grenzen sind. Die Regierung ist auch so das Telegramm des Bundeskanzlers an den algerischen Präsidenten — für eine gerechte Regelung in der Sache der Palästinenser. Das sind auch wir. Da ist nur noch die unbedeutende Frage zu lösen, was man angesichts der wirklich gegebenen, tatsächlichen Verhältnisse darunter versteht. Die Regierung spricht in Brüssel meisterhaft für die europäische Einheit, und sie versichert die Franzosen der absolut treuen und loyalen Erfüllung des deutsch-französischen Vertrages und einer weitgehenden Konkordanz. Sie ist jetzt, durch die Wahlergebnisse in Großbritannien, wenn auch nur teilweise wieder beglückt, auch in der Lage, ihren britischen Partnern zu sagen, wie sehr unser Herz für die englischen Sorgen schlägt. Und es gibt keine rührenderen Sachwalter der atlantischen Allianz als die hohen Herren der Regierung, wenn sie das Weiße Haus betreten.Aber in dieser Zeit kann man nicht für alles sein, sondern in dieser Zeit muß man auch sagen, welche Prioritäten man hat und welche Aktionen und Initiativen man ergreift, auch wenn es dem einen oder anderen in dem Spiel nicht paßt, wenn man die eigenen Prioritäten wenigstens schrittweise durchsetzen will. Das ist die Aufgabe einer Regierung.
Herr Kollege Amrehn hat heute eine Reihe von Beispielen gebracht, welch schöne Pläne angekündigt und welche Initiativen verheißen worden sind, und es war die Rede davon, daß da und dort großartige Erklärungen abgegeben und faszinierende Reden gehalten worden sind. Das ist ohne Zweifel eine Stärke des Bundeskanzlers, daß er durch verbale Kraftakte auch heute noch, wenn auch in schwindendem Maße, in der Lage ist, das Vakuum zu überdecken, das heute seine Politik darstellt und das er um sich geschaffen hat. Aber auf die Dauer geht das nicht; denn es ist nicht der geschichtliche Nachruf dieser Regierung zu schreiben, sondern es sind die Lebensgrundlagen wenigstens des freien Deutschland zu sichern und die Chancen dafür, daß der andere Teil Aussicht hat, nach Ende eines geschichtlichen Prozesses wieder mit dem freien Europa ver- einigt zu werden.Ich bin nicht der Meinung, daß am deutschen We- sen die Welt genesen kann. Ich bin nicht der Meinung, daß wir uns etwa die Rolle anmaßen könnten, wie sie Bismarck 1877 beim russisch-türkischen Krieg und bei 'der Drohung eines englisch-russischen Krieges damals in der Berliner Konferenz als „ehrlicher Makler" gespielt hat. Aber die Bundesrepublik Deutschland hat sowohl in der Europäischen Gemeinschaft wie, was ihre frühere Glaubwürdigkeit in der atlantischen Allianz anbetrifft, eine Position, die, wenn sie sich nicht von falschen Rücksichtnahmen leiten läßt, eingesetzt werden kann, sich einsetzen läßt, um den Zug wieder in Bewegung zu setzen, den Zug zur europäischen Einheit und das Schiff zur Konsolidierung der atlantischen Allianz. Aber das ist im Laufe der letzten Jahre und Monate schlechterdings ignoriert worden.Ein amerikanischer Abgeordneter, der sich durch einen Entwurf eines in Europa mit großer Kritik beurteilten Gesetzes einen Namen gemacht hat — ich meine Wilbert Mills —, hat am 21. März 1973 im US-Repräsentantenhaus folgenden Ausspruch getan: „Es besteht die ernste Gefahr, daß die Bemühung um ein stabiles, friedliches, zivilisiertes System in der Welt nicht durch Kriege zwischen alten Feinden, sondern durch Streitigkeiten zwischen alten Freunden bedroht wird." Am 21. März 1973, also mehr als ein halbes Jahr vor der Krise, die im Nahen Osten Anfang Oktober ausgebrochen ist!Wenn wir uns an den Fortgang der Dinge erinnern, dann können wir — und das möchte ich an ,die Adresse des Bundeskanzlers sagen — die Zusammengehörigkeit von drei Problemen nicht einseitig leugnen oder außer Kraft — ich hätte beinahe gesagt: außer Tatsache — setzen, nämlich die Zusammengehörigkeit der Währungsprobleme, der Handelsprobleme und der Verteidigungsprobleme. Ich
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Straußbin nicht der Meinung, daß, wenn man von einem redet, die beiden anderen immer ebenfalls einer gründlichen Analyse unterziehen und gleichzeitig verhandeln muß. Aber wenn man ein Teilproblem behandelt — eines der drei —, muß man in der Gesamtschau immer gleichzeitig die beiden anderen im Auge haben; denn unsere amerikanischen Partner lassen nicht den leisesten Zweifel daran, daß das Auseinanderklaffen der Politik auf diesen drei Gebieten, die Nichtanerkennung der Zusammengehörigkeit dieser drei Probleme und die Unauflöslichkeit in einem Paket, eine der schweren Belastungen des europäisch-amerikanischen Verhältnisses gewesen ist, lange bevor es den Höhepunkt im Herbst letzten Jahres durch das Verhalten der Europäer bei diesem kriegerischen Konflikt zugestrebt ist.Ich erinnere hier an das, was damals Staatssekretär Peterssen als der Sonderbotschafter des Weißen Hauses allen, auch Ihnen, Herr Bundeskanzler, auch den Politikern der Opposition, auf deren Information man dort — im echten Sinn des Wortes — wirklich Wert legt, zur Begründung der Einheit dieser drei Probleme gesagt hat. Wir hätten Herrn Peters-sen sicherlich nicht haben müssen, um die Einheit zu begreifen; aber die Bundesregierung hat ihn gehabt und hat es trotzdem nicht begriffen, jedenfalls nicht anerkannt.Die Wurzel des Übels ist der Verfall der amerikanischen Zahlungsbilanz. Ohne eine Wiederherstellung einer aktiven amerikanischen Zahlungsbilanz ist an eine Reform des Weltwährungssystems nicht zu denken. Die Gesundung der amerikanischen Zahlungsbilanz und die Ansammlung von Währungsreserven ist die Voraussetzung dafür, daß die USA auch auf wirtschaftlichem Gebiet wieder voll funktionsfähig werden.Warum ist die amerikanische Zahlungsbilanz in Verfall geraten? Daran sind nicht speziell wir schuld — das möchte ich auch in dieser analytischen Darstellung nicht behaupten —, sondern es ist einmal die Tatsache, daß diese EWG ihre Entwicklung genommen hat, was ihr gutes Recht war, und dabei niemals nach außen geblickt hat. Man hat uns doch entgegengehalten: Die EWG hat heute sechs Länder, sie wird bald neun Länder haben, sie hat ihre assoziierten Gebiete, sie hat ihre Vorzugsbereiche, sie hat ihre Entwicklungsländer, mit denen sie Sonderabkommen schließt, die Länder des Jaunde-Abkommens. Das heißt, wo immer die Europäer Handel in diesem Bereich treiben, vertreiben sie den amerikanischen Export. Wir sind über diesen Export glücklich, im Gegensatz zur Bundesregierung, die seit langer Zeit seine Minderung als ein volkswirtschaftlich wichtiges Ziel vertritt.Außenpolitisch sieht die Sache doch so aus, daß die Außenhandelspolitik dieser Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Vereinigten Staaten von Amerika schwer getroffen hat. Die Amerikaner sind ohne jeden Zweifel bereit, das hinzunehmen, aber nicht um den Preis, daß die Europäer wirtschaftlich harte Konkurrenten und militärisch nicht ausreichend genug kooperative Partner sind. Das Auseinanderklaffen zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und der Bereitschaft zu weltpolitischerVerantwortung mit entsprechender militärischer Gemeinschaftsleistung hat zu einer Spannung geführt, die auch ohne den Ausbruch des Nah-Ost-Krieges bestanden hätte. Sie hätte nur vielleicht nicht so schnell so hitzige Reifegrade erreicht, wie es der Fall ist.Zu den Problemen der Agrarmärkte hat sich erst gestern Präsident Nixon in dem Sinn sehr bitter geäußert, daß hier eine Lösung gefunden werden müßte. Das wird ein sehr schwieriges Problem sein. Da werden andere europäische Partner wahrscheinlich mehr Schwierigkeiten machen, als wir sie etwa auf Grund unserer Lage machen würden. Aber die Tatsache, daß die EWG introvertiert war, auf ihre Innenpolitik geblickt hat und auch ihre handelspolitische Ausdehnung immer unter dem Gesichtspunkt der Binnenwirtschaft und nicht der außenpolitischen Verpflichtungen gesehen hat, hat das Verhältnis zwischen den USA und Europa in diesen notleidenden Zustand gebracht.Das zweite, was die Amerikaner in dem Zustand natürlich sagen, ist: Nicht nur die starke Konkurrenz der wirtschaftlich erstarkten Europäer, sondern die ungleiche Verteilung — wie soeben erwähnt — der Verteidigungslasten führt dazu, daß wir so nicht mehr weitermachen können. Darum ist eine Neufassung der Grundlagen der atlantischen Gemeinschaft durch keine verbale Leistung mehr etwa hinauszuschieben oder überhaupt als Problem etwa zu beseitigen" darüber soll man sich endlich einmal im klaren sein.
Dann werden die bitteren Konsequenzen kommen, daß manche unserer, uns allen am Herzen liegenden innenpolitischen Ziele nicht verwirklicht werden können, weil die Europäer, wenn sie die volle Kooperation der Amerikaner auf sicherheitspolitischem Gebiete weiterhin haben wollen, wieder einen größeren Teil ihres Sozialprodukts für weltpolitische Verantwortung werden aufbringen müssen, als sie es bisher getan haben oder in Zukunft offensichtlich tun wollen. Wenn das nicht aus der Welt geschafft wird — ich habe auch kein Patentrezept dafür, aber das muß einmal angesprochen werden —, gibt es keine Konsolidierung der Atlantischen Allianz.Dabei muß ich der Bundesregierung zugestehen, daß sie die Tradition ihrer Vorgänger, nicht nur guten Willen zu zeigen, sondern auch materielle Leistungen für die Stationierung amerikanischer Truppen zu erbringen, auch durch den Abschluß des letzten Abkommens bewiesen hat.
— Ich habe nie etwas anderes gesagt, Herr Kollege Wischnewski. Die Präsenz der amerikanischen Truppen ist nicht eine Frage, die allein zwischen den USA und Deutschland liegt; die Präsenz der amerikanischen Truppen - wie von vielen Rednern erwähnt und von mir in einem Zusammenhang auch vorhin besonders herausgestellt - ist eine Sache, die ganz Europa angeht.
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StraußWenn die Amerikaner 320 000 Mann auf europäischem Boden haben — davon 200 000 auf deutschem Boden, wobei die Bundesrepublik der einzige Staat ist, der Devisenausgleichsbeträge zahlt, zum Teil auch Stationierungskosten, wenn auch in verkleideter Form; ich sage ja nichts dagegen —, dann muß dieses Problem einmal der deutsch-amerikanischen Bilateralität entkleidet werden.
Das ist ein Gemeinschaftsproblem der europäischen Gruppe der NATO und muß als gemeinschaftliche Verpflichtung angesehen werden.
Natürlich wird der mit den größten Währungsreserven das sind wir, nicht zuletzt infolge unseres hohen Exports — hier am stärksten auch herangezogen werden müssen. Doch muß der Grundsatz, daß es ein europäisches Problem ist, eine europäische Verpflichtung sein muß, auch in Zukunft stärker zur Geltung kommen, Bebst wenn die materielle Last in der Hauptsache bei uns liegt.Heute ist schon die Rede Kissingers vorn April letzten Jahres erwähnt worden. Die Antwort, die die Europäer darauf am Anfang gegeben haben, reichte von ironischer Abwertung bis hin zu offener Feindseligkeit und nur gelegentlich objektiver Würdigung. Wer die Verhältnisse kennt, wie sie sich zwischen Amerika und Europa entwickelt haben, konnte zwar nicht den Tag wissen, aber die Tat- sache voraussagen, daß eine solche Stellungnahme erfolgen würde — von Kissinger formuliert, aber hinter dem Namen war Nixon, war der amerikanische Präsident zu sehen. Und das war nicht etwa ein Ablenkungsmanöver für innenpolitische Vorgänge, sondern das war und ist bitter ernst gemeint.Herr Kollege Wehner, Sie würden das Wort vom Monstrum — Sie haben es heute in einer Frage noch einmal gebraucht — lieber auch nicht gesagt haben, das Sie verwendeten, als Sie damals in Schweden Ihren Groll äußerten, so wie die Bundesregierung ja ihre Stellungnahme geändert hat: von der Zustimmung der beiden Regierungssprecher — allerdings nicht legitimiert, dann zurückgepfiffen — hin zu einer sehr höflichen oder weniger höflichen Distanzierung.Eines werfe ich dieser Bundesregierung vor: daß sie nichts getan hat — über Monate hinweg —, um eine würdige, den geschichtlichen Notwendigkeiten entsprechende Antwort der Europäer zustande zu bringen.
Wenn Sie mich hier, Herr Kollege Scheel, auf die Kopenhagener Antwort verweisen, dann ist das ungefähr die billigste Formulierung auf dem Boden des niedrigsten Nenners geringer gemeinsamer Überzeugungen. Diese Antwort ist auf der anderen Seite des Ozeans überhaupt nicht gehört, geschweige denn ernst genommen worden. Die Antwort steht immer noch aus, und die Antwort muß kommen.Wenn der eine oder andere europäische Partner noch nicht so weit sein sollte, dann muß die Bundesregierung ganz klar sagen, wo ihre Prioritäten lie- gen. Selbstverständlich: Fortsetzung des Gemeinsamen Marktes, der Wirtschafts- und Währungsunion, selbstverständlich Bemühungen um eine gemeinsame Außenpolitik. Aber man darf sich nicht hinter Europas Uneinigkeit als Gemeinschaftsleistung verstecken, wenn man einer Antwort an die USA ausweichen will; das ist hierbei das entscheidende Problem.
Was in der Zwischenzeit gesagt worden ist, gerade nach diesem Kriege mit seinen schrecklichen Verlusten und Opfern, hätte normalerweise alarmierend wirken sollen, wenn die Europäer sich weniger mit ihrem Seelenleben und mehr mit ihrem außenpolitischen Schicksal befassen würden. Ich meine die Äußerungen Kissingers, daß die Europäer in der Krise eine destruktive Rolle gespielt hätten, die Sowjetunion eine konstruktive Rolle, oder die Äußerungen vor kurzem: „Die USA werden leichter mit den Gegnern fertig, als daß sie mit ihren Verbündeten zurechtkommen", oder was der amerikanische Präsident sagte: „Man kann nicht Konfrontation in der Wirtschaft und in der Politik machen und bei der Verteidigung nach Kooperation rufen. Man muß Kooperation bei Wirtschaft, Politik und Verteidigung von Europa aus betreiben."Wo der eine oder andere europäische Partner vielleicht in anderer Bewertung seiner interessen — obwohl wir alle Gemeinschaftsinteressen höher stellen sollten als nationale Interessen — eine andere Meinung vertritt, sollten wir keinen Hehl daraus machen, was wir mit erster Priorität ausstatten würden. Wir sollten keinen Hehl daraus machen, was wir im europäischen Interesse — und nicht als deutscher Alleingang — im Sinne geschichtlicher Lebensnotwendigkeit für erforderlich halten. Denn — ich glaube, auch meine Vorredner, vor allem Kollege Carstens, haben das gesagt so kann es nicht weitergehen. Hier kann die Bundesregierung nicht innerhalb der Gemeinschaft eine Rolle spielen, die etwa der von Luxemburg entspricht, aber gleichzeitig für sich eine Würdigung beanspruchen, die der einer Großmacht zukommt.Als Kissinger letztes Jahr in seiner Rede von der „globalen Verantwortung der drei Weltmächte" sprach — USA, Sowjetunion und Volksrepublik China — und von der regionalen Verantwortung anderer Staatengruppen — er nannte die Europäer und meinte sicherlich auch die Japaner —, da war große Empörung. Ich weiß noch, als der Bundeskanzler damals nach den USA fuhr, da kamen, wenn man auch nicht alle Artikel gleich für bare Münze nehmen soll, schon sehr große Töne aus hohem Munde und vor allen Dingen aus dem Munde der Schleppenträger darum herum,
man habe die Amerikaner einmal ordentlich zurBrust genommen, um sie in ihrem Leid zu trösten;aber man müsse jenseits des Ozeans verstehen, daß
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Straußdie Europäer nunmehr eine werdende Großmacht seien.
Sie hätten zwar noch nicht die staatliche Einheit vollendet, aber man solle endlich einmal zur Kenntnis nehmen, daß das emanzipierte Europa in eigener Sprache spreche und seine eigenen Interessen vertrete.
Meine Damen und Herren, ich bin auch in der internen Auseinandersetzung in diesen Jahren — ich habe auch meine Meinung dazu nicht geändert — immer mehr als ein sogenannter Gaullist bezeichnet worden denn als ein Atlantiker. Alle solche Ausdrücke sind natürlich Übertreibungen und Verzerrungen, aber der Einfachheit halber sei es hier einmal erwähnt. Ich habe auch nie einen Zweifel daran gelassen, daß mir die Abhängigkeit der Europäer von der amerikanischen Innenpolitik - ich sage es jetzt in Kurzfassung — auf die Dauer unerträglich erscheint, daß die Notwendigkeit, sich von Amerika stärker unabhängig zu machen, für uns ein lebensnotwendiges geschichtliches Gebot ist. Aber wer mehr Unabhängigkeit will, wer ein europäisches Europa schaffen will, der kann nicht die Vorposten eines Kraftzentrums zum Abzug bringen und selbst kein Kraftzentrum aufbauen, weil er sonst die todsichere Gefahr läuft, zum Opfer des anderen Kraft- und Gravitationszentrums zu werden, nämlich Moskaus.
Die Rede Kissingers vorn 23. April letzten Jahres war nur der Auftakt; der Höhepunkt waren die Vorgänge um die Krise. Kollege Carstens hat es gesagt. Die Vorgänge sind so bedeutsam und tiefgreifend, daß sie nicht oft genug erwähnt werden können. Was heißt denn europäische Großmacht? Was heißt denn europäische Politik, was heißt denn europäisches Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsrecht, wenn wir außer verbalen Beschwichtigungsphrasen mit Gemeinplatzcharakter nichts aufzubringen hatten, um die Ausdehnung eines Brandes vor unserer Haustüre durch unseren politischen Einfluß verhindern zu können? Was heißt da noch „europäische Politik"?Hier tritt wiederum dieser unerträgliche Gegensatz zwischen ökonomischer Starke — 50 % der Währungsreserven, über 40 °/o des Welthandels in europäischen Händen und weltpolitischer Verantwortungsunfähigkeit und Partnerschaftsunfähigkeit zutage. Wenn wir das nicht hier sagen — und was ich sage, ist keine Anklage polemischer Art oder bissiger Art — und wenn wir jenseits des Ozeans nicht zu erkennen geben, daß wir das Problem kennen und bereit sind, es als deutsche Parlamentarier offen anzusprechen, dann versäumen wir die Chancen der Ansätze zur Wiederherstellung einer Vertrauensbasis zwischen den beiden großen Gruppen dieser atlantischen Gemeinschaft.
Ich darf zusammenfassen, was ich vorzuwerfen habe und was ich vorzuschlagen habe.Die Bundesregierung hat versagt.
— Sic können durch Ihr Gelächter die Meinung der Wähler nicht ändern.
Sie können durch Ihre Unfähigkeit zur Einsicht nichtdas Davonlaufen führender Träger des deutschenGeisteslebens etwa ausgleichen. Sie sowieso nicht.
Die Bundesregierung hat versagt. Ich fasse hier zusammen:Erstens. Sie hat keine Pläne für die politische Union Europas vorgelegt, nur angekündigt.Zweitens. Sie hat nichts getan, um eine würdige, vor der Geschichte vertretbare Antwort auf das Angebot Kissingers vom April letzten Jahres herbeizuführen.Drittens. Sie hat sich in der Krise, da Europa gewogen wurde, des Ernstes der Situation unwürdig und ihr nicht gewachsen gezeigt.Viertens. Sie hat versagt, als sie es versäumte, das volle Gewicht der Bundesrepublik Deutschlandauf das man sich ja immer beruft — in die Wang-schale zu werfen, um die atlantische Konfrontation, den Zusammenstoß zwischen USA und Europa zu verhindern.Und sie hat nichts getan, um den wuchernden europäischen Antiamerikanismus durch ihre Haltung zu überspielen. Da müssen Sie auch in die Reihen Ihrer eigenen Partei tief hineingreifen.Man traut der deutschen Regierung weder in Washington noch in Paris, offensichtlich auch in Moskau nicht ganz, und noch weniger in Peking. Sie haben sich so ziemlich zwischen alle Stühle gesetzt. Daran ändern auch alle diplomatischen Höflichkeitsformulierungen nichts.Die Bundesregierung hat versagt, als sie es versäumte, Farbe zu bekennen, wo man von uns verlangte, uns zwischen Paris und Washington zu entscheiden. Die großen Probleme sind jedenfalls nicht gegen USA lösbar. Und sie hat versagt, als sie es versäumte, durch eigene Initiativen die Lähmung der Beziehungen zwischen USA und Europa und in Europa zu überwinden.Wir fordern die Bundesregierung auf, erstens unverzüglich das so lange vernachlässigte Instrument des deutsch-französischen Vertrages zu benutzen, nicht nur um zu konsultieren in schönen Gesprächen mit Communiqués, sondern mit dem Ziel, zu einer gemeinsamen Politik zu gelangen, das heißt, notfalls auch harte Verhandlungen zu führen, auch wenn man am Ende eines solchen Treffens nicht immer zu einer dann in der Substanz nicht wahren schönen Formulierung der wie immer erzielten Einigung gelangen kann.
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StraußZweitens. Wir schlagen die sofortige Wiederaufnahme der vor 13 Jahren, im April 1961, gescheiterten Verhandlungen über den Fouche-Plan vor; darüber ist heute schon gesprochen worden. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Vollendung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion mit allem Nachdruck zu betreiben. Wirtschaftliche Leistungen nach dem Osten hin haben so lange keine Berechtigung, als nicht das wirtschaftliche Gewicht der Bundesrepublik eingesetzt wird, um in Europa die Voraussetzungen zu schaffen, die Einheit dieses westeuropäischen Teils des Kontinents zu schaffen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, den von der CDU/CSU seit Jahren befürworteten Vorschlag nicht mehr zu verhindern — was Sie jetzt doch wieder tun wollen -, nämlich die deutschen Abgeordneten zum Europäischen Parlament mit Direktwahl zu entsenden. Wir fordern die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen,
daß die Vereinigten Staaten endlich eine würdige Antwort auf das Angebot einer Neuformulierung der atlantischen Kooperation erlangen.
Und wir fordern die Bundesregierung auf, mit aller Klarheit und allem Nachdruck dafür einzutreten, daß hier nicht die Wahl zwischen amerikanischem oder französischem Europa — mit der Wahrscheinlichkeit eines russischen Europa — steht. Der, der in größerem Maße unabhängig von Amerika werden will, muß für ein europäisches Europa sorgen. Das ist die geschichtliche Forderung, die heute an alle politisch verantwortlichen Kräfte in der Bundesrepublik gestellt ist. Wenn heute von dieser parlamentarischen Debatte auf beiden Seiten des Atlantiks — und sie wird beachtet, das wissen wir, und davon sind wir überzeugt — die Gewißheit ausgeht, daß die Bundesrepublik zu ihrer geschichtlichen Funktion zurückfindet, daß sie nicht unter den Schatten der Vergangenheit leidend, aus der Geschichte austretend die Alternative zur Vergangenheit in der Flucht in die Unpolitik von morgen sieht, dann kann aus dieser Debatte, aus einer der vielen Debatten, die wir geführt haben und von denen dies die vorläufig letzte ist, wieder ein Ansatz zur Heilung der Probleme erwachsen, ohne deren Lösung der freie Teil Europas nicht unbegrenzt in Freiheit wird überleben können.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen meines Herrn Vorredners können mich nicht davon abhalten festzustellen, daß auch aus meiner Sicht das Geschehen der letzten Monate in Europa und in der Welt besorgniserregend genannt werden muß.Es erfüllt mich mit Sorge, daß das westliche Europa nicht fähig war, auf die Energiekrise einheitlich zu reagieren, ja, daß die in 15 Jahren, wenn auch widersprüchlich gewachsene Europäische Gemeinschaft selbst angesichts der neuen Probleme nicht frei war und nicht frei ist von der Gefahr der Rückentwicklung.
Ich sehe mit Sorge, daß zwischen Europäern und Amerikanern unangenehme, peinliche Kontroversen, auch kleinliche Sticheleien ausgetragen wurden und ausgetragen werden. Anlaß zur Sorge ist auch das Mißtrauen, Herr Kollege Strauß, mit dem mancherorts der Dialog unserer amerikanischen Hauptverbündeten mit der Führung der Sowjetunion begleitet wurde und begleitet wird.
Lassen Sie mich zu diesen Punkten folgendes in aller Deutlichkeit feststellen:Erstens. Die Organisation der europäischen Einigung bleibt unser geschichtlicher Auftrag. Jeder Versuch aber, dieses Europa gegen Amerika organisieren zu wollen, würde unsere Zustimmung nicht finden können,
Zweitens. Ausgleich und Freundschaft mit unseren französischen Nachbarn bleiben das Kernstück des europäischen Einigungswerkes. Eine Wahl zwischen Washington und Paris wollen und werden wir uns dabei nicht aufzwingen lassen.
Drittens. Das Bemühen um Entspannung, um Kooperation zwischen den Staaten in Ost und West, um zunehmende Friedenssicherung steht nicht im Gegensatz zur atlantischen Zusammenarbeit und zur westeuropäischen Einigung, im Gegenteil, unsere Ostpolitik oder das, was man so nennt,
hat im Westen begonnen und wird immer im Westen verankert bleiben,' meine Damen und Herren.
Daran ändert auch nichts, daß die CSU, deren Vorsitzender hier gesprochen hat, und ein beträchtlicher Teil der CDU,
was diesen ganzen Sektor der Politik angeht, wieder bei ihrem sterilen Nein gelandet sind. Damit müssen Sie fertig werden.
Viertens. Europa wird nicht von allein.
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Bundeskanzler BrandtSchon als Wirtschaftsgemeinschaft bedarf es immer wieder neuer Impulse.
Ein automatischer Übergang von der wirtschaftlichen zur politischen Organisation hat nicht stattgefunden, und es wird ihn nicht geben.Europa braucht aber nicht nur Ungeduld, Europa braucht auch Zeit.
Mit Pathos und Beschwörungen und sogar mit Verfassungsentwürfen werden wir die vor uns liegenden Schwierigkeiten nicht meistern.
Was uns abverlangt wird, ist tägliche zähe Arbeit.
Dabei darf man das Ziel ganz gewiß nicht aus dem Auge verlieren.Es sind nicht spezifisch 'deutsche, sondern allgemein westliche und allgemein europäische Sorgen, die mich heute an diesen Platz geführt haben. Unsere :Beziehungen zu den einzelnen Hauptstädten sind ungetrübt, vielfach ausgezeichnet. Aber so unangebracht es wäre, dies in Zweifel ziehen zu wollen, so angebracht ist es, hinzuzufügen: Die Tatsache, daß unsere bilateralen Beziehungen in Ordnung und, wie ich nochmals sage, weithin ausgezeichnet sind — so hat es der amerikanische Außenminister bei beiden Besuchen im Laufe eines Monats in Bonn von sich aus gesagt —,
kann uns nicht befriedigen; denn der Hintergrund, auf dem sich die bilateralen Beziehungen abspielen, ist alles andere als befriedigend. Es ist notwendig, dies in aller Deutlichkeit festzuhalten.Ich füge ohne Schärfe, jedoch mit Nachdruck hinzu: Die in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft politisch Verantwortlichen werden im Laufe dieses Jahres, also 1974 — nicht irgendwann —, nicht nur gerade noch rechtzeitig erkennen, sondern auch handeln müssen. Sie würden ihren Völkern viel schuldig bleiben, wenn sie 'die Dinge weiter treiben ließen, wie es in der letzten Zeit auf vielen Gebieten geschehen ist.Was die Völker in diesem Teil in der Welt und darüber hinaus nicht brauchen können, ist der Rückfall in Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen des vergangenen Jahrhunderts oder jene Zersetzung, zu der übertriebenes Mißtrauen und engstirniger Nationalismus zwangsläufig führen. Was die Staatengemeinschaft braucht, meine Damen und Herren, ist eine Wiederbelebung der gut en Praktiken — ich unterstreiche: 'der gut en Praktiken —, die nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt wurden, ergänzt um die Erfahrungen, die aus dem kalten Krieg abgeleitet werden konnten und mußten und die aus den die gesamte Menschheit, nicht nur dieakut hungernden Völker, bedrohenden Gefahren zusätzlich abgeleitet werden müssen.Es geht also um die Lösung der vielfach neuen Probleme im Innern und um die Behauptung nach außen in der sich so rasch verändernden Welt.Ich nehme in Kauf, mit dem, was ich dazu jetzt sagen will, dem einen oder anderen aufdringlich zu erscheinen. Aber mir kommt es darauf an, dringlich und eindringlich hierzu zu sprechen. Ich hoffe, daß dies bei unseren Freunden draußen gehört wird.Die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland überschätzen und übernehmen sich nicht, aber sie entziehen sich auch keiner der Pflichten, die sie als Europäer, als loyale Bündnispartner, als Verfechter einer konstruktiven Friedenspolitik haben, und sie werden diesen ihren Pflichten nachgehen, auch wenn eine Debatte wie diese sie dabei nicht sonderlich unterstützt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier nach vielen aufgeregten und verwirrenden Meldungen der letzten Wochen zum europäisch-amerikanischen Verhältnis folgendes feststellen:Es gibt aus unserer Sicht und Verantwortung und aus unserer Überzeugung keine europäische Einheit, die auf die atlantische Sicherheit verzichten könnte. Ein lebensfähiges atlantisches Bündnis kann auf die Einigung Europas nicht verzichten. Andererseits: Ein, wie man sagt — und warum nicht? —, europäisches Europa ist nicht die Alternative zur atlantischen Allianz, sondern — wie man ebenfalls sagt, und zwar kürzlich auch in Paris — der zweite starke Pfeiler, den diese atlantische Allianz braucht, wenn sie die Prüfungen dieses Jahrzehnts bestehen will.Ich 'begrüße es, daß der Präsident der Vereinigten Staaten die europäisch-amerikanische Allianz wiederum als wichtig für den Weltfrieden und für die Vereinigten Staaten von Amerika bezeichnet hat. Das ist auch unsere Überzeugung. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Europa und Amerika muß über das offensichtlich gemeinsame Interesse auf dem Gebiet der Sicherheit hinaus alle wesentlichen Bereiche der gegenseitigen Beziehungen umfassen. Und zu dem nicht Überwiegenden aus den Ausführungen meines Vorredners — womit ich mich ausdrücklich einverstanden erkläre — gehört der in diesem Zusammenhang gebrachte Hinweis auf die unlösliche Verbindung der währungs-, handels- und sicherheitspolitischen Fragen in diesem Zusammenhang. Dabei gilt es, darauf zu achten, daß die Eigenständigkeit der europäischen Entscheidungen und der Gleichklang von Amerika nebeneinander gewahrt bleiben.Wenn Amerika und Europa die beiden 'Pfeiler der atlantischen Zusammenarbeit 'bilden, dann darf es weder ständige Konfrontationen noch kann es Unterordnung geben. Ich scheue mich nicht, in diese Betrachtung den altmodischen Begriff der Rücksichtnahme einzuführen und füge gleich hinzu, daß dies natürlich keine Einbahnstraße ist. Gegenseitige Achtung und Rücksicht auf die jeweiligen Stand-
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Bundeskanzler Brandtpunkte sind erforderlich und möglich, wenn Information und Konsultation gut funktionieren.
Ich habe vor Jahr und Tag den organischen Dialog zwischen Europa und Amerika gefordert und immer wieder Vorschläge dazu gemacht, Vorschläge, von denen heute schon zu Recht gesagt wurde, daß sie zunächst nicht überall viel Zustimmung gefunden haben. Ein solcher Dialog muß zu einem Ausgleich verschiedener Interessen und zur Annäherung unterschiedlicher Meinungen führen. Es liegt auf der Hand, daß die Europäer dabei nicht immer den amerikanischen Standpunkt übernehmen können. Aber noch sicherer ist es für mich, daß sie diesen Standpunkt nicht durchweg abzulehnen haben werden.Im übrigen irrt mein Herr Vorredner mit dem, was er über die Antwort — und wie er es nennt, eine angemessene Antwort — auf die Rede des jetzigen amerikanischen Außenministers vom 23. April 1973 gesagt hat. Eine Woche, nachdem diese Rede gehalten wurde, haben der Bundesaußenminister und ich, nämlich am 30. April und am 1. Mai vergangenen Jahres, als die ersten Partner aus Westeuropa hierüber mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und seinem damaligen Sicherheitsbeauftragten und dem damaligen amerikanischen Außenminister gesprochen. Seitdem — darüber können sich doch die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses im einzelnen informieren, wenn sie es nicht längst wissen — ist doch kein Monat, nein, keine Woche vergangen, in der nicht, weithin gestützt auf deutsche Initiativen, auf deutsche Vorschläge, über zwei Dokumente zwischen der amerikanischen Regierung und den europäischen Regierungen verhandelt worden ist — nein, nicht nur den europäischen Regierungen, denn bei dem einen Dokument, dem, das eigentlich direkt anknüpft an die damalige Kissinger-Rede in New York, geht es ja um eine Neubeschreibung, eine Bestätigung, eine Weiterführung der atlantischen Allianz.Da sind neben den Neun der erweiterten Gemeinschaft noch andere Europäer beteiligt, wie wir wissen, außerdem jenseits des Atlantik noch die Kanadier. Aber es lag aus unserer Sicht und nicht von vornherein gleichermaßen — was ich niemandem übelnehme — nicht so sehr auch im Sinne der amerikanischen Anregung, daß parallel dazu das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und den neun Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft politisch, aber auch daraus herauswachsend zusätzlich sicherheitspolitisch beschrieben werden müßte.Es kann doch nun wirklich niemand bestreiten, das dies Gegenstand intensiver Beratungen während all dieser Monate gewesen ist. Niemand, der sich die Mühe macht, sich zu informieren, wird auch sagen können, die Bundesregierung habe sich hierum nicht intensiv und energisch bemüht. Man kann uns alles mögliche vorwerfen — das ist das gute Recht der Opposition —, aber man soll nicht auf diese Weise,wie es hier eben geschehen ist, die Wahrheit auf den Kopf stellen, meine Damen und Herren!
Ich habe eben schon darauf hingewiesen, daß westeuropäische Einigung und Zusammenarbeit zwischen Ost- und Westeuropa sich nicht widersprechen. Im Gegenteil, wir sehen die westliche Einigung als gute Voraussetzung für die allmähliche Entwicklung einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit dort, wo diese von der Sache her möglich ist. Auf diesem Gebiet hat es Erwartungen, natürlich auch Enttäuschungen gegeben, aber doch auch unverkennbare erste Ergebnisse. Sie gilt es konsequent weiterzuverfolgen und auszubauen.
Ist es nun, so möchte ich fragen, aus europäischer Sicht geboten, dem amerikanisch-sowjetischen Dialog mit Mißtrauen oder gar mit Feindseligkeit zu begegnen? Nein, ich meine, dies sei nicht nur nicht geboten, sondern es sei auch in keiner Weise berechtigt. Gewiß, die Europäer müssen aufpassen, daß ihre aktuellen und künftigen Interessen gewahrt bleiben; aber sie müssen auch achtgeben, daß sie selbst und andere nicht durch mißverständlichen europäischen Eifer zu unvernünftigen Aktivitäten gedrängt werden.Nehmen wir die Mittelmeer- und Nahostpolitik: Es bedarf keiner näheren Begründung, wie starke Interessen hier aus europäischer Sicht im Spiel sind. Zweifellos wäre es gut und läge es im Sinne einer friedensstabilisierenden Politik, wenn Europa in dieser Nachbarregion am anderen Ufer des Mittelmeers politisch stärker präsent wäre und wirksamer sein könnte, als das heute der Fall ist. Niemand kann es auch den Europäern verübeln, wenn sie gewissermaßen vor der eigenen Haustür — besser, wie ich eben zu sagen versuchte, von dieser Seite des Mittelmeeres aus — bemüht sind um den Frieden, um wirtschaftlichen Austausch, ja auch um 01, um die Zusammenarbeit mit den arabischen Staaten, mit Israel, mit allen Völkern dieser großen und bedeutenden Region.
Nur: Europa darf seine Aufgabe natürlich nicht darin sehen, die Friedensbemühungen anderer, schwer wie sie sind, noch schwerer zu machen oder zu komplizieren.
Nebenbei gesagt: mein Vorredner hat die Frage gestellt, ob es nicht an der Zeit sei, die europäischen und die amerikanischen — oder in umgekehrter Reihenfolge: die amerikanischen und die europäischen — Auffassungen und Positionen zu den Verhandlungen über die Begrenzung strategischer Waf-ten — das, was man SALT nennt, SALT II — und über den möglichen Abbau von Truppenstärken in Europa — das, was man MBFR nennt — wieder auf einen Nenner zu bringen. Diese Frage geht an der Wirklichkeit vorbei. Auch hier kann ich wiederum nur empfehlen, daß die im einzelnen interessierten Kollegen die Regierung im Auswärtigen Ausschuß
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6099
Bundeskanzler Brandtbefragen. Dann werden sie erfahren, wie auch bei dem zweiten Besuch des amerikanischen Außenministers, der erst wenige Tage zurückliegt — vor seiner Reise in die Sowjetunion —, zusätzlich zu dem, was im NATO-Rat besprochen wird, die Positionen zu SALT erneut miteinander verglichen und à jour geführt worden sind, und daß im NATO-Rat die Positionen für die Verhandlungen in Wien über den möglichen gegenseitigen ausgewogenen Abbau von Truppenstärken bis ins einzelne miteinander abgestimmt sind. Auch hier ist es nicht richtig, wenn es auch mehr in der Form einer Frage geschah, der Öffentlichkeit, die uns zuhört, einen Eindruck zu vermitteln, der ganz und gar von der tatsächlichen Lage abweicht.
Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern werden wir immer wieder zu prüfen haben, wie wir solchen Gefahren, von denen ich eben sprach, als ich die mögliche Erschwerung von Friedensbemühungen anderer erwähnte, ausweichen und doch das tun können, was in dieser Zeit auf dem Wege zu stärkerer europäischer Interessenwahrung und größerer europäischer Weltgeltung möglich ist.Was den gegenwärtigen Zustand der Europäischen Gemeinschaft selber angeht, so ist es schwer — davon war schon die Rede —, diesen Zustand anders als kritisch zu nennen. Allerdings bezieht sich diese meine Bemerkung nicht darauf, daß Herr Kollege Strauß meinte, seine negative Beurteilung dieses Zustandes Europas in erster Linie aus dem ableiten zu können, was er für die Mängel und Schwächen der Bundesregierung hält.
Ich habe mich gefragt, als er so sprach, von welchem Europa er eigentlich spricht, in welcher Welt er eigentlich lebt.
Wenn man sich umschaut in Europa und miteinander vergleicht, wer was für Europa tut in dieser Zeit, dann kann man nur, wenn man durch eine dicke parteipolitische Brille sieht, zu dem Urteil kommen, zu dem Herr Strauß hier gekommen ist.
Wenn ich etwas spitzer formulieren würde, würde ich sagen: Es war ein nicht gelungener Versuch, einer antifranzösischen Rede einen Drall gegen die eigene Regierung zu geben.
Was im übrigen den Zustand der Gemeinschaft angeht, will ich sagen: Die Erweiterung, für die wir uns nachdrücklich einsetzten, hat noch nicht — wer wollte es leugnen — zu dem erhofften neuen Auftrieb geführt. Großbritannien wünscht eine Reihe von Fragen zu diskutieren. Das wird also geschehen. Die Grundlagen der Römischen Verträge dürfen nicht erschüttert und ihre Ziele nicht in Frage gestellt werden.
In der Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion hat es in den vergangenen Monaten bedauerliche Rückschläge gegeben. Das dämpft zwar zu hohe Erwartungen, kann uns aber nicht von der Zielsetzung abbringen. Die politische Zusammenarbeit hat gewisse Fortschritte gemacht, steckt aber in ähnlichen Schwierigkeiten, wie wir sie bei der Definition des Verhältnisses zu Amerika erleben.Die Europäische Union, die durch die Pariser Konferenz vom Oktober 1972 als übergreifende und umfassende Aufgabe bis zum Ende dieses Jahrzehnts bezeichnet wurde, hat auch begrifflich noch kaum konkretisiert werden können. Aber den Beginn hat die deutsche Regierung damit gemacht, wie der Außenminister hier in seiner Rede darlegte.Die Institutionen der Gemeinschaft sind noch nicht eigentlich auf ihre Schwächen abgeklopft worden, jedenfalls nicht von den Regierungen. Und besonders unbefriedigend bleibt es, daß die Rechte des Europäischen Parlaments nicht angemessen erweitert worden sind. Deshalb begrüße auch ich so sehr den Antrag, den hierzu die Koalitionsfraktionen eingebracht haben.Für mehr als bedenklich halte ich es, daß der Versuch, der auf der Kopenhagener Konferenz im Dezember unternommen wurde, eine europäische Energie- und Rohstoffpolitik zu entwickeln, zunächst zu wenig mehr als nichts geführt hat.
Es hat nun, meine Damen und Herren, meiner Meinung nach keinen Sinn, sich nicht bewußt zu machen, daß die unterschiedliche Situation in den Mitgliedstaaten eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik auf kürzere Sicht leider sehr schwierig erscheinen läßt. Keine verbalen Aktionen bringen uns aus dieser Unterschiedlichkeit der ökonomischen Lage in den verschiedenen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft heraus.
Weitreichende Initiativen — ich muß dies so offen sagen, wie es gesagt werden muß — auf diesem Gebiet sind zur Zeit kaum durchführbar.
Hier mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, ist so, wie es auf anderen Gebieten auch wäre: daß das der Wand zur Not noch besser bekommt als dem Kopf.
Meine Damen und Herren, das sagt sich leicht, aber darin steckt zugleich der Hinweis — und auf den kommt es mir an —, wie schwierig es ist, zur gemeinsamen Abwehr der Geldentwertung vorzustoßen. Meine Damen und Herren, die Sie für die Opposition sprechen: Wer dies in diesem Augenblick der Öffentlichkeit nicht auch sagt, sondern so tut, als ob Reden zur Wirtschafts- und Währungsunion heute und morgen zu etwas führen könnten, der lenkt die Aufmerksamkeit ab von der bitteren Tat-
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6100 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Bundeskanzler Brandtsache, daß wir uns mit der Geldentwertung leidernoch eine ganze Weile auseinandersetzen müssen,
ohne zu der gebührenden gemeinsamen europäischen Aktion kommen zu können. So sieht es praktisch aus.
Wie muß eine Konsolidierungsphase aussehen, die diese Bezeichnung verdient? Ich nenne einige Schwerpunkte:Erstens: Sicherung und, wo möglich, Ausbau des Gemeinsamen Marktes in allen seinen Bestandteilen, insbesondere also des freien Warenverkehrs und auch der gemeinsamen Agrarpolitik.Zweitens. Struktur- und Ausgleichsmaßnahmen auch auf regional- und sozialpolitischem Gebiet. Aber ich füge auch hier der Ehrlichkeit halber, auf die unsere Mitbürger Anspruch haben, gleich hinzu: ohne daraus unrealistische finanzielle Verpflichtungen abzuleiten.Drittens. Formulierung einer gemeinsamen Energiepolitik, wobei eine Energieagentur nach dem Modell anderer nachgeordneter Gemeinschaftsbehörden in Betracht kommen könnte, Bei der Gestaltung der gemeinschaftlichen Außenbeziehungen auf diesem Gebiet werden die Arbeiten der Washingtoner Energiekonferenz zu beachten sein.Viertens. Wenn gemeinsame wirtschafts- und währungspolitische Maßnahmen, wie sie für die eigentliche zweite Phase der Wirtschafts- und Währungsunion in Betracht kämen, jetzt nicht anstehen, sollte doch eingehend geprüft werden, ob nicht im Bereich der Steuerharmonisierung konkrete Fortschritte erzielt werden können.Fünftens. Weiterhin unbeirrtes Bemühen, die Arbeitsweise der Institutionen der Gemeinschaft zu verbessern, besonders die Befugnisse des Europäischen Parlaments auszubauen und auch — so wie es der Herr Bundesaußenminister heute vormittag entwickelt hat — die politische Zusammenarbeit weiterzuentwickeln.Ich fordere den Rat und die Kommission der Gemeinschaft sowie die Mitgliedsregierungen auf, unverzüglich die Formulierung eines derartigen, zwar begrenzten, aber realistischen Programms aufzunehmen.Im übrigen habe ich mir entsprechend dem Beschluß von Kopenhagen die Entscheidung vorbehalten, ob ich meinen Kollegen eine neue Präsidentschaftskonferenz Ende Mai in Bonn vorschlagen werde. Im Augenblick spricht mehr dafür, hieraufzu verzichten; denn ich meine, ein derartiges Treffen sollte nur dann stattfinden,
wenn zuvor in einigen wichtigen Fragen die Vorbereitungen so weit gediehen sind, daß Impulse oder Leitlinien der Staats- und Regierungschefs normalen Ratsentscheidungen den Weg ebnen können. Die vertraulichen Aussprachen bei Treffen zwischen den Staats- und Regierungschefs erachte ich aus meiner bisherigen Erfahrung als ein nützliches Element, das dem Einigungsprozeß insgesamt dienlich sein kann. Aber wir sind nicht darauf aus, bei uns eine Konferenz durchzuführen, wenn die Wahrscheinlichkeit nicht für ein mindestens bescheidenes positives Ergebnis spricht.Es wäre überhaupt verfehlt und unglaubwürdig, wenn die Regierungen ihre Aufmerksamkeit den Zukunftsbildern zuwendeten, statt die konkreten Aufgaben zu lösen.
Das Ideal von übermorgen darf nicht zur Entschuldigung werden, die Mühsal des Tages zu ignorieren.
Zur europäischen Union sagen wir unverdrossen j a.
Ich meine, ihre Kraft wird sich stärker erweisen
als die Rebellion nationaler Egozentrik.
Denn das sind Versuche zur Flucht aus der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit aber gebietet, sich auf Europa als das Feld neuer Vitalität einzustellen.Die nächste deutsch-französische Konsultation hat aus Gründen, die ich nicht näher zu beschreiben brauche, um einen Monat auf Anfang Mai verschoben werden müssen. Ich sehe dieser neuen Begegnung in der Hoffnung und in der Überzeugung entgegen, daß der Wunsch auf beiden Seiten gleich groß ist, die Zeit der Ungewißheit in der europäischen Szene und im europäisch-amerikanischen Verhältnis bald zu beenden. Für beide Völker, in diesem Fall Frankreich und uns, steht zuviel auf dem Spiel. Die intensive und umfassende Verständigung mit unseren französischen Nachbarn bleibt für uns — ich unterstreiche es — das Fundament unserer Europapolitik. Und an die Adresse meines Vorredners noch einmal: Es kann überhaupt keine Rede davon sein, sondern es wäre auch hier eine völlige Verzeichnung der Wirklichkeit, davon zu sprechen, daß diese Regierung es nicht als eine wichtige Aufgabe betrachtet hätte, das Instrument des deutsch-französischen Vertrags zu nutzen. Wir
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6101
Bundeskanzler Brandthaben es genutzt, wir werden es nutzen. Wir werden den Verrtag in den Dienst der gemeinsamen europäischen Sache stellen. Was ich nicht akzeptiere — und ich sage das mit Betonung nach der Rede, die wir vorhin gehört haben —, ist jene politische Schwarzweißmalerei, zu der die Vorstellung einer Wahl zwischen Europa und der Atlantischen Allianz dann schließlich immer wieder gehört.Ich muß es — wie ich hier noch einmal klargemacht habe — auch ablehnen, die Politik der westlichen Partnerschaft und Einigung in Frontstellung zum Bemühen um Kooperation zwischen Ost und West zu bringen oder sie von der zunehmend bedrückenden Problematik im Nord-Süd-Verhältnis abzukapseln.
Dies ,darf, meine sehr verehrten Anwesenden, nicht die Zeit der schrecklichen Vereinfacher sein,
auch nicht die Zeit derer, die Gefangene der Vergangenheit sind, ohne sich dessen bewußt zu sein.Vielleicht kann von dieser Aussprache trotz allem auch etwas ausgehen, was denjenigen unserer europäischen Mitbürger hilft, die Vernunft und Sicherheit und Zukunft meinen, wenn sie Europa sagen.
Ich unterbreche die Aussprache.
Wir treten in die
Fragestunde
— Drucksachen 7/1867, 7/1889 —
ein.
Ich komme zu den Dringlichkeitsfragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes und rufe Frage 1 des Abgeordneten Dr. Wittmann auf:
Welcher Titel bzw. welche Amtsbezeichnung wird für den Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin im Text des Beglaubigungsschreibens verwendet werden?
Wer wird antworten? — Herr Staatssekretär Gaus.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland wird die in Ziffer 2 des ausgehandelten Protokolls über die Errichtung der Vertretungen festgelegte Bezeichnung führen. Das ist seine Amtsbezeichnung; so ist sie festgelegt. Ob er darüber hinaus Titel, die er sonst besitzt, führt und diese im Beglaubigungsschreiben aufgeführt werden — das ist kein Zwang —, behalten wir uns aber vor.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wittmann.
