Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Die Tagesordnung wird um eine Erklärung der Bundesregierung ergänzt. Diese Erklärung wird heute um 15 Uhr abgegeben.
Weiterhin ist interfraktionell vereinbart worden, die Punkte 2 bis 4 von der Tagesordnung dieser Woche abzusetzen, so daß am Donnerstagmorgen die steuerpolitische Debatte — Punkte 5 und 6 der Tagesordnung — um 9 Uhr beginnt.
Die Berichte des Vermittlungsausschusses werden am Donnerstag um 16 Uhr aufgerufen. — Das Haus ist damit einverstanden.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Vorsitzende des Innenausschusses hat mit Schreiben vom 4. bzw. 6. September 1973 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden, bereits verkündeten Vorlagen keine Bedenken erhoben hat:
Verordnung des Rates zur Änderung der Regelung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Forschungsstelle, die in Karlsruhe (Deutschland) dienstlich verwendet werden
— Drucksache 7'915 —
Verordnung des Rates zur Angleichung der Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften
Die Mündlichen Anfragen für den Monat August werden zusammen mit den dazu erteilten schriftlichen Antworten als Drucksachen 7/1011, 7/1012, F1013 und 7/1014 verteilt.
Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat mit Schreiben vom 2. Oktober 1973 die Kleine Anfrage des Abgeordneten Rollmann und der Fraktion der CDU CSU betr. Förderung des Sozialdemokratischen Hochschulbundes aus dem Bundesjugendplan -- Drucksache 7/1006 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/1051 verteilt.
Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 1 auf:
Fragestunde
-- Drucksache 7/1044 —
Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft auf.
Hier liegt die Frage 64 des Herrn Abgeordneten Zebisch vor. Der Herr Fragesteller hat um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe dann den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz auf. Zur Beantwortung der Frage steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Bayerl zur Verfügung.
Die erste Frage — die Frage 22 — ist von dem Herrn Abgeordneten Schröder gestellt worden. Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 23 des Herrn Abgeordneten Dr. Evers auf. Auch der Herr Abgeordnete Dr. Evers ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 24 ist von dem Herrn Abgeordneten Dr. Schmude gestellt worden:
Zu welchem Ergebnis haben die in der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 21. Juni 1972 vom Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Bayerl erwähnten Überlegungen der Bundesregierung zur Neufassung des Eidesrechts bisher geführt?
Herr Staatssekretär!
Herr Präsident, gestatten Sie, daß ich beide Fragen zusammen beantworte?
Der Herr Kollege ist damit einverstanden. Ich rufe auch die Frage 25 des Herrn Abgeordneten Dr. Schmude auf:
Ist die Bundesregierung mit dem hessischen Justizminister Hemfler der Ansicht, daß dem zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichteten Staat die Legitimation zur Eidesabnahme fehlt, oder woraus leitet sie eine solche Legitimation her?
Herr Kollege Schmude, zur Anpassung des Eidesrechts an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Bundesregierung nach dem Beschluß des Gerichts in einen Meinungsaustausch mit den Länderjustizverwaltungen, den Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie den interessierten Verbänden eingetreten. Dieser Meinungsaustausch findet noch statt. Die Bundesregierung hat zudem eine rechtsvergleichende Untersuchung eingeleitet, die noch nicht ganz abgeschlossen ist. Die Bundesregierung hält, ohne sich besseren
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2968 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Parl. Staatssekretär Dr. BayerlLösungen als Ergebnis der Erörterungen mit den Ländern und den Kirchen zu verschließen, vorläufig folgende Konzeption für erwägenswert.In den Verfahrensordnungen sollte es künftig alternativ und gleichwertig den Eid in religiöser Form und daneben eine rein weltliche „Bekräftigung der Wahrheit" geben. Diese Bekräftigung träte an die Stelle des Eides in der weltlichen Form, also ohne Anrufung Gottes und an die Stelle der Beteuerung der Religionsgesellschaften nach § 66 e der Strafprozeßordnung. Uber die freie Wahlmöglichkeit soll der Richter belehren. Strafrechtlich werden Eid und Bekräftigung hinsichtlich der Ahndung gleichbehandelt.Die Landesjustizverwaltungen haben sich zu diesem Vorschlag teils zustimmend, teils ablehnend geäußert. Eine endgültige Erörterung und 'Abstimmung ist für die nächsten Wochen in unserem Hause vorgesehen.Die Religionsgemeinschaften im Sinne des § 66 e der Strafprozeßordnung haben, soweit ihre Äußerungen vorliegen, dem Lösungsmodell zugestimmt. Auch die bisher vorliegenden Erkenntnisse der rechtsvergleichenden Untersuchungen zeigen, daß die Rechtsordnungen mehrerer Staaten gleiche oder ähnliche Regelungen für den verfassungsrechtlichen Eid enthalten.Der naheliegende Gedanke, die notwendige Änderung der Eidesvorschrift in einen der den gesetzgebenden Körperschaften bereits vorliegenden Gesetzentwürfe aufzunehmen, wird sich nur schwer verwirklichen lassen. Die Vorarbeiten für eine fundierte Lösung, die notwendige Abstimmung mit vielerlei Gesetzen, den Ländern und Religionsgemeinschaften sowie die notwendigen vielschichtigen Änderungen in vielen anderen Gesetzen werden einen anderen Weg erforderlich machen. Wir sind der Meinung, wir sollten diese Änderung im Zweiten Strafprozeßrechtsreformgesetz, das im nächsten Jahr den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegt wird, vornehmen.Zu Ihrer zweiten Frage, Herr Kollege Schmude. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts hat den Eid als Rechtsinstitut im Grundsatz nicht in Frage gestellt. Die Entscheidung der Grundsatzfrage, ob der Eid generell als Institut der staatlichen Rechtsordnung abgeschafft werden soll, bedarf umfangreicher Vorarbeiten, Prüfungen und Konsultationen, zumal auch die Fragen des Verpflichtungseides in diesem Zusammenhang zu prüfen sein werden.Wegen der rechtlichen Legitimation zur Abnahme von Eiden darf ich neben anderem insbesondere auf das Grundgesetz verweisen, das den Eid in den Art. 56 und 64 ausdrücklich vorsieht. Eine rechtspolitische Bewertung des Eides vermag die Bundesregierung erst nach Abschluß der notwendigen Prüfung zu geben.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, zu welchem Ergebnis hat die von Ihnen in der Fragestunde am 21. Juni 1972 angekündigte Prüfung geführt, ob der Zeugen- und Sachverständigeneid als Mittel der Wahrheitsfindung überhaupt noch erforderlich ist?
Herr Kollege Schmude, ich sagte Ihnen bereits, wir haben die Prüfungen noch nicht völlig abschließen können. Aber aus den von mir bereits genannten Vorstellungen, wie man die Frage lösen könnte, ersehen Sie ja die Antwort.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Kollegen Schmude.
Liegen der Bundesregierung irgendwelche tatsächlichen gesicherten Erkenntnisse darüber vor, daß der Zeugen- und Sachverständigeneid neben der Pflicht zur wahrheitsgemäßen uneidlichen Aussage eine Bedeutung zur Herbeiführung von wahren Aussagen hat?
Herr Kollege Schmude, wir haben zur Klärung dieser Frage, insbesondere im Hinblick auf die Grundsatzfrage, ob wir den Eid im Verfahren benötigen, eine sehr umfangreiche Umfrage in Auftrag gegeben. Sobald hierüber Ergebnisse vorliegen, bin ich gerne bereit, Sie davon zu unterrichten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Unterscheidet sich die von Ihnen geschilderte und von der Bundesregierung in Betracht gezogene nichtreligiöse Beteuerungsformel der Wahrheit einer Zeugen- oder Sachverständigenaussage von der völlig uneidlichen Aussage nur noch dadurch, daß dann eben eine gesteigerte Strafbarkeit auftritt? Oder was ist der Unterschied?
Sie unterscheidet sich erstens in der gesteigerten Strafbarkeit und auch dadurch, daß sie in der Form mehr herausgehoben ist, daß die Wahrheit im Verfahren förmlich bekräftigt werden muß.
Keine weiteren Zusatzfragen.Die Frage 26 ist von Herrn Abgeordneten von Schoeler eingebracht. — Der Abgeordnete ist nicht im Saale. Die Frage wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Die von der Frau Abgeordneten Dr. Lepsius eingebrachten Fragen 27 und 28 werden auf Wunsch der Fragestellerin schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Damit, meine Damen und Herren, sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz beantwortet. Ich bedauere, daß die Herren
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 2969
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenKollegen jetzt -- aber leider etwas zu spät — erst eingetroffen sind. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner zur Verfügung.Die Frage 41 ist von Herrn Abgeordneten Dr. Jens eingebracht:Beabsichtigt die Bundesregierung eine Novellierung des Gesetzes gegen Vetlbewerbsbeschränkungen, des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb oder eines anderen Gesetzes, damit Verbraucherorganisationen, die eine öffentliche Aufgabe erfüllen und deren satzungsmäßige Aufgaben darin bestehen, die Konsumenten über die freie Konsumwahl aufzuklären, die Möglichkeit erhalten, die Käufer aufzurufen, vom Kauf bestimmter Waren, deren Preis als üherhöht angesehen wird, Abstand zu nehmen?
Herr Kollege Dr. Jens, die Bundesregierung hält es nicht für erforderlich, gesetzliche Maßnahmen vorzuschlagen, um den Verbraucherorganisationen die Möglichkeit zu geben, vom Kauf bestimmter Waren abzuraten, weil deren Preis als überhöht angesehen wird. Solche Aufrufe, die sich allgemein auf bestimmte Waren und. nicht auf einzelne Unternehmen beziehen, sind bereits nach geltendem Recht grundsätzlich zulässig.
Die Aufrufe dürfen jedoch weder unmittelbar noch mittelbar durch einen Mitwettbewerber zum Zwecke des Wettbewerbs erfolgen. Sie dürfen keine unrichtigen Tatsachenbehauptungen enthalten. Sie dürfen lediglich zum Ziel haben, die Verbraucher zu informieren und zu veranlassen, vom Kauf der überteuerten Waren abzusehen. Sie dürfen auch nicht andere Marktbeteiligte diffamieren.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die nächste Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Jens auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung eine Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb oder eines anderen Gesetzes, damit die obengenannten Verbrauchorganisationen Aufrufe gegen einzelne oder alle Waren bzw. Leistungen bestimmter Hersteller, Handels- oder Dienstleistungsbetriebe, deren Angebote in preislicher und/oder qualitativer Hinsicht als unzumutbar betrachtet werden, erlassen können?
Aufrufe, die sich gegen einzelne oder alle Waren bzw. Leistungen bestimmter Unternehmen richten, sind nur unter besonderen Bedingungen zulässig. Werden bestimmte Unternehmen angesprochen, so liegt ein Aufruf zum Boykott vor, der für das Unternehmen auch über den Einzelfall hinausgehende weitreichende Folgen haben kann.
Die Interessen der Verbraucher an wirkungsvoller Information sind deshalb besonders sorgfältig gegen die -Interessen des Unternehmens abzuwägen. Das Ergebnis hängt sehr stark von den Umständen des einzelnen Falles ab; insbesondere werden neben dem Preis und der Qualität auch sonstige Leistungen des Unternehmers — wie etwa fachliche Beratung und Kundendienst — zu berücksichtigen sein. Das im Einzelfall zu beurteilen, muß den Gerichten überlassen bleiben.
Nach Auffassung der Bundesregierung ist es aber jedenfalls zulässig, die Preise verschiedener Unternehmen für individualisierbare Erzeugnisse — wie etwa den Kühlschrank einer bestimmten Seriennummer — einander gegenüberzustellen und so dem Verbraucher die Information zu übermitteln, wo er diese Ware am preisgünstigsten einkaufen kann. Der Verbraucher kann auch aufgerufen werden, für ein bestimmtes Erzeugnis nicht mehr als den Preis des preisgünstigsten Angebots zu zahlen. Die Bundesregierung sieht deshalb zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Anlaß, eine Gesetzesänderung vorzuschlagen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie meinen, daß unter Umständen eine Gesetzesnovellierung notwendig ist, damit die genannten Verbände die Möglichkeit bekommen, Verruferklärungen hinsichtlich Geschäftsbedingungen einzelner Unternehmen auszusprechen?
Wir halten eine Gesetzesänderung, wie ich schon ausführte, nicht für notwendig. Ich möchte hinzufügen, daß wir die Entwicklungen auf dem Gebiet der Verbraucherpolitik natürlich sehr aufmerksam beobachten und der Meinung sind, daß die Rechtsprechung hier Kriterien entwickeln wird, die dann auch etwa für eine gesetzliche Regelung Anhaltspunkte geben können; aber im gegenwärtigen Zeitpunkt sind dafür, wie ich schon sagte, keine ausreichenden Anhaltspunkte vorhanden.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir in der These zu: Es ist zwar richtig, der eingerichtete Gewerbebetrieb ist schutzbedürftig, aber dann, wenn in der Tat überhöhte Preise gefordert' werden, ist natürlich der Verbraucher genauso schutzbedürftig und muß als Schutzbedürftiger angesehen werden?
Ich stimme Ihnen in dieser Auffassung zu, betone aber, daß die gegenwärtige Rechtslage dem Verbraucher und seinen Organisationen durchaus die Möglichkeit gibt, dieses schutzwürdige Interesse der Verbraucher zu artikulieren.
Die nächste Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Zimmermann wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 44 des Herrn Abgeordneten Josten auf:
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2970 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenWeiche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, um die Bevölkerungsversorgung in ländlichen Gebieten für die Zukunft zu .sichern, nachdem durch den Strukturwandel im Einzelhandel z. B. in den letzten Jahren beim Lebensmitteleinzelhandel jährlich durchschnittlich ca. 10 000 Betriebe verlorengingen?Herr Staatssekretär!
Die Bundesregierung beobachtet den Strukturwandel im Einzelhandel selbstverständlich aufmerksam, vor allem im Lebensmitteleinzelhandel und seine Auswirkungen auf die Verbraucherversorgung, insbesondere in ländlichen Gebieten. Klagen von Verbraucherorganisationen über Versorgungsengpässe in ländlichen Gebieten sind bisher nicht bekanntgeworden. Die Erörterung dieses Fragenkomplexes setzt allerdings eine genaue Kenntnis dieses Prozesses in qualitativer und quantitativer Hinsicht voraus, und die bisher vorliegenden Unterlagen sind unvollständig und wenig stichhaltig.
Deshalb hat die Bundesregierung bereits vor einiger Zeit einem wissenschaftlichen Institut einen umfassenden Untersuchungsauftrag erteilt. In diesem Zusammenhang soll auch die Frage geprüft werden, wie sich das Ausscheiden wohnortnaher, kleiner Einzelhandelbetriebe auf die Versorgung der Konsumenten auswirkt. Die Untersuchungsergebnisse werden in wenigen Wochen vorliegen, ihre Auswertung wird unverzüglich erfolgen, und ich werde Sie im Anschluß daran gerne über die Strukturveränderungen im Einzelhandel und seine Auswirkungen auf die Verbraucherversorgung, soweit sie sich aus diesem Gutachten ergeben werden, informieren.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, nachdem Sie mir zusagen, daß Sie mir das Ergebnis dieser Untersuchung zuschicken wollen, ob die Regierung auch bereit ist, zu überprüfen, ob bei zukünftigen Steuergesetzgebungen für kleine Familienbetriebe Maßnahmen getroffen werden sollen, damit sie besser konkurrenzfähig bleiben können und dadurch der Schließungswelle im Einzelhandel, besonders hier bei der Lebensmittelbranche, entgegengewirkt werden kann.
Die Bundesregierung hat es sich zur Aufgabe gemacht, in jedem Einzelfall eines gesetzlichen Vorhabens zu prüfen, ob gerade mit Rücksicht auf mittelständische und kleinere Unternehmen die notwendige Differenzierung gewahrt ist. Wir werden an dieser Praxis festhalten und diese Praxis auch im Bereich des Steuerrechts einhalten, wie das auch die Steuerreformvorschläge dieser Bundesregierung sehr deutlich machen, wenn Sie daran denken, daß die Erhöhung des Gewerbesteuerfreibetrages auf 15 000 DM vorgesehen ist. Das ist eine Maßnahme, die speziell in diesem Bereich zu einer Entlastung beiträgt.
Im übrigen wollen wir die Ergebnisse dieser in Auftrag gegebenen Untersuchung abwarten, und ich wage keine Voraussage, ob etwa dieses Ergebnis zu weiteren Schritten Veranlassung geben wird.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Wir kommen zur nächsten Frage des Herrn Abgeordneten Vahlberg. Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal; die Frage wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 46 des Herrn Abgeordneten Wolfram auf:
Welche vorn Gesetzgeber nicht veranlaßten Strompreiserhöhungen hat die Elektrizitätswirtschaft in den letzten fünf Jahren vorgenommen, und hat die Bundesregierung festgehalten, ob die Elektrizitätswirtschaft solche Preiserhöhungen mit ähnlichen Anzeigen in den Tageszeitungen begleitet hat, wie dies jetzt im Zusammenhang mit dem Energieprogramm der Bundesregierung von seiten der Informationszentrale der Elektrizitätswirtschatt e. V. geschehen ist?
Seit Mitte der 50er Jahre bis zum Ende der 60er Jahre sind die Strompreise in der Bundesrepublik weitgehend konstant gewesen. Bis dahin haben die Elektrizitätsversorgungsunternehmen Erhöhungen der Brennstoffpreise und der Löhne sowie der Bau- und Materialpreise ganz überwiegend durch Rationalisierungsmaßnahmen aufgefangen. Seit Ende der 60er Jahre und verstärkt in den vergangenen zwei Jahren sind zunehmend Strompreiserhöhungen zu verzeichnen, ausgelöst vor allem durch starke Preiserhöhungen auf dem Brennstoff- und dem Investitionssektor. Zu diesen Strompreiserhöhungen kam es bei den einzelnen Versorgungsunternehmen zu verschiedenen Zeiten und bei einzelnen Kundengruppen auch in unterschiedlicher Höhe.
Auf die gesamte Stromabgabe an die Letztverbraucher bezogen, hat der durchschnittliche Strompreis in Pfennigen pro Kilowattstunde in der Bundesrepublik in den vergangenen fünf Jahren folgende Entwicklung genommen: von 1967 auf 1968 eine Senkung um 4 %, von 1968 auf 1969 eine Senkung um 4 %, von 1969 auf 1970 eine Senkung um 1 %, von 1970 auf 1971 eine Steigerung um 1 % und von 1971 auf 1972 eine Steigerung um 4 %. Der durchschnittliche Strompreis in Pfennigen pro Kilowattstunde hat damit 1972 in der Bundesrepublik wieder den Stand von 1968 erreicht.
Auch zu diesen Strompreiserhöhungen sind mehrere Pressemeldungen und großflächige Anzeigen in Tageszeitungen bekannt, mit denen die Elektrizitätswirtschaft ihre Kunden über den Grund dieser Erhöhungen informiert hat.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß die in der umstrittenen Anzeige aufgestellten Thesen irreführend, oberflächlich und der schwierigen Problematik der Sicherung der Energieversorgung nicht angemessen sind?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 2971
Die Bundesregierung teilt Ihre Auffassung, Herr Kollege Wolfram, daß diese Anzeige der Elektrizitätswirtschaft eher der Kritik an den beabsichtigten, aber noch gar nicht in Kraft getretenen Maßnahmen der Bundesregierung gegolten hat als etwa einer Information der von einer etwaigen Erhöhung betroffenen Kundschaft. Insofern würde ich Ihnen zustimmen, daß sich diese Anzeigenaktion in ihrer Qualität und Zielsetzung nach dem Eindruck, den die Bundesregierung von ihr gewonnen hat, von früheren Anzeigen über Preiserhöhungen unterscheidet.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, der Elektrizitätswirtschaft und den Stromverbrauchern in angemessener Form klarzumachen, daß es im vorliegenden Fall nicht primär um Kohlesubventionen, sondern — wie ich es formulieren möchte — um die Zahlung einer zumutbaren Versicherungsprämie zur Sicherung unserer zukünftigen Energieversorgung geht und daß es auch mehr als eigenartig ist, wenn ausgerechnet die Stromerzeuger, die kaum Wettbewerbsmärkte kennen, der Bundesregierung ordnungspolitische Lektionen erteilen?
Ilerr Kollege, das war eine sehr lange Zusatzfrage.
Herr Kollege, die Bundesregierung hat in ihrem Energieprogramm alle Gesichtspunkte angesprochen, die berücksichtigt werden müssen, wenn die Fragen der Sicherung unserer Energieversorgung diskutiert werden. Einer der entscheidenden Gesichtspunkte für dieses Energieprogramm ist die Sicherstellung der Energieversorgung insgesamt und damit die Verwendung der Steinkohle als Basis zur Sicherung dieser Energieversorgung. Die Bundesregierung ist der Meinung, daß dieser Sachverhalt von der Elektrizitätswirtschaft richtig gesehen wird, daß aber in der Anzeige Kritik an der Art geübt worden ist, in der diese Sicherstellung erfolgen soll, und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem sich die Bundesregierung noch in Gesprächen mit der Elektrizitätswirtschaft über die zweckmäßige Form befindet.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Freiherr von Fircks.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir bestätigen, daß Ihre für das Bundesgebiet genannten Durchschnittszahlen sehr große Abweichungen in einzelnen Regionen nicht ausschließen, und könnten Sie uns dabei sagen, ob die Ballungsräume oder die strukturell schwächer entwickelten Räume bevorzugt bzw. benachteiligt sind im Hinblick auf die Durchschnittskosten?
Herr Kollege, ich kann Ihnen hinsichtlich der Entwicklung des durchschnittlich gezahlten Preises je Kilowattstunde in den letzten fünf Jahren nur die Durchschnittswerte für die einzelnen Kundengruppen mitteilen, die natürlich auf das ganze Bundesgebiet bezogen sind, nicht jedoch differenziert sind nach einzelnen Regionen. Wir wissen, daß tatsächlich differenzierte Bedingungen bestehen. Das ergibt sich schon daraus, daß die Elektrizitätsunternehmen ihre Preise zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Sätzen — je nach Standort und anderen Faktoren — erhöht haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, kann ich aus all Ihren Antworten, die Sie bis jetzt auf die Fragen gegeben haben, schließen, daß das Energieprogramm, das die Bundesregierung aufgestellt hat, der Stromwirtschaft nicht sonderlich gefällt und daß die Stromwirtschaft mit der Anzeigenaktion versucht, die Bundesregierung bei den Verbrauchern zumindest etwas in Mißkredit zu bringen?
Ich bin der Meinung, daß auf Grund jener Anzeige der Elektrizitätswirtschaft dieser Eindruck entstanden ist. Aber bei unseren Gesprächen mit der Elektrizitätswirtschaft, bei denen wir diese Anzeigenaktion sehr deutlich angesprochen haben, ist klargeworden, daß wir es hier — ich möchte es einmal so nennen — eher mit einem Ausrutscher als etwa mit der Absicht der Elektrizitätswirtschaft zu tun haben, die tatsächlichen Schwierigkeiten, die mit einer Verwirklichung dieses Programms in Zusammenhang stehen, dem Kunden gegenüber in ein anderes Licht zu setzen, als es der Sache nach angemessen ist.Grundsätzlich hat die Elektrizitätswirtschaft auch in dieser Anzeige zum Ausdruck gebracht, daß sie die Sicherungsmaßnahmen für den Steinkohlenbergbau für notwendig hält und diese Sicherungsmaßnahmen unterstützt. Es geht hier lediglich um die Frage des Weges, die Frage der Aufbringung der Mittel. Daß Teile der Elektrizitätswirtschaft der Meinung sind, daß es richtiger und für sie angenehmer sei, wenn diese Maßnahmen auf dem Wege über den Bundeshaushalt getroffen würden, ist verständlich. Was die Bundesregierung kritisiert, ist die Art, wie darüber von der Elektrizitätswirtschaft in der Öffentlichkeit diskutiert wird, nämlich zu einem Zeitpunkt, wo wir uns in Gesprächen befinden. Wir sind der Meinung, daß angesichts der mit dem Energieprogramm verbundenen Schwierigkeiten alle Beteiligten Anlaß hätten, in einer nüchternen, sachlichen Atmosphäre über diese Fragen zu diskutieren und sie nicht etwa in polemischer Form in Anzeigenaktionen auf einem Niveau zu halten, das einer zweckmäßigen Lösung dieser Fragen sicher nicht zuträglich ist.
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2972 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Ich rufe die Frage 49 des Herrn Abgeordneten Dr. Holtz auf:
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, darauf einzuwirken, daß eine tägliche, mindestens aber eine wöchentliche Verbraucheraufklärung im I. und II. Fernsehprogramm erfolgt, und zwar vor oder nach den Abendnachrichten?
Die Rundfunk- und Fernsehanstalten sind unabhängig, und die Bundesregierung vermag keinen Einfluß auf ihre Programmgestaltung zu nehmen. Die Bundesregierung hat jedoch mehrfach zum Ausdruck gebracht — so u. a. im Bericht zur Verbraucherpolitik vom Oktober 1971 , daß j die Medien — und insbesondere das Fernsehen — einen wichtigen Beitrag zu einer intensiveren Verbraucherinformation leisten können. Der beim Bundesminister für Wirtschaft errichtete Verbraucherbeirat hat in seiner Sitzung am 9. März 1973 die Rundfunk- und Fernsehanstalten aufgefordert ich zitiere —, „über die bisherigen Sendungen mit verbraucherrelevanten Themen hinaus in der günstigsten Fernsehsendezeit am Abend eine regelmäßige Verbrauchersendung auszustrahlen".
In seiner Antwort auf diese Anregungen hat der Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens mitgeteilt, daß das ZDF bereits geplant habe, in dem neuen Programmschema ab 1. Oktober 1973 die verbraucherrelevanten Sendungen zu verstärken. So sind insbesondere vierzehntägig am Samstagabend gegen 18 Uhr Verbraucherspots vorgesehen. Darüber hinaus wird die Sendung „Bilanz" in Zukunft zu einer besseren Sendezeit ausgestrahlt, und alle zwei Monate ist ebenfalls am frühen Abend eine längere Verbrauchersendung in das Programm aufgenommen worden. Im Hinblick auf diese Programmplanung des ZDF hält andererseits die ARD eine Verstärkung ihrer Verbrauchersendungen — z. B. „Markt" und „Der Ratgeber" — nicht für angezeigt.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht auch, daß die gute Fernsehsendung „Der 7. Sinn" ein Vorbild für Ähnliches auf dem Gebiet der Verbraucheraufklärung sein könnte?
Ich möchte mich hier nicht auf eine Beurteilung in dieser Frage einlassen. Aber der Hinweis auf die vom ZDF geplanten Fernsehspots zur Verbraucheraufklärung geht wohl in die Richtung, die Sie angedeutet haben. Ich nehme an, daß hier der Versuch gemacht wird, die Verbraucher in einer wirkungsvollen, kurzgefaßten, knappen Weise anzusprechen und das Anliegen der Verbraucherpolitik zu verdeutlichen.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Logemann zur Verfügung.
Die erste Frage — Frage 50 — ist vom Herrn Abgeordneten Dr. Riedl eingebracht worden:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, uni der durch den Abschuß von jährlich 200 Millionen Singvögeln in Italien herbeigeführten Verringerung der Zugvögel in unserem Land im Interesse der Erhaltung dieser Vögel in ihrer wichtigen Funktion als Insektenvertilger Einhalt zu gebieten, und ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß eine radikale Verminderung dieser Vögel daza führen muß, Insekten und Ungeziefer in unserer Flora mit Chemikalien zu bekämpfen, wodurch wiederum andere Umweltlebewesen angegriffen und von der Ausrottung bedroht werden?
Herr Dr. Riedl, die Bundesregierung ist über das Ausmaß des Fangens und Tötens von Vögeln in Italien informiert und kennt die Gefahren, die dadurch für das ökologische Gleichgewicht der Natur auftreten können. Herr Minister Ertl hat seinem damaligen Amtskollegen in Italien, Minister Natali, •seinerzeit auf dieses Problem angesprochen, Ein Gesetzentwurf über das Verbot des Vogelfanges wurde im November 1972 vom italienischen Kabinett gebilligt, jedoch den gesetzgebenden Körperschaften nicht vorgelegt. Die derzeitige italienische Regierung hat diese Angelegenheit, soviel mir bekannt ist, bisher noch nicht wieder aufgegriffen.
Eine .direkte Möglichkeit, Herr Kollege, in die innerstaatlichen Angelegenheiten Italiens einzugreifen, besteht für die Bundesregierung nicht.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, daß Sie gleichzeitig auch die zweite Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Riedl beantworten, Frage Nr. 51:
Ist die Bundesregierung bereit, bei der italienischen Regierung darauf hinzuwirken, daß sie sich an entsprechende Beschlüsse europäischer Gremien hält, wonach Natur und Flora eines Landes zum Nachteil eines anderen Landes nicht verändert werden chirlen?
Ich will die Fragen gern im Zusammenhang beantworten, wenn Sie damit einverstanden sind.
Bitte!
Herr Minister Ertl wird die Sache jedoch bei nächster Gelegenheit bei seinem italienischen Amtskollegen erneut zur Sprache bringen. Dabei wird insbesondere auf die auf der Europäischen Ministerkonferenz für Umweltschutz in Wien vom 28. bis 30. März 1973 gefaßte Resolution 2 mit entsprechenden Empfehlungen zum Schutz der Tier- und Pflanzenwelt sowie auf das vom Rat der Europäischen Gemeinschaft am 20. Juli 1973 in Brüssel beschlossene „Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften für den Umweltschutz" hinzuweisen sein. In
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 2973
Parl. Staatssekretär Logemannden genannten Vereinbarungen wird u. a. der Schutz von Singvögeln allgemein sowie im grenzüberschreitenden Bereich deutlich angesprochen. Die Bundesrepublik Deutschland wird insbesondere im Rahmen dieser internationalen Vereinbarungen weiterhin bemüht bleiben, auf die unbedingt notwendige Einschränkung des Vogelfangs in Italien hinzuwirken.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, ich darf Ihnen, wenn es auch nicht ganz der Geschäftsordnung entspricht, für diese sehr hoffnungsvolle Antwort wirklich herzlich danken und von mir aus nur noch die Frage anfügen, ob die Bundesregierung auch die im World Wildlife Fund, dessen Vorsitzender Bundesinnenminister Genscher ist, bestehenden Bemühungen, bei der italienischen Regierung zu entsprechenden Regelungen zu kommen, unterstützen wird.
Herr Kollege, ich danke Ihnen für diesen Hinweis. Wir werden uns selbstverständlich bemühen, auch diese Möglichkeit zu nutzen, um wirklich zu einer Beschränkung des Vogelfangs in Italien zu kommen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, gibt es seitens des Ernährungsministeriums oder nachgeordneter Dienststellen wissenschaftliche Untersuchungen über die Bedeutung der Singvögel für die Okologie, und ist darin auch das Fangen dieser Vögel schon einkalkuliert?
Es laufen sicherlich Untersuchungen über die Bedeutung der Singvögel. Die sind eigentlich laufend dagewesen. Aber das Fangen von Singvögeln ist dabei mit Sicherheit nicht einkalkuliert, weil wir hier immer wieder eine ablehnende Haltung eingenommen haben.
Ich rufe Frage 52 des Herrn Abgeordneten Ey auf:
Ist die Bundesregierung bereit, für die Herstellung von Fernsprechanschlüssen zu einzelliegenden Gehöften, Aussiedlerstellen und Weilern Hilfen zu gewähren bei außergewöhnlich hohen, geländebedingten Anschluß- und Unterhaltungskosten, und wenn ja, welche?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Ey, die Bundesregierung gewährt seit Jahren Erschließungsbeihilfen. Diese Erschließungsbeihilfen wurden und werden bis zu einem bestimmten Höchstsatz gewährt. Sie enthalten u. a. auch die Kosten für den Anschluß an das Fernsprechnetz. Sie können aber nur in den Fällen gezahlt werden, in denen der Landwirt einen Förderungsantrag stellt und entsprechend den geltenden Richtlinien Förderungsmittel bewilligt bekommt.
Die Erschließungsbeihilfe beträgt zur Zeit 50 000 DM bei Aussiedlungen, 40 000 DM bei Teilaussiedlungen — alle Wirtschaftsgebäude ohne Wohnhaus — und 20 000 DM bei Betriebszweigaussiedlungen.
Zu den Kosten für die Erschließung zählen diejenigen für den Anschluß an die Energie- und die Wasserversorgung, an das Fernsprechnetz, die Kosten für Abwasserbeseitigung und die für Eingrünungen und Wegebau.
Eine Zusatzfrage.
In welchem Umfange, Herr Staatssekretär, sind im vergangenen Jahr Mittel aus diesem Titel bewilligt worden?
Die genauen Zahlen kann ich Ihnen nicht nennen. Ich bin aber gern bereit, die Zahl für die Gesamtausgaben hier nachzureichen, wobei es natürlich schwierig sein wird, festzustellen, was nun im einzelnen auf Fernsprechanschlüsse entfallen ist.
