Gesamtes Protokol
Ich danke dem Herrn Bundesminister und eröffne die Aussprache. Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat der Herr Abgeordnete Nölling.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion begrußt die Vorlage des Gesetzes zur Änderung des Heimarbeitsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschritten, vor allem die Änderung auch des Tarifvertragsgesetzes. Wie der Herr Bundesarbeitsminister ausiuhrte, sind beide Gesetze seit 1951 bzw. seit 1949 materiell nicht geändert oder ergänzt worden. Mit den jetzt beabsichtigten Änderungen soll konkret zur Verbesserung der sozialen Situation von solchen Personenkreisen beigetragen werden, die des kollektiven Schutzes in Form von organisierten Solidargemeinschaften entbehren und deshalb immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden und werden. Während die Änderungen des Heimarbeitsgesetzes darauf abzielen, hauptsächlich materielle Besserstellungen gesetzlich zu verankern, soll die Ergänzung des Tarifvertragsgesetzes für eine darin bisher nicht berücksichtigte Gruppe von wirtschaftlich und sozial Abhängigen die Möglichkeit bringen, sich zusammenzuschließen und ihre Arbeitsbedingungen in Tarifverhandlungen zu verbessern.Die Vorschriften des Heimarbeitsgesetzes, die die Zuständigkeiten des Heimarbeitsausschusses bei der Festsetzung von Entgelten regeln, sind verfassungskonform. Wir stimmen mit Bundesrat und Bundesregierung überein, daß sie deshalb nicht geändert werden müssen. Der Herr Bundesarbeitsminister hat ebenfalls darauf hingewiesen. Insofern ist das, was die Stellungnahme des Bundesrates beinhaltet, auch unsere politische Auffassung dazu.Im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens werden wir jedoch sorgfältig prüfen, ob die angestrebte Verbesserung bei dem zentralen Punkt, nämlich bei der Entgeltfestsetzung, d. h. bei der Regelung unzulänglicher Entgelte, durch den Austausch von schwer konkretisierbaren Kriterien wie „unangemessen unter den tarifvertraglichen Löhnen" liegen auch tatsächlich erreicht werden kann. Das werden wir dann im Ausschuß tun.Wir begrüßen es, daß der Kündigungsschutz spürbar verbessert wird, daß für Heimarbeiter in Zukunft ebenfalls vermögenswirksame Leistungen festgesetzt werden können, daß die Aufklärungspflichten des Arbeitgebers und die Informationsrechte des Heimarbeiters verbessert werden sollen und daß die im-
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Dr. Nöllingmer mehr zunehmende Büroheimarbeit in den Schutz des Gesetzes einbezogen wird.Bevor ich kurz etwas zu dem zweiten Schwerpunkt des Gesetzes sage, nämlich der Einfügung eines § 12 a in das Tarifvertragsgesetz, möchte ich nicht nur der Vollständigkeit halber erwähnen, daß durch eine Änderung des Bundesurlaubsgesetzes der gesetzliche Mindesturlaub für 18- bis 34jährige Arbeitnehmer um immerhin drei Tage auf 18 Werktage erhöht wird. Das ist eine nicht unerhebliche Besserstellung, die zahlreichen Arbeitnehmern zugute kommen wird.Nun lassen Sie mich ein paar Worte zum Tarifvertragsgesetz sagen. Der Arbeitsminister erwähnte schon, daß es in der seit 1949 geltenden Fassung nur Arbeitnehmern das Recht gegeben hat, ihre Arbeitsbedingungen kollektivvertraglich zu regeln. Es hat sich aber immer deutlicher gezeigt, daß die Zahl derer nicht klein ist — und daß sie zunimmt —, die zwar im juristischen Sinne keine Arbeitnehmer sind, sondern eher zu den Selbständigen zählen, aber wirtschaftlich und sozial Arbeitnehmern vergleichbar oder ähnlich sind. Auf dem Arbeitsmarkt treten diese arbeitnehmerähnlichen Personen aufgesplittert und isoliert auf und werden dementsprechend häufig ausgebeutet. Sie bleiben wirtschaftlich und sozial in einem nicht mehr vertretbaren Maße abhängig.Wenn diesem Personenkreis, über dessen Abgrenzung das letzte Wort noch nicht gesprochen sein sollte, nun endlich das Recht gegeben wird, Tarifverhandlungen zu führen, so wird damit bekräftigt, daß die Tarifautonomie zu den Eckpfeilern unserer Sozialordnung zählt und nicht nur nicht geschwächt werden darf, sondern zu stärken und auszubauen ist. Was wir nicht brauchen, meine Damen und Herren, ist ein Gesetz zur Gängelung und Disziplinierung der Gewerkschaften mit einem Gewerkschaftsaufsichtsamt, womöglich noch unter einem christdemokratischen Präsidenten,
das sind Gedanken, die bei der Opposition offensichtlich gar nicht so abwegig sind, wie wir feststellen müssen, wenn wir uns die Veröffentlichungen und die Aussagen führender Politiker der CDU, die allerdings diesem Hause nicht angehören, aus den letzten Wochen einmal anschauen. Wer die Gewerkschaftsautonomie antasten und damit die seit 1949 bewährte Tarifautonomie zerstören will, muß mit dem entsprechenden Widerstand der SPD rechnen.