Habe ich Sie recht verstanden, wenn ich annehme, daß diese
zusätzlichen Titel schon festliegen und Sie erst entscheiden wollen, ob Sie sie in das Beglaubigungsschreiben aufnehmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Unterstellt, Herr Abgeordneter, daß ich der erste Vertreter der Bundesrepublik dort werden würde: Ihnen ist sicherlich bekannt, daß ich derzeit den Titel „Staatssekretär im Bundeskanzleramt" habe. Dies wäre nicht meine Amtsbezeichnung dort, ist aber ein Titel, der möglicherweise im Beglaubigungsschreiben aufgeführt wird.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wittmann.
Herr Staatssekretär, handelt es sich — wenn ich das zur Klarstellung fragen darf — um ein echtes Beglaubigungsschreiben im herkömmlichen Sinne oder eine andere Form der Mitteilung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es handelt sich eindeutig um eine andere Form; denn es wird nicht vom Außenminister, sondern vom Bundeskanzler gegengezeichnet.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schröder .
Herr Staatssekretär, warum hat die Bundesregierung in dem Protokoll über die Errichtung der Vertretungen die Frage der Akkreditierung überhaupt angesprochen, wenn es sich nach Ihren nachträglichen Erklärungen über das Verschweigen gegenüber den Vertretern der CDU/CSU dabei um einen ganz normalen, nicht besonders erwähnenswerten Vorgang handelt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich denke, daß sich alle solche Protokolle dadurch auszeichnen, daß sie zum allergrößten Teil normale Vorgänge fixieren, damit sie grundsätzlich festgelegt sind. Dies gilt sicherlich nicht nur für den Art. 3, der die Akkreditierungsfrage behandelt!
Keine Zusatzfrage. Ich rufe die zweite dringliche Frage des Abg. Dr. Wittmann auf:
Ist der Bundesregierung der Wortlaut des Beglaubigungsschreibens bekannt, das der Ständige Vertreter der DDR bei der Bundesregierung dem Herrn Bundespräsidenten bei der von der Bundesregierung vorgesehenen Akkreditierung zu überreichen beabsichtigt?
Ich bitte Sie um Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es ist üblich, daß der Text von Beglaubigungsschreiben wenige Tage vor der eigentlichen Akkreditierung zwischen den Staaten, die diese Akkreditierung vornehmen, ausgetauscht wird. Dies wird sicherlich auch in dem Fall, auf den sich Ihre Frage bezieht, so sein, aber vermutlich nicht
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6102 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Staatssekretär Gausvor dem Eintreffen des Leiters der Vertretung der DDR hier.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wittmann.
Wird sichergestellt sein, daß auch dieses „Beglaubigungsschreiben" — ich sage das jetzt bewußt in Anführungszeichen — den Anforderungen genügt, die an die besonderen Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland zu stellen sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ganz sicherlich wird die Amtsbezeichnung des Herrn, den die DDR hierher entsenden will, dem entsprechen, was in dem Protokoll dazu festgelegt worden ist, nämlich daß es ,sich um den Leiter der Ständigen Vertretung der Deutschen Demokratischen Republik handelt.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die dritte dringliche Frage, die Frage des Abgeordneten Graf Stauffenberg auf:
Trifft es zu, daß der Ständige Vertreter der DDR bei der Bundesregierung in dem Beglaubigungsschreiben, das er dem Herrn Bundespräsidenten überreichen will, als „Botschafter" und als „bevollmächtigter Minister" bezeichnet werden soll?
Bitte, Herr Staatssekretär:
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung ist bekannt, daß der als Leiter der Ständigen Vertretung der Deutschen Demokratischen Republik hier vorgesehene Herr Dr. Kohl den Titel eines „Botschafters" und eines „Ministers" führt. Es ist in den Verhandlungen ausdrücklich festgelegt worden — auch dieses, wenn Sie so wollen, Selbstverständliche erschien uns wichtig genug, im Protokoll aufgenommen zu werden —, daß die Amtsbezeichnung, die er hier im amtlichen Verkehr führt, „Der Leiter der Ständigen Vertretung" ist. Persönliche Titel haben in diesem Zusammenhang keine Bedeutung.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Graf Stauffenberg.
Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer Antwort entnehmen, daß — auch im Hinblick auf die Antwort, die Sie meinem Kollegen Dr. Wittmann gegeben haben — in diesem Beglaubigungsschreiben jene Bezeichnungen wie „Botschafter" und „bevollmächtigter Minister" stehen werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dies ist eine Überinterpretation, zu der ich nichts sagen kann; wir wissen dies nicht.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, in einer völkerrechtlich wirksamen und erheblichen Erklärung an die DDR-Regierung und an alle Regierungen von Drittstaaten festzustellen, daß mit der Errichtung der beiderseitigen Ständigen Vertretungen, insbesondere mit der Akkreditierung deren Leiter bei den Staatsoberhäuptern keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland und keine Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR verbunden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, zwischen der Regierung und der Opposition werden seit einiger Zeit auf Wunsch der Opposition Gespräche über Fragen geführt, wie sie auf Ihrer Seite im Zusammenhang mit der Akkreditierung aufgetaucht sind.
Ich kann diesen Gesprächen nicht vorgreifen; ich kann an dieser Stelle nur soviel sagen, daß der Rechtsstandpunkt der Bundesregierung in diesem Zusammenhang — beispielsweise von den Ministern Genscher und Jahn, die hier beide eine besondere Verantwortlichkeit haben — eindeutig festgestellt worden ist. Die Bundesregierung sieht keinen Anlaß, dies in der von Ihnen hier angeregten Form noch einmal zusätzlich zu tun.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Wehner.
Herr Staatssekretär, ließe sich auf Grund des Ernstes all dieser Fragen und der hinter ihnen liegenden Probleme nicht daran denken, daß die Bundesregierung für einen solchen Ständigen Vertreter des anderen Staates eine besondere, auffällige, gestreifte Kleidung zu tragen verfügte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich stehe nicht an zu sagen, daß ich in der letzten Zeit mit Fragen konfrontiert worden bin, die es mir begreiflich erscheinen lassen, daß diese Frage gestellt wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schulze-Vorberg.
Nach der Frage des Herrn Kollegen Wehner, der offenbar an die Protokoll-Überlegungen des Bundespräsidialamtes anschließt, darf ich, da Sie, Herr Staatssekretär, soeben Ihr Nichtwissen in bezug auf das Schreiben betont haben, fragen: Es könnte also sein, daß der Herr, der sich dort meldet, nicht Botschafter und schon gar nicht bevollmächtigter Minister ist, daß aber beide Titel im Schreiben stehen?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6103
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dies könnte jedenfalls so sein. Entscheidend scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein — ich darf dies wiederholen, Herr Abgeordneter —, daß die Amtsbezeichnung dieses Herrn „Der Leiter der Ständigen Vertretung der Deutschen Demokratischen Republik" sein wird und daß nur dieses und nichts anderes die Amtsbezeichnung ist; ebenso wie möglicherweise die Aufnahme meines Titels „Staatssekretär" in einem Beglaubigungsschreiben zwar eine gewisse Besonderheit ausdrücken würde, aber gewiß nicht mein amtlicher Titel als Leiter der Vertretung wäre.
Keine weitere Zusatzfrage? — Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Ich rufe die Frage 79 des Herrn Abgeordneten Dr. Fuchs auf:
Welche Gründe waren dafür maßgebend, daß die Bundesregierung in bestimmten Fällen die Vergünstigung der 7-b-Abschreibung und den Wegfall der Investitionsteuer ausschließt, obwohl aus konjunkturpolitischen Gründen die Förderung des Baugewerbes dringend geboten erscheint?
Herr Staatssekretär Hermsdorf, ich darf bitten.
Herr Abgeordneter, der Ausschluß der erhöhten Absetzung nach § 7 b des Einkommensteuergesetzes ist auf Ein- und Zweifamilienhäuser sowie Eigentumswohnungen beschränkt worden, für die die Baugenehmigung in der Zeit vom 9. Mai bis 31. Dezember 1973 gestellt worden ist. Die Investitionsteuer wird nur noch für Gebäude erhoben, für die die Baugenehmigung in der Zeit vom 9. Mai bis zum 30. November 1973 beantragt worden ist.
Eine rückwirkende Wiedereinführung der erhöhten Absetzung nach § 7 b des Einkommensteuergesetzes und eine rückwirkende Aufhebung der Investitionsteuer konnte die Bundesregierung nicht vorsehen. Eine solche Regelung hätte bewirkt, daß der Erfolg etwa erforderlich werdender künftiger Stabilitätsmaßnahmen von vornherein in Frage gestellt worden wäre. Aus diesem Grunde hat der Gesetzgeber bei der Einführung der Investitionsteuer durch das Steueränderungsgesetz 1973 die Ermächtigung der Bundesregierung zur vorzeitigen Aussetzung der Steuer ausdrücklich eingeschränkt. Von einer rückwirkenden Wiederinkraftsetzung des § 7 b bzw. einer Aufhebung der Investitionsteuer wären im übrigen auch kaum Impulse für die Bauwirtschaft ausgegangen.
Bauherren, die in der Zeit vom 9. Mai bis zum 30. November bzw. 31. Dezember 1973 eine Baugenehmigung beantragt haben, haben dies in Kenntnis der Versagung der erhöhten Absetzung nach § 7 b bzw. der Belastung mit Investitionsteuer getan. Sie werden daher ihr Bauvorhaben unabhängig von der Wiederinkraftsetzung des § 7 b bzw. der Aufhebung der Investitionsteuer verwirklichen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Fuchs.
Herr Staatssekretär, können Sie erklären, wie die ursprüngliche Pressemeldung zustande kam, daß in allen Fällen bei erneuertem Antrag die Vergünstigung gewährt wird, und ist da nicht eigentlich die Überlegung sehr naheliegend, daß die Bundesregierung damals diesen Schritt deswegen geplant hat, weil eine solche Regelung zweifelsohne die Rechtsunsicherheit beseitigen würde und dazu auch konjunkturpolitisch vernünftig wäre?
Selbst wenn ich diesen Gedankengang, den Sie hier vortragen, unterstelle, ist es ausgeschlossen, dies jetzt noch einmal rückwirkend in Kraft treten zu lassen. Denn das würde bedeuten, daß bei zukünftigen Stabilitätsmaßnahmen eine Unsicherheit vorhanden wäre, die keinesfalls im Interesse des Gesetzgebers liegen könnte.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Fuchs.
Herr Staatssekretär, besteht nicht die Gefahr, daß bei der jetzigen Regelung diejenigen, die entweder selbst gut genug informiert sind, um den erfolgreichen Weg zu beschreiten, oder diejenigen, die einen entsprechenden Berater haben, die Vergünstigung erlangen, während die anderen, die offensichtlich Schwächeren, auf der Strecke bleiben?
Diese Gefahr sehe ich nicht. Denn wer eine Baugenehmigung beantragt oder beantragt hat, von dem bin ich sicher, daß er das nicht von heute auf morgen tut, sondern daß er sich die Rechtslage genau anschaut und deshalb nicht von heute auf morgen wieder zu völlig anderen Tatbeständen kommen kann.
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Fragen 80, 81 und 82 werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme zur Frage 83 des Abgeordneten Memmel. — Da er nicht im Saal ist, wird diese Frage auch schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident, erlauben Sie mir, eine Bemerkung persönlicher Art zu machen. Dies ist meine letzte Fragestunde in diesem Hohen Hause. Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen für die kameradschaftliche Form bedanken, mit der sie mir in diesen Jahren begegnet sind.
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6104 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Ich darf Ihnen, Herr Staatssekretär, namens des Hauses für die kollegiale Zusammenarbeit Dank sagen und alles Gute für die Zukunft wünschen.
Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes.
Frage 30 wird auf Wunsch ,des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 31 ist vom Fragesteller zurückgezogen.
Die Frage 32 wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 33 des Abgeordneten Wagner auf:
Was hat die Bundesregierung in ihren Verhandlungen mit dem Ostberliner Regime im Zusammenhang mit der Errichtung einer Ständigen Vertretung in Ost-Berlin vereinbart, um sicherzustellen, daß alle Deutschen im Sinne des Grundgesetzes ungehindert in der Ständigen Vertretung vorsprechen können?
Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Gaus zur Verfügung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich, Herr Abgeordneter, Ihre beiden Fragen gemeinsam beantworten?
Bitte sehr!
Dann rufe ich auch die Frage 34 auf:
Was hat die Bundesregierung in ihren Verhandlungen mit dem Ostberliner Regime im Zusammenhang mit der Errichtung einer Ständigen Vertretung in Ost-Berlin vereinbart, um sicherzustellen, daß alle Deutschen im Sinne des Grundgesetzes, die sich in der Ständigen Vertretung aufhalten, ungehindert in die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin einreisen können?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung hat stets deutlich gemacht, daß sie mit der Politik der Entspannung das politische System kommunistischer Staaten nicht ändern kann. Dies gilt ganz gewiß auch für unser Verhältnis zur DDR. Die Verhandlungen hatten nicht das Ergebnis, daß die DDR unser Recht auf Freizügigkeit übernommen hat. Unsere Vertretung in der DDR wird nur in der Weise arbeiten können, wie das die Botschaften der Bundesrepublik in Ostblockländern tun, d. h. sie wird die Interessen der Deutschen vertreten, die in der Bundesrepublik und in West-Berlin wohnen. Unsere Vertretung kann ihre Pflichten nur wahrnehmen, wenn sie die in der DDR gültigen Gesetze respektiert, ohne daß wir uns mit diesen Gesetzen identifizierten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wagner.
Herr Staatssekretär, wie gedenkt die Bundesregierung ihrer grundgesetzlichen Schutzpflicht für die Men-
schen- und Grundrechte aller Deutschen im Sinne des Grundgesetzes, Art. 1, auch gegenüber den Deutschen in der DDR und in Ost-Berlin nachzukommen angesichts der Tatsache, daß Art. 5 der DDR-Verordnung über den Verkehr mit diplomatischen Missionen vom 2. Mai 1963 den Verkehr von Bewohnern der DDR mit ausländischen Missionen und Vertretungen nur über das Außenministerium der DDR erlaubt und direkte Kontakte unter Strafe stellt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wiederhole zur Beantwortung dieser Frage meine eben gegebene Antwort. Wir konnten nicht als Verhandlungsergebnis erreichen, die DDR zur Anerkennung unserer Gesetze und zu unserer Auffassung von Freizügigkeit zu bringen. Unsere Vertretung wird dort unter den Gesetzen arbeiten müssen, die in der DDR gelten.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wagner.
Herr Staatssekretär, welche Anweisungen gedenkt die Bundesregierung unserer Ständigen Vertretung in Ost-Berlin für den Fall zu geben, daß Deutsche aus der DDR und Ost-Berlin in die Vertretung flüchten, um Ausstellung eines Passes der Bundesrepublik Deutschland und um Gewährleistung ihrer Menschen- und Grundrechte bitten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bewohner der DDR bedürfen zur Einreise in die Bundesrepublik keines Bundespasses.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß es einer Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen sicherlich nicht förderlich ist, wenn der Fragesteller in seiner Frage die Regierung der DDR, wie immer man politisch zu ihr stehen mag, als „Ostberliner Regime" bezeichnet?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich stimme Ihnen zu, daß dies der Normalisierung der Politik zwischen den beiden Staaten in dem engen Rahmen, in dem das möglich ist, sicherlich nicht förderlich ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Mertes .
Herr Staatssekretär, wie gedenkt die Bundesregierung die Konflikte zu lösen, die sich aus der noch ungeklärten Frage des Staatsbürgerschaftsrechtes für die Tätigkeit unserer Ständigen Vertretung in Ost-Berlin ergeben werden oder ergeben könnten?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6105
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Unsere Rechtsauffassung in der Staatsangehörigkeitsfrage ist bekannt. Wir werden von ihr nicht ablassen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Graf von Stauffenberg.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Meinung, daß die Bezeichnung „DDR-Regime" sachlich falsch ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter NiegeL
Herr Staatssekretär, warum hat die Bundesregierung das Protokoll über die Errichtung der beiderseitigen Ständigen Vertretungen unterzeichnet, obwohl die für die Tätigkeit unserer Vertretung in Ost-Berlin entscheidenden Fragen im Hinbilck auf ihre Fürsorgepflicht auch für die Deutschen in der DDR in keiner Weise geregelt worden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weil es für uns im Interesse der Deutschen in beiden Staaten liegt, daß diese Vertretungen möglichst bald mit einer normalen Arbeit beginnen können.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung und die Organe der Bundesrepublik Deutschland haben die grundgesetzliche Pflicht, allen deutschen Staatsangehörigen, die sich in den Schutzbereich der Bundesrepublik Deutschland begeben, Hilfe und wirksame Unterstützung zu geben. Was werden Sie tun, wenn sie sich in den Schutzbereich der Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin begeben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich halte es für nicht mit meinem Amtseid vereinbar, daß ich darauf hier antworte.
Die Frage 35 ist vom Fragesteller, dem Abgeordneten Graf Stauffenberg, zurückgezogen worden.
Wir kommen zur Frage 36 des Abgeordneten Graf Stauffenberg:
Hat die Bundesregierung in ihren Verhandlungen mit den Ostberliner Unterhändlern über die Errichtung einer Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin sichergestellt, daß der Leiter der Ständigen Vertretung und seine Mitarbeiter nicht in der von Ost-Berlin herausgegebenen Liste für ausländische Diplomaten aufgeführt werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Antwort, Herr Abgeordneter, lautet — ebenso wie auf die zurückgezogene Frage 35, die Sie gestellt haben —: nein. Es ist hinreichend bekannt, daß die beiden deutschen Staaten, was wir sehr bedauern, in einigen grundsätzlichen Fragen gegensätzliche Auffassungen vertreten, die in den Verhandlungen nicht überbrückt werden konnten. Dies kommt sowohl im Grundvertrag als auch im Protokoll über die Errichtung der beiden Vertretungen zum Ausdruck.
Eine Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik und seine Mitarbeiterin in Ost-Berlin das ,,CD"-Kennzeichen führen werden und daß die Ständige Vertretung auch auf die Liste der diplomatischen Vertretungen kommen wird? Ist das so richtig verstanden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir müssen wohl davon ausgehen, daß die Behandlung in beiden Staaten unterschiedlich gehandhabt wird. Die DDR wird uns, wie es im Protokoll ausgehandelt ist, „entsprechend" — also nicht direkt „nach", sondern „entsprechend" — der Wiener Konvention behandeln. Wir werden dies gestützt auf das dafür vorgesehene Gesetz tun.
Eine zweite Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, sieht die Bundesregierung in der Regelung des Status unserer Vertretung in Ost-Berlin und der DDR-Vertretung in Bonn, und zwar gerade auch im Hinblick auf die nicht vollständigen Regelungen, so wie Sie sie gerade angedeutet haben, einen Schritt zum Ausbau eines besonderen innerdeutschen Verhältnisses oder nicht doch eher einen Schritt in Richtung auf die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sehen das, was auf unserer Seite vorgesehen ist, als die selbstverständliche Konsequenz aus der Besonderheit dieser Beziehungen an.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Conradi.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir darin zu, daß adlige Herkunft und die Kenntnis der Details des auswärtigen Protokolls allein nicht für die Beurteilung deutschlandpolitischer Fragen qualifizieren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es kommt sicherlich noch etwas anderes hinzu ...
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6106 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Ich kann nicht zulassen, daß der Herr Staatssekretär in eine Lage gebracht wird, wo er ein Mitglied dieses Hauses zu kritisieren hat; das geht nicht. Infolgedessen können Sie auch auf diese Frage keine Antwort erwarten.
Die Fragen 37, 38 und 39 sind von den Fragestellern zurückgezogen.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär und komme zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts, zunächst zur Frage 40 des Abgeordneten Rainer. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Dann werden diese Frage und die Frage 41 schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 42 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen wird ebenfalls schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Trifft es zu und, wenn ja, aus welchen Gründen hält es die Bundesregierung für gerechtfertigt, für Flüchtlinge nichtdeutscher Staatsangehörigkeit aus Chile die Transportkosten nach der Bundesrepublik Deutschland unter Bereitstellung überplanmäßiger Haushaltsmittel zu übernehmen, während deutsche Staatsangehörige die Kosten der Rückführung aus Ägypten bei Ausbruch des Nahostkrieges im Oktober 1973 dem Auswärtigen Amt erstatten müssen, wobei zwar Chartermaschinen zur Verfügung gestellt, aber Flugpreise für Linienmaschinen in Rechnung gestellt wurden?
Bitte sehr!
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat unter Bereitstellung planmäßiger und außerplanmäßiger Haushaltsmittel die Kosten für den Transport der bisher etwa 665 Personen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit übernommen, die aus politischen Gründen Chile nach dem Staatsstreich vom 11. September 1973 verlassen mußten und in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht gefunden haben. Dieser Aktion liegen ausschließlich humanitäre Motive zugrunde: Es galt, Verfolgten zu helfen, die an Leib und Leben bedroht waren. Zahlreiche andere Länder, darunter unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft, haben, nicht zuletzt auch auf dringenden Wunsch des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen und einer Reihe internationaler karitativer Organisationen, die auch hier in Deutschland beheimatet sind, ähnliche Aktionen durchgeführt und die hierbei entstehenden Kosten übernommen.
Die Flüchtlinge waren mittellos bzw. haben ihre gesamte Habe in Chile zurücklassen müssen. Es war daher nicht nur gerechtfertigt, sondern zur Rettung der Flüchtlinge notwendig, daß die Bundesregierung die Transportkosten übernahm. Ein anderes Procedere, etwa eine Verpflichtungserklärung der Flüchtlinge zur Rückzahlung der Kosten, kam unter den gegebenen Umständen nicht in Betracht.
Bei der Rückführung deutscher Staatsangehöriger aus dem Ausland in die Bundesrepublik Deutschland ist die rechtliche und tatsächliche Lage hingegen anders. Hier beruht die Rückforderung von Kostenanteilen auf einer haushaltsrechtlichen Verpflichtung, die Beschlüssen dieses Hohen Hauses entspricht. Nach Ziffer 7 der Erläuterungen zu Kapitel
05 02. Titel 686 01 des Bundeshaushaltsplanes können „Kosten der Rückführung von Deutschen aus den eigentlichen Gefahrengebieten im Rahmen und auf Grund amtlicher Evakuierungsmaßnahmen" aus den dort veranschlagten Haushaltsmitteln gezahlt werden. Es heißt in Ziffer 7 dieser Erläuterungen dann weiter: „Diese Kosten sind von den Teilnehmern an einer Hauptevakuierung anteilmäßig bis zum Höchstbetrag des gewöhnlichen Fahrt- oder Flugpreises in der Touristenklasse vom Evakuierungsort bis zum Zielort zu erstatten. Zur Weiterreise evakuierter hilfsbedürftiger Rückkehrer in die Bundesrepublik Deutschland sind Heimführungsdarlehen nach § 26 des Konsulargesetzes im Sinne der Ziffern 6 und 12 zu gewähren."
Die Evakuierung erfolgte von Alexandria bis Iraklion/Kreta mit einem von der Bundesregierung gecharterten Handelsschiff, von Iraklion nach Frankfurt mit drei bei der Lufthansa gecharterten Flugzeugen. Da der Anteilbetrag des einzelnen Evakuierten an den Gesamtkosten der Evakuierung über dem Flugpreis der Touristenklasse vom Ausgangsort der Evakuierung bis zum Zielort (Frankfurt/ Main) lag, war nach den vorzitierten haushaltsrechtlichen Vorschriften der Touristenflugpreis KairoFrankfurt in Rechnung zu stellen.
Eine Zusatzfrage.
Mursch (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß der Obhutspflicht für unverschuldet in Not geratene deutsche Landsleute zumindest der gleiche moralische Rang zukommt wie der humanitären Hilfe für nichtdeutsche Flüchtlinge und daß damit auch in finanzieller Hinsicht eine gleiche Behandlung erfolgen müßte?
Was den ersten Teil Ihrer Frage betrifft, Herr Kollege, gibt es sicherlich keinerlei Differenzen. Was den zweiten Teil betrifft, so habe ich auf die Rechtslage hingewiesen, die vom Hohen Hause selbst geändert werden könnte. Wir haben demnächst das Konsulargesetz zur Neuverabschiedung hier vorliegen, und wir haben den Bundeshaushaltsplan vorliegen. Aber ich mache darauf aufmerksam, daß, wenn Ihrer Anregung von der Mehrheit des Hauses gefolgt würde, damit ein Rechtsgrundsatz durchbrochen würde, nämlich der Rechtsgrundsatz, daß der Staat nur dort Hilfen leistet, wo eigene Leistungen nicht möglich sind, und das würde das ganze Sozialhilferecht in der Bundesrepublik Deutschland wesentlich verändern.
Eine weitere Zusatzfrage.Mursch (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Ihnen ist doch sicherlich bekannt, daß die deutschen Landsleute, die unverschuldet und unerwartet in Not geraten sind, einen vom Auswärtigen Amt angeforderten Betrag zahlen mußten, der mehr als die Hälfte des Betrages beträgt, den diese deutschen Landsleute für eine 16tägige
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6107
Mursch
Reise nach Ägypten mit Hin- und Rückflug, mit einem 16 Tage langen Aufenthalt in erstklassigen Hotels mit voller Verpflegung, mit Reiseführungen, mit Reisen — zum Teil Flügen in Ägypten gezahlt haben. Nun frage ich Sie — —
Herr Kollege, Sie wissen, Zusatzfragen sind knapp und klar zu stellen. Nun fragen Sie aber jetzt knapp und klar.
Mursch (CDU/CSU) : Ich bedanke mich sehr für den Hinweis. Ich habe mich bemüht, die frage so zu formulieren, daß ein Mißverständnis nicht möglich ist. Ich komme jetzt zu der konkreten Frage.
Herr Staatssekretär, warum hat die Bundesregierung sich dann nicht für die Rückführung solcher Unternehmen bedient, die dies viel billiger machen können, oder, wenn sie dies nicht wollte, warum hat sie nicht z. B. Transportflugzeuge der Luftwaffe eingesetzt, um diese Deutschen von Kreta zurückzutransportieren, was doch sicherlich billiger gewesen wäre?
Herr Abgeordneter, der Einsatz von Flugzeugen ist natürlich nur dann sinnvoll, wenn sie Landegenehmigung bekommen. Das ist in Kriegszeiten sehr schwer möglich, und das war dort überhaupt nicht möglich. Deswegen haben wir ein Schiff gechartert. Berechnet haben wir die Transportkosten für die Touristenklasse-Flugreise. Wenn es solche märchenhafte Reiseangebote gibt, wie ich sie soeben hier gehört habe, müßte uns das bekannt gewesen sein. Wir haben unter Zeitdruck gestanden. Sie haben nachher noch eine Frage, da werde ich gern noch darauf eingehen. Es kam in erster Linie darauf an, die Betroffenen auf Grund ihres eigenen Wunsches aus der Gefahrenzone herauszubekommen. Dann mußten sie das nächste erreichbare Schiff nehmen. Es war sehr schwierig, dieses Schiff überhaupt zu bekommen. Es ist also den Umständen entsprechend gehandelt worden.
Ich darf hinzufügen: Wenn Sie der Meinung sind, daß die Betroffenen nicht in der Lage seien, diese Kosten aufzubringen, haben sie das Recht, beim Bundesverwaltungsamt in Köln einen entsprechenden Antrag zu stellen. Sie müssen dann allerdings ihre Mittellosigkeit nachweisen. Das ist ein Gesetz, das dieses Haus selber erlassen hat. Die Beamten sind gehalten, sich an die Gesetze zu halten, die in diesem Hause verabschiedet worden sind.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Brück.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, anknüpfend an das, was Sie zuletzt gesagt haben, daß die wirtschaftliche Lage der Betroffenen bei der Rückerstattung der Kosten natürlich eine Rolle spielt, frage ich: Ist es nicht so, daß in der Regel Deutsche im Ausland wirtschaftlich in der Lage sind, diese Kosten
selber zu tragen, im Gegensatz zu chilenischen Flüchtlingen, die unter Bedrohung von Leib und Leben ihre Heimat verlassen mußten?
Herr Abgeordneter, das habe ich eben darzulegen versucht. Ich habe eben gesagt, wo die Unterschiede liegen. Wir haben hier ja in Zusammenarbeit mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen gehandelt. Es gibt natürlich im Ausland auch Deutsche, die abgebrannt sind. Da wird der Staat kein Geld zurückverlangen können, weil sie keines haben; das ist auch schon passiert.
Zu einer letzten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Müller .
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung auch Kosten von Flüchtlingen übernommen, die während der Zeit, als Herr Allende in Chile regierte, nach Deutschland zurückkehrten?
Herr Abgeordneter, in der Zeit, als Staatspräsident Allende in Chile regierte, hat es, soweit mir durch Eigenbesuch bekannt ist, keine Konzentrationslager oder ähnliche Einrichtungen gegeben, die zu solchen Fluchtbewegungen geführt hätten.
Ich rufe die Frage 44 des Abgeordneten Mursch auf:
Trifft es zu, und wenn ja, weshalb waren die Dienststellen der Bundesrepublik Deutschland nicht in der Lage, für die am 15.!16. Oktober 1973 aus Ägypten mit dem niederländischen Frachter „Ulla" nach Kreta evakuierten deutschen Staatsangehörigen eine angemessene Unterbringung auf Kreta vorzubereiten, wie es durch andere Nationen durch Bereitstellung von Passagierschiffen und Hotelunterkünften geschah, während die deutschen Staatsangehörigen noch eine weitere Nacht in den Laderäumen des Frachters verbringen mußten, bis sie am nächsten Tag mit Maschinen der Deutschen Lufthansa abtransportiert werden konnten?
Herr Staatssekretär!
Die Antwort lautet:Erstens war das Motoschiff „Ulla" seinerzeit das einzige Schiff, Herr Kollege Mursch, das rasch genug für eine Evakuierung in dem vorgesehenen Umfang gechartert werden konnte. Ich hatte darauf schon hingewiesen.Zweitens erlaubte nach Anordnung der Evakuierung das Sicherheitsrisiko keine weitere Verzögerung bei der Durchführung, wie sie die Suche nach einem komfortableren Schiff zur Folge gehabt hätte. Eine praktikable Alternative zum Seeweg bestand nicht. Ich habe schon auf die Unmöglichkeit der Landung auf dem Flughafen hingewiesen.Drittens. Nachdem das Motorschiff „Ulla" Alexandria am 15. Oktober 1973 um 15.30 Uhr verlas-
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6108 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Parl. Staatssekretär Moerschsen hatte, war bei planmäßiger Fahrt und nach Angaben seitens der Schiffsbesatzung mit dem Eintreffen des Schiffes in Iraklion in der Nacht vom 16. zum 17. Oktober zu rechnen. Mit der Lufthansa ist daraufhin die Bereitstellung der Maschinen in Iraklion ab 17. Oktober, 7 Uhr morgens, vereinbart worden, um eine möglichst rasche Rückführung zu gewährleisten.Selbst wenn es, was fraglich ist, möglich gewesen wäre, in Iraklion kurzfristig Hotelunterkünfte für knapp 500 Personen zu beschaffen, so bestand wegen der geplanten Ankunftszeit des Schiffes kein hinreichender Anlaß zu entsprechenden Reservierungen. Zudem hätte nicht ausgeschlossen werden können, daß bei einer Verspätung auf Grund der Wetterverhältnisse eine derartige Maßnahme umsonst gewesen wäre.Entgegen dem übermittelten Zeitplan — das ist in solchen Zeiten ja nie so genau auszumachen — lief das Motorschiff „Ulla" am 16. Oktober bereits um 18.30 Uhr in Iraklion ein, so daß die Nacht sozusagen im Hafen und nicht auf hoher See verbracht werden mußte.
Zusatzfrage.
Mursch (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär Moersch, sollten Sie bei Ihrer soeben erteilten Antwort nicht noch einmal überdenken, daß der Rückflug ja von Kreta, von Iraklion aus erfolgt ist, wo doch keine Kriegszustände geherrscht haben, und nicht etwa von Kairo aus?
Herr Abgeordneter, das ist mir durchaus bekannt. Sie können davon ausgehen, daß sich unsere Beamten auch bemüht haben, in Kreta inzwischen entsprechend billigere Flugzeuge zu bekommen. Aber die Preisfrage ist doch: Da es erstens in Kreta keine Übernachtungsmöglichkeiten gab und zweitens ein längeres Liegen des Schiffes sehr viel teurer gewesen wäre als die kurzfristige Inanspruchnahme der Lufthansa, hatte sich der zuständige Beamte hier im Stab damals für die Lufthansa entschieden, was ja wohl auch deswegen möglich ist, weil es sich um ein Unternehmen handelt, das der Bundesrepublik Deutschland sehr verbunden ist. Ich darf auch darauf aufmerksam machen, daß nach Gesetzen dieses Hauses die Inanspruchnahme der Luftwaffe ebenfalls aus dem Etat des Auswärtigen Amts hätte bezahlt werden müssen. Das wird verrechnet, wenn auch intern. Auch die Luftwaffe kann Benzin nicht umsonst bekommen.
Sie können noch eine Zusatzfrage stellen.
Mursch (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, da mir leider nur noch diese eine Frage zusteht, frage ich Sie ganz konkret: Ist die Bundesregierung bereit, diesen ganzen Fragenkomplex noch einmal daraufhin zu überprüfen, ob man
nicht auf die immens hohen Rückforderungen entweder ganz verzichten kann oder von den deutschen Landsleuten, die zum Teil gar nicht in der Lage sind, das zu bezahlen, nur den Betrag zurückfordern sollte, den sie an ihren Reiseunternehmer für den Rückflug und dazu für die vier Tage Aufenthalt, die ausgefallen sind, zu zahlen gehabt hätten?
Herr Abgeordneter, wir haben ja nicht die tatsächlichen Kosten verrechnet, sondern die Kosten für die Touristenklasse bei diesem Flug, was billiger war, als es den-entstandenen Kosten entsprochen hat. Ich darf hier wiederholen, was ich gesagt habe. Sofern vorübergehend oder dauernd ein Zahlungspflichtiger — und offensichtlich kennen Sie solche — aus wirtschaftlichen Gründen außerstande ist, einen Kostenanteil zu erstatten, kann er beim Bundesverwaltungsamt in Köln Stundung, Niederschlagung oder Erlaß der Forderung beantragen. Auf diese Möglichkeit sind bei der Rückforderung der Kostenanteile alle Evakuierten hingewiesen worden, wie sich aus den Akten ergibt. Ich bitte also, die Fragesteller darauf hinzuweisen, daß ihnen dies gesagt worden ist. Und dann wird der Fall nachgeprüft. Aber generell Kosten zu erstatten, ohne daß die Notwendigkeit dazu vorliegt — und das wäre in diesem Falle contra legem —, können sie von der Bundesregierung nun wirklich nicht erwarten. Sonst müßten Sie hier ein entsprechendes Gesetz erlassen.
Der Herr Abgeordnete Walkhoff hat um schriftliche Beantwortung der beiden von ihm eingereichten Fragen 45 und 46 gebeten. Dem wird entsprochen werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 47 des Herrn Abgeordneten Coppik auf:
Treffen nach Kenntnis der Bundesregierung Pressemeldungen zu, daß die Sicherheitsbehörden der US-Streitkräfte den Aufbau einer Spezialeinheit zur Abwehr von Angriffen auf amerikanische Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland etwa durch Demonstranten planen, und wie beurteilt die Bundesregierung solche Planungen?
Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, die Antwort lautet nein. Nach Kenntnis der Bundesregierung verfügen die amerikanischen Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland weder über derartige Spezialeinheiten noch beabsichtigen sie deren Aufstellung.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, auf Grund welcher Tatsachen die Meldung, auf die ich mich bezogen habe, in der „Frankfurter Neuen Presse" zustande gekommen sein könnte?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6109
Nein, Herr Abgeordneter! Man kann aus der Meldung auch schlecht entnehmen, was eigentlich gemeint ist. Das muß ich Ihnen ganz offen sagen. Ich habe sie dreimal gelesen.
Herr Staatssekretär, haben Sie in dieser Richtung irgendwelche Recherchen angestellt?
Jawohl, Herr Abgeordneter! Ich bin gern bereit, sie Ihnen zur Verfügung zu stellen. Aber Sie werden dann auch nicht klüger sein als ich.
Ich rufe die Frage 48 des Herrn Abgeordneten Dr. Marx auf:
Wie haben die tschechoslowakischen Behörden der Bundesregierung gegenüber die Verhaftung des deutschen Wirtschaftsjournalisten Werner Gengenbach begründet?
Herr Abgeordneter, die tschechoslowakische Seite hat die Verhaftung von Herrn Gengenbach mit dem Vorwurf der Spionage gemäß § 105 Abs. 1 des tschechoslowakischen Strafgesetzbuches begründet. Die Bundesregierung hält diesen Vorwurf jedoch nach den von tschechoslowakischer Seite über den Pflichtverteidiger zum Sachverhalt dargelegten Einzelheiten für unbegründet.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, war es bisher einem Vertreter der Bundesregierung bzw. unserer Botschaft möglich, mit dem Verhafteten Verbindung aufzunehmen, um die Auffassung der Bundesregierung durch Tatsachennachweis zu erhärten?
Herr Abgeordneter, wir sind dabei, und ein Termin für eine solche Kontaktaufnahme ist festgelegt worden. Ich werde nachher dem Herrn Abgeordneten Dr. Hupka noch im einzelnen erläutern, was sich hier inzwischen abgespielt hat.
Eine weitere Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, es ist bekannt, daß Herr Gengenbach ein — wie ich glaube — 61jähriger schwerbeschädigter Wirtschaftsjournalist ist, der in Fachkreisen sehr bekannt ist. Wäre es möglich, daß die tschechoslowakische Seite, die ihm den Vorwurf der Spionage macht, diesen Vorwurf deshalb erhebt, weil er nicht bereit zu sein schien, die ihm von amtlichen Stellen angebotenen Mitteilungen ungeprüft zu übernehmen und weiterzugeben, was ganz zweifellos der Aufgabe eines Journalisten widersprechen würde?
Herr Abgeordneter, darüber liegen mir keine Angaben vor. Diesem Hinweis, den Sie eben gegeben haben, müßten wir nachgehen. Er ist jedenfalls in den bisherigen Darstellungen nicht enthalten. Ich habe den Eindruck, daß wir in wenigen Tagen wohl in der Lage sein werden, den Fall präziser auf seinen wirklichen Sachverhalt hin darzustellen.
Ich rufe Frage 49 des Herrn Abgeordneten Dr. Marx auf:
Wie kann die Bundesregierung im Zusammenhang mit der „Normalisierung" des deutsch-tschechoslowakischen Verhältnisses künftig dafür Sorge tragen, daß die journalistische Arbeit deutscher Berichterstatter nicht wie im Fall Gengenbach durch Eingriffe des tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienstes gestört oder unmöglich gemacht wird?
Die Bundesregierung kann im deutsch-tschechoslowakischen Verhältnis ebensowenig wie im Verhältnis zu jedem anderen ausländischen Staat generell ausschließen, daß ein deutscher Staatsangehöriger, der sich zur Ausübung seiner Berufstätigkeit im Ausland aufhält, dort unter dem Vorwurf verhaftet wird, er habe gegen die Gesetze des Landes verstoßen. Falls die Bundesregierung einen solchen Vorwurf für unbegründet hält, kann sie lediglich — und dies hat sie mit allem Nachdruck gerade auch in diesem Falle getan und wird es weiterhin tun — die betreffende andere Regierung um die unverzügliche Bereinigung der Angelegenheit durch die Freilassung des Inhaftierten bitten. Die Bundesregierung mißt ungestörten Arbeitsmöglichkeiten für die in der CSSR tätigen deutschen Staatsangehörigen für die Entwicklung der deutschtschechoslowakischen Beziehungen größte Bedeutung bei.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, indem ich für diese Antwort danke, möchte ich fragen, ob Sie darüber unterrichtet sind, daß Journalisten, die zeitweise oder für längere Zeit in Prag arbeiten, durch die Art der Verhaftung beunruhigt worden sind und selbst Unsicherheiten in der weiteren Ausübung ihres Berufes als recherchierende Journalisten spüren?
Herr Abgeordneter, wir haben unter Würdigung aller Umstände der tschechoslowakischen Seite gegenüber — sowohl in Prag als auch hier ihrem Geschäftsträger — in diesem Zusammenhang unsere Haltung mit Nachdruck zum Ausdruck gebracht. Ich darf das nachher noch beantworten.
Ich rufe Frage 50 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
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6110 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenWas hat die Bundesregierung unternommen, nachdem der deutsche Journalist Werner Gengenbach während seines Besuchs auf der Brunner Lebensmittelmesse verhaftet worden ist, und warum hat es so lange gedauert, bis erste Nachrichten über mögliches Vorstelligwerden bei der Regierung in Prag bekanntgeworden sind?Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag hat, nachdem sie am 4. März 1974 von dritter Seite von der Verhaftung des Herrn Gengenbach Kenntnis erhalten hat, noch am gleichen Tage im tschechoslowakischen Außenministerium nachgefragt, ob diese Nachricht zutreffe, und um Angabe der Gründe für die Verhaftung gebeten. Das Außenministerium erklärte sich damals nicht informiert. Nach wiederhol- ten Anfragen teilte das Außenministerium der Botschaft erst am 5. März mit, daß Herr Gengenbach am 28. Februar 1974 in Brünn festgenommen worden sei. Die Staatsanwaltschaft habe am 1. März Haftbefehl wegen Spionage nach § 105 Abs. i des tschechoslowakischen Strafgesetzbuches erlassen.
Eine Benachrichtigung der Presse seitens des Auswärtigen Amtes war daher erst nach erfolgter Bestätigung der Verhaftung durch das tschechoslowakische Außenministerium möglich.
Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag ist auf Weisung des Auswärtigen Amtes am 7. und 18. März im tschechoslowakischen Außenministerium wegen der Verhaftung von Herrn Gengenbach vorstellig geworden und hat um Klärung der Angelegenheit der Freilassung von Herrn Gengenbach sowie um Zustimmung gebeten, daß ein Botschaftsangehöriger Herrn Gengenbach unverzüglich besuchen kann.
Nachdem der Botschaft Prag am 15. März die beantragte Besuchsgenehmigung nur in allgemeiner Form, d. h. ohne Terminnennung, erteilt und ihr am 21. März als Besuchstermin der 10. April — also ein sehr spätes Datum — genannt worden war, wurde der tschechoslowakische Geschäftsträger am 22. März ins Auswärtige Amt gebeten, Er wurde dabei mündlich nachdrücklich auf die der Wiener Konvention über konsularische Beziehungen nicht entsprechende Verzögerung der Besuchserlaubnis durch die tschechoslowakischen Behörden hingewiesen
und um einen spätestens in der Woche vom 25. bis 29. März liegenden Besuchstermin gebeten. Die tschechoslowakischen Behörden haben daraufhin den Besuchstermin auf den 29. März vorverlegt.
Zusatzfrage.
Ich bedanke mich für die Antwort. Aber Sie werden mir doch darin zustimmen, Herr Staatssekretär, daß es ungewöhnlich ist, daß ein so langer Zeitraum von der verhaftenden Behörde bzw. dem Staat eingelegt wird, bevor es dann der konsularischen Vertretung möglich ist, mit dem Verhafteten in Verbindung zu treten?
Herr Abgeordneter, ich habe eben den Verlauf dargestellt. Ich bin bereit, über unsere Anhaltspunkte, die wir für dieses ungewöhnliche Verfahren auf der anderen Seite haben, Ihnen im Auswärtigen Ausschuß bei der nächsten Sitzung nähere Aufklärung zu geben.
Sie wollen von dem Recht der zweiten Zusatzfrage Gebrauch machen.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Herr Gengenbach, bevor er nach Brünn gefahren ist, in Wien von der tschechoslowakischen Regierung sogar zu einem Essen eingeladen war und daß es eine ausdrückliche Einladung der Lebensmittelmesse in Brünn an Herrn Gengenbach war?
Der Bundesregierung ist bekannt, daß Herr Gengenbach — dessen Sohn kürzlich selbst bei uns im Hause war und der eine Funktion bei der mir nahestehenden Partei, der FDP, einnimmt — bei der tschechoslowakischen Seite bisher nie den Eindruck hatte, ■daß sie ihn etwa nicht freundlich empfangen würde.
Herr Dr. Czaja!
Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer Antwort entnehmen, daß hier von der tschechoslowakischen Republik ein Verfahren eingeschlagen worden ist, das nicht der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen entspricht, so daß hier eine Verletzung vorliegt?
Wir haben die tschechoslowakische Seite — ich wiederhole, was ich gesagt habe — darauf hingewiesen, daß nach der Wiener Konvention eine unverzügliche Besuchserlaubnis geboten ist. Der Termin 10. April wurde daraufhin auf den 29. März vorverlegt.
Ich rufe die Frage 51 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Ist es der Bundesregierung möglich, Auskunft zu erhalten und zu geben, wie es den deutschen Volksangehörigen in der Sowjetunion ergangen ist, die wegen ihres Aussiedlungsbegehrens in den letzten zwei Monaten viermal in Moskau demonstriert haben, und ob jetzt ihrem Aussiedlungsbegehren stattgegeben worden ist?
Zur Fragestunde am 20./21. März dieses Jahres hatte Herr Kollege Gierenstein bereits eine ähnliche Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Sie wurde schriftlich beantwortet, da er nicht anwesend war. Für den Fall, daß Ihnen das entsprechende Bundestagsprotokoll noch nicht zur Kenntnis gelangt ist, wiederhole ich — zusammengefaßt — die damalige Stellungnahme.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6111
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es liegen Informationen vor, wonach gegen Teilnehmer an den Demonstrationen Haftoder Geldstrafen verhängt worden sind, nachdem sie in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt waren. Ein Zusammenhang dieser sowjetischen Maßnahmen mit den Demonstrationen kann nicht ausgeschlossen werden.
Der Bundesregierung ist nicht bekannt, ob die Personen, die an den Demonstrationen teilgenommen haben, neue Ausreiseanträge gestellt haben und wie von den zuständigen sowjetischen Stellen darüber entschieden worden ist.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung aber inzwischen bekanntgeworden, in welcher Art diese Haft durchgeführt wird? Man rechnet mit einem Zeitraum von 14 Tagen, und die Haft ist recht grausam, da die Menschen zwei Tage in sogenannten Dunkelzellen stehen müssen, Nägel in den Wänden und die Türen mit Pech ausgestattet, so daß sie sich nirgendwo anlehnen können.
Herr Abgeordneter, es ist uns bekannt, daß eine solche Verhaftung eine schwere Belastung darstellt. Ich muß hier aber auf die Antwort verweisen, die ich eben Ihnen und Herrn Gierenstein schriftlich gegeben habe. Es handelt sich um sowjetische Staatsbürger, die den Gesetzen dieses Landes natürlich unterworfen sind. Die Bundesregierung hat dennoch in den Fällen, die ihr bekanntgeworden sind, Vorstellungen erhoben, und sie hat sich sehr für die Betroffenen eingesetzt.
Eine letzte Zusatzfrage.
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, beim bevorstehenden Besuch des Bundeskanzlers dieses Thema zu besprechen, mit denen, die aussiedeln wollen, aufgrund ihres Schrittes, den sie unternehmen, nicht dieser Schaden zugefügt wird, indem sie verhaftet und in dieser Weise drangsaliert werden?
Herr Abgeordneter, ich möchte vermeiden, daß aus Ihrer Frage der falsche Eindruck entsteht, ,daß Ausreiseanträge dieser Art zu Verhaftungen führen. Es ging ja hier um bestimmte Demonstrationen. Das muß man also unterscheiden.
Die Bundesregierung hat jede Gelegenheit und jeden Besuch zu bilateralen Gesprächen benutzt, um auf die Wichtigkeit der Lösung dieser Frage hinzuweisen. Das ist nicht ohne Erfolg geschehen, wie Sie beim Vergleich der Ausreisegenehmigungen von früher und heute feststellen werden.
Die nächste Frage — Frage 52 — des Herrn Abgeordneten Gerlach wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Herr Staatssekretär, damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes beantwortet. Ich danke Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich ,des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Bundesinnenminister Genscher zur Verfügung.
Die erste Frage — Frage 53 — ist vom Herrn Abgeordneten Seefeld eingereicht:
Wieviel Rettungshubschrauber sind derzeit in der Bundesrepublik Deutschland im ständigen Einsatz, von wem werden sie finanziert, unterhalten, und welche Mittel stellen die jeweiligen Träger zur Verfügung?
Herr Minister!
Herr Abgeordneter, im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Verteidigung beantworte ich die Frage wie folgt.Zur Zeit gibt es im Bundesgebiet elf Rettungshubschrauber, und zwar sieben Maschinen des Katastrophenschutzes, davon sind sechs in ständigem Einsatz, eine Maschine ist Reserve zur Überbrückung von Ausfallzeiten, drei Maschinen des Such- und Rettungsdienstes der Bundeswehr, die in Rettungszentren der Bundeswehr stationiert sind, und eine Maschine der Deutschen Rettungsflugwacht Stuttgart, Björn-Steiger-Stiftung.Die Maschinen des Katastrophenschutzes werden vom Bundesminister des Innern aus Mitteln für die Erweiterung des Katastrophenschutzes, die Hubschrauber des Such- und Rettungsdienstes der Bundeswehr vom Bundesminister der Verteidigung beschafft. Die Deutsche Rettungsflugwacht hat ihre Maschine gechartert. Einer der Hubschrauber des Katastrophenschutzes ist vom ADAC beschafft und zur Verfügung gestellt worden.Neben den Beschaffungskosten trägt 'der Bund für seine Maschinen die Vorhaltekosten, d. h. die Ausgaben für das Flugpersonal und die Wartungskosten, soweit sie durch das Vorhalten der Maschinen bedingt sind. Die Betriebskosten werden im wesentlichen durch die Benutzungsentgelte gedeckt. Sie betragen nach ,den derzeitigen Vereinbarungen mit den Krankenkassen 850 DM für einen Transportflug und 400 DM bei ärztlicher Versorgung ohne anschließenden Transport. Die Einziehung dieser Beträge sowie die statistische Auswertung der Einsätze hat der ADAC ohne Berechnung von Verwaltungskosten übernommen.Soweit die Einnahmen die Betriebskosten, die durch den Einsatz im Rettungsdienst entstehen, nicht decken, ist das Defizit der Maschinen ,des Katastrophenschutzes von ,den Trägern des Rettungsdienstes, also Ländern, Kommunen und Hilfsorganisationen, zu erstatten, wie sich das aus § 14 Abs. 3 des Gesetzes über den Katastrophenschutz ergibt. Die Bundeswehr verlangt ähnliche Benutzungsentgelte. Ein Defizit wird vom Bundesminister der
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6112 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Bundesminister GenscherVerteidigung getragen. Die Deutsche Rettungsflugwacht hat eigene Vereinbarungen mit den Krankenkassen abgeschlossen. Das Defizit wird aus Mitteln der Björn-Steiger-Stiftung und Zuwendungen des Bundesministers für Verkehr und des Landes Baden-Württemberg gedeckt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, wird das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland mit der von Ihnen genannten Zahl von Hubschraubern im Notfalldienst ausreichend abgedeckt, oder halten Sie weitere Stationierung für erforderlich?