Frage 53 wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 54 des Herrn Abgeordneten Eigen auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die permanente Intervention bei Bullen sehr unbefriedigend verläuft, de die Einfuhr- und Vorratsstelle die schlachtreifen Tiere nicht in ausreichendem Maß aufnimmt, und wenn ja, liegt es daran, daß die Bundesregierung nicht für ausreichende Kühlhauskapazitäten gesorgt hat, so daß, hervorgerufen durch die von ihr in Brüssel mit beschlossene Mangelverordnung für Rindfleisch, ein Angebotsstau von schlachtreifen Bullen entstehen mußte?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Eigen, die derzeitigen Schwierigkeiten bei der permanenten Intervention bei Bullen sind darauf zurückzuführen, daß das Angebot an Bullen die Mengen überschreitet, welche die Einfuhr-und Vorratsstelle aus technischen Gründen wöchentlich übernehmen kann. Die aufgetretenen Schwierigkeiten sind nicht auf einen Mangel an Kühlhauskapazität zurückzuführen. Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin um die Bereitstellung ausreichenden Kühlraums bemühen.Um das Angebot und die technischen Übernahmemöglichkeiten der Einfuhr- und Vorratsstelle besser als bisher miteinander in Einklang zu bringen, haben Anfang dieser Woche Vertreter meines Hauses und der Einfuhr- und Vorratsstelle mit Vertretern der beteiligten Wirtschaft die Möglichkeiten einer Verbesserung der derzeitigen Situation erörtert.
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2974 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Parl. Staatssekretär LogemannDie sogenannte Mangelverordnung, die seit Anfang September außer Kraft ist, dürfte nicht der Grund für den Rückgang der Preise für Schlachtbullen und die daraus möglicherweise folgende Zurückhaltung von Bullen durch die Erzeuger sein. Der Preisrückgang, der bei Bullen besonders ausgeprägt war, ist in erster Linie auf ein vermehrtes Angebot von Bullen, auf eine schwächere Nachfrage und auf Witterungseinflüsse zurückzuführen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß im ersten Halbjahr des Jahres 1973 auf Grund der Mangelverordnung zirka 20 000 Tonnen Rindfleisch mehr eingeführt worden sind als im Jahr zuvor?
Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß das ein entscheidender Grund für den Preiszusammenbruch ist?
Nein, das sehe ich nicht so. Wir hatten im ersten Halbjahr des Jahres 1973 auch einen erheblichen Mehrbedarf an Rindfleisch. Dabei, herr Kollege Eigen, mußten wir von dem Viehzählungsergebnis von Dezember 1972 ausgehen, nach dem wir nur ein Mehr an Rindern von etwa 1 % erwarten konnten. Das Zählergebnis vom Juni dieses Jahres ergab dann plötzlich einen so viel höheren Bestand, daß man nun von 15 % Mehranlieferung ausgehen konnte. Bezüglich Bullen und Ochsen beinhaltet dies wiederum einen Mehrauftrieb von 25 bis 30 % in den Monaten September und Oktober.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen in Ihrer Antwort von den technischen Schwierigkeiten der Aufnahme in die Einfuhr- und Vorratsstelle bzw. in die Kühllagerhäuser, die als solche gelten. Können Sie mir sagen, welche Schwierigkeiten es außer dem Kühlhaus noch gibt und was die Bundesregierung zu tun gedenkt, diese technischen Schwierigkeiten zu beheben, zumal der Preisrückgang bei Bullen — leider; da sind wir sicherlich einer Meinung — die Produktionsumstellung von Milch auf Rindfleisch zum Schaden der Verbraucher und der Staatskasse mittelfristig verhindert?
Die technischen Schwierigkeiten, die ich erwähnt habe, liegen vor allen Dingen darin, daß die Tiere, die von der Einfuhr- und Vorratsstelle zur Übernahme angeboten werden, im einzelnen nun auch zerlegt werden müssen; dann müssen sie den Kühlhäusern und den abnehmenden Firmen angedient werden. Das bedeutet, daß die Einfuhr- und Vorratsstelle schon allein aus technischen Gründen nicht in der Lage ist, mehr als etwa 8000 Tierkörper wöchentlich zu verarbeiten.
Nun, ich habe vorhin auf Gespräche hingewiesen, die zwischen den beteiligten Wirtschaftskreisen stattgefunden haben. Wir bemühen uns, die Zahl 8000 Herr Kollege Eigen, das kann ich Ihnen sagen — zu erhöhen. Sehr viel mehr wird hier aber nicht erreichbar sein.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich komme nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Zur Beantwortung der Fragen steht die Bundesministerin Frau Focke zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 70 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Billigt die Bundesregierung die Äußerungen von Staatssekretär Professor Dr. Wolters zur Änderung des Systems der kassenärztlichen Versorgung?
Herr Kollege, in seinem Vortrag vom 14. September 1973 vor dem Seminar des Bundesverbandes der Allgemeinen Ortskrankenkassen hat Staatssekretär Professor Dr. Wolters, wie ich bereits in einer Rede vor dem Hartmannbund am vergangenen Sonnabend in BadenBaden ausgeführt habe, unser augenblickliches System der gesundheitlichen Versorgung analysiert, eine Reihe von schwachen Stellen festgestellt und Lösungsvorschläge gemacht. Er hat damit zum Prozeß der Meinungsbildung beigetragen. Eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Bereichen unseres Gesundheitswesens wird von allen Beteiligten für notwendig gehalten.
So ist auch von dem Vorsitzenden des Hartmannbundes festgestellt worden — ich zitiere —, daß „die Aufgabenverteilung zwischen den drei Trägern und die Kooperation dieser Gruppierungen neu überdacht werden muß".
Die Bundesregierung hält es für notwendig, daß die Diskussion auf breiter Grundlage geführt wird, damit diejenigen Lösungen verwirklicht werden können, die eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung in ihrer Qualität, ihrer Kapazität und ihrer Wirtschaftlichkeit bringen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Frau Bundesminister, ist also die Meinung, die der Herr Staatssekretär geäußert hat, die offizielle Meinung der Bundesregierung, und glaubt dabei die Bundesregierung, daß es damit zu einer echten Verbesserung der ärztlichen Versorgung kommt?
Ich sagte soeben schon, Herr Kollege: Das, was der Herr Staatssekretär in seinem Vortrag ausgeführt hat, war zunächst eine
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Bundesminister Frau Dr. FockeAnalyse des augenblicklichen Zustands mit konkreten Lösungsvorschlägen für einen Teil der anstehenden Fragen.Diese Vorschläge und andere — ich habe dies in Baden-Baden sehr ausführlich dargelegt — stehen zur Prüfung an, um, wie gesagt, eine Reihe von sehr konkreten Fragen zu beantworten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Werden Sie und auch Herr Bundesminister Arendt diese Vorschläge, wenn Sie diese Fragen in Ihrem Hause geprüft haben, als Ihre eigenen übernehmen?
Ich bitte auf den Widerspruch aufmerksam machen zu dürfen, Herr Kollege, der, wie ich meine, aus Ihrer Frage herausscheint. Ich kann sehr schlecht, während ein Prüfungsvorgang im Gange ist — und Sie selbst sagen, er sei im Gange —, schon vorab sagen, was am Ende dieses Prüfungsvorganges eindeutig als Vorschlag hervorgehen wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Frau Minister, wertet die Bundesregierung Pressemeldungen des heutigen Tages im Zusammenhang mit den Äußerungen von Professor Wolters, nach denen Sprecher des Deutschen Landkreistages eindringlich auf den sich abzeichnenden Notstand in der ärztlichen Versorgung ländlicher Gebiete hinweisen und denen zufolge es unerläßlich erscheint, das in der Reichsversicherungsordnung enthaltene Kassenarztrecht wesentlich zu ändern und dabei vor allem die bestehenden Schranken zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zugunsten der Krankenhäuser zu beseitigen, als eine Randerscheinung der öffentlichen Diskussion, oder ist damit ein Problem angeschnitten, das unser gesamtes Gesundheitssystem in seiner Struktur berührt?
Herr Kollege, im Sinne der Geschäftsordnung war diese Zusatzfrage natürlich zu lang.
Herr Kollege, ich habe diese Empfehlung mit großem Interesse zur Kenntnis genommen. Sie scheint mir ein weiteres Zeichen dafür zu sein, wie dringlich das Thema ist, in welcher Breite die Diskussion darüber bereits im Gange ist und wie sehr gerade die Frage, auf die sowohl Staatssekretär Wolters wie auch ich mit großem Nachdruck zu sprechen gekommen sind, nämlich die verstärkte Kooperation zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, im Mittelpunkt der Prüfungen und Überlegungen stehen muß.
Herr Abgeordneter Lenders, ich rufe die von Ihnen eingebrachte Frage 71 auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, die bestehenden Gesetze dahin gehend zu ändern, daß bei einer potentiellen gesundheitlichen Gefährdung des Verbrauchers für die Hersteller und Verkäufer dieser Produkte eine Verpflichtung besteht, diesen vor dem Kauf durch geeignete Maßnahmen auf diese Gefährdung hinzuweisen, und wenn ja, erwägt die Bundesregierung, den Intim-Spray-Produzenten, bei deren Produkten nach Auskunft des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit nicht auszuschließen ist, daß sie Reizungen und Entzündungen hervorrufen, vorzuschreiben, Warnungen über den Gebrauch deutlich lesbar auf der Verpackung zu placieren?
Frau Minister!
Herr Kollege, die Bundesregierung hat in dem von ihr dem Deutschen Bundestag zur Beratung und Beschlußfassung vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung und Bereinigung des Rechts im Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen eine Reihe von Ermächtigungen zum Erlaß von Rechtsverordnungen über kosmetische Mittel vorgesehen. Diese werden es ihr nach Inkrafttreten des Gesetzes ermöglichen, den Verbraucherschutz in diesem Bereich soweit wie möglich sicherzustellen und u. a. auch solche Warnhinweise vorzuschreiben.
Da die toxikologische und dermatologische Wirkung der kosmetischen Inhaltsstoffe noch nicht hinreichend bekannt ist, hat das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit einen entsprechenden Forschungsauftrag vergeben. Falls diese Untersuchungen zu dem Ergebnis führen, daß bestimmte Stoffe in diesen Erzeugnissen in gesundheitlicher Hinsicht bedenklich sind, werden die zum Schutz des Verbrauchers notwendigen Maßnahmen auch im Rahmen der jetzt schon bestehenden Vorschriften unverzüglich vollzogen.
Keine Zusatzfrage. — Ich rufe die Frage 72 des Herrn Abgeordneten Lenders auf:
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß beim Gebrauch von sogenannten Sprühklebern die Gefahr einer genetischen Schädigung nicht auszuschließen ist , und erwägt die Bundesregierung ähnlich der amerikanischen Consumer Product Safety Commission, alle Sprühkleber bis zum Nachweis der Unschädlichkeit aus dem Handel zu verbannen bzw. nur mit einem deutlichen Warnaufdruck für den Handel zuzulassen?
Frau Minister!
Professor Seely von der Universität Oklahoma bringt auf Grund seiner Untersuchungsergebnisse Chromosomenschäden und teratogene Mißbildungen mit der Anwendung von Sprühklebern in Zusammenhang, und zwar solchen Sprühklebern, die sich in den USA im Handel befanden. Obwohl diese Produkte in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf dem Markt waren und weder der ursächliche Zusammenhang geklärt erscheint noch die verursachende Substanz der beobachteten Schäden bekannt ist, hat das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit nach Bekanntwerden dieser Nachricht mit den
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2976 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Bundesminister Frau Dr. FockeSprühkleberherstellern in Deutschland und im Einvernehmen mit dem Fachverband der Klebeindustrie am 13. September 1973 vereinbart, daß bis zur zweifelsfreien Klärung einer eventuellen teratogenen und mutagenen Wirkung alle Sprühkleber vorsorglich aus dem Handel gezogen werden. Weiterhin wurde das Bundesgesundheitsamt beauftragt, alle im Handel befindlichen Sprühkleber auf ihre keimschädigenden und chromosomenverändernden Eigenschaften zu überprüfen. Eine Kenntlichmachung der Sprühkleber mit einem deutlichen Warnaufdruck ist bei dieser Sachlage zur Zeit nicht erforderlich.
Ich rufe die Frage 73 des Abgeordneten Spitzmüller auf:
Wann gedenkt die Bundesregierung die bestehenden Bestimmungen für den Versand von medizinischem Untersuchungsgut zu ändern und dem neuesten Stand der Wissenschaft und der Technik anzupassen, da nach der geltenden Postordnung keine Kunststoffbehälter, sondern nur Behälter aus Holz, Metall und Glas verwendet werden dürfen?
Herr Kollege, darf ich um Ihr Einverständnis bitten, daß Ihre beiden Fragen gemeinsam beantwortet werden.
Der Herr Abgeordnete Spitzmüller ist einverstanden. Ich rufe auch noch die Frage 74 auf:
Liegen der Bundesregierung Ergebnisse der Transportsicherheit von neuartigen Versandgefäßen aus Kunststoff vor?
Bitte, Frau Minister.
Der Versand von medizinischem Untersuchungsgut ist in der Bekanntmachung betreffend Vorschriften über Krankheitserreger von 21. November 1917, abgedruckt im Bundesgesetzblatt III vom 17. November 1961, S. 19, geregelt. Die danach zugelassenen Gefäße haben seit Jahrzehnten die an sie zu stellenden Anforderungen erfüllt, so daß ein fachliches Bedürfnis für Kunststoffbehälter nicht unbedingt besteht.
Behälter aus anderen als den bisher zugelassenen Materialien können nur zugelassen werden, wenn sie die Eigenschaften des Untersuchungsgutes nicht verändern und die Transportsicherheit gewährleistet ist. Verschiedene Kunststoffe weisen im Gegensatz zu Glas aber ganz unterschiedliche Eigenschaften auf, so daß Kunststoffbehälter nicht pauschal zugelassen werden können. Der Fachnormenausschuß Medizin bemüht sich daher, Normen zu erarbeiten, die diesen beiden Anforderungen genügen Die Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen. Bei diesem Stand der Vorarbeiten und Überlegungen läßt sich noch nicht absehen, wann welche Kunststoffbehälter zugelassen werden können.
Herr Abgeordneter Spitzmüller, eine Zusatzfrage.
Frau Minister, bin ich richtig informiert, daß die Untersuchungen an diesel! Normen, die entwickelt werden sollen, bereits auf das Jahr 1967 zurückgehen, und könnte man nach sechs, sieben Jahren nicht eigentlich doch mit einem Ergebnis rechnen, und ist ein solches Ergebnis sehen abzusehen? Denn es handelt sich ja auch bei den immer höher werdenden Portokosten um eine finanzielle Frage, die dabei zur Debatte steht.
Herr Kollege, Sie haben richtig darauf hingewiesen, daß die Untersuchungen schon eine ganze Weile dauern. Ich will mich hier nicht genau auf die Anzahl der Jahre festlegen. Ich bitte Sie einfach, zu bedenken, daß aus Kapazitätsgründen und der Dringlichkeit anderer Untersuchungen wegen, die sehr viel direkter mit Gesundheitsschäden zu tun haben, es einfach nicht möglich war, alles mit der gleichen Intensität voranzutreiben. Dies ist leider der Grund, warum hier nicht so schnell gearbeitet worden ist, wie — ich verstehe das -- Sie es gerne sähen. Sie dürfen versichert sein, daß ich im Rahmen der gegebenen personellen und anderen Möglichkeiten versuchen will, diese Arbeiten zum Abschluß zu bringen.
Die nächste Frage — 75 — wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 76 des Herrn Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
Ist die Bundesregierung über den Stand der Erforschung der genetischen Gefährdung durch Umwelt-Chemikalien unterrichtet?
Bitte, Frau Minister!
Wie früher schon dargelegt worden ist, befaßt sich die Bundesregierung ständig mit der Problematik dieser Stoffgruppe. Sie prüft zur Zeit, ob und welche Regelung für den Verkehr mit diesen Stoffen, vor allem im Rahmen des in Vorbereitung befindlichen Giftgesetzes, getroffen werden kann. Erfahrene Wissenschaftler der Bundesrepublik Deutschland haben jedoch davor gewarnt, die notwendige Überprüfung von neu einzuführenden Substanzen auf ihre toxischen und mutagenen Eigenschaften zum Anlaß zu nehmen, übereilt Gesetze zu verabschieden, bevor relevante Schlußfolgerungen aus den erzielten Untersuchungsergebnissen gezogen werden können. Dieser Auffassung schließe ich mich an.
Sie haben eine Zusatzfrage? — Bitte, Herr Kollege.
Frau Minister, unterrichtet sich die Bundesregierung nur dadurch, daß sie solche Untersuchungen verfolgt, oder ist die Bundesregierung bereit, die Unterrichtung dadurch zu intensivieren, daß sie sich auch finanziell an solchen Untersuchungen beteiligt?
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Wo die Notwendigkeit dafür besteht und die Möglichkeit der Finanzierung gegeben ist, ist sie selbstverständlich dazu bereit. Wir haben jedoch den Eindruck, z. B. auf Grund der Forschungen in Freiburg, daß hier schon eine Menge im Gange ist.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich darf Ihrer Antwort entnehmen, daß, wenn also begründete Wünsche an die Bundesregierung herangetragen werden, diese dann entsprechend positiv beschieden werden?
Sie dürfen meiner Antwort entnehmen, daß, wenn begründete Wünsche für Forschungen und Untersuchungen, die sonst nirgendwo geschehen, an die Bundesregierung herangetragen werden und im Rahmen des Haushalts entsprechende Mittel zur Verfügung stehen, sie sich bemühen wird, diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Gruhl.
Frau Minister, welcher Institute bedient sich die Bundesregierung, um die Mutagenität der Chemikalien erforschen zu lassen?
Wie ich gleich in der Antwort auf die nächste Frage näher darlegen will, ist z. B. das, was das Zentrallabor für Mutagenitätsprüfung in Freiburg untersucht, von Bedeutung für diesen Komplex.
Ich rufe die Frage 77 des Herrn Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
Rechtfertigen die bisherigen Forschungsergebnisse, besonders die des Zentrallabors für Mutagenitätsprüfung in Freiburg, die Notwendigkeit, eine der Strahlenschutzverordnung entsprechende Verordnung für das Gebiet der mutagenen Chemikalien zu erlassen oder vorzubereiten?
Bitte, Frau Minister!
Herr Kollege, die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse rechtfertigen es nicht, eine allgemeine Verordnung — ähnlich der Strahlenschutzverordnung — für das Gebiet mutagen wirkender Chemikalien zu erlassen. Wohl aber hat die Bundesregierung bereits auf dem Verordnungs- und Gesetzgebungswege im Einzelfall Vorsorge getroffen. Ich erinnere z. B. an das DDT-Gesetz und an die Sprühkleber, von denen gerade die Rede war. Bisher haben sich experimentell ca. 400 Stoffe synthetischer und natürlicher Herkunft als mutagen erwiesen. Indessen können diese Untersuchungsergebnisse nicht einfach auf den Menschen übertragen werden. Teilweise entfällt eine mutagene Wirkung beim Menschen, tritt nicht in Erscheinung, oder die Kontaminationsdosis ist so gering, daß sie unwirksam ist. Ein anderer Teil wird trotz der bekannten mutagenen Eigenschaft unter ärztlicher Aufsicht und Verantwortung zur Bekämpfung schwerer Infektionskrankheiten eingesetzt.
Das zeigt, daß sowohl die Extrapolation von gewiß korrekten Untersuchungsergebnissen auf den Menschen als auch die immer wieder notwendige Schaden-Nutzen-Abwägung zur Zeit noch sehr schwierig ist. Eine Rechtsverordnung über mutagene Stoffe würde sich bei dieser Sachlage in der Öffentlichkeit so auswirken, daß Fehleinschätzungen zu erwarten sind und damit der so nicht zutreffende Eindruck hervorgerufen wird, man sei von einer Vielzahl derartiger Stoffe direkt beroht.
Eine Zusatzfrage.
Frau Minister, Sie sagten, daß nach dem gegenwärtigen Stand der Forschungen eine allgemeine Verordnung nicht angezeigt sei. Kann ich daraus entnehmen, daß die Bundesregierung beabsichtigt, solche Verordnungen für einzelne Stoffe zu erlassen? Um welche Stoffe wird es sich dabei handeln?
Dies ist ebenfalls noch Gegenstand der Untersuchungen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß auch der Bundesgesundheitsrat aufgefordert ist, sich zu der Frage zu äußern, welche Grundsätze bei der Gesamtbewertung von Lebensmittelzusatzstoffen im Rahmen der Überprüfung bereits zugelassener Stoffe und bei der Zulassung neuer Stoffe notwendig sind. Der Ausschuß „Lebensmittelwesen" des Bundesgesundheitsrates wird sich noch im Laufe dieses Monats in diesem Zusammenhang mit Mutagenitätsprüfungen befassen. Bei Rechtsvorschriften über Umweltchemikalien wird ebenso wie bei Lebensmittelzusatzstoffen nicht zwischen der Art der möglichen Gesundheitsgefährdung oder -schädigung zu unterscheiden sein, sondern jegliche Gefährdung — sei sie nun kanzerogener oder teratogener oder mutagener Art wird in die Beurteilung einzubeziehen sein.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Minister, ist die Bundesregierung bereit, die Öffentlichkeit umfassend über den gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse und der Tätigkeit auf diesem Gebiet zu informieren, oder ist die Bundesregierung durch die wirtschaftlichen Interessen beeindruckt, die mit der Produktion solcher Stoffe natürlich verbunden sind?
Ich würde ganz sicher davon ausgehen, daß es der Bundesregierung um den Gesundheitsschutz geht und sie gern bereit ist, zu informieren. Ich sagte Ihnen allerdings bereits, daß das, was wir wissen, leider noch nicht so ist,
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2978 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Bundesminister Frau Dr. Fockedaß die Öffentlichkeit eindeutige Schlüsse daraus ziehen könnte. Ich bin gern bereit, denjenigen, die an Informationen interessiert sind, jene Informationen zu vermitteln, über die wir in diesem Stadium verfügen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Gruhl.
Frau Bundesminister, wie erklären Sie angesichts der mir vorhin gegebenen Antwort, daß Herr Löbsack laut einem Artikel in der „Zeit" bei dem von Ihnen genannten Institut in Freiburg die Auskunft bekommen hat, daß dort keinerlei Mutagenitätsprüfungen vorgenommen werden, daß sie auch nicht bei einem verwandten Institut in Heidelberg vorgenommen werden und daß man sie viel besser von der Industrie durchführen ließe?
Ich kann Ihnen auf diese Frage im Augenblick keine erklärende Antwort geben, aber ich will der Sache gerne nachgehen.
Ich rufe die Frage 78 der Abgeordneten Frau Dr. Neumeister auf:
Welche europapolitische Konzeption hat die Bundesregierung in den Fällen, in denen deutsche Gesetze oder Gesetzesvorhaben den EG-Richtlinien oder -Richtlinienvorschlägen und damit der überwiegenden Auffassung der anderen EG-Mitgliedstaaten oder der EG-Kommission widersprechen?
Bitte, Frau Minister!
Frau Kollegin, die europapolitische Konzeption der Bundesregierung wird in dem angesprochenen Bereich durch die Verpflichtungen, die der EWG-Vertrag den Mitgliedstaaten auferlegt, und durch die Rechte, die er den Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung des Gemeinschaftsrechts einräumt, bestimmt.
Vom Rat schon erlassene Richtlinien werden entsprechend dem, was dort festgelegt ist, in deutsches Recht umgesetzt. Zweck dieser Umsetzung ist es unter anderem auch, entgegenstehendes nationales Recht dem Gemeinschaftsrecht anzugleichen.
Was das Verhältnis deutscher Gesetze oder Gesetzesvorhaben zu Richtlinienvorschlägen der Kommission angeht, so möchte ich darauf hinweisen, daß diese Vorschläge ja in der Verantwortung der unabhängigen, von den Regierungen nicht mit Weisungen versehenen Kommission liegen. Man kann deshalb nicht davon ausgehen, daß diese Vorschläge der Meinung einiger oder gar der Mehrheit der Mitgliedstaaten entsprechen. Ich glaube auch nicht, daß man von dem in Ihrer Frage offenbar angenommenen Widerspruch zwischen dem deutschen Recht und den Richtlinienvorschlägen der Kommission in irgendeiner allgemeinen Art und Weise ausgehen darf.
Entscheidend ist, daß die Bundesregierung in Wahrnehmung ihres Mitwirkungsrechts bei der Beratung von Richtlinienvorschlägen in den Arbeitsgruppen des Rates die ihr notwendig erscheinenden Anderungen vorschlagen und im Hinblick auf das Erfordernis der einstimmigen Beschlußfassung im Rat auch durchsetzen kann. Die Bundesregierung versucht dabei selbstverständlich, den bewährten Bestimmungen des deutschen Rechts, insbesondere auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes, Eingang in das Gemeinschaftsrecht zu verschaffen.
Im lnteresse der europäischen Integration ist sie allerdings zu Kompromissen bereit, die vertretbar sind, soweit sie den in der Bundesrepublik erreichten Verbraucherschutz wahren und integrationspolitisch notwendig sind.
Zu einer Zusatzfrage, bitte schön, Frau Kollegin!
Frau Minister, ich darf auf einen speziellen Fall eingehen: Unter welchen Voraussetzungen ist die Bundesregierung jetzt bereit, die erste pharmazeutische EG- Richtlinie aus dem Jahre 1965 in das deutsche Arzneimittelrecht zu übernehmen?
Die Bundesregierung ist dabei, im Rahmen der Reform des Arzneimittelrechts die erste pharmazeutische Richtlinie in die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland zu überführen. Sie hat einen ersten Schritt bereits durch die Bekanntmachung der Richtlinie für die Prüfung von Arzneimitteln vom 11. Juni 1971 getan.
Ich rufe die Frage 79 des Abgeordneten Löffler auf:
Aus welchen Gründen nahen in diesem Jahr nur vier Berliner Schulen von zehn Antragstellern Mittel des deutsch-französischen Jugendwerks fur Frankreichfahrten erhalten, obwohl im Jahr 1972 zu diesem Zweck noch 70 000 DM zur Verfügung gestanden haben, und worauf ist diese Kürzung zurückzuführen?
Bitte, Frau Minister!
Wie mir das Deutsch-Französische Jugendwerk mitgeteilt hat, konnten inzwischen durch Einsparungen bei anderen Programmen für 9 der 10 antragstellenden Berliner Schulen sowie eine weitere berufsbildende Schule in Berlin Mittel zur Förderung von Frankreichfahrten in einer Gesamthöhe von 38 500 DM bewilligt werden. Ein Antrag wurde abgelehnt, weil er nicht den geforderten Kriterien einer Schulpartnerschaft entsprach.Generell haben die für den deutsch-französischen Schüleraustausch zur Verfügung stehenden Mittel 1973 ebenso wie fast alle anderen Förderungsbereiche des Deutsch-Französischen Jugendwerks eine gewisse Kürzung erfahren, die auf der durch den Grundsatz der nominellen Parität des französischen und des deutschen Beitrags bedingten Haushaltsentwicklung des Deutsch-Französischen Jugendwerks beruht.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 2979
Keine Zusatzfragen.
Die Frage 80 des Abgeordneten Zebisch wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit beantwortet. Ich danke Ihnen, Frau Minister.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Hermsdorf zur Verfügung.
Die Fragen 29 und 30 des Abgeordneten Schedl werden schriftlich beantwortet, da der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Dr. Dollinger auf:
Ist vor dem Hintergrund der gegenwärtigen europäischen Währungsentwicklung die Bundesregierung der Ansicht, daß die Technik der Bandbreitenverringerung, innerhalb derer der Außenwert der europäischen Währungen schwankt, erfolgeich sei, oder teilt sie die Ansicht, daß man in gewisser Weise den fundamentalen Nachteil des Systems von Bretton-Woods übernommen hat, daß nämlich durch die Stützung der Währung relativ stärker inflationierender Mitgliedsländer die relativ weniger inflationierenden Mitgliedsländer zum Inflationsimport gezwungen werden, was durch eine Änderung der Interventionstechnik vermieden werden könnte?
Herr Kollege Dollinger, die Bundesregierung ist nach wie vor der Auffassung, daß die im März dieses Jahres vereinbarte Lösung der Währungsunruhen unter den gegebenen Umständen der beste Weg war, um den Stand der monetären Integration in Europa zu wahren. Die Bundesregierung hat die mit der gemeinsamen europäischen Wechselkurspolitik verbundenen Risiken im Interesse der europäischen Einigungspolitik bewußt in Kauf genommen. Als Alternative gäbe es nur die Möglichkeit, auch gegenüber den europäischen Ländern zu floaten. Dies wäre jedoch, europapolitisch gesehen, ein Rückschritt.
Im übrigen sollte man die stabilitätspolitischen Risiken des europäischen Währungsverbunds nicht überbewerten. Der Währungsverbund übt nämlich auch einen Zwang zur Harmonisierung der Stabilitätspolitik in Europa aus. Unsere Partner in der „Schlange" haben in den letzten Monaten ihren Restriktionskurs verschärft. Die Zinssätze in Europa haben sich angenähert. Dadurch werden die Gefahren für die Stabilität in unserem Land auch verringert.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, sehen Sie eine Möglichkeit, daß die stabilitätspolitische Ausgestaltung der Technik bei der Steuerung der Schlange im Tunnel gewissermaßen dahin gehend geändert wird, daß mit der Kurspflege künftig kein Liquiditätszuwachs verbunden ist?
Ich würde die Frage nicht ohne weiteres verneinen wollen. Aber ich fürchte, daß wir, wenn wir dies tun, in der Integration der monetären Politik einen Rückschritt erleiden.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß eine Erhöhung der Mittel des „europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit" auf 10 bis 12 Milliarden DM, die bereits erfolgt sein soll, ein gewaltiges Inflationspotential darstellt, oder ist die Gewährung von Beistandskrediten an die in der Regel am stärksten inflationierenden Länder mit stabilitätsfördernden Auflagen versehen?
Das ist mit Auflagen versehen; denn es wäre nicht zweckmäßig, dieses Polster zu unterhalten, wenn jeder abrufen könnte, wie er wollte. Das würde natürlich zur Anheizung der Inflation führen. Aber hier sind Sicherungen eingebaut, die das in einem starken Maße unmöglich machen.
Ich rufe die Frage 32 der Frau Abgeordneten Dr. Neumeister auf:
Wann gedenkt die Bundesregierung die angesichts der Preissteigerungen längst fällige Anpassung der seit dem Jahre 1951 unveränderten lohnsteuerfreien Essensgeldzuschüsse der Arbeitgeber an die Arbeitnehmer in Höhe von 1,50 DM arbeitstäglich durchzuführen, und welche finanziellen Auswirkungen hätte eine Verdoppelung des lohnsteuerfreien Essensgeldzuschusses?
Herr Staatssekretär!
Frau Abgeordnete, die Bundesregierung ist in jüngster Zeit wiederholt mit der Frage beschäftigt worden, ob sie bereit sei, den Essensfreibetrag anzuheben. Zuletzt hat die Bundesregierung anläßlich einer Bleichlautenden Frage des Abgeordneten Dr. Althammer die Gründe dargelegt, die gegen eine Erhöhung des Essensfreibetrages sprechen. Ich darf sie nochmals wiederholen.
1. Eine Erhöhung des Freibetrages würde nur denjenigen Arbeitnehmern zugute kommen, die tatsächlich im Betrieb Mahlzeiten erhalten oder einen Zuschuß bekommen. Das ist in weiten Bereichen der Wirtschaft nicht der Fall. Der jetzige Betrag von 1,50 DM pro Tag kommt einem Jahresfreibetrag von 345 DM gleich. Im Falle einer Verdoppelung auf 3 DM ergäbe sich ein Jahresfreibetrag von 690 DM. Die Erhöhung würde 'auch von allen denjenigen Arbeitnehmern als steuerliche Ungerechtigkeit empfunden werden, die im Betrieb keine Mahlzeiten und keinen Zuschuß erhalten.
2. Eine Erhöhung des Freibetrages wäre auch aus rechtlichen Gründen bedenklich, nachdem der Bundesfinanzhof bereits Zweifel an der Rechtsgrundlage für diesen Essensfreibetrag geäußert hat.
2980 Deutscher Bundestag 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Parl. Staatssekretär Hermsdorf
3. Eine Erhöhung hätte — damit beantworte ich den zweiten Teil Ihrer Frage — erhebliche haushaltsmäßige Auswirkungen. So würde eine Verdoppelung des Essensfreibetrags auf täglich 3 DM zu Steuermindereinnahmen von ca. 1 Milliarde DM jährlich führen.
Durch den Beschluß der Bundesregierung vom 12. September 1973, den Freibetrag im Rahmen der am 1. Januar 1975 in Kraft tretenden Einkommensteuerreform auf 600 DM zu erhöhen, wird demgegenüber allen Arbeitnehmern eine Vergünstigung gewährt. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß diese Erhöhung einer Erhöhung des Essensfreibetrages vorzuziehen ist.
Eine Zusatzfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Ich kannte die Antwort. Ich habe mir trotzdem erlaubt, die Frage zu stellen, da ich annahm, daß jetzt im Rahmen der steuerpolitischen Erleichterungsvorhaben die Frage der Verdoppelung des einkommensteuerfreien Essensgeldzuschusses in die Erwägungen einbezogen werden könnte. Kann man da Hoffnung haben?
Nein, die Bundesregierung wird im Rahmen der Steuerreform aus den eben dargelegten Gründen die Verdoppelung des Essensfreibetrages nicht anstreben.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung eine Neufassung der Rechtsgrundlage für den einkommensteuerfreien Essensgeldzuschuß nicht ohnehin angesichts des Urteils des Bundesfinanzhofes vom 5. Februar 1965 für dringend erforderlich?
Ja, aber dieses Urteil kann nicht dahin ausgelegt werden, daß der Steuerfreibetrag erhöht werden muß.
Ich rufe die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Berger auf:
War dem Parlamentarischen Staatssekretär Hermsdorf bei Beantwortung meiner unter Nummer 23 registrierten Frage in der Fragestunde am 13. September 1973 nicht bekannt, daß ich in der Sitzung des Innenausschusses am 14. März 1973 namens der Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion beantragt habe, „den Bericht des BMI zum Gesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes vom 10. Februar 1971 sowie den Bericht des BMI zum BWGöD vom 19. Mai 1971 umgehend auf die Tagesordnung des Innenausschusses zu setzen mit dem Ziel, die Berstung möglichst bis zur Sommerpause abzuschließen, dieser Antrag aber von den Mitgliedern der SPD und FDP abgelehnt wurde?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Berger, wegen des Sachzusammenhanges möchte ich beide Fragen zusammen beantworten.
Der Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich auch Frage 34 des Herrn Abgeordneten Berger auf:
Hat die Bundesregierung sich nunmehr davon überzeugt, daß im Innenausschuß mit der Sachdiskussion noch nicht begonnen wurde?
In Ihrer Frage für die Fragestunde am 13. und 14. September hatten Sie die Auffassung geäußert, der Innenausschuß des Bundestages habe mit der Beratung des Abschlußgesetzes zum Gesetz 131 noch nicht begonnen. Ich habe Ihnen daraufhin geantwortet, daß sich der Innenausschuß wiederholt mit dem Bericht der Bundesregierung zum Gesetz 131 und zum Wiedergutmachungsgesetz für den öffentlichen Dienst befaßt hat.
Aus Ihren heutigen Anfragen entnehme ich, daß Sie das Wort „Beratungen" im Sinne von Sachdiskussion verstanden wissen wollten. In diesem eingeschränkten Sinne habe ich das Wort nicht aufgefaßt. Ich bin der Meinung, daß dieser Begriff nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auch Verfahrensfragen, z. B. die Einsetzung einer Arbeitsgruppe und dergleichen, umfaßt. Ihr Antrag im Innenausschuß war der Bundesregierung selbstverständlich bekannt. Die Beratung Ihres Antrages hat am 6. Juni dieses Jahres zu dem Ergebnis geführt, daß die Bundesregierung zur Vorlage eines Berichts über die Novellierungswünsche zu den einzelnen Kriegsfolgegesetzen, über die sich daraus ergebenden finanziellen Auswirkungen und um Darlegung ihres Konzepts in der Angelegenheit gebeten worden ist.
Zusatzfrage!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich aus Ihrer Antwort entnehmen, Herr Staatssekretär, daß Sie auch dann, wenn Anträge, etwas zu beraten, abgelehnt werden, das als Beratung ansehen?
Im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs ja.
Eine weitere Zusatzfrage!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich fragen, wann denn nun der Bericht, der bis zum 30. 9. gewünscht wurde, endlich kommt?
Herr Kollege Berger, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß bei der Problematik des Sachverhalts die Angelegenheit einer eingehenden Prüfung bedarf. Die Prüfung dauert noch an. Die Bundesregierung wird sich bemühen, den Bericht so bald wie möglich vorzulegen.
Keine weiteren Zursatzfragen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 2981
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenIch rufe die Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Klein auf. —Der Herr Abgeordnete ist nicht im Stall. Die Frage wird schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 36 des Herr Abgeordneten Dr. Klein . Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Ich rufe noch die Frage 37 des Herrn Abgeordneten Dr. Warnke auf. — Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Fragestunde.Wir kommen zu dem nächsten Punkt der Tagesordnung:Erklärung der BundesregierungDas Wort hat der Herr Bundesaußenminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Am 31. Mai hat dieses Hohe Haus durch Gesetz den Willen der Bundesrepublik Deutschland bekundet, den Vereinten Nationen beizutreten. Heute kann ich Ihnen berichten, daß die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 18. September die Aufnahme der Bundesrepublik und der DDR beschlossen hat. Gleichzeitig möchte ich Ihnen über zahlreiche Gespräche berichten, die ich mit Außenministern von verbündeten und befreundeten Staaten geführt habe. Außerdem hat der Herr Bundeskanzler der Generalversammlung die Grundprinzipien unserer Politik vorgetragen. Anläßlich seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten ist es zu einer Begegnung mit Präsident Nixon gekommen.Alle Gespräche, die der Herr Bundeskanzler und ich in den Tagen in New York und in Washington geführt haben, sind vor dem Hintergrund einer politischen Weltlage zu sehen, die durch außergewöhnliche Veränderungen gekennzeichnet ist, wenn wir auch nur einen Zeitraum von fünf Jahren zum Vergleich heranziehen. Was damals noch unsichere und tastende Versuche waren, die Sterilität einer festgefahrenen Konfrontation hochaufgerüsteter Blöcke durch Vorstellungen von Entspannung und Zusammenarbeit zu überwinden, ist heute feste Absicht, klare Tendenz und da und dort auch bereits partielle Verwirklichung geworden. Wie bei jedem Wachstumsprozeß gibt es auch in der Entspannungspolitik Phasen außerordentlicher Schübe und Momente kritischer Gefährdung. Eine solche Politik kann nur zu einem guten Ergebnis gebracht werden, wenn hinter ihr die volle Überzeugung und die kontrollierte Beherrschung des Instrumentariums steht.Was könnte, was uns angeht. die Veränderungen in der Welt deutlicher illustrieren als der Beitritt der beiden deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen? Während wir einerseits durch diesen Beitritt den Schutz, den uns die Charta der Vereinten Nationen gewährt, ohne Einschränkung in Anspruch nehmen können, machen wir andererseits deutlich, daß die deutsche Nation trotz ihrer staatlichen und ideologischen Teilung ihre Verantwortung als Glied der Völkergemeinschaft ohne weiteren Verzug übernehmen will.In meiner Rede vor der Generalversammlung unmittelbar nach der Aufnahme habe ich klargestellt — und der Herr Bundeskanzler hat es in seiner Rede wiederholt —, daß uns die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen nicht daran hindern wird, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk seine Einheit in freier Selbstbestimmung wiedererlangt.Diese Mitgliedschaft wird uns eine weltpolitische Mitverantwortung aufbürden, die wir in dieser Form bisher nicht gekannt haben. Das wird nicht leicht sein. Wir werden zu Auseinandersetzungen und Problemen in anderen Teilen der Welt Stellung nehmen müssen, auch wenn wir durch diese Probleme nur mittelbar berührt werden. Wir werden uns äußern müssen, auch wenn wir versucht sein könnten, uns hinter einer bequemen Stimmenthaltung zu verbergen. Wie immer wir uns im Einzelfall entscheiden werden, wir können heute schon gewiß sein, daß unsere Haltung die Aufmerksamkeit der dort vertretenen Staaten haben wird.Wir werden nicht allein sein. Wir sind in die Vereinten Nationen eingetreten als ein Glied der Europäischen Gemeinschaft, die entschlossen ist, ihre Politik in den Vereinten Nationen in stärkerem Maße gemeinsam zur Geltung zu bringen. Mit unseren Partnern der Europäischen Gemeinschaft und mit unseren Verbündeten werden wir gemeinsam für die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen eintreten, die auch Grundlage unserer Politik sind. Durch unsere Mitarbeit werden wir nicht zuletzt die Präsenz Europas in der Weltorganisation stärken und deutlich die Stimme Europas artikulieren.Dies alles wird nur möglich sein, wenn bei aller legitimen Meinungsverschiedenheit in Einzelfragen hinter der Bundesregierung und ihrer Außenpolitik jenes Maß an selbstverständlicher Solidarität steht, ohne das es weder einen Staat noch eine wirkungsvolle Vertretung seiner Interessen geben kann.
Wer das Forum von 135 souveränen Staaten, die ihre Forderungen, Probleme und Konflikte dort mit friedlichen Mitteln auszutragen versuchen, auf sich wirken läßt, wird mich verstehen, wenn ich sage: Bei allem Schmerz über die verlorengegangene staatliche Einheit Deutschlands dürfen wir es nicht dahin kommen lassen, daß unsere Interessen als Bundesrepublik Deutschland in einer Welt, die auf der Suche nach den Existenzgrundlagen und der Ordnung von morgen ist, nicht voll zur Geltung gebracht werden.Das macht die eigentlich historische Bedeutung der Aufnahme unseres Staates in die Vereinten Nationen aus: Wir werden gezwungen, die Introvertiertheit unserer früheren Außenpolitik endgültig zu verlassen und uns als einen Teil des universellen Ganzen zu begreifen, der seine eigenen Probleme in den
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Bundesminister ScheelZusammenhang mit der wirklichen Welt bringen muß. Dies ist um so notwendiger, als die politische Welt, in der wir leben, grundlegende Veränderungen aufweist.Ich beginne mit der Aufzählung im Westen. Wir stehen am Anfang des Dialogs zwischen der langsam Gestalt gewinnenden Politischen Union Europas und den Vereinigten Staaten. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es sich hier um einen Vorgang von grundlegender Bedeutung handelt. Auf der einen Seite müssen sich die europäischen Staaten erst daran gewöhnen, einen gemeinsamen Willen zu entwickeln und mit einer Stimme zu sprechen. Auf der anderen Seite ist es für die Vereinigten Staaten ungewohnt, mit einer gemeinsamen Position der Europäer konfrontiert zu sein und sie mit einer Stimme sprechen zu hören.Aber das ist noch nicht einmal das Entscheidende. Die wirklichen Probleme entstehen ja in jenen Zonen, wo die Lebensinteressen eines vereinten Europa deutlicher und nachdrücklicher als bisher mit den wohletablierten amerikanischen Interessen in Berührung oder gar zur Reibung kommen könnten. Und das alles im Zeichen einer unveränderten europäisch-amerikanischen Schicksalsgemeinschaft in bezug auf die militärische Sicherheit beider Kontinente.So ist es kein Wunder, daß der Herr Bundeskanzler und ich am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit dem amerikanischen Außenminister, Herrn Kissinger — und im Fall des Herrn Bundeskanzlers zusätzlich mit Präsident Nixon —, hierüber Gespräche geführt haben. Mit Befriedigung darf ich feststellen, daß die Gespräche mit unseren amerikanischen Gesprächspartnern dem notwendigen und sich anbahnenden Dialog zwischen den Neun und den Vereinigten Staaten einen Impuls verliehen haben, der im Interesse beider Seiten liegt.Am 29. September haben sich in New York zum erstenmal die politischen Direktoren der Außenministerien der Neun mit ihrem amerikanischen Kollegen getroffen, um gemeinsam mit ihm eine europäisch-amerikanische Grundsatzerklärung vorzubereiten. Die Amerikaner haben eingesehen, daß es nicht der Sinn der europäischen Einigung ist, die Vereinigten Staaten jeweils vor ein fait accomplit zu stellen, sondern daß durch die europäische Einigung die Voraussetzungen für ein produktives Zusammenwirken der beiden Kontinente verbessert werden.Am 18. Oktober werden diese europäisch-amerikanischen Gespräche in Kopenhagen, dem Sitz der Präsidentschaft der europäischen politischen Zusammenarbeit, fortgesetzt. Dieser neuen Diplomatie, wie der britische Außenminister sie genannt hat, muß man Zeit lassen, sich zu entwickeln. Noch für einige Zeit werden europäisch-amerikanische Gespräche und bilaterale Kontakte der europäischen Staaten mit den USA einhergehen. Aber schon jetzt ist sichergestellt, was der Bundeskanzler dem amerikanischen Präsidenten im Sommer dieses Jahres geraten hat, nämlich Europa zu sehen, als wäre es bereits eine politische Union.Was ich hier berichte, sind keine Wunschvorstellungen. Außenminister Kissinger würdigte am 26. September die europäischen Gedanken über den Dialog mit den Vereinigten Staaten außer-ordent positiv. Daß Europa nunmehr mit einer Stimme spricht, erschien ihm als ein Ereignis von größter Bedeutung; man werde es später vielleicht, so sagte er, als eines der entscheidenden Ereignisse der Nachkriegszeit ansehen. Wir können davon ausgehen, daß sich die amerikanische Regierung bemüht, mit dem dynamischen Prozeß der politischen Einigung Europas in einer Weise zurechtzukommen, die die wesentlichen Grundlagen des europäisch-amerikanischen Verhältnisses intakt läßt und die Lehren der Geschichte beherzigt. Die politische Einigung Europas, einschließlich des deutsch-französischen Sonderverhältnisses und des Bündnisses mit den Vereinigten Staaten sind kontinuierliche und grundlegende Faktoren unserer Nachkriegsaußenpolitik. Beide ergeben sich unmittelbar aus den Lehren, die uns die Geschichte erteilt hat.Immer wenn von europäischer Einigung die Rede ist, kommt man auf das deutsch-französische Verhältnis zu sprechen. Der französische Staatspräsident selbst hat auf seiner Pressekonferenz am 27. September den Nebel weggeblasen, der von interessierter Seite über das deutsch-französische Verhältnis ausgebreitet worden war. Namens der Bundesregierung möchte ich auch an dieser Stelle die Ausführungen des Staatspräsidenten Pompidou nachdrücklich begrüßen. Er hat die von Mißtrauen erfüllte Atmosphäre gereinigt. Einigen meiner Kollegen hier im Hause möchte ich bei dieser Gelegenheit sagen, daß sich das deutsch-französische Verhältnis nicht eignet, um der Bundesregierung am Zeug zu flicken.
Unsere Gespräche mit der amerikanischen Regierung haben sich auch mit den Fragen des Nordatlantischen Bündnisses und der Sicherheit befaßt. Die Begegnung mit Präsident Nixon, Außenminister Kissinger und Verteidigungsminister Schlesinger fanden in den Tagen statt, in denen im amerikanischen Senat wichtige Entschließungen zur Frage der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa gefaßt wurden. Der Bundeskanzler und ich stimmten mit Präsident Nixon und den Ministern Kissinger und Schlesinger darin überein, daß einseitige Truppenverringerungen in Europa, wie sie vom Senat für möglich gehalten werden, eine schwere Belastung des Bündniszusammenhalts darstellen würden. Beide Seiten sind der Auffassung, daß Fragen der gemeinsamen Sicherheit nur auf der Basis einer gemeinsamen Haltung des Nordatlantischen Bündnisses geregelt werden sollen.Entscheidungen in bezug auf mögliche Truppenverminderungen sollten das Ergebnis von Verhandlungen mit dem Warschauer Pakt sein. Diese Verhandlungen müssen sicherstellen, daß die unverminderte Sicherheit der Beteiligten gewährleistet, die bestehenden Disparitäten in Rechnung gestellt und ein ausgewogenes Kräfteverhältnis auf niedrigerer Ebene erreicht wird.Präsident Nixon und der Bundeskanzler waren übereinstimmend der Auffassung, daß gerade im
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Bundesminister ScheelVollzug der Entspannungspolitik der militärischen Sicherheit erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet werden muß, damit nicht das friedenssichernde Gleichgewicht gestört und durch Gewichtsverschiebungen neue Spannungen erzeugt werden.Beide Seiten erklärten sich bereit, an der im NATO-Rat begonnenen Diskussion aktiv teilzunehmen, um für den vorgesehenen Europabesuch von Präsident Nixon eine Deklaration der Verbündeten vorzubereiten, die den Zusammenhalt der Allianz bekräftigt, den Willen zur Kooperation erneuert und die Aufgaben des Bündnisses auf die neuen Gegebenheiten ausrichtet.Ein glücklicher Umstand hat es mir ermöglicht, im Anschluß an meinen Aufenthalt in New York den längst vorgesehenen offiziellen Besuch bei der kanadischen Regierung abzustatten. Die Gespräche, die ich mit Präsident Trudeau und Außenminister Sharp geführt habe, konnten kanadische Befürchtungen beseitigen, es werde das Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft und der entstehenden Europäischen Union zu Kanada vom Dialog mit den Vereinigten Staaten überschattet. Dieser Eindruck war nicht zuletzt dadurch entstanden, daß der Entwurf einer europäisch-amerikanischen Deklaration der neun europäischen Außenminister durch eine Indiskretion in die amerikanische Presse gelangt war. In diesem Entwurf findet sich natürlich nichts über das Verhältnis zu Kanada. Die Bundesrepublik ist jedoch daran interessiert, daß das europäischkanadische Verhältnis in ähnlicher Weise begründet wird, wie dies zur Zeit gegenüber den Vereinigten Staaten unternommen wird.Morgen, meine verehrten Kollegen, wird die Bundesregierung den Ministerpräsidenten Japans, Herrn Tanaka, und den japanischen Außenminister, Herrn Ohira, zu einem offiziellen Besuch in der Bundesrepublik Deutschland empfangen. Auch diese Gespräche werden ganz im Zeichen der freundschaftlichen und engen Zusammenarbeit demokratischer Industriestaaten stehen. Für Japan gilt analog, was ich für Kanada gesagt habe: Es ist das Interesse der Europäischen Gemeinschaft und der im Entstehen begriffenen Europäischen Union, ihr Verhältnis zu Japan in der umfassendsten und konstruktivsten Weise zu regeln. Angesichts der drängenden wirtschaftlichen und währungspolitischen Probleme in der Welt gäbe es wenig Hoffnung, wenn die hochentwickelten Industriestaaten ihre Verantwortung nicht erkennen würden und wenn sie nicht in der Lage wären, ihre Beziehungen auf die rationellste und produktivste Weise zu regeln.Am 14. September haben in Tokio 102 Staaten aller Regionen der Erde gemeinsam durch ihre Minister den Start freigegeben für die umfassendste Liberalisierungsrunde in der Geschichte des Welthandels. Der Geist von Tokio, d. h. die Bereitschaft zur internationalen Kooperation, war stärker als bedrohliche Spannungen und protektionistische Rückfälle der jüngsten Zeit. Dies ist ein ermutigender Erfolg für alle, die beharrlich und ohne verfehlte Dramatik für die liberale und weltoffene Ausrichtung der Handelsbeziehungen eintreten. Die Delegation der Bundesrepublik hat in Tokio erreicht, daß Mißverständnisse und Meinungsverschiedenhei ten zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinigten Staaten beseitigt wurden. Auf der konstruktiven deutschen Beitrag wird auch künftig Verlaß sein, wenn es gilt, die erheblichen Schwierigkeiten, die mit einer erfolgreichen Welthandels-runde verbunden sind, in der Gemeinschaft und irr GATT zu bewältigen.Der Bundesfinanzminister hat aus Nairobi berichtet, daß sich die Möglichkeit zur prinzpiellen Einigung über die Elemente eines neuen Weltwährungssystems zum 31. Juli 1974 abzeichnet. Die Bundesregierung hat zu diesem Einigungsprozeß bisher schon Wesentliches beigetragen, wobei eine fruchtbare Zusammenarbeit insbesondere mit den Staaten der Gemeinschaft, mit den Vereinigten Staaten und mit Japan hervorzuheben ist. Die Entwicklungsländer und die Weltbank haben ausdrücklich den besonderen Beitrag der Bundesrepublik zur Aufstockung der IDA-Mittel sowie die in der jüngst beschlossenen mittelfristigen Finanzplanung des Bundes vorgesehene Steigerung unserer Entwicklungshilfe insgesamt anerkannt.Dem dynamischen Prozeß der Neuregelung der Verhältnisse zwischen den hochentwickelten demokratischen Industriestaaten der Welt steht der ebenso dynamische Prozeß der Entspannung und Zusammenarbeit zwischen Staaten unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnung gegenüber. Die Bundesrepublik Deutschland hat durch ihre Verträge mit der Sowjetunion, mit Polen und den unterschriftsreifen Vertrag mit der Tschechoslowakei sowie durch den Grundvertrag mit der DDR einen substantiellen Beitrag zum Erfolg dieser Politik geleistet. Sie hat mit diesen Verträgen den Weg für die Entspannungspolitik frei gemacht; denn ohne oder gegen die Bundesrepublik Deutschland kann es logischerweise keine Entspannung zwischen Ost und West in Europa geben.In diesem Zusammenhang darf ich aus der Rede des sowjetischen Außenministers vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein Zitat anführen. Herr Gromyko sagte:Die Wendung, die die Ereignisse auf dem internationalen Schauplatz in den letzten Jahren nehmen, überzeugt davon, daß die Sicherung eines dauerhaften Friedens auf Erden nicht einfach ein edles Ideal ist, sondern eine durchaus zu verwirklichende Aufgabe der praktischen Politik.In diesem Geiste, meine Damen und Herren, und in dieser Absicht, einen Beitrag zur praktischen Politik zu leisten, habe ich die Gespräche mit Herrn Gromyko und den Außenministern Polens und der Tschechoslowakei geführt, habe ich den drei Außenministern versichern können, daß es die feste Absicht der Bundesregierung ist, auf der Grundlage der geschlossenen Verträge den konsequenten Ausbau unserer bilateralen Beziehungen mit diesen Staaten voranzutreiben.Unser Ziel heißt unverändert: den Frieden sicherer machen, die gegenseitigen Kontakte entwickeln, ein Netz von praktischen Verbindungen und Inter-
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Bundesminister Scheelessen flechten, und dies alles zum Wohle der Menschen in Ost und West. Aber wie mein sowjetischer Kollege, Herr Gromyko, nüchtern feststellte, handelt es sich bei der zu verwirklichenden Aufgabe um praktische Politik. Daß in der Praxis der Entspannungs- und Friedenspolitik Meinungsunterschiede und Differenzen aufkommen können, ist eigentlich zu selbstverständlich, um darüber zu sprechen. Nur sollten wir gelegentlich die Erfolge der bereits durchschrittenen Wegstrecke nicht an den gegenwärtigen Schwierigkeiten messen, sondern mit dem vergleichen, was noch vor wenigen Jahren war.
Unser Handel mit Osteuropa hat einen bedeutenden Aufschwung erfahren. Die Inbetriebnahme der Gasleitung aus der Sowjetunion auf der Grundlage des Erdgas-Röhren-Geschäftes ist ein wichtiger Durchbruch in einem Teilgebiet. Kontakte auf zahlreichen Lebensgebieten haben sich entwickelt, vielfältige Begegnungen auf allen Ebenen sind zustande gekommen. Der Vertiefung und Festigung dieser Entwicklung haben meine Gespräche mit den osteuropäischen Außenministern gedient.Mit Herrn Gromyko konnte vereinbart werden, daß Anfang November eine umfassende Außenministerkonsultation in Moskau stattfinden wird. Diese Konsultation wird in wenigen Tagen auf hoher Beamtenebene vorbereitet werden, so daß es möglich sein dürfte, in den drei bis vier Tagen meines Aufenthalts in Moskau die ganze Bandbreite unserer Beziehungen zu erörtern und, soweit möglich, zu regeln.Mit meinem polnischen Kollegen, Herrn Olszowski, habe ich für den in diesem Monat vorgesehenen Besuch in Warschau eine Grundlage schaffen können. Auch hier gilt, daß Friedenspolitik praktische Politik ist. Die Beziehungen zweier Völker sind nicht durch Worte mit Leben zu erfüllen.
Wir müssen in den Beziehungen zu Polen erreichen, daß die unglückselige Vergangenheit nicht zu Lasten einzelner Menschen oder Gruppen von Menschen abgetragen wird, sondern daß sie durch den lebendigen Austausch auf allen Gebieten überwunden wird.
Eine wichtige Frage in meinen Gesprächen in Warschau wird sein, ob und wie die Bundesrepublik Deutschland einen substantiellen Beitrag zur Entwicklung einer langfristig angelegten wirtschaftlichen Kooperation leisten kann.In meinen Gesprächen mit dem Außenminister der Tschechoslowakei, Herrn Chnoupek, stand die Frage der Normalisierung der Beziehungen im Mittelpunkt. Wie Sie wissen, haben wir mit der Regierung der Tschechoslowakei einen Vertrag ausgehandelt und paraphiert, der unterschriftsreif vorliegt. Dieser Vertrag enthält eine für beide Seiten befriedigende Regelung des Problems des sogenannten Münchener Abkommens. Ziel dieses Normalisierungsvertrages war zunächst die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, nicht als ein Endziel derNormalisierung, sondern als eine formale Voraussetzung.Auch mit Ungarn und Bulgarien besteht Einvernehmen darin, daß die Aufnahme diplomatischer Beziehungen wünschenswert sei.Wenn es trotzdem noch nicht zu dieser Aufnahme diplomatischer Beziehungen gekommen ist, so liegt dies daran, daß wir uns im Interesse einer reibungslosen Entwicklung unserer Beziehungen über den Umfang der Befugnisse unserer zukünftigen Botschaften einig werden müssen. Diese Klarheit besteht im Augenblick noch nicht.Die Schwierigkeiten hängen mit der Auslegung des Viermächteabkommens über Berlin zusammen. Wenn die Bundesregierung erwartet, daß der Rechtshilfeverkehr für Westberliner Gerichte, der ja im Interesse der Personen mit ständigem Wohnsitz in West-Berlin geschieht,
über die jeweilige Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in einem osteuropäischen Land geleitet wird, so steht sie damit auf sicherem Boden.
Das Haager Übereinkommen von 1954 und das Wiener Übereinkommen von 1963, bei denen die Bundesrepublik jeweils bei ihrem Beitritt eine Berlin-Erklärung abgegeben hat, decken diesen Standpunkt vollständig. Seit 1952 sind wir im Westen so verfahren. Dadurch hat sich der Status von Berlin nicht verändert. Ich sehe nicht recht, warum er sich verändern sollte, wenn wir jetzt auch den sozialistischen Ländern gegenüber so verfahren.
Das ist eben keine Statusfrage, sondern eine Frage praktischer Vernunft.
Die Bundesregierung wird weiterhin mit Geduld und Zähigkeit ihren Standpunkt vertreten und nach einer praktischen Lösung suchen. Meine Gespräche mit den osteuropäischen Kollegen haben mich in der Auffassung bestärkt, daß es eine solche Lösung in Zukunft geben kann. Ich hoffe, daß die etwas nervösen und nicht immer von Sachkunde getrübten Diskussionen der letzten Tage diese Aussichten nicht verschlechtert haben.
Das Viermächteabkommen über Berlin ist ein gutes Abkommen. Dieses Abkommen hat die Lage der Stadt und ihrer Bürger im Vergleich zu früher erheblich verbessert.
Der ungehinderte Zugang zu Lande ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Besuche im östlichen Teil der Stadt und den umliegenden Gebieten gehören zur Routine; zahlreiche andere Verbesserungen sind eingetreten. Das Ganze ist ein mit großen Anstrengungen unter Wahrung der grundsätz-
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Bundesminister Scheellichen Rechtspositionen geschaffener praktischer Kompromiß. Das schließt nicht aus, daß wir in Einzelfällen immer wieder vor die Frage gestellt sind, welche praktische Regelung dem Buchstaben und dem Geist des Abkommens wirklich entspricht.Um es gleich vorwegzunehmen: Das Berlin-Abkommen, das für die Berliner Bevölkerung substantielle Verbesserungen gebracht hat, eignet sich nicht zum Bremsklotz, den man immer dann auf die Schienen legen kann, wenn einem die Entspannungspolitik nicht paßt.
Dazu ist die Funktion Berlins für den Frieden und die Bntspannung Europas viel zu zentral. Berlin ist und bleibt der Gradmesser der Entspannung.Deshalb ist es nicht die Absicht der Bundesregierung, dieses Abkommen stillschweigend zu erweitern oder zu umgehen. Die Bundesregierung hält sich an die Abmachung, die beim Besuch des Generalsekretärs der KPdSU, Herrn Breschnew, in Bonn getroffen worden ist: strikte Respektierung und volle Anwendung. Volle Anwendung bedeutet, daß alle Teile des Abkommens — Zugangsregelung, Bindungen West-Berlins an den Bund und Außenvertretung — ein unteilbares Ganzes bilden.
Über diese Grundsätze habe ich mit den drei osteuropäischen Außenministern gesprochen. Ihre Reaktionen haben mir gezeigt, daß auch sie den Willen haben, über die aufgetretenen Schwierigkeiten, die man als Übergangsschwierigkeiten bezeichnen kann, hinwegzukommen. So notwendig und legitim es ist, daß wir zu einer möglichst günstigen Auslegung des Berlin-Abkommens gelangen, so sehr müsen wir uns vor Übertreibungen hüten.Vor einiger Zeit hat eine deutsche Zeitung gefragt, ob der Rechtshilfeverkehr für Westberliner Gerichte die Bewährungsprobe für die Entspannungspolitik sei. Ich gebe zu, daß heute mehr Leute als noch vor ein paar Monaten wissen, was Rechtshilfeverkehr ist. Aber die Bewährungsprobe für die Entspannungspolitik ist nicht der Rechtshilfeverkehr, sondern die Bewahrung des Friedens.
Die Geschichte, meine Damen und Herren, verläuft sicherlich nicht in scharfen Zäsuren. Der Übergang, in dem wir uns befinden, hat sich seit Jahren angekündigt; die Umrisse einer neuen weltpolitischen Konstellation treten immer deutlicher hervor. Dies ist der Gesamteindruck, den ich von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mitbringe. Die beiden Weltmächte werden sich weiter aufeinander zubewegen, nicht zuletzt, weil sie unter der Last ungeheurer Rüstungsausgaben stehen. Die wirtschaftlichen und währungspolitischen Probleme in der Welt werden immer drängender. Rohstoff- und insbesondere Energieprobleme können Ursachen neuer Konflikte werden und bestehende Konflikte verschärfen. Die europäische Einigung wird nicht das Ergebnis einer prästabilierten Harmonie sein; sie muß erkämpft werden, vor allem muß sie erkämpft werden unter den Europäern, ja, manchmal gegen die Europäer selbst.Die Forderung der sogenannten Dritten Welt wird immer unüberhörbarer an die Adresse der industrialisierten Staaten gerichtet.In dieser sich verändernden Welt darf die Bundesrepublik Deutschland kein Spielball sein, aber auch kein Hindernis, an dem die Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung zerbrechen. Eine gute Außenpolitik kann eine Zeitlang die Stellung halten; ausfüllen kann sie nur der geschlossene Wille von Regierung und Opposition, das Taktische, das Periphere, das Sekundäre zu vergessen, um in einer Welt voller Risiken die wesentlichen Interessen unseres Landes zu erhalten.Ein Land, das geteilt ist, steht in der Gefahr, seine Identität zu verlieren. Nicht die übermäßige und unproportionierte Hinwendung zur Außenpolitik, nicht die sensationelle Behandlung außenpolitischer Randfragen führen zum Erfolg. Wenn die eigene Identität verlorenginge, würde unsere außenpolitische Aktivität die Zeichen einer kollektiven Neurose annehmen. Nur die gemeinsame Besinnung auf unsere grundlegenden Interessen verschafft uns Achtung und Gehör im Kreise der Nationen, der aktive Wille zum Frieden, die Bewahrung der Freiheit, der Beitrag zu mehr Gerechtigkeit.
Meine Damen und Herren, Sie haben die Regierungserklärung gehört. Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Dr. Carstens. Seine Fraktion hat eine Redezeit von 45 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bürger unseres Landes haben die diesjährige Generalversammlung der Vereinten Nationen mit größerer Aufmerksamkeit und größerem Interesse verfolgt als irgendeine vorangegangene Sitzung der Weltorganisation. Es waren wohl vor allem drei Reden, die ihre Aufmerksamkeit gefunden haben, die Rede des Bundesministers des Auswärtigen, die Rede des Bundeskanzlers und die Rede des amerikanischen Außenministers, der wenige Tage zuvor in sein neues Amt berufen worden war.Die Rede des Bundesministers des Auswärtigen vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen war — das begrüßen wir ausdrücklich — zuvor mit den Mitgliedern der deutschen Delegation, die zu den Vereinten Nationen gereist war, einschließlich der beiden der CDU/CSU angehörenden Mitglieder, erörtert worden. Dadurch war ein Kontakt hergestellt worden, den wir als eine gute Voraussetzung für eine zukünftige Zusammenarbeit auf diesem Gebiet ansehen.Der Außenminister hat in seiner Rede die großen Ziele und Fragen der deutschen Politik, die Einheit der Nation und ihre Wiedergewinnung in freier Selbstbestimmung, das europäische Einigungswerk, in Verbindung gesetzt zu den großen Zielen und Anliegen der Weltorganisation, der Hilfe für die Dritte Welt und der Erhaltung des Friedens.