Die Bundesregierung hält in Übereinstimmung mit den Kollegen in den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestages die Bereitstellung weiterer Hubschrauber für erforderlich. Es ist auch für das Jahr 1974 wieder die Indienststellung von mehreren Rettungshubschraubern vorgesehen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, haben Sie den Eindruck, daß wir inzwischen über das Stadium der sogenannten Modellversuche hinaus sind, und gibt es bis jetzt schon allgemeingültige Erkenntnisse in diesem Bereich der Notfallrettung?
Diese Erkenntnisse gibt es. Ich glaube, daß die positiven Ergebnisse der Modellversuche der Anlaß dafür gewesen sind, daß nicht nur die Bundesregierung, sondern auch der Deutsche Bundestag bei der Bereitstellung der Mittel positiv entschieden haben.
Ich rufe die nächste Frage — Frage 54 — des Herrn Abgeordneten Stahl auf:
Auf welche wissenschaftlichen Vorarbeiten stützt die Bundesregierung die von ihr vorbereiteten neuen Richtlinien zur Reinhaltung der Luft?
Bitte, Herr Minister.
Der Entwurf einer Ersten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesimmissionsschutzgesetz — Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft — enthält die Anforderungen, welche die Behörden bei der Genehmigung von Anlagen nach § 4 Bundesimmissionsschutzgesetz aus Gründen der Reinhaltung der Luft zu beachten haben. Von besonderer Bedeutung sind die Emissionsgrenzwerte und die Immisionswerte. Die Emissionsgrenzwerte dienen dazu, dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorzubeugen, wie es § 1 des Bundesimmissionsschutzgesetzes verlangt. Sie berücksichtigen den fortschrittlichen Stand der Technik, wie er in der Regel bei Neuanlagen zur Anwendung kommt. Die Emissionsgrenzwerte beruhen auf VDI-Richtlinien aus dem Hand-
buch „Reinhaltung der Luft", auf Angaben der Länder, auf unmittelbaren Informationen aus der Industrie, auf internationalem Erfahrungsaustausch und auf Ergebnisse der vom Bundesminister des Innern geförderten Forschungs- und Entwicklungsvorhaben. Die Immissionswerte dienen ,dem Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen. Sie berücksichtigen die Ergebnisse von Arbeiten der VDI-Kommission Reinhaltung der Luft, von Forschungsarbeiten im Rahmen der vom Bundesminister des Innern geförderten Forschungsprogramme und des internationalen Erfahrungsaustauschs, insbesondere im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation und der NATO.
Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, in welchem Industriestaat sind ähnlich niedrige Konzentrationen an Staub, Stickoxiden und Schwefeloxiden vorgeschrieben?
Herr Abgeordneter, ich bin gerne bereit, Ihnen eine rechtsvergleichende Darstellung vorzulegen, wenn das für Sie wichtig ist.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, wie beurteilen Sie die Aussage der „Einheit", der Gewerkschaftszeitung Bergbau und Energie, in der zu lesen war, daß sämtliche Standorte, die in Nordrhein-Westfalen für die Errichtung von Kraftwerken in Frage kommen, durch 'die vorgesehenen Emissionswerte der TA Luft 1973 für Schwefel und/oder Staub blockiert würden?
Ich halte diese Befürchtungen für nicht zutreffend.
Ich rufe die Frage 55 des Herrn Abgeordneten Stahl auf:
Welche Konsequenzen werden sich aas der Anwendung dieser Richtlinien für die Errichtung neuer Kohlekraftwerke ergeben?
Kohlekraftwerke können mit ihren Emissionen an Staub und gasförmigen Stoffen in erheblichem Maße zur Luftverunreinigung beitragen. Steinkohlekraftwerke sind in der Regel mit ihrem Standort an den Ort der Förderstätte gebunden und liegen somit überwiegend in Gebieten, die durch Luftverunreinigung vorbelastet sind. Mit der Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft soll sichergestellt werden, daß bei der Errichtung neuer Steinkohlekraftwerke in diesen Gebieten die Forderungen erfüllt werden, wie ich sie in meiner Antwort zu Ihrer ersten Frage genannt habe. Aussagen über die Konsequenzen der Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft für die Errichtung von Kohlekraftwerken im Einzelfall sind erst nach Abschluß des jeweiligen Genehmigungsverfahrens möglich. Die Technische Anleitung
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6113
Bundesminister Genscherzur Reinhaltung der Luft wird das Erfordernis einer gesicherten und ausreichenden Versorgung mit Energie mit den Anforderungen des Umweltschutzes so in Einklang bringen, daß beide Ziele voll erfüllt werden können.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Bundesminister, welche Konsequenzen ergeben sich aus der Anwendung dieser Richtlinie für bestehende Kraftwerke, insbesondere diejenigen, die von Ö1 auf Kohle umrüsten möchten?
Auch bei diesen sind die Möglichkeiten von neuen Schutzmaßnahmen zu prüfen, Herr Abgeordneter. Dafür wird die endgültige Fassung der TA-Luft Regelungen enthalten. Ich glaube, man muß grundsätzlich zu diesem Problem sagen — und darüber muß sich jeder in der Öffentlichkeit und im Hohen Hause klar sein, vor allem diejenigen, die dem Gesetz zugestimmt haben; wenn ich richtig informiert bin, ist das Gesetz einstimmig verabschiedet worden —: Ein Umweltschutz nach der Devise „Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht naß" ist nicht möglich.
Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, nach dem, was Sie dargestellt haben, frage ich: Welche Initiativen hält die Bundesregierung für erforderlich, um Umweltschutz und Energieversorgung miteinander zu vereinbaren und den zügigen Bau von benötigten Kraftwerken zu gewährleisten?
Herr Abgeordneter, was die Kernkraftwerke angeht, ist die Bundesregierung bemüht, durch eine vorsorgende Standortplanung die Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen absolut sicherzustellen. Das muß auch in anderen Bereichen gelten. Der Referentenentwurf der TA-Luft ist — das habe ich, glaube ich, sehr deutlich gesagt — auch unter dem Gesichtspunkt der Energieversorgung zu überprüfen, und es wird entsprechend zu entscheiden sein. Aber ich muß noch einmal sagen: Wenn jemand der Meinung sein sollte, man könne Umweltschutzbestimmungen erlassen, die ohne jede Auswirkung für die Wirtschaft sind, dann sollte er lieber sagen, daß er Umweltschutz nicht durchführen will.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hirsch.
Herr Minister, sind Sie der Meinung, daß man Umweltschutz branchenspezifisch betreiben kann, oder ist das nicht vielmehr eine Verpflichtung, die die gesamte Industrie ebenso trifft wie nichtgewerbliche Emittenten?
Herr Abgeordneter, vor allen Dingen dient der Umweltschutz der Erhaltung der Lebensfähigkeit. Hier ist das Zusammenwirken aller Belastungen zu prüfen, weil ja nur die Gesamtbelastung ein Urteil darüber erlaubt, ob die Lebensfähigkeit beeinträchtigt ist oder nicht. Ich kann, so gesehen, Ihrer Frage voll zustimmen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reuschenbach.
Herr Bundesminister, trifft es zu, daß nicht nur die IGBE, sondern auch der Bundeswirtschaftsminister und die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, mindestens aber ihre Verwaltung, die Auffassung vertreten, daß die in NRW und im Saarland bis heute vorgesehenen Standorte für neue Kohlekraftwerke nicht mehr in Frage kämen, wenn die TA-Luft so, wie im Entwurf vorgesehen, Wirklichkeit würde?
Herr Abgeordneter, in dieser Allgemeinheit hat das, glaube ich, keiner der von Ihnen Genannten vertreten. Es ist ganz selbstverständlich, daß die TA-Luft nur in voller Übereinstimmung der Mitglieder der Bundesregierung erlassen werden wird. Aber ich kann mir ein solches Urteil, wie es in Ihrer Frage wiedergegeben wird, nicht zu eigen machen. Es ist mir in dieser Allgemeinheit allerdings auch nicht bekanntgeworden.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Gruhl.
Herr Bundesminister, um Ihre Antwort von vorhin aufzunehmen: Welchen Einfluß hat die Bundesregierung auf die Standortplanung, insbesondere der Kernkraftwerke? Das ist ja eine Länderangelegenheit.
Herr Abgeordneter, ich habe schon gesagt, daß ich versuchen will, durch Mitwirkung an der Vorsorgeplanung die Interessen des Umweltschutzes und der Energieversorgung bei der Bereitstellung von Standorten in Einklang zu bringen. Aber dieser Einfluß ist minimal. Er liegt eindeutig in der Hauptsache bei den Ländern.
Ich rufe die nächste Frage — 56 — des Abgeordneten Dr. Wernitz auf:
Ist die Bundesregierung in der Lage mitzuteilen, wie sich die im Verfassungsschutzbericht 1972 genannten Angehörigen links-und rechtsradikaler Organisationen auf die Bundeswehr , auf den Bundesgrenzschutz und auf die Polizei der Länder aufteilen, und ist die Bundesregierung bereit, diese Aufgliederung gegebenenfalls bei künftigen Berichten beizubehalten?
Der Antwort auf Ihre Frage, Herr Abgeordneter, möchte ich zur Vermeidung von Mißverständnissen eine Bemerkung voranstellen. Erkenntnisse über extre-
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6114 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Bundesminister Genschermistische Organisationen und ihre Mitglieder sind auch davon abhängig, in welchem Maße zu beobachtende Gruppierungen personelle und organisatorische Angelegenheiten geheimhalten, wie das bei Organisationen im Bereich des Linksradikalismus, und hier vor allem bei denen der „Neuen Linken", der Fall ist. Deshalb ist die Dunkelziffer im Bereich des Linksradikalismus wesentlich höher anzusetzen als im rechtsradikalen Bereich. Mit dieser Einschränkung bitte ich die folgenden Angaben über Angehörige der Bundeswehr, des Bundesgrenzschutzes und der Polizeien der Länder hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft in extremistischen Organisationen zu werten.Am 31. Dezember 1972 gehörten nach den vorliegenden Erkenntnissen dem Bundesgrenzschutz 15 Mitglieder rechtsradikaler Organisationen an. Dagegen lagen Erkenntnisse über eine Mitgliedschaft in linksradikalen Organisationen nicht vor.Bei den Polizeien der Länder galten 50 Angehörige als Mitglieder rechtsradikaler und 5 als Mitglieder linksradikaler Organisationen.Für die Bundeswehr — ohne Wehrpflichtige — liegen für diesen Zeitpunkt folgende Zahlen vor. Als Mitglieder rechtsradikaler Organisationen waren am 31. Dezember 1972 139 Personen gemeldet. Die Zahl der Angehörigen linksradikaler Organisationen, unter Einschluß der „Neuen Linken", in der Bundeswehr wurde nach Mitteilung des Bundesministers der Verteidigung erstmals für Oktober 1973 mit 26 erfaßt.Zum zweiten Teil Ihrer Frage kann ich mitteilen, daß die Angaben über Radikale im öffentlichen Dienst in den Verfassungsschutzberichten künftig für Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Polizeien der Länder gesondert ausgewiesen werden. Im übrigen verweise ich wegen der neuesten Zahlen auch auf meine Antwort vom 14. März 1974 auf eine Frage des Herrn Kollegen Gansel und auf die Beantwortung der Frage des Herrn Kollegen Gerster in der Fragestunde am 20. März 1974. Daraus ergibt sich, daß z. B. im Bundesgrenzschutz die Zahl der Rechtsradikalen rückläufig ist. 15 Mitgliedern rechtsradikaler Organisationen, die dem Bundesgrenzschutz am 31. Dezember 1972 angehört haben, stehen 10 im gegenwärtigen Zeitpunkt gegenüber.
Bitte, Herr Kollege, eine Zusatzfrage!
Ich darf mich zunächst für die eindeutige und klare Antwort sehr herzlich bedanken und möchte Sie fragen, ob Sie mit mir dahin gehend übereinstimmen, daß es eben gerade darauf ankommt, durch eine klare Aufgliederung, bezogen auf Links- und Rechtsradikale — die Betonung könnte man auch umkehren —, einen wesentlichen Beitrag jetzt und in Zukunft dazu zu leisten, daß in der Öffentlichkeit kein schiefes Bild entsteht und nicht mißverständlich diskutiert werden kann. Darf ich Ihre Antwort so verstehen?
Herr Abgeordneter, es besteht überhaupt kein Zweifel, daß
es notwendig und richtig ist, über die Zahl von rechts- und linksradikalen Mitgliedern, z. B. auch in bestimmten staatlichen Bereichen einschließlich Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Polizeien, Auskunft zu geben. Ich möchte aber hinzufügen, daß es für die innere Sicherheit in unserem Lande und dem Bestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung grundsätzlich entscheidend ist, wieviel Radikale überhaupt im öffentlichen Dienst sind.
Ich möchte den einen oder anderen Radikalismus weder über- noch unterbewerten. Sie sind gleich gefährlich gleichgültig von welcher Seite sie unsere Ordnung bedrohen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Darf ich Sie — bezogen auf das, was Sie soeben gesagt haben — also dahin gehend verstehen, daß das, was Sie angekündigt haben, ein Instrument ist, mit dem wir das in Zukunft noch optimaler als bisher tun können?
Herr Abgeordneter, ich bin der Meinung, daß die Verfassungsschutzberichte das Ziel haben — soweit eine Geheimhaltung nicht erforderlich ist —, die Öffentlichkeit voll über die Gefahren des politischen Radikalismus aufzuklären. Dazu gehört auch eine Aufklärung über die Zahl von Angehörigen radikaler Parteien und Organisationen im Staatsdienst.
Ich rufe ,die Frage 57 des Abgeordneten Dr. Wernitz auf:
Wozu dienen die Verfügungen des Bundesamts für zivilen Bevölkerungsschutz an nachgeordnete Dienststellen, in denen zum einen praktisch detailliert vorgeschrieben wird, zu welchen Veranstaltungen Parlamentarier eingeladen werden können, und in denen zum anderen über den Grund bzw. den „vermuteten Grund" des Abgeordnetenbesuchs Bericht erstattet werden muß?
Für den Bereich der zivilen Verteidigung hat das Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz Ende 1971, einer Anregung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages folgend, die zu seinem Bereich gehörenden Dienststellen angewiesen, zu den Veranstaltungen auch die Abgeordneten des jeweiligen Wahlkreises einzuladen. Auf Grund dieser allgemein gehaltenen Verfügung wurden die Abgeordneten jedoch teilweise auch zu unbedeutenden Veranstaltungen, z. B. selbst zu Lehr- und Ausbildungsveranstaltungen, eingeladen. Da diese Praxis nicht dem Sinn der Regelung entsprach, wurden die Landesbeauftragten des THW durch Rundschreiben vom 2. März 1972 aufgefordert, die Abgeordneten zu Veranstaltungen von besonderer Bedeutung einzuladen. Als solche Veranstaltungen wurden Gründungsversammlungen von Ortsverbänden und Einweihungen von THW-Unterkünften nur beispielhaft aufgeführt. Ein detaillierter Erlaß, zu welchen Veranstaltungen Parlamentarier eingeladen werden können, ist dagegen nicht ergangen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6115
Bundesminister GenscherIch habe sämtliche Dienststellen meines Geschäftsbereichs mit Erlaß vom 11. Oktober 1973 angewiesen, mich rechtzeitig von dem Besuch von Bundes- und Landtagsabgeordneten zu unterrichten und dabei, soweit möglich, den Grund oder den vermuteten Grund des Besuchs mitzuteilen. Auf diese Weise soll erreicht werden, daß die Mitglieder des Hohen Hauses oder auch der Landtage an Ort und Stelle möglichst umfassend und, falls das erforderlich erscheint, auch durch einen Vertreter des Bundesministeriums des Innern unterrichtet werden können.
Eine Zusatzfrage.
Warum ist dieser Erlaß auch auf Staatssekretäre und Minister des Bundes und der Länder ausgedehnt worden?
Weil auch Staatssekretäre des Bundes und der Länder möglicherweise Fragen stellen, zu deren Beantwortung die Anwesenheit eines Angehörigen des Bundesministeriums des Innern notwendig ist, Herr Abgeordneter.
Eine weitere Zusatzfrage.
Gibt es, bezogen auf diesen Erlaß, eine Art Sammelauswertung und könnte man darüber einmal zu gegebener Zeit im Innenausschuß einen Erfahrungsbericht bekommen?
Herr Abgeordneter, wenn das Ihr Wunsch ist, so ist dieser Wunsch uns Befehl.
Ich rufe die Frage 58 des Herrn Abgeordneten Pensky auf:
Inwieweit hat die Bundesregierung Erfahrungen gesammelt, ob die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Waffengesetz die erwünschte bundeseinheitliche Handhabung des Waffenrechts — insbesondere hinsichtlich der Bedürfnisprüfung — gewährleisten?
Herr Minister!
Für die Ausführung des Waffengesetzes nach Art. 83 des Grundgesetzes sind grundsätzlich die Länder zuständig. Bei der Bundesregierung fallen daher unmittelbar keine Erfahrungen über den Gesetzesvollzug an. Aktuell auftretende Zweifelsfragen werden jedoch regelmäßig mit den Ländern abgestimmt. Hierbei haben sich bisher keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Waffengesetz die erwünschte bundeseinheitliche Handhabung des Waffenrechts nicht gewährleisten. Dies gilt auch für die Anwendung des Bedürfnisbegriffs. Auch sind von den Ländern keine Wünsche auf Ergänzung der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Waffengesetz an die Bundesregierung herangetragen worden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, da der Bundesrat dieses Waffengesetz initiiert hat und wir dem freudig zugestimmt haben, um eine bundeseinheitliche Regelung zu erreichen, meine ich, müßte es doch möglich sein — wenn Sie schon kein Recht haben, danach zu fragen —, zumindest im Einvernehmen mit den Ländern eine solche Erhebung durchzuführen. Deshalb frage ich: Sind Sie bereit, das zu tun, eben weil wir doch daran interessiert sind, eine einheitliche Handhabung zu erreichen?
Herr Abgeordneter, das sollte man tun, wenn man eine gewisse Erfahrung mit dem Gesetzesvollzug hat. Ich schließe es also grundsätzlich nicht aus.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Minister, läßt nicht allein die Tatsache, daß ich haufenweise Briefe aus interessierten Kreisen habe und mich zwischenzeitlich in dieser Frage als Briefkastenonkel betätigt habe, den Schluß zu, daß hier eine uneinheitliche Handhabung vorliegt? Ich habe, das darf ich auch sagen, Ihrem Hause einige Fälle mitgeteilt.
Herr Abgeordneter, man muß zunächst in der Politik zwischen interessierten Kreisen und Interessenten unterscheiden. Ich vermute, Sie meinen nur den ersten Personenkreis. Hierzu muß ich sagen, daß bei jedem neuen Gesetz zunächst einmal eine Anlaufzeit zur Erarbeitung einer übereinstimmenden Verwaltungspraxis notwendig ist, was Sie nicht allein mit Durchführungsbestimmungen erreichen können. Sehr häufig ist sogar eine einheitliche Rechtsanwendung davon abhängig, daß richterliche oder sogar höchstrichterliche Entscheidungen ergehen. Das wollen Sie bitte als Erfahrungssatz bei der Beurteilung der einheitlichen Anwendung mit berücksichtigen!
Ich sage noch einmal: wenn man einen gewissen zeitlichen Ablauf in der Praxis des Gesetzes hat, wird es ohne Zweifel richtig sein, eine solche Erhebung vorzunehmen, wie Sie sie anregen.
Ich rufe die Frage 59 des Herrn Abgeordneten Pensky auf:
Ist die Bundesregierung bereit, unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Verwaltungspraxis die Kriterien zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Bedürfnis" in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften weiter zu konkretisieren?
§ 32 des Waffengesetzes und Nr. 32 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu diesem Gesetz enthalten schon Anweisungen an die Verwaltungsbehörden über die bei der Bedürfnisprüfung anzulegenden Maßstäbe. Der unbestimmte Rechtsbegriff des Bedürfnisses läßt sich in generellen Normen nicht für alle denkbaren Lebenssachverhalte konkretisieren.
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6116 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Bundesminister GenscherSeine Anwendung erfordert eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, die nur von der zuständigen Behörde vorgenommen werden kann. Auf die Nr. 10 der Antwort auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Schneider, Strauß, Stücklen, Kiechle, Vogel, Dr. Miltner, Dr. Wörner, Dr. Kunz und Genossen darf ich Sie insoweit verweisen.Wie dort schon ausgeführt, ist die Bundesregierung grundsätzlich bereit zu prüfen, ob der unbestimmte Rechtsbegriff des Bedürfnisses in Allgemeinen Verwaltungsvorschriften weiter konkretisiert werden kann. Hierfür ist jedoch Voraussetzung, daß sich auf Grund einer längeren Verwaltungspraxis weitere allgemeine Kriterien für eine Konkretisierung finden lassen. Der Zeitraum seit Inkrafttreten des Gesetzes reicht hierfür noch nicht aus. Über diese Sachlage sind auch die interessierten Fachverbände anläßlich der Anhörung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes im Januar dieses Jahres unterrichtet worden.
Eine Zusatzfrage,
Herr Minister, sind Sie der Meinung, daß der Weg richtig ist, zunächst einmal die Gerichte über die Auslegung der Bedürfnis-Frage entscheiden zu lassen, oder kommt es nicht darauf an, bestimmte Kriterien daraufhin abzustecken, ob sie nicht in der Verwaltungsvorschrift unter den Begriff „Bedürfnis" einzureihen sind? Das wäre eine politische Entscheidung.
Herr Abgeordneter, ich bin nicht der Meinung, daß man die Rechtsprechung abwarten muß.
— Spätestens heute abend, Herr Abgeordneter.
Der Herr Abgeordnete Gierenstein hat um schriftliche Beantwortung der Frage 60 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 61 des Herrn Abgeordneten Blank ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Ich rufe die Frage 62 des Herrn Abgeordneten Dr. Böhme auf:
Stimmt die Bundesregierung der Äußerung von Professor Dahrendorf, Mitglied der EG-Kommission, zu , daß keine internationale Absprache über die Stand-orle für neue Kernreaktoren am Rhein besteht und daß dieser Zustand unverantwortlich ist?
Es ist richtig, daß eine internationale Absprache über die Standorte für neue Kernkraftwerke am Rhein derzeit nicht besteht. Die Bundesregierung erörtert zwar sowohl in bilateralen Kontakten mit der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden unter Beteiligung der jeweiligen Bundesländer als auch in internationalen Gremien, u. a. in den Europäischen Gemeinschaften, die Fragen, die sich bei Kernkraftwerken im grenznahen Raum ergeben, und versucht damit eine Harmonisierung der sicherheitstechnischen und Umweltschutz-Anforderungen an kerntechnische Einrichtungen herbeizuführen.
Angesichts der zu erwartenden Zuwachsraten an Kernkraftwerken in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und in den übrigen Nachbarländern hält die Bundesregierung darüber hinaus eine gegenseitige Absprache schon bei der Standortplanung für neue Kernkraftwerke für erforderlich, und zwar nicht nur am Rhein, sondern auch im übrigen Bundesgebiet und den angrenzenden Ländern. Als Voraussetzung für eine solche Absprache sieht die Bundesregierung eine einheitliche Standortvorsorge innerhalb der Bundesrepublik Deutschland selbst an. Die Bundesregierung steht wegen der erforderlichen Maßnahmen zur vorausschauenden Standortplanung und Standortsicherung mit den Bundesländern in Kontakt, um im Rahmen ihrer begrenzten Zuständigkeiten — ich habe darauf schon in anderem Zusammenhang hingewiesen —, auf ein rasch arbeitsfähiges einheitliches Standortvorsorgeverfahren hinzuwirken.
Die Bundesregierung würde es sehr begrüßen, wenn die Nachbarländer der Bundesrepublik Deutschland eine ähnliche vorausschauende Standortvorsorge treffen, um dadurch einvernehmliche, im gegenseitigen Interesse liegende Absprachen entlang den Grenzen zu ermöglichen und zu erleichtern.
Am Rhein, der wegen seiner großen Wasserführung von allen Anliegerstaaten als Kühlwasserreservoir benutzt wird, sind die Probleme sicherlich von herausragender Art. Hinsichtlich der Wärmezuleitung in diesen Fluß sind die Grenzen des Tragbaren schon erreicht, und es wurden auf Drängen der Bundesregierung zwischen den Rheinanliegerstaaten Absprachen getroffen, die eine weitere Aufwärmung verhindern sollen. Es ist zu hoffen, daß sich alle Staaten an diese Absprachen halten werden. Die Bundesrepublik Deutschland wird das tun.
Unter Berücksichtigung dieser Initiativen von deutscher Seite bezog sich die Äußerung von Prof. Dahrendorf — was er ausdrücklich erklärt hat — nicht auf die Haltung der Bundesregierung. Dies hat Prof. Dahrendorf unlängst noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, haben bilateral oder im Rahmen der Internationalen Rheinschutz-Kommission Gespräche mit den Anliegerstaaten des Rheins über eine — wie in der Bundesrepublik — initiierte Standortvorsorge stattgefunden?
Wir regen das bei jeder Gelegenheit an.
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Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 63 des Herrn Abgeordneten Dr. Böhme auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, durch internationale Vereinbarungen eine unzulässige thermische Belastung des Rheins zu verhindern und die Bevölkerung beider Rheinseiten hinsichtlich Reaktorsicherheit und Strahlenschutz sicherzustellen?
Auf den Ministerkonferenzen der Rheinanliegerstaaten über den „Schutz des Rheins gegen Verunreinigungen" in Den Haag — 1972 — und in Bonn — 1973 —wurde beschlossen, daß alle zukünftigen Kraftwerke am Rhein mit geschlossenen Kühlsystemen oder gleichwertigen Systemen ausgerüstet werden sollen, die es ermöglichen, die Kraftwerke ohne nennenswerte Wärmeeinleitung in den Fluß zu betreiben.
Die Internationale Rheinschutz-Kommission wird bis zur nächsten Ministerkonferenz im Herbst 1974 Regelungen vorschlagen, die eine unzulässige Erwärmung des Rheins verhindern. Außerdem soll die Kommission Vorschläge für eine wirksame Kontrolle der eingeleiteten Wärmemengen ausarbeiten.
Hinsichtlich des Schutzes gegen ionisierende Strahlen existieren die Euratom-Grundnormen für den Strahlenschutz, die für die EG-Staaten eine verbindliche Basis für die nationalen Strahlenschutznormen darstellen.
Darüber hinaus bestehen internationale Vereinbarungen auf Grund der Bestimmungen des Euratom-Vertrages, welche eine gegenseitige Information über Anlagen mit radioaktiven Emissionen vorschreiben. Im sicherheitstechnischen Bereich wird an einer Harmonisierung der Schutzanforderungen an Kernkraftwerke intensiv gearbeitet.
Schließlich existieren in der Atomhaftung internationale Konventionen — ich erwähne die Pariser Konvention und die Brüsseler Zusatzkonvention —, denen die Bundesrepublik beitreten wird und die für den Fall eines Reaktorstörfalles zumindest eine finanzielle Hilfe für die Bevölkerung gewährleisten.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, wenn ich es recht verstanden habe, sind diese Bemühungen um eine Harmonisierung erst in die Zukunft gerichtet, wobei ich anmerken darf, daß bis jetzt noch keine Ergebnisse vorhanden sind. Mir ist aus einem Brief von Ihnen bekannt, daß im Falle Fessenheim ein detaillierter sicherheitstechnischer Vergleich des Kernkraftwerkes Fessenheim mit einer ähnlichen deutschen Anlage durchgeführt wird. Sind ähnliche Überlegungen auch für die anderen Standorte von Atomkraftwerken vorgesehen?
Herr Abgeordneter, das ist notwendig. Ich muß im übrigen der in Ihrer Frage liegenden Feststellung widersprechen, daß noch keine Vereinbarungen abgeschlossen sind. Ich muß noch einmal wiederholen, was ich gesagt habe.
Auf den Ministerkonferenzen der Rheinanliegerstaaten über den „Schutz des Rheins gegen Verunreinigungen" in Den Haag — 1972 — und in Bonn — 1973 — wurde beschlossen, daß alle zukünftigen Kraftwerke am Rhein mit geschlossenen Kühlsystemen oder gleichwertigen Systemen ausgerüstet werden sollen, die es ermöglichen, die Kraftwerke ohne nennenswerte Wärmeeinleitung in den Fluß zu betreiben.
Herr Minister, meine Frage bezog sich nicht auf die thermische Belastung, sondern auf das Reaktorsicherheitsrisiko und auf den Strahlenschutz.
Darf ich daher noch einmal bitten, daß Sie dazu Stellung nehmen, wie nach jetziger Rechtslage — bei den bestehenden Projekten — verfahren wird und was künftig geplant wird.
Herr Abgeordneter, soweit wir uns über die Frage der thermischen Belastung hinausbewegen, hatte ich Ihnen schon in meiner Beantwortung auf die vorhergehende Frage gesagt, daß sich die Bundesregierung hier um Vereinbarungen bemüht, wobei sie in ihrem Bereich durch Zusammenwirken mit den Bundesländern bemüht ist, durch eine vorausschauende Standortplanung und Standortsicherung ihren Anteil zu leisten, um nicht auf ihrer Seite gerade die Grenzgebiete in übermäßiger Form zu belasten.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Verständnis, wenn ich jetzt, nach dem Ablauf einer Stunde, in der nur etwas mehr als ein Dutzend Fragen beantwortet worden sind, die nächste Frage aufrufe, um somit möglichst vielen Fragestellern die Beantwortung ihrer Frage zu ermöglichen.
Die Frage 64 ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Ich rufe die Frage 20 der Abgeordneten Frau Schleicher auf:
Welche Auswirkungen hat das Absinken der Geburtenziffer, ihr Verhältnis zur Sterbeziffer und die für beide erkennbaren Tendenzen auf die absehbare wirtschaftliche und soziale Entwicklung, insbesondere auf die Fähigkeit, die notwendigen staatlichen und sozialen Leistungen zu erbringen, sowie auf die sachlichen und personellen Ausbildungskapazitäten, und zu welchen Überlegungen sieht sich die Bundesregierung dadurch veranlaßt?
Es trifft zu, daß die Entwicklung der Geburten- und Sterbeziffern in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren durch einen starken Rückgang der Geburten bei gleichbleibenden und zeitweise leicht ansteigenden Sterbefällen gekennzeichnet ist.Bezogen auf jeweils 1 000 Einwohner ist die Zahl der Lebendgeborenen von 13,4 im Jahre 1970 auf 10,2 im Jahre 1973 zurückgegangen; die Zahl der Gestorbenen betrug im Jahre 1970 — ebenfalls bezogen auf 1 000 Einwohner — 12,1 und im Jahre 1973 11,8.
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6118 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Bundesminister GenscherAus der Gegenüberstellung beider Ziffern ergibt sich für 1970 noch ein Überschuß der Geburten über die Sterbefälle in Höhe von 1,3 je 1 000 Einwohner, im Jahre 1973 ist dagegen ein Überschuß der Sterbefälle in Höhe von 1,6 festzustellen. Hinsichtlich der künftigen Entwicklung der Geburtenhäufigkeit kann voraussichtlich von einem weiteren Absinken ausgegangen werden. Bei im wesentlichen gleichbleibenden Sterbewahrscheinlichkeiten wird es daher auch in den nächsten Jahren voraussichtlich zu Sterebefallüberschüssen kommen.Diese demographischen Daten finden auch Eingang in die verschiedenen Prognosen und Projektionen der Bundesregierung als statistisches Grundlagen- bzw. Ausgangsmaterial. Die Zeithorizonte der amtlichen Prognosen und Projektionen auf den Gebieten der Wirtschafts-, Finanz-, Sozial-, Familien-und Bildungspolitik betragen kurzfristig ein bis zwei Jahre, mittelfristig fünf Jahre und langfristig 15 Jahre. Die Bundesregierung legt in verschiedenen Berichten — z. B. Jahreswirtschaftsbericht, Sozialbericht, Finanzplan des Bundes, langfristige Perspektivprojektion der Wirtschaftsentwicklung und Rentenanpassungsbericht — sowie im Zusammenwirken mit den Bundesländern — z. B. Bildungsgesamtplan dar, wie die voraussichtliche Entwicklung einschließlich der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen veränderter demographischer Strukturen beurteilt wird, und zeigt dabei insbesondere auch die Maßnahmen auf, die sie für notwendig hält, um die vom Staat geforderten Leistungen zu erbringen.Im Unterschied zu den ökonomischen und sozialen Vorausschätzungen werden Bevölkerungsvorausschätzungen häufig auch für einen größeren Zeitraum durchgeführt. So hat das Statistische Bundesamt, ausgehend von den oben genannten Annahmen über Geburtenhäufigkeit und Sterbewahrscheinlichkeiten, in einer Berechnung von Januar 1973 die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland zum 1. Januar 2000 auf 56,971 bis 58,814 Millionen Einwohner prognostiziert. Im Hinblick auf die möglichen Änderungen der zugrunde liegenden Annahmen, insbesondere auch wegen des relativ hohen Ausländeranteils in der Bundesrepublik Deutschland, haben die Ergebnisse der langfristigen Bevölkerungsprognosen Modellcharakter.Abschließend sei darauf verwiesen, daß der Bundesminister des Innern eine nachhaltige Verbesserung der demographischen Forschungstätigkeit für notwendig hält, die insbesondere zu einer vermehrten und verbesserten Bereitstellung von Grundlagenmaterial über Bevölkerungsstruktur und -entwicklung führen soll. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung im Jahre 1973 in Wiesbaden errichtet worden. Erste Priorität unter den Forschungsvorhaben des Instituts haben Untersuchungen über Ursachen und Auswirkungen des Geburtenrückgangs. Die Teilnahme der Bundesregierung an der im August dieses Jahres in Bukarest stattfindenden Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen erfordert ebenfalls eine genaue Analyse der Bevölkerungstrends im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Diese Arbeiten werden zur Jahresmitte abgeschlossen sein und dann zur Verfügung stehen.
Keine Zusatzfragen.
Der Herr Abgeordnete Hussing hat um schriftliche Beantwortung seiner Frage 67, die im Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz stand, gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 87 des Herrn Abgeordneten Dr. Luda auf:
Treffen Pressemeldungen zu, wonach wegen des Inhalts des Entwurfs einer Rechtsverordnung zum Bundesimmissionsschutzgesetz mehrere Elektrizitätsversorgungsunternehmen den Plan, neue Steinkohlekraftwerke zu bauen, fallengelassen haben?
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung ist bekannt, daß ein Elektrizitätsversorgungsunternehmen die Bestellung von zwei Kesseln für ein geplantes Steinkohlekraftwerk am 14. Februar 1974 anulliert hat mit der Behauptung, die Genehmigungsbehörde ziehe bei der Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen den Entwurf der Ersten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz „Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft" mit heran. Nach Auffassung des Unternehmens sei mit der Genehmigung der Kraftwerkserweiterung auf Steinkohlebasis nicht zu rechnen.Tatsächlich hat die zuständige Genehmigungsbehörde im Land Nordrhein-Westfalen die Genehmigung auf der Grundlage der TA-Luft 1964 erteilen wollen. Die Antragstellerin hat auf diese Genehmigung von sich aus verzichtet, weil sie befürchtete, daß in einem möglichen Verwaltungsstreitverfahren die Vorschriften der neuen TA-Luft zugrunde gelegt werden könnten.Ich kann selbstverständlich nicht zu dem Ausgang eines möglichen Verwaltungsgerichtsverfahrens Stellung nehmen; ich kann mir aber nicht vorstellen, daß jemand, der eine Anlage genehmigt bekommt, ein solches Verfahren einleitet. Eines möchte ich aber feststellen: Der Einwirkungsbereich dieses Kraftwerks liegt in einem der am stärksten belasteten Gebiete der Bundesrepublik Deutschland.Ich darf im übrigen hinzufügen, Herr Abgeordneter, daß das Unternehmen inzwischen die Genehmigung für ein Kraftwerk an einem anderen Standort in Nordrhein-Westfalen beantragt hat, so daß nicht zu befürchten ist, daß energiepolitisch gesamtwirtschaftlich ein Ausfall entsteht.Der Bundesregierung ist ferner bekannt, daß ein anderes Unternehmen die Aufträge auf ein halbes Jahr storniert hat, die den Kern eines geplanten Steinkohlekraftwerks betreffen. Da s Unternehmen begründet diesen Schritt damit, daß das Genehmigungsverfahren sich „hinziehe". Das hat also auch nichts mit der TA-Luft zu tun. Es steht nach seinen Einlassungen allerdings in klärenden Gesprächen mit der zuständigen obersten Landesbehörde.Ich bin davon unterrichtet worden, daß die Schwierigkeiten bei diesem Kraftwerk nicht etwa an der
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6119
Bundesminister Genscherjetzigen oder künftigen TA-Luft liegen, sondern planerischer Natur sind. Die Gemeinde erarbeitet einen Sanierungsplan für das in Betracht kommende Gebiet.
Zusatzfrage?
Herr Minister, ist es richtig, daß das Bundeswirtschaftsministerium, welches ja mit zuständig ist, genau dieselben Bedenken gegen den in Ihrem Hause erarbeiteten Entwurf vorgebracht hat, wie sie in meinen beiden Fragen zum Ausdruck kommen?
Dieselben ganz sicher nicht, Herr Abgeordneter.
Keine weitere Zusatzfrage? — Dann rufe ich Ihre nächste Frage — Frage 88 — auf:
Stimmt die Bundesregierung der Feststellung zu, daß der vom Bundeskanzler zur Stützung der Steinkohleförderung angekündigte Bau von weiteren zehn Steinkohlekraftwerken in den Revieren Ruhr, Aachen, Saar von den Gewerbeaufsichtsämtern nicht genehmigt werden kann, falls die Rechtsverordnung in der geplanten Fassung in Kraft gesetzt wird?
Die Bundesregierung widerspricht der Behauptung, daß der geplante Bau von Steinkohlekraftwerken durch den Referentenentwurf einer Rechtsverordnung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz von den zuständigen Behörden zum Anlaß genommen werden kann, eine Genehmigung zu versagen. Bei der angesprochenen „Rechtsverordnung" handelt es sich um den Referentenentwurf einer Ersten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz, um die sogenannte Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft . In ihrem Energieprogramm hat die Bundesregierung die Auffassung vertreten, daß das Erfordernis einer sicheren und ausreichenden Versorgung mit Energie mit den Anforderungen des Umweltschutzes so in Einklang gebracht werden muß, daß beide Ziele erfüllt werden können. Die Bundesregierung wird bei der Abfassung der Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft in diesem Sinne verfahren.
Herr Minister, wenn so kompetente und in dieser Sache sicherlich auch neutrale Stellen wie — ich wiederhole — einmal das Bundeswirtschaftsministerium, zum anderen die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, drittens die 1G Bergbau und Energie und viertens die zuständige Industrie derartige Bedenken erheben, glauben Sie dann nicht, daß das für Ihr Haus Veranlassung sein sollte zu prüfen, ob, wie Sie hier heute noch behaupten, der notwendige Ausgleich zwischen Umweltschutz auf der einen Seite und Energieversorgung auf der anderen Seite, d. h. also auch Sicherung der Arbeitsplätze, durch Ihren Entwurf tatsächlich erreicht worden ist?
Herr Abgeordneter, es gibt zwischen dem Bundesministerium
für Wirtschaft und dem Bundesinnenministerium überhaupt keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß dieser Ausgleich notwendig ist.
Das ist auch der Grund, warum wir über diese TA-Luft verhandeln.
— Herr Abgeordneter, Sie möchten gern, daß wir streitig verhandeln. Wir verhandeln konstruktiv.
Die Fragen 93 und 94 des Herrn Abgeordneten Engelsberger werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern beantwortet. Herr Minister, ich danke Ihnen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Professor Dr. Slotta bittet um schriftliche Beantwortung der eingereichten Frage 84. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 85 des Herrn Abgeordneten Wolfram auf:
Hält die Bundesregierung eine quantitative Erfolgskontrolle der sektoralen Strukturpolitik für eine geeignete Maßnahme, um den in der Literatur aufgetretenen Bedenken über die Wirksamkeit der sektoralen Strukturpolitik zu begegnen?
Herr Staatssekretär Grüner steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Die Bundesregierung teilt die in Ihrer Frage zum Ausdruck kommende Auffassung, daß eine möglichst effiziente Erfolgskontrolle im Bereich der sektoralen Strukturpolitik wünschenswert und notwendig ist. Es ist ganz selbstverständlich, daß das Bundesministerium für Wirtschaft und die anderen Ressorts nicht nur den Erfolg ihrer Politik und insbesondere von Subventionen sorgfältig zu kontrollieren versuchen, sondern auch die angewandten Methoden zu verbessern bemüht sind. Gegen geeignete Maßnahmen zur Verbesserung der Erfolgskontrolle bestehen daher überhaupt keine Einwendungen.
Ob und inwieweit eine quantitative sektorale Erfolgskontrolle möglich ist und zu verläßlichen Ergebnissen führen kann, muß im Einzelfall beurteilt werden. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, daß je nach dem Bereich, den eingesetzten Instrumenten oder der Mittelverwendung recht unterschiedliche Möglichkeiten gegeben sind und Methoden angewandt werden müssen.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, welche Schätzungen oder Prognosen liegen den Haushaltsansätzen für die öffentlichen Mittel in den Bereichen der sektoralen Strukturpolitik zugrunde?
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6120 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
In diesen Bereichen liegen keine Prognosen zugrunde, die auf eine quantitative Erfolgskontrolle abgestellt sind.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, können an Stelle ausschließli eh quantitativer Produktionskennziffern auch andere Merkmale in Zukunft für die Beurteilung herangezogen werden?
Wir sind hier in einem ständigen Informationsaustausch und Meinungsbildungsprozeß begriffen, und es sind auch neue Gesichtspunkte, die hier Anwendung finden können, ständig Grundlage unserer Arbeit.
Ich rufe die Frage 86 des Herrn Abgeordneten Wolfram auf:
Welche politischen und fachlichen Bedenken haben darüber hinaus die Bundesregierung daran gehindert, entsprechende Forschungsaufträge oder ähnliche Maßnahmen zu unterstützen bzw. in Auftrag zu geben?
Herr Staatssekretär!
Forschungsaufträge, die eine wirksamere Erfolgskontrolle ermöglichen sollen, werden von der Bundesregierung auch in Zukunft unterstützt werden.
Zusatzfrage!
Haben Sie, Herr Staatssekretär, in letzter Zeit entsprechende Forschungsaufträge erteilt, oder stehen Entscheidungen über solche Forschungsaufträge zur Zeit an?
Es sind Forschungsaufträge erteilt worden. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob im Augenblick solche Entscheidungen anstehen.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung einen Überblick über die Methoden der Erfolgskontrolle der sektoralen Strukturpolitik in den EG-Ländern bzw. sind Sie bereit, bei der Kommission eine derartige Untersuchung anzuregen?
Dazu sind wir sehr gerne bereit. Ich füge hinzu, daß nach unserer Erfahrung die Erkenntnisse, die wir in der Bundesrepublik haben, in der EG am weitesten fortgeschritten sind.
Die Fragen 89 und 90 des Herrn Abgeordneten Kater werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet, Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 91 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Ist die Bundesregierung in der Lage, die aus der „DDR" im Jahr 1973 und in den ersten zwei Monaten 1974 eingeführten Mengen von Polstermöbeln und die jeweiligen Preise bekanntzugeben, auch im Verhältnis zu den Vorjahren, und ist sie informiert darüber, ob die Preise für die Lieferungen aus der „DDR" für Polstermöbel nach den Grundsätzen der Kostendekkung, wie sie für die heimische Wirtschaft vorgenommen werden, kalkuliert wurden?
Herr Staatssekretär!
In den Jahren 1972, 1973 und im Januar 1974 sind aus der DDR folgende Mengen Polstermöbel bezogen worden:
1972: 453 000 Stück
1973: 456 000 Stück
Januar 1974: 38 000 Stück.
Die Zahl der im Februar 1974 bezogenen Polstermöbel liegt noch nicht vor. Deshalb wurden die
Februarzahlen in dieser Antwort nicht berücksichtigt.
Zur Erläuterung dieser Zahlen sei darauf hingewiesen, daß die Bezüge von Polstermöbeln aus der DDR im Jahre 1972 nur 1,9 % unserer Produktion ausgemacht haben. 1973 dürfte der Anteil nicht höher gewesen sein.
Die rechnerischen Durchschnittspreise der bezogenen Polstermöbel beliefen sich 1972 auf 102 DM, 1973 auf 101 DM und im Januar 1974 auf 89 DM. Die Zahlen sind bereits abgerundet. Diese Zahlen lassen keinen echten Preisvergleich zu, da sie die jeweilige Zusammensetzung der Bezüge unberücksichtigt lassen. Einzelpreise und Preisvergleiche zum Vorjahr für bestimmte Polstermöbel liegen nicht vor.
Der Bundesregierung ist nicht bekannt, wie die DDR die Preise für die in die Bundesrepublik Deutschland zu liefernden Waren kalkuliert. Im innerdeutschen Handel sind aber bei Bezügen und Lieferungen grundsätzlich die in der Bundesrepublik Deutschland üblichen Marktpreise zugrunde zu legen. Deshalb kommt es auf die Kalkulation der DDR nicht an. Sollten die Bezüge hinsichtlich ihrer Preisstellung zu einer erheblichen Schädigung eines Produktionszweiges oder eines Teiles eines Produktionszweiges in der Bundesrepublik Deutschland führen, besteht die Möglichkeit, ein Preisprüfungsverfahren einzuleiten.
Zusatzfrage.
Hat die Bundesregierung vor, ein Preisprüfungsverfahren einzuleiten, und ist sie bei diesem Preisprüfungsverfahren dann in der Lage, die Preise der aus der DDR eingeführten Polstermöbel exakt festzustellen und sie zur Qualität heimischer Waren in Vergleich zu setzen?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6121
Die Bundesregierung hat im Augenblick nicht die Absicht, von sich aus ein Preisprüfungsverfahren einzuleiten. Sie hat durch das Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft im Jahre 1973 auf Grund eines eingegangenen Antrags ein Preisprüfungsverfahren durchgeführt, und das ist der Normalfall: daß ein von der Einfuhr Betroffener einen solchen Antrag stellt. Allerdings liegen neuere Klagen der Wirtschaft über Preisunterbietungen und Anträge auf Preisprüfungsverfahren nicht vor.
Zusatzfrage.
Räumen Sie ein, Herr Staatssekretär, daß die DDR-Lieferanten die Preise so festsetzen, daß sie eine harte Konkurrenz für heimische Produzenten sind, und ist Ihnen bekannt, daß heimische Polstermöbelfirmen ihre Preise deswegen so drücken mußten, um bei den Großabnehmern wie Kaufhäusern und Versandhäusern überhaupt noch zum Zuge zu kommen und daß sie beispielsweise an einer Garnitur oft nur noch 5 DM verdienen können?
Ich kann in diese Einzelheiten der Kalkulation nicht einsteigen. Ich weise nur darauf hin, daß bis Mitte 1973 die Polstermöbelproduktion in der Bundesrepublik eine überdurchschnittlich gute Entwicklung genommen hat, daß der Anteil, wie ich schon sagte, der Einfuhren aus der DDR 1,9 % der Produktion beträgt, was natürlich, Herr Kollege, nicht ausschließt, daß der eine oder andere Hersteller hier von Einfuhren aus der DDR in seiner Wettbewerbssituation entscheidend berührt wird.
Ich rufe die Frage 92 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in der Polstermöbelbranche zum Teil schon fast sechs Monate kurzgearbeitet wird, und ist sie bereit, die Kurzarbeiterunterstützung auf 12 Monate zu verlängern?
Der Bundesregierung ist bekannt, daß in der Polstermöbelbranche zum Teil schon fast sechs Monate Kurzarbeit besteht. Im Arbeitsamtsbezirk Mönchengladbach ist der Bezug von Kurzarbeitergeld für die Betriebe des Polster-und Dekorationsgewerbes durch Verordnung vom 5. März 1974 auf zwölf Monate verlängert worden. Ein weiterer Verlängerungsantrag aus dieser Branche kommt aus Helmstedt. Die Bundesanstalt für Arbeit hat bereits befürwortend Stellung genommen. Eine Verordnung, die die Verlängerung voraussichtlich aussprechen wird, wird zur Zeit vom Bundesminister für Arbeit vorbereitet.
Ein Verband dieser Branche mit Sitz in Bayern beantragt inzwischen, die Dauer des Bezugs von Kurzarbeitergeld für die Polsterindustrie generell auf 12 Monate zu verlängern. Der Antrag liegt dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit zur Zeit
zur Stellungnahme vor. Der zuständige Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ist bemüht, Verlängerungsanträge gezielt und zeitnah sowie, bei Vorliegen der Voraussetzungen, wie den als ersten genannten positiv zu entscheiden.
Sie haben noch eine Zusatzfrage. Bitte! Ich denke nur an die Fragesteller, die noch auf Antworten hoffen.