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Dr. Carstens
Ebenso hat der Bundeskanzler in seiner Rede vor der UNO, in einer, wie ich sagen möchte, eindrucksvollen Rede, die großen Fragen unseres Volkes, die Frage der geteilten Nation, die Todesopfer als Folge der Teilung Europas und unseres Landes, angesprochen. Er hat darauf verwiesen, daß die Bundesrepublik Deutschland die Interessen WestBerlins vor der Weltorganisation wahrnimmt; er hat ein gutes Wort gefunden zu dem Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der Nichteinmischung und dem Grundsatz der universalen Geltung der Menschenrechte. Wenn er das, was er vor den Vereinten Nationen gesagt hat, 14 Tage vorher hier gesagt hätte, wäre uns ein Teil der Debatte erspart geblieben, die wir hier vor 14 Tagen geführt haben. Der Bundeskanzler hat dann eine Reihe großer Perspektiven für die zukünftige Aufgabe der Weltorganisation entwickelt, in denen viel Idealismus, viele gute Wünsche stecken mögen, die uns aber doch als wichtig für die Arbeit der Vereinten Nationen und die Mitarbeit der Bundesrepublik Deutschland in dieser Organisation erscheint. Der Bundeskanzler hat in dieser Rede aber auch wieder das getan, was er so oft tut, wenn er hier in unserem Lande spricht: Er formuliert so, daß man den Eindruck hat, was er mit der einen Hand gibt, nimmt er mit der anderen wieder weg. Er sagte an einer Stelle:Wir sind nicht hierhergekommen, um die Vereinten Nationen als Klagemauer für die deutschen Probleme zu betrachten oder um Forderungen zu stellen, die hier ohnehin nicht erfüllt werden können.Die CDU/CSU-Fraktion, Herr Bundeskanzler, hätte es begrüßt und hätte von Ihnen erwartet, daß Sie den Zusammenhang zwischen dem Prinzip der Wahrung der Menschenrechte und der Situation im geteilten Deutschland hergestellt hätten und daß Sie die Vereinten Nationen als die Garanten der Menschenrechte in der ganzen Welt darauf hingewiesen hätten, daß in einem Teil Deutschlands der dort lebenden deutschen Bevölkerung die Menschenrechte vorenthalten werden.
Wir haben es sehr bedauert, Herr Bundeskanzler, daß Sie unseren beiden Fraktionskollegen, die zu der Delegation in New York gehören, keine Gelegenheit gegeben haben, mit Ihnen über Ihre Rede zu sprechen.
Dies wäre nach unserer Auffassung guter Stil, auch guter parlamentarischer Stil einer Zusammenarbeit gewesen, die Sie doch offenbar alle anstreben, meine Damen und Herren.
Die dritte große Rede, auf die ich die Aufmerksamkeit des Hohen Hauses lenken möchte, war die Rede des neuernannten amerikanischen Außenministers Henry Kissinger. Er leitete sie mit einem Zitat von Kant — aus Kants Schrift „Zum ewigen Frieden" — ein. Ich weiß nicht, ob es manchem von Ihnen so ergangen ist wie mir: dies, fand ich, war doch eine Szene, die einen Deutschen, der ein Gefühl für deutsche Geschichte und deutsche Vergangenheit hat, mit Bewegung erfüllen mußte.
Der amerikanische Außenminister, vor 50 Jahren in Fürth in Bayern geboren, wäre ohne die entsetzlichen Ereignisse der Jahre zwischen 1933 und 1945 heute wahrscheinlich ein Bürger dieses Landes, und Immanuel Kant lebte und wirkte und starb in Königsberg, das heute Kaliningrad genannt wird und nach einer 700jährigen deutschen Geschichte nicht mehr zu uns gehört.Auch der amerikanische Außenminister hat mit Leidenschaft und mit Pathos an die großen Ziele der Charta der Vereinten Nationen, die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und den Frieden und die internationale Solidarität appelliert. Aber er hat in seiner Rede, wie ich glaube hervorheben zu sollen, doch auch einige Elemente von Nüchternheit gezeigt. Ich hätte es begrüßt, wenn die beiden Vertreter der Bundesrepublik Deutschland auch vielleicht ein wenig an Nüchternheit hätten einfließen lassen in die von besten Absichten erfüllten Ausführungen, die sie dort gemacht haben.
Der amerikanische Außenminister sagte wörtlich — und ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident —: „Entspannung bedeutet für manche nur ein taktisches Zwischenspiel, bevor der Kampf wieder aufgenommen wird." An einer anderen Stelle sagte er: „Wir werden jeder Nation entgegentreten, • die eine Hegemonie über eine andere Nation anstrebt." Und schließlich sagte er: „Wir werden niemals unsere Verbündeten und Freunde preisgeben."Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt diese Rede. Sie begrüßt die darin klar zum Ausdruck gekommene Erneuerung der Bündnisverpflichtungen der Vereinigten Staaten. Sie sieht darin einen wesentlichen Beitrag für die Sicherheit und damit auch für den Frieden auf. der Welt. Sie erklärt erneut ihre Bereitschaft, sich an den Gesprächen — an den sicherlich schwierigen Gesprächen — über eine gerechte Lastenverteilung im Bündnis und über die Zukunft der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und den westeuropäischen Ländern zu beteiligen.In dieser im ganzen harmonischen Atmosphäre, die in New York anläßlich des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen entstand, erklangen nun allerdings auch einige Mißtöne.Der erste dieser Mißtöne kam aus New York selbst. Der Außenminister der DDR, Herr Winzer, sagte in seiner Rede anläßlich der Aufnahme der DDR in die UNO folgendes — ich zitiere —:Aus der Gegensätzlichkeit der gesellschaftlichen und politischen Ordnungen ergibt sich als zwingende Schlußfolgerung, daß zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland eine Wiedervereinigung niemals möglich sein wird.
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Dr. Carstens
Meine Damen und Herren, vielleicht ist es nicht überraschend, daß er dies gesagt hat, aber diese seine Worte zeigen doch mit großer Deutlichkeit die tiefe Meinungsverschiedenheit, die über die Interpretation der Verträge und hier speziell des Vertrages, den die Bundesrepublik Deutschland mit der DDR geschlossen hat, fortbesteht.Ein zweiter Mißton wurde hier bei uns in der Bundesrepublik hörbar. Es wurde nämlich in diesen Tagen ein Dokument aus dem Jahre 1968 veröffentlicht, welches die Unterschritf des damaligen Botschafters und Leiters des Planungsstabes und heutigen Bundesministers Egon Bahr trägt. Man könnte dieses Dokument vielleicht als das Grundlagenpapier der Bahrschen Politik bezeichnen. Seine Echtheit ist nicht bestritten worden. Ich möchte es zum Gegenstand einer kurzen Betrachtung machen, da ich der Meinung bin, daß seine Wirkung und seine Bedeutung sich nicht auf das Jahr 1968 beschränken, sondern unmittelbar in die Gegenwart hineinreichen.Der Verfasser dieses Dokuments sieht voraus, daß es demnächst zu Verhandlungen über Truppenreduzierungen kommen wird. Er bietet für diese Verhandlungen mehrere verschiedene Modelle an und entscheidet sich schließlich für das von ihm als „Modell C" bezeichnete Modell. Dieses Modell sieht vor: die Auflösung der Bündnisse, den Abzug der sowjetischen und amerikanischen Truppen, die Schaffung eines Sicherheitssystems in Europa, dem mindestens sieben europäische Staaten angehören sollen, nämlich die Bundesrepublik, die DDR, Belgien, die Niederlande und Luxemburg, Polen und die Tschechoslowakei. England und Frankreich können nach diesem Papier dem Sicherheitssystem beitreten, werden es aber wahrscheinlich nicht tun. Die weiteren Überlegungen bauen auf der Prämisse auf, daß sie es nicht tun werden.Sie, Herr Bundesaußenminister, haben eben gesagt, daß sich das deutsch-französische Verhältnis wenig dazu eigne, der Bundesregierung etwas am Zeuge zu flicken. Vielleicht hören Sie sich aber doch einmal etwas genauer an, welche Pläne ein — damals schon und jetzt noch mehr — hervorragender Mitarbeiter des Bundeskanzlers für das deutschfranzösische Verhältnis entwickelt hat.Innerhalb dieses Sicherheitssystems sollen der Osten und der Westen gleich stark sein. Es heißt, der Abbau der Verteidigungskräfte der Bundesrepublik sei unmittelbar notwendig, damit der Gleichstand mit dem Osten erreicht wird. Das System soll durch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion garantiert werden. Der Verfasser verspricht sich von diesem Konzept engere KontakteDDR zwischen der Bundesrepublik und der DDR und —so sagt er — das Freisetzen von Kräften, die auf eine Annäherung der beiden deutschen Staaten hinzielen.Sehr nüchtern wird in diesem Papier — und das begrüße ich die Folge eines solchen Konzeptes für die westeuropäische Einigung eingeschätzt. Ich zitiere wörtlich:Nehmen nur einige mitteleuropäische Staaten amSicherheitssystem teil, so werden sich schon fürdie Weiterentwicklung des Gemeinsamen Marktes Schwierigkeiten ergeben. Eine Fortsetzung der Bemühungen um eine westeuropäische politische Integration erscheint nahezu ausgeschlossen.
Ich glaube, die Feststellung, die hier getroffen wird, ist richtig. Ich habe, ohne dieses Papier zu kennen, von mir aus diese Schlußfolgerung aus ähnlichen Plänen immer gezogen. Es hindert den Verfasser aber nicht, sich eindeutig für dieses Konzept auszusprechen.Er faßt allerdings auch noch eine andere negative Wirkung ins Auge, nämlich eine vermutliche Lockerung der Bindungen zwischen der Bundesrepublik und Berlin. Trotzdem sagt er, dieses Modell eröffne einen konkreten Weg zur optimalen Wahrnehmung unserer nationalen Interessen, es entspreche unseren Interessen eindeutig am besten. Ich zitiere dem Sinne nach:Zwar wird es in absehbarer Zeit nur geringe Aussicht haben, verwirklicht zu werden. Trotzdem sollte man es vorschlagen; denn Vorschläge haben ihr eigenes Gewicht.
Ich habe mehrfach gesagt, daß ein Mitglied der Bundesregierung und auch der jetzt amtierenden Bundesregierung, das an einer hervorragenden Stelle steht, entgegen den immer wiederholten Erklärungen dieser Bundesregierung einem zentraleuropäischen Sicherheitssystem den Vorzug vor der westeuropäischen Einigung und erst recht vor dem atlantischen Bündnis gibt. Meine Damen und Herren, ich sehe es als meine Pflicht an, darauf hinzuweisen, und ich werde mir auch durch noch so unfreundliche Bemerkungen, die dieserhalb gemacht worden sind, dieses Recht nicht nehmen lassen.
Besonders beunruhigend aber erscheinen in diesem Papier die Vorschläge, die sich auf Berlin beziehen. Es werden der Abzug der Truppen der Vier Mächte aus Berlin und ihre Ersetzung durch Truppen des Systems außer der Bundesrepublik und der DDR vorgeschlagen. Das bedeutet praktisch, daß einerseits die drei Westmächte, die USA, England und Frankreich, wenn England und Frankreich dem System nicht angehören, durch belgische, niederländische und luxemburgische Truppen und andererseits die Truppen der Sowjetunion durch polnische und tschechische Truppen ersetzt werden.Nun sieht zwar dieses Konzept vor, daß bei einer Verletzung der Grenzen innerhalb des Systems die beiden Garantiemächte, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten, eingreifen können, aber nur wenn der Sicherheitsrat dieses Sicherheitssystems zustimmt. Dazu sagt das Papier ausdrücklich: Im Sicherheitsrat darf die östliche Seite nicht überstimmt werden.
Meine Damen und Herren, es fällt mir schwer, fürdie Charakterisierung dieses Vorschlags die Ruheund Gelassenheit zu bewahren, die ich mir auch bei
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Dr. Carstens
schwierigen Auseinandersetzungen an sich zu zeigen vorgenommen habe. Ich finde, das mindeste, was man davon sagen kann, ist, daß es ein perfekter Plan zum Abbau der Sicherheit West-Berlins ist.
Nun, meine Damen und Herren, wissen Sie alle, daß Anfang dieses Jahres ganz ähnliche Pläne durch den amerikanischen Professor Hahn veröffentlicht worden sind. Damals hatte die Bundesregierung eine Reihe von Erklärungen abgegeben, die sie vielleicht noch einmal korrigieren sollte, auch im Interesse von Professor Hahn, dem sie nämlich falsche Berichterstattung und was weiß ich alles vorgeworfen hatte. Diesmal liegt ein Dokument vor, welches von dem Verfasser selbst unterzeichnet wurde. Die Bundesregierung wird auch schwerlich sagen können, es handle sich hier um ein abstraktes, theoretisches Denkmodell, dem keine Bedeutung beizumessen sei. Meine Damen und Herren, ich habe diese Art der Darstellung immer als wenig schmeichelhaft für den Verfasser empfunden, und ich möchte hinzufügen, daß diese Art der Darstellung nach meiner Auffassung dem Verfasser in keiner Weise gerecht wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Professor Schweitzer?
Herr Kollege Carstens, würden Sie mir von der Theorie und Praxis außenpolitischer Entscheidungsprozesse her nicht zustimmen, daß es zum Wesen der Aufgaben eines Planungsstabes eines Auswärtigen Amts gehört, die verschiedensten Alternativen auszuarbeiten, durchzudiskutieren und mit Voten zu versehen? Und würden Sie zweitens bereit sein, mit mir als einem der gelegentlichen Berater solcher Planungsstäbe im Auswärtigen Amt einmal die Alternativen durchzugehen, die schon unter dem Vorgänger des Kollegen Bahr, nämlich des Herrn Diehl, der Ihnen sicherlich nähersteht als uns, entwickelt wurden, um festzustellen, was damals alles durchgespielt wurde, und dann dem Hohen Hause erneut darüber zu berichten?
Herr Kollege Schweitzer, ich bin sehr gerne bereit, mich mit Ihnen über diesen Komplex einmal separat zu unterhalten.
Es dreht sich nicht darum, meine Damen und Herren, daß hier irgendwelche abstrakten Denkmodelle entwickelt worden sind,
sondern es sind Denkmodelle, zwischen denen eine Auswahl vorgenommen worden ist. Die Auswahl entschied sich zugunsten des eben von mir zitierten Modells. Ich bin auch noch gar nicht am Ende, Herr Kollege Schweitzer, warten Sie noch einige Minuten, dann werden Sie Ihre Frage vielleicht nicht wiederholen.
Dasselbe oder ein ganz ähnliches Denkmodell hat
der Verfasser dem Professor Hahn — ich sagte es
schon ein Jahr später im Jahre 1969 vorgetragen.
Im Frühjahr 1970 entsandte der Bundeskanzler denselben inzwischen zum Staatssekretär im Bundeskanzleramt ernannten Verfasser dieser Denkschrift, Herrn Bahr, zu Verhandlungen in die Sowjetunion, ohne ihm, wie wir wissen, Instruktionen mit auf den Weg zu geben.
Ja, es ist so. Es tut mir leid. Wenn Sie mir die
Instruktionen zeigen können, die Herr Bahr damals erhalten hat, bin ich jederzeit bereit, diese Erklärung zu korrigieren.
Nun kann man sagen, 1969 liegt lange zurück, 1970 liegt lange zurück. Aber ich finde doch, daß wir diesem Komplex die Aufmerksamkeit widmen sollten, die ihm gebührt. Im Dezember 1972, vor noch nicht einem Jahr, sagte der inzwischen zum Bundesminister ernannte Verfasser dieser Denkschrift in der Euphorie des gewonnenen Wahlkampfes im Flugzeug nach Berlin zu einigen dort anwesenden Journalisten folgendes. Ich zitiere aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 23. Dezember 1972:
Der europäischen Entspannung stünden, so meinte Bahr, einstweilen noch drei große Hindernisse im Wege: die Militärbündnisse, die Gesellschaftsfrage und die Machtfrage. Über die Militärbündnisse könne man vielleicht in ein paar Jahren verhandeln.
Meine Damen und Herren, diese Erklärung ist nie dementiert worden. Der Autor dieser Erklärung gilt als einer der zuverlässigsten Journalisten in unserem Lande. Es führt eine klare und direkte Brücke von dem Plan des Jahres 1968 über das Gespräch des Jahres 1969 bis hin zu dieser Erklärung im Flugzeug nach Berlin im Jahre 1972.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hirsch?
Herr Professor Carstens, darf ich mich bei Ihnen darüber vergewissern, ob die Vorstellungen, die Sie hier eben vorgetragen haben, in der Zeit entwickelt worden sind, als Sie Staatssekretär im Auswärtigen Amt waren?
Ich war nicht Staatssekretär im Auswärtigen Amt in dieser Zeit, sondern ich war Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Ich habe niemals eine Silbe von diesen Erwägungen gehört, noch hat, soviel ich weiß, der damalige Bundeskanzler jemals eine Silbe von diesen Erwägungen erfahren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kiesinger?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 2989
Herr Kollege Carstens, darf ich bei dieser Gelegenheit die Frage stellen, ob Sie es für angemessen gehalten hätten, wenn der damalige Außenminister der Großen Koalition von derartig weittragenden Plänen, die innerhalb seines Ministeriums entworfen wurden, dem damaligen Bundeskanzler loyalerweise Mitteilung gemacht hätte?
Ich glaube in der Tat, Herr Bundeskanzler Kiesinger,
daß dies der Zusammenarbeit innerhalb der damaligen Koalition dienlich gewesen wäre.Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler, der jetzt amtierende Herr Bundeskanzler, hat die Liebenswürdigkeit gehabt, meine Ausführungen zu diesem Thema vor zwei Wochen als groben Unfug zu bezeichnen.
Ich bin sehr gespannt darauf, zu hören, was der Herr Bundeskanzler heute dazu sagen würde. Ich würde, wenn er die Ausführungen des Herrn Bahr als groben Unfug bezeichnen sollte, dies als eine sehr milde Einstufung betrachten.
Der dritte Mißton, der während dieser Woche zu hören war, meine verehrten Kollegen und Kolleginnen, erscholl aus Leningrad und Moskau. Aber er kam nicht aus sowjetischem Mund, sondern aus dem Munde des Fraktionsvorsitzenden der SPD, unseres Kollegen Wehner. Es liegt über die Äußerungen, die Kollege Wehner in der Sowjetunion getan hat, eine so große Zahl von Meldungen vor, daß es mir unmöglich ist, sie Ihnen alle hier bekanntzugeben. Ich möchte mich daher auf zwei Meldungen stützen, beide von dpa — einer gut renomierten Nachrichtenagentur, würde ich sagen , beide veröffentlicht im „Nachrichtenspiegel" des Bundespresse- und Informationsamtes, so daß ich auch insofern, glaube ich, wenn ich sie zitiere, auf einem einigermaßen soliden Boden stehe.
Die erste dieser Meldungen lautete, daß Herr Kollege Wehner .gesagt habe: „Was Berlin betrifft, so haben wir auf unserer Seite ein wenig überzogen." Das war die Meldung vom 24. September. Dann kam eine weitere Meldung, die lautete — ich zitiere wörtlich --:Das Viermächteabkommen ist das bestmögliche, das unter den Umständen zu erreichen war. In dieser Haltung unterscheide ich mich von fast allen bei uns. Ich teile die Meinung derer, die meinen, man müsse einiges tun; um Berlin zu stärken. Aber das Viermächteabkommen ist nun einmal die Rechtsgrundlage, und wenn einigedieses Abkommen zu unterlaufen und zu schädigen suchen, dann mache ich da nicht mit.
Meine Damen und Herren, ich meine, daß der Kollege Wehner mit dieser Kampagne, die er von der Sowjetunion aus entfesselte, so ziemlich gegen alle Grundsätze verstoßen hat, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten im Verhältnis zwischen Regierung und Parlament in Fragen der Außenpolitik, insbesondere der Berlin-Politik, entwickelt haben.
Er hat in schwebende Berlin-Verhandlungen öffentlich kontrovers eingegriffen. Er ist damit dem Bundesaußenminister in einem Augenblick in den Rükken gefallen, in dem dieser gerade in New York mit seinem tschechischen Kollegen Gespräche über Berlin führte. Er schwächte damit die Verhandlungsposition der Bundesrepublik gegenüber der Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien und der Sowjetunion und unterstützte die Position des großen Gegenspielers in dieser Frage, während er sich im Lande dieses großen Gegenspielers, nämlich der Sowjetunion, aufhielt. Er brach damit aus der Delegation, der er angehörte, einer Goodwill-Delegation unter Führung der Präsidentin dieses Hauses, aus. Er verletzte nach meiner Auffassung die Interessen der Bundesrepublik und die Interessen West-Berlins -- ich werde das gleich noch begründen —, und er verließ den Bereich, in dem bis jetzt noch eine Gemeinsamkeit zwischen den Parteien dieses Hauses bestand.Ich möchte an dieser Stelle den beiden Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, die an der Reise teilgenommen haben, den Kollegen Stücklen und von Weizsäcker, ausdrücklich dafür danken, daß sie in so ruhiger, sachlicher und undramatischer Form den Standpunkt der CDU/CSU in der Sowjetunion vertreten haben. Ihre Gespräche mit ihren sowjetischen Partnern sind in guter Atmosphäre verlaufen und haben auch zu übereinstimmenden Feststellungen geführt. Meine Damen und Herren, es ist die Erfahrung, die alle gemacht haben, die mit der Sowjetunion, mit sowjetischen Politikern und Unterhändlern, verhandelt haben, daß ein ruhiges, festes Auftreten und die Wahrung der eigenen Interessen bei den sowjetischen Führern letzten Endes mehr Eindruck machen als eine allzu große Nachgiebigkeit.
Ich meine, daß die beiden Kollegen Stücklen und von Weizsäcker nicht nur der CDU/CSU-Fraktion, sondern der gemeinsamen Sache aller Deutschen einen Dienst erwiesen haben.
Achr Ihnen, Frau Präsidentin, möchte ich namens der CDU/CSU-Fraktion dafür danken,
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7990 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Dr. Carstens
— lassen Sie mich doch wenigstens mit der Präsidentin des Hauses sprechen, ohne mich zu unterbrechen! —,
daß Sie als die Leiterin der Delegation die bestehenden Gemeinsamkeiten, die uns alle noch verbinden, in Ihren Gesprächen in der Sowjetunion mit sowjetischen Gesprächspartnern hervorgehoben haben, nämlich unser Eintreten für Frieden, Freiheit und Entspannung.
Nun liegt es mir ja ganz fern ich bitte, michda nicht mißzuverstehen —, etwa alles das für gut zu halten, was die Bundesregierung in dieser Frage unternommen hat. Ich komme zurück auf einen Punkt, den ich vor diesem Hohen Hause schon mehrfach dargelegt habe:
Die entscheidende Weiche in der Frage der Sicherung der Interessen West-Berlins gegenüber den osteuropäischen Staaten wurde im Herbst des vergangenen Jahres anläßlich des Abschlusses des Grundvertrages falsch gestellt. Damals bestand die Chance — wie ich oft gesagt habe: die historische Chance —, in dem Augenblick, wo die Bundesrepublik Deutschland ihre deutschlandpolitischen Trümpfe weggab — ob zu Recht oder Unrecht, will ich jetzt nicht diskutieren; sie gab sie weg; es war der Entschluß der Bundesregierung, so zu verfahren und so zu verhandeln: der DDR den Eintritt in die Vereinten Nationen zu ermöglichen, die Grenzen anzuerkennen, die DDR selber als zweiten deutschen Staat anzuerkennen, auf den Alleinvertretungsanspruch zu verzichten und der DDR grünes Licht für diplomatische Beziehungen mit allen anderen Ländern der Welt zu geben —, damals bestand die bis zu einem gewissen Grade unwiederbringliche Chance, Berlins Interessen und die Verbindung Berlins mit uns — und ich möchte ausdrücklich hinzufügen, damit darüber überhaupt keine Meinungsverschiedenheit und kein Mißverständnis zwischen uns entstehen können: selbstverständlich auf der Grundlage des Viermächteabkommens — sicherzustellen. Das ist versäumt worden.Natürlich ist es unendlich viel schwerer, jetzt, nach einem Jahr in Verhandlungen mit den Tschechen das durchzusetzen, was man vor einem Jahr gegenüber der DDR durchzusetzen unterlassen hat.
Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte noch einen kurzen Augenblick bei diesem Thema verweilen. Ich will versuchen, soweit das in menschlichen Kräften steht, durch Worte deutlich zu machen, was ich meine; denn ich kenne die Einwendungen, die jetzt sofort in der folgenden Debatte gegen das vorgebracht werden, was ich soeben gesagt habe. Ich möchte, da ich ungern noch einmal wieder das Wort nehmen möchte, den Versuch machen, diese Einwendungen sozusagen im voraus zu widerlegen.Es wird von seiten der Kollegen von der SPD-Fraktion gegen das, was ich gesagt habe, eingewandt oder es ist zumindest in der Vergangenheit eingewandt worden —, die Alliierten hätten nicht zugelassen, daß wir anläßlich des Abschlusses des Grundvertrages Berlin in der Weise, wie ich das soeben skizziert habe, einbezogen hätten. Diese Behauptung ist einfach. falsch. Ich habe mich selbst bei den Alliierten erkundigt. Diese standen und stehen auf dem Standpunkt, das sei eine deutsche Sache gewesen, in die sie sich nicht eingemischt hätten.Dann wird gesagt: Wir haben ja in dem Grundvertrag vom vorigen Jahr nichts weiter getan als die Formel wiederholt, die im Viermächteabkommen vom Jahre 1971 steht. Aber auch das ist falsch; denn im Viermächteabkommen — das wird immer geflissentlich unterschlagen — steht, daß die Sowjetunion keine Einwände dagegen erheben wird, daß die völkerrechtlichen Vereinbarungen, die die Bundesrepublik Deutschland schließt, auf West-Berlin ausgedehnt werden. Ein entsprechender Satz fehlt eben im Grundvertrag. Im Grundvertrag hat sich die Regierung damit zufriedengegeben, daß gesagt wurde: Die Einbeziehung West-Berlins kann bei den Folgeverträgen im jeweiligen Fall vereinbart werden. Damit ist alles offengeblieben, und die mühevolle Aushandlung der Einbeziehung West-Berlins wird nun bei jedem dieser Folgeverträge, bei denen jeweils die Interessenlage durchaus unterschiedlich ist, teils mehr zu unseren Gunsten, teils mehr zu Gunsten der DDR nachgeholt werden müssen.Schließlich wird drittens gesagt — ein in meinen Augen ganz absurdes Argument, aber es wird immer wieder hervorgeholt —, das Viermächteabkommen beziehe sich gar nicht auf den Komplex der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR, denn es regele nur die Vertretung West-Berlins im Ausland, und die DDR sei für uns kein Ausland. Zunächst glaube ich, daß dieses Argument nicht richtig ist; denn wenn man das Viermächteabkommen genau liest, ist es nach meiner Auffassung auch auf die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR anwendbar. Aber selbst wenn der Standpunkt der Regierung in diesem Punkte richtig sein sollte, wäre es um so notwendiger gewesen, damals das klarzustellen, was nun in Zukunft mühevoll klargestellt werden muß.Schließlich wird gesagt — das habe ich auch schon mehrfach hier gehört —, daß die CDU/CSU in den 20 Jahren, in denen sie die Regierung stellte, auch nicht in der Lage gewesen sei, gegenüber der Sowjetunion die Einbeziehung West-Berlins in die damals geschlossenen Verträge durchzusetzen; da wird auf das Konsularabkommen von, glaube ich, 1960 Bezug genommen.Meine Damen und Herren, jetzt sage ich noch einmal, was ich vorhin versuchte deutlich zu machen. Es muß doch eine Möglichkeit geben, sich durch Worte jedenfalls intellektuell zu verständigen. Mein Argument lautet, daß der der Bundesregierung anzulastende Fehler darin bestand, daß sie die Einbeziehung West-Berlins nicht sicherstellte, als sie ihre sämtlichen deutschlandpolitischen Trümpfe weggab.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 2991
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Insofern war die Situation des Jahres 1972 mit der des Jahres 1960 überhaupt nicht vergleichbar;
denn im Jahre 1960 vertraten wir alle, alle Parteien dieses Hauses, in gemeinsamer Überzeugung den Standpunkt, daß die deutschlandpolitischen Positionen der Nichtanerkennung der DDR, des Festhaltens an der deutschen Einheit und der Nichtanerkennung der Grenzen unter keinen Umständen preisgegeben werden durften. Insofern hatten wir 1960 kein quid pro quo gegenüber der Sowjetunion.Naturgemäß — ich sagte es schon — ist es jetzt schwer, den Standpunkt, den der Herr Bundesaußenminister hier soeben noch einmal entwickelt hat, gegenüber der CSSR und den anderen osteuropäischen Staaten durchzusetzen. Aber die Vorwürfe, die der Kollege Wehner erhoben hat, sind auch sachlich falsch, und darauf möchte ich zum Schluß eingehen. Kein Mensch in diesem Hohen Hause will das Viermächteabkommen schädigen. Wir alle sehen es als die Basis an, auf der und von der aus Berlin-Politik gemacht werden kann. Wir sind alle für eine vernünftige Entspannungspolitik, für die Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion und für die Wahrung des Friedens. Wenn der Kollege Wehner, wie ich aus Berichten entnehme, in Moskau den Eindruck erweckt hat, daß es Gegner der Politik der Verständigung mit der Sowjetunion gebe, gegen die man auch heute noch kämpfen müsse, und dabei offenbar auch gegen die CDU/CSU polemisiert hat, so weise ich diese Unterstellung mit aller Entschiedenheit zurück.
Auf der Grundlage des Viermächteabkommens können bestimmte Dinge nicht mehr geschehen. Das wissen wir, das akzeptieren wir alle. Bundestagssitzungen, Bundesratssitzungen, Sitzungen der Bundesversammlung können in Berlin nicht stattfinden, Amtsakte des Bundespräsidenten und der Bundesregierung können dort nicht vollzogen werden. Niemand von uns denkt daran, diese Bestimmungen des Viermächteabkommens in Frage zu stellen. Und in der Frage des Stimmrechts der Berliner Abgeordneten, meine Damen und Herren, war es nicht die Fraktion der CDU/CSU, die gedrängt hat. Wenn auch wir in der Tat die jetzige Regelung als schmerzlich empfinden, so sehen wir doch, daß sie an heikle Elemente des Viermächteabkommens rührt.Aber im Viermächteabkommen sind gewisse Dinge ganz klar gesagt, die wir tun können. Sie sind ausdrücklich als das Recht der Bundesrepublik Deutschland in bezug auf West-Berlin schriftlich und eindeutig festgelegt worden. West-Berlin kann durch uns konsularisch vertreten werden. Wir können West-Berlin in unsere völkerrechtlichen Verträge einbeziehen. Ausschüsse und Fraktionen des Bundestages können in West-Berlin tagen. Ich möchte noch einmal die Frage stellen, ob es nicht sinnvoll wäre, von dieser klaren, völlig unzweideutigen Ermächtigung, die im Viermächteabkommen enthalten ist, Gebrauch zu machen.
Wir können die Bindungen West-Berlins mit uns aufrechterhalten und fortentwickeln.Wenn in diesen Fragen keine Übereinstimmung mit den östlichen Partnern besteht, dann muß geduldig, undramatisch, unpathetisch mit ihnen verhandelt werden, und der Sache ist gewiß nicht durch polemisierende Äußerungen in der Öffentlichkeit gedient.
Nun haben gestern abend Bundeskanzler Brandt und die SPD-Fraktion einen, ich möchte sagen, verzweifelten Versuch unternommen,
den bis dahin völlig klar zutage liegenden Sachverhalt zu vernebeln. Der Bundeskanzler sprach von einer üblen Kampagne,
die auf Verdrehungen und Verdächtigungen aufgebaut gewesen sei. Er sprach von dem heuchlerischen Versuch, die Gegner und Feinde der Regierungspolitik als ihre Verteidiger erscheinen zu lassen,
und von Manövern, die darauf angelegt seien. Zwietracht unter die Koalitionsparteien zu säen. Ich möchte zunächst sagen, daß dieses Pamphlet — ich kann es zu meinem Bedauern wirklich nicht anders kennzeichnen —
einen üblen Rückfall in Methoden der politischen Auseinandersetzung darstellt, von denen ich gehofft hatte, daß sie überwunden seien.
Statt zu argumentieren, schimpft man. Ich weiß, daß viele so handeln, um damit ihre eigene Schwäche zu verdecken. So wohl auch hier.