— Vielen Dank, Herr Kollege!
Ich rufe die Frage 95 des Kollegen Josten auf:
Ab wann rechnet die Bundesregierung mit der Möglichkeit, daß — insbesondere für die mittelständische Wirtschaft und das Fremdenverkehrsgewerbe — wieder günstige Kredite zur Verfügung stehen?
Seit Ende 1973 bzw. seit Anfang 1974 stehen den mittelständischen Unternehmen wieder Kredite aus dem ERP-Sondervermögen und aus Mitteln der Kreditanstalt für Wiederaufbau zur Verfügung. Diese Kredite sind mit Zinssätzen ausgestattet, die unter dem Marktzins liegen.
Das ERP-Wirtschaftsplangesetz 1973 wurde Ende November 1973 verabschiedet. Seit diesem Zeitpunkt können im Rahmen der einzelnen ERP-Kredit-programme Kreditanträge gestellt werden, soweit die Bedingungen der geltenden Richtlinien im Einzelfall zutreffen.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat Anfang 1974 ihr Investitionsprogramm für mittlere nicht emissionsfähige sowie für kleinere Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft, die sogenannten M I-und M II-Programme, wieder aufgenommen. Beide Programme sehen keine Beschränkungen auf bestimmte Branchen der mittelständischen Wirtschaft vor.
Das auf Grund der konjunkturpolitischen Beschlüsse vom Dezember 1973 eröffnete Sonderprogramm der Kreditanstalt gewährte Kredite für bestimmte mittelständische Wirtschaftszweige ebenfalls zu günstigeren als den Kapitalmarktkonditionen. Dieses Programm wird stark in Anspruch genommen.
Eine Zusatzfrage.
Ich darf Sie fragen, nachdem die zur Verfügung stehenden Mittel ja nicht reichen: Ist Ihnen bekannt, daß bei der mittelständischen Wirtschaft große Verärgerung besteht, und ist Ihnen bekannt, daß diese Verärgerung hauptsächlich deshalb besteht, weil die Bundesregierung außerordentlich günstige Ostkredite gewährt, andererseits die Hochzinspolitik eine ungeheure Belastung der mittelständischen Wirtschaft darstellt?
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6122 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Herr Kollege, diese Programme sind noch nicht voll in Anspruch genommen. Wir wissen, daß die Erwartungen der Wirtschaft zum Teil höher gesteckt waren. Aber es bleibt die Tatsache bestehen, daß hier erhebliche Zinsverbilligungen, allerdings auch nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen, gewährt werden. Ein Zusammenhang mit Ostkrediten besteht überhaupt nicht, zumal, wie hier mehrfach dargelegt worden ist, die Bundesrepublik das einzige Land ist, das keine Zinssubventionen im Osthandel gewährt, im Gegensatz zu anderen westlichen Industrienationen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie sich denn die einfach vorhandene Verärgerung in der mittelständischen Wirtschaft, wenn es nicht so ist, wie ich vorhin angedeutet habe?
Die Erklärung ergibt sich daraus, daß diese Kreditprogramme nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zur Anwendung kommen können, die im einzelnen Kreditprogramm festgelegt sind, und es ist ganz selbstverständlich, daß der große Bedarf an billigeren Krediten dann im Einzelfall zu Enttäuschungen führen kann. Ich weise aber noch einmal darauf hin, daß diese Kreditprogramme noch nicht geschlossen worden sind, was heißt, daß noch Mittel zur Verfügung stehen.
Ich rufe die Frage 96 des Herrn Abgeordneten Gerster auf:
Teilt die Bundesregierung die in einer Besprechung des Bundeswirtschaftsministeriums mit Verbandsvertretern am 6. Februar 1974, die sich u. a. mit dem Verdrängungswettbewerb zu Lasten des Einzelhandels und zugunsten der Großbetriebe des Handels mit Vollsortiment befaßte, vom Referenten des Bundeswirtschaftsministeriums wörtlich geäußerte Auffassung, „Der Einzelhandel hat ohnehin nur so lange eine Berechtigung, wie er vom Verbraucher in Anspruch genommen wird. Ich selbst brauche den Einzelhandel nicht, höchstens zur Information.", und gibt diese -- nach dem Protokoll wörtliche — Äußerung die Mittelstandspolitik der Bundesregierung wieder?
Die Frage gibt die Bemerkung des Referenten nicht zutreffend wieder. Der Referent hat vielmehr lediglich in einer Seitenbemerkung darauf hingewiesen, daß er für sich persönlich den Fachhandel — nicht: den Einzelhandel — im allgemeinen nicht brauche. Diese Bemerkung war deutlich als eine Äußerung über seine Bedürfnisse als Privatmann gekennzeichnet.
In der Besprechung selbst ist darüber hinaus für das Ministerium durch den Einzelhandelsreferenten klargestellt worden, daß dem Fachhandel eine wichtige Funktion am Markt zuzuerkennen und daß in seinen speziellen Leistungen eine wertvolle und unerläßliche Bereicherung der Angebotspalette zu sehen sei. Diese Auffassung teile ich.
Natürlich bleibt aber das Recht eines jeden Verbrauchers unbestritten, für sich selbst die ihm jeweils geeignet erscheinende Handelsform auszuwählen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, bei den 15 Teilnehmern des Gesprächs, die nicht zu Ihrem Hause gehören, nachzuforschen, ob nicht die Angaben über die Äußerung, wie ich sie wiedergegeben habe und wie sie in einem Protokoll über dieses Gespräch niedergeschrieben ist, tatsächlich der Wahrheit entsprechen?
Ich habe dieses Gesprächsprotokoll zur Grundlage meiner Antwort hier gemacht. Die Äußerung als solche wird ja als eine private Äußerung dieses Referenten gekennzeichnet, und Ihre Frage war: Welche Haltung nimmt die Bundesregierung ein? Ich glaube, daß ich das sehr deutlich gemacht habe und daß auch die Gesprächsteilnehmer nun auf Grund der Antwort, die die Bundesregierung hier gegeben hat, völlige Klarheit haben, falls am privaten Charakter dieser Bemerkung bei dieser Besprechung ein Zweifel bestanden haben sollte.
Eine letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir bestätigen, daß ein Mitarbeiter der Bundesregierung, der eine solche Auffassung vertreten hat — ich zitiere noch einmal genau: „Ich selbst brauche den Einzelhandel nicht, höchstens zur Information" —, nicht gerade geeignet erscheint als Referent für Verbraucherpolitik dieser Bundesregierung?
Ich meine, daß eine solche Bemerkung auch nicht überbewertet werden sollte. Sie ist eindeutig als private Bemerkung gekennzeichnet worden, und ich finde, daß es eine Überbewertung einer solchen Äußerung ist, wenn sie hier in der Fragestunde in einer derartigen Form vertieft wird.
Ich rufe die Frage 97 des Herrn Abgeordneten Memmel auf. Der Herr Abgeordneter befindet sich nicht im Saal; die Frage wird deshalb schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Herr Staatssekretär, damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft beantwortet worden. Ich danke Ihnen.Meine Damen und Herren, ich bedauere, daß ich, obwohl eine Reihe von Fragestellern so lange ausgeharrt haben, den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung wegen Ablaufs der Fragestunde nicht mehr aufrufen kann. Ich bedauere das um so mehr, als ich bestrebt bin, mög-
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Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausenlichst vielen Fragestellern die mündliche Beantwortung ihrer Fragen zu ermöglichen.Ich teile Ihnen noch mit, daß die Frage 109 vom Fragesteller zurückgezogen ist. Die übrigen nicht beantworteten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Nunmehr kehren wir wieder zur Beratung der Punkte 5 bis 7 zurück.Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kiesinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, in diesem Hause befindet sich sonst keiner mehr, der jener Gruppe von Abgeordneten des Deutschen Bundestages angehörte, die im Jahre 1950 in die Beratende Versammlung des Europarats einzogen. Sie werden mit mir fühlen können, was ich nach einem Vierteljahrhundert des Auf und Ab europäischer Entwicklung hier angesichts der heute in dieser Debatte immer wieder angesprochenen Misere der gegenwärtigen europäischen Situation empfinde. Fürchten Sie nicht, daß ich einen historischen Rückblick versuchen wollte, obwohl dazu sehr vieles zu sagen wäre und obwohl der Satz „historia vitae magistra" in diesem Falle sehr wohl seine Geltung hätte.Wenn ich zurückblicke und wenn ich mich an Hoffnungen und an Enttäuschungen, an neue Hoffnungen und an wieder folgende Enttäuschungen und so fort in der langen Kette der Jahre erinnere, dann muß auch ich sagen, meine Damen und Herren und Herr Bundesaußenminister, daß ich das vergangene Jahr als ein sehr schlimmes, als eines der schlimmsten Jahre in diesem Vierteljahrhundert europäischer Entwicklung betrachten muß.
Das heißt zwar noch nicht, daß ich die Schuld daran ausschließlich der Bundesregierung zumessen möchte, aber natürlich hat auch die Bundesregierung ihren Anteil an dieser schlimmen Entwicklung.Heute früh klang in den Einlassungen der Regierung und der Abgeordneten der Regierungskoalition immer wieder an: Nun ja, es gibt eine schwierige europäische Situation; es gibt erhebliche Schwierigkeiten im Verhältnis Europas zu den Vereinigten Staaten, aber als verheerend kann man das ja schließlich nicht bezeichnen. Und es fiel auch schon wieder das verhängnisvolle Wort vom „Krisengerede der Opposition".
Meine Damen und Herren, wenn unsere Warnungen zu einem Punkte und auf einem Gebiet berechtigt sind, dann wahrhaftig auf diesen beiden: im europäischen Bereich und im Verhältnis Europas zu den Vereinigten Staaten!
Wie ist es denn, wenn ein Mann wie Mansholt — es wurde schon zitiert -- sagt, weder England noch Frankreich, noch die Bundesrepublik hätten die politische Gemeinschaft wirklich gewollt? Wie ist es, wenn Sie — wo immer Sie sich umhören — heutein europäischen Hauptstädten oder in Brüssel eine tiefe Niedergeschlagenheit, manchmal geradezu verzweifelte Hoffnungslosigkeit und Resignation feststellen können? Das muß doch seinen Grund haben.Durch dieses Haus geistert das Wort eines maßgeblichen Vertreters der Bundesregierung, im Grunde — genau besehen — wollten weder Moskau noch Washington die europäische Einigung. Wann hat es so etwas im Laufe dieser vielen Jahre gegeben, und wann sind je so bittere Worte aus Amerika nach Europa herübergeklungen?Wenn heute früh Herr Kissinger zitiert worden ist — ich kenne ihn und seine Ansichten ja auch seit vielen Jahren bis zu dieser Stunde —, der gesagt hat, man habe vergeblich nach strittigen Problemen gesucht, dann wissen wir ja, was von solchen freundlichen Feststellungen am Ende einer Begegnung zu halten ist, bei der zweifellos beide Teile versucht haben, zueinander zu kommen.Hier muß man doch einfach fragen: Was ist los? Was ist geschehen? Woher diese tiefe Depression in den wichtigsten Anliegen unserer Außenpolitik? Ich erinnere mich an ein Fernsehgespräch, das Golo Mann, der heute schon in anderem Zusammenhang zitiert worden ist, mit Herrn von Weizsäcker führte, in dem er etwa sagte, er habe die Ostpolitik dieser Regierung unterstützt, weil er geglaubt habe, daß diese Ostpolitik die europäische Einigung und die Kräftigung und Festigung des Westens, also auch des Atlantischen Bündnisses, nun erst recht in Schwung bringen werde.Nun, meine Damen und Herren, für einen Kenner der Entwicklung mußte ja die Erwartung umgekehrt sein. Es war doch in all diesen Jahren so — ich muß das leider feststellen und ich tue dies ohne Arroganz —: Immer dann, wenn im Westen der Eindruck entstand, daß die Sowjetunion befriedigter über die Entwicklung sei, daß man durch irgendein Ereignis annehmen könne, es sei eine Entspannung eingetreten, dann haben wir doch erleben müssen, daß in diesen Tauwettern, die im Laufe der Jahre so oft festgestellt wurden, der Westen auseinandergelaufen ist, statt sich enger zusammenzuschließen.Es konnte nur jemand, der diese Entwicklung nicht genau verfolgt und so miterlebt hat wie wir, hoffen, daß es so kommen würde, wie Herr Golo Mann es geglaubt hat. Wir mußten damit rechnen, daß diese Ostpolitik im Westen Gefahren hervorrufen würde. Gerade deswegen war es die Pflicht der Bundesregierung, ihrerseits nun mit erhöhter Verantwortung die Priorität, den Vorrang westlicher Politik, der europäischen Einigung und des Atlantischen Bündnisses zu betonen und voranzutreiben.
Dies -ist zwar in Worten immer wieder geschehen, aber diese Worte haben niemanden beflügelt und befeuert und auch niemanden recht überzeugt.Ihr Herz, Herr Bundeskanzler, hörte man eben da nicht schlagen, da nicht, wo es hätte höher schlagen müssen als auf dem Gebiet Ihrer Ostpolitik, ,denn das ist die Schicksalsfrage für Europa.
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6124 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Dr. h. c. KiesingerSie haben vom sterilen Nein der Opposition zu Ihrer Ostpolitik gesprochen. Oh nein, es ist umgekehrt: Es ist ein Nein der Opposition zu einer sterilen Ostpolitik, Herr Bundeskanzler, um die es immer wieder gegangen ist.
Das ist es ja wohl auch, was Golo Mann in demZitat, das wir heute früh gehört haben, gemeint hat.Sie haben gegenüber den Argumenten meines Kollegen Franz Josef Strauß gesagt, es sei doch alles nicht wahr, was er im Zusammenhang mit dem Angebot Amerikas, das Atlantische Bündnis auf eine neue Basis zu stellen, vorgetragen hat. Sie haben darauf verwiesen, man habe doch seitdem Woche für Woche über zwei Dokumente verhandelt.Herr Bundeskanzler, Europa wird nicht hinter den Kulissen durch Sachverständige und durch Routinepolitik geschaffen. Wenn es uns nicht gelingt, wieder den Willen des Volkes und der Völker für diese Schicksalsfrage zu wecken, dann werden wir es auch nicht zustande bringen.
Genau das werfen wir Ihnen ja vor. Auch Franz Josef Strauß hat es heute früh gesagt. Es sind weniger falsche Maßnahmen, die Sie getroffen haben, sondern es geht um das, was Sie unterlassen haben. Sie haben es unterlassen, diesem Volk die Überzeugung zu geben, daß es nun genauso kommt, wie es in feierlichen Reden gelegentlich einmal geäußert wurde. Sie hätten es unablässig und ununterbrochen sagen müssen: Wenn 'das im Westen nicht gelingt, dann ist auch das, was ich mit der Ostpolitik beabsichtige, vergeblich; wir werden dann nicht weiterkommen.Ich betrachte die Situation, die jetzt entstanden ist, als außerordentlich ernst. Ob es so kommt, wie Herr Kollege Strauß heute früh gesagt hat, daß einmal später die Geschichte dieses Jahr 1973 als ein Schicksalsjahr im schlimmen Sinne des Wortes bezeichnen wird, weiß ich nicht. Das hängt auch davon ab, Herr Bundeskanzler, was Sie nun tun werden. Wenn Sie uns sagen: „Wir haben uns doch mit diesem Angebot Amerikas befaßt", so fleißig, Woche um Woche, an diesen zwei Dokumenten, — warum haben Sie, als jenes Angebot von Amerika kam, auf das viele von uns übrigens seit langem gewartet haben, gesagt — Sie waren zwar nicht berechtigt, für Europa zu sprechen, gewiß nicht —, aber warum haben Sie denn nicht als deutscher Staatsmann diesem Angebot ein großzügiges, ein freundschaftliches, ein ermutigendes Wort entgegengebracht,
statt von Orientierungshilfe zu sprechen?
— Ich setze mich jetzt mit dem Herrn Bundeskanzlerauseinander. Was Herrn Kollegen Wehner verleitethat, das Wort „Monstrum" zu gebrauchen, weiß ichnicht. Manchmal schießt einer in der ersten Eile am Ziel vorbei.
Aber verantwortlich für diese Politik — erlauben Sie mir schon, daß ich mich an die rechte Adresse wende — ist nun einmal der Regierungschef dieses Landes.
Ich wundere mich dann vor allem über eines: Sie beklagen sich, daß wir Ihre Ostpolitik — oder das, was man so nenne — nicht unterstützten, daß wir dazu ein steriles Nein sagten. Ich hoffe, daß wir uns nach wie vor einig sind in der Feststellung, daß die Völker Westeuropas keine gesicherte Zukunft haben, wenn sie der Gefahr unterliegen, unter den Einfluß, und zwar unter den zunehmenden Einfluß der Titanenmacht zugeraten, die sich von der Elbe bis zum Chinesischen Meer erstreckt. Wenn Sie mit uns der Meinung sind, daß es die wichtigste Aufgabe deutscher Politik überhaupt ist, dafür zu sorgen, daß das nicht geschieht, wenn Sie mit uns der Auffassung sind, daß der Weg, auf dem wir dies Unheil verhindern können, über die europäische Einigung und die Festigung des Atlantischen Bündnisses geht, dann verstehe ich nicht, Herr Bundeskanzler, daß Sie in einer Frage, in der Sie die volle, einige Zustimmung und den Mitkampf der Opposition hätten bekommen können, niemals den Versuch gemacht haben, diese Unterstützung zu erlangen.
Aber es liegt natürlich auch hier die Ursache des Übels tiefer. Wir wissen eben, daß innerhalb der Sozialdemokratischen Partei zu diesen Fragen viele ganz verschieden denken. Franz Josef Strauß sprach heute früh vom auswuchernden Antiamerikanismus. Wir kennen ja genug Äußerungen dieser Art aus dem Lager der Sozialdemokratischen Partei.
Auch hier wie auf weiten Gebieten der Innenpolitik zeigt sich doch immer mehr eine Kluft inmitten dieser großen Partei, und diese Kluft, die sich immer weiter zu öffnen scheint, macht es natürlich denn Regierungschef schwer, präzise Aussagen zu machen, und zwingt ihn, neben seiner in seinem Naturell liegenden Neigung, sagen wir einmal, vorsichtige Formulierungen zu wählen,
oft genug dazu, ambivalente, verschleiernde Formeln zu gebrauchen. Wir von der Opposition warten auf eine Reihe von Klärungen.Wir hören von Ihnen, Herr Außenminister, auch heute wieder — und das haben wir durchaus zustimmend gehört —, wie Sie sich den weiteren Gang der Dinge vorstellen. Lassen Sie mich nun doch eine kleine Rückerinnerung machen: zum Ausbau eines Europäischen Sekretariats. Vor zwanzig Jahren habe ich als Berichterstatter der Politischen Kommission des Europarats genau das gefordert. Ich bin deswegen in einen schweren Zwist mit Paul-Henri Spaak geraten. Ich sagte damals, die Hoffnung, die Ent-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6125
Dr. h. c. Kiesingerwicklung Europas auf anderen, auf wirtschaftlichen Gebieten werde, wenn diese vollendet sei, umschlagen in eine politische Union, sei eine Illusion. Wir sollten mit beidem zugleich beginnen, und wir sollten eine Institution schaffen, die sich zusammensetzt aus Vertretern — hohen Ranges — der Außenministerien, die in permanenter Zusammenarbeit die Konferenzen der Außenminister und der Regierungschefs vorbereitet. Ich freue mich, daß die Regierung dieser Frage ihre Aufmerksamkeit widmen will. Ich bin in der Tat der Meinung, daß hier ein ganz wichtiger Ansatzpunkt für das ist, was ich früh weltpolitische Solidarität der Europäer genannt habe und was man eines Tages eine gemeinsame Außenpolitik nennen kann.Aber wenn man das sagt und dann von einem der Architekten — oder dem Architekten — der Ostpolitik dieser Regierung hört, was er unter Europa versteht, dann muß man sich — ja: Vertrauen, Herr Außenminister — fragen: Wem soll man vertrauen, Ihnen und Herrn Brandt, wenn Sie Ihre Aussagen machen, oder Herrn Bahr, wenn er z. B. in einem Fernsehinterview mit Herrn Gaus sagt, daß er ja gar keinen so engen Zusammenschluß der Westeuropäer wolle, daß er auch hier der Nation den Vorrang gebe, und auf die Frage, warum er so entscheide, antwortet: damit die Tür zum Osten nicht zugeschlagen werde?
Entweder will diese Regierung, wie wir, am Ende eine politische Union, die diesen Namen verdient, d. h. einen Zusammenschluß der Europäer mit einer gemeinsamen Außenpolitik — und das ist dann eben kein loser Zusammenschluß mehr, sondern ein Vereinigtes Europa —, oder sie will es nicht. Und wie so oft von dieser Stelle aus muß ich auch jetzt wieder fragen, Herr Bundeskanzler: Was gilt?Erinnern Sie sich daran, wie ich damals, als Sie Ihre neue Ostpolitik begannen, hier ein Wort des Mannes zitierte, der heute Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin werden soll? Herr Gaus hatte damals — im Gegensatz zu Ihren Aussagen — gesagt: Willy Brandt hat einen Schlußstrich gezogen; seine Politik bedeutet, daß er endgültig die Ergebnisse des zweiten Weltkriegs anerkannt hat. Also genau die russische Formel. Ich habe Ihnen damals vorgehalten: Millionen Deutsche haben das gelesen; sie können von Ihnen ein klares Wort erwarten, was da gilt:
das, was Sie sagen, oder das, was Herr Gaus meint? Sie haben mir damals eine Antwort verweigert.
Das ist immer und immer wieder geschehen. Wir kennen doch die Leidensgeschichte dieser vergangenen Jahre. Wir haben darauf bestanden: Sagt uns wenigstens klar, was ihr wollt; dann können wir auch klar mit euch sprechen. Das ist uns immer wieder verweigert worden.Was gilt nun also? Die politische Union, wie sie Herr Bahr sieht - und ich muß auch hier noch einmal sagen: er ist ja nicht irgendwer —, oder gilt das, was Sie uns heute dankenswerterweise als IhrenWillen kundgetan haben, Herr Bundeskanzler, vor allem auch in dem Appell, den Sie an unsere europäischen Freunde gerichtet haben? Sie müssen aus diesem Zwielicht heraus. Sie müssen uns klar sagen, was Sie wirklich wollen. Niemand hindert Sie daran, nicht die Rücksichtnahme auf irgend jemand, auch nicht die Rücksichtnahme auf die Sowjetunion.
Wir wollen dieses Europa ganz gewiß nicht gegen die Sowjetunion bauen. Wir wären Wahnsinnige, wenn wir das versuchten. Uns von der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union liegt nichts ferner, als von einer Politik zu träumen, mit der es vielleicht möglich sein könnte, einmal da drüben die Strukturen aufzulösen. Die Sowjetunion muß wissen, daß dieses Europa — ich kann mich darauf berufen, daß ich das in diesen 25 Jahren nie anders gesagt habe — gegründet wird, weil es einenimmanenten Zwang dazu gibt; aber vor allem deswegen, weil es um des Friedens und der Stabilität in dieser Welt willen notwendig ist, daß dieses Europa wird. Wenn es sich beständig bedroht fühlt, dann ist da ein dauernder Krisenherd, und Krisenherde führen, wie wir alle wissen, zu nichts Gutem.Wir werden uns also auch von niemandem, der dieses Europa anders sehen will, dazu verleiten lassen, die europäische Einigung als eine antirussische oder antisowjetische Unternehmung anzusehen. Wir — wir Westeuropäer, die wir halt klein und schwach geworden sind — wollen ganz schlicht dafür sorgen, daß wir als Staaten unabhängig in einem einigen Europa und als Menschen frei bleiben, so wie wir die Freiheit wollen und verstehen.
Herr Außenminister, Sie haben damals zu früh und zu optimistisch gesagt, die Sowjetunion sei jetzt mit der Einigung einverstanden;
wobei man ja immer noch unterscheiden muß, mit welcher: mit der wirtschaftlichen oder mit der politischen? Wir dürfen uns keiner Täuschung darüber hingeben — das ist uns ja auch immer und immer wieder von Moskau gesagt worden —, daß Moskau die politische Einigung Europas nicht will, ja um es noch deutlicher zu ,sagen: daß Moskau die politische Einigung Europas verhindern will. Darauf müssen wir uns einstellen. Je klarer und fester wir auch in diesem Zusammenhang mit Moskau sprechen, desto besser ist es.Gewiß, Sie können sagen: Wir haben doch so viel getan; die Schwierigkeiten liegen nicht bei uns, sie liegen bei anderen. Noch einmal sage ich: Gerade weil wir eine Schlüsselstellung haben, gerade weil die Einleitung Ihrer Ostpolitik so manches ins Wanken gebracht hat, gegenüber früheren klaren und stabilen Verhältnissen, gerade weil sich die Hoffnungen nicht erfüllt haben, daß durch die Einleitung der sogenannten neuen Ostpolitik sich ein Verfestigungsprozeß in Europa und im Bündnis durchsetzen werde, haben Sie nun einmal die gesteigerte Verantwortung. Sie können zwar nicht für Europa sprechen, aber Sie sollen für dieses Volk sprechen. Sie
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6126 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Dr. h. c. Kiesingersollen für dieses Volk klar sagen, was es — wir wissen es seit langem — will. Das kann man ohne Arroganz tun, ohne in dem Sinne „Wir sind wieder wer" aufzutrumpfen.
Und Sie werden Dankbarkeit dafür ernten, wenn Sie hier eine klare Sprache sprechen.
Herr Bundeskanzler, ich will darauf verzichten, ins Detail zu gehen. Es ist heute viel über Details gesprochen worden. Natürlich ist eine Politik der kleinen Schritte notwendig. Aber über diese Politik der kleinen Schritte muß sich etwas ganz anderes wölben; da muß deutlich sichtbar für alle der gemeinsame Wille der Europäer leuchten, auf jenes Ziel hinzuarbeiten, auf das wir nicht verzichten können, wenn wir Existenz und Freiheit behalten wollen. Genau das ist nicht geschehen, ist von Ihrer Seite nicht überzeugend geschehen, und das ist es, was wir Ihnen vorwerfen.Sie haben gehört, was die Opposition will. Wo unterscheiden wir uns, in dem einen oder dem anderen? Die Opposition schlägt bestimmte deutsche Initiativen vor. Sie haben Einwände erhoben. Aber in allem, was hier heute an Gedankenaustausch zu hören war, liegt viel Gemeinsames. Trotzdem zündet das alles nicht, trotzdem ist das Vertrauen nicht da. Das liegt nun einmal an der Ostlastigkeit Ihrer Politik mit all dem, was dazu gehört.Dieser Tag hier könnte den Ausgangspunkt für eine neue, fruchtbare, für ganz Europa und für Amerika ermutigende Politik geben, Herr Bundeskanzler, wenn es Ihnen gelänge, den Willen Ihrer eigenen Partei auf diese gemeinsamen Ziele auszurichten, und wenn es Ihnen gelänge, den Völkern Europas zu zeigen, daß hier auch für Sie die große Schicksalsfrage steht.
— Herr Kollege Wehner, den Mantel der Geschichte ergreifen! Wir alle haben ja in den vergangenen 25 Jahren manche Argumente gewechselt. Den Mantel der Geschichte
kann man ergreifen, wenn er weht. Aber bei der Einleitung der sogenannten neuen Ostpolitik hat gar kein Mantel geweht, und die Regierung hat in die Luft gegriffen.
Herr Kollege Wehner, vielleicht haben Sie in vielen Punkten eine andere Auffassung als wir. Ich respektiere jedermanns Auffassung in diesen Zusammenhängen. Vielleicht sehen Sie die Lage der Bundesrepublik zwischen den großen Mächten, den Übermächten, anders als wir. Da wäre manchmal ein ganz klares Wehner-Wort statt eines verschlüsselten auch hier recht gut. Sie sind ja ein Meister der verschlüsselten Formulierungen, oft genug auch hier an diesem Pult.Ich gehe nicht so weit, in diesem Augenblick vom Mantel der Geschichte zu sprechen. Aber ich kann nur immer wieder sagen: daß in Europa Niedergeschlagenheit, tiefste Depression, Hoffnungslosigkeit, Resignation sich ausbreiten, ist doch etwas, das wir nicht beschönigen können. Wir müssen doch an die eigene Brust schlagen und uns tragen, was wir unterlassen, was wir falsch gemacht haben. Wenn ich Ihnen jetzt im Namen meiner Freunde noch einmal ausdrücklich unser Bündnis anbiete, unsere Unterstützung einer neuen, großen, die Herzen mitreißenden und die Vernunft überzeugenden Westpolitik, dann sollten Sie sich doch darüber nicht mokieren.Meine Damen und Herren, ich habe vor 25 Jahren hier in diesem Hause meine erste außenpolitische Rede gehalten. Da gab es auch den Satz: „Entweder wird sich Europa einigen oder es geht unter!" Ich habe das damals mit dem Pathos —
-- So pathetisch bin ich heute gar nicht, meine Damen und Herren. Ich habe das damals mit dem Pathos des jungen Politikers gesagt. Damals war man mit 45 Jahren nämlich noch jung.
Das hat sich ja geändert. Ob das zum Vorteil der Politik gereicht oder nicht, lasse ich dahingestellt.Was ich damals gesagt 'habe, sage ich heute in allem Ernste wieder — nicht so hoffnungsvoll pathetisch wie damals —, nach alle dem, was inzwischen geschehen ist. Natürlich, die Exporte wachsen. Du lieber Himmel, den Vorteil des gemeinsamen Markts hat doch niemand bezweifelt. Aber die Geltung Europas in der Welt, die Fähigkeit, sein eigenes Schicksal zu gestalten, die Kraft, für Freiheit und Frieden aus sich selbst zu sorgen — an der Seite der Vereinigten Staaten — ist doch in diesen Jahren nicht größer, sondern geringer geworden. Die Übermacht der Weltmächte ist gewachsen. Deswegen wiederhole ich jenen Satz heute, schlichter im Ton, aber tiefer überzeugt als damals: Einigung oder Untergang!
Das Wort hat Herr Bundesminister Ertl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Hauch der Geschichte ist seit heute morgen in diesem Hohen Hause, und so habe auch ich mir die Mühe gemacht, ein klein wenig den Spuren der jüngsten Geschichte nachzugehen.
— Sie können sich darauf verlassen, Herr Aigner, wir haben einen längeren Atem, als Ihnen lieb ist.Da komme ich z. B., verehrter Herr Kollege Kiesinger, auf Ihre Regierungserklärung. Das ist auch
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6127
Bundesminister Ertlein geschichtliches Ereignis in diesem Hause gewesen,
nur von Europa stand wenig Konkretes drin;
das können Sie nachlesen. Aber mir ist ein Satz in Ihrer Regierungserklärung aufgefallen, der hier ganz gut paßt; er enthält nämlich das Angebot zur Zusammenarbeit. Ich glaube, dieses Angebot können wir alle mit Freude zur Kenntnis nehmen, nur darf es sich nicht auf verbale Äußerungen beschränken, vielmehr muß sich die Zusammenarbeit auch im Hinblick auf die Verhaltensweise gegenüber dem Ausland aufzeigen lassen. Denn ich habe oft das Gefühl, daß hier in diesem Hause jeder Versuch gemacht wird, den Kredit dieser Regierung in Europa bewußt zu mindern — möglicherweise, um den Eindruck zu erwecken, daß dadurch auch ein Stück Handlungsunfähigkeit entsteht.
Doch nun, sehr verehrter Herr Kollege Kiesinger, darf ich Sie zitieren:Worauf es ankommt, sind praktische Schritte auf dem Wege zur Einigung, nicht die unnachgiebige— das ist Ihre schöne Sprache, die ich leider nicht beherrsche —Verfolgung von idealen Vorstellungen. Das Wünschenswerte darf das Mögliche nicht verhindern.Ich glaube, das war eine gute Erkenntnis, Herr Kollege Kiesinger. Genau das ist die Situation, in der sich diese Bundesregierung in Europa befindet und dabei ununterbrochen versucht, durch praktische Schritte dieses Europa nach vorne zu bringen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kiesinger?
Bitte!
Herr Kollege Ertl, darf ich Sie fragen, ob Ihnen der Unterschied zwischen der damaligen Aussage der Regierungserklärung, die natürlich sagte: Praktische Schritte müssen getan werden, man kann nicht warten, bis das Ideal erfüllt ist, und etwa den Aussagen Herrn Bahrs, der sagt: Es darf eine zu enge politische Union nicht geben, wie Sie etwa die Opposition will, sondern nur einen losen Verband europäischer Staaten, d. h., ob Ihnen deutlich ist, daß hier zwei grundverschiedene Zielsetzungen vorhanden sind? Über die Methoden dagegen wird nicht gestritten.
Ich bin schon sehr froh, daß man sich über die Methoden nicht zu streitenbraucht. Nun haben Sie den Versuch gemacht, meinen Kollegen Bahr zu interpretieren.
Ich habe hier nicht die Aufgabe, Ihrer Interpretation zu folgen. Eines habe ich jedoch zu sagen: daß sich diese Regierung, der ich angehöre, in ihrer Regierungserklärung hinsichtlich ihrer Europa-Vorstellungen wesentlich präziser festgelegt hat als Ihre Regierung im Jahre 1966
und daß sie auch inzwischen mit konkreten Schritten Wünschenswertes angestrebt hat.
Da ich schon bei der Geschichte bin, Herr Kollege Kiesinger, darf ich auch noch einmal aus einem Buch zitieren — darf ich, Frau Präsidentin? —; denn es ist doch sehr interessant, einmal die fundamentalen Aussagen von Autoren nachzulesen, wobei ich den Namen jetzt noch nicht nenne.
Große Überschrift, fettgedruckt: Eine Initiative für Europa. Es heißt dann:Die europäische Politik tritt auf der Stelle. Nur eine geschlossene Initiative kann helfen, uns aus den Fesseln des Status quo zu befreien. Die Einigung Europas ist ins Stocken geraten, die Nordatlantische Allianz steckt in einer Krise. Die Wiedervereinigung Deutschlands scheint in weitere Ferne gerückt denn je. Europa ist i geteilt, und die Vereinigten Staaten werden immer mehr in eine doppelte Verteidigungsstellung gedrängt.Und so geht es weiter. Aufmerksamen Lesern empfiehlt es sich, dieses Buch aus dem Jahre 1966 mit dem Titel „Entwurf für Europa" auch heute noch zu lesen, auch mit der politischen Schlußfolgerung. Denn diese politische Schlußfolgerung lautete: Lösen kann dieses Problem nur die Große Koalition. Und jetzt können Sie raten, wer der Autor ist.
Es ist Franz Josef Strauß. Insoweit hat er heute nichts Neues gesagt; er hat sich wörtlich wiederholt — seit 1966. Es ist vielleicht ganz nützlich, im „Entwurf für Europa" nachzulesen.
Die Zwischenperiode war die Große Koalition. Das, glaube ich, muß ich hier doch noch einmal zu den geschichtlichen Dingen sagen.Nun, ich möchte mich im wesentlichen auf die jüngsten Agrarverhandlungen in Brüssel beschränken. Doch bevor ich hierzu Stellung nehme, möchte ich noch einige Bemerkungen zu den Feststellungen des heutigen Tages machen.Es wurde gefragt: Taten? Ich meine, eines wird man wohl als Tat feststellen dürfen: daß in die Amtsperiode dieser Bundesregierung der Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks fällt. Ich glaube, es war eine der bedeutendsten europäischen
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Bundesminister ErtlTaten nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge
mit allen politischen und wirtschaftlichen Folgen. Aber es muß doch gesagt werden, daß damit zum erstenmal die Möglichkeit für den Versuch gegeben ist, eine gemeinsame europäische Politik aufzubauen, denn bis zu diesem Beitritt war die europäische Politik in sich gespalten in eine Politik der EWG und der EFTA. Diese Kluft ist inzwischen durch den Beitritt überwunden, und ich betrachte das als einen bedeutsamen Schritt für Europa.Daß sich dabei die Probleme in den einzelnen Bereichen — sei es in dem Bereich, den ich zu verantworten habe, den Agrarbereich, sei es im Wirtschaftsbereich oder im Währungsbereich — vielleicht sogar vergrößert haben, mußte, glaube ich, jedermann klar sein. Ich will Ihnen sagen: mir war es auf jeden Fall klar. Aber gerade das Wünschenswerte, nämlich die größere Einheit in Europa, die langfristig auch zu einer besseren und tatkräftigeren und somit erfolgreicheren Politik für Europa führt, mußte in diesem Sinne angestrebt werden, auch wenn sich dabei bezüglich der Wirtschafts- und Währungsunion und in der Folge mit Rückwirkungen auf den Agrarmarkt Schwierigkeiten ergeben. Das halte ich von der Zielsetzung her für sehr wichtig.Insoweit, meine ich, kann man nichts sagen, daß es keine Taten gegeben hat. Ich will nur auf die Assoziierungsverhandlungen hinweisen, auf unsere Bemühungen zum Währungsbeistand für eine Vielzahl von Partnern, das Angebot an die französische Regierung vor dem Ausscheren aus der Währungsschlange und unsere übrigen Bemühungen auf meinem Sektor.Wenn es sich heute möglicherweise um Schwierigkeiten handelt, die ökonomischer und auch währungspolitischer Art sind, dann muß man doch eines ganz klar erkennen: daß das letzten Endes nicht eine Folge aus unserem politischen Verhalten ist, sondern daß es aus der Sicht der einzelnen Länder, wie Kollege Scheel geschildert hat, in der Wertskala, ob Stabilität oder Wachstum, immer noch unterschiedliche Verhaltensweisen in diesem Europa gibt. Aber das sind Fragen, die man durch konsequente Politik wird lösen können. Wenn sich dann die Möglichkeiten zur Verbesserung der Agrarstruktur abzeichnen, wenn sich durch gezielte regionale Politik die Wirtschaftsstrukturen mehr anpassen, wird es möglicherweise zu einer zeitlichen Verschiebung gekommen sein. Aber es ist durchaus im Bereich des Möglichen und des Wahrscheinlichen, daß wir dann doch zu dieser gemeinsamen Wirtschaftspolitik kommen, die sicherlich die Voraussetzung für eine gemeinsame Währungspolitik ist.Insoweit müssen wir uns zwangsläufig auch auf meinem Sektor mit Interimslösungen abfinden. Wenn Sie mich ganz nüchtern Bilanz ziehen lassen, dann würde ich Ihnen sagen: Wir müssen heute einen Konstruktionsfehler auskurieren, weil es natürlich einfach schon vom Ökonomischen her eine wünschenswerte, aber — so muß ich hinzufügen — irreale Vorstellung war zu glauben: über eine Konstruktion eines gemeinsamen Agrarmarktes löse ich die Automatik zur Wirtschafts- und Währungsunion und somit zur politischen Union aus. Das war ein Konstruktionssymptom, für jedermann, der die Verhältnisse in Europa kennt, sogar ein politisch gewolltes Konstruktionssymptom, weil man wußte — hier hat der Kollege Apel recht behalten —, daß eine Zollunion auf dem industriell-gewerblichen Sektor nicht zu realisieren ist, wenn nicht für die Agrarüberschußländer in der damaligen Sechsergemeinschaft — das gilt jetzt auch für die Neunergemeinschaft — ein Äquivalent in Form des gemeinsamen Agrarmarktes geschaffen wird. Aber wer nur die bescheidensten wirtschaftlichen Zusammenhänge verstanden hat und die bescheidensten volkswirtschaftlichen Kenntnisse hat, mußte wissen, daß damit weiß Gott keine absolute Sicherheit besteht, daß das automatisch zur Wirtschafts- und Währungsunion führen wird. Das ist die Situation, meine sehr verehrten Damen und Herren.Nun ist in dieser Diskussion der Eindruck entstanden — man konnte dies beim Zuhören feststellen —, als ob, solange Sie an der Regierung waren, in Europa eine heile Welt bestanden hätte und daß es nur jetzt nicht mehr klappe. Nein, so ist es nicht. Hier hat es grundlegende Fehler von Anfang an gegeben. Aber es hat gar keinen Sinn, wieder mit der Vergangenheit anzufangen.Herr Kollege Amrehn, lassen Sie mich aus meiner Sicht, ganz unbefangen, ein letztes Wort zur direkten Wahl für das Europäische Parlament sagen. Diese Regierung wird von der Opposition kritisiert — meine Kollegen vom Agrarsektor in Ihrer Partei tun das sehr gern, wie ich feststelle, wenn ich die Pressenachrichten lese —, indem sie erklärt: Wir sind die Europatreuesten, wir sind diejenigen, die sich ununterbrochen für Europa einsetzen. Herr Kollege Eigen wischt sich gerade über den Kopf; ich könnte Ihnen ganze Akten darüber schicken, wie er das verkündet. Dann folgt gleich: Diese Regierung erbringt Vorleistungen. Dabei können wir nur die Kontinuität wahren. Aber ich will das gar nicht rechtfertigen. Im selben Zeitpunkt kommen Sie nun mit dem Vorschlag einer sektoralen, nationalen Wahl für das Europäische Parlament. Ich sage dazu: dies wäre wünschenswert, schön. Aber glauben Sie, daß das schon ein epochaler Anstoß ist?
Hier muß man eben nach dem Motto in der Regierungserklärung von Herrn Kiesinger die Realität mit dem Wünschenswerten in Einklang zu bringen versuchen.
Aber hier werden Sie noch eine Zeitlang warten müssen. Vielleicht — ich habe das schon das letzte Mal gesagt; lassen Sie mich ganz nüchtern bilanzieren — war eben bei uns zuviel Euphorie, zuviel Wunschdenken. Eines muß ich meinem französischen Kollegen und seiner Regierung bescheinigen: sie haben Europapolitik immer realistisch betrieben. Es ist immer sehr schwierig, das in Einklang zu bringen.
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Bundesminister ErtlEin letztes Wort, das vielleicht doch zur sachlichen Richtigstellung wichtig ist. Es wurde beklagt, daß das Desinteresse der Amerikaner an Europa nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen ist, daß sie Schwierigkeiten im Handelsverkehr mit den Europäern haben. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: der Handelsverkehr bietet Amerika dafür sicherlich keinen Anlaß. Ich will Ihnen nur einige Zahlen aus meinem Bereich nennen. Güter der Ernährungswirtschaft in Millionen D-Mark: USA 1960 1 376, 19722 460 und nach cien vorläufigen Schätzungen 19733 639. Wenn ich richtig informiert bin, konnten die Vereinigten Staaten feststellen — ich glaube, wir alle können uns darüber freuen —, daß die Rekordagrarausfuhr 1973 wesentlich dazu beigetragen hat, die US-Handelsbilanz auszugleichen. Das ist ein erfreulicher Tatbestand, denn jedermann weiß, daß die wirtschafts- und währungspolitischen Probleme Europas weitgehend auch von der währungspolitischen Situation in Amerika, von der Entwicklung des Dollars, abhängig sind. Ich darf daher feststellen, daß vom Güteraustausch und vom Handelsverkehr her sicherlich kein Grund zu einer objektiven Klage besteht. Ich finde es merkwürdig, wenn dieser Versuch hier konstruiert wurde.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch zu den jüngsten Beratungen in Brüssel einige Bemerkungen machen. Der Rat der Europäischen Gemeinschaft hat Ende voriger Woche die Agrarpreise für das nächste Wirtschaftsjahr festgelegt und für einige Mitgliedstaaten besondere Maßnahmen getroffen. Lassen Sie mich zunächst auf die allgemeine Bedeutung dieser Ratssitzung eingehen. Wir befinden uns seit einigen Monaten das wurde heute wiederholt von allen Rednern betont -sicherlich in einer nicht ganz einfachen Phase der Europapolitik. Wichtige Probleme wie der Regionalfonds, die Weiterentwicklung zur Wirtschafts- und Währungsunion und die Arbeiten für die Europäische Union sind ins Stocken geraten. Dadurch ist sicherlich — und das war auch heute in der Debatte so — bei vielen Politikern eine gewisse Europamüdigkeit festzustellen, die wiederum mit Zweifeln verbunden ist, ob diese Gemeinschaft überhaupt noch zu gemeinsamen Beschlüssen fähig ist. Diese Zweifel haben auch die Verhandlungen im Agrarrat Ende letzter Woche überschattet.Ein weiteres Erschwernis lag darin, daß in mehreren Mitgliedstaaten Neuwahlen anstanden oder Regierungsumbildungen erfolgten. Lassen Sie mich hier hinzufügen: Ich glaube, man kann auch feststellen, die demokratische Stabilität ist in diesem Lande zweifelsohne die größte. Besondere Bedeutung hatten sicherlich die britischen Wahlen, weil die Labour Party die Ansicht vertrat, über die Bedingungen des Beitrittsvertrages müsse neu verhandelt werden. Aber auch die belgischen Wahlen und die Regierungsumbildungen in Italien und Frankreich brachten Unsicherheitsfaktoren mit sich, die viele Beobachter an einen erfolgreichen Ausgang der Ratssitzung zweifeln ließen.Angesichts dieser Situation bin ich als derzeitiger Präsident des Agrarministerrates schon im Februar dieses Jahres in alle Hauptstädte der Mitgliedstaaten gereist, um mit meinen Kollegen eine Annäherung der Standpunkte herbeizuführen und Kompromißlösungen vorzubereiten. Diese bilateralen Gespräche habe ich auch unmittelbar nach der Ernennung meiner neuen Kollegen fortgesetzt.Durch diese engen menschlichen Kontakte, die auch während dieser dreitägigen Ratssitzung fortgeführt wurden, ist es gelungen, zu einer Einigung im Rat zu kommen. Dies war nicht nur für die Landwirtschaft wichtig, die für das beginnende Wirtschaftsjahr die Preisentscheidungen braucht, sondern es war auch von gesamtpolitischer Bedeutung. Dieser Beschluß widerlegt nämlich manche Zweifel und beweist, daß die Europäische Gemeinschaft trotz aller Schwierigkeiten in der Lage ist, die erforderlichen Beschlüsse zu fassen. Das Echo auf diese Beschlüsse der Gemeinschaft läßt die Hoffnung gerechtfertigt erscheinen, daß es nun auch in anderen Bereichen zu positiven Entscheidungen kommen kann, die zu weiteren Fortschritten in der europäischen Integration führen werden.Nun behauptet man, der Preisbeschluß sei im Grunde genommen kein gemeinsamer Beschluß, da für verschiedene Mitgliedstaaten Sonderregelungen getroffen seien. Ich meine, diese Kritik trifft nicht den Kern der Problematik. Gewiß, wir haben Sonderregelungen beschlossen, und alte Sondermaßnahmen werden fortgeführt. Ich darf hier auch noch einmal darlegen, daß es bereits am Anfang des gemeinsamen Agrarmarktes eine Vielzahl von Sonderregelungen gab. In den Jahren seit 1969, in denen ich tätig war, haben wir manche abbauen können, es sind auch manche neu hinzugekommen. Soweit neue Sondermaßnahmen eingeführt wurden, betreffen sie insbesondere Großbritannien. Dies ist ein Land, das sich in der Übergangsphase zum Gemeinsamen Markt befindet. In einer derartigen Situation können immer Sonderregelungen erforderlich werden. Das sieht deshalb schon der Beitrittsvertrag vor, und in diesem Rahmen sind wir geblieben.Soweit alte Sonderregelungen fortgeführt werden, muß man sehen, daß die gemeinsame Agrarpolitik als einzige integrierte Politik Einflüssen ausgesetzt ist, die aus anderen, noch nicht harmonisierten Bereichen herrühren. Ich erinnere nur an die unterschiedlichen Wirtschafts- und Sozialstrukturen in den einzelnen Ländern. Die daraus entstehenden Spannungen sind es, die den Rat zu Sonderregelungen zwingen. Solange dieses Grundübel nicht beseitigt ist, geht es eben nicht ohne Sonderregelungen.Für Großbritannien hat der Rat befristete Übergangslösungen gefunden, die sich im Rahmen des EWG-Vertrags und der Beitrittsakte halten. Danach kann die Kommission mit Rücksicht auf die besondere Situation Großbritanniens Maßnahmen treffen, um einerseits ein Ansteigen der britischen Verbraucherpreise infolge von Gemeinschaftsentscheidungen möglichst weitgehend auszuschließen und andererseits den Erzeugern einen gewissen Ausgleich für Kostensteigerungen zu gewähren. Dabei ist von dem Instrument der Verbrauchersubvention nur bei Butter Gebrauch gemacht worden, indem die bereits bestehende Subvention von Großbritannien erhöht
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Bundesminister Ertlwerden kann. Den Rind- und Schweinefleischerzeugern kann Großbritannien befristet Beihilfen gewähren. Entscheidend für diese Sonderregelungen war die britische Bereitschaft, diese Beihilfen national zu finanzieren.Ein schwieriges Problem war ebenfalls die italienische Oliven- und Hartweizenregelung. Für diese Bereiche bestehen schon seit Jahren gemeinsame Marktorganisationen. Sie sollten jedoch durch neue Regelungen ersetzt werden, weil sich die alten nicht bewährt haben. Diese Forderung entspricht den wirtschaftlichen Notwendigkeiten der Gemeinschaft. Es wurde beschlossen, daß die alten Regelungen 1975 auslaufen und durch neue ersetzt werden, die im nächsten Jahr ausgehandelt werden müssen.Meine Damen und Herren, nun noch einige Bemerkungen zu den eigentlichen Preisbeschlüssen. Wie erwartet, liegt der Kompromiß des Rats höher als die ursprünglichen Kommissionsvorschläge. Wichtig ist, festzuhalten, daß die Lösungen, die wir gefunden haben, sowohl gegenüber den Verbrauchern als auch gegenüber den Erzeugern ausgewogen und vertretbar sind, insbesondere auch wegen der Kostensituation, in der wir uns seit vergangenem Herbst befinden. Die Preisbeschlüsse dürften sich auf die Lebenshaltungskosten in Deutschland im Kalenderjahr 1974 in Höhe von 0,5 % auswirken.Damit haben wir uns in den Rahmendaten gehalten, die im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung projiziert sind. Wir haben also sehr wohl die wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten beachtet und uns in die Rahmenbedingungen der globalen Wirtschaftspolitik eingefügt.Für die Landwirtschaft wird infolge der Preisbeschlüsse eine Verbesserung der Erlöse erreicht, die nach den jetzigen Erkenntnissen die höheren Produktionskosten annähernd ausgleicht, eine Senkung der Realeinkommen bei gut geführten Betrieben verhindert und Einkommenssteigerungen ermöglicht. Damit ist sichergestellt, daß die Landwirtschaft an der allgemeinen Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung teilnehmen kann, wie es das Ziel der Bundesregierung ist.Von Bedeutung ist ferner, welche Haushaltsbelastungen durch die Beschlüsse eintreten werden. Dazu hat die Kommission erklärt, daß die eventuell erforderlich werdenden Mehrausgaben im Rahmen der festgelegten Haushaltsansätze 1974 aufgefangen werden können. Ein Nachtragshaushalt für das Jahr 1974 ist nach Ansicht der Kommission wegen der Preisbeschlüsse nicht erforderlich.Lassen Sie mich abschließend wiederholen: Neben seiner europapolitischen Bedeutung ist der Ratsbeschluß ein ausgewogener Kompromiß, der von allen vertreten werden kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wischnewski.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der heutigenAussprache über die Politik in Europa, über das Verhältnis in der atlantischen Gemeinschaft, über unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten hat der Herr Bundeskanzler eine Reihe von Sorgen vorgetragen. Wir teilen seine Sorgen in vollem Umfange. Der Herr Bundeskanzler und der Herr Bundesaußenminister haben dem Hause eine Reihe von konkreten Vorschlägen unterbreitet, und wir Sozialdemokraten werden der Bundesregierung bei der Durchsetzung dieser Vorschläge jede Unterstützung gewähren, die überhaupt nur möglich ist.
Gegen die Bundesregierung ist eine Reihe von Vorwürfen erhoben worden. Diese Vorwürfe möchte ich in aller Form, aber auch mit aller Schärfe zurückweisen, weil sie völlig ungerechtfertigt sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie das ist, kann ich Ihnen auch an einem Beispiel aus den letzten Tagen aufzeigen. Das Thema, das wir hier heute behandeln, die Situation in Europa und unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, haben wir vor einigen wenigen Tagen im Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestages in aller Sachlichkeit. behandelt.
Da hat es solche Schärfen, wie sie hier heute vorgetragen worden sind, überhaupt nicht gegeben. Da hat es weitgehende Übereinstimmung gegeben, da hat es keinerlei andere Vorschläge von seiten der Opposition gegenüber der Politik der Bundesregierung gegeben. Allerdings glaube ich, daß fast alle Redner der Opposition, die hier bisher gesprochen haben, an der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses selbstverständlich nicht teilgenommen haben.
Daher habe ich den Eindruck, daß Sie in der Außenpolitik eine Doppelstrategie haben — eine für hier, für das Plenum, um nach draußen zu reden, und eine sehr viel vernünftigere innerhalb des Auswärtigen Ausschusses.
Dann — so meine ich — ist es aber unsere Aufgabe als Koalition, Ihre Doppelstrategie hier drinnen und draußen einmal in aller Deutlichkeit aufzuzeigen.
Hier sind heute vormittag einige Reden gehalten worden, die nicht in diesem Saal hätten gehalten werden sollen. Wenn jemand etwas gegen die französische Politik hat, dann soll er dies nicht der Bundesregierung anhängen;
wenn jemand etwas gegen die Politik eines anderenLandes hat, dann soll er dies nicht der Bundesregierung anhängen, sondern soll hier in aller Deut-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6131
Wischnewskilichkeit Roß und Reiter nennen, ,sagen, wer denn nun wirklich gemeint ist.
Diese Regierung hat das getan, was in dieser Situation möglich war. Keine andere Regierung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft hat für die Integration mehr getan als diese Bundesregierung.
Keine europäische Regierung hat sich mehr um das atlantische Bündnis bemüht als diese unsere Bundesregierung. Und dafür gibt es konkrete Beweise.
Der Kollege Dr. Strauß hat gesagt, es müßten Prioritäten gesetzt werden. Er selbst hat allerdings keine Prioritäten genannt. Für uns sind das atlantische Bündnis und die Europäische Gemeinschaft — beide zusammen — die Grundlagen unserer Außenpolitik. Daran führt kein Weg vorbei, und es gibt für uns auch keine Alternative zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich. Dies ist die Situation, mit der wir leben müssen, und vielleicht trägt die Bundesregierung besonders viel Verantwortung und nutzt auch ihre Möglichkeiten, weil sie in der Lage ist, ihren entscheidenden Beitrag zu leisten, um die eine oder andere Schwierigkeit beseitigen zu helfen.Was aber die Zusammenarbeit in der westlichen Welt betrifft, Herr Kollege Strauß, sind Sie eigentlich nicht mit gutem Beispiel vorangegangen. Es gibt zwei wichtige politische Entscheidungen aus der letzten Zeit hier im Hause, die in völliger Übereinstimmung mit der westlichen Welt waren; da lag sogar der Wunsch der westlichen Welt vor, daß sich die Bundesrepublik in diesen Fragen engagiert. Und Sie haben beide Male dagegen gestimmt. Das eine war der NV-Vertrag. Hier war es der Wunsch unseres wichtigsten Bündnispartners, der Vereinigten Staaten, daß wir uns engagierten. Ein großer Teil von Ihnen hat dagegen gestimmt. Das andere war die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen, abgestimmt mit der westlichen Welt, und auch hier haben Sie dagegen gestimmt. Das heißt: Sie verlangen mehr Zusammenarbeit mit der westlichen Welt, aber in wesentlichen Fragen, wo Sie sich zu ent- scheiden haben, gehen Sie nicht mit gutem Beispiel voran, sondern stimmen dann hier im Bundestag dagegen.Sie sagen: die politische Zusammenarbeit in Europa soll besser werden. Aber Sie sollten eigentlich aus Ihrer eigenen Fraktion wissen, wie schwierig es ist, einen gemeinsamen politischen Nenner zu finden. Deswegen will ich zu zwei politischen Entscheidungen sagen, wie unterschiedlich sich z. B. Ihre heutigen Redner in diesen Fragen verhalten haben. Bei dem NV-Vertrag hat Herr ProfessorCarstens dafür gestimmt, und der Kollege Dr. Strauß hat dagegen gestimmt. Bei der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen hat Herr Professor Carstens dafür gestimmt, und der Kollege Dr. Strauß hat dagegen gestimmt. Sie können also aus den Erfahrungen Ihrer eigenen Fraktion ersehen, wie schwierig es ist, eine gemeinsame Außenpolitik zu finden. Vielleicht sollten Sie das noch ein bißchen mehr studieren.Sie fordern eine gemeinsame Außenpolitik. Wenn aber um eine gemeinsame Außenpolitik innerhalb der Gemeinschaft gerungen wird und es ein Ergebnis gibt — wie z. B. das Ergebnis des Ministerrats vom 6. November 1973 in bezug auf die Nahostpolitik —, dann sagen Sie: „Aber mit diesem Ergebnis können wir selbstverständlich überhaupt nicht einverstanden sein." Gemeinsame Außenpolitik zu machen bedeutet, daß man auch bereit sein muß, Kompromisse einzugehen.
Es kann keine gemeinsame Außenpolitik ohne Kompromisse geben.Um noch einmal auf den Kollegen Strauß zu kommen: ich habe hier ein stenographisches Protokoll seiner Rede von Kufstein. Da hat er in bezug auf die Sicherheit gesagt:Es ist nicht einzusehen, warum 250 Millionen Europäer nicht in der Lage sein sollten, ihre Sicherheit selbst in die Hände zu nehmen.Ich halte dies für einen sehr gefährlichen Satz,
weil wir von der Voraussetzung ausgehen, daß unsere Sicherheitsprobleme nur in engster Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten geklärt werden können.
Allein können wir das nicht in die Hand nehmen.
Der Kollege Strauß hat über die Schwierigkeiten gesprochen, die in Europa durch die Ölsituation entstanden sind. Ich 'hoffe, daß er nicht auch dafür die Bundesregierung verantwortlich machen wird. Es entspricht den Tatsachen, daß die ölverbrauchenden Länder etwa 50 Milliarden Dollar mehr auszugeben haben und daß wir etwa 15 bis 20 Milliarden Dollar mehr auszugeben haben. Nur ist heute vormittag vergessen worden zu sagen, daß kein ölverbrauchendes Land, kein industrielles Land, in der Lage ist, 'besser mit dieser Situation 'fertigzuwerden als die Bundesrepublik Deutschland, und zwar deshalb, weil wir im vergangenen Jahr einen Exportüberschuß von 33 Milliarden DM gehabt haben — ein Zeichen einer gesunden Wirtschaft — und weil wir Ende 1973 die größten Währungsreserven der Welt hatten — und 'heute noch haben —, nämlich in Höhe von 33,1 Milliarden Dollar.
Die Währungsreserven der Bundesrepublik sindungefähr so hoch wie die der Vereinigten Staaten,Großbritanniens, Frankreichs und Italiens zusam-
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6132 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Wischnewskimen. Es wäre ganz gut, wenn Sie sich das vielleicht auch für die Debatte am Freitag merkten.
In diesem Zusammenhang ist gesagt worden: Während des Nahost-Konflikts stand der Friede auf dem Spiel, und nur die Vereinigten Staaten haben gehandelt, Europa hat beiseite gestanden. Ich bedauere, daß es nicht gleich in den ersten Tagen möglich war, eine gemeinsame europäische Haltung einzunehmen. Aber daß diese ernste Krise geregelt wurde, lag in erster Linie an dem hervorragenden Kontakt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion; die Zusammenarbeit 'zwischen diesen beiden hat dazu geführt, daß man in der Lage war, mit diesem Problem fertigzuwerden.Weiterhin ist gesagt worden, solange nicht die Wirtschafts- und Währungsunion gebildet sei, könne es keine intensive Ausweitung der wirtschaftlichen Beziehungen zu den Ländern des COMECON geben. Mir scheint es notwendig, hier ganz kurz zwei Zahlen 'zu nennen. Der Anteil des Außenhandels der Bundesrepublik mit dem COMECON am Gesamtaußenhandel betrug im Jahre 1973 ganze 5,3 %, und der Anteil des Außenhandels der Bundesrepublik mit den Ländern der 'Gemeinschaft plus den Vereinigten Staaten 57,7%. Da 'halte ich es für einen völlig normalen Vorgang, daß die Bundesrepublik daran interessiert ist, auch mit den anderen Nachbarn die wirtschaftlichen Beziehungen auszuweiten.Im übrigen: Wenn wir es nicht tun werden — unsere europäischen Partner und auch die Partner innerhalb der Gemeinschaft sind längst dabei. Zur Zeit ist es so, daß wichtige und für die deutsche Wirtschaft interessante Aufträge nicht in die Bundesrepublik kommen, weil andere Länder der Gemeinschaft und andere Länder im Bündnis den Ländern des COMECON wesentlich günstigere Kreditangebote machen, als es die Bundesregierung überhaupt tun könnte. Das ist die Ausgangsbasis, die wir dabei zu sehen haben.Herr Kollege Dr. Kiesinger ist auf die Haltung meiner Partei eingegangen, und deswegen muß ich ihm folgendes sagen. Was die Politik im atlantischen Bündnis betrifft und was die europäische Politik betrifft, gibt es in der Sozialdemokratischen Partei eine ganz klare und eindeutige Haltung. Die Stellungnahme, die der letzte Parteitag der Sozialdemokratischen Partei dazu beschlossen hat, ist nahezu einstimmig verabschiedet worden. Ich möchte Ihnen deshalb — gerade deshalb — mit Genehmigung der Frau Präsidentin einige Sätze daraus vorlesen:Das atlantische Bündnis und die europäische-. Integration bleiben die Grundlagen unserer Außenpolitik. Die Bündnisfähigkeit und letztlich auch die Verhandlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland beruhen auf ihrer Bereitschaft, einen militärischen Beitrag zur NATO-Verteidigung zu leisten. Das ist die Aufgabe der Bundeswehr. Deshalb werden wir gemeinsam mit unseren Bündnispartnern dafür sorgen, daß die eigene Verteidigungsfähigkeit nicht vernachlässigt wird.Und in bezug auf die europäische Entwicklung heißt es:Die Fortführung der westeuropäischen Einigung in der Europäischen Gemeinschaft ist unverzichtbarer Bestandteil sozialdemokratischer Politik. Dies ist der Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa.Über diese Fragen gibt es innerhalb der Sozialdemokratischen Partei keinerlei Diskussion; dies wird von allen Sozialdemokraten respektiert.Nun hat der Kollege Dr. Kiesinger der Koalition ein Bündnis für eine gemeinsame Westpolitik angeboten. Ein recht interessanter Vorschlag, Herr Kollege Dr. Kiesinger. Nur, ich muß eine kritische Bemerkung dazu machen. Ich möchte ausdrücklich sagen: Wir alle freuen uns, wenn es möglich ist, ein Höchstmaß von Gemeinsamkeit in der Außenpolitik zu erreichen. Aber genauso wie es Europapolitik nicht à la carte geben kann, genauso kann es nicht Außenpolitik à la carte geben. Es gibt nicht die Möglichkeit, zu sagen: „Wir bieten Ihnen ein Bündnis in der Frage der Westpolitik an", und zur gleichen Zeit die auch notwendige Ostpolitik bis aufs äußerste zu bekämpfen. Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit, Herr Kollege Dr. Kiesinger.
Was die Opposition gestern abend in bezug auf den Vertrag mit der CSSR gesagt hat, was in der vergangenen Woche in der Debatte mit Bezug auf Polen gesagt worden ist, gibt nicht die Möglichkeit, eine Gemeinsamkeit zu finden.Wenn Sie sagen: „Es geht ja nur um die Westpolitik", dann muß ich Ihnen sagen, die Ostpolitik, die diese Bundesregierung betreibt, basiert auf der Westpolitik. Wenn wir diese Ostpolitik nicht betrieben hätten, verehrter Herr Kollege Dr. Kiesinger, wäre die Bundesrepublik heute weltweit isoliert; dann hätten die anderen Gemeinschaftsländer und die Länder des Bündnisses ausgezeichnete Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarn, und die Bundesrepublik Deutschland hätte zu diesen Ländern keinerlei Beziehungen. Dies wäre ein untragbarer Zustand,
und deshalb sage ich: das eine ist mit dem anderen verbunden.Ich mache Ihnen deshalb einen anderen Vorschlag: Ich habe die herzliche Bitte, daß Sie über die Fragen der Ostpolitik im Interesse unseres Landes noch einmal nachdenken. Dann sollten wir uns darum bemühen, festzustellen: Wo gibt es in der Außenpolitik insgesamt Gemeinsamkeiten, und wo kann man durch ein Höchstmaß von Gemeinsamkeit für das Bündnis, für die europäische Einigung und für die Interessen unseres Landes möglichst viel erreichen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6133
WischnewskiWir alle, die wir an einem Staatenbündnis, an einem funktionierenden Bündnis, interessiert sind wir alle, die wir daran interessiert sind, daß die europäische Entwicklung weitergeht und daß die Schwierigkeiten der letzten Monate überwunden werden, wir alle, ob Sozialdemokraten, Christdemokraten oder Liberale, haben in den europäischen Ländern politische Freunde in den nationalen Parlamenten, gar nicht zu reden vom Europäischen Parlament. Wir haben Bruder- und Schwesterparteien, und wir sollten überlegen, wie jeder an seinen Platz für die Vorstellung, die wir hier gemeinsam haben, bei den politischen Freunden in den Ländern der Gemeinschaft eintreten kann, um ein Höchstmaß an Integration in der europäischen Politik erreichen zu können.In diesem Sinne möchten wir die Vorschläge unterstützen, die heute von der Bundesregierung klar und eindeutig vorgetragen worden sind, und möchten sie auf dem Weg, den sie dabei geht, klar und eindeutig unterstützen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und meine Herren! Erlauben Sie zunächst, auf eine Frage zurückzukommen, die der Kollege Wehner während der Rede des Kollegen Carstens an Ihn stellte. Herr Kollege Carstens warf Ihnen vor, auf die Rede des Herrn Kissinger vom April 1973 geantwortet zu haben, das sei ein „Monstrum" usw. Sie versuchten sich zu entschuldigen mit dem Hinweis darauf, daß Sie doch im Mai des vergangenen Jahres im Aktionskommitee für die Vereinigten Staaten von Europa unter Herrn Monnet, dem wir beide angehören, einem hervorragenden Satz, der dann auch verlesen wurde, zugestimmt hätten, und baten Herrn Carstens, sich bei mir zu vergewissern, daß das so stimme.Herr Kollege Wehner, ich kann Ihnen gerne bestätigen, daß Sie diesem Satz des Komitees zugestimmt haben. Herr Kollege Wehner, ich kann aber ebenso bestätigen, daß Sie dieses Wort vom „Monstrum" gesagt haben.
— Jetzt rufen Sie „natürlich". Damit sind wir mitten in dieser Debatte; denn wenn man beides bestätigt und sich Herr Kollege Wehner durch Zuruf eben erneut zu beidem bekennt, sind wir bei dem Stil dieser Politik und dieser Debatte: für jeden etwas, allen alles und nach jeder Seite das, was jeder gern hören mag.
Diese Debatte ist gekennzeichnet durch große Worte, die wir erneut hören,
und wenn nicht der Kollege Ertl eben gesprochenhätte, dann hätten wir beinahe den Eindruck gehabt,die Regierung wolle so tun, als fange sie auch im europäischen Bereich gerade an. Der Kanzler sagt —und wir stimmen dem zu —: „Europa wird nicht von allein, es braucht immer wieder neue Impulse", und Herr Apel hält eine längere Passage gegen „europäischen Aktivismus". Der Bundeskanzler sagt —anders, ais die Fröhlichkeit des Außenministers das erraten ließ —, die politisch Verantwortlichen — so seine Worte „würden vor den Völkern schuldig werden, wenn sie die Dinge weiter treiben ließen". Ein wichtiges Wort: weiter treiben lassen. Also treiben die Dinge bisher!
Er charakterisiert die Entwicklung als „besorgniserregend" — so die Worte des Kanzlers. Wir können von der Opposition dem zustimmen, wenn er sagt: „besorgniserregend". Nur müssen wir hinzufügen: Für diese entstandene Lage gibt es nicht eine Alleinverantwortung, aber — und davon wird zu reden sein -- eine Mitverantwortung dieser Bundesregierung. Wenn die Lage „besorgniserregend" ist, dann sagen wir dazu: Die Antwort, die die Regierung darauf gegeben hat, ist unzureichend; sie ist weder präzis noch konkret, noch der Lage entsprechend, noch gibt sie die Mittel und Methoden an, um diese besorgniserregende Lage zu überwinden.
Damit sich nicht der Eindruck festsetzt, als habe sich in dieser Europäischen Gemeinschaft, der ich mich zuwende, eine „krisenhafte" Entwicklung — so Herr Apel dann — ergeben, als sei das alles die Folge von — na, so wird es doch ein bißchen dargestellt — Energiekrise, von Dollar-Problemen, davon, daß erst Vietnam, dann der Nahe Osten und schließlich Ölscheichs da hereingekommen seien, möchte ich gerne feststellen: Diese billige Entschuldigung nehmen wir nicht ab. Wir stimmen vielmehr einem neutralen Beobachter zu — nachzulesen im „Europa-Archiv", Januar dieses Jahres —, der sagt:Die Krise ist nicht schuld am desolaten Zustand des europäischen Einigungswerkes, sie fördert ihn nur zutage. Nichts hat so deutlich gemacht, daß die EG — die Europäische Gemeinschaft — heute ein Trümmerhaufen verpaßter Gelegenheiten ist.Vor diesen Ereignissen war die Lage in dieser Gemeinschaft — Herr Kollege Apel, Sie wissen es doch selbst sehr gut; Sie haben sich ja öffentlich dazu geäußert, gegen „Politnebel" und solche Sachen gesprochen — doch schrecklich.Ich erinnere mich, bei meinem letzten Besuch im September in Brüssel ein Papier bekommen zu haben, und ich dachte zuerst, dies sei ein Studentenulk, so wie ich ihn einmal in Montreal bekam, als Studenten eine Zeitschrift über den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung machten, wo es hieß: Geh gar nicht rein; denn wenn du drin bist, weißt du sowieso nicht, wo du bist. So kriegte ich nun in Brüssel ein Papier. Herr Kollege Apel: Ihnen wird
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Dr. Barzeldas Papier gar nicht so unbekannt sein; aber ich will aus diesem Papier doch ein paar Sätze vorlesen. Da heißt es:Die Delegationen erscheinen zu den Ratstagungen zu dem für den Beginn der Sitzung festgesetzten Zeitpunkt. Die Ratstagungen beginnen keinesfalls später als 15 Minuten nach der für ihren Beginn festgesetzten Uhrzeit. Zu Beginn der Tagung gibt der Präsident den von ihm für die Tagung vorgesehenen Zeitplan, einschließlich der Zeiten für vorgesehene Sitzungspausen, bekannt. Vor jeder Sitzungspause wird festgelegt, wann die Beratungen wieder aufgenommen werden. Bei der Erörterung jedes Punktes der Tagesordnung sind nicht mehr als sechs Mitglieder jeder Delegation im Konferenzsaal anwesend. Nach Abschluß der Erörterung eines Punktes der Tagesordnung wird eine kurze Pause eingelegt, damit ein Wechsel der Berater möglich ist.Das ist — Herr Kollege Apel, Sie wissen das ganz genau — nicht aus einem europäischen Witzblatt oder aus einer satirischen Zeitschrift oder der Versuch eines bedeutenden Leitartiklers, den Zustand der Gemeinschaft vom vorigen Sommer zynisch zu schildern, das ist keine Persiflage, sondern dies ist ein Beschluß des Ministerrats, der z. B. Ihre Unterschrift, Herr Kollege Apel, trägt, und kein Mensch spürt, wie peinlich das ist. Wenn Sie dann noch die Präambel lesen, stellen Sie fest: Dies ist der Beschluß zur Auffüllung eines Beschlusses der Gipfelkonferenz von Paris, der den Zweck haben soll, „die Kohärenz der Gemeinschaft" politisch darzustellen. Wenn Sie diese Wirklichkeit sehen, können Sie sich ungefähr vorstellen, Herr Kollege Scheel, was wir von den Worten der Regierung vor dem Hintergrund solcher Taten halten.
— Aber, Herr Kollege Scheel, Sie empfinden doch selbst, daß das peinlich ist. Solcherlei Selbstverständlichkeiten würden Sie in keinem Kommunalparlament zustimmen; das würden Sie nicht in die Geschäftsordnung aufzunehmen wagen. Es ist doch Irreführung der Öffentlichkeit, wenn wir das als einen Beschluß des Ministerrats zur Festellung der „Kohärenz der Gemeinschaft" ausgeben.
Dann war hier die Rede von der „bösen Opposition, die alles mit Kritik zerrede".
— Das tut sie auch? Dann wollen wir uns doch einmal den Tatsachen zuwenden. Das hier, dieses Dokument, ist nicht die Stimme der Opposition, dies ist die der Kommission! Herr Apel kennt das natürlich, und ich hoffe, Herr Kollege Scheel kennt es auch noch. Da hat die Kommission einen Rechenschaftsbericht darüber gegeben, was mit der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nun wirklich los ist. Es ist nicht die Opposition, die ich jetzt zitiere. Die Kommission sagt unter der Überschrift „Bisherige Ergebnisse im Vergleich zu den gesetzten Zielen" — es ist ein Zitat; mit Genehmigung der Frau Präsidentin darf ich zitieren —:Nach Maßgabe der Ratsentschließung vom 22. März 1971 sollten während der ersten Stufe folgende Maßnahmen getroffen werden:— Die erste Stufe sollte Ende des vergangenen Jahres zu Ende gehen, das heißt, was da beschlossen werden mußte, mußte fertig sein vor dem ersten Schuß in Nahen Osten, um dies noch einmal deutlich zu sagen!Ergebnisse zu den einzelnen Punkten:1. Koordinierung der kurzfristigen Wirtschaftspolitik— ich zitiere immer die Kommission Ergebnis: nur „ungenügende Ergebnisse".2. Auf dem Gebiet der Harmonisierung — Kommission: „nicht befriedigend".3. Liberalisierung des Kapitalverkehrs — Ergebnis: „keinerlei Fortschritte".4. Strukturpolitik: „keine nennenswerten Fortschritte".5. Devisenmärkte: „Die Gefahren, die sich hier ergeben, sind nicht zu übersehen." Von „Mißerfolgen" müsse geredet werden.Die Kommission faßte das dann wie folgt zusammen — ich zitiere —:Angesichts dieser De-facto-Integration wirtschaftlicher Vorgänge hat sich die Harmonisierung der Wirtschaftspolitik als unzureichend und die Übertragung von Verantwortlichkeiten auf Gemeinschaftsinstanzen als zu zaghaft oder zu langsam erwiesen, vor allem wenn man berücksichtigt, daß sich die Wirksamkeit wirtschaftspolitischer Instrumente, die den einzelnen Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen, immer mehr abschwächt. Es bedarf daher weitgehender Anstrengungen, um diese Lücke zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer Steuerung durch die verantwortlichen Stellen zu schließen. Andernfalls bliebe als einzige Perspektive eine teils unkontrollierte, teils von außen aufgezwungene Wirtschaftsentwicklung oder eine Rückentwicklung auf nationale Binnenräume, die über ein immer engmaschigeres Netz von Kontrollen gegeneinander abgegrenzt werden.Goldene Worte aus dem Frühjahr! Auf deutsch gesagt: Dies war ein Alarmruf an die europäischen Instanzen! Wir hätten gern gehört, daß dieser Alarmruf hier aufgenommen worden wäre oder was diese Bundesregierung konkret getan hätte, um mit den einzelnen Punkten, die präzise aufgezeichnet sind, weiterzukommen. An Plänen fehlt es doch nicht. Es fehlt am Willen, die Pläne zielgerecht und zum richtigen Termin auch durchzusetzen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6135
Dr. BarzelStatt aber nun diesen Alarmruf zu beantworten, Herr Kollege Behrendt, haben die Verantwortlichen in Europa - ich spreche zunächst von den Verantwortlichen in Europa; das ist eine Formulierung, die der Bundeskanzler aufgegriffen hat, und ich werde den Anteil, der aus meiner Sicht der Bundesregierung zukommt, hier schon noch behandeln, haben Sie gar keine Sorge! -- die Vorschläge der USA, die Partnerschaft neu zu beleben — in der Debatte war die Rede davon —, eigentlich mit mehr arroganter Kühle behandelt. Heute ist in der „New York Times" zu lesen, daß überhaupt kein Dokument mehr zustande komme. Denn man kann auch — Herr Wehner, ich erinnere Sie aus anderem Zusammenhang daran — eine Sache zerreden, dann wird sie „sauer", und dann hat der Initiator kein Interesse mehr an dieser Geschichte.Die Mahnungen, die auf dem Tisch lagen, es würde Energieprobleme geben, wurden überhört. Statt dessen hat man sich — eher langweilig als kühn — damit beschäftigt, die „europäische Identität" zu definieren, statt zunächst Kraft und Autorität dieser Gemeinschaft herzustellen.Auf diesem ganzen Weg habe ich nicht ein lautes Wort von Ihnen gehört, Herr Apel, von dem Herrn Außenminister oder von dem Herrn Bundeskanzler, der sich gegen diese Entwicklung gestemmt hätte, die zu der Krise geführt hat. Deshalb muß ich Ihnen sagen: Zu den europäisch Verantwortlichen gehören nicht nur andere Regierungen, sondern dazu gehört auch die Bundesregierung, und ich werfe ihr vor, daß sie eine erkennbar herannahende Krise nicht dadurch rechtzeitig verhindert oder wenigstens gemildert hat, daß sie sie öffentlich kundbar machte und durch eigene Vorschläge anderen gutwilligen Europäern Gelegenheit gab, sich anzulehnen. Dies ist der Vorwurf, den man hier präzise machen muß.
Herr Kollege Barzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Apel?
Aber gerne.
Herr Kollege Dr. Barzel, ist Ihnen entgangen, daß wir im Jahre 1973 den Briten einen fast unlimitierten Währungsbeistand angeboten haben, um sie in der „Schlange" zu halten, ist Ihnen entgangen, daß wir der französischen Regierung ein ähnliches Angebot gemacht haben, um sie ebenfalls im Währungsverbund zu behalten, und ist Ihnen entgangen, daß dennoch beide Regierungen ihren nationalen Weg gegangen sind und wir damit in das von Ihnen richtig beschriebene Dilemma der Wirtschafts- und Währungsunion hineingelaufen sind?
Herr Kollege Apel: Ist Ihnen entgangen, daß ich vorher sagte, ich würde höchst präzise die Vorwürfe konkretisieren, die ich an die Adresse der Regierung erhebe; und daß ich genau die beiden Punkte, zu denen Sie jetzt ab-lenken, der Regierung nicht vorgeworfen habe, weil keiner von uns töricht genug ist, zu sagen, daß diese Regierung vielleicht noch direkt für Paris oder London verantwortlich ist? Aber wann hat sie, die Bundesregierung, eigentlich je laut und deutlich auf dem Weg dorthin, auf dem Wege in die Krise, den ich hier nur mühsam habe beschreiben können, sich quergelegt und das getan, was ihr möglich war? Wo ist der Vorschlag des Kanzlers — Herr Apel, wenn wir schon über Wirtschafts- und Währungsunion reden —, der sich mit der Hauptfrage beschäftigt: Wie bekommen wir Frankreich, Großbritannien und Italien möglichst bald wieder in die „Schlange" hinein? Da hören wir dann von der Regierung, die Wirtschafts- und Währungsunion sei „das Herzstück Europas", aber davon jetzt zu reden oder jetzt Vorschläge zu verlangen sei falsch. Wann sollte das eigentlich geschehen? Wenn nicht jetzt in dieser Krise, Herr Kollege Apel?Nun ein Wort zu den Schlußbemerkungen von Herrn Wischnewski über das, was man kann und was man nicht kann. Es war sehr interessant. Der frühere Bundeskanzler Kiesinger fragte den Bundeskanzler Brandt: Warum nutzen Sie eigentlich nicht die Möglichkeit der europapolitischen Einstellung dieser Opposition, um mehr herauszuholen? Daraufhin kommt die Antwort von Herrn Wischnewski: Das mögen wir nicht; aber bitte, stimmt ihr erst einmal unserer Ostpolitik zu! Damit ist wieder klargeworden, wo Sie die Prioritäten sehen.
Es ist erst viereinhalb Jahre her, daß dieses Haus in der Zusammensetzung mit dieser Regierung und dieser Opposition die erste Europadebatte hatte. Das war nach der Gipfelkonferenz in Den Haag, — einem positiven Erbe der Großen Koalition. Damals haben wir noch, die Spitzen der Regierung und der Opposition, vor der Konferenz gesprochen. Auf der Konferenz konnte die Regierung sagen: Wir können nicht hinter unser Parlament zurück, weil Regierungs- und Oppositionsfraktionen sich hier einig sind. Wir haben dann auch der Regierung den Beifall gegeben; ich habe ihn damals für die Opposition selbst formuliert. Dann kam Herbert Wehner — und ähnlich eben Herr Kollege Wischnewski — und sagte, er „brauche die Opposition nicht". Seither ist dies hier alles, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Wehner, ich freue mich, und es erinnert mich geradezu an eine zehnjährige Zeit, wenn Sie sich wieder bemühen, einen Zwischenruf zu machen. Es ist Ihnen früher nicht gelungen, mich aus meiner Ruhe zu bringen, es wird Ihnen auch weiterhin nicht gelingen. Ich möchte dies doch hier einmal sagen.
Meine Damen und Herren, die Regierung hat z. B. überhört, wenn wir erklärt haben — und ich zitiere aus der letzten Europadebatte vom 18. Januar 1973 —:
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6136 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Dr. BarzelWir legen Wert auf diese Feststellung,— so sagten wir damals —daß dieses sich vereinigende Europa seine Beziehungen zu anderen ordnen sollte durch einen Konsultations- und Kooperationsvertrag zwischen den USA und der Gemeinschaft, durch einen Kontaktausschuß mit den Staaten Ost-und Mitteleuropas und durch eine abgestimmte Politik gegenüber den Ländern der Dritten Welt einschließlich der Entwicklungspolitik ...Das, meine Damen und Herren, waren Vorschläge.Aber Sie haben nicht nur die Zusammenarbeit mit uns nicht gewollt und unsere Vorschläge überhört. Diese Regierung steht europapolitisch nicht einmal im Einklang mit sich selbst, sie zieht nicht die Konsequenz aus ihren eigenen Erkenntnissen.Wenn Sie sich die Mühe machen — und ich glaube, mein Kollege Narjes wird dies im einzelnen tun —,
einmal z. B. die Jahreswirtschaftsberichte dieser Regierung durchzusehen, wo sie Jahr auf Jahr Abteilungen haben: was ist europapolitisch mit dem Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung und umgekehrt zu verzeichnen?, stoßen Sie dort geradezu auf eine Fundgrube solider, sachlicher, nach vorn gerichteter Feststellungen. Nur, wenn Sie das lesen und das mit den Ergebnissen vergleichen und mit den Taten dieser Regierung, stellen Sie fest, daß hier wieder nichts mehr übereinstimmt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Ja, bitte schön!
Herr Kollege Dr. Barzel, können Sie sich vorstellen — und Herr Wischnewski hat darauf hingewiesen —, daß man Europapolitik nur mit Frankreich machen kann? Können Sie sich vorstellen, daß, wenn man die Dinge so forciert, wie Sie das hier mutig tun, man erneut das produzieren kann, was schon einmal von einer anderen Regierung produziert worden ist, nämlich die Politik des leeren Stuhls?
Aber Herr Kollege Apel, ich hebe doch jetzt im Augenblick nicht auf weitergehende Wünsche und anspruchsvollere Ziele ab, die die Opposition hat. Ich argumentiere aus Ihren eigenen Zielvorstellungen, was Sie gesagt, verkündet, mit Frankreich beschlossen haben und nun nicht durchführen.
Wenn Sie einen Sinn für das hätten, was in dieser schwierigen Lage die Rede des Kollegen Kiesinger für eine Chance enthielt, und wenn Sie sehen, wie töricht Sie darüber hinweggehen, statt das in dieser schwierigen Lage zu nutzen, dann, meineDamen und Herren, fürchte ich, ist Ihnen auch europapolitisch nicht zu helfen.
Da hören wir 1970 in dem Jahreswirtschaftsbericht, es sei „die zentrale politische Aufgabe der kommenden Jahre", eine im wesentlichen gleichgerichtete wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Gemeinschaft und eine gemeinsame Währungspolitik zustande zu bringen. Ähnliches hörten wir heute in der Zukunftsschau, mit der sich der Kollege Scheel hier europapolitisch verabschiedete. So können Sie das auch 1971 in dem Jahreswirtschaftsbericht lesen. Sie finden einen ersten Alarmruf im Jahreswirtschaftsbericht aus dem Jahre 1972, und Sie finden das in dem Bericht aus dem Jahre 1973. Dann finden Sie 1974 folgende Sätze — das sind Worte Ihrer Regierung, Herr Apel —:Die Konjunkturpolitik wird zwar von der Gemeinschaft mit beeinflußt, die Entscheidungen verbleiben letztlich aber bei den Mitgliedstaaten.Darauf wird wohl morgen zurückzukommen sein, wenn wieder nur „das böse Ausland" an der Inflation hierzulande schuld sein soll — ein Ausland, das es doch auch gab, bevor die Regierung hier wechselte.
Wenn ich dann heute Herrn Kollegen Scheel in seiner Zukunftsvision an der Stelle hörte, als er hinsichtlich der wirtschaftlichen Kooperation ausdrücklich Giscard d'Estaing zustimmte, muß ich sagen: Andere Stellen der gleichen Regierung sagen dies anders. Die sagen — ich zitiere aus dem JahreswirtschaftsberichtNach Auffassung der Bundesregierung können diese Koordinierungsmechanismen, mögen sie noch so umfassend und effizient angewandt werden, kein Ersatz für eine einheitliche Politik der Gemeinschaft sein, zu deren Ausübung ihre Organe mit den erforderlichen Kompetenzen ausgestattet werden müssen.
Herr Kollege Scheel, jetzt nicken Sie wieder; also wollen Sie nun doch eine Vergemeinschaftung der Wirtschaftspolitik?
Dann sagen Sie doch: die Koordinierung genügt nicht; sie muß in die Gemeinschaft — mit dem Mechanismus, der dafür geschaffen worden ist.
Dies ist nicht gesagt worden.
Ich möchte gern noch etwas anderes hinzufügen. Es ist uns oft in diesem Hause als eines der Motive für die Ostpolitik, vor allen Dingen vom Kollegen Scheel, gesagt worden, wir müßten unser Verhältnis nach Osten definieren, weil unsere Partner im Westen genau wissen wollten, mit welcher Bundes-
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Dr. Barzelrepublik Deutschland, mit welcher Form von Ansprüchen — falls überhaupt noch mit welchen — sie zu tun haben. Dies müsse der Westen wissen, bevor er endgültige Integrationsschritte mit uns tue. Wenn dies stimmt -- wir haben dies in den Debatten als nicht glaubhaft bestritten; aber nehmen wir Sie einmal beim Wort —, dann hätten Sie doch, Herr Kollege Scheel, in den anderthalb Jahren der neuen Regierung, gestützt auf diese eigene Erkenntnis, europapolitisch initiativ werden müssen. Herr Apel, in der Landschaft des Sommers 1973, als Frankreich Tag für Tag Signale sendete, daß es mehr Europa wolle und nicht weniger, war dies doch möglich! Diese Chance ist doch von dieser Regierung übersehen und vertan worden. Nein, meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist westpolitisch unterentwickelt; es läßt sich dies nicht anders feststellen.Bundeskanzler Kiesinger hat Herrn Bahr zitiert. Ich möchte gerne in die Debatte einen Satz eines der höchsten und wohl auch zuständigen deutschen Diplomaten, des Herrn van Well, einführen, der zu dieser Politik im „Europa-Archiv" sagt, es hätte keinen Zweck, „die anderen zu drängen". Ich zitiere:Unsere Haltung ist klar und innenpolitisch unstreitig: so viel europäische Einigung, wie die anderen acht akzeptieren können.Das ist das Gegenteil unserer Politik. Wir wünschen zu drängen, wir wünschen Initiativen zu sehen. Wir haben früher gesagt: Niemand wird diese Regierung schelten, bestimmt nicht diese Opposition, wenn sie mit Vorschlägen weit vor den anderen hermarschiert. Das ist uns lieber, als wenn sie sich hier denaturiert zu einer Art Mitläufertum zu dem, was auch andere für möglich halten. Ich möchte diesem Herrn Diplomaten, wenn er erklärt, innenpolitisch sei dies „unstreitig", doch mit Verlaub sagen, daß das nicht der Fall ist. Wir wollen mehr, wir wollen deutsche Initiativen, wir wollen ein Drängen sehen.Meine Damen und Herren, es kann niemand bestreiten, und keiner, der sich in Europa bewegt, bestreitet das: Zu den Zeiten unserer Regierung stand hier in Bonn einer der Motoren für die europäische Vereinigung, manchmal der einzige. Aus diesem Motor ist, wie diese Dinge erweisen, nun ein Moderator geworden. Dieser moderiert bei allen Problemen mit einer Frage, mit der Frage: Wo ist der kleinste gemeinsame Nenner? An die Stelle eines Willens tritt da ein Fragezeichen. Das, meine Damen und Herren, ist eine europäische Tatsache, die hier in dieser Debatte ausgesprochen werden muß.Ich meine, daß auch eine Rede eines anderen Mitglieds der Kommission, des Herrn Borschette, die er unlängst in Frankfurt gehalten hat, hier in die Debatte eingeführt werden muß. Ich glaube, er hat recht, wenn er als den Grund für die Krise der Europäischen Gemeinschaft ausführt — ich zitiere einen Satz —: „Es ist eine Krise des Glaubens an Europa vieler europäischer Staatsmänner."
Genau dies ist es. Wenn das, wie Herr Kiesinger gesagt hat, nicht von der politischen Führung kommt und im Volk aufgegriffen werden kann, wenn da moderiert wird, wo ein Motor notwendig ist, dann, meine Damen und Herren, erzeugt diese Regierung mehr Fragezeichen als Antworten, auch auf dem europapolitischen Gebiet.
Meine Damen und Herren, ich möchte gerne noch einen Gedanken sagen zu dem berühmten Mit-einerStimme-Sprechen. Natürlich will jeder, daß Europa soweit kommt. Aber ich glaube, es ist auch ganz wichtig, sich darüber zu verständigen, was da eigentlich einstimmig artikuliert werden soll. Ich stimme alledem zu, was — soweit es positiv war — über die USA gesagt worden ist. Und ich stimme auch dem zu, daß dieses Europa eine Entspannungspolitik braucht. Aber vielleicht, Herr Kollege Scheel, Herr Außenminister, trete ich Ihnen nicht zu nahe, wenn ich sage: Es war vielleicht nicht die glücklichste Stunde Ihres politischen Lebens, als Sie im Februar das Mandat des Rates für die Energiekonferenz in Washington annahmen. In diesem Mandat war doch eigentlich, wenn ich das so sagen darf, mehr die Rede davon, mit einer Stimme zu schweigen, als davon, mit einer Stimme zu reden. Sie haben doch selbst ausdrücklich hervorgehoben, daß dies ein zu Verhandlungen und praktischen Ergebnissen nicht bestimmtes Mandat sei. Daß das zu Komplikationen von der Peinlichkeit für alle Europäer, wie wir sie dann in Washington erlebt haben, führen mußte, war doch, glaube ich, vorher klar.Meine Damen und Herren, das, was notwendig ist, ist also nicht, neue Wolken aufzubauen, sondern mit den Füßen auf der Erde das zu tun, was möglich ist, und das heißt, Wort und Tat und international verbürgte Zusagen zum richtigen Termin hier wieder hereinzuholen, d. h. die Verträge anzuwenden und nicht alle möglichen neuen Konstruktionen zu suchen, und das heißt, Konsequenzen aus dem zu ziehen, was die Regierungen selbst gesagt haben.Meine Damen und Herren, die Schwierigkeit liegt doch nicht im Mechanismus von irgendwelchen europäischen Institutionen, die Schwierigkeit liegt nicht in ihrer Konstruktion, sondern die Schwierigkeit liegt darin, daß manche diese Instrumente nicht so angewendet haben wollen, wie es möglich ist. Der europäische Wille fehlt hier. Ich freue mich, daß der Bundeskanzler mit Bezug auf die atlantische Zusammenarbeit frühere Konsultationsmechanismen gelobt hat. In diesen Fragen kommt es nicht auf Mechanismen, sondern es kommt auf den Willen an.Wir sind der Auffassung, daß ein Statut über die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur politischen Union nützlich wäre. Es wäre kein Schaden, wenn dieses Statut auch schon den Entwurf einer Unionsverfassung enthielte. Die Direktwahl des Europäischen Parlaments ist ein überaus wichtiges demokratisches Erfordernis. Warten Sie nicht, bis Sie alles kriegen! Tun Sie den Schritt mit, den wir Ihnen hier heute konkret als eine realistische Möglichkeit vorlegen!
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6138 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Dr. BarzelWir können es uns doch als Demokraten, als Parlamentarier, als Europäer nicht auf die Dauer gefallen lassen, daß die parlamentarische Komponente in unserer Gemeinschaft insgesamt ins Hinken kommt; daß die Parlamentarier, hier wie in Europa, immer ohnmächtiger werden und zugucken müssen, nicht nur den Maßnahmen, sondern noch mehr den Unterlassungen, die immer unkontrollierter werden. Meine Damen und Herren, dies ist cinch der Fall! Denn wie sieht es mit der Zuständigkeit in Europa aus? Die Nationen können nicht mehr das tun, was sie für sich allein eigentlich tun müßten; und Europa kann noch nicht das tun, was es wollen sollte. Daß in diesem Zustand natürlich der unkontrollierte Rahmen, der parlamentarisch nicht kontrollierte Teil, nicht länger so erträglich ist, ist, glaube ich, klar.Wir sprechen weiter von Wirtschafts- und Währungsunion, weil man, wenn dies „das Herzstück" ist, wie hier gesagt worden ist, halt auch über dieses „Herz" sprechen muß. Es müssen Verhandlungen geführt werden. In dem Geist, wenn Sie so wollen, Herr Apel, in dem Sie den beiden Währungen Beistand angeboten haben, müssen Sie Verhandlungen führen über die Rückkehr zur „Schlange". Denn wenn Sie sich auch politisch mit dem Rest wohlfühlen, was ich verstehen kann: ob das ökonomisch für uns auf die Dauer attraktiv ist, ist doch eine große Frage, meine Damen und Herren!Der verspätete Übergang zur zweiten Stufe muß eröffnet werden. Irgend jemand aus der Regierung wird uns sicher sagen können, den wievielten Dezember 1973 wir jetzt haben; denn da ist doch in einigen Fragen die Uhr angehalten worden. Dann nehmen wir das doch noch als ein Stück guten Willens! Hat nicht Frankreich offiziell verkündet, nur für ein halbes Jahr, also bis Mitte dieses Jahres, aus der „Schlange" herauszugehen? Nehmen wir Frankreich doch beim Wort, Herr Apel! Versuchen wir es noch einmal! Das ist doch wichtig für uns alle! So hat der frühere Bundeskanzler Kiesinger das gemeint, was er hier gesagt hat.Wir müssen im Bereich der Geld- und der Kreditpolitik zu Zuständigkeiten kommen, Zuständigkeiten einschließlich eines unabhängigen europäischen Zentralbanksystems. Es ist dringend geboten, endlich konkrete Schritte — und nicht Redereien — für den Aufbau eines europäischen Kapitalmarkts einzuleiten, die großen Strukturunterschiede innerhalb der Gemeinschaft durch regionalpolitische Maßnahmen auszugleichen oder zu verhindern und die Grenzkontrollen abzuschaffen. Dazu gehören natürlich dann die Harmonisierung der Steuersysteme und sonstige Maßnahmen der Rechtsangleichung.
— Ja, machen Sie es doch! Meine Damen und Herrn, wie schwierig das ist, wissen wir doch alle. Wenn die Lage ganz schwierig ist, muß man doch den Mut haben, einen kühnen Gedanken zu haben und eine Opposition, die eine träge Regierung etwas drängt, damit sie sich ein wenig bewegt.
Es ist notwendig, die Außenwirtschaftspolitik zu formulieren und das Verhältnis mit cien USA, wie gesagt, zu ordnen.Meine Damen und Herren, ich möchte auf einen anderen Punkt kommen, weil er in der Debatte eine Rolle spielte, nämlich die Konferenzen in Wien und in Genf. Es kann kein Zweifel daran sein, daß wir, die wir dies in unserer Wahlaussage verbindlich gesagt haben, bereit sind, „die internationalen Konferenzen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa -- das ist also Genf — und über die ausgewogene gegenseitige Truppenverdünnung in Europa in dein Maße zu unterstützen, in dem auf diesem Wege zur Entspannung nicht nur mit Worten, sondern in den Realitäten beigetragen werden kann." Das bleibt unsere Position.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6139
— Aber als Sanger ist er doch sehr gut; das ist unstreitig.
Wenn Sie, Herr Kollege Scheel, diese Lage ungefähr so betrachten und sehen, daß sich möglicherweise gewisse Entwicklungen abzeichnen - Herr Carstens hat heute morgen davon gesprochen -, wenn Sie, wie ich Sie kenne, nicht nur Abschluß-, sondern auch Eröffnungsbilanzen machen wollen und nun als ein Mann, der für sich in Anspruch nimmt - ich glaube, ich trete Ihnen nicht zu nahe, wenn ich das sage -, bewußt und gewollt zuerst mit uns die Grundlagen dieses Staates und der freien Gesellschaft geschaffen zu haben, um dann zusammen mit anderen eine andere Politik zu machen, damit der Verantwortliche für diese Koalition sind, was ja festgehalten werden muß, und wenn Sie nun nach neuen Feldern für die sowieso irgendwann beginnende nächste Phase der deutschen Politik Ausschau halten - da brauchen wir beiden nicht lange zu suchen, auch dieses Haus nicht - , so macht die Debatte deutlich, daß die nächste Phase heißt: Das freie Europa muß Gestalt gewinnen!Noch, Herr Kollege Scheel, haben Sie Mandat und Amt, um mehr als Ihre Perspektiven von heute vormittag darzutun. Noch können Sie durch Politik mit Nachbarn, Freunden und Gegnern konkret werden. Wenn Sie, tief im Keller sitzend, nicht nur an Abschlußbilanzen, sondern auch an Eröffnungsbilanzen für eine Zukunft irgendwann denken, dann möchte ich Sie ausdrücklich ermuntern, doch die verbleibenden Wochen von Amt und Mandat hierfürzu nutzen; denn wenn es nicht gelingt, das freie Europa Gestalt gewinnen zu lassen, dann, meine Damen und Herren, kommen wir doch zu europäischen Wirklichkeiten einer „Pax sowjetica", und daran ist dann nichts mehr sozial und nichts mehr liberal.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Fellermaier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man diese Debatte und den fortwährenden Versuch der Sprecher der Unionsparteien aufmerksam verfolgt, nachzuweisen, daß das, was in Brüssel im Rat noch nicht Wirklichkeit geworden ist, hätte Wirklichkeit werden können, weil die Bundesregierung in diesen Monaten die Ratspräsidentschaft ausübe, dann muß man doch einmal etwas in die historische Situation der Entwicklung des Rates zurückgehen. Das beginnt eben im Jahre 1966. Damit möchte ich dem heute nicht anwesenden Kollegen Schröder gar nicht etwa den Vorwurf machen, daß er es gewesen sei, der die Situation verschuldet habe. Aber Herr Schröder hat am 27. Januar 1966, genau 48 Stunden vor dem Luxemburger Kompromiß, in diesem Hause folgendes erklärt:Die Möglichkeit, Mehrheitsentscheidungen zu treffen, ist ein entscheidendes Verfassungselement. des Vertrages. Es sichert die Funktionsfähigkeit des Rates gegen Obstruktion und das Beharren auf zu einseitig bestimmten Positionen. Es erzeugt Verständnisbereitschaft und fördert kommunitäres Verhalten.Heute sind wir mit jenen Folgen dieser Luxemburger Nacht konfrontiert. Und da muß ich in der Tat zugeben, daß es im Rat von diesem Tage an schwierig geworden ist. Da hilft aber kein Wehgeschrei der CDU CSU ; denn konkrete Verbesserungsvorschläge haben Sie in der Debatte nicht gemacht, wie man in der jetzigen Situation neun Mitgliedsländer dazu bringen kann, diesen Luxemburger Kompromiß von 1956 ins Gegenteil zu verkehren, nämlich das Gegenteil, den Ministerrat im Geist und im Inhalt der Römischen Verträge handeln zu lassen.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unterstützt, daß die Bundesregierung in ihrer Ratspräsidentschaft konkrete Maßnahmen zur Rückkehr zur Mehrheitsabstimmung im Rat vorgeschlagen hat. Dies ist um so wichtiger, als es jetzt um die Lebensfragen einer künftigen Europäischen Union geht, um die Konturen der Ausgestaltung dessen, was wir Europäische Union nennen. Und hier kann dieser nationale Panzer — oder die nationale Eigensucht - nur aufgesprengt werden, wenn wir zur Mehrheitsentscheidung im Rat zurückkehren.Natürlich - auch dies ist ein Europa der Realitäten - soll es möglich bleiben, daß Fragen von vitalerer Interesse für einen Mitgliedstaat weiterhin nur einvernehmlich entschieden werden dürfen. Meine Daunen und Herren, dies muß aber die Ausnahme bleiben; dies darf nicht die Regel sein. Und leider ist es zur Regel geworden.