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, meinen sollten, daß die Nachrichten aus Leningrad und Moskau auf Verdrehungen und Verdächtigungen beruhen, dann täuschen Sie sich. Ich nehme an, daß Sie den einen oder anderen Journalisten persönlich kennen, der die Delegation begleitet hat. Ich rate Ihnen, mit einem von ihnen einmal ein vertrauliches Gespräch zu führen. Dann werden Sie feststellen, daß der Vorsitzende Ihrer Fraktion mit seiner an fast alle gerichteten Kritik sicherlich den Bundesminister des Auswärtigen, sicher den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und deutsche Diplomaten, sicherlich auch Mitglieder seiner eigenen Fraktion und Partei, wohl auch den Senat von Berlin, aber in erster Linie Sie selbst, Herr Bundeskanzler, gemeint hat
und daß er Ihnen in massiver Form die Führungsfähigkeit absprach. In diesem Punkte hat nach meiner Auffassung der Fraktionsvorsitzende der SPD recht,
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2992 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Dr. Carstens
wenn es mir auch niemals einfallen würde, dies mit seinen Worten auszudrücken.
Das zu tun würde mir der Respekt vor Ihrem hohen Amte verbieten.
Meine Damen und Herren, so stehen wir jetzt, zehn Monate nachdem die Bundesregierung ihr Amt angetreten hat, vor folgender Situation. Wir haben einen Außenminister, der sich für die Stärkung des Bündnisses einsetzt und die Einbeziehung West-Berlins in die Verträge der Bundesrepublik anstrebt.
Wir haben einen Sonderminister im Bundeskanzleramt, der die Lockerung der Verbindung zwischen West-Berlin und dem Bund als eine Folge der von ihm für richtig gehaltenen Entspannungspolitik ansieht und die Auflösung der Militärbündnisse noch bis in die jüngste Zeit hinein als sein Ziel bezeichnet hat. Wir haben den Fraktionsvorsitzenden der größten Partei der Regierungskoalition, der die eigene Regierung beschuldigt, durch ihr Verhalten das Viermächteabkommen zu schädigen, und der ihr während einer Good-will-Reise in die Sowjetunion in massiver Form in den Rücken fällt, und wir haben einen Bundeskanzler, der offenbar ziemlich ratlos vor dieser verworrenen Situation steht
und versucht, durch zugegebenermaßen eindrucksvolle, wohlformulierte Reden, aber, wie gesternabend, auch durch plumpe Beschimpfungen anderer,
die Hilflosigkeit zu verbergen, in der er sich befindet.
Ich überlasse es Ihnen, meine Damen und Herren, die Folgerungen daraus zu ziehen, die Sie ziehen wollen, und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, mit der Sie mir zugehört haben.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte in diesem Augenblick nur zu zwei Punkten Stellung nehmen, die bisher vorgebracht worden sind. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß es der weitere Verlauf der Debatte möglich machen wird, in größerer Sachlichkeit, als ich sie soeben gehört habe,
zu dem Stellung zu nehmen, was der Bundesminister des Auswärtigen hier vorgetragen hat.
Zum ersten folgendes. Es gehört zu den Verdiensten des damaligen Bundesministers des Auswärtigen Dr. Gerhard Schröder, daß er in seiner Bundesministerzeit im Auswärtigen Amt einen Planungsstab eingerichtet hat.
Dieser Planungsstab hatte damals, er hatte in der Zwischenzeit und er hat heute die Aufgabe, in unserem Auswärtigen Amt Modelle durchzuarbeiten, mögliche und unmögliche -- —
— Nun lachen Sie doch nicht dümmer, als Sie sind, meine Damen und Herren!
Ich wiederhole: Dieser Planungsstab hatte und hat die Aufgabe
— wie entsprechende Planungsstäbe in den auswärtigen Ämtern anderer Länder -- ,
Modelle durchzuarbeiten — ich wiederhole: mögliche und unmögliche Modelle --, um der Leitungeines solchen Hauses Entscheidungshilfen zu liefern.
Und ich betone — weil es viele gibt, die offenbar gar nicht wissen, was die Arbeit der politischen Planung in einem solchen Ressort bedeutet —: Es geht dabei um die Formulierung von Entscheidungshilfen, nicht um die Formulierung einer Politik; denn die Formulierung der Politik ist Sache der Leitung des Hauses.Ich kann Ihnen versichern, daß es hochinteressante Planungsstudien gegeben hat, als ich Anfang Dezember 1966 das Auswärtige Amt übernahm. Aber Sie werden von mir vermutlich nicht die Verantwortungslosigkeit erwarten, daß ich die eine oder die andere dieser früheren Studien herausgreife.
Es gibt übrigens — dies für den, der es nicht wissen sollte — solche Studien als Entscheidungshilfen — mögliche und unmögliche — auch beim Verteidigungsminister. Und man könnte, wenn man es wollte, die Welt verrückt machen — übrigens sogar ohne Geheimnisse preiszugeben , wenn man die eine oder die andere dieser Planungsstudien von der Hardthöhe aus früheren Zeiten, aus der Zwischenzeit oder danach veröffentlichte. Auch das wird man, wenn man Verantwortungsbewußtsein hat, nicht tun, meine Damen und Herren!
Jetzt will ich Ihnen, Herr Kollege Carstens, dazu noch ein praktisches Beispiel nennen, das weder etwas mit der Planung im im Auswärtigen Amt noch
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 2993
Bundeskanzler Brandtmit der auf der Hardthöhe zu tun hat, aber mit einer Zeit, in der ich Regierender Bürgermeister war und andere hier in Bonn Regierungsverantwortung trugen. Da mußte ich eines Tages nach Frankfurt am Main zum damaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank, um mit ihm über eine Situation zu reden, die ich doch nicht erfunden hatte und die auch hier niemandem Spaß machte, die ich aber nicht ausschließen konnte, daß nämlich durch ein bestimmtes Abkommen der Mächte auf Grund der damaligen Genfer Verhandlungen die Währung in West-Berlin nicht so eng mit der im übrigen Bundesgebiet verbunden geblieben wäre, wie es seinerzeit durchgesetzt war. Und das mußte mit dem Bundesbankpräsidenten durchgespielt werden, aber doch nicht, weil uns das Spaß machte, sondern weil es selbst für den Fall eines solchen Abkommens darauf ankam, diese beiden Teile zusammenzuhalten. Man mußte darüber reden.
— Also, das ist mir eine schöne Opposition,
die heute offensichtlich einfach nicht gewillt ist, sich auf eine sachliche Erörterung dieses Themas einzulassen.
Aber, meine Damen und Herren, das wird mich doch nicht daran hindern, das zu sagen, was ich für notwendig halte.
Ich werde mich mit dem Inhalt der vielen Studien aus dem Planungsstab während meiner Zeit als Außenminister — wenn ich Ihnen die alle gegeben hätte, Herr Kollege Kiesinger, hätten Sie viel zu tun gehabt; Sie wären gar nicht dazu gekommen, die zu lesen — hier vor diesem Hause schon deshalb nicht befassen, weil dieses Haus ein politisches Entscheidungsgremium ist und kein Seminar für Fallstudien.
Zur Politik gibt es Erklärungen der Regierung; über eine nachprüfbare Politik können wir uns auseinandersetzen; dann sind wir auf einem Boden, von dem jeder weiß, womit er es zu tun hat.Vielleicht aber bleibt etwas hinzuzufügen: Derselbe Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, der sich gegen den Ausdruck „Verdrehungen und Verdächtigungen" wendet, bedient sich genau bei der Behandlung des soeben angeführten Themas erneut der Methode der Verdächtigungen.
Er macht sogar noch mehr: Er und die, die sich mit diesen Fallstudien befassen, versehen eine davon mit dem Etikett „Neutralismus", mit dem Aufzeigen, was es bedeutet, gegen das Bündnis zu sein, gegen die Atlantische Allianz zu sein — obwohl der Textfür die Studie, an die Sie jetzt denken, noch nicht einmal diesen Terminus enthält,
sondern für den Fall, der dort neben anderen Fällen erörtert wird,
von der Notwendigkeit funktionierender Sicherheit spricht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben vor wenigen Tagen in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten konkret über das gesprochen, worum es in diesen Jahren geht. Neben der Neubeschreibung oder Erstbeschreibung des künftigen Verhältnisses zwischen den Neun und Westeuropa und den Vereinigten Staaten geht es in einem zweiten Dokument um die Zukunft der Atlantischen Allianz. Wir waren uns, wie es der Bundesminister des Auswärtigen gesagt hat, mit unseren amerikanischen Verbündeten darin einig, daß diese Allianz in ihrer Lebenskraft erhalten und gefördert werden muß. Wir sind uns auch darin einig gewesen und haben es dem Hohen Hause heute gesagt —, daß diese Atlantische Allianz, eine vitale Atlantische Allianz, sowohl für die Sicherheit Europas als auch für die Sicherheit Amerikas unerläßlich ist.
Wenn zum Zeitpunkt eines solchen Meinungsaustausches zwischen der eigenen Regierung und der der Vereinigten Staaten, zu einem solchen Zeitpunkt des Ausarbeitens der Bestätigung und Weiterführung der Aufgaben und Ziele der Atlantischen Allianz unter den 15 Partnern die Opposition, statt an dieser Aufgabe mitzuarbeiten, nichts Besseres zu tun hat, als — auf was immer gestützt aus der Entwicklung des Jahres — in der Öffentlichkeit zu versuchen, an unserer Bündnistreue Zweifel zu säen, dann ist das, so meine ich, natürlich besonders wenig hilfreich, nein, es ist in Wirklichkeit abwegig und den Interessen der Bundesrepublik abträglich, meine Damen und Herren!
Nie war das Schreckgespenst der Neutralisierung Deutschlands falscher, nie war es aber auch gefährlicher als in der Situation, in der sich Bündnis und Ost-West-Beziehungen heute befinden. Wer das nicht sieht, der handelt verantwortungslos.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich möchte jetzt zu Ende kommen. — Es kann nicht um ein neutralistisches Deutschland gehen, sondern es muß gehen und es geht um unsere Sicherheit im Rahmen des Atlantischen Bündnisses, um die Sicherheit in Europa, die auch — und hoffentlich zunehmend — durch den Abbau von Spannungen zwischen West und Ost erreicht werden kann; darum geht es.
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2994 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Bundeskanzler BrandtNun zu dem anderen Punkt. Meine Damen und Herren, Herr Kollege Carstens hat bemängelt, daß ich den beiden Kollegen, die für die CDU/CSU mit nach New York geflogen waren, nicht den Entwurf der Rede gezeigt habe, die ich vor den Vereinten Nationen gehalten habe.
— Doch, das hat er gesagt. — Herr Kollege Carstens, Ihre Kollegen haben offenbar nicht so gut zugehört wie ich.
Nun ist zunächst einmal der Unterschied: der Kollege Scheel hat als Leiter der deutschen Delegation nach der Aufnahme gesprochen,
ich habe nicht als Mitglied der deutschen Delegation gesprochen. Wer sich mit den Usancen dort schon einmal vertraut gemacht hat, wird wissen, daß ich nicht die Wahl hatte, bei meiner Delegation Platz zu nehmen, sondern ich wurde nach den dortigen Usancen durch den Protokollchef des Präsidenten der Versammlung hineingeleitet und wieder hinausbegleitet. Aber lassen wir das Protokollarische einmal beiseite.
Sie bemängeln, Herr Kollege Carstens, daß ich mich wegen meiner Rede nicht mit einem Mitglied dieses Hauses ins Benehmen gesetzt habe — ich meine jenes Mitglied, das für die CSU gefahren ist —, das, als es abfuhr, und jetzt sage ich bewußt: eine diffamierende Abschiedsadresse hinterließ, indem es mir und meiner Partei Volksfront mit den Kommunisten nachsagte. Einen solchen Kollegen ziehe ich nicht als meinen Berater herbei.
Nach den gewiß geschliffenen, aber doch auf das Beleidigen-Sollen hin geschliffene Formulierungen, auf den Kollegen Wehner bezogen, muß ich Ihnen sagen, Herr Carstens: ich weise Ihre diffamierenden Äußerungen über den Vorsitzenden der SPD-Fraktion mit Nachdruck zurück.
Ich streite in diesem Augenblick
nicht um diese oder jene Formulierung, sondern sage: So können Sie nicht mit einem Mann umgehen, den die Sorge um Deutschland umtreibt,
der sich um Berlin und um die Menschen in diesem Deutschland verdient gemacht hat.
Im übrigen: wenn Sie schon aus den gestrigen Ergebnissen meiner Beratungen und Wehners Beratungen mit unserer Fraktion berichten, dann unterschlagen Sie bitte nicht, worüber wir einer Meinung sind.
egal, wie dieser oder jener Satz in diesen Wochen gesetzt gewesen sein mag,
nämlich:Erstens. Die Bundesregierung bleibt mit Nachdruck und Entschlossenheit bei der Außenpolitik, wie sie, in der Regierungserklärung formuliert, seitdem mehrfach vor dein Bundestag dargelegt wurde und wie sie vom Bundesminister des Auswärtigen durchgeführt wird.
Zweitens. Es gab und gibt keine Veranlassung, die Vertragspolitik, auf die Sowjetunion und die anderen Staaten des Warschauer Pakts bezogen, in Zweifel zu ziehen oder zu vermuten, die Regierung wolle die Verträge verkümmern lassen oder sich nicht streng an sie halten. Wir wollen und werden uns streng an Geist und Buchstaben dieser Verträge halten und sie mit Leben erfüllen. Wir wünschen und erwarten, daß die Vertragspartner dabei aufeinander zugehen.Drittens. Es gab und gibt keine Veranlassung, daran zu zweifeln, daß die Bundesregierung das Viermächteabkommen über Berlin und die vertraglichen Vereinbarungen zwischen den beiden deutschen Staaten nach Buchstaben und Geist erfüllen will und als wesentliches Element ihrer eigenen Politik betrachtet.Das gilt, meine Damen und Herren, und davon lassen wir miteinander hier nichts abstreichen. Im übrigen bleibt es allerdings auch bei meiner gestrigen Feststellung, daß ich es für einen heuchlerischen Versuch halte,
wenn sich eigentliche Gegner, um nicht zu sagen Feinde unserer Politik
zu ihren Verteidigern aufspielen wollen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wischnewski.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 2995
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu der Rede des Kollegen Professor Carstens möchte ich drei kurze Bemerkungen machen.Erstens. Die Rede war enttäuschend deshalb,
die Rede war deshalb enttäuschend, weil sie mit praktisch keinem einzigen Wort auf die Regierungserklärung des Bundesaußenministers hier eingegangen ist.
Zweitens. Herr Professor Carstens, jetzt mache ich Ihnen ein Kompliment —
Herr Reddemann, Sie sind uninteressant für mich.
Herr Professor Carstens und jetzt möchte ichIhnen hier ein Kompliment machen —, Ihre Rede war sehr geschickt. Denn anläßlich des Beitritts zu den Vereinten Nationen, den Sie hier behandelt haben, haben Sie vergessen, der deutschen Öffentlichkeit mitzuteilen, daß die überwältigende Mehrheit Ihrer Fraktion gegen diesen Beitritt gestimmt hat. Dies ist die entscheidende Frage.
Und, Herr Professor Carstens, Sie haben insbesondere vergessen, der deutschen Öffentlichkeit mitzuteilen, daß Sie dem Beitritt zu den Vereinten Nationen in erster Linie Ihre neue politische Karriere verdanken.
Denn mit dem Eintritt in die Vereinten Nationen haben Sie Ihren früheren Fraktionsvorsitzenden gestürzt; dieses war der Anlaß.
Aus diesem Grunde muß ich Ihnen sagen, daß Ihre Rede geschickt war, weil Sie auf diese Art und Weise ganz wesentliche Voraussetzungen vergessen oder absichtlich diesem Hause nicht mitgeteilt haben. Mir scheint es notwendig zu sein, das zu tun.
Das Dritte! Soweit Ihre Rede meinen Fraktionsvorsitzenden betrifft und den Bundesminister Bahr, war Ihre Rede provokatorisch und nichts anderes.
Herr Professor Carstens hat sich natürlich in erster Linie darum bemüht, die außenpolitischen Spannungen, die es in seiner eigenen Partei und in seiner eigenen Fraktion gibt, zu überdecken zu versuchen. Da es sich um eine Reihe von aktuellen Fragen handelt, halte ich es für notwendig, darauf einzugehen.Wenn wir hier über Ostpolitik und über Berlin sprechen, dann muß man ein paar Momente zurückdenken.
Die ersten Gehversuche des damaligen Bundesaußenministers Schröder in Richtung auf Osteuropa wurden von der FDP und der SPD, aber nur von einem ganz geringen Teil der CDU/CSU unterstützt. Von dem größten Teil der CDU/CSU-Fraktion wurden sie erbittert bekämpft. Das ist die Tatsache, mit der wir es zu tun haben.
Als es die Große Koalition gab, wurden die ostpolitischen Absichten der Regierungserklärung nur von einem Teil der CDU/CSU getragen, von dem anderen Teil bekämpft. Daraus entstand schließlich eine Begrenzung des außenpolitischen Spielraums und eine weitgehende Stagnation. Nach der Bildung der Regierung Brandt /Scheel dominierte die Gruppe der Nein-Sager. Ein Teil wollte die Außenpolitik in erster Linie dazu benutzt wissen, die CDU/CSU wieder möglichst rasch mit einem ganz besonderen Hebel an die Macht zu bringen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der Entscheidung über die Ostverträge haben sich Befürworter und Gegner in Ihrer Fraktion gegenseitig gelähmt, und es kam damals zur Flucht in die Stimmenthaltung. Dabei wissen wir, daß es bei der Abstimmung auch noch sehr interessante unterschiedliche Verhaltensweisen in Ihrer Fraktion gab. Beim Verkehrsvertrag mit der DDR haben sich offensichtlich vorübergehend kooperative Elemente durchgesetzt. Daher kam es zu einer Zustimmung der CDU/CSU. Einzelne Oppositionsabgeordnete enthielten sich aber auch hier der Stimme.
Zu keinem Zeitpunkt hat es eine einheitliche Auffassung gegeben.
Als es um den Grundvertrag ging, hat derjenige, der heute im Parteipräsidium der CDU für die Außenpolitik zuständig ist, erfreulicherweise seine Zustimmung gegeben. Ich brauche über den Beitritt zur UNO nicht zu sprechen. Ich habe meine Bemerkungen dazu bereits gemacht.Die neue Auseinandersetzung wird sich bei Ihnen um den Atomsperrvertrag abspielen. Der Kollege Strauß hat sich bereits an alle Fraktionsmitglieder gewandt und zu diesem Thema ganz offensichtlich eine völlig andere Vorstellung vertreten als die Gruppe, die von der Fraktion den besonderen Auftrag erhalten hat, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, nun möchte ich noch eine Bemerkung in bezug auf die Reden vor den Vereinten Nationen machen.
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2996 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte meine paar Minuten Redezeit in vollem Umfange nutzen.
Herr Professor Carstens glaubte hier an der Rede des Bundeskanzlers vor den Vereinten Nationen Kritik üben zu können. Wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, begrüßen die Reden des Bundesaußenministers und unseres Bundeskanzlers vor den Vereinten Nationen mit jedem Wort!
Herr Professor Carstens, wenn schon aus Reden zitiert wird, muß richtig zitiert werden. Ich zitiere aus der Rede des Herrn Bundeskanzlers vor den Vereinten Nationen:
Als Bundesrepublik Deutschland werden wir, wie es unser Außenminister Scheel nach einer völkerrechtlich verbindlichen Formulierung in der letzten Woche hier betonte, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken, in dem auch das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Ich sage dies, bei allem Respekt, wohl wissend, daß uns die Vereinten Nationen dabei nicht wirklich helfen können.
Wer die Situation bei den Vereinten Nationen kennt — von Ihnen, Herr Professor Carstens, kann ich das erwarten , muß wissen, daß dieser letzte Satz den Gegebenheiten, wie sie dort sind, entspricht.
Das andere Zitat heißt:
Nicht zuletzt Berlin zeigt die konstruktiven Chancen. Es braucht nicht länger Spannungsherd im Herzen Europas zu sein. West-Berlin ist der Wahrnehmung seiner Interessen durch die Bundesrepublik Deutschland und des Schutzes durch die Drei Mächte sicher, die als oberste Gewalt für Sicherheit und Status unmittelbar verantwortlich bleiben. Was diese Veränderung bedeutet, weiß ganz gewiß der Mann zu würdigen, der während eines kritischen Zeitabschnitts in Berlin als Regierender Bürgermeister in der Verantwortung stand.
Nun lassen Sie mich eine Bemerkung zu dem machen, was Sie gegenüber unserem Fraktionsvorsitzenden gesagt haben. Ich kann mich kurzfassen. Der Bundeskanzler hat das Entscheidende bereits gesagt.
Herbert Wehner war von der ersten Stunde an Vorsitzender des Bundestagsausschusses, der sich insbesondere mit den Fragen beschäftigt hat, die Deutschland und Berlin betreffen.
Er hat dieses Ressort verantwortlich in der Bundesregierung geführt. Und, meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Mann hat sich um die Stadt
Berlin und ihre Menschen in ganz besonderem Maße verdient gemacht. Das muß hier in aller Deutlichkeit gesagt werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Ich habe nur 15 Minuten Redezeit.
Ich bin dem Herrn Bundesaußenminister sehr dankbar, daß er einen Satz gebraucht hat, der genau dem entspricht, was Herbert Wehner mit anderen Worten gesagt hat. Ich darf diesen Satz wiederholen:
Um es gleich vorwegzunehmen: Das Berlin-Abkommen, das für die Berliner Bevölkerung substantielle Verbesserungen gebracht hat, eignet sich nicht zum Bremsklotz, den man immer dann auf die Schienen legen kann, wenn einem die Entspannungspolitik nicht paßt.
Genau das ist es, was der Vorsitzende unserer Fraktion erklärt hat. Hier gibt es keine Differenz.
— Ich würde Ihnen empfehlen, meine sehr verehrten Damen und Herren, die beiden Inhalte miteinander zu vergleichen. Ich kann Ihnen sagen: Nur Böswillige können Differenzen in dieser Frage sehen.
— Dadurch, daß Sie lachen, werden Sie mich mit Sicherheit nicht überzeugen.
Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion möchte ich erklären: Die Rede, die der Bundesaußenminister hier zur Außenpolitik gehalten hat, findet die volle Unterstützung unserer Fraktion.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Bangemann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht dient es dieser Debatte, wenn wir einmal aufhören, gegenseitig Behauptungen aufzustellen, die wir doch nicht glauben, und statt dessen den nüchternen Versuch machen, zu analysieren, wieweit eine gemeinsame Politik unter den Voraussetzungen, die die Opposition und die Regierungskoalition wollen, überhaupt möglich ist.Die Opposition hat mehrfach erklärt — und Herr Professor Carstens hat es hier wiederholt —, daß sie an einer Entspannungspolitik interessiert und bereit ist, insoweit an der Regierungspolitik mitzuwirken. Ich glaube, es wäre schlecht, der Opposition in diesem Zusammenhang allein vorzuwerfen, daß sie
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 2997
Dr. Bangemanndie Verträge nicht aszeptiert und sich der Stimme enthalten hat oder dem UNO-Beitritt nicht zugestimmt hat. Wir sollten jeder Opposition die Chance einräumen, klüger zu werden. Ich würde das allein noch nicht als Beweis dafür nehmen, daß die Opposition nicht bereit ist, an dieser Politik mitzuwirken. Aber ich glaube, daß sie die wesentlichen Elemente dieser Politik anders einschätzt, als wir es tun, daß sich also nicht nur in der Darstellung, sondern auch in der Sache selber Differenzen ergeben, die wir entweder, wenn wir zu einer gemeinsamen Politik kommen wollen, ausräumen müssen oder die, wenn wir sie nicht ausräumen können, uns nicht zu einer gemeinsamen Politik kommen lassen.Die drei wesentlichen Elemente dieser Politik sind 1. die Friedenssicherung, 2. ein kooperatives nachbarschaftliches Verhältnis auch zu unseren osteuropäischen Nachbarn und 3. der enge Zusammenhang, der zwischen der Ost- und Westpolitik, insbesondere aber auch in diesem Zusammenhang zwischen der Ost- und der Europapolitik besteht.Bei aller Kritik, die Sie heute geübt haben, sind nach meiner Meinung zwei Bemerkungen gerechtfertigt, die Sie sich einmal in aller Ruhe überlegen sollten. Haben Sie nicht bei Ihrer Kritik, so berechtigt sie im einzelnen sein mag oder auch nicht — das will ich jetzt dahingestellt sein lassen —, die Maßstäbe verrrückt? Haben Sie nicht ein angemessenes Verhältnis z. B. zum Ziel der Friedenssicherung, das mit dieser Politik erreicht werden soll, verlassen, wenn Sie sich bei einer Interpretationsschwierigkeit aufhalten, die sicherlich nicht unbedeutend ist und keinen unbedeutenden Punkt berührt, die aber, gemessen an diesem Ziel, eine andere Behandlung gerechtfertigt hätte, als Sie ihr bisher zuteil werden ließen? Ich meine, Sie sollten das einmal überlegen, weil das Ziel der Friedenssicherung nicht vergessen werden kann, sondern mit zu den Wesenselementen dieser Politik gehört.Bei der Frage eines kooperativen nachbarschaftlichen Verhältnisses müssen Sie sehen — ich weiß nicht, ob Sie das schon sehen und nur nicht zugeben wollen —, daß hier die Schwierigkeiten eigentlich das Hauptthema sein werden. Wir werden uns hier lange Zeit nicht über Erfolge unterhalten können. Wir wissen doch beide — Herr Carstens hat das be-tent —, daß sich aus den gesellschaftlichen Unterschieden auch ganz eklatante politisch unterschiedliche Auffassungen über das Ziel, über die Methode dieser Politik ergeben. Man braucht sich doch nicht darüber zu wundern, daß Herr Winzer vor der Vollversammlung erklärt, daß eine Wiedervereinigung unter diesen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht möglich sei. Das ist doch von seinem Standpunkt aus nur eine logische Konsequenz aus seinen eigenen politischen Haltungen. Mit diesen Schwierigkeiten müssen wir uns auseinandersetzen. Es hilft überhaupt nichts, wenn Sie eine gemeinsame Politik wollen, daß Sie in jedem Falle die Schwierigkeiten überbetonen, um damit eine gemeinsame Politik unmöglich zu machen, die sich notwendigerweise mit solchen Schwierigkeiten auseinandersetzen muß.
Daraus ergibt sich für die Methode dieser Politik gegenüber deren Partnern, also denen, mit denen wir diese Politik betreiben wollen, zweierlei. Einmal müssen wir selbstverständlich das, was unbezweifelbar ist, mit Ruhe und Sachlichkeit und auch mit Hartnäckigkeit vertreten. Ich möchte hier noch einmal wiederholen, daß es eigentlich über die Frage der Interpretation des in Anhang IV A 2 a aufgeführten konsularischen Vertretungsrechts keine Interpretationsschwierigkeiten geben dürfte.
— Kann es nicht geben? Aber das ist nicht so. Wenn Sie dem zustimmen, dann möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß dann ein wesentlicher Teil Ihres Vorwurfs gegenüber der Regierungspolitik ins Leere geht. Wenn das so ist, können Sie ja auch mindestens denjenigen, die für die Aushandlung des Viermächteabkommens verantwortlich sind, keinen Vorwurf machen, es sei überhastet oder in irgendeiner Weise falsch ausgehandelt worden.
-- Um diesen Punkt geht es ja.
--- Lassen Sie mich bitte diesen Satz zu Ende führen, Herr Reddemann. Es geht im Grunde genommen um diesen einen Punkt. Wenn Sie sagen, wir haben das nicht übernommen, übersehen Sie, daß wegen dieser Interpretation nun gerade Schwierigkeiten aufgetreten sind.
Eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Bangeman, ist Ihnen nicht klargeworden, daß es nicht um die Frage des Aushandelns des Viermächteabkommens über Berlin ging, sondern um das Fehlen einer Berlin-Klausel im Grundvertrag?
Natürlich. Ich hatte gehofft, Ihre Frage würde sich erübrigen, wenn ich den Satz zu Ende bringe. Ich bin aber gern bereit, den Satz zu wiederholen: Da es Ihr Anliegen ist, die entsprechenden Berlin-Vereinbarungen aus diesem Viermächteabkommen zu übernehmen, da nun aber gerade bei der Interpretation dieser Vereinbarung die Schwierigkeiten auftreten, hätte es Ihnen ja gar nichts genützt, wenn man den Anhang IV A 2 a wortwörtlich in irgendeinen Vertrag übernommen hätte, weil die gleichen Schwierigkeiten dort auch aufgetaucht wären. Das ist doch das Problem.
Herr Reddemann, daran läßt sich nun einfach nichts ändern: das ist das Problem.Wir können doch eigentlich nur gemeinsam folgendes sagen. Überall in der Welt wird nach der geübten Konsularpraxis überhaupt kein Unterschied zwischen juristischen und natürlichen Personen gemacht. Die Formulierung dieses Anhangs IV deckt
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Dr. Bangemannalso auch die konsularische Vertretung juristischer Personen mit ab.
— Sicherlich, aber das müssen Sie zunächst einmal akzeptieren, und wenn Sie das akzeptiert haben, dann fällt, wie gesagt, ein wesentliches Argument bei Ihnen fort.
Es ergibt sich dann für die Frage nach der Methode dieser Politik etwas ganz Wesentliches.Da möchte ich zu dem, was Herr Professor Carstens hier ausgeführt hat, etwas sagen. Es kann immer wieder einmal sein, daß persönliche Diffamierungen jemandem in der Hitze des Gefechts unterlaufen. Man sollte das vielleicht nicht zu hoch bewerten. Allerdings ist es schon — ich will es einmal gelinde sagen — seltsam, wenn Sie sich über eine persönliche Diffamierung beklagen und im gleichen Atemzug Herrn Wehner — ich zitiere jetzt wörtlich -- einen Versuch unterstellen, sich mit den Interessen der Sowjetunion zu identifizieren.
Herr Professor Carstens, wie würden Sie diesen Satz beurteilen, wenn man ihn Ihnen gegenüber gebraucht hätte?
Die Frage müssen Sie sich gefallen lassen.Ich glaube, wenn Sie sich ernsthaft prüfen, dann werden Sie sicher eines sagen. Man kann in der Frage, welche Äußerung Herrn Wehners Standpunkt richtig wiedergibt, unterschiedlicher Meinung sein. Wir halten uns an das, was der Außenminister für diese Regierung hier als seine Politik erklärt hat und was der Kanzler dazu gesagt hat. Das ist für uns in unserer Fraktion entscheidend. Eines aber darf man nicht tun — —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jaeger?
Lassen Sie mich diesen Satz noch Ende führen, Herr Präsident. Eines aber darf man nicht tun: Man darf nicht einem Mann, der unterschiedlicher politischer Auffassung ist, etwas unterstellen, was im Grunde genommen den Kern seiner politischen Existenz berührt, nämlich, daß er sich mit den Interessen einer anderen Macht identifiziere. Ich muß Ihnen sagen: Ich habe bei all dem, was Herbert Wehner hier gesagt hat, noch nie gemerkt, daß ihm die Sorge um die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und uns abgegangen ist. Aber bei einigen seiner Kritiker stelle ich fest, daß ihre Sorge darin besteht, daß sich diese Beziehungen entwickeln.
Gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jaeger?
Herr Kollege Dr. Bangemann, haben Sie nicht zumindest als Zeitungsleser festgestellt, daß zwischen den Ausführungen des Herrn Wehner in Moskau und denen der Sowjetunion eine Identität der Meinung besteht
und daß demgemäß die Äußerungen des Herrn Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU nicht eine Diffamierung sind, sondern nur eine logische Schlußfolgerung?
Herr Jaeger, darf ich Ihnen sagen, daß aus der Identität von politischen Auffassungen so etwas nicht geschlossen werden kann. Es gibt z. B. verschiedene Staaten, in denen die Todesstrafe eingeführt ist. Ich würde mich aber hüten, aus Ihrer Auffassung zu diesem Problem eine vollständige Identität mit allen Auffassungen dieser Staaten herzuleiten.
Herr Professor Carstens hat sich über eine unfreundliche Behandlung beklagt, die ihm verschiedentlich zuteil geworden ist. In der vorigen Debatte haben Sie erwähnt, daß Sie sich über den Ausspruch „Ackergaul" besonders bekümmert hätten. Nun kann ich Ihnen das nachfühlen, weil rein physiognomisch dieser Vergleich schon in die Irre geht. Ich selber würde nicht einmal so weit gehen, Sie. mit einem berühmten Ackergaul aus der Literatur zu vergleichen, nämlich der Rosinante. Aber haben Sie nicht manchmal das Gefühl, wenn Sie sich mit dem Bahr-Papier auseinandersetzen, daß ein Vergleich mit dem Reiter dieses Tieres sehr angemessen wäre?