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6140 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
FellermaierLassen Sie mich einige Beispiele nennen, und dann, Herr Kollege Barzel, sagen Sie das Rezept dafür, wie es in solchen Situationen hätte verbessert und abgeändert werden können. Die Einigung über das Mandat der Europäischen Gemeinschaft für die GATT-Verhandlungen konnte erst nach einer nächtelangen Sitzung erreicht werden, als man gleichzeitig einem bestimmten Mitgliedsland eine bestimmte Subvention für Ananaskonserven zugestanden hat. Das ist reale Wirklichkeit, wie sie sich in Brüssel darstellt.Oder: Der Rat hat sich über die Probleme des Walfisches und der Verwendung seines Fetts nicht nur im Jahre 1973, sondern dann auch noch in einer Ratsdebatte am 5. Februar 'befassen müssen. Jeder Experte weiß, daß der Walfischfang in europäischen Küstengewässern jährlich zehn Tiere beträgt, und trotzdem hat sich der Rat damit in mehreren Sitzungen befaßt, weil es ein Mitgliedsland so wollte und auf die Einstimmigkeit im Rat gepocht hat.
Und der Ministerrat mußte sich sogar auch über ein Jahr lang -- weil es eine Minderheit von Mitgliedsländern so wollte — mit der Schildlaus San José befassen. Dies ist in den Ratsprotokollen nachzulesen.Meine Damen und Herren, ich meine, man sollte jetzt hier doch nicht so tun, als komme da der deutsche Ratspräsident, der im Rat in Brüssel nichts anderes als der Primus inter pares ist, in die Sitzung und könne allein Initiativen entwickeln. Wenn es nach den Initiativen der Bundesregierung gegangen wäre, dann wären wir in der Tat ein gutes Stück weiter. Es war diese Bundesregierung, die ganz konkrete Vorschläge zur Reform des europäischen Sozialfonds gemacht hat. Es war diese Bundesregierung, die im Rat ganz konkrete Vorschläge für die Entwicklung gemeinsamer Ziele in der Sozialpolitik gemacht hat. Es war diese Bundesregierung, die am 5. Februar 1973 im Ministerrat den Durchbruch erzielen konnte, als es darum ging, Initiativen zur Rettung von EURATOM zu entwickeln und dafür ein konkretes mehrjähriges Finanzierungsprogramm vorzulegen. Es war diese Bundesregierung, die in der Vorbereitung der GATT-Verhandlungen eine Reihe von konkreten Vorschlägen im Rat eingebracht hat. Es war diese Bundesregierung, die konkrete Vorschläge zur Ausgestaltung einer aktiveren Mittelmeerpolitik im Rat eingebracht hat.Es war ferner diese Bundesregierung — das sollte man ihr ganz hoch anrechnen , die bezüglich der Legislativbefugnisse für das Europäische Parlament über die Kommissionsvorschläge hinausgegangen ist. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, wie war es denn im Rat, als Herr Staatssekretär Apel sagte: Diese Bundesregierung wünscht, daß im Bereich der Verstärkung der legislativen Befugnisse vor allem der Art. 235 so angewandt wird, daß die Zustimmungspflichtigkeit durch das Europäische Parlament erklärt werden muß? — Da waren es zwei Länder im Rat, die dem entschieden widersprochen haben.Diese Bundesregierung war es, die im September konkrete Vorschläge im Ministerrat eingereicht hat zur Errichtung eines Europäischen Finanzhofes, eines Rechnungshofes mit Kontrollrechten bis hinein in die Mitgliedsländer. Es war diese Bundesregierung, die in der Ratssitzung im November 1973 konkrete Vorschläge für die Verbesserung und Transparenz des Finanzgebarens der Europäischen Gemeinschaft vorgelegt hat.So könnte man eine Reihe von Beispielen dafür aufzeigen, daß es an der Entwicklung konkreter Vorschläge im Rat nicht gefehlt hat. Aber im Rat — hier bin ich bereit, eine Formulierung des Kollegen Barzel aus einem anderen Zusammenhang aufzunehmenmußte immer die Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner im Wege der Einstimmigkeit gefunden werden.Herr Kollege Barzel, Sie haben gesagt, da sei doch die Uhr angehalten worden, wie lange man denn die Uhr in Brüssel noch anhalten wolle; das müsse doch abgelaufen sein. — Wollen Sie eigentlich allen Ernstes, daß die Uhr nicht mehr angehalten bleibt, indem man Teilbereiche nur angeht — vor allem jene Teilbereiche, in denen die Bundesrepublik erneut gewaltige Finanzbeiträge leisten müßte —, ohne daß andere entscheidende Fragen wie die der Wirtschafts- und Währungsunion, des Eintritts in die zweite Stufe gleichzeitig im Ministerrat erledigt werden? Oder wollen Sie, daß wir hier nicht damit verbinden, daß es dieses „à la carte" eben nicht mehr geben kann, daß sich jeder seinen Teil herauspickt, sondern daß es nur eine umfassende Regelung geben kann, daß nichts lösbar ist, was nicht gleichzeitig sicherstellt, daß das Europäische Parlament stärker in die Mitverantwortung hineingezogen wird?Denn die Situation, die sich im Rat stellt, ist doch diese: daß der Rat immer mehr zu einem Beschlußorgan wird vorbei an nationalen Parlamenten und vorbei am Europäischen Parlament. Aus diesem Grunde haben die Koalitionsparteien hier ihren Antrag eingebracht, der mehr und konkreter etwas aussagt als der Gesetzentwurf der CDU/CSU, dieses Scheinetikett vorzuführen, über Direktwahlen in einem einzigen Land gebe es mehr Europa und mehr Demokratie in Europa.Es ist doch sehr pikant, daß Sie, Herr Kollege Amrehn, diesen Gesetzentwurf der Oppositionsfraktion begründet haben und kein Mitglied aus Ihren Reihen aus der christdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament. Wir im Europäischen Parlament können uns vorstellen, warum keiner dieser Kollegen so sehr darauf erpicht war, hier einen solchen Gesetzentwurf zu begründen: einfach deshalb, weil er von der Sache mehr versteht,
weil diese Kollegen wissen, daß das Europäische Parlament in diesen Wochen einen neuen konzertierten Anlauf aller Fraktionen — übereinstimmend unternimmt, um einen neuen Vorschlag für Direktwahlen in allen Ländern in Europa vorzulegen und dem Ministerrat eine Entscheidung abzunötigen. Das ist doch eine Etikettierung, die man nicht zulas-
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Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6141
Fellermaiersen sollte. Man gaukelt dem Volk vor, es könne ein Europäisches Parlament wählen. Fünf Namen stehen auf jeder Landesliste, und jeder der Gewählten kann, wenn er gewählt ist, den Rücktritt vom europäischen Mandat durch eine einfache Erklärung vollziehen. Bedenken Sie ferner, daß mit einer Wahl in einem einzigen Land die Frage von mehr Rechten für das Europäische Parlament in gar keiner Weise geklärt ist. Deshalb sind wir dafür, nicht im Stile des Fernzieles irgendetwas anzusteuern, sondern im Sinne des Nahzieles sicherzustellen, daß dem Europäischen Parment mehr demokratische Rechte eingeräumt werden. Ob Sie auch dafür sind, meine Damen und Herren von der Opposition, können Sie beweisen, wenn Sie unserem Entschließungsantrag von der SPD und der FDP zustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Narjes.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte mich zu dem politischen Kern des europäischen Europa, zu den Europäischen Gemeinschaften äußern, nicht in dem Sinne, mich im technokratischen Detail zu verlieren. Deshalb beschränke ich mich hinsichtlich der Rede von Herrn Bundesminister Ertl darauf, zu sagen, daß es schon ein Zeichen tiefer Krise in sich selbst ist, wenn er die Tatsache, daß er die jährliche Preisfestsetzung ohne ein Zerbrechen des Agrarmarktes geschafft hat, als einen europäischen Erfolg buchen muß. Auf der anderen Seite möchte ich mich aber auch nicht in die Diskussionen hineinbegeben, die den ganzen Morgen über die existentiellen Bedingungen der Einheit Europas überhaupt. gepflogen worden sind, sondern mich um die Strategie bemühen, die jenseits des Dickichts des technokratischen Details unverzichtbar ist, wenn das Werk gelingen soll.Einmütigkeit schien zu herrschen über die Feststellung, daß wir uns in einer existentiellen Krise der Gemeinschaft befinden. Die einzige Ausnahme war Herr Apel. Ich glaube, Herr Kollege Apel, Sie haben selbst nicht geglaubt, daß das Jahr 1973 in einem guten Zustand beendet worden ist. Denn Sie haben zur Wirtschafts- und Währungsunion immerhin festgestellt, daß sie sich in einem desolaten Zustand befunden hat. Wenn sie in einem desolaten Zustand war, kann der Rest nie so gut gewesen sein — ich erinnere an cien „Energierest" — daß man da noch das Prädikat „Gut" dem Jahre 1973 verleihen könnte. Ich glaube, damit ist dieser Teil ausgeräumt.Ich freue mich, daß der Ratspräsident die Erklärung des Kommissionspräsidenten vorn 31. Januar wieder aufgegriffen hat. Es ist aber nicht eine Erklärung des Kommissionspräsidenten gewesen, sondern die ganze Kommission hat in einem feierlichen Appell an die Staats- und Regierungschefs und über sie an die europäischen Völker einen Notschrei formuliert wie nie zuvor in der europäischen Geschichte. Ich kenne keinen vergleichbaren Vorgang, daß sich die dazu Berufenen in dieser dramatischen Form an die Völker Europas gewandt haben. DieRegierung hätte diesen Ruf ernster nehmen sollen, als das geschehen ist.Wenn ich die Presse und die Informationen richtig verfolgt habe, hat im Ministerrat am 4. und 5. Februar darüber eine Debatte stattgefunden, an deren Ende allein die Benelux-Außenminister als Verteidiger der Kommission aufgetreten sind und hinterher zu ihrer Betrübnis feststellen mußten, daß diese Initiative ein Begräbnis erster Klasse — so der belgische Außenminister — oder dritter Klasse — so der luxemburgische Außenminister — erfahren hat. Ich frage die Bundesregierung, warum sie dieser Initiative der Kommission keine weitere Folge gegeben hat als am 4. oder 5. Februar.Was soll eine Kommission mehr tun, als sich in einem feierlichen Appell an die Völker Europas wenden, wenn sie Gefahr für das ganze Werk der Einigung sieht? Dies als „überdramatisiert" abzuwerten und dann in den üblichen Geschäftsgang zu geben scheint mir ein Stil zu sein, der vielleicht dem Regensburger Reichstag noch ein paar Jahrzehnte weiteres Leben vermittelt hat, sicherlich aber der Not Europas nicht angemessen ist.Die meisten Regierungen wissen aber von der gegenwärtigen Krise. Sie wagen es nur nicht auszusprechen, sonst müßten sie auch sagen, welche Konsequenzen sie aus der Lage ziehen. Denn in ihrer Praxis sind sie sehr wohl darauf konzentriert, das nackte Überleben der Gemeinschaft zu sichern, ihrem weiteren Verfall Einhalt zu gebieten und auch die britischen Neuverhandlungswünsche zu kanalisieren. Doch in welcher Perspektive geschieht dies alles? Was soll geschehen, wenn diese Feuerwehraufgaben erledigt sind? Ich habe aus der Debatte keine schlüssige Antwort entnehmen können.Herr Apel hat sich gegen Aktionismus gewendet, ohne zu sagen, welche Instanz über die Güte oder die mindere Qualität einer Aktion entscheidet. Sein Minister hat viel mehr Dynamik und Vision für die Zukunft gefordert, und der Bundeskanzler war hinterher wieder bei der „Mühsal des Tages". Was soll nun eigentlich die Antwort, die Perspektive sein? Wir sind jetzt so wenig informiert über die Absichten der Bundesregierung wie am Beginn dieser Debatte.Im übrigen steht dieser ungeschminkte, nüchterne Appell der Kommission in einem deutlichen Kontrast zu dem jahrelang verkündeten amtlichen Optimismus der Regierungen, zu der vordergründigen Konferenzgeschäftigkeit und dem hektischen Pläneschmieden. Die Differenz zwischen bombastischem Kommuniqué und nationaler Wirklichkeit ist so groß, so gefährlich in Europa geworden, Herr Kollege Apel, daß Sie gar nicht mehr bemerkt haben, daß Sie, wenn Sie die Differenz zwischen Wort und Tat in Europa beklagen, eine Selbstanklage formuliert haben.Die Glaubwürdigkeit des Integrationszieles ist immer geringer geworden, erklärte kürzlich Vizepräsident Haferkamp in Bonn. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Ich meine nur: Wir alle haben hier die dringende Pflicht, die wichtigsten Gründe des
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Dr. Narjeseuropäischen Siechtums offenzulegen und eine Bilanz der letzten Jahre zu versuchen.Diese Bilanz dürfte allerdings nicht, wie Herr Bundesminister Scheel es versucht hat., bei dem Pariser Gipfel im Jahre 1972 beginnen, sie sollte beginnen im Jahre 1969 — nicht weil die Regierung in Deutschland gewechselt hat, sondern wegen des Ausscheidens des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle. Ein großer Mann, gewiß, aber er verkörperte in seiner Person auch den historischen Versuch einer Restauration des Nationalismus. Während der letzten Jahre seiner Amtszeit hatte sich unter den Regierungen der Länder der Europäischen Gemeinschaften die provisorische Praxis herausgebildet, das so hoffnungsvoll begonnene Werk der Einigung soweit wie möglich gegen seine doch teilweise zerstörerischen Einwirkungen abzusichern, es sogar nach Möglichkeit in einzelnen Bereichen weiterzuführen. Das alles galt verstärkt nach dem Boykott der Gemeinschaftsorgane durch die sogenannte Politik des leeren Stuhls im Sommer 1965.Die Politik der Partner Frankreichs wurde dabei getragen von der Hoffnung auf eine allseitige Rückkehr zu einer konsequenten Erfüllung der Römischen Verträge nach seinem Abgang. Dabei hat es namentlich keinen Zweifel darüber gegeben, daß die gaullistische „Rosinentheorie", also sein Bemühen, allein die für Frankreich vorteilhaften Bereiche des Vertragswerks zu erfüllen, andere Gebiete und Verpflichtungen aber bis zur Unkenntlichkeit zu zerreden oder zu ersticken, weder vom Sachzusammenhang noch von der Interessenlage der Beteiligten her Bestand haben konnte.Herausragendes Ereignis dieser provisorischen Praxis war das vorhin schon zitierte agreement to disagree, die Luxemburger Abkommen vom Januar 1966, in denen alle Beteiligten ihre Rechtspositionen gewahrt und die Einschränkung des Mehrheitsstimmrechts — wenn Sie so wollen — in gegenseitiger Klarheit registriert haben.Vor diesem Hintergrund müssen wir bei der Bilanz die Frage stellen, ob die Politik der europäischen Regierungen nach dem Abgang de Gaulles, die mit der Gipfelkonferenz im Haag eingeleitet wird, den roten Faden der Vertragserfüllung konsequent dort wieder aufgenommen hat, wo er unter dem Druck de Gaulles fallengelassen werden mußte. Es geht mir dabei weniger darum, den Mitgliedsregierungen für Mißerfolge und Schwächen kollektiv den Prozeß zu machen, es geht in erster Linie darum, Fehlerquellen aufzuspüren und die Gründe der Mißerfolge zu erkennen, damit sie in Zukunft vermieden werden können.Es ist aber auch unsere Pflicht, die Mitverantwortung der Bundesregierung für diese unheilvolle Entwicklung deutlich zu machen. Das ist um so notwendiger, als das Europäische Parlament zu einer wirksamen demokratischen Kontrolle leider noch immer nicht imstande ist und, wenn ich die Redner der Koalitionsparteien richtig verstanden habe, auch in absehbarer Zeit nicht dazu in der Lage sein soll. Schließlich ist kein Beschluß der europäischen Regierungen in den letzten Jahren ohne dieZustimmung der Bundesregierung zustande gekommen. Sie unterliegt deshalb einer Mithaftung für den politischen Mißerfolg in Europa. Das muß um so deutlicher herausgestellt werden, weil wir in diesem Hohen Hause immer nur nachvollziehen können, vor vollendete Tatsachen gestellt werden; das ist der Natur des europäischen Entscheidungsprozesses unvermeidbar so mitgegeben.Dazu komme man mir nicht mit dem Einwand, wir verlangten, Europa am deutschen Wesen genesen zu lassen, wie das heute schon gesagt wurde, und wir setzten irreale Maßstäbe. Wir, die CDU/CSU, kennen das von uns geschaffene Einigungswerk viel zu genau, um nicht gleichermaßen die Grenzen des Verhandlungsspielraums wie aber auch die Aktionsmöglichkeiten jeder einzelnen Regierung zu erkennen.Das Ergebnis der Bilanzskizze kann nur die durch und durch unbefriedigende Feststellung sein, daß es seit 1969 keine konsequente Politik der Vertragserfüllung gegeben hat und keine auf bestimmte Ziele und Geschehensabläufe ausgerichtete übergreifende Strategie der europäischen Einigung. Der rote Faden wurde nicht wieder aufgenommen. Orientierungsloser Pragmatismus, verpackt im Weihrauch selbstgerechter Kommuniqués, beherrschte die jeweilige Szene. Wird dieses Verfahren fortgesetzt, werden wir es von Gipfel zu Gipfel weiter bergab schaffen. Herr Haverkamp befürchtet bereits die Rückbildung der Europäischen Gemeinschaft in eine Freihandelszone.Wenn sich die Regierungen also nicht zu einer grundlegenden Veränderung ihres Verhaltens und zu einer echten Revision ihrer politischen Prioritäten entschließen, wie es die Europäische Kommission gefordert hat, wenn die Regierungen die Aktionsfähigkeit der Gemeinschaft nicht wiederherstellen, dann kann die Demontage des Gemeinsamen Marktes — und das ist wiederum ein Zitat aus Brüssel — schneller eintreten, als mancher der selbstgefälligen Akteure das heute noch wahrhaben möchte. Aus fünf Teilbereichen mögen dies einige Beispiele erläutern.Der unvollständige Binnenmarkt und die Zollunion sind das unverzichtbare Element der wirtschaftlichen Einigung. Sie sind heute gefährdet. Die Verwirklichung beider war in den Römischen Verträgen an feste Terminkalender geknüpft. Mit der Annahme des trügerischen Dreiklangs vom Vollenden, Erweitern und Vertiefen auf dem Gipfel 1969 haben die Mitgliedsstaaten indessen den Terminzwang, den Termindruck, den Erfüllungszwang, den der EWG-Vertrag enthielt, ohne Not aufgegeben. Und genau mit dem Wegfall der Sanktionen gegen Nichterfüllung des Vertrags verlangsamte sich die Herstellung des Binnenmarktes, so daß wir heute noch nicht einmal so weit sind, wie wir vertragsgemäß 1969 hätten sein müssen. Wenn es so weitergeht, werden wir auch 1980 dieses Ziel noch nicht erreicht haben.
In dein Maß nun, in dem die Verwirklichung desBinnenmarktes sich auf einen Bummelgang verlang-
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Dr. NarjesSamte, verminderte sich natürlich automatisch dei Sachzwang auf die gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik; denn gerade in der fortlaufenden Vereinbarung und Entwicklung solcher Sachzwänge lag der Kern der Hoffnungen, die trotzdem oft vereinfacht als Automatismus des Integrationsprozesses dargestellt worden sind. Es ging immer nur darum, die materielle Entwicklung jeweils bis zu einem Punkt voranzutreiben, an dem die jeweils nächste Entscheidung auf einer höheren Integrationsstufe unabweisbar werden sollte.Wenn sich diese Hoffnungen nicht erfüllt haben, so einmal deshalb, weil im schnellen Wechsel der Regierungen diese Erkenntnis an Beachtung verlor, aber auch weil die für diesen Entwicklungsprozeß vorausgesetzte konstruktive europäische Gesinnung abhanden gekommen ist, sei es, weil es einigen Regierungen wichtiger war, etwa die Ostpolitik zu erfüllen, sei es, weil sie überhaupt zu schwach waren, die europäischen Verpflichtungen in ihren Mitgliedstaaten durchzusetzen. Jedenfalls haben die Staats- und Regierungschefs in Den Haag die zentrale Bedeutung der Vollendung des Binnenmarktes verkannt und so einen unverzichtbaren Motor der Integration unnötigerweise abgeschaltet. Erst die Öffnung der Archive wird uns den vollen Zusammenhang der Motive und der Verhandlungen erkennen lassen. Aber es ist bisher nicht bekanntgeworden, daß damals von der deutschen Seite irgend etwas unternommen worden ist, um die Entwicklung des Binnenmarktes zügig voranzutreiben. Woher soll ohne diesen Binnenmarkt der politische Druck kommen, der Sachzwang, die Wirtschafts- und Währungspolitik zu erfüllen, und welches Vertrauen sollen wir in die europäische Wirtschafts- und Währungspolitik und ihr Zustandekommen haben, wenn nicht einmal der leichtere Binnenmarkt geschaffen werden kann?Wie wenig sich die Regierungen der Bedeutung des Binnenmarktes bewußt gewesen sind, verrät auch der schon häufig gerügte Öl-Beschluß vom 6. November 1973. Die arabischen Produzenten konnten es wagen, ihre Einteilung der Verbraucherländer in Feinde, Freunde und Neutrale nicht etwa auf die ganze Gemeinschaft, sondern auf ihre einzelnen Mitglieder anzuwenden und so in letzter Konsequenz von ihrem Konferenztisch in Kuwait her die Wiedereinführung von Binnengrenzen für 01 und Ölprodukte in ganz Europa zu erzwingen. Genau dies sind die Grenzen, auf deren Abbau wir in den sechziger Jahren besonders stolz gewesen sind. Hier war nun ein Ministerrat versammelt, der diese existentielle Gefährdung des Binnenmarktes nicht einmal mit einem Wort des Protestes in seinem Kommuniqué registriert hat. Wie will dieser Ministerrat, wie will diese Gemeinschaft erwarten, daß ihre Einheit von außen respektiert wird, wenn sie nicht einmal intern bereit ist, sie im Falle der existentiellen Gefährdung zu verteidigen?
Ein anderer Bereich, in dem sich die Entwicklung bei weitem nicht so konform zu den Vertragsabmachungen entwickelt hat und die Strategie nicht so einheitlich ist, ist der der Wirtschafts- und Währungsunion. Ich möchte dies nicht im einzelnen darlegen; manches ist schon dazu gesagt worden. Aber der Begriff „Wirtschafts- und Währungsunion" ist in den Römischen Verträgen nicht vorhanden. Er ist erst im Haag dadurch eingeführt worden, daß man eine besondere Union als Instrument für die Erfüllung der gemeinschaftlichen Wirtschafts- und währungspolitik konstruiert hat. Indem man die Ausarbeitung der Konzeption dieser Wirtschafts- und Währungseinheit einem besonderen Ausschuß, dem Werner-Ausschuß übertrug, nahm man diese Aufgabe, die verfassungsmäßig der Kommission zustand, ihr, dem verfassungsmäßig zuständigen Organ, weg. Indem man sie zum Gegenstand einer eigenen Union machte, verließen die Mitgliedstaaten den Boden der Verträge und liefen dabei überdies Gefahr, ein vielleicht unüberwindliches Hindernis für die Verwirklichung ihres eigenen Zieles sogleich mit zu beschließen; denn eine Wirtschaftsunion ohne starke Organe — die nicht nur demokratisch legitimiert und kontrolliert sein müssen, sondern über dies auch einen Kompetenzbereich ausfüllen müssen, der sie in den Stand setzt, eine europäische Globalsteuerung zu vollziehen -- kann nicht zu einer gemeinschaftlichen Wirtschafts- und Währungspolitik führen.
Genau die Schaffung solcher Organe hat man sich dadurch erschwert, wenn nicht gar verhindert, daß man die Wirtschafts- und Währungspolitik einer Union — nach den Intentionen der Urheber einer lockeren Verbindung — übertragen hat, statt sie im Gemeinschaftsbereich zu belassen. Die Frage ist geboten — sie ist nicht das erste Mal von mir hier gestellt —, ob die Arbeit des Werner-Ausschusses damals überhaupt von allen Beteiligten ernst genommen worden ist oder ob es sich nur um eine Prozedur, eine Art Schattenboxen gehandelt hat, mit der einige Regierungen Festlegungen vermeiden und Zeit zu gewinnen trachteten.Ebenso zusammenhanglos und unverständlich sind die verschiedenen Versuche zur Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik im Vorbereitungsstadium ihres Überganges auf die Gemeinschaftsinstitutionen. Ich möchte dies im einzelnen hier nicht nachvollziehen, sondern nur auf die nüchterne Darstellung der Unzulänglichkeit dieser Koordinierungsmaßnahmen und ihre völlige Wirkungslosigkeit verweisen, die im Jahresgutachten 1972 von den Fünf Weisen, den fünf Sachverständigen, in den Ziffern 12 bis 16 zusammengetragen worden ist.Hinter dieser ganzen technischen Geschäftigkeit, denen der geschlossene und ernsthafte politische Gestaltungswille der Regierungen fehlte — das muß deutlich herausgestellt werden —, ist kostbare Zeit verloren und unendlich viel Vertrauen in die europäische Einigung leichtfertig verschlissen worden. Die Vermutung liegt nahe, daß sich die deutsche Seite mit zahlreichen Verfahrensbeschlüssen, sowohl im Sechser-Rahmen wie im deutsch-französischen Rahmen, hat abspeisen lassen, um dafür von einigen oder einem Partner Wohlverhalten in bezug
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Dr. Narjesauf das erkaufen zu können, was sie ihre Ostpoltik genannt hat.Die großen Mängel der Entscheidungsstrukturen der Gemeinschaft waren ihr damals genauso bekannt wie heute und so bekannt wie der Umstand, daß es ohne funktionsfähige Organe keine effiziente Wirtschaftspolitik geben kann. Um so leichtfertiger war es unter diesen Umständen, daß sich der Pariser Gipfel im Oktober 1972 auf einen Zeitplan für die Wirtschafts- und Währungsunion einigte, an dessen Einhaltung schon in der ersten Stufe kein ernsthafter Teilnehmer glauben konnte. Offenkundig hat die Absicht der Regierungschefs, sich gegenseitig Wahlhilfe zu leisten, jedes Bemühen um europäische Seriosität überspielt. Es ist genau derselbe Zeitpunkt gewesen, in dem das von mir zitierte Jahresgutachten abgefaßt worden ist — ein Jahresgutachten, das eben gerade nachwies, daß bis dato nichts Konkretes geschehen war.Ein dritter Bereich ist die gemeinsame Außenwirtschaftspolitik. Der Vertrag sieht vor, daß diese an sich bereits mit dem Ende der Übergangszeit bei den Gemeinschaftsinstanzen liegen sollte. Es wird der 1. Januar 1975 werden, bis dies vollzogen ist. Aber in der Zwischenzeit ist das, was gemeinschaftliche Außenwirtschaftspolitik sein sollte, verwässert, herabgesetzt, reduziert auf die gemeinschaftliche Vertretung des Außenzolltarifs und der Agrarkontingente. Alle anderen Zuständigkeiten der Gemeinschaft sind durch die ominösen Kooperationsverträge, durch ein nicht mehr überschaubares Netz des Bilateralismus den Brüsseler Instanzen entzogen worden — wider den Vertrag und wider die handelspolitischen und gemeinschaftspolitischen Interessen aller Partner.Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind absurd. Wir haben nämlich heute die Situation, daß jeder einzelne Mitgliedstaat der Gemeinschaft im Verhältnis zu Staatshandelsländern und neuerdings auch den arabischen Ölproduzenten sofort verhandlungsfähig und verhandlungsbereit ist, während wir diejenigen Welthandelspartner, die dein liberalen Welthandelsystem angehören und deshalb nicht für bilaterale Kooperationsverträge aufgeschlossen sind — und das sind insbesondere die Vereinigten Staaten —, auf den schwerfälligen, fast beleidigenden Mechanismus der Brüsseler Institutionen verweisen müssen. Es ist bewundernswert, mit wie viel Nachsicht sich die Vereinigten Staaten diese Diskriminierung gegenüber den Staathandelsländern des Ostens bisher haben gefallen lassen.Es vergeht im übrigen fast keine Woche, in der uns nicht Meldungen erreichen, die auf Krisen oder gar Verfallserscheinungen im Welthandelssystem hinweisen. Was gedenkt nun die Europäische Gemeinschaft, was gedenkt die deutsche Präsidentschaft zu veranlassen, damit die sich abzeichnenden möglichen Schäden von Europa abgewendet werden können? Ist es Provinzialismus, ist es ein Mangel an Konzeptionskraft, oder warum sonst ist die deutsche Stimme in diesem gerade für unsere Interessen so vitalen Bereich so wenig hörbar?Ein vierter Abschnitt, in dem die Konsequenz der Entwicklung fehlte, ist der der Verfassung der Gemeinschaft, ihrer Institutionen. Die Vorschriften der Gemeinschaft sind so elastisch formuliert, daß sie sich bei gutem Willen aller Beteiligten jeder denkbaren Entwicklung hätten anpassen können, ohne neue Ratifikationsprozesse auszulösen. Gerade diese allgemein gehaltenen Kompetenzen und die elastischen Revisionsmöglichkeiten unterscheiden die Römischen Verträge von Allianzen und Zweckbündnissen alter Art. Dieser institutionelle Aufbau ist der eigentliche, politisch bedeutsame und, wenn Sie wollen, großartige Kern der Verdienste, die sich die Männer der 50er Jahre um den Aufbau dieser Gemeinschaft erworben haben: Jean Monnet, Walter Hallstein, Paul-Henri Spaak, aber auch Friedrich Wilhelm Ophüls. Kein Wunder, daß sich hiergegen in erster Linie der Stoß des Gaullismus seit 1958 richtete. Um so überraschender ist es aber, daß seit 1969 keine nennenswerten Schritte zur Rückkehr zum verfassungsmäßigen Zustand erreicht worden sind.Was wird in dieser Richtung geschehen? Der Bundesaußenminister hat uns heute die Möglichkeit einer gleitenden Rückkehr in das Mehrheitsstimmrecht als Möglichkeit aufgezeichnet.
Ein anderer Redner hat von der Mehrheitsabstimmung im Regelfall gesprochen. Beide Formulierungen sind nicht ungefährlich, weil sie das Prinzip enthalten, daß andere vitale Interessen durch Einstimmigkeit geschützt werden können als solche, für die der Vertrag es vorgesehen hat. Denn der Vertrag enthält eine abschließende Liste der Punkte, in denen Einstimmigkeit gefordert werden kann. Jede darüber hinausgehende Vereinbarung ist Vertragsänderung, ist Verfassungsänderung. Ich warne davor, auch nur zu Übergangszwecken Formulierungen zu finden, die dadurch, daß man Zwischenformeln akzeptiert, das Prinzip festschreiben, daß hier im subjektiven Belieben einiger Partner stehende Interessen endgültig den Vorrang vor den vertraglich anerkannten Interessen und vor der Gemeinschaftsverfassung erhalten sollen.Was zu den Arbeitsmethoden des Ministerrates 1,u sagen ist, hat Herr Kollege Barzel dargestellt an Hand der wirklich peinlichen Vorschläge, die verabschiedet worden sind. Ich glaube, es fehlt nur noch die Regelung der Frühstückspause; alles andere ist im Detail vorgezeichnet worden. Diese kleinkarierte Regelung aber als Erfüllung der europäischen Verfassungsnotstände auch nur darzustellen zu versuchen, das ist der eigentliche Hohn, das ist die eigentliche — wenn Sie so wollen — Beschwernis, die wir haben, und eine der Ursachen dafür, daß niemand mehr so recht Vertrauen in die Entwicklung Europas hat.Im Vergleich zu den Leiden des Ministerrates sind die der Kommission anderer Art. Ihre Aktionsmöglichkeiten sind heute immer noch nicht die, die sie nach dem Geiste des Vertrages haben sollte und haben müßte. Sie ist immer noch in ihren Initiativen so vielen faktischen Beeinträchtigungen ausgesetzt,
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Dr. Narjesdaß auch insoweit die Frage an die Regierung notwendig ist, was sie tun will, um der Kommission, dem eigentlichen Motor der Vertragsentwicklung, dem Wächter der Einhaltung der Verträge, wieder den Spielraum zu geben, den sie haben muß, wenn das Werk gelingen soll.Im übrigen wäre es ein Mißverständnis, anzunehmen, daß sie kein politisches Interesse daran habe, daß es ein Europäisches Parlament gibt. Im Gegenteil: nur im Dialog mit und in der Verantwortung vor dem Europäischen Parlament kann auch die Kommission zu dem politischen Gewicht kommen, das sie haben muß, wenn das Gleichgewicht der Verfassungsorgane in der Gemeinschaft gewahrt werden soll. Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um diese Entwicklung zu fördern?Im übrigen ist es nicht die Schuld der Bürokratien, wenn sich der Ministerrat mit Rollmöpsen, Tomatensaft, Blumenzwiebeln und ähnlichem befaßt oder mit den San-José-Schildläusen, wenn ich es richtig verstanden habe. Es ist der Ministerrat, der diese lächerlichen Entscheidungen an sich gezogen und dementsprechend sich selbst damit blockiert hat. Das sollten wir doch niemals vergessen. Vielleicht ist es aber auch eine Folge der schlechten Ministerpräsenz im Ministerrat, daß die an ihrer Stelle tagenden Beamten nichts weiter wissen, als solche Fachfragen an sich heranzuziehen, damit sie nur über Dinge entscheiden, für die sie politisch nicht haftbar gemacht werden können.Zum Europäischen Parlament ist vieles gesagt worden. Ich möchte mich auf drei Feststellungen beschränken.Zunächst haben wir doch zu konstatieren, daß alle Formen intergouvernementaler Zusammenarbeit in cien letzten Jahren so viel an Kredit, so viel an Vertrauen verloren haben, in ihrer Wirksamkeit so zerschlissen sind, daß wir das Wagnis unternehmen müssen, uns direkt an die konstituierende Kraft des Wählers in Europa zu wenden. Wenn alle Regierungen das tun oder es etwas Gemeinschaftliches gibt, sind wir die letzten, die auf einer nationalen deutschen Lösung beharren, Herr Kollege Fellermaier, aber ich sehe diese anderen Regierungen noch nicht. Wir sind seit 1960, d. h. seit 14 Jahren vergeblich dabei, dieses zu erreichen. Uns geht es darum, überhaupt einmal einen ersten Schritt zu tun.Zweitens muß ich mit großem Bedauern feststellen, daß Sie heute allesamt nicht bereit waren, aus welchen Gründen der Koalitionsdisziplin auch immer, dem Demokratiedefizit in Europa abzuhelfen, sondern es auch noch als normal, als verteidigenswert, hingestellt haben.
Die Institutionen der Gemeinschaft wären in ihrem politischen Gewicht nicht vollständig abgehandelt, wenn nicht auch ein Wort zu den nicht in dem Vertrag geregelten Institutionen gesagt würde, ich meine zur Konferenz der Staats- und Regierungschefs. Sie sind dabei, diese Konferenz als eine Art Institution herauszubilden.Was soll das nun eigentlich für ein Organ sein? Ein Superministerrat? Es ist den Regierungschefs nicht verwehrt, in den Ministerrat selbst hineinzugehen. Dann müßten sie aber auch alle Verfahrensregeln des Ministerrates akzeptieren, der Sitz wäre Brüssel, und insbesondere würde dort auch die Mehrheitsabstimmung gelten. Dann gäbe es keine Komplikationen. Tatsächlich finden die Gipfelkonferenzen außerhalb des Gemeinschaftsrahmens statt, befassen sich aber dennoch mit Gegenständen und zwar bis in die Details hinein, die in den Ministerrat gehörten. Damit tragen also auch die Gipfelkonferenzen mit zur Schwächung der Verfassung der Gemeinschaft bei, ohne daß sie andererseits bezüglich dieser gemeinschaftsbezogenen Themen irgendwelche Beschlüsse oder Entscheidungen gebracht hätten, die über das hinausgehen, was man auch am Ratstisch hätte erreichen können. Sie sollten dabei bedenken, daß der mangelnde Respekt, den die Staats- und Regierungschefs gegenüber ihren eigenen Beschlüssen, namentlich denen von Paris und Kopenhagen, bewiesen haben, dieser Institution sehr viel Glaubwürdigkeit genommen hat. Wer kann hoffen oder darauf vertrauen, daß künftige Beschlüsse besser eingehalten werden als solche der Vergangenheit?Zu dem mangelnden Respekt vor der Verfassung gehört schließlich auch — ich muß es der Vollständigkeit halber erwähnen — die Tatsache, daß die letzte Dollarkrise vom Bundesfinanzminister nicht am Ratstisch in Brüssel geregelt wurde, sondern daß er versuchte, in den Salons einiger ausgewählter Kollegen hierüber abschließende Regelungen herbeizuführen, nicht nur zum Verdruß etwa der Italiener, die nicht eingeladen waren, sondern vor allen Dingen auch zum Schaden der Verfassung dieser Gemeinschaft.Ich versage es mir, auf die politischen Aspekte der institutionellen Frage einzugehen, und möchte nur als letzten Bereich den der Beitrittsverhandlungen erwähnen. Sie waren sicherlich der erfreulichste Teil der Beschlüsse vom Haag. Aber die Tatsache, wie sie geführt worden sind, die Beschränkung auf das juristische Folgerecht und seine Harmonisierung, dieses Ausklammern jeder politischen Diskussion über die gemeinschaftliche Zukunft, war der eigentliche Kern dafür, daß wir heute vor einer großen Liste von Rätseln und Unklarheiten über die weitere Entwicklung stehen, Rätseln und Unklarheiten, die die direkte Konsequenz des Umstands sind, daß man während der Beitrittsverhandlungen diese Dinge ausgeklammert, vor sich hergeschoben oder nach Möglichkeit überhaupt zu ignorieren versucht hat.
— Pardon, Herr Kollege Fellermaier, die wußtennicht einmal, in welche „Wohnung" sie einziehen
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Dr. Narjessollten. Die Gemeinschaft war in dem Moment, in dem sie die Beitrittsverhandlungen begann, institutionell und in ihrer materiellen Ausrichtung nicht in Ordnung. In dieser ersten postgaullistischen Ara waren die Beitrittsverhandlungen für diese noch völlig mit sich selbst beschäftigte Gemeinschaft eine besondere Belastung. Man klammerte deshalb alles aus. Es gibt darüber eine schöne Broschüre von Karl Otto Nass, einem der Teilnehmer — ich empfehle sie Ihnen —, der ein ganzes Kapitel dazu geschrieben hat, worüber nicht verhandelt worden ist. Dem können Sie das gesamte Sündenregister von dem entnehmen
— gründlich verhandeln! —, was sich damals angehäuft hat und was Ihnen heute in den englischen Wünschen nach fundamental re-negotiation — was ist das, was heißt das? —, in dem dänischen Wunsch nach neuen Verträgen — wie weit geht das?; sogar das dänische Kommissionsmitglied spricht schon davon -- entgegenschlägt. Wir stehen heute vor weit größeren Schwierigkeiten, als wir sie gehabt hätten, wenn wir die Dinge in den Beitrittsverhandlungen offen angesprochen hätten. Das ist auch damals schon gesagt worden; man hat es nur nicht tun wollen, weil man glaubte, man käme auf andere Weise, durch eine Vogel-Strauß-Politik, schneller über die Probleme hinweg.Noch ein Wort zu den Engländern. Niemand verweigert einem Partner, der irgendwie in Not ist, Solidarität; in den schwierigen Situationen können auch Revisionen nützlich sein. Aber einen permanenten Neuverhandlungsdruck können wir nicht akzeptieren.
Die Fundamente der Gemeinschaft sind nicht an-tastbar; insoweit stimme ich dem voll zu, was der Bundesaußenminister dazu heute morgen gesagt hat.Ich möchte aber im Zusammenhang mit Neuverhandlungen auch schon vor dem gedanklichen Experiment warnen, das uns heute morgen Herr Kollege Apel dargestellt hat, indem er die Variationen und Spielmöglichkeiten anderer intergouvernementaler Lösungen der Beitrittsprobleme geschildert hat. Wenn wir überhaupt damit beginnneu, darüber nachzudenken und öffentlich zu diskutieren, was anstelle der Römischen Verträge — denn das bedeutet das ja — in Europa eingerichtet werden könnte, wenn wir also die Möglichkeit, ohne zeitliches Ende geschlossene Verträge wieder in Frage zu stellen, in die Debatte einführen, wie wollen wir dann noch von der Wirtschaft, von den Bürgern Europas Vertrauen in die Irreversibilität der europäischen Entwicklung erwarten? Lösen wir nicht allein schon durch die Diskussion solcher alternativer Möglichkeiten Entwicklungen aus, die wir dann nicht mehr kontrollieren, nicht mehr beherrschen können? Ich möchte davor warnen, dieses Gedankenexperiment fortzuführen.Wer könnte nach diesen wenigen Hinweisen auf einige Elemente der europäischen Bilanz noch irgendeine übergreifende Strategie, eine widerspruchslose Gesamtkonzeption erkennen? Schlimmer noch, wer vermag nach diesen fünf verpatzten Jahren noch an einen durchgreifenden europäischen Willen zu glauben, einen Willen, ohne den es keinen Weg, wie immer er angelegt sein mag, geben wird, um zu der unverzichtbaren Einheit Europas zu kommen? Nicht einmal die konsequente Vertragserfüllung ist als Richtschnur zu erkennen. Solange die Mehrheitsabstimmung im Ministerrat und vor allem auch im Ausschuß der Ständigen Vertreter nicht wieder hergestellt ist, solange die Regierungen den Europäischen Gemeinschaften die Demokratie verweigern, solange die gemeinschaftliche Wirtschafts-und Währungspolitik sich in geschäftigen Expertensitzungen erschöpft, wird der unverzichtbare qualitative Sprung nach vorn nicht erreicht werden können. Die Regierungen sind Schlangenlinien gefahren, haben in der Problematik herumgestochert, kurzum die europäischen Verpflichtungen nicht erfüllt, die sie 1957 mit der Ratifikation der Römischen Verträge eingegangen sind. Alle diese Entscheidungen sind mit Zustimmung der Bundesregierung erfolgt, und dafür verdient sie herbe Kritik.Bei der Entwicklung für die Zukunft geht es auch darum, der in ihrer Unbestimmtheit schon jetzt dissensbeladenen Worthülse der Europäischen Union möglichst schnell einen konkreten Inhalt zu geben. Ohne Klarheit in den Zielen gibt es keine Klarheit im Weg. Europa muß wissen, woran es mit Frankreich ist und was es von England zu erwarten hat. Das europäische Europa kann nur das Europa der Europäischen Gemeinschaften sein, ein Europa, das die demokratische Einheit aller seiner Bürger verbürgt. Nur die von den Völkern Europas demokratisch legitimierte Gemeinschaft kann sich in eine Partnerschaft der Gleichen mit den Vereinigten Staaten einfügen, nur sie bietet den Freunden in Washington eine hinreichende Basis des Vertrauens gegen solche Fehlentwicklungen der europäischen Politik, die die Fundamente der Atlantischen Allianz und unserer Sicherheit erschüttern müßten.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schachtschabel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser vorgerückten Stunde ist es, wie ich glaube, doch notwendig, zu dem, was Herr Dr. Narjes ausgeführt hat, einige Bemerkungen zu machen. Ich will auch nur auf einige seiner Ausführungen eingehen und dazu Stellung nehmen.Aus den letzten Ausführungen, aber nicht nur den letzten Ausführungen konnte man entnehmen, als ob diese deutsche Bundesregierung daran schuld sei, daß sich so etwas wie ein Schatten oder eine dunkle Wolke über die europäische Integrationsentwicklung und die Integrationsbestrebungen gelegt habe. Meine Damen und Herren, das sollte doch zuerst einmal mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden, weil ja im Verbund der Mitglied-
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Dr. Schachtschabelstaaten doch einige sehr beachtliche Vorgänge festgestellt worden sind. Das ist auch teilweise, aber auch nur teilweise in der heutigen Situation zum Ausdruck gebracht worden. Dabei darf ich mich, um den Ansatz zu dem zu finden, was Herr Dr. Narjes dargelegt hat, auf die Rede des Herrn Staatssekretärs Dr. Apel von heute morgen beziehen, wo er sagte: „Die Grundlage der europäischen Integration bleibt die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion". — Jawohl meine Damen und Herren, genauso ist es, nur auf dieser Basis kommen wir voran.Nun lassen Sie uns einmal überprüfen, was auf diesem Gebiet denn geschehen ist. Hier muß ich daran erinnern — Herrn Dr. Narjes sollte das doch wohl aus dem Studium der Protokolle über die Sitzungen des Wirtschaftsausschusses, dessen Vorsitzender er jetzt ist, aus der 6. Legislaturperiode bekannt sein —, daß die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses damals einmütig beschlossen haben, der EWG-Kommission möge empfohlen werden, neben der Währungsunion, die damals anlief, auch für die wirtschafts- und konjunkturpolitische Zusammenarbeit Sorge zu tragen. Ich glaube, daß doch von dieser und auch von unserer Seite, der parlamentarischen Seite, immer wieder sehr deutliche und gezielte Anregungen ausgegangen sind, diese Wirtschafts- und Währungsunion sozusagen in der Aktion zu halten.Meine Damen und Herren, worauf ist es denn zurückzuführen, daß in den letzten Monaten jene Erscheinungen eingetreten sind, die wir alle zu beklagen haben, wofür man aber nicht in einer einseitigen Form diesen oder jenen — zumindest nicht die deutsche Bundesregierung — schuldig sprechen kann? Vielleicht kann man andere dafür schuldig sprechen; darauf kommen wir gleich noch.Die Gefahren, die sich für die europäische Wirtschafts- und Währungsunion ergeben haben, lassen sich relativ leicht markieren. Einmal können wir darauf verweisen, daß der für den 1. Januar 1974 vorgesehene Übergang zu einer dreijährigen Konsolidierungsphase wegen des italienischen Junktims zum Regionalfonds noch nicht vollzogen werden konnte, zum anderen darauf, daß die währungspolitische Zusammenarbeit durch den französischen Alleingang, dieses Ausscheren aus der Schlange, einen weiteren Rückschlag erlitten hat. Auch dürfen wir an dieser Stelle nicht vergessen, daß Großbritannien zur Wirtschafts- und insbesondere zur Währungsunion einen, ich möchte sehr vorsichtig formulieren, vielleicht neuen Bezug überprüft, eine neue Einstellung zu nehmen gedenkt, wodurch natürlich außerordentlich starke Verzögerungseffekte eingetreten sind.Schließlich herrscht — wer würde das mehr beklagen als wir — auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, wie es einmal sehr richtig zum Ausdruck gebracht worden ist, nicht eine Konvergenz, sondern eine Divergenz. Hier ist ganz klar nicht die Chance wahrgenommen worden, die Europäische Gemeinschaft auch zu einer Gemeinschaft der europäischen Stabilität zu entwickeln, sondern wir haben ganz zweifellos eine Reihe von sehr schwerwiegenden,unterschiedlichen inflationären Tendenzen in dieser Gemeinschaft festzustellen, wobei, wie wir morgen sehen werden, die deutsche Situation außerordentlich günstig ist und wir uns einem Vergleich durchaus stellen können.Aber es kommt darauf an — das ist das, was auch heute morgen gesagt worden ist —, die Strukturen erst einmal anzugleichen, auch auf monetärem Gebiet, um damit die Voraussetzungen einer echten Zusammenarbeit zu finden.Ich möchte auf die Situationen oder die Gründe und die Veranlassungen, die dazu geführt haben, hier nicht im einzelnen eingehen. Nur scheint es mir doch ratsam und notwendig zu sein, daß wir mit ein paar Worten auch darauf eingehen, was denn eigentlich vor uns liegt und zu erwarten ist, was wir auf dem Gebiet der europäischen Integration tun können. Dabei habe ich in erster Linie die europäische Wirtschafts- und Währungsunion im Auge.Da, meine Damen und Herren, stelle ich im Gegensatz zu dem, was hier gesagt worden ist, fest, daß bis zur Stunde von keinem Partnerstaat ein Widerruf bezüglich einer vielleicht mehr oder minder sichtbaren, aber auf jeden Fall positiven Einstellung zur Wirtschafts- und Währungsunion zum Ausdruck gekommen ist. Wir wollen auch noch hinzufügen, daß man zumindest bis zur Stunde keine Alternative aus dem Bereich der Partnerstaaten aufgezeigt hat, so daß wir ganz zweifellos auf dem eingeschlagenen Wege weitergehen können. Dieser eingeschlagene Weg soll und muß eben in der Form eines Stufenplans zu einer Wirtschafts- und Währungsunion führen. Dazu möchte ich gleich noch eine Überlegung anstellen, die an dieser Stelle ratsam erscheint.Natürlich geht das manchen nicht schnell genug. Aber überlegen wir einmal — und manchmal ist es auch gut — —
— Herr Kollege, ich würde nicht sagen: rückwärts. Das können wir nicht sagen. Ich glaube, daß in dieser Hinsicht eine Stagnation eingetreten ist. Das gebe ich Ihnen zu. Aber, daß die Möglichkeiten und die Chancen einer weiteren Entwicklung da sind, darüber sollte auch kein Zweifel bestehen.
— Ich will hier kein Prophet in einer Situation sein, für die ich gar nicht zuständig bin. Ich glaube, wir sollten doch sehr nüchtern überlegen, daß sich sicher nach dem, was da so als allgemeiner Schock im Herbst vergangenen Jahres aufgekommen ist, alles wieder ein bißchen beruhigt hat und auch die Länder, die darauf besonders reagiert haben, wie z. B. Frankreich, sich beruhigen und dort sogar gewisse Neueinstellungen sichtbar werden. Ich meine, daß sich die französische Einstellung ab Mitte dieses Jahres auch im Sinne einer weiteren Entwicklung des europäischen Gedankens sehr deutlich an-
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Dr. Schachtschabelders ausrichten wird, auch im Hinblick auf die Zielsetzungen, von denen ich gesprochen habe. Sie wissen, daß da einige politische bzw. organisatorische Entscheidungen anstehen.Aber was wäre denn eigentlich, wenn wir, wie hier aus einer Zwischenbemerkung deutlich geworden ist, in einem Pessimismus machen wollten? Das steht uns eigentlich gar nicht an, in der Vergangenheit nicht und auch in der jetzigen Situation nicht. Vielmehr glaube ich, daß ganz reelle Situationen, ganz reelle Voraussetzungen und Bedingungen gegeben sind, auch diese Wirtschafts- und Währungsunion sehr wirksam weiterzuentwickeln. Dazu sind allerdings einige Voraussetzungen notwendig. Lassen Sie mich versuchen, diese Voraussetzungen wenigstens in einigen Ausrichtungen zu verdeutlichen:Erstens. Man sollte versuchen — und hier befinden wir uns durchaus in Übereinstimmung mit denjenigen, die darüber am ehesten zu befinden haben —, daß ein Übergreifen von Desintegrationstendenzen auf andere Gemeinschaftsbereiche auf jeden Fall verhindert werden sollte. Das ist das eine.Zweitens. Die Arbeiten am Stufenplan sollten in den Teilbereichen fortgesetzt werden. Dafür liegt eine reelle Chance vor; denn vergessen wir nicht, daß sich unser Währungssystem in einem dynamischen Prozeß befindet und dieser dynamische Prozeß auch ganz neue und andere Bedingungen und Voraussetzungen verlangt.Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang ergänzend und auch abschließend zu diesem Punkt noch sagen: Selbstverständlich können und dürfen wir auch die Entwicklung zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nicht ohne den Zusammenhang zur allgemeinen internationalen Lage sehen. Ich meine, daß da Symptome aufgetreten sind, die uns zumindest die Hoffnung geben, daß das, was hier vorhin — und auch sonstwo — gesagt worden ist, nicht in dieser äußersten Konsequenz eintreten wird, nämlich daß es zu einer Stagnation oder gar zu einem Rücklauf in diesem Entwicklungsprozeß kommt, sondern daß es wieder eine sehr starke und sichtbare Belebung geben wird.Ich weiß nicht, wie Herr Dr. Narjes vorhin seine Ausführungen verstanden haben wollte, als er sich gegen unsere in unseren demokratischen Gremien und im Europäischen Parlament vertretenen Auffassungen wandte. Ich glaube, es gibt gar keinen Zweifel darüber — das habe ich auch erleben müssen, soweit ich im Europäischen Parlament tätig sein konnte —, daß dieses Europäische Parlament im Augenblick nicht gerade mit solchen Befugnissen ausgestattet ist, von denen man sagen könnte, daß sie sehr wirksam sind. Das ist schon richtig. Ich glaube, das war ja auch die Klage, die heute morgen allgemein geführt worden ist.Aber vergessen Sie bei all dem nicht, daß hier in dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP zur Stärkung des Europäischen Parlaments ganz gewiß ein entscheidender — ich möchte sagen: zukunftweisender — Akzent gesetzt wird, der gegenüber dem Antrag der CDU/CSU weit stärker die europäische Überlegung und den demokratischen Gedanken nach vorn trägt.
Ich bin davon überzeugt, daß gerade der Ausbau der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments die entscheidende Grundlage zur Stärkung dieses Europäischen Parlaments sein muß und sein wird. Auch in allen anderen demokratischen Parlamenten ist es so, daß die Haushaltsbefugnis mit ein entscheidendes Stück, ja vielleicht sogar das entscheidende Stück der parlamentarischen Zuständigkeit ist. Das ausgesprochen zu haben, war hier noch ein besonderes Anliegen.Aus dieser Sicht können wir zum Schluß zwei Dinge auf einen Nenner bringen: Auf der Ebene der Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion muß — davon hat Herr Staatssekretär Dr. Apel heute morgen sehr deutlich gesprochen — weitergearbeitet werden. Ich habe berechtigte Hoffnung, daß diese Weiterarbeit vorangeht, daß wir auch zu einigen Erfolgen kommen, selbst dann, wenn neue Schwierigkeiten auftreten sollten. Der zweite Faktor ist, daß die ökonomischen und sozialen Verhältnisse, also die sozial-wirtschaftlichen Verhältnisse, die Voraussetzungen für eine europäische Einigung im Sinne der politischen Zusammenarbeit, der politischen Einigung Europas sein werden. Dieses beides sollte man in einer Entwicklung, in einem Zug, sehen. Sicherlich können in einer solchen Entwicklung einmal Einbrüche oder Verzögerungen eintreten. Man sollte aber in der Verfolgung der Anliegen, die wir und die anderen Partnerstaaten haben, nicht nachlassen, nämlich über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu einer politischen europäischen Integration zu gelangen.
Das Wort 'hat der Herr Abgeordnete Kahn-Ackermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt ja hier im Hause einige Kollegen, die der Delegation des Europarats angehören und das Vergnügen haben, gelegentlich — dreimal im Jahr, zweimal beim Europarat und einmal bei der Westeuropäischen Union — praktisch an Ministerratstagungen teilzunehmen und mit den Ministern einen „Dialog" zu pflegen. Das vollzieht sich meistens so, daß die wichtigsten Themen nicht erörtert werden können, weil immer ein Mitglied des Ministerrats vorher etwas dagegen gehabt hat, daß dieses Thema erörtert wird. Der Außenminister, der heute nachmittag hier gesprochen hat, sagte auf der letzten derartigen Tagung, er habe Verständnis für die Frustration der Parlamentarier in diesem „Dialog" über Europa.Ich glaube, meine Fraktion hat manchmal Verständnis für die Frustration der Opposition in dieser Hinsicht. Ich denke aber doch, daß Sie es sich in dieser Debatte ein bißchen zu leicht gemacht haben, wenn Sie die Mitverantwortung für all das, was nicht klappt, so grosso modo der Bundesregierung
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Kahn-Ackermannmit in die Schuhe geschoben haben. Das hat mir wenig gefallen, weil ich Beiträge von Kollegen aus diesem Hause in europäischen beratenden Versammlungen kenne, die ganz anders klingen
und die viel realistischer und objektiver die Gesamtverantwortung in diesem Zusammenhang dort darstellen. Ein bißchen von dem, was in Straßburg oder in Luxemburg oder in Brüssel bei solchen Gelegenheiten an wirklicher Verantwortung festgehalten wird, hätte meiner Meinung nach auch in dieser Debatte zum Ausdruck kommen sollen.Da ist also auch von Ihrer Seite noch einmal festgehalten worden — das ist sicher richtig; ich habe es mir gut gemerkt —, wie wichtig die deutsch-französische Freundschaft als Basis unserer Unternehmungen in Europa ist, wie wichtig es ist, daß die Fortentwicklung sich nur im Schoße der Atlantischen Gemeinschaft vollzieht.Dann hat Herr Barzel gesagt, in einer entscheidenden Minute hätte eben diese Regierung etwas unternehmen müssen, der Kanzler hätte sich querlegen sollen, um der Entwicklung entgegenzusteuern. Ich kann mich erinnern — es ist schon einige Jahre her, es war unter einer anderen Regierung —, da war der Herr Kollege Carstens Staatssekretär im Auswärtigen Amt, und ich fuhr mit einem Kabinettskollegen von ihm von Paris nach Orly; das war nach einer Konsultation mit der französischen Regierung. Er war unzufrieden und sagte über seinen Kollegen: zu schlapp, usw. Da habe ich ihn gefragt: Ja, wenn Sie finden, daß die Regierung sich zu schlapp verhält, warum ändert ihr das nicht, warum macht ihr das nicht anders? Da hat er gesagt: Der Außenminister und der Bundeskanzler — der damalige Außenminister und der damalige Bundeskanzler — hielten das nicht für zweckmäßig; es habe keinen Sinn, in solchen Situationen den starken Maxe zu markieren.Nun, meine Damen und Herren, auch ich habe heute Ihr neuerliches Angebot zu einer verstärkten Zusammenarbeit in der europäischen Politik gehört. Wer wünschte sich das nicht?! Aber aus manchen Äußerungen war leider eben nur die Empfehlung zu entnehmen, angesichts der Situation, vor der wir uns befinden, den starken Maxe zu markieren. Dies geht heute ebensowenig, wie es damals ging. In dieser Hinsicht hat sich die Situation doch in keiner Weise verändert.Man soll also in dieser Beziehung die Kirche im Dorf lassen. So groß auch die Versuchung ist und so groß die Frustation sein mag, Sie können die Regierung nicht für alles verantwortlich machen. Niemand wird ihre Mitverantwortung bestreiten. Sie ist in den Ministerräten, und sie ist in den Entscheidungsgremien. Aber Sie wissen sehr genau, wo die wirklichen Hindernisse für die weitere Entwicklung liegen, und auch, daß mit dem Querlegen und den starken Worten angesichts der tatsächlichen Verhältnisse, die wir heute in Europa haben, überhaupt nichts bewirkt werden kann.Da helfen natürlich auch keine pathetisch klinkenden Bekenntnisse. Ich will nicht leugnen, daß sie in solchen Debatten gelegentlich notwendig sind. Aber ihre lautstarke Wiederholung ist, wie wir erfahren haben, kein Treibstoff mit höherem Oktangehalt für den Antrieb des europäischen Motors. In dieser Hinsicht ist es auch nicht damit getan, uns vorzuhalten, von unserer Seite würden zu wenig solcher pathetisch klingenden Bekenntnisse für die Europäische Union abgegeben.Sie wissen doch, wie die Wirklichkeit ist. Erst in der letzten Woche konnten Sie in einer Fernsehsendung des französischen Rundfunks den sicher auch von Ihnen als bedeutend betrachteten, vielleicht bedeutendsten Philosophen des Gaullismus, Herrn André Malraux hören, der dort gesagt hat: „L'Europe, ça n'existe pas, ca n'a jamais existé."Mit der Tatsache, daß es solche Elemente in der Politik in Europa gibt, müssen wir uns ständig auseinandersetzen. Es sind Tatsachen, die wirklich da sind. Da hilft kein Querlegen oder sonst etwas, um sie verschwinden zu lassen. Ich meine also, es wäre besser gewesen, Sie hätten den wirklich zahlreichen Initiativen und Bemühungen der Bundesregierung in dieser Hinsicht mehr Anerkennung gezollt. Es ist doch auch kein Zufall, daß überall, wo Sie außerhalb der Grenzen in diesem Europa hinkommen, die Bundesregierung nach wie vor als einer der Pfeiler der Entwicklung zur Europäischen Union betrachtet wird, daß man — ganz im Gegensatz zu dem, was man heute hier gehört hat — ihre Initiativen anerkennt und daß man hofft, sie werde durch ihre Initiativen und ihre Geduld in dieser Frage weiterhin fruchtbar auf diesen Prozeß einwirken. — Aber ich will hier nicht wiederholen, was der Außenminister zu diesem Punkt gesagt hat.Ich möchte Sie in den letzten Minuten dieser Debatte nur auf die Tatsache hinweisen, daß Europa noch ein bißchen größer ist als die neun Staaten, die in der Europäischen Gemeinschaft zusammen sind. Der Kollege Amrehn hat in der Begründung des Antrags der CDU/CSU heute morgen einige Bemerkungen über die Bedeutung des Europarats gemacht. Ich möchte deswegen darauf eingehen, weil in einer solchen Debatte nicht vergessen werden sollte, daß es, wie gesagt, außer den Neun noch einmal acht Staaten in Europa gibt und daß das vielbeschworene Thema der Konsultation auch dort eine Rolle spielt.Der Kollege Carstens hat heute morgen in dieser Debatte, zum Außenminister gewandt, gesagt — und das habe ich eigentlich nicht recht begriffen —, Konsultationen lösten keines der wirklichen Probleme, vor denen wir stehen. Aber selbstverständliche Konsultationen, rechtzeitige Konsultationen und ausführliche Konsultationen sind doch Ausdruck eines Vertrauensverhältnisses, ohne das wir in Europa und innerhalb der Atlantischen Allianz überhaupt nichts bewirken können. Deswegen muß man, finde ich, der Bundesregierung dankbar sein, daß sie einen solchen Plan für verbesserte Konsultationen wenigstens im atlantischen Bereich vorgeschlagen hat.Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, daß wir gemeinsam werden daran-
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Kahn-Ackermanngehen müssen, vermehrte Konsultationen auch innerhalb einer Organisation herbeizuführen, die demnächst ihr 25jähriges Jubiläum feiert: im Europarat, von dem angenommen wird, daß dort alles selbstverständlich funktioniert. Es gibt aber keine europäische Organisation, in der alles selbstverständlich klappt, sondern wir müssen auch in diesem Bereich dafür sorgen, daß das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Motive für dieses Zusammengehörigkeitsgefühl gepflegt werden. Wir müssen gerade das Organ des Europarats neu kräftigen, um eine wirkungsvolle Verbindung zwischen den Acht und den Neun zu haben. Ich bin dankbar, daß der Außenminister und die Bundesregierung insgesamt ihre Bereitschaft erklärt haben, innerhalb der Neun dafür zu sorgen, daß der Dialog unter den Siebzehn, zwischen den Ministern, in der Beratenden Versammlung, in einer fruchtbaren Weise weitergeht. Denn das ist eben auch notwendig, weil dieses Europa von der Südostgrenze der Türkei bis oben ins Eismeer reicht und auch unter den Nichtmitgliedern der Europäischen Gemeinschaft ähnliche Probleme zu bewältigen sind wie in der Gemeinschaft, und diese acht Nationen wollen nicht draußen stehen.Ich möchte in diesem Zusammenhang — vielleicht ist das eine Anregung — daran erinnern, daß die Beratende Versammlung des Europarats den Ministerrat ersucht hat, doch dafür zu sorgen, den Dialog zwischen den Parlamentariern und dem Ministerrat, der seit der Erweiterung der EWG durch die zwangsläufig eingetretene Verschiebung der Bewältigung schwieriger Probleme etwas in den Hintergrund getreten ist, wieder neu zu beleben und geeignete Mittel und Methoden zu finden, das zu verwirklichen. Aber auch das ist kein Problem, das die Bundesregierung alleine angeht. Ich bin dankbar dafür, daß die Bundesregierung zu erkennen gegeben hat, sie wolle hier hilfreich sein; wir haben Os dort eben auch mit anderen zu tun.Ich sage das deswegen, weil der Europarat als erste Organisation nach 1944 dafür geschaffen worden ist, den Parlamentariern ein Mitspracherecht in internationalen, vornehmlich europäischen Angelegenheiten zu geben. Wir sollten dafür eintreten, daß dieses Mitspracherecht fruchtbar gemacht und tatsächlich ausgeübt wird, und man sollte nicht sagen: Ausschließlich die Regierungen haben schuld. Wir alle sind weitgehend mit dafür verantwortlich — und unsere Kollegen in den anderen Ländern auch —, wie man über dieses Europa und seine Zukunft denkt. Es ist nicht damit getan, daß man einfach sagt, die Regierung habe dieses nicht getan, sie habe jenes nicht getan, und sie sei mitschuldig an der Entwicklung.Sie selber, meine Damen und Herren von der Opposition, müßten sich eigentlich fragen, ob Sie in der Öffentlichkeit und in Ihrem Wirkungsbereich — wenn Sie schon solche Anklagen, wie ich sie heute gehört habe, erheben — auch alles in Ihrer Macht Stehende getan haben, um dort dafür zu wirken, daß man nicht nur Verständnis für die Schwierigkeiten hat, die überwunden werden müssen, sondern daß auch in der öffentlichen Meinung jener Motorgestärkt wird, der den Prozeß voranbringt. Wenn Sie uns sagen, Sie wollten die Bemühungen der Bundesregierung unterstützen, wäre gerade diese letzte Aufgabe ein wirklich überzeugender Akt für eine solche Unterstützung. Das scheint mir gerade im Hinblick auf den Wirkungsbereich des Europarats und auf unsere Verpflichtungen gegenüber dem Europarat notwendig und dringend geboten zu sein.Ich hoffe — das ist das Entscheidende —, daß diese Debatte möglicherweise ein wenig dazu beigetragen hat, die öffentliche Meinung unseres Lan-. des erneut davon zu überzeugen, daß wir bereit sind, weiter auf dem steinigen Weg zur europäischen Union zu gehen, daß die Regierung dieses Landes keineswegs bereit ist, vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren. Ich hoffe, daß man das draußen dementsprechend hört.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Gallus.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer seit heute vormittag die Europadebatte aufmerksam verfolgt hat, kann am späten Abend nur eines feststellen: daß die Opposition den untauglichen Versuch unternommen hat, der Bundesregierung am derzeitigen Zustand Europas die Schuld in die Schuhe zu schieben.
Ich bin der festen Überzeugung, daß man, wenn man sich die Situation in Europa ohne rosarote Brille anschaut, sehr bescheiden wird.
Nur das, was die Opposition geboten hat, stellt in keinem Bereich irgendeine Alternative dar, und das Gefährliche an dieser Diskussion scheint mir zu sein, daß sie unseren Bürgern draußen vorzugaukeln versucht, als ob man Fortschritte in Europa mit leichter Hand erzielen könnte.Herr Narjes hat davon gesprochen, daß das schnelle Wechseln der Regierungen in Europa, daß schwache Regierungen in Europa dazu geführt hätten, daß wir nicht weitergekommen sind. Insofern habe ich seine Kritik als eine Kritik nicht an die Bundesregierung, sondern an die Adresse anderer gerichtet verstanden. Ich bin der Überzeugung, daß man hier ganz klar darstellen sollte, daß wir in Europa nicht allein sind. Zunächst waren es sechs und jetzt sind es neun.Was ich aber besonders bemerkt habe, ist die Tatsache, daß der Herr Kollege Narjes darauf hingewiesen hat, daß man eigentlich hätte annnehmen sollen, nach dem Abgang von Herrn de Gaulle hätte es sehr viel schneller in Europa vorangehen können. Dazu kann man nur feststellen, es scheint so zu sein, als ob de Gaulle seinen Geist nicht mit ins Grab genommen hätte. Das müssen wir leider, betrüblicherweise feststellen, und ich glaube, das können wir
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Gallushier auch einmal sagen, ohne irgend jemanden in irgendeiner Weise zu beleidigen.
Hier helfen auch Aussagen von Politikern in Europa nichts, die meinen daß die Krise der EWG eine Krise des Glaubens vieler europäischer Staatsmänner an Europa sei, wie Herr Barzel hier dartun zu müssen geglaubt hat. Ich frage mich, ob dann, wenn wir als Bundesrepublik bereit wären, uns selber angesichts dessen, daß es in vielen Bereichen nicht weitergegangen ist, an die Brust zu schlagen, die anderen überhaupt bereit wären, das in gleichem Maße zu tun. Ich bin der Auffassung, auch europäische Politik kann nur Politik in gleichem Schritt und Tritt sein.In diesem Zusammenhang taucht ,die Frage auf, ob es so, wie Europa am Beginn konstituiert worden ist, überhaupt richtig war, nämlich auf dem Marsch zur Einheit Europas zunächst einmal alles an der Agrarpolitik aufhängen zu wollen. Das ist die Frage, die man sich heute durchaus vorlegen kann. Allerdings bin ich der Meinung, daß heute eine Reihe von Kollegen gesprochen haben, die damals durchaus mit dabei gewesen sind und damals sicher den Glauben gehabt haben, auf diesem Weg würde es entsprechend vorangehen. Hier helfen eben keine Beschwörungen in irgendeiner Weise; hier geht es darum, Steine aus dem Weg zu räumen, um in Europa Schritt für Schritt voranzukommen.Ich bin nicht davon überzeugt, daß das, was die Opposition hier heute vorgelegt hat, nämlich ein Gesetz für direkte Wahlen in Europa, ohne daß die Parlamentarier Europas dann mehr Kontrollbefugnisse hätten, überhaupt ein gangbarer Weg ist.Herr Barzel hat seine Rede damit beendet, daß er gesagt hat, entweder ein freies Europa oder es drohe uns vielleicht am Ende eine pax sovietica. Ich glaube, mit dieser Art, die Dinge darzustellen, dienen wir gar niemandem,
weder Europa — das muß man einmal deutlich sagen — noch der Freiheit in der Bundesrepublik.In diesem Zusammenhang ist es wohl nicht vermessen, auch noch einmal auf die Agrarsituation in Brüssel mit ein paar Worten hinzuweisen. Ich glaube, Bundesminister Ertl hat richtig damit gehandelt, daß er dafür gesorgt hat, daß es möglich geworden ist, in Brüssel zu einem Abschluß zu kommen, zu einem Abschluß, der immerhin auch für die Bundesrepublik die Gewähr in sich trägt, daß die Landwirtschaft im kommenden Jahr in etwa zu kostendeckenden Preisen kommen kann, und der einen Kompromiß darstellt, der auch für die Verbraucher der Bundesrepublik tragbar ist. Dieser Erfolg, meine Damen und Herren, wird nicht dadurch geschmälert, daß man glaubt, nun diese ganze Abmachung daran aufhängen zu müssen, daß hier eine Reihe Sonderabmachungen gleichzeitig getätigt werden mußten. Es liegt im Augenblick in der Natur der Sache, daß es ohne dies nicht geht.Bei der Debatte heute vormittag hat mich eines sehr stark bewegt, nämlich die Ausführungen von Oppositionskollegen zum Verhältnis zwischen Europa und den USA. Ich glaube, dieses Verhältnis sollten wir einmal ganz nüchtern betrachten, wie es auch von der anderen Seite des Ozeans aus geschieht. Man muß sich einmal die durchschnittlichen Zollsätze in der EWG und in den USA ansehen und sich vor Augen führen, wie stark der US-Export, seit die EWG besteht, gerade im europäischen Bereich gestiegen ist: Von 1962 bis 1972 ergab sich ein Plus von 143%, in den EFTA-Ländern ein Plus von 132% und in den übrigen Ländern nur ein Plus von 127 %. Ich glaube, wir können bei diesem Vergleich durchaus bestehen, und es besteht überhaupt keine Veranlassung, in bezug auf den Agrarexport Amerikas in die Gemeinschaft leisezutreten. Der Agrarexport in die Gemeinschaft von seiten der USA ist in den letzten acht Jahren um 67% gestiegen, in die übrige Welt nur um 55 %. Das EG-Einfuhrvolumen machte 1972 rund 2 Milliarden Dollar aus, während die EG-Ausfuhr an Nahrungsmitteln in die USA nur 531 Millionen DM betrug, so daß insgesamt ein Agrarhandelsdefizit der Gemeinschaft mit den USA von 1,5 Milliarden Dollar im Jahr 1972 zustandegekommen war.Ich gebe zu: wir begrüßen das. Dafür verkaufen wir Volkswagen in die USA. Wir sollten aber auch nicht vergessen, daß gerade die Amerkaner ihrerseits nicht in allen Fällen bereit waren, ohne weiteres den Bestrebungen der EG entgegenzukommen. Ich erinnere nur an die Fragen der Soja-Bohnen und alles, was damit im Zusammenhang stand.Ich darf darüber hinaus auch ein Wort dazu verlieren, wie weit gerade Europa und USA wirtschaftlich miteinander verflochten sind. Immerhin beträgt der Gesamtwert der Investitionen in der EG von US-Firmen 1971 bereits 23 Milliarden Dollar. Die US-Investitionen in Europa machten von den gesamten amerikanischen Investitionen in der Welt 26,8 % aus, während die Europäer in Amerika nur Investitionen — einschließlich Großbritannien —von rund 8 Milliarden DM getätigt haben.Ich glaube, diese ganz nüchternen Zahlen sollte man sich in diesem Zusammenhang einmal vor Augen führen, und man sollte versuchen, auf dieser nüchternen Basis Politik zu machen. Wir als FDP-Fraktion haben es in diesem Zusammenhang durchaus als positiv empfunden, daß während der Debatte von seiten der Opposition das Angebot gemacht worden ist, gemeinsame Europapolitik zu treiben. Wir als Freie Demokraten waren immer der Auffassung, daß man die Außenpolitik gemeinsam betreiben sollte; nur muß das dann auch auf einer Basis geschehen, auf der alle gemeinsam in die gleiche Richtung marschieren.Ich bin der Auffassung, daß der Antrag der Fraktionen der SPD und FDP auf einer realistischen Basis den Versuch unternimmt, in dieser Beziehung einen Schritt weiterzukommen. Dagegen bringt das Gesetz, das Sie vorgelegt haben, letzten Endes nicht das, was wir brauchen, nämlich die Stärkung des Europäischen Parlaments. Vor allen Dingen brauchten wir eine europäische Verfassung. Man kann bei
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Gallusdieser Debatte nur die Forderung erheben, miteinander dazu beizutragen, daß es zu dieser Verfassungsdiskussion in Europa und darüber hinaus zu — das ist das, was unser Außenminister hier vorgetragen hat — Mehrheitsentscheidungen im Rat kommt, damit das gegenseitige Blockieren im Rat aufhört.Ich bekenne aber hier zum Schluß eines ganz klar. Ich habe vorhin davon gesprochen, daß wir nur im Gleichschritt in die EG einmarschieren wollen. Keiner kann die Verantwortung dafür übernehmen, daß einer mehr Opfer als der andere zu erbringen hat. Europa ist am Ende ohne finanziellen Ausgleich nicht zu einigen.Wir als FDP-Fraktion sind der Auffassung, daß die Bundesregierung auf dem bestehenden Weg weitermarschieren soll. Wir möchten ihr Mut zusprechen und gleichzeitig für das danken, was bisher geleistet wurde.
Die Geschäftslage, meine sehr verehrten Damen und Herren, sieht folgendermaßen aus.
Ich habe zu diesem Tagesordnungspunkt noch zwei Wortmeldungen. Wir werden dann um 20 Uhr abbrechen, da vereinbart ist, daß um 20 Uhr mit der Beratung des Steueränderungsgesetzes begonnen wird. Dazu liegen jetzt schon eine Reihe von Wortmeldungen vor; da eine Reihe von Abstimmungen erfolgen, müssen wir die Zeit einhalten.
Ich erteile nunmehr dem Herrn Abgeordneten Dr. Aigner das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grundlage der heutigen Diskussion waren drei Anträge.Der Antrag der SPD-Fraktion fordert die Stärkung der Haushaltsbefugnis des Europäischen Parlaments. Ich glaube, dieses Haus ist sich darin einig, daß wir alles tun wollen, was in unserer Macht steht, um dieses Europäische Parlament in die richtige Position zu bringen.Weiter liegt ein Gesetzentwurf meiner Fraktion vor, der europäische Wahlen vorsieht. Ich darf hier ausdrücklich sagen, daß natürlich — darüber sind wir uns auch in unserer Fraktion im klaren, Herr Fellermaier — bei der jetzigen Befugnis des Parlaments die öffentliche Meinungsbildung für ein Europa natürlich nicht mobilisiert werden kann, weil die Enttäuschung dann noch größer wäre. Aber wir haben in unserem Gesetzentwurf, zusammen mit unserer politischen Entschließung, ausdrücklich erklärt, daß wir die Stärkung — bis zur Legislativbefugnis — des Europäischen Parlaments mit wollen.Nun bin ich erstaunt — das darf ich sagen, Herr Fellermaier und Herr Schmidt , daß Sie mit Ihrem Antrag hinter unserem doch gemeinsam verabschiedeten Antrag im Europäischen Parlament zurückgeblieben sind. Sie wissen, worin das Problem liegt.Wir haben zwar noch keine Verfassungsvorstellung von Europa, aber wir gehen davon aus, daß dieses Europa nur in einer föderativen Ordnung entstehen kann. Deshalb war eine Minimalforderung von uns, daß Rat und Parlament in der Legislativbefugnis und in der Finanzhoheit gleichberechtigt, auf der gleichen Ebene miteinander entscheiden sollten.Um den dabei natürlich entstehenden Konflikt aufzulösen, hatten wir das Konzertierungsverfahren vorgeschlagen. Sie wissen, daß Ihre Fraktion im Straßburger Parlament sogar noch weitergegangen war. Herr Spinal wollte die absolute Souveränität eines Europäischen Parlaments. Wir haben uns dann -- Sie wissen, daß es mein Antrag war, daß es unser Kompromißvorschlag war durchgerungen. Wir hatten aber in unserer Entschließung — und das ist jetzt der grandiose Unterschied —, Herr Fellermaier und Herr Schmidt, das Konzertierungsverfahren nicht nur für die Haushaltsbefugnisse und für das „Verfahren des letzten Wortes", sondern auch für die Rechtsakte mit finanziellen Folgen gefordert. Und das rutscht jetzt bei Ihrem Antrag plötzlich an eine Stelle zurück, wo es eigentlich gar keine Bedeutung mehr hat.Nun sagen Sie: Wir wären ja gern bereit, Europa weiter vorwärts- und durchzuboxen, aber die andern sind schuld. Da muß ich nun sagen: In diesem Parlament, in dem Sie von der Opposition volle Rückendeckung bekommen haben, bleiben Sie sogar hinter Ihrer eigenen Entscheidung im Europäischen Parlament zurück, und ich frage mich: Warum?Damit komme ich und das war doch mit dieHauptauseinandersetzung des heutigen Tages — zum dritten Punkt. Die Bundesregierung — ich sage das in aller Härte — ist in Europa in ihrem Wollen, wirklich Europa, die politische Union zu erreichen, nicht mehr glaubwürdig. Sie wissen, daß das nicht etwa unsere Meinung allein ist; Sie brauchen nur Herrn Mitterand zu fragen, das ist doch bestimmt kein Christdemokrat.
Man fragt sich heute in Europa, ob der entscheidende Wille zur politischen Einigung Europas von der deutschen Bundesregierung noch vertreten wird. Das ist die Frage, die man sich heute nicht nur bei den Christdemokraten, sondern auch bei den anderen Fraktionen im Europäischen Parlament stellt.
Ich darf hier sagen, daß z. B. Herr Scheel durchaus glaubwürdig wirkt in seiner Außenpolitik, und Herr Scheel war selbst Mitglied in europäischen Gremien. Aber erst vor einigen Tagen hat mir ein Franzose die Frage vorgelegt: Wer bestimmt denn eigentlich dann die Außenpolitik der Bundesrepublik, wenn Herr Scheel nicht mehr Außenminister ist, wenn dann Herr Bahr agiert? In diesem Namen — entschuldigen Sie — symbolisiert sich die Angst, daß dieser politische Wille Europas nicht mehr gegeben ist, und solange der Bundeskanzler diesen Mann als Sonderbotschafter akzeptiert, — —
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Dr. Aigner-- Entschuldigen Sie! Sie können ja heraufgehen und antworten. Sie kennen doch die Rede von Herrn Bahr, Sie kennen sein Gutachten, Sie kennen doch alle Äußerungen von Herrn Bahr. Die Frage „Ist diese Bundesregierung noch gewillt, wirklich die politische Union Europas anzustreben?" wird nicht mehr klar beantwortet.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fellermaier?
Bitte schön, Herr Fellermaier!
Herr Kollege Aigner, Sie haben soeben angezweifelt, daß diese Bundesregierung nicht den Willen zeige, ihren Beitrag zur politischen Union zu leisten. Darf ich Sie fragen, ob Sie die entscheidende Redepassage des Herrn Bundesaußenministers, in der er dargestellt hat, welche Maßnahmen er als Ratspräsident im Rat dazu vorgeschlagen hat, nicht zur Kenntnis genommen haben, und ist Ihnen verborgen geblieben, daß der Herr Bundesaußenminister der erste Ratspräsident überhaupt war, der von sich aus in den politischen Ausschuß des Europäischen Parlaments gekommen ist, um den Dialog über Fragen der politischen Union zu führen?
Herr Fellermaier, mir wäre es lieb gewesen, die Koalitionsparteien hätten genauso ein politisches Bekenntnis hier in einer Entschließung abgelegt, wie wir es abgelegt haben. Sie haben sich auf eine Detailfrage beschränkt. Das war doch die europäische Debatte, um die wir seit Jahren kämpfen. Warum haben Sie dieses politische Bekenntnis hier denn nicht in einer eigenen Entschließung abgelegt?
Ich habe Ihnen doch genau gesagt, daß die Politik von Herrn Scheel natürlich nicht in Frage gestellt wird. Wissen Sie: schöne Reden können Sie natürlich überall haben, entscheidend kommt es auf die Taten, auf die Fakten an.
Deshalb möchte ich sagen: Wir sind leider Gottes in Europa an einen Punkt angekommen, wo man sich nicht mehr mit großen Reden und Erklärungen vorbeimogeln kann,
sondern wo man endlich Entscheidungen treffen muß. Ich bin auch nicht der Meinung des Herrn Bundesaußenministers, der — jedenfalls habe ich das in einer Zeitung gelesen — in einem euphorischen Optimismus gesagt hat, Europa sei einfach nicht kaputtzubekommen. Ich glaube, so ähnlich haben Sie es formuliert. Herr Bundesaußenminister, ich glaube, da irren Sie sich. Wir sind an einem Punkt, wo man zwar dieses Europa nicht mehr kaputtmachen kann, aber wo es systematisch eingeschläfert wird und
andere Kräfte dieses Europa dann überlagern werden. Das ist der Punkt, an dem wir heute stehen.
Herr Präsident, ich darf zum Schluß kommen. Diese Debatte hatte vor allem den Sinn, der jungen Generation zu demonstrieren, daß dieses Parlament in seiner Mehrheit die politische Einigung dieses Kontinents will und alles tut, was in seiner Macht steht, damit diese politische Einigung auch Wirklichkeit wird.
Unsere Jugend braucht eine Alternative zu dem, was uns die linke Seite hier bietet.
Ein zweites sollte diese Debatte zeigen. Ich glaube, diese Feststellung ist gerade bei den jetzigen Diskussionspunkten notwendig. Herr Bundesaußenminister, meine Fraktion sagt zu einer Währungsunion nur dann ja, wenn damit wirklich ein politisches Entscheidungszentrum auf europäischer Ebene verbunden und installiert wird.
Lassen Sie mich ein Drittes sagen. Herr Wehner hat zwar, als er seine sogenannte Ostpolitik hier in diesem Hause vertrat, erklärt, er brauche die Opposition nicht, er mache das allein. Heute hat uns Herr Wischnewski angeboten, wir sollten in diese Pleitefirma jetzt mit einsteigen.
Aber wir haben noch etwas gemeinsam — wir stehen z. B. im Europäischen Parlament Gott sei Dank nicht in der gleichen Polarisierung, wie wir sie hier erleben; Herr Seefeld, ich denke, darin stimmen Sie mir zu —, und wir sollten das, was wir gemeinsam haben, gegen alle extremen Kräfte, gleichgültig, woher sie kommen, wirklich bewahren und verteidigen.
— Sie müssen schon die Ergebnisse der letzten Wahlen nicht mitbekommen haben; denn sonst könnten Sie nicht über die Feststellung lachen, daß radikale Kräfte auf der linken Seite heute auch Ihre Position gefährden.
Diese Debatte sollte auch ein Angebot der Opposition sein, nämlich zusammenzuarbeiten, um die vereinigten Staaten von Europa in wirklich demokratischen Strukturen mit schaffen zu helfen.
Meine Damen und Herren, wir haben noch vier Minuten Zeit. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmitt-Vockenhausen, der mir zugesagt hat, nur fünf Minuten zu sprechen. Wir brechen um 20 Uhr ab, Herr Kollege.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich an die von mir gegebene Zusage halten, nach einem Tag, an dem so viel von Resignation die Rede war und so viele Vorwürfe und so wenig konkrete Hoffnungen zu hören waren" der Herr Kollege Aigner
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Dr. Schmitt-Vockenhausenhat sich ja selbst überboten, indem er vorschlug, wir hätten hier auch Bekenntnisse ablegen sollen. Meine Damen und Herren, Bekenntnisse sind in diesem Hause schon viele abgelegt worden. Entscheidend ist aber letztlich, was aus den Bekenntnissen in die politische Realität übersetzt wird.
Das ist das Entscheidende und das wirkt weiter.Nach einem solchen Tag wollte ich Ihnen nur noch sagen, meine Damen und Herren: Es gibt eine politische Kraft in Europa, die in den vergangenen Jahren auch dann, wenn es schwere Rückschläge gab, der europäischen Idee treu geblieben ist und dafür gekämpft hat; ich meine die im Rat der Gemeinden Europas zusammengeschlossenen Zehntausende von Städten und Gemeinden.
Diese werden sich in den nächsten Wochen in Wien erneut versammeln und dabei über die Fragen der politischen Einigung sprechen.
Ich hätte gern einiges über diese Arbeit gesagt, die Europa mehr hilft als sogenannte Bekenntnisse.
Ich möchte Sie bitten, alles zu tun, damit diese Arbeit von der Basis her, die für Europa entscheidende Impulse gebracht hat, auch in Zukunft durchgeführt werden kann.
Beginnend bei der Regionalpolitik, über die Probleme der Gastarbeiter bis hin zu den Städtepartnerschaften ist hier in den vergangenen Jahren vieles geleistet worden. Ich meine, damit ist für den Ausgleich und die Beziehungen der Völker innerhalb Europas viel getan worden. Ich darf Sie nur an den Europäischen Gemeindetag in London erinnern, der vor dem Beitritt Großbritanniens zur EG in der öffentlichen Meinung Englands, als fast 5 000 Bürgermeister vom Kontinent nach London kamen, als eine große Demonstration mit viel Ausstrahlung angesehen wurde.Meine Damen und Herren, in diesem Sinne bitte ich Sie freundlichst: Wir dürfen nicht verzagen, weil auch Zehntausende von Kommunalpolitikern auf unseren unbeirrten Gang nach Europa und für Europa vertrauen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Beratungszeit, die wir uns gesetzt haben, angelangt. Überweisungsvorschläge sind in der Tagesordnung ausgedruckt. — Ich höre keinen Widerspruch dagegen, daß wir mit den Drucksachen zu den Punkten 5, 6 und 7 so verfahren. Das ist so beschlossen.
Ich rufe den Punkt 9 unserer Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Steueränderungsgesetzes 1973
— Drucksache 7/1509 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 7/1893 — Berichterstatter: Abgeordneter Haehser
b) Bericht und Antrag des Finanzausschusses
— Drucksachen 7/1860, 7/1871 — Berichterstatter: Abgeordneter Bremer
Neben den aufgeführten Drucksachen liegen vier oder fünf Anträge vor. Ich danke zunächst den Herren Berichterstattern für die vorgelegten Schriftlichen Berichte und erteile zur mündlichen Ergänzung seines Schriftlichen Berichts dem Abgeordneten Bremer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bitte zunächst um die Erlaubnis, anschließend die Stellungnahme der Fraktion abzugeben.
Es ist vereinbart worden, daß Sie anschließend die Stellungnahme der Fraktion beginnen können. Wir schließen also praktisch die Aussprache zur zweiten Lesung gleich an.
Bitte schön, Sie haben zunächst das Wort als Berichterstatter!
Ich darf den Schriftlichen Bericht in der Drucksache 7/1871 wie folgt ergänzen: Das geltende Einkommensteuerrecht wird im wesentlichen in folgenden Punkten geändert:1. Verdoppelung der regelmäßigen Veranlagungsgrenze von 24 000 auf 48 000 DM ab 1. Januar 1973, also rückwirkend. Hierdurch fallen etwa 240 000 Steuerpflichtige aus der Veranlagungspflicht heraus — ein bescheidener Beitrag zur Arbeitsentlastung der Finanzämter.2. Erweiterung der Ermächtigung, erhöhte Absetzungen für Modernisierungsaufwand für Wohngebäude zuzulassen, die nicht wie bisher bis zum 21. Juni 1948, sondern auch bis zum 1. Januar 1957 fertiggestellt sein können.3. Ich fasse hier zusammen, was im Bericht etwas verstreut steht, nämlich verschiedene schiffahrtspolitische Tatbestände. Das erste ist die Verlängerung der Frist für die Bewertungsfreiheit von Schiffen nach § 51 w des Einkommensteuergesetzes bis zum 31. Dezember 1977. Hierzu liegt uns ein interfraktioneller Änderungsantrag vor, über den nachher zu befinden sein wird.Das nächste ist die Erhöhung des Sonderabschreibungshöchstbetrages in der gleichen Vorschrift von 30 auf 40 %. Es ist lange darüber diskutiert worden, ob dies nicht etwas systemwidrig sei, weil es im Steuerrecht allgemein üblich ist, für bewegliche Sachen 50 °/o und für unbewegliche Sachen 30 % anzusetzen. Man hat hier mit Rücksicht darauf, daß Schiffe auf der einen Seite bewegliche Sachen, auf
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Bremerder anderen Seite wegen ihrer Eintragung in das Schiffsregister wie Grundstücke zu behandeln sind, einen Mittelweg gewählt.Als nächstes nenne ich die Neuregelung der Ertragsbesteuerung für Handelsschiffe im internationalen Verkehr. Mit der Erhöhung des begünstigten Anteils von 50 auf 80 °/o wird allerdings im Ergebnis praktisch keine Besserstellung erzielt, weil die Berechnungsgrundlage entsprechend geändert wird. Im Bereich der Gewerbesteuer wird die bisherige Verwaltungsregelung mit annähernd gleichem Begünstigungseffekt wie bei der Einkommensteuer nunmehr in das Gesetz aufgenommen.Nicht unerwähnt soll hier auch die sachliche Begrenzung auf solche Schiffe bleiben, die sowohl in ein deutsches Schiffsregister eingetragen sind als auch die deutsche Flagge führen. Diese Änderung gewinnt ihre besondere Bedeutung im Zusammenhang mit der bekannten Ausflaggungswelle in der deutschen Schiffahrt.Das nächste betrifft einen energiepolitischen Tatbestand: Die Vergünstigung für Investitionen im Bergbau wird auf den Tagebaubetrieb ausgedehnt und sachlich erweitert. Die dafür maßgebenden energiepolitischen Zielsetzungen waren auch der Anlaß für einen völligen Wegfall der bisherigen zeitlichen Begrenzungen.Die Inanspruchnahme von steuerlichen Vergünstigungen war in der Vergangenheit durchgehend an die Voraussetzung einer ordnungsmäßigen Buchführung geknüpft. Diese Vorschriften haben im Steueralltag viele Probleme aufgeworfen und zu mancherlei, ich möchte sagen: unzähligen Rechtsstreitigkeiten geführt. Die Rechtsprechung hat versucht, praxisnahe Lösungen zu entwickeln. Der Entwurf zum Dritten Steuerreformgesetz sieht deshalb einen weitgehenden Wegfall dieser Voraussetzungen vor. Da mit der neuen Regelung der Besteuerung der Schiffahrt wie auch des Bergbaus materielle Teile des Dritten Steuerreformgesetzes vorweggenommen werden, sieht nun auch das Zweite Steuerreformgesetz, das wir hier heute behandeln, den Wegfall der Ordnungsmäßigkeit der Buchführung als Voraussetzung für die Inanspruchnahme der steuerlichen Vergünstigungen in diesen Bereichen vor.Meine Damen und Herren, damit ist mein Bericht beendet. Ich darf damit schließen, daß die CDU/CSU im Finanzausschuß drei Anträge eingebracht hat, die Ihnen hier wieder vorliegen. Diese Anträge sind von der Koalition abgelehnt worden.Ich bitte im Namen des Ausschusses, den Entwurf anzunehmen.Ich darf dann zur Stellungnahme der Fraktion übergehen.
Ich möchte einen Augenblick unterbrechen. Es ist vereinbart worden, daß wir Erklärungen erst zur dritten Lesung abgeben. Ist dies hier schon die Erklärung oder noch nicht?
Nein, noch nicht.
Dann möchte ich vorschlagen, daß wir zunächst mit der zweiten Lesung fortfahren.
Ich möchte Sie bitten, die Drucksache 7/1860 zur Hand zu nehmen. Zu Art. 1 liegt der Änderungsantrag auf Drucksache 7/1884 auf Einfügung eines § 32 b vor. Er soll auf Seite 6 der Drucksache 7/1860 vor Ziffer 3 als neue Ziffer 2 b eingefügt werden.
Zur Begründung dieses Antrages hat der Abgeordnete Dr. Köhler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Änderungsantrag auf Drucksache 7/1884 sieht die Einfügung eines § 32 b vor. Er soll die Bundesregierung im Oktober eines jeden Jahres zur Vorlage eines Jahrestarifberichts an Bundestag und Bundesrat verpflichten. In diesem Bericht soll die Bundesregierung darlegen, welche Maßnahmen sie zur Anpassung des Tarifs und der Freibeträge nach § 32 vorhat, und zwar an der Entwicklung der Lebenshaltungskosten orientiert. Der Bericht soll — deutlich und in einem Satz ausgedrückt — die heimlichen Steuererhöhungen künftig öffentlich machen.
Der Antrag wurde im Finanzausschuß behandelt. Er ist identisch mit einem Antrag der bayerischen Landesregierung im Bundesrat.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Bundeswirtschaftsministerium hat in seinen jüngsten Projektionen für das Jahr 1974 die Steigerungsraten für Löhne auf 13 %, für Verbraucherpreise auf über 9 % geschätzt. Wer solche Projektionen in den vergangenen Jahren mit der tatsächlich eingetretenen Entwicklung vergleicht, der weiß, daß die Tatsachen die Projektionen regelmäßig überholt haben. In den Jahren seit 1969 lagen z. B. die wirklichen Lohnsteigerungen zwischen 2 und mehr als 6 Prozentpunkten über den Schätzungen. Ich schließe daraus, daß wir für das Jahr 1974 eher noch Schlimmeres erwarten müssen, als in den Projektionen des Bundeswirtschaftsministeriums zum Ausdruck kommt. Daß eine solche Entwicklung unmittelbare Folgen für die Einkommensteuer haben muß, spürt seit Jahren jeder Bürger in diesem Land.
Mit diesen schleichenden Steuererhöhungen und mit der damit verbundenen ungerechtfertigten Bereicherung des Staates möchte ich mich zunächst beschäftigen. Die Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit stiegen seit 1969 um 66%. Die Lohnsteuereinnahmen dagegen stiegen in der gleichen Zeit von 22 Milliarden DM auf mehr als 60 Milliarden DM im Jahre 1973, also um über 177%.
Die Lohnsteuern stiegen also — kurz ausgedrückt — fast dreimal so stark an wie die Löhne. Damit fließt gegenwärtig mehr als ein Viertel aller Steuereinnahmen aus der Lohnsteuer. Zwei Jahrzehnte lang
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Dr. Köhler
waren es demgegenüber nicht viel mehr als 10 bis 15%.Ich glaube, daß sich diese Entwicklung eskalierend fortsetzen muß, wenn der § 32 a unverändert bleibt, wie die folgenden Beispiele zeigen.Lin Arbeiter mit brutto 1 500 DM Monatsverdienst hat heute mit einem Steuersatz von mehr als 20 % zu rechnen. Wenn wir für die weiteren Jahre mit. einer Lohnsteigerungsrate von 15 % rechnen, dann wird er im Jahre 1980 Steuern in Höhe von 30% seines Einkommens zu zahlen haben. Für einen Angestellten mit einem Monatsverdienst von gegenwärtig brutto 2 500 DM liegt der Steuersatz heute bei knapp 30%; er wird 1980 unter den gleichen Voraussetzungen bei knapp 40 % angelangt sein.