Der Kampf gegen solche Windmühlenflügel würde uns im Grunde genommen beschäftigen können, wenn wir uns dabei noch genügend Zeit nähmen, über die wirklichen Fragen dieser Politik zu streiten. Aber ich glaube, das war mit ein Teil dessen, was Herr Wehner gemeint hat. Sie, meine Damen und Herren, sind stundenweise damit beschäftigt, Geisterarmeen aufzustellen, mit denen wir uns dann herumschlagen müssen, und zu dem wahren Unterschied unserer Politik kommen wir gar nicht mehr.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes?
Bitte.
Herr Kollege Bangemann, ist Ihnen entgangen, daß es sich ausschließlich erstens um die Frage handelt, ob es bei den interpretationsbedürftigen Texten der Ostverträge, des Grundvertrages und des Berlinabkommens eine westliche, eine deutsche Interpretation und eine damit nicht übereinstimmende Interpretation der sowjetischen Partner gibt; daß es zweitens auf die Notwendigkeit ankommt, daß wir an un-
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Dr. Mertes
sehen verbindlichen Interpretationsregeln, insbesondere der Gemeinsamen Entschließung und dem Bundesverfassungsgerichtsurteil festhalten; daß drittens der Herr Kollege Wehner seit Mai 1972 die Gemeinsame Entschließung als unsere verbindliche Interpretationsregel abgewertet hat, daß er im Laufe des Jahres 1972 während der Verhandlungen mit der CSSR die Haltung des Auswärtigen Amtes kritisiert hat und daß er jetzt auch in der Berlin-Frage eine Interpretation stützt, die nicht die unsere, nämlich die der Bundesregierung und der Opposition, ist?
Nein, das ist so, wie Sie es sagen, einfach nicht richtig. Das stimmt schlicht nicht.
Bitte, Herr Mertes, ich will meine Ausführungen zu Ende bringen. Ich bin der Länge Ihrer Zwischenfrage nicht gewachsen; wohl dem Inhalt, aber der Länge nicht, weil ich einfach Schwierigkeiten habe, das alles zu behalten. Aber das stimmt nicht so, wie Sie es sagen.
Der wesentliche Unterschied zwischen dem, was heute deutlich geworden ist, was die Grundlinie Ihrer Außenpolitik ist, und der Grundlinie, die der Außenminister dargelegt hat, besteht nämlich in folgendem — dazu hat Herr Professor Carstens in der vorigen Debatte zu der Regierungserklärung etwas sehr Deutliches gesagt . Sie haben nämlich gesagt — und ich meine, so lange wir uns darüber nicht verständigen können, gibt es keine gemeinsame Politik —, daß für Sie die Frage der Westpolitik, insbesondere die Frage einer europäischen Einigung, einen zeitlichen Vorrang genieße vor jeder anderen Frage der Entspannungspolitik nach Osten. Sie haben insbesondere auf die MBFR- und KSZE- Verhandlungen hingewiesen und gesagt: Solange Europa in diesen Verhandlungen nicht mit einer Stimme auftreten kann, solange wir die Politische Union Europas nicht verwirklicht haben, begeben wir uns im Grunde genommen auf einen Weg, der die europäische Einigung erschweren wird; dieser andere Weg darf keine zeitliche Priorität genießen. Ich muß Ihnen sagen, daß das ein fundamentaler Unterschied in der Sache ist, den Sie selber betont haben, und daß nach meiner Meinung dieser Unterschied in der Sache eine Gemeinsamkeit in der Politik ausschließt; nicht weil wir das nicht wollten, sondern einfach, weil wir uns selbst beide gegenseitig etwas in die Tasche lügen würden, wenn wir auf dieser fehlenden gemeinsamen Basis gemeinsame Politik betreiben wollten.
Gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger ?
Herr Präsident, ich darf meinen Gedankengang zu Ende führen. Herr Jäger, es tut mir leid; vielleicht das nächste Mal.Wir dürfen eine solche Priorität, die in der Sache nicht besteht, auch nicht künstlich schaffen, wenn wir nicht die gesamte, auch die europäische, Politik in Gefahr bringen wollen. Sie tun etwas, was nach meiner Meinung ganz verhängnisvoll ist: Sie schaffen eine Priorität, die nicht vorhanden ist und die uns auf einem ganz wesentlichen Gebiet unserer Politik lahmlegen, dann von daher ausstrahlend auch die europäische Einigungspolitik sabotieren und verhindern wird, daß wir zu einer Politischen Union kommen.Ich will das einmal an einem Beispiel aufzeigen, das uns noch beschäftigen wird und zu dem Herr Kollege Strauß ja schon einen fünfseitigen Brief geschrieben hat, wie ich gehört habe. Wenn die europäische Identität, über die wir uns das letzte Mal unterhalten haben, so aussehen soll, daß es eine atomare europäische Identität wird, dann ist diese Entscheidung für eine Europapolitik nicht nur eine Frage der zeitlichen Priorität, sondern eine Entscheidung in eine Richtung, bei der unsere Fraktion und die Fraktion der SPD mit Sicherheit nicht mitgehen werden. Das ist ein verhängnisvoller Weg.
Wir sollten uns über diese Fragen, glaube ich, einmal ausführlicher auseinandersetzen und nicht darüber, wer wen verdächtigt oder wer wen beschuldigt hat. Es führt uns nach meiner Meinung wirklich nicht weiter, wenn wir uns gegenseitig immer wieder vorhalten: du sprichst eine Verdächtigung gegen mich aus, und umgekehrt der andere sagt: du hast das aber auch getan. Ich meine, Herr Professor Carstens, wenn Sie den Vergleich mit dem Ackergaul nicht schätzen, so dürfen Sie doch sicher sein: Ein Ackergaul hätte eine solche Verdächtigung in keinem Fall ausgesprochen. Schon von daher können Sie sehen, daß diese Bezeichnung bei Ihnen völlig falsch angewandt worden ist.Im Grunde genommen ist es natürlich auch abwegig, wenn Sie etwa die Frage, die Sie angesprochen haben beim Bahr-Papier, die Frage der Wiedervereinigung, hier in einem Rahmen aufwerfen, der vor dem Hintergrund dieses Papiers ja durchaus richtig gestellt ist. Sie übersehen, daß dieses Papier — wenn Sie einmal Ihre Wiedervereinigungsbemühungen heranziehen, von denen Sie auch immer sprechen — nicht die allein ausschließliche, aber eine logische Konsequenz wäre, eine solche Wiedervereinigung zu verwirklichen. Wenn ich dieses Papier mit seinem Hintergrund richtig verstanden habe, dann ist das Ganze darauf angelegt, einen solchen möglichen Weg zu einer Wiedervereinigung aufzuzeigen. Da das eben nicht die Politik dieser Regierung ist, ist es völlig sinnlos und führt uns wirklich nicht weiter, wenn Sie dieses Papier immer wieder zitieren, um die Politik dieser Regierung damit gleichzeitig zu kritisieren.
Das ist nicht die Politik dieser Regierung, und mit der Politik dieser Regierung setzen wir uns hier auseinander. Deswegen wäre ich der Opposition dankbar, wenn sie durch eine Kritik an der Profilierung der Regierungspolitik beitragen will, daß sie
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3000 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Dr. Bangemannwenigstens die richtige Politik und nicht eine Politik kritisiert, die hier in Wahrheit gar nicht getrieben wird.
Wir haben als Fraktion zu dem, was der Bundesaußenminister hier gesagt hat,- und zu dem, was der Bundeskanzler hier erklärt hat, nichts weiter zu sagen als das, daß wir diese Ausführungen voll unterstützen. Ich darf noch einmal die für uns maßgebliche Ziffer 1 aus der Erklärung des Bundeskanzlers hier zitieren:Die Bundesregierung bleibt mit Nachdruck und Entschlossenheit bei ihrer Außenpolitik, wie sie in der Regierungserklärung formuliert, seitdem mehrfach vor dem Deutschen Bundestag dargelegt wurde und wie sie vom zuständigen Kabinettsmitglied Bundesaußenminister Walter Scheel durchgeführt wird.Dem hat meine Fraktion nichts hinzuzufügen.
Das Wort hat der Abgeordnete Strauß. Für ihn hat die Fraktion der CDU/CSU 45 Minuten Redezeit beantragt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat seine Antwort auf die Rede des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion mit der gereizten Bemerkung eröffnet, er hätte größere Sachlichkeit erwartet, als soeben gehört.
Ich darf zunächst einmal eine allgemeine Berner-kung machen, Herr Bundeskanzler. Es ist bei der Schnelligkeit, mit der Sie vor allen Dingen in gewisser Stimmung sprechen, immer sehr schwer, Ihre Worte genau festzuhalten. Als ich mich das letzte Mal beim Stenographischen Dienst bemüht habe, das unkorrigierte Protokoll zu erhalten, um genau zu zitieren, wurde mir gesagt, der Bundeskanzler habe verboten, das unkorrigierte Protokoll herauszugeben.
— Ich bestreite nicht das Recht; ich sage nur, daß es bei mir ohne weiteres möglich ist, auch das un-korrigierte Protokoll, selbst wenn es einmal einen Lapsus linguae enthält, zu erhalten.
Man kann ja von uns nicht verlangen, daß wir Meisterstenographen sind. Ich wollte nur sagen: Wenn man genau zitieren soll, sollte man in die Lage versetzt werden, das Protokoll sofort zu erhalten, um dann genau zitieren zu können; nicht mehr und nicht weniger war damit gemeint.Aber nun zur Sache. Herr Bundeskanzler, ich glaube, Sie haben sich und der Glaubwürdigkeit der Sache, die Sie vertreten, keinen guten Dienst erwiesen, wenn Sie ausgerechnet Herrn Carstens einen Mangel an sachlicher Darstellung der politischen Problematik vorgeworfen haben.
Als Sie diese Bemerkung machten, wurde ich mir wieder der Richtigkeit eines Sprichwortes bewußt — jedenfalls gilt das für die Regel, die hier der Fall war; bekanntlich gibt es auch Ausnahmen von der Regel , daß nichts verletzender wirkt als die ruhig vorgetragene Wahrheit.
Ich gebe Ihnen recht, daß es in verschiedenen Ministerien — nicht nur beim Auswärtigen Amt, auch im Verteidigungsministerium, auch im Wirtschafts- oder Finanzministerium — nicht nur erlaubt sein muß, sondern durchaus richtig, ja notwendig ist und auch über viele Jahre hinweg schon vor dem Jahre 1969 so gehandhabt wurde, daß Planstudien erarbeitet werden über verschiedene Möglichkeiten, daß Modelle entworfen werden. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie haben eine wirklich echte Begabung, mit einer halben Wahrheit auch den Kern der Sache so zu verwischen, daß das Ganze dann trotzdem nicht mehr zutreffend ist und zur objektiven Unwahrheit wird.
Denn ich glaube nicht, daß es z. B. im Verteidigungsministerium eine Studie gibt, die von völlig verschiedenen politischen Konstellationen ausgeht, sondern wenn es im Verteidigungsministerium verschiedene Studien gibt, dann sicherlich über die verschiedenen Möglichkeiten der Erfüllung des Bündnisauftrages im allgemeinen und für die Bundeswehr im besonderen im Rahmen des einen möglichen Verteidigungsfalles, von dem wir alle hoffen — und dafür arbeiten wir leidenschaftlich - daß er nie eintritt.In der Modellstudie, von der hier die Rede ist, ist eine grundlegende Änderung der gesamten Politik der Bundesrepublik, wie sie von Ihnen und Ihrer Partei zwar zuerst abgelehnt, später dann aber übernommen worden ist, ausdrücklich angedeutet und dieser Änderung der Politik auch die eindeutige Priorität gegenüber anderen Modellen eingeräumt worden.
Das ist doch der entscheidende Punkt dabei.
Niemand würde diese Fallstudie zur Diskussion stellen, wenn hier verschiedene Variationen unserer an Europa und an die atlantische Allianz gebundenen Außenpolitik dargestellt würde. Die völlige Umkehrung der politischen Grundlagen und Zielorientierungen, die in dieser Fallstudie angesprochen wird, sind es, die nicht nur Herrn Carstens und nicht nur die Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 3001
Straußsondern einen weiten Teil der deutschen Öffentlichkeit mit Ungewißheit, mit Unruhe, mit einer Sorge erfüllt, mit der Frage: Was geht denn hier hinter den Kulissen wirklich vor sich?
Wenn z. B. -- ich bitte, das als einen humorvollen Vergleich zu nehmen; er ist gar nicht verletzend formuliert oder gemeint im Vatikan eine Studie über die Vorzüge des Islam angefertigt wird, so kommt niemandem der Verdacht, der Papst wolle demnächst die Stellung des Großmufti anstreben.
Wenn aber von Herrn Bahr eine solche Studie kommt, dann sagt jeder: Wo Rauch ist, da ist auch Feuer.
Und hier gilt eben doch das auch nicht beleidigend gemeinte Sprichwort, das lateinisch heiß: Quod licet Jovi, non licet bovi. Wenn ich z. B. eine solche Studie als theoretischen Modellfall machen würde, könnten Sie davon überzeugt sein, daß das nichts als ein Denkmodell wäre.
Wenn Herr Bahr es macht, muß man bei seiner Vorgeschichte und seinen sonstigen Aktivitäten und Überlegungen
etwas Ernsthaftes dahinter vermuten.
Ach, Herr Kollege Möller, Sie haben die KraftIhrer Gedanken und Worte schon an bessere Objekte verschwendet.
Ich meinte Herrn Bahr, nicht mich.Im übrigen besteht hier doch ein Sinnzusammenhang zu dem, was Herr Bahr seinerzeit — sicherlich in einer vertrauensseligen Stunde — Herrn Professor Hahn mitgeteilt und was dieser dann erst einige Jahre später ernst genommen hat. Gerade weil er fünf Jahre brauchte, um diese Pläne ernst zu nehmen, werden wir jetzt beim zweiten Hinweis — zuerst Aufsatz im „Orbis", Wiedergabe des Gesprächs zwischen Herrn Hahn und Herrn Bahr und dann Bekanntgabe der Fallstudie - natürlich argwöhnisch. Hier besteht ein Denkzusammenhang: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über, nicht nur in der Bibel, auch hier. Das ist die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland, wie sie sich Herr Bahr vorstellt, und darum diese Studie und darum diese Priorität.
Im übrigen verstehe ich es, Herr Bundeskanzler, daß Sie sich gerade nach cien schwierigen Gesprächen, die Sie hinter sich haben, und den nicht leichten, die Sie vor sich haben, wobei man nie weiß, welche schwieriger und welche leichter sind, die an der inneren Front oder die an der äußeren Front — dabei meine ich nicht einmal die Auseinandersetzung mit der Opposition, sondern die tatsächlich von großem Können zeugenden Versuche, bei einer Gegensätzlichkeit in der Meinung eine mannhafte Gemeinsamkeit im Bundestag so vorzuexerzieren, wie es heute hier geschehen ist; das war eine wunderbare Leistung —
— Wenn die Führungskunst darin besteht, dann wird sie kurze Beine haben.
Im übrigen sind diese Gedankengänge nicht ein Stück Politik, daß man sagen könnte: das ist völlig wesensfremd für die gesamte SPD. —Ich möchte hier nicht politische Archäologie betreiben, wie es Herr Wischnewski heute versucht hat, als er von dem Ja oder Nein zu den Ostverträgen sprach. Ich habe noch keinen selbstbewußteren Vertreter der atlantischen Idee gehört als den Bundeskanzler derselben Partei, die seinerzeit den Eintritt in die NATO gewissermaßen schon als Vorstufe zu einem künftigen Krieg zur Vernichtung Deutschlands dargestellt hat.
Aber das wäre politische Archäologie.
-- Sie waren bei den damaligen Debatten noch nicht dabei. Wissen Sie, was damals Ihr Kollege Arndt gesagt hat? Er sagte: Sie beschreiten eine Straße; am Ende dieser Straße steht der Krieg. — Das sagte er damals, als wir uns hier über die Frage für oder gegen den Eintritt in die NATO unterhalten haben. Darum sage ich ja auch: Betreiben wir doch keine politische Archäologie! Wenn Sie es dennoch wünschen, bin ich gern bereit, weil ich einmal Althistoriker war, auch in Archäologie zu machen.
Jedenfalls kann man nicht behaupten, daß diese Überlegungen wesensfremd für die gesamte SPD seien. Man kann doch nicht leugnen, daß es einen Deutschlandplan gibt, in dem allerdings wesentlich mehr steht, der aber auch die Elemente der Neutralität und des Neutralismus enthält. Man kann doch ferner nicht leugnen, daß sich die damalige Opposition und heutige Regierungspartei jahrelang mit der Frage befaßt hat, ob man nicht durch Verzicht auf die Bindung an Europa, durch Verzicht auf die Bindung an die Atlantische Allianz, durch Verzicht auf einen militärischen Beitrag eine Wende in der sowjetischen Politik zugunsten der Wiedervereinigung herbeiführen könnte. Sie wissen, daß jahrelang aus heute sehr hohem Munde eine Versäumnislegende auch hier in diesem Hause gewoben wurde, als ob die Sowjets einmal bereit gewesen wären -1952 das eine Mal, 1954 das andere Mal; aber das Ganze war ein in sich geschlossener Vorgang —, über freie Wahlen in ganz Deutschland mit sich reden zu lassen, wenn wir nicht diese Westbindung
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Strauß
-- Ich komme schon wieder hoch, keine Sorge!
Aber damit Sie wissen, was ich nicht verlorengehen lassen wollte: es war die gerade erst vor einer Stunde erschienene dpa-Meldung über einen Artikel eines bedeutenden, aus den Reihen der SPD stammenden Kolumnisten, eines ehemaligen Staatssekretärs, nämlich des Herrn Conny Ahlers: „Wehner gegenwärtig stärkster Mann in Bonn."
Das wollte ich auf keinen Fall unter den Tisch fallen lassen. Darum habe ich mich gebückt.
-- Ach, Herr Wehner, die Antwort, die ich Ihnen darauf geben könnte, wäre in diesem großen Kreise in ihrer Ironie vielleicht doch nicht ganz verständlich; darum verschweige ich sie lieber.Ich darf aber daran festhalten und zusammenfassend zu diesem Punkt sagen: Hier liegt nicht nur eine Modellstudie vor, ein theoretisches Elaborat, das sich mit völlig hypothetischen Voraussetzungen, völlig fiktiven Gedankengängen und utopischen Zukunftsvisionen befaßt. Nein, hier liegt eine Gesinnungsstudie, eine Charakterstudie und eine Empfehlungsstudie bei dieser Fallstudie vor.
Gerade angesichts des außenpolitischen Kurses der SPD seit dem Jahre 1949, wie wir ihn in diesem Hause ja immer wieder sozusagen im Reflex erlebt haben, muß eine Studie dieser Art von der sich auch heute der Bundeskanzler der Sache nach im günstigsten Falle nur indirekt abgesetzt hat, als er sein atlantisches Bekenntnis aussprach — naturgemäß die Opposition auf den Plan rufen. Diese Opposition wäre nichts anderes als ein Zustimmungsorgan — und leistete damit einer Verkümmerung der parlamentarischen Demokratie Vorschub —, wenn sie bei einer Studie, die die Verkehrung unserer außenpolitischen Grundlagen mit erster Priorität empfiehlt, dies nicht ihrerseits im Parlament zur Sprache brächte.
Ich weiß nicht, welche Auffassungen vom Parlament Sie haben, Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen, ein Parlament sei doch nicht dafür da, Fallstudien zu erörtern, sondern dafür, politische Entscheidungen zu treffen. Normalerweise haben wir erlebt — gerade in Ihrer Regierungszeit , daß politische Entscheidungen hinter dem Rücken der Opposition vorbereitet worden sind.
Wenn Sie sich schon in dieser Weise, wie Sie es heute hier getan haben, gegen Graf von Stauffenberg äußern, muß ich Ihnen schon ins Gedächtnis zurückrufen, daß Sie als damaliger Außenminister und SPD-Vorsitzender weder Ihren Kanzler — unseren gemeinsamen Kanzler noch die übrigen Kabinettsmitglieder noch, glaube ich, den damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion unterrichtet haben, als prominente Parteifreunde von Ihnen, darunter auch heutige Bundesminister, mit italienischen Kommunisten die Konzeption einer neuen ostpolitischen Programmatik entworfen haben.
Sie haben bei Ihren letzten zum Teil der Beschwichtigung, zum Teil der Ablenkung dienenden Reden -- siehe Bad Segeberg oder die Rede hier in Bonn, die Sie zum Anlaß des 100. Geburtstages von Otto Wels gehalten haben — zwar einen Trennungsstrich gezogen, aber Sie haben wieder falsche Zielscheiben aufgestellt, als ob in diesem Staate die wirklichen Gefahren von den Konservativen kämen, die Sie in völliger Verkennung der deutschen Geistesgeschichte oder in bewußter Anschwärzung einfach mit den Reaktionären gleichgesetzt haben. Aber Sie haben nicht Stellung genommen zu der Redeeines bekannten Juso-Professors Johano Strasser , der sich ja erst in den letzten Tagen in seiner Erlanger Rede offen zu neuen Kontakten mit der KPI und der KPF bekannt hat und der diese Kontakte zur KPI und zur KPF als eine neue oder wieder aufzunehmende politische Linie empfohlen hat.Oder ist Ihnen denn unbekannt, was in einer Ihrer Arbeitsgemeinschaften — und das sind die Jungsozialisten mehrmals ausgesprochen worden ist, nämlich die Empfehlung, sich von der atlantischen Gemeinschaft abzusetzen, und die Empfehlung, ein — wie es immer heißt kapitalistisches Europa dadurch zu verhindern, daß sich zwischen den Kräften der KPI, der KPF usw. und auch der deutschen SPD eine Aktionsgemeinschaft entwickeln soll? Haben Sie sich davon distanziert? Viel schlimmer als das, was Stauffenberg sagte, ist, wenn der Vorsitzende dieser Ihrer Arbeitsgemeinschaft, Herr Wolfgang Roth, in Ost-Berlin in seiner Adresse die Genossen begrüßt und Honecker, Kadar, Gierek und dann Willy Brandt in einem Atemzug erwähnt hat. Wenn das einer von uns getan hätte, dann könnten Sie von Verleumdung und Brunnenvergiftung reden!
Sie haben so schön ablenkend gesagt, esgebe Modelle, mögliche und unmögliche. Wir hoffen auch, daß das Modell, das uns heute leider viel Zeit kostet aber kosten muß —, ein unmögliches Modell ist. Und damit es ein unmögliches Modell bleibt und niemals ein mögliches Modell wird, darum haben wir es ja heute hier zur Erörterung auf den Tisch gelegt!
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StraußAber wenn ich mich recht erinnere — ich habe es im Protokoll nicht genau nachgelesen, habe aber ein relativ gutes Gedächtnis , hieß es damals, als dieser Artikel in „Orbis" hier zur Sprache kam, das sei schon lange her, das sei eine Unterredung unter vier Augen gewesen, und es sei doch komisch, daß dieser Professor sich nach fünf Jahren noch so gut daran erinnere.
Oder es ist von anderer Seite sogar wieder von „Erfindung" die Rede gewesen; ich sammle dieses Zeug, das da jeweils an Äußerungen und Erklärungen kommt, gar nicht.Hätten Sie sich doch damals hingestellt und gesagt: Im Auswärtigen Amt ist in meiner Zeit eine Reihe von Möglichkeiten deutscher Außenpolitik untersucht worden, darunter auch diese Möglichkeit, aber ich erkläre klipp und klar, diese Möglichkeit ist reine Theorie, und niemals wird unter einer von mir geführten Regierung ein Kurs dieser Art eingeschlagen werden!
Gerade weil, Herr Bundeskanzler, heute auch die Funktionen des Kanzlers und Parteivorsitzenden der SPD ineinandergeflossen sind — was nicht anzukreiden ist, was vielleicht unvermeidbar ist —, müssen Sie sich mit diesen Dingen auch hier im Parlament auseinandersetzen. Denn: Warum äußern Sie sich so oft sibyllinisch? Warum sagen Sie Positives an die Adresse der Europäer und der Atlantiker, sagen aber kein hartes Wort der Absage an bestimmte Pläne? — Weil der Schein des äußeren Zusammenhaltens Ihrer Partei und die Fundamente Ihrer Kanzlertätigkeit davon abhängen, daß Sie Unvereinbares — wenigstens dem Scheine nach — miteinander vereinbaren.
Man braucht keine Hintergrund-Kenntnisse zu haben oder sich um Sonderinformationen zu bemühen, wenn man hier sagt, daß sich doch ein Teil Ihrer Partei und zwar ein nicht unerheblicher Teil, nicht nur der jungen Generation bei Ihnen — mit der von Herrn Bahr als Fall C empfohlenen Lösung innerlich längst identifiziert hat und diese Lösung anstrebt. Aus diesem Grunde dürfen Sie hier nicht sagen: mögliche und unmögliche Modelle. Nein, hier heißt es, Farbe zu bekennen — je früher, desto besser.
Als Sie von möglichen und unmöglichen Modellen sprachen und Ihnen ein Lachen aus der Fraktion der CDU/CSU entgegentönte, da haben Sie, Herr Bundeskanzler — ich bin im Gegensatz zu manchen, die sich als Berater der Bundesregierung empfehlen, weder Psychologe noch Psychotherapeut ---,
in explosivem Tone gesagt: Lachen Sie doch nicht dümmer, als Sie sind!
Herr Bundeskanzler, das ist ein ungehöriges Wort.
Wenn Sie nach der Geschäftsordnung nicht insoweit tabu wären, hätte das sicherlich einen Ordnungsruf verdient.
Man kann auch der gleichen Wertung durch eine andere Bezeichnung Ausdruck geben. Aber Sie haben noch die mildeste Form der Reaktion für Ihr Ablenkungs- und Tarnmanöver, nämlich das Lachen aus cien Reihen der Fraktion der Opposition, mit diesem Wort quittiert. Gut, das regt mich nicht auf. Mich interessiert was anderes: nämlich die Unsicherheit, die hinter dieser Reaktion steht.
Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich auf einen zweiten Komplex, der heute hier eine große Rolle gespielt hat, zu sprechen kommen, und zwar auf die Äußerungen des Kollegen Wehner.Ich habe in diesen Tagen viele Wertungen gelesen, Wertungen, die in der Schärfe eher aus dem Regierungslager und den mit dem Regierungslager sympathisierenden, wenn auch enttäuschten Kreisen als etwa aus dem Munde der Opposition kommen. Ich habe mich sogar bemüht, Herr Kollege Wehner, Ihren Gedankengängen zu folgen. Das ist bei Ihnen nicht leicht; das ist fast so schwer, wie Ihre Sprache zu verstehen.
— Entschuldigen Sie, auf einen bezogen, der das Wort „Vilshofen" hier sagte: Wenn man schon so dumm ist, sollte man es nicht bei jeder Gelegenheit bekennen.
— Ich habe meine Bemerkung an einen gerichtet, der einen törichten Zuruf gemacht hat. Und wenn einer töricht redet, muß man's ihm doch sagen dürfen — zur Zeit jedenfalls noch.
Was Sie bewegt hat, Herr Kollege Wehner, das war die Sorge vor möglichen Kollisionen zwischen der Auslegung der Ostverträge — nicht nur des Berlin-Abkommens, auch wenn das im Vordergrund stand — durch die Bundesregierung und ihre Unterhändler in Gesprächen mit ihren östlichen Verhandlungspartnern und der Auslegung durch diese Verhandlungspartner einerseits und der Auslegung, die hier mit der Entschließung vom 17. Mai, mit dem Karlsruher Urteil und bei anderer Gelegenheit gegeben worden ist.Heute ist gesagt worden, wer nicht blind sei, der müsse doch sehen — — Ich muß wirklich einmal sagen: wer nicht blind ist für politische Vorgänge, wer nur ein Mindestmaß an Gespür hat, der merkt doch jetzt — sagen wir einmal, sogar beiderseitige subjektive Redlichkeit vorausgesetzt —, daß sich die Sowjetunion unter diesen Verträgen und den Folgevereinbarungen und den daraus ableitbaren Konsequenzen etwas ganz anderes vorgestellt hat,Straußals jetzt durch Entschließung, Karlsruher Urteil undweitere ähnliche Festlegungen herausgekommen ist.
Das haben Sie gespürt, Herr Kollege Wehner. Das habe ich Ihnen bei meiner Rede auf dem Münchner Parteitag, auf die ich sonst nicht zu sprechen kommen will, zugute gehalten. Ich habe gesagt: das war kein Lapsus linguae, das war kein Amoklauf, das war kein Ausbruch ins Irrationale; das kann man auch nicht mit solchen Ausdrücken bewerten wie „Dolchstoß", „Verrat", „ist in den Rücken gefallen". Ich habe gesagt: nicht daß ich diese Äußerungen billige, aber solche Motive, solche Motivationen sind viel zu emotional-oberflächlich. Aus Ihnen hat die tiefe Sorge gesprochen, daß — sagen wir einmal — nach den nicht zu übersehenden Schwierigkeiten der Innenpolitik dieser Regierung nun ihr Glanzstück, mit dem sie ja eine Mehrheit der Wähler zu Recht oder zu Unrecht hinter sich gebracht hat, immer mehr an Attraktivität verliert, daß davon eine Illusion nach der anderen abblättert und dann die nackte geschichtliche Wirklichkeit wieder zutage tritt. Das wollten Sie verhindern.
Man soll jetzt nicht bei diesem Stande der Erörterung — nicht weil ich mich scheue, aber ich möchte sagen, es wäre sinnlos vertane Zeit — etwa mit der Frage für oder gegen Verhandlungen mit kommunistischen Partnern, für oder gegen Verträge mit kommunistischen Staaten kommen. Dieses Thema hat sich nie gestellt. Ich sage das nicht aus apologetischen Gründen, sondern weil das einfach so läppisch ist, daß man unter ernsthaften Politikern auch verschiedener Qualität nicht darauf eingehen sollte. Es handelt sich nicht um die Frage „Verhandeln oder nicht?", sondern um die Frage „Wie verhandeln?", und nicht um die Frage „Verträge, ja oder nein?", sondern „Welche Verträge?". Niemand, der die Debatten in diesem Hause verfolgt hat, kann bestreiten, daß die Redner der CDU/CSU ich darf mich hier bei mehreren Gelegenheiten einschließen, aber auch viele andere — vor Verträgen mit unklaren Formulierungen gewarnt haben, deren sprachliche Ausdruckswahl schon aus philologischen Gründen, aber dann aus politisch-begrifflichen Gründen zu völlig verschiedenen Deutungen führen muß.
Sie werden sich erinnern, daß wir in diesem Hause deshalb ausgelacht worden sind. Wir haben damals unsere Sorge nicht glaubhaft, nicht griffig genug beweisen können. Wir hatten manche Äußerungen von sowjetischer Seite. Der Kollege Marx und ich hatten einmal ein sehr interessantes nächtliches Gespräch mit einem bekannten Besucher aus der Sowjetunion, der uns auf unsere Erklärung hin sagte: „Sie interpretieren den Moskauer Vertrag völlig falsch." Ich habe ihm darauf gesagt: entschuldigen Sie, das war nicht meine Interpretation, das war die der Bundesregierung. Und er sagte dann anschließend: „Dann soll sie sich einen anderen Dolmetscher nehmen", wenn sie es so verstanden haben sollte. Aber das sei nur als Fußnote angemerkt.Herr Kollege Wehner, Sie haben in Moskau diese Äußerung „Berlin-Position überzogen" gemacht und dann das Wort von der „konzertierten Aktion der Bundestagsabgeordneten" etwa so gebraucht, als ob man mit Menschenrechten ein billiges politisches Geschäft machen wolle. Darüber haben wir uns neulich unterhalten, lassen wir das hier einmal beiseite. Immerhin steht fest und kann von Ihnen doch wohl nicht bestritten werden, daß Herr Kusnezow, der sowjetische stellvertretende Außenminister, gerade in der Unterhaltung mit der Bundestagsdelegation — das war eine der Sitzungen, wo anscheinend noch alle beisammen waren; es gab ja auch getrennte Bühnen mit anderen Partnern davon gesprochen hat, daß mit dem Berlin-Abkommen und dem Grundvertrag eine gute Grundlage zur Verbesserung der Lage in Europa geschaffen worden sei. Das Berlin-Abkommen umfasse alles, .was man bei Berücksichtigung der Lage habe hineinbringen können. In letzter Zeit würden aber Versuche unternommen, in das Abkommen Dinge hineinzubringen, die gar nicht darinstünden. Die Verhandlungen mit der CSSR und das Karlsruher Urteil zeigten, daß die Absicht bestehe, grundsätzliche Bestimmungen zu revidieren. In diesen Fällen handele es sich um die Verletzung eines Abkommens, das vorschreibe, daß Berlin kein Land der Bundesrepublik sei.Einer dpa-Meldung ist dann zu entnehmen, Herr Wehner habe Herrn Kusnezow gedankt und im weiteren ausgeführt, es dürfe nicht so weit kommen, daß die Gegner der Verträge bestimmen könnten, was nun mit den Verträgen gemacht werde. Insoweit habe man in der Bundesrepublik noch einen Kampf zu führen. Wehner sagte weiter, daß er Herrn Kusnezows Auffassung zu Berlin teile, daß das Karlsruher Urteil ein innerer Vorgang sei und daß das, was gelte, der Vertrag sei.