\\Venn nicht etwas geschieht, kann man den Tag voraussehen, an dem schließlich aus dem Progressionstarif des § 32 a ein linearer zum Höchstsatz geworden ist. Angesichts dieser erschreckenden Aussichten ist es nicht verwunderlich, daß sich n der Bevölkerung zunehmende Unruhe ausbreitet und immer mehr Sachverständige auf diesem Gebiet ihre mahnende Stimme erheben und dazu auffordern, etwas zu tun. Ich verweise hierzu besonders auf die Ausführungen von Professor Fritz Neumark in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. März über „die ,heimlichen Steuererhöhungen".Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Vorgang hot auch noch eine andere, politische Seite. Er findet nämlich seine Entsprechung in der heimlichen Entmachtung des Parlaments, dessen wichtigstes Recht, von der Regierung beantragte Steuererhöhungen zu genehmigen oder zu verweigern, immer mehr von der Inflation übernommen wird,
die sich in dieser Hinsicht offenbar als ein willkommener Kumpan der Regierung erweist. Wir sind der Auffassung, daß beidem abgeholfen werden muß.Nun geht der Ihnen vorliegende Änderungsantrag nicht so weit, daß der § 32 a inflationsneutral gestaltet werden soll, obwohl hierfür sicherlich heute schon gute Gründe vorgebracht werden könnten und in der Diskussion ja auch vorgebracht werden. Mit der Berichtspflicht, die wir beantragen, soll vielmehr das Problembewußtsein der Regierung und der gesetzgebenden Körperschaften gestärkt werden. Das Problembewußtsein der Regierung zu schärfen, scheint mir allein schon deswegen notwendig zu sein, weil dieser Regierung und der einen der beiden Regierungsparteien als bisher einzigem Argument gegen unseren Änderungsantrag der Hinweis auf die Risiken einer dann vorgeblich unvermeidlichen allgemeinen Indizierung eingefallen ist. Dem anderen Koalitionspartner scheint dieser Antrag nach einer öffentlichen Äußerung des Kollegen Zywietz — ich kann ihn im Augenblick nicht sehen
nicht weit genug zu gehen. --- Ein bemerkenswertes weiteres Beispiel dafür, daß die Koalition offenbar auch in diesem Bereich immer weniger einig darüber ist,was sie eigentlich will! Ich habe aber aus dieser Bemerkung einige Hoffnung geschöpft, daß sich in der FDP-Fraktion offenbar Bedauern darüber ausbreitet, daß sie unseren Inflationsentlastungsantrag nicht mitgemacht hat, der ja genau in diese Richtung tendierte.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich brauche mich an dieser Stelle wegen der sicherlich alsbald fälligen Diskussion nicht über die Vorteile und Risiken einer derartigen allgemeinen Indizierung auszulassen; denn dieser Hinweis ist in bezug auf den Tarif des § 32 vollkommen fehl am Platze. erstens deshalb, weil ein solcher Hinweis nicht de rade überzeugend gegen einen Antrag vorgebracht wird, der gar keine Indizierung vorsieht, sondern lediglich zu einer Berichterstattung verpflichtet: zweitens aber auch deshalb, weil selbst eine automatische Anpassung des Tarifs geradezu dos Musterbeispiel dafür wäre, die in ihm zum Ausdruck kommende Struktur der Besteuerung so lange zu erhalten, his der Reformgesetzgeber eine andere Struktur für erforderlich hält, also nicht zuzulassen, daß diese Struktur ohne Gesetzgebungsakt ständig verändert wird.Es handelte sich im übrigen zugleich um den wohl einzigen Fall einer inflationshemmenden Anpassung, und zwar mindestens aus zwei Gründen: erstens, weil eine Ausweitung der öffentlichen Ausgaben künftig nur dann möglich wäre, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich Steuererhöhungen be- schlösse -- und das soll dann auch die Regierung beantragen müssen -- ; zweitens, weil die Gewerkschaften darüber hinaus keinen Grund mehr hätten, die schleichenden Steuererhöhungen mit ihren Lohnforderungen zu kompensieren.
Ich bitte Sie deshalb namens meiner Fraktion, dem Änderungsantrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Böhme.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Zusatzantrag der CDU/CSU zum Zweiten Steueränderungsgesetz hat das Ziel, in das Einkommensteuerrecht eine gesetzliche Vorschrift aufzunehmen, wonach die Bundesregierung verpflichtet wird, jedes Jahr nach dem Ergebnis der Entwicklung der Lebenshaltungskosten Vorschläge zur Anpassung des Steuertarifs und der steuerlichen Freibeträge zu unterbreiten. Gegen diesen vorliegenden Antrag wendet sich die SPD-Fraktion, und zwar aus mehreren Gründen.Erstens. Der Antrag wurde von der Opposition im Finanzausschuß eingebracht, nachdem die Beratungen zum Zweiten Steueränderungsgesetz abgeschlossen waren. Erst als es um die Abstimmung der beratenen, aber noch strittigen Punkte zum Gesetz-
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Dr. Böhme
entwurf des Zweiten Steueränderungsgesetzes ging, hat die CDU CSU diese initiative als völlig neuen Antrag eingebracht.
Die Koalitionsparteien haben es daraufhin abgelehnt, im Finanzausschuß über diesen zusätzlichen .Antrag auch nur zu beraten, und zwar mit Recht. Wer die Diskussion, die inzwischen umfangreiche Literatur und die schwerwiegenden Konsequenzen eines solchen ersten Schrittes zu einer Indexierung im Einkommensteuerrecht -- und darum handelt es sich — auch nur einigermaßen kennt, muß den Stil und die Methode der Opposition zur Behandlung einer politisch so schwerwiegenden Frage entschieden ablehnen.
Zweitens. Neben dieser Kritik am Verfahren ist im übrigen die Antwort in der Sache selbst klar. SPD und FDP wollen eine Änderung der Tarife und der Freibeträge zum 1. Januar 1975 erreichen. Diese Tarifänderung erfolgt nach unseren Vorstellungen aber nicht nur in Form einer bloßen linearen Anpassung der jetzigen Freibeträge und des Tarifs an die Geldentwicklung, sondern als Strukturänderung des jetzigen Steuersystems, um mehr Steuergerechtigkeit zu verwirklichen,
um die verteilungspolitische Schlagseite, die unser Steuerrecht im Laufe der Jahre bekommen hat, wieder in Ordnung zu bringen.Drittens. Eine Verpflichtung der Bundesregierung, jedes Jahr Vorschlage zur Anpassung des Steuertarifs und der Freibeträge an die Geldentwicklung zu machen, ist mehr als die Forderung nach einer ständigen Berücksichtigung des Prinzips einer Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähig-knit. Auf diesen Grundsatz könnten wir uns nicht nur verständigen, sondern dies will ja gerade die Steuerreform verwirklichen; sie will dem Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Geltung verschaffen.Worauf der Antrag der Opposition jedoch zielt, ist mehr. Er geht auf eine allgemeine Indexierung im Einkommensteuerrecht und richtet sich damit gegen ein Grundprinzip unserer Wirtschafts- und Rechtsordnung, nämlich das sogenannte Nominalprinzip. Dies ist ein weites Feld, meine Damen und Herren. Die Beratung des vorstehenden Antrags ist nicht die angemessene Gelegenheit, auf die Problematik und die damit zusammenhängenden Fragen im einzelnen einzugehen.Die Bundesregierung hat im übrigen in der Fragestunde des Deutschen Bundestages mehrfach dazu Stellung genommen und aus guten Gründen eine Indexierung im Einkommensteuerrecht abgelehnt. Hierauf verweise ich und hebe nur zwei Gesichtspunkte hervor:Einmal lassen sich die Auswirkungen einer steuerlichen Berücksichtigung der Geldentwicklung nicht auf das Einkommensteuerrecht beschränken, son-dern sie würden auch bei anderen Steuern eine Rolle spielen.
Die Sorge ist nicht unbegründet, daß darüber hinaus eine Abkehr vom Nominalprinzip im Steuerrecht einer Initialzündung für die gesamte Wirtschaft gleichkäme — mit weitreichenden Folgen für die Wirtschatt und die Währungsordnung.Zum anderen müssen die verteilungspolitischen und fiskalischen Folgen gesehen werden. Wer im Steuerrecht indexiert und darauf seine Steuergerechtigkeit beschränkt, geht davon aus, daß; der verteilungspolitische Status quo gerecht ist, weil dieser Status quo der Verteilung durch die Indexierung zunächst festgeschrieben wird. Gleichzeitigerden die Steuermittel für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben gekürzt, weil die steuerliche Anpassung an die Geldentwicklung auf der Einnahmeseile Steuerausfälle schafft, während die Staatsausgaben weiter ansteigen. Der öffentliche Korridor wird somit kleiner und dadurch sinkt das staatliche Leistungsangebot.Es ist zuzugeben, daß über die hier skizzierten Gesichtspunkte hinaus die Problemalik einer Indexierung im Steuerrecht sehr vielschichtig ist. Gerade deshalb ist der vorliegende Antrag, den die Opposition nach Abschluß der Beratungen im Finanzausschuß und somit aus dem Stand, quasi aus der „Lamäng" einbrachte, unseriös und in Ganze abzulehnen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den eben be- gründeten Antrag der CDU CSU auf Drucksache 7/1884. Wer diesem Antrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Ich bitte urn die Gegenprobe. - Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
An dieser Stelle muß der Antrag Drucksache T1885 aufgerufen werden. Zur Begründung Herr Dr. Wagner !
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag auf Drucksache 7/1885 zielt in Ziffer 1 darauf ab, den § 33 a des Einkommensteuergesetzes in der Weise zu ergänzen, daß für Bewohner von Altenheimen ein besonderer Steuerfreibetrag in Höhe von 1 200 DM eingeführt wird und daß dieser Steuerfreibetrag für Ehepaare, die in Altenheimen wohnen, 2 400 DM betragen soll. Wir haben diesen Antrag bereits im Finanzausschuß gestellt und sind mit ihm unterlegen. Wegen seiner Bedeutung wird der Antrag hier wiederholt.Die Begründung: Auf Grund der inflationären Entwicklung der letzten Jahre sind zahlreiche Bewohner von Altenheimen in eine sehr betrübliche Lage geraten. Das Alterseinkommen, das sie haben, reicht zur Bestreitung der Unterbringungskosten im Altenheim nicht mehr aus. Andererseits müssen sie
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Dr. Wagner
aber dennoch Steuern zahlen. Um die Kosten für das Altenheim aufbringen zu können, müssen sie den Weg zur Sozialhilfe antreten, andererseits aber von ihrem eigenen Einkommen Steuern entrichten, und zwar zum Teil in beträchtlicher Höhe.Dies wird niemanden überraschen, der weiß, daß die Monatskosten für die Unterbringung in einem Altenheim ohne jeden besonderen Luxus, ganz normaler Art und Struktur, heute bei 750, 800 und 900 DM liegen, für Ehepaare also jeweils beim Doppelten, bei 1 500, 1 600 und 1 800 DM. Es wird auch den nicht überraschen, der weiß, daß ein Ehepaar bei einem Pensionärseinkommen z. B. von 1 200 DM brutto schon in eine Steuerpflicht von etwa 90 DM monatlich hineinwächst, bei 1 500 DM in eine Steuerpflicht von 150 DM im Monat und bei höheren Einkommen noch mehr. Es handelt sich in diesem speziellen Fall gar nicht um die Bezieher sehr geringer Renten, es handelt sich um ältere Mitbürger, die ausreichend, die gut für ihr Alter vorgesorgt hatten und heute auch Alterseinkünfte beziehen, die man als durchaus überdurchschnittlich ansprechen muß. Auch für sie reicht dieses Alterseinkommen heute für das Altenheim nicht mehr aus. Sie werden darauf verwiesen - woran sie in ihrem Leben nie gedacht hatten --, die Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig aber nimmt der Staat ihnen Steuern ab. Sie empfinden dies — ich glaube, mit Recht — als einen offensichtlichen Skandal.
Wir sind der Meinung, daß diesem Skandal abgeholfen werden muß.Die Koalitionsparteien haben uns in den Beratungen darauf verwiesen, daß auch dieses Problem in der Steuerreform behandelt werden soll. Hierzu ist zu bemerken, daß in dem Gesetzentwurf der Regierung und auch in der zur Zeit zu beratenden Formulierungshilfe nichts zur Behebung dieses Notstandes enthalten ist. Außerdem sind wir der Meinung, daß dieser Mißstand schneller behoben werden muß, als dies über die Steuerreform geschehen könnte, zumal das Schicksal der Steuerreform von Tag zu Tag und von Woche zu Woche ungewisser wird.
Wir bitten um Zustimmung zu diesem Antrag. Es handelt sich darum, eines der vielen, vielen Probleme wenigstens teilweise zu entschärfen, die durch die Inflation entstanden sind. Stimmen Sie diesem Antrag nicht zu, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, so liefern Sie damit nur den Beweis, daß Sie nicht einmal mehr den Willen haben, die Inflationsschäden da, wo dies noch möglich ist, auszubessern.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Herr Kollege Wagner hat ein Problem angesprochen, das für uns alle sehr wichtig ist
und uns noch einige Überlegungen mehr abverlan-
gen wird, als sie hier im Augenblick haben vorge-
tragen werden können. Zweifelsohne bringt in vie-
len Fällen die Unterbringung in einem Altersheim
außergewöhnliche Belastungen. Wenn wir aber den
Antrag der Opposition, wie er etwas schnell und
sicherlich mit gezielter optischer Wirkung zusam-
mengeschrieben worden ist, annähmen, würden wir
nicht Ungerechtigkeiten abbauen, sondern neue
schaffen. •
Erstens würde die Vorstellung, Herr Kollege Wagner, daß, wer Staatsleistungen in Anspruch nimmt, keine Steuern zahlen muß, unser gesamtes Steuerrecht durcheinanderbringen. Selbstverständlich gibt es bestimmte Leistungen des Staates auch für solche Bürger, die steuerpflichtig sind. Insofern kann dies vom Prinzip her kein durchgreifendes Argument sein.
Außerdem müßte erst einmal festgestellt werden, was man mit Altenwohnung, mit Altersheim oder Pflegeheim meint. Wer im Pflegeheim ist, kann — das wissen wir -- als Behinderter sowieso besondere Freibeträge in Anspruch nehmen; sie sind sehr viel höher, als sie hier vorgesehen sind. Diese Personen sind also hier gar nicht vorrangig betroffen. Dann kommt das Altersheim; das ist ein Begriff, den wir kennen. Aber nun geht das los mit der Altenwohnung. Was heute unter dem Begriff „Altenwohnung" läuft, ist nicht eindeutig abgrenzbar. Da fangen dann die Schwierigkeiten an; schließlich gibt es auch alte Menschen, die sich in ihren eigenen Wohnungen helfen müssen und helfen lassen müssen, ohne daß Sie ihnen eine Erleichterung geben wollen. Und schließlich: Wie grenzt sich Ihr Vorschlag gegen die Vergünstigung für die Hausgehilfin ab? Das alles muß sorgfältig abgestimmt werden.
Deswegen möchten wir die antragstellende Fraktion bitten, ihren Antrag bis zur Beratung des Dritten Steuerreformgesetzes zurückzustellen; denn dort werden alle Freibeträge im Bereich der außergewöhnlichen Belastungen neu geregelt und auch in ihrer Abgrenzung und Relation zueinander geprüft. Wenn wir gerecht sein wollen, sollten wir das zusammen mit der Regelung aller dieser Fragen prüfen, nicht jedoch jetzt eine einzige Frage herausgreifen und regeln, bei der wir dann nachher feststellen, daß wir keine gerechte Lösung, sondern nur eine zufällige gefunden haben.
Wenn die Opposition nicht bereit ist, den Antrag jetzt zurückzuziehen, bitte ich, ihn abzulehnen, mit dem Hinweis darauf, daß wir ihn bei der Beratung des Dritten Steuerreformgesetzes erneut aufgreifen werden.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Der Antrag wird nicht zurückgenommen? — Dann stimmen wir ab. Wir stimmen über den Änderungsantrag auf Drucksache 7/1885 ab. Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6159
Vizepräsident von Hasseldie Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf der Drucksache7/1886. Zur Begründung Herr von Bockelberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Miquelschen Steuerreform in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts enthält das deutsche Steuerrecht auf Grund seiner Systematik eine grobe Ungerechtigkeit, die darin besteht, daß in bestimmten Fällen ein und dasselbe im Erbfalle mit Erbschaftsteuer und danach noch einmal mit Einkommensteuer befrachtet wird.
Folgende Fälle sind denkbar: einmal, daß eine Witwe eine Rente bezieht oder beziehen soll und dadurch nur der besondere Versorgungsfreibetrag nach dem Erbschaftsteuergesetz durch den Kapitalwert dieser Rente gemindert wird, obwohl darauf, wenn sie diese Rente nachher kapitalisieren und sich auszahlen läßt, Einkommensteuer zu zahlen ist. Den gleichen Vorgang haben wir bei Pensionen.
Ähnlich ist es zu sehen, wenn Kleingewerbetreibende und Freiberufler ihr Betriebsvermögen vererben. Dann ist es nämlich so, daß ,der Erbe — mag es nun der Sohn oder die Frau sein— die im Betriebsvermögen enthaltenen Außenstände zweimal versteuert: einmal als Teil des Betriebsvermögens mit Erbschaftsteuer und einmal — beim Zufluß — mit Einkommensteuer.
Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist in seinen Problemen bereits bei der Beratung des Zweiten Steuerreformgesetzes, Teil Erbschaft- und Schenkungsteuer, vorgetragen worden. Seinerzeit ist uns gesagt worden: Systematisch paßt der Antrag besser zur Einkommensteuer und nicht zur Erbschaftsteuer. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs — in einem mir vorliegenden Urteil vom 25. April 1968 — bestätigt diese Meinung des Finanzausschusses. Wir haben daher damals die Forderung, der Belastung dieses Teils der Erbschaft mit der späteren Ertragsteuer durch einen Abzug gerecht zu werden, im Einvernehmen mit den Koalitionsfraktionen fallengelassen.
Nun steht das Zweite Steueränderungsgesetz 1973 als erstes Einkommensteuergesetz zur Debatte, das auch noch den Vorteil hat, daß es vom gleichen Stichtag an wie das neue Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz angewendet werden soll. Ich darf feststellen, daß der Finanzausschuß sich einig war, daß etwas geschehen soll, und zwar bei der Einkommensteuer. Ich darf hinzufügen, daß wir bereits eine Regelung im Einkommensteuergesetz haben, die vorsieht, daß das, was der Erbschaftsteuer bereits unterlegen hat, bei der Veräußerung eines Betriebes nicht noch einmal als Veräußerungsgewinn besteuert wird. Wir haben im § 16 Abs. 5 also eine absolute Parallelvorschrift, in welcher gesagt wird: Was einmal mit Erbschaftsteuer belastet war, soll nicht noch einmal mit Einkommensteuer und den daran anhängenden Annexsteuern belastet werden.
In den Gründen des Urteils vom 25. April 1968 des Bundesfinanzhofs ist auch eine Stelle zitiert aus
der Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 7, Seite 182, aus der genau hervorgeht, daß auch die Einkommensteuerkommission beim Bundesministerium der Finanzen diese Meinung teilt. Es heißt — ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten ein kurzes Zitat einfügen —:
Die Ermäßigung soll jedoch nur dann gewährt werden, wenn die stillen Reserven, die als Veräußerungsgewinn in Erscheinung treten, bereits der Erbschaftsteuer unterlegen haben, das heißt, es soll eine Doppelbelastung dieser stillen Reserven durch Erbschaftsteuer und Einkommensteuer vermieden werden.
Exakt so sieht der Antrag der CDU/CSU-Fraktion aus, nach dem die Einkommensteuer nur insoweit gemindert werden soll, als bereits Erbschaftsteuer auf diesen Dingen gelegen hat. Der wesentliche Inhalt ist, daß in Verfolg der Meinung des Bundesfinanzhofs grundsätzlich die Einkommensteuer im Vordergrund zu stehen hat und darauf die Erbschaftsteuer anzurechnen ist und nicht umgekehrt. Das Zweite ist, daß die Erbschaftsteuer nur insoweit angerechnet werden soll, als Einkommensteuer auf den betreffenden Gegenstand entfällt, und daß die Erbschaftsteuer auch nur entsprechend der Höhe dessen angerechnet werden soll, was den steuerpflichtigen Erwerb erhöht hat. Ferner ist in dem Antrag, weil die Finanzverwaltung diese Dinge nicht ad infinitum überwachen kann, ein Fünfjahreszeitraum für diese Regelung vorgesehen. Wenn die fünf Jahre vorbei sind und dann noch Zuflüsse erfolgen, wären sie voll steuerpflichtig.
Meine Damen und Herren, dieses Unrecht besteht seit nunmehr über 80 Jahren, und ich glaube, dieses Haus ist gerufen, dieses Unrecht heute zu beseitigen. Daher bitte ich namens der CDU/CSU-Fraktion, dem Änderungsantrag auf Umdruck 1886 zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schinzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich kann sagen, daß die Koalition mit der Opposition darin einig ist, daß dieses Problem zu lösen ist, und auch wohl in der Richtung übereinstimmt. Wir sind aber der Auffassung, daß es sich hier nicht um eine grobe Ungerechtigkeit handelt, sondern um eine Feinregelung, die zu treffen ist, und gerade weil es eine Feinregelung ist, ist die Materie besonders komplex und muß besonders beraten werden. Unsere Zusage gilt nach wie vor, daß wir dieses Problem im Rahmen der Einkommensteuerreform noch eingehend beraten und dann dieses Problem auch entsprechend lösen wollen.
Wortmeldungen? — Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag Drucksache 1886. Wer zustimmt, den bitte ich um das
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Vizepräsident von HasselHandzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe! — Mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen ist dieser Antrag abgelehnt.Ich rufe den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 7/1902 auf. Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich darf darüber abstimmen lassen. Wer der gemeinsamen Vorlage auf Drucksache 7/1902 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? Es ist einstimmig so beschlossen.Wir kommen dann zur Abstimmung über den gesamten Art. 1, in dem, abgesehen von dem gemeinsamen Antrag, nichts geändert wurde. Wer dem Art. 1 in zweiter Lesung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. -- Er ist mit den Stimmen der SPD und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.Ich rufe den Art. 2 — Drucksache Seite 14 — auf. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? -Er ist einstimmig angenommen.Ich rufe den Art. 3 auf Seite 16 auf. Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Er ist einstimmig angenommen.Ich rufe den Art. 4 auf Seite 18 auf. Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Er ist einstimmig angenommen.Wir kommen nunmehr zu dem Antrag Drucksache 7/1895 mit einem neuen Art. 4 a.Das Wort hat zur Begründung der Abgeordnete Kiechle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Antrag ist parteipolitisch nicht kontrovers. Im Gegenteil, alle drei Parteien haben sich im letzten Deutschen Bundestag eindeutig zu dem, was dieser Änderungsantrag besagt, klar mit Ja geäußert.
Als im Jahre 1971 das Mühlen-Strukturgesetz verabschiedet wurde, ging das Hohe Haus davon aus, daß die für die Strukturänderung notwendigen und erwünschten Stillegungsprämien umsatzsteuer- oder besser mehrwertsteuerfrei sein sollten. In der Folgezeit hat die Verwaltung diesen politischen Willen des Hohen Hauses nicht akzeptiert, sondern aus dem Gesetzestext das Gegenteil herausgelesen und ihn auch so interpretiert. Daraufhin wurde ein Änderungsantrag im zuständigen federführenden Ausschuß des Deutschen Bundestages, im Ernährungsausschuß, behandelt, aus dessen Protokoll ich Ihnen einen Satz verlesen möchte. Der Änderungsantrag ist genauso formuliert, wie er Ihnen heute wieder vorliegt, und das Protokoll weist aus:
Auf Vorschlag des Vorsitzenden stimmt der Ausschuß dieser Anregung der Bundesregierung einmütig zu.
Leider ist der Antrag wegen der frühzeitigen Auflösung des Deutschen Bundestages hier nicht mehr verabschiedet worden.
Er liegt Ihnen nunmehr endgültig vor. Er soll einen Tatbestand, bei dem der politische Wille dieses Hohen Hauses gegen die Interpretation durch die Verwaltung steht, ändern, und zwar zugunsten des einmütigen politischen Willens aller drei Parteien. Insofern stellt er auch einen Akt der Rechtswiedergutmachung -- jedenfalls aus der Sicht der Politik betrachtet — dar. Er ist außerdem ein Akt, der, wie ich glaube, bewirkt, daß das Vertrauen der betroffenen Bürger in die Parlamentarier durch eine Gesetzesänderung gerechtfertigt wird.
Ich bitte Sie daher, diesem Gesetzesantrag Ihre Zustimmung zu geben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Halfmeier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Herr Kollege Kiechle sagt, dieser Antrag sei parteipolitisch nicht kontrovers, dann muß ich allerdings sagen: Es kann sich nur um Parteipolitiker handeln, die vom Steuerrecht nichts verstehen; denn die Ansicht des Finanzministeriums ist völlig eindeutig immer die gewesen, daß es unmöglich ist, hier so zu verfahren und diese Dinge von der Umsatzsteuer zu befreien.Herr Kiechle hat diesen Antrag mit Bleichlautender Begründung und fast Bleichlautendem Text schon einmal als Initiativantrag hier im Hause eingebracht, und zwar am 9. Mai des vergangenen Jahres. Damals war er allerdings gut beraten und hat diesen Antrag zwei Tage später, am 11. Mai, wieder zurückgezogen, bevor er hier behandelt werden konnte.Ich möchte wünschen, daß er auch heute so gut beraten wäre — er und seine Kollegen — und diesen Antrag zurückzöge. Das würde es uns ersparen, diesen Antrag ablehnen zu müssen. Denn wir würden hiermit einen Präzedenzfall schaffen, der von unerhörter Tragweite wäre. Wir würden hierbei Berufungsfälle für zahlreiche Geschäftsaufgaben und Geschäftsveräußerungen schaffen. Das kann nicht angehen.Wir sind uns auch darin einig — einig über die Parteien hinweg, z. B. in der Europäischen Gemenschaft —, meine Damen und Herren, daß — ausgerechnet heute, an dem Europa-Tag — hier ein Antrag eingebracht wird, der genau diametral entgegengesetzt zur Entwicklung der Steuerharmonisierung in Europa läuft, indem er nämlich der 6. Harmonisierungsrichtlinie widerspricht, die uns allen längst auf dem Tisch liegt;
das ist allerdings schon fast ein wenig peinlich. Aber wir sind uns darin auch mit allen Ländern in der Bundesrepublik einig. Sämtliche Referenten der Länder, auch die der CDU/CSU-regierten Länder, haben einstimmig empfohlen, diesen Antrag abzulehnen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6161
Half meierSo bitte ich dieses Haus, diesen Antrag abzulehnen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag Drucksache 7/1895. Wer dem Antrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis ist dieser Antrag abgelehnt worden.
Ich rufe die Art. 5 und 6 sowie Einleitung und Überschrift zur Abstimmung in zweiter Lesung auf. Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Die Art. 5 und 6 sowie Einleitung und Überschrift sind mit den Stimmen der SPD und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Ich schließe die zweite Beratung.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Für die dritte Beratung haben sich bereits einige Kollegen zu Wort gemeldet.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Schinzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hinter der unscheinbaren Bezeichnung „Zweites Steueränderungsgesetz" verbergen sich nicht nur einige Bestimmungen, die bestehende Steuervorschriften verlängern bzw. Steuervergünstigungen weiter gewähren sollen, sondern auch einige politisch bedeutsame Verbesserungen bzw. Vereinfachungen des geltenden Einkommensteuerrechts.Durch die Anhebung der Grenze für die regelmäßige Veranlagung verheirateter Arbeitnehmer von 24 000 DM auf nunmehr 48 000 DM jährlichen Einkommens in den Fällen, in denen nur ein Ehegatte Arbeitslohn bezieht, werden bereits für das Veranlagungsjahr 1973 eine viertel Million Veranlagungsfälle weniger von den Finanzämtern zu bearbeiten sein. Dies bedeutet deswegen für die Steuerverwaltung eine Vereinfachung, weil die Bearbeitung eines Antrags auf Lohnsteuerjahresausgleich nur ein Viertel der Arbeitszeit erfordert, die man für die Durchführung einer Veranlagung benötigt.Für die betroffenen Arbeitnehmer — bei einem Jahreseinkommen von 24 000 bis 48 000 DM dürfte es sich im wesentlichen auch um qualifizierte Facharbeiter und Meister handeln — ergibt sich, daß sie nunmehr im Rahmen des Lohnsteuerjahresausgleichs wesentlich früher in den Genuß der ihnen zustehenden Steuerrückerstattung kommen. Die vorgesehene Regelung führt bereits für das Jahr 1973 zu einer steuerlichen Entlastung dieser Arbeitnehmer in Höhe von 25 Millionen DM, die dadurch entsteht, daß künftig Nebeneinkünfte bis zu einer Höhe von 800 DM jährlich nunmehr auch bei den Arbeitnehmern, die zwischen 24 000 DM und 48 000 DM jährlich verdienen, steuerfrei bleiben.Der Entwurf trägt außerdem der besonderen energiepolitischen Situation und der Notwendigkeiteiner beschleunigten Erschließung unserer einheimischen Energiequellen Rechnung. Auslaufende Steuervergünstigungen für bestimmte Investitionen im Bergbau werden unbefristet verlängert und erweitert auf Investitionen im Tagebaubetrieb des Braunkohle- und Erzbergbaus. Dabei handelt es sich um Investitionen in einer Größenordnung von 6 Milliarden DM für die nächsten zwölf Jahre. Diese Erweiterung führt zu einer durchschnittlichen Steuerentlastung pro Jahr in Höhe von 150 Millionen DM. Davon entfallen allein auf die Aufschließung des Hambacher Forstes rund 100 Millionen DM.Eine Nebenbemerkung dazu: Unabhängig davon, ob man die Konstruktion der Ruhrkohle AG befürwortet oder kritisiert, kann man eines rückblickend, glaube ich, eindeutig feststellen: daß sich die steuerliche Vergünstigung für die Erhaltung der heimischen Förderkapazitäten als richtig erwiesen hat.Die SPD-Fraktion begrüßt, daß mit dem Zweiten Steueränderungsgesetz jetzt endlich das schon oft vorgetragene Anliegen verwirklicht wird, erhöhte Absetzungen für Modernisierungsaufwendungen für Wohngebäude vorzusehen, die nach 1948, aber vor 1957 fertiggestellt worden sind. Damit können auch für diese Wohngebäude u. a. energiesparende Maßnahmen, wie z. B. der Einbau von Doppelfenstern oder von isolierenden Türen, steuerbegünstigt durchgeführt werden. Wir erwarten, daß diese steuerliche Vergünstigung Anlaß zu verstärkten Modernisierungsaufwendungen sein wird. Die Fraktion der SPD geht davon aus, daß diese Vergünstigung im Verbund mit den weitergehenden Maßnahmen seitens des Städtebauministeriums zu einer Behebung eines Übelstandes in unseren Städten beitragen wird. Ich meine damit die Praktiken bestimmter Makler und Hausbesitzer, Investitionen in Altbauten bewußt zu unterlassen, um die Voraussetzung für einen baldigen Abriß zu schaffen. Ziel dieses Verhaltens ist, wie wir es alle in unseren Städten selbst erleben können, durch Erstellung von Neubauten unter Einbeziehung gewerblich genutzter Flächen entsprechend profitablere Mieten zu erreichen. Mieter, die zum Teil 20 Jahre und mehr in solchen Häusern gelebt haben, werden rücksichtslos verdrängt. Gerade diesen Mietern soll durch diese steuerliche Maßnahme geholfen werden.
Entsprechend den schiffahrtspolitischen Leitsätzen der Bundesregierung von 1972 hat der Ausschuß zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Schiffahrt eine Anhebung der zulässigen Sonderabschreibung von 30 auf 40 °Io beschlossen. Die Begünstigung ausländischer Schiffahrtseinkünfte wird künftig nur bei Schiffen erfolgen, die die Flagge der Bundesrepublik führen. Diese Regelung begrüßt die SPD-Fraktion besonders, weil sie dazu beiträgt, das Unwesen des Ausflaggens einzudämmen, das oft mit dem Ziel erfolgt, die sozialeren Heuerbestimmungen der Bundesrepublik zu umgehen, was zu Lasten der in der Schiffahrt Beschäftigten geht.Eine Bemerkung am Rande: Nachdem wir nun in diesem Gesetz eine angemessene Ausweitung der steuerlichen Vergünstigung für den Bereich der
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6162 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
SchinzelSchiffahrt vorgesehen haben, will ich eins hinzufügen: Die Fraktion der SPD würde es sehr begrüßen, wenn die Regierung in absehbarer Zeit ein Gesamtkonzept für den Bereich der Schiffahrt und des Schiffbaus vorlegte, in dem das Prinzip indirekter Subventionierung durch steuerliche Vergünstigung so weit wie möglich zugunsten überschaubarer direkter Subvention abgebaut wird.Nachdem die land- und forstwirtschaftlichen Zusammenschlüsse schon grundsätzlich von der Vermögens- und Gewerbesteuer befreit wurden, werden sie nun im Rahmen dieses Gesetzes von der Körperschaftsteuer befreit bzw. durch hohe Freibeträge begünstigt. Mit dieser Maßnahme wird die Bildung landwirtschaftlicher Zusammenschlüsse wirksam gefördert. Bestehende Zusammenschlüsse werden durch die steuerliche Entlastung unterstützt. Diese Förderung und Unterstützung der landwirtschaftlichen Kooperation wird die Stellung der Landwirte am deutschen und europäischen Markt stärken und helfen, eine zersplitterte Betriebsstruktur durch kooperatives Wirtschaften zu kurieren. Die Sozialdemokraten verweisen an dieser Stelle auch darauf, daß sie ein 1972 im Rahmen ihres Wahlprogramms gegebenes Versprechen an die Landwirtschaft damit einlösen.
Namens der SPD-Fraktion, meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, dieser Gesetzesvorlage in der dritten Lesung zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Bremer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst eine Bemerkung zu Ihnen, Herr Dr. Böhme. Sie meinten vorhin, die Tatsache, daß wir im dritten Durchgang im Finanzausschuß noch einen Antrag gestellt hätten, gebe Ihnen Veranlassung und das Recht, dies als ein unseriöses Verfahren darzustellen. Dem können wir nicht folgen. Ich finde, es ist ein ganz normales Verfahren, wenn wir auf Grund neuer Erkenntnisse im dritten Durchgang im Finanzausschuß noch einen Antrag stellen. Das werden wir auch in der Zukunft so halten.
Aber nun zu dem Gesetz, das uns hier beschäftigt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Es ist eigentlich ein Paradefall für ein Gesetz, wie es nicht zustande kommen und auch nicht aussehen sollte.Es ist zunächst die Frage zu stellen, ob es überhaupt in diesem Zeitpunkt noch notwendig war. Als der Entwurf dem Finanzausschuß in den ersten Wochen dieses Jahres vorgelegt wurde, verbreiteten die Koalitionsparteien ebenso wie die Bundesregierung selber noch die optimistische Vorstellung, das Dritte Steuerreformgesetz in seiner Gesamtheit zum 1. Januar 1975 in Kraft treten zu lassen und im Sommer dieses Jahres zu verabschieden. Das hätte eine zeitliche Aufeinanderfolge von zirka vier Monaten bedeutet. Jetzt ist das etwa auf drei Monate zusammengeschrumpft, mit der Folge, daß die Finanzverwaltung in diesem kurzen Abstand zwei Gesetzesänderungen zur gleichen Materie, vornehmlich also der Einkommensteuer, hätte verarbeiten müssen. Auf die Frage der Opposition im Finanzausschuß, wie sich das alles mit den wiederholten Bekenntnissen der Regierung zur Steuervereinfachung vereinbare, erhielt sie die Antwort, allein schon die Anhebung der Veranlagungsgrenze auf 48 000 DM sei von solcher Dringlichkeit, daß höchste Eile für dieses Gesetz geboten sei. Das war am 31. Januar dieses Jahres.Dann gingen viele Wochen ins Land, ohne daß eine Spur von diesem Gesetz zu entdecken war. Es sickerte lediglich durch und wurde später öffentlich durch den Parlamentarischen Staatssekretär Porzner bestätigt, daß die Koalition an einer Änderung von schiffahrtspolitischen Vorschriften, die denn auch inzwischen Eingang in das Gesetz gefunden hat, sowie an einer Unterbindung des sogenannten negativen Kapitalkontos arbeite,
also einer für die Kommanditisten von sogenannten Abschreibungsgesellschaften einschneidenden Änderung.
— Ich werte das gar nicht; ich stelle nur dar, wie es gelaufen ist.Als der Ausschuß dann Mitte März die Beratung wieder aufnahm, fand die Geburt dieser Änderungsvorschrift jedenfalls nicht statt.
Auf die Frage der Opposition nach den Absichten der Regierung auf dem Terrain der Abschreibungsgesellschaften wurde lediglich klargestellt, daß keine rückwirkende Änderung — was ja wohl auch kaum möglich gewesen wäre — geplant sei. Alles andere steht nach wie vor in den Sternen, — ein kleiner Ausschnitt aus der Unzahl von Lebensbereichen, in die die Regierung mit mehr oder weniger vagen Andeutungen immer wieder erneute Unsicherheit hineinträgt.Jedenfalls bedurfte es erst des Drängens der Opposition, um dieses als überaus eilbedürftig bezeichnete Gesetz in die parlamentarische Schluß-runde zu bringen.
Die Bedenken der Opposition, daß hier ein Gegenbeispiel für Verwaltungsvereinfachung exerziert wird, sind auf diese Weise weiß Gott nicht geringer geworden, dies um so mehr, als auf der „Klima"- Tagung der Finanzverwaltung hier in Bonn in der vergangenen Woche die hoffnungslose Überlastung der Finanzverwaltung wohl allen Verantwortlichen und, wie es scheint, auch dem Bundesfinanzminister deutlich geworden ist.Die Regierung ist von daher aufzurufen, in der Zukunft steuerrechtliche Änderungen unter größerer
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6163
BremerRücksichtnahme auf die Situation in der Steuerverwaltung und auch auf den Steuerbürger zu planen. Verbale Kraftakte und Kenntnisse zur Steuervereinfachung helfen den geplagten Beamten und Angestellten an der Steuerfront ebensowenig weiter wie dem malträtierten Bürger, an den sich das Gesetz letztlich wendet.Inzwischen, also während der Zeitspanne, in der das Gesetz in den Händen des Finanzausschusses lag, war aber noch etwas mehr geschehen. Die Koalition legte dem Finanzausschuß eine sogenannte Formulierungshilfe zum Dritten Steuerreformgesetz vor, eine milde Umschreibung für das Eingeständnis, daß mit diesem Extrakt aus der Reformvorlage das in den Augen der Regierung noch zeitlich Machbare beschrieben werden sollte. Schamhaft wurde verschwiegen, daß die Reformvorlage
— ich komme gleich dahin; wird sind unmittelbar am Thema, Herr Offergeld — damit in einem Kernbereich, dessen Bestimmungen zum 1. Januar 1975 in Kraft treten sollen, und in eine sogenannte Strukturreform, die später nachfolgen soll, aufgesplittet worden ist. Dieses erste Anzeichen für eine von der Opposition seit eh und je geforderte realistischere Beurteilung der zeitlichen Möglichkeiten und Gegebenheiten für die parlamentarische Beratung einer immerhin 420 Seiten umfassenden Vorlage veranlaßte die Koalition, nun neun zusätzliche Änderungsvorlagen zum Zweiten Steueränderungsgesetz in die Beratung einzubringen. In der Hauptsache waren sie durch die Überlegung ausgelöst, daß die damit beabsichtigte Gesetzesänderung keinen zeitlichen Aufschub bis zu der auf später verschobenen Strukturreform duldet. Genau mit dieser gleichen Motivation und Begründung hat die Fraktion der CDU/ CSU einige Anträge eingebracht, die nach unserer Auffassung keinen Aufschub duldeten, nur haben Sie diesen Anträgen die Zustimmung versagt, während wir den Anträgen der Koalition, die sie eingebracht hat, durchaus unser Einverständnis gegeben haben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf diese Weise ist das Gesetz zu einem bunten Sammelsurium, so kann man sagen, angewachsen, das sich selbst für einen Fachmann nur noch nach intensivem Studium durchschauen läßt. Auf der Strecke geblieben ist dabei nicht nur die Forderung nach Steuervereinfachung, auf der Strecke geblieben ist mal wieder ein Stück Vertrauen in die Seriosität unserer Steuergesetzgebung überhaupt.
Es verdichtet sich vielmehr der Eindruck eines heillosen Durcheinanders ebenso wie des Mangels an realistischem Augenmaß für das, was unter dem Erfordernis eines sorgfältigen Gesetzgebungsverfahrens noch machbar ist.
Die Koalition wäre im übrigen gut beraten, wennsie entsprechende Überlegungen auch noch einmalzum Dritten Steuerreformgesetz, das im Momentim Finanzausschuß beraten wird, bzw. zu dem, was davon noch übriggeblieben ist, anstellen würde.In der Sache begrüßen wir besonders die Anhebung der Veranlagungsgrenze auf 48 000 DM wegen des damit verbundenen Vereinfachungseffekts. Im übrigen hätten wir dies schon lange haben können. Der Antrag ist von uns bereits im vergangenen Jahr gestellt worden. Es besteht also keine Veranlassung, dies auf die Fahnen der Regierung zu schreiben.
— Damals hat es die Koalition abgelehnt.Ebenso wird von uns die Neuregelung und zeitliche Verlängerung der schiffahrts- und energiepolitischen Steuervergünstigungen begrüßt. Auch wird mit der Ausdehnung der steuerlichen Vergünstigungen für landwirtschaftliche Kooperationen einer seit langem notwendigen Anpassung an neue Betriebsstrukturen in diesem Bereich Rechnung getragen. Es handelt sich, um auch dies herauszustellen, mit Ausnahme der wieder eingeführten Bewertungsfreiheit im Bergbau-Tagebau in keinem Falle um prinzipiell neue oder zusätzliche Steuervergünstigungen.Die CDU/CSU wäre bereit gewesen, meine Damen und Herren, diesem Gesetzentwurf ihre Zustimmung zu geben, wenn unsere Anträge ebenfalls Berücksichtigung gefunden hätten. Das ist nun leider nicht der Fall. In unseren Augen haben diese von uns eingebrachten und von Ihnen, meine sehr ge- ehrten Damen und Herren von der Koalition, abgelehnten Anträge ein solches Gewicht, daß wir uns nicht in der Lage sehen, diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung zu geben.
Das Wort hat der Abgeordnete Vohrer. Es ist die letzte Wortmeldung, danach kommt die Abstimmung.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Vohrer!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der Fraktion der FDP möchte ich zum Zweiten Steueränderungsgesetz 1973 folgende Erklärung abgeben:Die Freien Demokraten sind mit der Zielsetzung dieser Gesetzesänderung einverstanden, wonach die zum 31. Dezember 1973 befristeten Steuergesetze in ihrer Geltungsdauer so verlängert werden sollen, daß sie einen reibungslosen Anschluß an das Dritte Steueränderungsgesetz finden. Wir sehen auch die Notwendigkeit, einige dringende Änderungen im geltenden Einkommensteuerrecht vorzunehmen, um dadurch gesetzliche Steuerlücken zu schließen und notwendige Klarstellungen vorzunehmen. Wer jedoch von uns erwartet, daß wir mit dem Zweiten Steueränderungsgesetz essentielle Teile des Dritten Steuerreformgesetzes vorwegnehmen würden, der sieht sich getäuscht.
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6164 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974
Dr. VohrerWir sind nicht gewillt, das Steuerreformpaket aufzuschnüren
und Rosinen aus diesem Paket herauszupicken. Wir verwirklichen in diesem Steueränderungsgesetz auch nicht die von der Opposition immer wieder vorgebrachten Vorschläge erhöhter Freibeträge. Gegen alle Unkenrufe werden wir alles daransetzen, das Dritte Steuerreformgesetz zum 1. Januar 1975 in der Form in Kraft zu setzen, wie wir es politisch für richtig halten,
nämlich mit einem gerechten Familienlastenausgleich, einem die unteren Einkommensgruppen entlastenden Steuertarif, einer Anhebung von Grundfreibetrag und Arbeitnehmerfreibetrag sowie der Freibeträge für Alleinstehende mit Kindern und für Körperbehinderte, einer Neuregelung und Anhebung der Sonderausgaben, die nicht mehr die Hocheinkommensgruppen bevorzugt, einer Entlastung der Sparerträge und einer Verbesserung der Altersbesteuerung.Um dieses Gesetzesvorhaben gründlich beraten und bis Mitte Mai in diesem Hohen Hause verabschieden zu können, scheut meine Fraktion im Finanzausschuß keine Mühe.Zum sachlichen Inhalt des Zweiten Steueränderungsgesetzes kann ich mich weitgehend auf meinen Vorredner, Herrn Schinzel, beziehen. Dabeimöchte ich nicht versäumen, den sehr sorgfältigen und ausführlichen Bericht des Kollegen Bremer zu loben und ihm hierfür meinen Dank auszusprechen.Die FDP begrüßt, daß die Veranlagungsgrenze für verheiratete Arbeitnehmer von bislang 24 000 DM auf 48 000 DM erhöht wird, was zu einer Arbeitsentlastung der Finanzverwaltung führt.In den steuerlichen Vergünstigungen des Bergbaus sehen wir auch einen Beitrag zur derzeitigen Energiepolitik.Mit der Möglichkeit zur erhöhten Absetzung von Modernisierungsaufwendungen für Wohngebäude, die vor dem 1. Januar 1957 fertiggestellt wurden, kommen wir den berechtigten Forderungen der Hausbesitzer nach und geben ihnen einen Anreiz zur Erhaltung und Verbesserung der Qualität der Wohnungen.Der Situation der Reeder versuchen wir durch die Anhebung der Sonderabschreibungen auf 40 % gerecht zu werden, die wir bis Anfang 1979 befristen.Mit der klaren gesetzlichen Abgrenzung des der Bundesrepublik Deutschland zustehenden Anteils am Festlandsockel, soweit dort Explorationen durchgeführt werden, als Inland im Sinne des Einkommen-, des Körperschaft- und des Gewerbesteuergesetzes schließen wir eine steuerrechtliche Lücke, die gerade im Zusammenhang mit der Energiegewinnung in diesem Bereich von Bedeutung sein wird.Besonders hervorhebenswert erscheinen mir noch zwei Regelungen, die für die landwirtschaftlicheStrukturpolitik von Bedeutung sind. Durch erhöhte Freibeträge werden wir die Veräußerung von land-und forstwirtschaftlichen Betrieben begünstigen und somit die Mobilität des Bodens verbessern. Auch das steuerrechtliche Hemmnis für moderne kooperative Betriebsformen beseitigen wir mit dem Zweiten Steueränderungsgesetz. Im Körperschaftsteuerrecht wird ein Betrag von 30 000 DM als Freibetrag für Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften sowie Vereine, die Land- und Forstwirtschaft betreiben, eingefügt, der zur Folge hat, daß die von der Agrarstruktur gewünschten Betriebsformen nicht steuerlich diskriminiert werden.Gerade vor diesem Hintergrund ist die Ablehnung des gesamten Zweiten Steueränderungsgesetzes durch die Opposition wenig verständlich. Man kann sich nicht einerseits landwirtschaftsfreundlich geben und dann wegen einiger sehr obskurer Anträge, die nicht die Zustimmung der Koalitionsparteien fanden, der gesamten Gesetzesänderung seine Zustimmung versagen. — Herr von Bockelberg, ich gehe auf Ihre Intervention gerne ein, damit Sie beruhigt sind und wissen, was ich darunter verstehe. Als einen solchen von mir als obskur bezeichneten Antrag sehe ich beispielsweise den von der CDU/ CSU geäußerten Wunsch an, einen neuen § 32 b einzufügen, demzufolge die Bundesregierung jährlich einen Jahrestarifbericht vorlegen soll, um die steuerliche Tarifgestaltung von der Entwicklung des Lebenshaltungskostenindexes abhängig zu machen. Mit diesem Antrag zeigt die Opposition einmal mehr, daß es ihr mit der Bekämpfung inflationärer Erscheinungen nicht ernst ist.
Während bislang die progressive Gestaltung des Einkommensteuertarifs noch ein erhebliches staatliches Hindernis für übersteigerte Lohn- und Gewinnraten darstellte, würde durch eine laufende Anpassung des Tarifs eine staatliche Inflationsbegünstigung vorgenommen. Wir sollten in diesem Hohen Hause genügend Sachverstand und politischen Willen besitzen, um den Tarif bewußt konjunkturpolitisch und in diesem Falle antizyklisch zu ändern.
Eine Anlehnung des Tarifs an den Lebenshaltungskostenindex bedeutet letztlich einen Schritt in Richtung Aufhebung des Nominalwertprinzips des Geldes. Durch solche Maßnahmen wird die Inflation institutionalisiert. Dies widerspricht jeglicher verantwortungsbewußter Stabilitätspolitik. Die FDP hat für solche opportunistischen, untauglichen finanzpolitischen Versuche der Opposition wenig Verständnis. Die FDP wird durch ein abgestimmtes Instrumentarium von finanzpolitischen, wirtschaftspolitischen und geldpolitischen Maßnahmen mit dazu beitragen, wirkungsvoll gegen die gegebenen Inflationsraten anzukämpfen.Aus allen diesen Überlegungen heraus kann ich die Zustimmung der FDP zu dem vorliegenden Zweiten Steueränderungsgesetz zum Ausdruck bringen. — Aber Herr Wagner, das ist doch ganz naheliegend.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1974 6165
Dr. VohrerWenn Sie hier diese Logik anzweifeln, dann müssen Sie auch den Nachweis führen.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal darauf hinweisen, daß sich die FDP mit ganzer Kraft dafür einsetzen wird, daß die Eckwerte der dritten Steuerreform bis zum 1.1. 1975 in Kraft treten können.
Ob Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, dieses Steuerreformgesetz dann durch Ihre bislang gezeigte Bundesrats-Taktik wieder unterlaufen wollen, liegt bei Ihnen.
Wir wissen, daß wir mit dem eingebrachten Zweiten Steueränderungsgesetz und mit dem kommenden Steuerreformgesetz auf dem richtigen Weg sind. Meine Fraktion und ich würden es begrüßen, wenn sich in der Opposition
ein Lernprozeß breitmachen würde, der auch Sie da-zu veranlassen könnte, unseren Weg zu beschreiten.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die dritte Beratung. Ich darf Sie bitten, zur Abstimmung Platz zu nehmen.
Wir kommen nach der Beendigung der dritten Beratung zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz in dritter Beratung zustimmt, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? —
Das Gesetz ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition ohne Enthaltungen angenommen worden.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer heutigen Sitzung angelangt. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen früh, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.