Das ist eine Zusammenfassung verschiedener Quellen, weil ich sie nicht im einzelnen verlesen kann. Damit sind wir doch genau wieder an dem Punkte, an dem wir soundso oft gewesen sind. Ich möchte es also jetzt nicht nochmal beschwören. Aber haben wir nicht unzählige Male gesagt und ich habe diesen Ausdruck gebraucht —: klare Verträge sind gute Freunde, unklare Verträge sind schlechte Freunde. Sicherlich hilft einem im Augenblick eine unklare Fassung über die Schwierigkeiten hinweg. Aber man darf doch nicht glauben, daß man bei einem Partner vom Kaliber der Sowjetunion, wenn man im Augenblick über solche Dinge durch verschiedene Interpretationen bei doppeldeutigen Formulierungen hinwegkommt, dann der Wirklichkeit entrinnen kann.
Sie, Herr Wehner das billige ich Ihnen ja zuhaben die Wirklichkeit ohne Zweifel erkannt. Sie haben gesehen, daß schlimmere Dinge auf Sie zukommen, und Sie wollten bei dieser Gelegenheit den Eklat, die Kollision herbeiführen. Bei dieser Gelegenheit wollten Sie den Bundeskanzler, den Außenminister und die Kräfte der Regierungskoalition unter die Botmäßigkeit Ihrer Interpretation bringen,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 3005
Straußsolange die Dinge noch, wie Sie sich vorstellen, geheilt werden können. Darum haben wir heute das Unglaubliche gehört, daß totale Eintracht, süßer Friede und edle Harmonie herrsche
und daß es nur plumpe Verdrehung und Verfälschung sei, wenn Herr Wehner etwas anderes gesagt habe, als was Herr Brandt und Herr Scheel dazu gemeint hätten, usw. usw. Das heißt doch nur nunmehr etwas in die Methode der Innenpolitik, ich darf schon sagen, auf skurrile Weise übertragen, was Sie mit einem großkalibrigen Verhandlungspartner versucht haben, nämlich durch Formulierungen die Wirklichkeit zu ändern. Man kann durch Formulierungen die Wirklichkeit beschreiben, man kann durch Formulierungen Verpflichtungen eingehen, man kann Rechte abgrenzen, man kann aber durch Formulierungen nicht die Wirklichkeit ändern. Das ist die Interpretation.
Der Kollege Wehner sagte vorhin so nett „alte Verbündete" oder wie. Ein Mitglied Ihrer Fraktion, das ja als Kolumnist in einer gar nicht so, darf ich sagen, regierungsabgeneigten Wirtschaftszeitung wöchentlich schreibt, hat es, ich darf sagen, respektvoll — und zwar ohne eine Inspiration von mir zu haben, Herr Wehner — folgendermaßen formuliert: Als einen wohlkalkulierten begrenzten Konflikt mit der Bonner Regierungskoalition hat der SPD-Abgeordnete Conrad Ahlers den Auftritt des SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner in Moskau bezeichnet. Allein schon die Tatsache, daß er diesen Konflikt wagen und überstehen konnte, schreibt Ahlers in der am Freitag erscheinenden neuen Ausgabe des Magazins „Wirtschaftswoche", erweise die Richtigkeit der Behauptung, daß er gegenwärtig der stärkste Mann in der Bundeshauptstadt ist. Wehner habe bei seinen Attacken zwar nicht in der Form und in der Wahl des Ortes, wohl aber in der Sache die Mehrheit der SPD und der Bundestagsfraktion auf seiner Seite.
Weil dem so ist — es entspricht genau einer nichtkonzertierten Auslegung , hat der Herr Bundeskanzler gestern folgende Erklärung abgegeben ich beziehe mich jetzt auf die dpa-Meldung —:SPD-Fraktionschef Herbert Wehner nimmt die Erklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vor der SPD-Fraktion vom Vortage, daß die Regierung weder früher noch jetzt ein Überziehen des Berlin-Abkommens beabsichtigt habe, als Zurechtweisung und zugleich als eine Willenserklärung für die Zukunft hin.Eine hochinteressante Formulierung, wobei ich unterstelle, daß sie nicht durch Zufall so schlau geworden ist, wie sie erscheint. Es heißt hier einerseits „als Zurechtweisung"; das erfordert gewissermaßen die Reverenz vor den Würdenträgern denen Sie gewaltig auf die Füße getreten sind. Andererseits heißt es dann „als eine Willenserklärung für die Zukunft". Wie heißt denn die Willenserklärung für die Zukunft? Die Formulierung hier heißt: Manhabe nicht beabsichtigt, die Berlin-Position zu überziehen. Was heißt denn das für begrifflich klar denkende und sprachlich eindeutig formulierende Menschen? Hier geht es doch nicht um die Frage, ob man habe überziehen wollen und jetzt nicht mehr überziehen wolle. Es geht doch hier nur um die Frage, ob die von der Bundesregierung in den Verhandlungen mit Warschau, Prag, Budapest und Sofia einnommene Position Rechtshilfeverkehr für West-Berlin durch die diplomatischen Stellen der Bundesrepublik, sowie nicht nur Vertretung natürlicher Personen, sondern auch Vertretung von Rechtspersonen -- vom Berlin-Abkommen gedeckt sei oder nicht. Hier hat die Bundesregierung ganz klar Position bezogen. Man sollte heute hier nicht einen solchen Schaum darum herumreden, und nicht solche Dampfwolken erzeugen. Es heißt, man habe nicht beabsichtigt zu überziehen. Da muß der eine eine Zurechtweisung hinnehmen, aber er kann sagen: Für die Zukunft ist es dann eine Willenserklärung. Die Bundesregierung muß hier erklären, ob sie bei dieser Position, die sie in diesen Verhandlungen erfreulicherweise und von uns öffentlich anerkannt eingenommen hat, in Zukunft mit allen Konsequenzen, mit allen Folgen und mit allen Ausdeutungen bleiben wird oder ob sie unter dem Druck der Moskauer Abkanzelei durch den Herrn Wehner von dieser Position zunächst verbal und dann sachlich allmählich abzurücken gesinnt ist.
Das ist doch die entscheidende Frage.
Der sächsische König war es, glaube ich — hier gibt es auch viele sächsische Würdenträger, nicht nur bayerische; deshalb muß man da vorsichtig sein —,
der einmal gesagt hat: Ihr seid mer scheene Demograten oder Republiganer. — Der Bundeskanzler sagt: Ihr seid mir eine schöne Opposition. — Herr Bundeskanzler, ich muß Ihnen schon sagen: Sie sind ein schöner Bundeskanzler!
Aber Ihre ganze Schönheit, die sich abgewogen in Erscheinungsbild und sprachlicher Unverbindlichkeit äußert, endet dort, wo die Dinge beim Namen genannt werden müssen.
Sie werden es als alter Fuhrmann des politischen Lebens niemandem übelnehmen, daß die Opposition solche Vorgänge natürlich erst einmal mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und daß den einen oder anderen sicherlich auch ein gewisses Gefühl der Schadenfreude bewegt. Die Schadenfreude soll ja angeblich die echteste Freude sein. Aber streichen Sie diese oberflächlichen Gefühle weg. Uns bewegt— glauben Sie mir das bitte auch in dieser Stunde— nicht so sehr das naheliegende Gefühl der Schadenfreude oder der Wunsch, Aufmerksamkeit zu erwecken. Uns bewegt auch ein Gefühl tiefer Sorge.
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3006 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Strauß— Solche Motive sollte man nicht abwerten,
besonders dann nicht, wenn man vorher über Herbert Wehners Verdienste für Berlin und Deutschland in so dramatischer Weise gesprochen hat.
Ich sage gar nichts dagegen. Ich setze mich damit gar nicht auseinander. Ich sage aber: Wir haben tiefe Sorge, weil jetzt das ausbricht, was die Hektik und die Ungekonntheit Ihrer Verhandlungsführung beim Aushandeln dieser Verträge zwangsläufig heraufbeschwören mußten.
Sie haben j a selbst heute eine ganze Reihe von Dingen auf den Tisch gelegt und zugegeben, wie stark unsere Verhandlungsposition war. Wir haben doch nie — ich darf mich hier wirklich einschließen — zu denen gehört, die der lächerlichen Meinung waren, man hätte durch hartes Verhandeln und gelegentliches dramatisches Auf-den-TischHauen etwa ein Einlenken der Sowjetunion und zum Schluß ihre demütige Bitte erleben können, die Wiedervereinigung aus ihren Händen gnädigst entgegenzunehmen. So dämlich ist doch niemand. Aber so wird es draußen manchmal dargestellt.Aber was hätte man in der Situation nach 20 Jahren angeblicher Erfolglosigkeit erreichen können? Diese 20 Jahre waren die geschichtliche Bestellung des Ackers, auf dem vom Jahre 1969 an hätte geerntet werden können.
— Wenn Sie hierüber lachen, dann sage ich nicht: „lachen Sie nicht so dumm, wie Sie sind!", sondern dann sage ich nur — das meine ich aber ernst —, daß Sie von geschichtlichen Vorgängen, die ja bekanntlich einen langen Atem haben, leider nichts verstehen.
Es ist doch kein Zufall, daß nach der dramatischen Aktion der Sowjetunion vom 21. August 1968 mit der Wiederherstellung der inneren Ruhe und der inneren Ordnung in der Landschaft der Breschnew-Doktrin, mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts einschließlich ihrer deutschen Komplicen die Sowjetunion ihren Besitzstand eigentlich hätte als gesichert ansehen können. Sie hat mit rauher Faust die Ordnung wiederhergestellt und klargemacht, daß, wer einmal in dieser Botmäßigkeit ist — siehe Breschnew-Doktrin —, keine Chance mehr hat, aus ihr jemals wieder entlassen werden zu können, und daß sie sich mit Recht auf die Friedensliebe aller verläßt, weil der für eine Intervention zu zahlende Preis wesentlich höher gewesen wäre als das zu schützende Rechtsgut. Auch das räumen wir als Selbstverständlichkeit ein, ganz abgesehen davon, daß die Bereitschaft und die Fähigkeit dafür bei niemandem überhaupt vorhanden ist.Aber gerade nach diesem dramatischen Akt vom 21. August 1968 hat die Sowjetunion von der Konfliktstrategie auf die Einflußstrategie umgeschaltet.Sie hat erkannt, daß sie ihr westliches Vorfeld nicht allein durch Aktionen à la Prag oder früher Ungarn sichern kann, sondern daß sie ihr Vorfeld durch ein wohlgesponnenes Netz von Verträgen — Vorläufer ist die Bundesrepublik Deutschland; die Fortsetzung geschieht dann durch die KSZE — absichern muß, wenn sie im Innern ihres Herrschaftsbereichs mit den Bewegungen zurechtkommen will, die sich dort immer wieder unter der Decke, aber zum Teil auch über der Decke abzeichnen.Ich räume auch ein, Herr Bundeskanzler — und ich habe darüber nachgedacht, weil ich mit Mitgliedern Ihres Kabinetts in den vergangenen Jahren mehrmals darüber gesprochen habe —, daß solche Verträge und die damit ermöglichte kontrollierte Kontaktaufnahme, obwohl sie immer noch eine inhumane Art darstellt, natürlich auch eine liberalisierende Wirkung haben können, wenn nicht die Gegenwirkungen schärfer bemessen werden, als die liberalisierenden Wirkungen sind. Aber das sei nur am Rande erwähnt.Der zweite Grund, warum die Bundesrepublik ein begehrter Verhandlungspartner ist — vielleicht meinen manche, ich denke hier in Megalomanien oder in großartigen Maßstäben —, hängt mit der Frage der wirtschaftlichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten der Sowjetunion zusammen. Es gibt nicht den leisesten Zweifel, daß sich die Versprechungen, die seit Lenin, Stalin, Chruschtschow und Breschnew an die Adresse der eigenen Bevölkerung und mit pompöser Geste an die Welt gemacht worden sind, nämlich man werde binnen soundso vieler Jahre den Kapitalismus überholen und dann eine größere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aufweisen, als leerer Wahn erwiesen haben. Im Gegenteil, der Abstand in der Wirtschaftskraft für zivile Zwecke — ich rede nicht von der militärischen Technik — hat sich im Laufe der Jahrzehnte vergrößert und nicht vermindert.Das schafft neue innenpolitische Probleme. Diese haben ohne Zweifel bei den Reisen des Herrn Breschnew sowohl in Bonn als auch in den USA und bei anderen Kontaktnahmen eine gewisse Rolle gespielt. Ich rede jetzt auch nicht über die Frage „Osthandel ja oder nein?" oder „Osthandel innerhalb welcher Grenzen?". Die Grenzen werden von der politischen Erfahrung und Vernunft gezogen. Osthandel ja, aber nur innerhalb der Grenzen, daß Vollbeschäftigung oder Versorgung unserer Wirtschaft mit Rohstoffen nicht von Entscheidungen dieses Regimes abhängig gemacht werden können.
Ich glaube, darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Ich rede auch nicht über die Frage der Verbilligung oder Nichtverbilligung von Krediten. Das ist auch eine Problematik. Daß die Sowjetunion lieber in manchen Bereichen mit der Bundesrepublik kooperiert als mit den USA, ist schon daraus zu erklären, daß die USA nach wie vor der strategische Hauptgegner sind, während die Kooperation mit der Bundesrepublik innerhalb der Sowjetunion weniger psychologische Probleme schafft als etwa die Kooperation mit den USA.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 3007
StraußDas dritte ist ohne Zweifel ---- das kann man bei jedem Gespräch hören die Frage der zukünftigen Entwicklung des östlichen Nachbarn der Sowjetunion.Diese drei Probleme, die Sicherheit der inneren Herrschaft, die wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Bedürfnisse und das Problem Ostgrenze haben zusammen bei den sowjetischen Machthabern eine Überlegung geschaffen ich stelle das nur fest; ich sage es ohne Wertung und ohne bissige Polemik -, daß sie von der Konfliktstrategie zweier Jahrzehnte auf die Einflußstrategie umgeschaltet haben. Man darf nur nicht glauben, daß die Einflußstrateqie nicht eines Tages, solange das Potential dafür vorhanden ist, wieder zugunsten der Konfliktstrategie in den Hintergrund treten könnte. Aber das sind Selbstverständlichkeiten, ausgenommen bei denen, die sozusagen von ostpolitischer Euphorie besessen sind.Das waren die Stärken der Verhandlungsposition. Aber das hätte bei der Schwierigkeit der Materie mit dem Hintergrund 2. Weltkrieg, 25 Jahre nach dem 2. Weltkrieg bessere Verhandlungsführer, längeren Atom, klarere Vorstellungen über die Art des Partners und die Bereitschaft erfordert, in klaren, eindeutigen Formulierungen Leistung und Gegenleistung zu erarbeiten, auch wenn eine Pause eintritt, auch wenn einmal ein Rückschlag eintritt. Dann wäre Ihnen das erspart geblieben, was wir jetzt erleben, was Herr Wehner mit seinem Moskauer Alleingang zu verhindern sucht, aber auf die Dauer auch nicht verhindern kann, daß sich wegen der Verschiedenheit -- ich darf sagen: Gegensätzlichkeit — der Auslegung dieser Verträge -- schon bei dem Berlin-Abkommen geht es an, das besser ausgehandelt ist -- eine Fülle von Meinungsverschiedenheiten, Zwistigkeiten, Gegensätzen und Machtkämpfen hinter den Kulissen abspielen werden, weil der Machtwille der anderen Seite ungebrochen ist und sie damit gerechnet hat, mit. diesen Verträgen seien bei uns bereits die Hauptwiderstände beseitigt. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Dafür danke ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie dabei bleiben. Dafür danke ich Herrn Scheel. Dafür danken wir all denen, die gemeinsam diese Position mit uns halten. Wir danken Ihnen dafür. Aber damit das nicht eintritt, muß diese Frage hier geklärt werden.
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3008 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Strauß, das darf ich Ihnen zurückgeben; ich will von Ihrem Manuskript nicht Gebrauch machen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nun haben die zwei führenden Persönlichkeiten der CDU/CSU in diesem Haus gesprochen und haben gezeigt, was Sie zu sagen hatten. Man wird abwägen, in welchem Verhältnis das zu den Vorankündigungen stand. Ich bin etwas enttäuscht über Herrn Strauß, weil seine Rede viele Ansätze hatte, aber zu wenige davon, die entwickelt wurden. Vielleicht fehlte es an der genügenden Redezeit. Beide aber haben sich hier ausgiebig mit Herrn Bahrs sogenannten Modellstudien befaßt.Meine Damen und Herren, da wende ich mich getrennt erst an Herrn Carstens. Was wäre wohl, wenn jemand Ihre Prognosen über die Aussichten der Postulate der von Ihnen damals gefeierten Deutschlandpolitik veröffentlichte, etwa aus dem Jahre 1964? Unsere Praxis ist das ja nicht.
— Unsere Praxis ist das nicht.
Wenn wir darüber mal reden könnten — das muß nicht hier im Plenum sein —, dann würde ich Ihnen sagen, weshalb ich Sie einmal einen Bankrotteur genannt habe, nicht weil ich im Gegensatz zu Ihrer Politik stand, sondern weil Sie das, was Sie Ihrem damaligen Minister entwickeln sollten, in einer Weise gemacht haben — wie Sie es wußten —, um dann eine Volte zu schlagen, um auf Kosten des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin — und das nahm ich Ihnen übel — die Pleite Ihrer Prognosen zu überdecken. Das war es. Ich stehe dazu.
Nur, meine Damen und Herren, es ist schon soviel von Sachkennern der Modellwerkstätten gesprochen worden. Ich will kein Modell ins Spiel bringen. Aber zu Herrn Strauß will ich doch sagen: Offen gestanden, der Schützenpanzer, in dem Sie heute Angriff gefahren sind, ist ein reichlich, sagen wir mal: verbrauchtes Gefährt gewesen.
Und nun, meine Damen und Herren, zu dem, worum es mir zunächst, wenn auch nicht allein, geht. Ich will zu der als Bezichtigung und Friedloserklärung — Sie kennen das deutsche Wort, nicht wahr?; es sind ja einige Philologen unter Ihnen — ausgeklügelten Unterstellung, der Vorsitzende der SPD-Fraktion habe sich die Interessen der Sowjetunion zu eigen gemacht, Ihnen folgendes sagen. Erstens. Das ist nicht so neu, wie Sie es jetzt entdeckt zu haben vorgeben.
Zweitens. Das ist ja auch nicht alles, was in Ihren Arsenalen liegt und noch auf mich abgeschossen werden soll und wird. Der Vorgeschmack ist noch wenig vielversprechend; das kommt alles noch.Sie haben aus den verschiedenen Möglichkeiten zur moralischen Erledigung des Gegners und zu Ihrer eigenen Aufwertung, sehr verehrter Herr Kollege, die Art, die Sie heute vorgeführt haben, eben gewählt. Und ich muß sagen: Wenn das heute von Ihnen angestimmte Hohelied auf das ViermächteBerlin-Abkommen darauf zurückzuführen sein sollte, daß man sich aus Feindschaft gegen mich dazu entschlossen hat, es anzustimmen und den eigenen Standpunkt vom Jahre 1972 damit soweit wie möglich vergessen zu machen, sage ich Ihnen: auch gut.
Das andere muß ich weitergeben, muß ich der Regierung überlassen. Die Regierung wird wissen, wie sie Ihr Vertrauen, die Sie hier gesprochen haben, zu schätzen hat oder was sie an ihm gewonnen hat. Das ist allein Sache der Regierung.Zu den Verträgen selbst, meine Damen und Herren, habe ich nur vier Worte: „strikt einhalten, voll anwenden" ; und nicht dran rumfummeln, und nichts draufsatteln, wie Sie das immer wieder versuchen.
— Ich sagte es. Warum regt Sie denn das so auf? Hat Sie bisher noch nichts aufgeregt? Brauchen Sie Pfeffer oder was?
Sehen Sie, das Berlin-Abkommen, das ein von vier Mächten signiertes Abkommen ist, zu dem es Zusatzvereinbarungen der beiden Staaten im getrennten Deutschland gibt — ich sage das BerlinAbkommen, dessen Beschreibung und Qualifizierung durch den Bundesminister des Auswärtigen heute ich zustimmend gehört habe — —
— Wir reden ja von heute, von der Debatte. Sie haben ja kaum von dem geredet, was der Außenminister gesagt hat. Sie haben ja kaum von dem geredet, was hier berichtet worden ist. Das wäre doch in keinem anderen vergleichbaren Parlament möglich.
Soweit reicht es doch, daß ich Ihre Lächerlichkeit durchdringe.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 3009
Wehner— Ich bin gar nicht übermütig, wissen Sie. Ich weiß, was man noch kann und was man nicht kann. Aber mit Ihnen kann ich noch immer!
Was das Berlin-Abkommen betrifft: Ich warne davor das richtet sich nicht gegen den oder die oder noch welche —, auf einen Automatismus dieses Abkommens setzen zu wollen. Das ist etwas ganz anderes. Ich habe — das möchte ich hier genau wiedergeben — einmal in einem Versuch, die Vertragsgrundlage unserer Bundesrepublik Deutschland zu beschreiben und zu fixieren, dann schließlich bei den zwei letzten Punkten meiner Überlegungen zum Ausdruck gebracht:Durch internationale Konflikte oder Erschütterungen, durch politische oder gesellschaftliche Konvulsionen wird die Belastbarkeit der Verträge mancherlei Proben ausgesetzt werden. Deutschland als Ganzes und seine beiden voneinander unabhängigen Staaten einschließlich des getrennten Berlin sind nicht neutralisiert. An Versuchen in Richtung Neutralisierung wird es nicht fehlen. Doch wir können nur vom Interessenausgleich der Bündnisse von West und Ost Nutzen haben. Also müssen wir uns nach unseren Kräften um ihn bemühen, ohne ihn je allein bewerkstelligen zu können. Die Unterschiedlichkeiten und Gegensätzlichkeiten von Interessen zeigen sich und werden sich zeigen, nicht nur zwischen West und Ost, sondern auch innerhalb unserer westlichen Gemeinschaft. Es ist augenscheinlich, daß damit auch politische Rechnungen aufgemacht werden. Unsere eigene Rechnung könnte niemals stimmen, meine Damen und Herren auf allen Seiten des Hauses, wenn wir uns dazu verleiten ließen, einem alten oder neuen sogenannten Nationalismus, gleichviel welcher Färbung, Eingang bei uns zu verschaffen, ebensowenig wie wir anderer Lehrmeister in dem, was man Internationalismus nennt, werden wollen sollten. Wir müssen versuchen, sowohl alte Politik in neuen Verträgen nicht überhandnehmen zu lassen als auch Schwärmerei in neuen Verträgen zu vermeiden. Die Verträge sind gewichtig genug, sich mit ihnen ernsthaft und gewissenhaft zu befassen und sie zur ganzen Wirkung zu bringen. Kein Stück also davon aufgeben oder dem Verschleiß aussetzen, sondern haushälterisch mit ihnen umgehen!Da ist dann der nächste Punkt:das Viermächtegerüst, in dem wir leben und auf das wir uns stützen, ist nicht unsretwegen errichtet worden. Es ist Ausdruck für die Bemühungen um Machtbalance. Die Vibrationen, denen dieses Gerüst ausgesetzt ist und sein wird, sind nicht in jedem Fall und bei jedem Stoß von uns zu verantworten; aber wir haben ein Interesse daran, sie nicht zu Hochspannungen werden zu lassen, die auf Kosten unserer Existenz gehen würden. Von unserer eigenen gesellschaftlichen und staatlichen Balance undEntwicklungsfähigkeit im Innern der Bundesrepublik Deutschland und des an die Bundesrepublik Deutschland gebundenen Berlin hängt in entscheidendem Maße ab, mit welchem Grade von Handlungsfähigkeit unser Staat sowohl in dem, was wir Innenverhältnis im getrennten Deutschland nennen, als auch in den Bereichen der westlichen Gemeinschaft und der Beziehungen zu Staaten und Völkern in aller Welt wirken kann, damit Friede gesichert und Zusammenarbeit zur Regel wird.
So gesehen habe ich es begrüßt, daß der Bundesminister des Auswärtigen heute einen Einblick in die Vielfältigkeit der Bezugspunkte in den Vereinten Nationen, in denen wir nun als 134. Vorgang auch Mitglied geworden sind, gegeben hat.Nun zu Herrn Strauß' wiederholtem Versuch, das Denkmodell einerseits, wenn er es macht, zu legitimieren; wenn es der Bahr macht, ist es immer was Schlimmes.
Dazu möchte ich Ihnen folgendes sagen. Herr Strauß, Sie haben gesagt, bei den verschiedenen Veröffentlichungen, auf die es hier ankommt, besteht ein Denkzusammenhang. Ich finde, das ist ein Versuch bei Ihnen, ohne Bedenken mit einem solchen Denkzusammenhang durchzukommen. Ich erinnere mich an Leute, die haben alles in der Welt, alle schlechten Sachen und alle Vorkommnisse mit den „Protokollen der Weisen von Zion" erklärt. Es gibt auch andere, die für ihre Erklärungen keineswegs die „Protokolle der Weisen von Zion" als Grundlage nehmen wollen.
Aber so ungefähr ist die Machart dieser Legenden, mit denen Herr Bahr schließlich wie von einem Schlingengewächs umklammert werden soll.
Ich darf Sie daran erinnern — lang, lang ist es her; Sie haben sich damals furchtbar erregt; ich war damals im Kabinett —, daß Sie mit einem „notorischen Kommunisten", mit einem „Vaterlandsverräter" im Kabinett waren und ihn damals nicht erkannt haben.
Ich weiß, wo die Munition geladen und auf welches Ziel geschossen wird. Ich täusche mich in Ihnen und Ihrer Qualität nicht, meine Herren!
Zur Zeit der Außenministerschaft Willy Brandts gab es prominente SPD-Leute, die mit italienischen Kommunisten sprachen, was jetzt wieder hervorgeholt wurde. Meine Herren, mit wem haben viele schon gesprochen, was haben sie gesprochen, und was haben sie dabei getestet? Es wäre ganz schlimm, wenn nicht miteinander gesprochen würde. Ich z. B. will den Versuch machen, die Gespräche, die ich im Rahmen der Delegation geführt habe, damit so we-
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3010 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Wehnernig Mißverständnisse bleiben wie möglich, die dann zu „Denkmodellen" weiterverbreitet werden können, am Wochenende, wenn es mir bis dahin die Zeit und auch die Strapazen erlauben, aufzuschreiben und zugänglich zu machen,
auch die sogenannten Geheimverhandlungen. Sie werden zwar nicht lachen, aber Sie werden denken: Was ist das von dem für ein Trick? — Bitte sehr! Bitte sehr!
Herr Strauß, Sie sagen, um abzusichern, daß Sie gar nicht so altmodisch seien, wie Sie es in den fünfziger Jahren alle gewesen sind, das Thema „verhandeln oder nicht verhandeln mit kommunistischen Staaten" stelle sich gar nicht, sondern die Frage „welche Verträge". Und dann haben Sie gesagt: ,,..., deren sprachliche Ausdrucksqualität zu fortgesetzten Enttäuschungen führt." Ich sage Ihnen eines in aller Sachlichkeit: Sie können nicht nur Verträge unterstützen wollen, die mit Partnern geschlossen werden, die das machen, was uns hier wünschenswert erscheint. Das ist in jedem Fall so. Worauf man achten muß, ist, daß dabei beide Seiten denselben Vertrag einhalten. Aus diesem Grunde warne ich vor der Belastung. Es gibt keinen Vertrag über den Vertrag; es gibt nichts, was über dem Vertrag steht.Und was wir zu unserem Innenverhältnis dazu zu sagen haben: Ich verteidige, daß wir das Recht haben. Hier wurde Herr Kusnezow zitiert, der sagte: Und da ist die Sache mit dem Verfassungsgericht. -Ich erwiderte: Das ist unser Innenverhältnis. Ich bitte Sie, Herr Kollege Stücklen, ich verstehe ja sehr gut, daß Sie für Ihr Innenverhältnis nach Ihrer Rückkehr eine Darstellung brauchten, die Sie etwas mannhaft erscheinen ließ.
Dort haben wir ja denselben Partnern gegenübergesessen. Ich respektiere das.
— Ich gebe Ihnen gern Raum für einen ernsten Zwischenruf, damit es Ihnen dann besser geht. Ich weiß ganz genau, was Sie nötig haben.Nur, meine Herren, die Behauptungen über meine Ausführungen, die ja wohl von Ihnen kommen — denn Herr Strauß wird sich ja nicht auf weniger gewichtige Quellen stützen als auf die seines Nachbarn — —
— Falsch ist sie! Und das werden Sie lesen. Das haben Sie für den Innengebrauch so gemacht. Ich mache Ihnen das ja gar nicht zum Vorwurf. So sind Sie eben. Ich bin anders.
— Ich bin gleich fertig, meine Damen und Herren. Noch eine Weile, dann können Sie alle darauf herumhacken. Das höre ich gern von Ihnen.Zu der Bemerkung, ich hätte von einer ,,konzertierten Aktion" gesprochen, die mit mir nicht zu machen sei: Das war Tatsache, und das war — falls Sie sich erinnern wollen, meine Damen und Herren— an dem Tage, an dem diese Delegation vor der Reise einmal zusammenkam. Ich glaube, es war der 12. September. Als dort gesagt wurde: Spätestens vor dem Betreten der Treppe zum Flugzeug muß doch die Frau Bundestagspräsidentin das und das und das erklärt haben, habe ich Ihnen gesagt: So kann man zwar Reisen machen, aber keine Gespräche führen, und mit mir gibt es keine Möglichkeit zu einer „konzertierten Aktion" in dieser Frage.
Das habe ich offen gesagt, von Anfang an, genauso wie ich am 14. September im „Bonner Bericht" ARD-Fernsehen — und am Zweiundzwanzigsten im Norddeutschen Rundfunk in einem Interview alles, worauf es mir ankam, gesagt habe, ohne damals eine solche Erregung zu hören.Nun noch ein Wort, weil daraus ja beinahe eine moralische Frage gemacht wird: Sehen Sie, ich habe, seitdem ich dank der Vorsorge der „KNA" das auch bekommen habe, immer in der Tasche den Korrespondentenbericht Nr. 157, Samstag, 1. September 1973, Seiten 1 und 2, wo jemand im Namen derer, für die man hier sagt: wir müssen etwas tun — und das sind zum Teil Namen, die manchem bekannt sind durch das, was sie aus deren Feder oder über sie gelesen haben —, folgendes gesagt hat. Ein qualifizierter Freund, der sich für autorisiert hält, deren Absichten zu interpretieren, erklärt:Der Wille zum Widerstand und zum Kampf ist in der jungen sowjetischen Generation vorhanden. Es wäre— so glaubt er —sogar längst zu einer innersowjetischen Revolution gekommen, wenn der Westen dem Regime nicht immer wieder geholfen hätte und weiterhin hilft. Hilfe für die Sowjetunion bedeute jeder Wirtschaftsvertrag, jedes Entgegenkommen, jede Kredithilfe. Und bei den Regime-Kritikern begründeten diese Verträge eine tiefe Verachtung für den Westen, der sich gleichzeitig mit derartigen Manipulationen selbst unterminiere.Ich sage Ihnen offen, daß ich eine solche Meinung verstehe. Wir haben mit solchen Meinungen bei uns im gespaltenen Deutschland vor genau 20 Jahren, 1953, zu tun gehabt, und es war sehr schwer, da die Balance wiederzufinden. Nur, wollen Sie das, dann sagen Sie das, und wollen Sie Menschen helfen, die es nicht aushalten, unter Verhältnissen zu leben, unter denen sie zu leben haben, dann tun Sie das anders, als ob es sich nur darum handelte, hier eine Solidarität mit Gleichgesinnten aufzumachen!
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 3011
WehnerDas kommt hoffentlich ins Protokoll, und da steht noch mehr drin dank der Ausführlichkeit der „Katholischen Nachrichtenagentur", die das veröffentlicht hat.Was Ihre Lesart vom Kusnezow-Gespräch betrifft: ich habe meine Notizen auch hier. Ich war es, der mit der Frage anfing, womit es zu erklären ist, daß bei verschiedenen Gelegenheiten die Frage der Vertretung von Berlin zu Schwierigkeiten führt. Zusatzfrage: „Verstehe ich es falsch, daß die Regierung der Bundesrepublik Deutschland bei Abkommen mit anderen Staaten Berlin (West) vertreten kann, ausgenommen in den Sicherheit und Status der Stadt betreffenden Angelegenheiten?" So steht es ja im Viermächteabkommen. Ich habe damals, wie Sie wissen, eine sehr weit hergeholte Antwort bekommen. Ich habe schließlich dazu noch einmal gesagt – - das haben Sie ja hier zitiert, aber sehr unvollkommen zitiert —, daß Berlin (West) kein konstitutiver Bestandteil der Bundesrepublik ist. Das ist so mit dem Viermächteabkommen, das Sie heute so gefeiert haben. Dem haben wir Rechnung zu tragen, und daraus müssen wir das Beste machen.Weiter ist dort gesagt worden, es sei auch kein Land der Bundesrepublik. Dazu habe ich nichts anderes zu sagen gehabt und habe ich nichts anderes zu sagen, als daß das schon der Vorbehalt der drei Westmächte war. Schlagen Sie das Grundgesetz auf! Da finden Sie sofort nach dem einführenden Text die Bekanntgabe — das steht auch hinten in unserem Grundgesetz als Anhang --, daß Berlin eben insofern kein Land sei. Das heißt doch aber nicht, daß wir nicht alles, was wir können, tun, um diese Bindung — --- Ja, halten Sie sich bitte die Ohren zu! Ich bin Ihnen nicht mehr lange lästig, Herr Erhard. Sie waren ja einer, der es in der Hand gehabt hätte, einiges davon früher zu wenden. Sie haben das nicht gemacht.
Sie müssen sich ein wenig erquicken; das weiß ich. Das tun Sie, indem Sie solche Literatur oder Literaturähnlichkeiten verbreiten und darauf Bezug nehmen. Erquicken Sie sich bitte .ruhig weiter! Die Wahrheit wird siegen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. von Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst zwei Bemerkungen zu dem machen, was der Kollege Wehner zu unserem Kollegen Stücklen und zu dem Gespräch mit dem stellvertretenden Außenminister Kusnezow gesagt hat. Was meinten Sie damit, Herr Wehner, daß Herr Stücklen für den „Hausgebrauch" über die Wirkungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils gesprochen habe, wo er es doch war, der diese Äußerung im Kreml gegenüber der sowjetischen Seite vorgebracht hat, allerdings zu einem Zeitpunkt, als Sie es für richtig hielten, die Delegation im übrigen allein mit den russischen Gesprächspartnern reden zu lassen?
Es ist ja ganz richtig, daß das Bundesverfassungsgericht nicht den Vertragspartner in Moskau bindet. Aber meinen Sie nicht, daß es unsere Aufgabe ist, dem Vertragspartner in Moskau darüber Klarheit zu verschaffen — falls er es nicht wissen sollte —, daß dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts eben unsere Regierung in der Auslegung des Vertrages bindet?
Und ob Ihnen das bequem sein mag oder nicht Sie haben ja heute in der Pressekonferenz darüber gesprochen, daß wir an dieser Sache noch zu trägen haben werden —: In welche Lage bringen Sie eigentlich Ihre eigene Regierung, wenn Sie hier eine Art von Rangfolge zwischen dem Vertrag und dann erst seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht festlegen wollen?Und dann kam das Gespräch bei dem stellvertretenden Außenminister Kusnezow. Es war doch so, Herr Wehner, wie Sie sich erinnern werden, daß Sie die Fragen gestellt haben, wie Sie es eben vorgetragen haben, und daß Herr Kusnezow dann in einer Reihe von Punkten seine Darstellung des Berlin-Abkommens gegeben hat, wobei er teilweise ganz einseitig nur bestimmte Stücke aus dem Berlin-Abkommen herausholte, andere aber, die auch dazu gehören, unter den Tisch fallenließ und dann einige Auslegungen brachte, die wir, wie ich meine, gemeinsam-so nicht hinnehmen können.In der Antwort auf Herrn Kusnezow haben Sie dann gesagt, Sie hätten sich für seine Ausführungen sehr interessiert, Sie bedankten sich dafür, und Sie stimmten in zwei Punkten zu. Aber den notwendigen Widerspruch gegenüber den anderen Punkten in dem, was Herr Kusnezow gesagt hat, haben Sie nun wiederum den vier anderen Delegationsmitgliedern überlassen.
Aber, Herr Wehner, es geht uns ja bei dieser Aussprache nun ganz gewiß nicht um eine persönliche Feindschaft. Es geht uns um die Regierungspolitik. Darüber reden wir hier. Sie haben darüber in Moskau und Kiew geredet.
Meine Damen und Herren, wir haben eine Reise hinter uns, die nicht leicht war. Die Bürde der Vergangenheit, die auf uns allen lastet, ist groß. Die Verständigung bei Wahrung der beiderseitigen Interessen zu finden erfordert Geduld, erfordert Offenheit und erfordert die Abwesenheit jedes Versuchs, einander übervorteilen zu wollen. Und ich meine, in diesem Sinne war die Reise nützlich, sie war wertvoll, sie war hart im Austausch der Argumente, aber sie war auch bewegend in der Art, wie wir
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3012 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Dr. von Weizsäckeruns dort getroffen haben. Es gab dort eine Fülle von offenen Gesprächen. Unsere Aufgabe war es ja nicht, diplomatische Verhandlungen zu führen, sondern, Wege der Normalisierung und der Zusammenarbeit zu finden, die den Frieden sichern und die von den Menschen, von unseren Wählern, verstanden werden und getragen werden können.Deshalb spielten natürlich nicht nur Berlin oder die wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern eben auch die Menschenrechte und die humanitären Überlegungen eine so große Rolle in allen unseren Gesprächen.
Meine Damen und Herren, bei der Abfahrt war es uns, wie mir schien, klar, daß wir in Moskau keine Fortsetzung innenpolitischer Auseinandersetzungen führen wollten. Die „konzertierte Aktion", von der Sie, Herr Wehner, gesprochen haben, bezog sich auf nichts anderes als auf Klarstellung der Punkte, die uns, wie ich meine, gemeinsam sind. Und wir haben dann ja vor der Abfahrt — allerdings ohne Ihre Mitwirkung — eine Erklärung abgegeben, gegen die ich von Ihnen keinen Widerspruch gehört habe.Aber entgegen dieser unserer Erwartung, daß wir dort einen gemeinsamen Standpunkt zu vertreten haben würden, hat es offenbar die SPD anders gewollt. Zunächst haben Sie, Herr Wehner, von den Vertrags- und Verständigungsgegnern in der Bundesrepublik gesprochen,
gegen die sich aber die Mehrheit durchsetzen würde.
Nun, dies wurde, nachdem Sie das gesagt hatten, von allen anderen vier Delegationsmitgliedern richtiggestellt, und es wiederholte sich nicht.Aber dann kam eben das nächste Kapitel. Kaum war die so sorgfältig und langfristig vorbereitete Rede des Herrn Bundeskanzlers vor den Vereinten Nationen verklungen, so zeigte sich als die erste Praxis des deutschen Beitrags für die Ohren der Weltöffentlichkeit eine über die Kontinente und Meere hinweg geführte Auseinandersetzung des Regierungslagers mit sich selbst.
Herr Bundeskanzler, wir haben seit Monaten gehört, daß der Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in die Vereinten Nationen zeigen sollte, wie wir uns an den Aufgaben der Völkergemeinschaft verantwortlich beteiligen wollten. Das erste, was die Völkergemeinschaft aber erlebt hat, ist, daß sie an unseren inneren Problemen beteiligt wurde.Aber dann kam doch das Schlimmste — gestern. Gestern also war die Rede, das alles sei nur eine üble Kampagne der Opposition, ja, nicht nur der Opposition, sondern der Presse gewesen. Welche Presse meinen Sie eigentlich, Herr Bundeskanzler?!
Sie wissen doch, daß Chefredakteure und LeitendeRedakteure der „Zeit", der „Neuen Rhein-Zeitung",der „Westfälischen Rundschau", der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der „Süddeutschen Zeitung", der ARD, des ZDF, der dpa, des ddp, der „Rheinischen Post" und des „Spiegel" beteiligt waren. Glauben Sie wirklich, daß diese Chefredakteure und Leitenden Redakteure Herrn Wehner Dinge nur in den Mund gelegt haben?!
Es ist doch — in dieser heimischen Atmosphäre, wenn auch unterwegs, so hat Herr Wehner das genannt — die erste Äußerung darüber, daß wir in Berlin überzogen hätten, in das Deutsche Fernsehen hineingesprochen worden; das ist nicht Herrn Wehner in den Mund gelegt worden!
Wofür soll Herr Wehner eigentlich gesteinigt werden, wenn er gar nichts gesagt hat?!
Nein, Herr Bundeskanzler, ich weiß aus eigener Anschauung und von meinen eigenen Ohren: diese verantwortlichen Chefredakteure und Leitenden Redakteure haben mit dem Mantel journalistischverantwortlicher Nächstenliebe den größeren Teil dessen zugedeckt, was wirklich gesagt worden ist.
Ich finde es unverantwortlich, diesen Vertretern der deutschen Publizistik in dieser Weise zu begegnen.
Wenn einem, Herr Bundeskanzler, vorgeworfen wird, man sei immer mal wieder nicht stark genug, um eine Entscheidung zu treffen, oder man entrücke sich selbst in eine Sphäre der Unansprechbarkeit, in eine Sphäre, die dem normal-sterblichen Parlamentarier nicht zugänglich sei,
dann mag das ja noch angehen. Aber nicht zustehen zu den Auseinandersetzungen, die von Ihrem maßgeblichsten Berater eingeleitet worden sind, nicht dazu zu stehen wie Herr Kühn, wie Herr Schütz und andere aus Ihrer Partei, sondern in die Behauptung auszuweichen, hier habe es eine üble Kampagne gegeben — Herr Bundeskanzler, von allen Schwächezeichen, die wir bei Ihnen erlebt haben, ist dies das deutlichste und das gefährlichste.
Ich sage gefährlich: Denn mit einem Kitt dieser Art werden Sie weder die Interessen der Bundesrepublik Deutschland noch die gesamtdeutsche Kooperation wirklich fördern können.Lassen Sie mich zur Sache selbst, insbesondere zu einigen der Beweggründe, noch Stellung nehmen, die nach meiner Beobachtung den Kollegen Wehner geleitet haben. Denn natürlich hat er Anspruch darauf, daß wir auf diese Sache selbst auch wirklich eingehen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 3013
Dr. von WeizsäckerIch habe den Kollegen Wehner so verstanden, sein Eindruck in der Sowjetunion sei gewesen, daß unsere dortigen Gesprächspartner von uns wissen wollen, ob wir es eigentlich wirklich ernst meinen, und daß wir dann, wenn wir dem Gesprächspartner diesen Eindruck nicht vermitteln könnten, daß wir es wirklich ernst meinten, um eine Generation zurückgeworfen würden.Nun, ich teile diesen Eindruck aus den Gesprächen, die ich geführt habe, und von meinen Beobachtungen in der Sowjetunion nicht. Das Interesse der Sowjetunion ist langfristig und weltpolitisch bestimmt. Es ist nicht abhängig von konkreten Einzelregelungen, um die man sich selbstverständlich auch bemühen muß. Bei uns sind sich alle Gruppen darin einig, daß wir dazu beitragen müssen und wollen, zu einer Normalisierung der Verhältnisse in ganz Europa zu kommen, zu einer Zusammenarbeit, zu einem den Menschen zumutbaren Nachbarschaftsverhältnis. Die Sowjetunion weiß das ganz gut, daß alle Gruppen in diesem Lande das wollen.
Es gibt keinen Zweifel im Grundsatz,
aber es gibt natürlich eine ganze Reihe von Einzelfragen, die nun Stück für Stück den Interessen der daran Beteiligten gemäß geregelt werden müssen. Ich halte es für völlig legitim, wenn die Sowjetunion bei diesen Einzelfragen die ihr zu Gebote stehenden Mittel auch einsetzt, um dabei in der Verwirklichung ihrer Interessen möglichst weit zu kommen. Ich meine, wenn wir dann z. B. der Sowjetunion in einem ihrer nächsten Interessengebiete besonders entgegengekommen sein werden, etwa in der Zinsfrage bei den Wirtschaftsbeziehungen, dann wird sie sehr schnell sagen, nunmehr habe sie gemerkt, daß wir es im Prinzip doch ernst meinten.Ich nehme ihr das gar nicht übel, ich sage nur, wir müssen unsererseits die Interessen vertreten, die die unsrigen sind, wofür unsere Regierung bestellt ist, und das scheint unsere Regierung — darüber ist ja hier gesprochen worden — auch zu tun. Aber dann gibt es keinen Grund, die Position der Regierung dadurch zu erschweren, daß man sagt, nein, wir müssen der Sowjetunion erst einmal zeigen, daß wir es wirklich ernst meinen, denn wenn wir das nicht tun, geht die Arbeit einer ganzen Generation verloren.Meine Damen und Herren, nicht um andere zu begleiten, sind wir von der CDU/CSU mit auf diese Reise gegangen, nicht der Streit innerhalb des Regierungslagers um die Äußerungen von Herbert Wehner war und ist unser Hauptthema, sondern wir sind als deutsche Politiker mitgefahren, um den deutschen Standpunkt zu vertreten und dazu einen Beitrag zu leisten. Wir danken der Leiterin unserer Delegation dafür, daß sie diesen Punkt erkannt und uns allen dies ermöglicht hat.
Die CDU/CSU hat immer eine eigene Verantwortung in den Beziehungen zur Sowjetunion gehabt.Das hat sie bewiesen, als sie selbst die Regierungsverantwortung trug. Der Respekt für die Bundeskanzler, die die CDU gestellt hat und die hart und offen und friedensbereit verhandelt haben, ist in Moskau ungebrochen. Und ich darf hinzufügen, ich hatte in Moskau den Eindruck, daß der Respekt vor diesen Leistungen der CDU-Kanzler auch bei unserem Kollegen Wehner ganz ungebrochen ist.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU war verantwortlich für frühere Regierungen und war damit verantwortlich für die Beziehungen zur Sowjetunion ebenso wie zu allen anderen ehemaligen Kriegsgegnern, Nachbarn und Völkern auf der Welt. Sie ist sich dieser Verantwortung auch in der Opposition bewußt, denn als Opposition ist sie die Alternative zur heutigen Regierung, und sie ist zur künftigen Regierungsverantwortung jederzeit in der Lage und bereit.Sie, Herr Bundeskanzler, werden aber zu der Aufgabe, die es mit der Sowjetunion zäh und geduldig weiterzuentwickeln gilt, nicht dadurch beitragen, daß Sie noch empfindlicher reagieren, wenn Ihnen einmal der Vorwurf der Schwäche nicht aus den Reihen der Opposition, sondern aus den Reihen Ihres eigenen Lagers gemacht wird, daß Sie noch empfindlicher reagieren in der Weise, daß Sie Ihre Vorwürfe nicht nur gegen die Opposition, sondern auch noch gegen die Vertreter der Öffentlichkeit, gegen die Presse erheben. Sie werden zu dem notwendigen langfristigen, unser Interesse wahrenden und die gesamteuropäische Zusammenarbeit und Normalisierung suchenden Prozeß nur dann beitragen, wenn Sie Klarheit im eigenen Lager schaffen, statt Kitt und Kleister zu nehmen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur ein paar Bemerkungen zu einer bemerkenswerten Unklarheit der Äußerungen der Sprecher der Opposition machen, und zwar im Zusammenhang mit dem Berlin-Abkommen.Zunächst einmal ist zwar nach außen hin das Viermächteabkommen heute gelobt worden. In Wahrheit wird man feststellen, daß die Sprecher der Opposition die Angriffe, die heute hier vorgebracht worden sind, gegen das Viermächteabkommen und die Verhandlungsführung der Vier Mächte gerichtet haben;
etwas anderes ist hier heute nicht angegriffen worden.
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3014 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Bundesminister BahrIm übrigen hat Herr Professor Carstens bei einer der letzten Debatten auf die historische Schuld — oder das historische Versäumnis — hingewiesen, die Einbeziehung Berlins in den Moskauer Vertrag unterlassen zu haben. Herr Kollege Strauß hat dies mit einer Bemerkung heute unterstrichen. Er hat gesagt, die Bundesregierung sei den Schwierigkeiten in den Verhandlungen mit der Sowjetunion wegen der Einbeziehung Berlins aus dem Wege gegangen. Nun muß ich darauf hinweisen, daß es beiden Herren, zumindest Herrn Strauß, wohl entgangen ist, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Recht hatte, mit der Sowjetunion über Berlin zu verhandeln oder Vereinbarungen zu treffen, als die Verhandlungen über den Moskauer Vertrag stattfanden. Dies nicht nur aus dem Grunde, über den der Außenminister das letztemal hier gesprochen hat, sondern auch, weil die Drei Mächte zu jener Zeit, also im Frühjahr 1970, Verhandlungen mit der Sowetunion über Berlin vorbereitet haben und niemand die Möglichkeit — oder den Willen — hatte, die Verhandlungen der Drei Mächte mit der Sowjetunion über Berlin zu erschweren.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes?
Natürlich.
Herr Bundesminister, besteht zwischen den gesamtdeutschen Grundlagen der westlichen Berlin-Position und den Gegenständen, über die Sie mit der Sowjetunion verhandelt haben, ein innerer Zusammenhang?
Aber selbstverständlich.
— Nein, es geht um den Vorwurf, daß wir es unterlassen hätten, eine Berlin-Klausel in den Moskauer Vertrag zu bringen.
— Dann lesen Sie es bitte nach! — Und ich möchte darauf aufmerksam machen, daß dies nicht nur politisch unmöglich war, sondern daß dies auch rechtlich unmöglich gewesen ist.
Wer immer etwas anderes verlangt, schwächt die originären Rechte der Drei Mächte in Berlin und damit die Sicherheit Berlins.
Ich hoffe, daß wir uns darüber einig sind.
Das, was Herr Professor Carstens heute gesagt hat, klang insoweit etwas anders. Heute, Herr Professor Carstens, haben Sie den Vorwurf von damals zurückgenommen und haben ihn darauf gerichtet, daß die Berlin-Klausel im Grundvertrag fehle. Dazu darf ich folgendes sagen.
— Nein, es ist ganz einfach.
Sie haben heute den Vorwurf von damals zurückgenommen
und haben ihn jetzt darauf gerichtet, daß eine Berlin-Klausel im Grundlagenvertrag fehle. Sie haben sich dabei auf die Vermutung gestützt, daß nach Ihrer Auffassung das Viermächteabkommen die Einbeziehung Berlins in Vereinbarungen mit der DDR zulasse. Dies haben Sie als Ihre Vermutung bezeichnet. Einer der Gründe, weshalb ich hier spreche, ist, diese Vermutung zu entkräften. Sie vermuten falsch. Die Drei Mächte haben den Vertretern der Bundesregierung ausdrücklich erklärt, daß die Formulierung „Ausland" auch dahin zu verstehen sei, daß die Einbeziehung Berlins in Abkommen der Bundesrepublik mit der DDR im Viermächteabkommen nicht geregelt ist. Es ist zum erstenmal in Ergänzung des Viermächteabkommens durch die Vereinbarung zwischen der DDR und uns, auch schriftlich festgelegt worden, daß unsere Vertretung, die künftig in Ost-Berlin arbeiten wird, die Interessen West-Berlins ohne Einschränkung vertritt. Dies mußte klargestellt werden. Diese Klarstellung ist zum erstenmal nicht durch das Viermächteabkommen, sondern durch unsere Vereinbarung mit der DDR erfolgt.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Carstens hat hier wieder einmal in Verbindung mit dem Hinweis auf mögliche Neutralitätstendenzen mit Befürchtungen und Unterstellungen operiert und dabei die Studie aus vergangenen Jahren als Beweismittel angezogen.
Sehr verehrter Herr Kollege Carstens, bei allem Verständnis dafür, daß sich die Opposition notwendigerweise Angriffsflächen sucht — wenn Sie ausgerechnet Bundeskanzler Brandt unterstellen, daß er nicht bündnistreu ist, so ist das in meinen Augen unredlich. Das sage ich mit aller Deutlichkeit.
In diesem Hause ist in der Vergangenheit sehr viel über die Vergangenheit, auch mancher aus Ihren Reihen, gestritten worden. Ich habe mich dagegen gewehrt, wenn die Vergangenheit hier zum Maßstab der Beurteilung der heutigen Politik ge-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 3015
Mischnickmacht worden ist. Ich verwahre mich dagegen, daß jetzt in der gleichen Weise versucht wird, politische Überlegungen des Kollegen Wehner, die ich nicht alle teile — was die Form angeht, so bin ich auch in vielen Dingen anderer Meinung , so hinzustellen, als habe er in Moskau die Politik Moskaus und nicht die der Bundesrepublik vertreten. Das ist eine Unterstellung.
Ich bedaure, daß der Konsens, der in dieser Delegation im Hinblick auf viele Fragen erfreulicherweise vorhanden war, jetzt offensichtlich, aus welchen Gründen auch immer, allmählich aufgegeben werden soll. Dies würde ich allerdings im Nachhinein für schädlich für unsere Sache halten, denn dadurch würde die Position, die wir durch das gemeinsame Auftreten errungen haben, für spätere Gespräche gefährdet und nicht unterstützt werden.
Ich verstehe nicht, warum man jetzt versuchen will, so zu tun, als wäre im Hinblick auf das Berlin-Abkommen und über Fragen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion fast ausschließlich von den Vertretern der Opposition gesagt worden, was diese Bundesrepublik will. Das ist einfach nicht richtig.
Herr Kollege von Weizsäcker hat darauf hingewiesen, daß die vier Delegationsmitglieder in manchen Punkten entsprechend reagiert hätten. Aber in dem Gespräch mit dem stellvertretenden sowjetischen Außenminister ist unsere Haltung zu Berlin qua Bundesrepublik nicht in irgendeiner Weise in Zweifel gezogen worden. Die Zitierung ist so, wie sie hier vorgenommen worden ist, einseitig und unvollständig. Auch in diesem Gespräch ist ganz deutlich geworden, und vom Kollegen Wehner ist es in der Antwort gesagt worden, daß er für strikte Einhaltung und volle Anwendung des Berlin-Abkommens ist. Das ist als Antwort gegeben worden, und damit waren wir einverstanden.Daß ein zweiter Punkt — um das ganz offen zu sagen -- dann von mir noch einmal aufgegriffen wurde, hat seinen Grund doch nicht in einer Meinungsverschiedenheit darüber, sondern lag an der Abrede, die wir hatten, daß Wehner als erster sprechen sollte, dann die Oppositionsvertreter sprechen sollten und ich erst am Schluß das Wort ergreifen sollte, weil wir ihnen die Gelegenheit geben wollten, von Anfang an mit in die Diskussion einbezogen zu sein. Das bitte ich doch bei aller Auseinandersetzung auch hier ganz nüchtern mit zu werten.
Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. von Weizsäcker?
Herr Mischnick, sind Sie bereit, zu bestätigen, daß das Gespräch so verlaufen ist, daß unmittelbar, nachdem Herr Kusnezow seine unsere Meinung nicht richtig wiedergebende Auslegung zu dem Berlin-Abkommen ausgesprochen hatte, als erster Herr Wehner sprach, aber Herr Wehner diese Richtigstellungen nicht vornahm, sondern diese anschließend von uns allen vorgenommen werden mußten?
Herr Kollege von Weizsäcker, Sie haben wieder übersehen, daß in dieser kurzen Antwort die Wendung „strikte Einhaltung und volle Anwendung" enthalten war. Diese Wendung ist in der Antwort von Herrn Wehner selber gekommen. Damit war die gemeinsame Basis vorhanden.
Ich wiederhole: Mir erschien es notwendig, einen zweiten Punkt später zu beantworten. Das ist aber auch nicht von Ihnen, sondern dann von mir festgestellt worden.
Ich hätte hier die Debatte nicht entfesselt, weil ich nicht viel davon halte, nach solchen Gesprächen zu sagen: Ich habe dieses und jenes gesagt.
Ich habe dann in dieser Diskussion den stellvertretenden Außenminister darauf hingewiesen, daß es für uns auch darauf ankommt, Bindungen und Verbindungen zu erhalten und auszubauen, und daß es bei der Auslegung der Verträge auch auf Art. 4 des deutsch-sowjetischen Vertrages ankomme, der ausdrücklich besagt, daß durch diesen Vertrag andere Verträge und Vereinbarungen nicht berührt werden, und daß dies auch zur Auslegung der Frage, wie die endgültige Entscheidung in der Konsularvertretung aussieht, herangezogen werden muß. Ich habe hinzugefügt: Darüber werden ja die Außenminister beider Seiten miteinander zu sprechen haben, sie werden diese Frage zu klären haben.
Mir kommt es hier nur darauf an, den falschen Eindruck zu beseitigen, als wäre allein die Opposition dagewesen und hätte den Standpunkt der Bundesregierung zu vertreten gehabt; das ist nicht der Fall gewesen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stücklen?
Herr Kollege Mischnick, stimmen Sie mir zu, wenn ich feststelle, daß es nie einen Zweifel gegeben hat, daß Sie ebenso wie unsere Delegationsleiterin, die Frau Präsidentin, Kollege von Weizsäcker und ich in der Frage der Beurteilung des Viermächteabkommens übereingestimmt haben? Und stimmen Sie mir zu, daß es allein Herr Wehner war, der die einseitige, der deutschen Auslegung entgegenstehende Darstellung gegeben hat und der stellvertretende Außenminister die Zustimmung des Herrn Wehner bekommen hat? Das allein ist festzustellen, sonst nichts.
Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege Stücklen, daß in Moskau in der Bedeutung und der Auslegung des Berlin-Abkommens zwischen
3016 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973
Mischnick
uns erfreulicherweise eine volle Übereinstimmung
bestanden hat. Ich hoffe, daß das hier so bleibt und
sich bei künftigen Beratungen nicht wieder ändert.
— Entschuldigen Sie, Herr Stücklen hat doch zwei Fragen gestellt. Haben Sie das schon wieder vergessen? Sind Sie so aufgeregt, daß Sie die Fragen nicht einmal nacheinander hören können? Das verstehe ich nicht. So viel Geduld können Sie doch haben.
Zu der zweiten Frage, die Herr Kollege Stücklen gestellt hat, sage ich: Kollege Wehner hat sich für die Antwort bedankt .und hinzugefügt - ich sage es zum drittenmal —, daß wir für die strikte Einhaltung und volle Anwendung der Verträge sind. Das ist von ihm in der Antwort gesagt worden. Ich füge hinzu, es gab eine Stelle, wo ich das Gefühl hatte, daß eine zusätzliche Antwort notwendig war. Das habe ich eben dargelegt. Alles andere ist eine einseitige, nach meiner Überzeugung durch die festgehaltenen Gespräche nicht gedeckte Aussage.
Meine Damen und Herren, allerdings gebe ich Ihnen zu, daß wir bei anderen Gesprächen oft erlebt haben — ich meine bei Einzelgesprächen, die nebenher geführt wurden --, daß uns andere Auffassungen gesagt worden sind. Nur eines, Herr Kollege Stücklen, müssen Sie bestätigen: es gab kein offizielles Gespräch, auf dem eine solche Meinung von Herrn Kollegen Wehner vertreten worden ist, wie sie hier heute kritisiert worden ist. Gegenüber den sowjetischen Gesprächspartnern ist das weder beim Obersten Sowjet noch bei Podgorny noch bei einer anderen Stelle gewesen. Dies müssen Sie genauso zugeben, wenn Sie hier die Fakten richtig bewerten wollen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann?
Herr Kollege Mischnick, ist Ihre Aussage nicht insofern überzogen, als Sie nicht bei den Gesprächen dabei gewesen sind, die Herr Wehner allein mit den Vertretern der Sowjetunion geführt hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber Herr Kollege Reddemann, ich habe nicht gedacht, daß Sie so ungenau zuhören können.
Ich habe davon gesprochen, daß bei jedem Gespräch, das die Delegation geführt hat, keine solche abweichenden Meinungen zum Ausdruck gebracht worden sind. Aber damit Sie ganz beruhigt sind: Über die anderen Gespräche — das müssen die Kollegen auch zugeben — habe ich, nachdem Kollege Wehner mich
über den Inhalt unterrichtet hat, in Kurzfassung auch Ihre Kollegen unterrichtet.
Sie werden mir entgegenhalten, ich sei nicht dabei gewesen. Das unterscheidet uns aber. Sie gehen davon aus, daß das Mißtrauen, das Sie gegenüber der Politik anderer Staaten haben, auch auf die eigenen Politiker ausgedehnt wird. Das ist aber nicht mein Grundsatz, wenn ich meine Gespräche führe.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stücklen?
Herr Kollege Mischnick, ich frage Sie, ob Sie dem zustimmen: Bei dem ersten Gespräch mit dem stellvertretenden Außenminister hat Herr Wehner den Zusatz mit konsequenter Durchführung usw. gemacht. Er hat aber ausdrücklich der Auffassung des stellvertretenden Außenministers in der Berlin-Frage über den Viermächtestatus, bezogen auf die konsularische Vertretung West-Berlins durch die Bundesrepublik, die der Auffassung der Bundesregierung entgegengesetzt ist, zugestimmt.
Das war das, was uns unterscheidet, und nichts anderes, Herr Wehner. Ich habe es nicht nötig, hier in einer Dialektik zu sprechen. Die habe ich nicht gelernt, die beherrsche ich nicht.
Lieber Herr Kollege Stücklen, ich wiederhole noch einmal: Ich hatte überhaupt nicht vor, in dieser Debatte zu sprechen. Nur kann ich nicht hinnehmen, daß aus solchen Gesprächen Tatbestände nicht richtig wiedergegeben werden, wie es eben geschehen ist.Richtig ist, daß Herr Kollege Wehner der Formel zugestimmt hat, daß keine automatische Übernahme der Berlin-Regelung in allen Verträgen festgelegt ist, und zugestimmt hat er, daß der Status von Berlin nicht verändert werden soll. Zu der Frage „keine automatische Übernahme" habe ich noch einmal eine zusätzliche Erklärung gegeben. Herr Kollege Stücklen, den Versuch, aus diesem einen Punkt zu konstruieren, in den Gesprächen der Delegation selbst seien erhebliche, weitgehende Meinungsunterschiede gewesen, weise ich zurück. Das kann nicht in irgendeiner Weise beeinträchtigen — was ich genauso offen sage —, daß erfreulich war, daß bei anderen Gelegenheiten die volle Übereinstimmung aller Delegationsmitglieder,
nicht nur der vier, gegeben war.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Oktober 1973 3017
Mischnick— Jetzt beziehen Sie sich auf das eine Gespräch, wo die gesamte Presse anwesend war. Da wissen Sie aber auch, daß die ersten Fragen von dem Kollegen Wehner kamen und daß ich dann meine Stellungnahme abgegeben habe, wo wir übereinstimmten, was auch aus der Presse hervorgegangen ist. Daraus kann aber auf keinen Fall der Schluß gezogen werden, daß hier — wie auch das letzte Gespräch bei Podgorny ergab — ein unterschiedlicher Standpunkt vorhanden war, der dazu führte, daß wir nur zu viert dabei gewesen sind. Gerade das Abschlußgespräch müßte Ihnen doch deutlich gemacht haben, daß als Folge unserer Gespräche ein Standpunkt dargelegt wurde, der uns die Chance gab, gemeinsam festzustellen: Die Möglichkeiten, daß der Bundesaußenminister bei seinen künftigen Verhandlungen zu positiven Ergebnissen kommt, sind durchaus vorhanden. Deshalb haben wir gesagt: Es war sinnvoll, die Politik in dieser Weise darzulegen und zu unterstützen. Darüber gab es nach dem Besuch bei Podgorny keine Meinungsverschiedenheit. Ich würde es bedauern, wenn das jetzt anders aussähe.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pawelczyk?
Bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Mischnick, teilen Sie meinen Eindruck, den ich aus den letzten Minuten dieser Debatte hier bekommen habe, daß der Erfolg der Reise, die nach 17 Jahren endlich zustande gekommen ist, durch die Art der Oppositionstaktik in den letzten Minuten in Frage gestellt werden kann?
Ich gehe nicht so weit, zu sagen, daß er in Frage gestellt wird. Ich hoffe aber, daß dieser Debattenteil für alle, die beteiligt waren, eine Mahnung ist, das, was wir erreicht haben, nicht leichtfertig durch Auseinandersetzungen am falschen Ort in der falschen Weise aufs Spiel zu setzen. Das ist die Konsequenz, die ich daraus ziehe.
Meine Damen und Herren, zum Abschluß nur noch eine kurze Bemerkung. Es war hochinteressant, zu hören, wie hier noch manches aus der Vergangenheit — Verfahrensweise innerhalb der Großen Koalition — bewältigt wurde. Es wurde heute von Führungsschwächen gesprochen. Wenn ich so höre, wie es damals war, — oh, was waren das für Führungsschwächen!
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe daher die Aussprache über die abgegebene Regierungserklärung.
Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Donnerstag, den 4. Oktober, 9 Uhr und schließe die heutige Sitzung.