Für uns Sozialdemokraten ist umgekehrt die Suche nach Wegen und Möglichkeiten zur Wahrung und Stärkung der Grundlagen der Tarifautonomie eine Voraussetzung — eine in einer Reihe von Voraussetzungen! — zur langfristigen Bewahrung des sozialen Friedens.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Gerlach .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur ersten Lesung einer ersten Änderungsnovelle des Heimarbeitsgesetzes darf zunächst mit großer Genugtuung festgestellt werden, daß sich das bereits am 14. März 1951 verabschiedete Heimarbeitsgesetz bis heute, jedenfalls in seinen wesentlichen Grundzügen, bewährt hat.Es muß in Erinnerung gebracht werden, daß diese Beständigkeit entscheidend auf das verdienstvolle Wirken und die Umsicht des ehemaligen Mitgliedes der CDU/CSU-Fraktion dieses Hohen Hauses, Hugo Karpf, zurückzuführen ist, der nicht zu Unrecht Vater des Heimarbeitsgesetzes genannt wird und bis heute noch in zahlreichen Heimarbeitsausschüssen tätig ist.In erster Linie war es eine verfassungsrechtliche Streitfrage, die um die Mitte der 60er Jahre die Praxis verunsichert hat und eine gewisse Stagnation beim Vollzug des Gesetzes in der Tat befürchten ließ. Es traten Zweifel auf, insbesondere über die rechtliche Wirkung der gemäß § 19 des Gesetzes durch die Heimarbeitsausschüsse beschlossenen bindenden Festsetzungen über Mindestentgelt und sonstiger arbeitsrechtlicher Vorschriften sowie der durch die Heimarbeitsausschüsse beschlossenen Gleichstellungen gemäß § 1 Abs. 4 des Gesetzes.In verschiedenen Stellungnahmen in arbeitsrechtlichen Zeitschriften — u. a. bereits in „Der Betrieb" Nrn. 30 und 31 vom 28. Juli und 4. August 1967 von Dr. Gerhard Etzel sowie in den „Sammlungen arbeitsrechtlicher Entscheidungen" Nrn. 5 und 6 aus dem Jahre 1968 von Professor Dr. Paul Hofmann — wurde die Verfassungsmäßigkeit der angeführten Entscheidungen der Heimarbeitsausschüsse verneint. Aus diesem Grunde hatte der Bundesarbeitsminister bereits am 11. Januar 1967 den beteiligten Verbänden einen Referentenentwurf vorgelegt. Nach mehreren Verzögerungen wurde dann schließlich in der 43. Sitzung der Arbeitsministerkonferenz der Länder in Tegernsee am 15. Juni 1971 auf Antrag des bayerischen Arbeitsministers Dr. Pirkl ein Beschluß zustande gebracht, durch den der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung aufgefordert wurde, angesichts der umstrittenen Rechtslage unverzüglich eine Vorlage zur Novellierung einzubringen.Allerdings hatte sich die CDU/CSU-Fraktion wegen der lange währenden Untätigkeit dieser Bundesregierung bereits vorher mit einer Kleinen Anfrage — Bundestagsdrucksache VI/1838 — bemüht, eine Klärung der Rechtslage herbeizuführen, insbesondere aufzuklären und zu bewirken, daß die sozialen Leistungen, die anderen Arbeitnehmern bereits seit längerer Zeit zugestanden worden sind, nunmehr auch für die Heimarbeiter angeglichen werden.Ich darf in diesem Zusammenhang kritisch vermerken, daß die in der Beantwortung dieser Kleinen Anfrage von der Bundesregierung zugesagte und versprochene jährliche zusammenfassende Berichterstattung über die Heimarbeit immer noch auf sich warten läßt. Es brächte der Arbeit der Heimarbeitsausschüsse einen großen Vorteil, wenn diese Zusage endlich erfüllt würde.
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Wider Erwarten hat das Bundesverfassungsgericht zu der verfassungsrechtlichen Streitfrage, durch einen Vorlagebeschluß des Arbeitsgerichts Gießen veranlaßt, mit Urteil vom 27. Februar dieses Jahres beschlossen, § 19 des Heimarbeitsgesetzes vom 14. März 1951 sei mit dein Grundgesetz vereinbar. Ich darf unterstellen und annehmen, daß es Gründe des Einbringungsmodus gewesen sind, die die Bundesregierung bewogen haben, es bei der Einbringung in dieser Legislaturperiode in der nun zu behandelnden Drucksache weiterhin die Änderung des § 19 vorzusehen, die ein System des Erlasses von Rechtsverordnungen zum Inhalt hat. Mit Genugtuung registriert die CDU/CSU-Fraktion, daß die Bundesregierung in der Anlage 3 den Vorschlägen und der Stellungnahme des Bundesrates folgt, den § 19 in der geltenden Fassung aufrechtzuerhalten. Damit ist die Gefahr, die in der Regierungsvorlage noch enthalten ist, daß die Heimarbeitsausschüsse lediglich zu beratenden Organen herabsinken, beseitigt.Entgegen manchen Prophezeiungen ist die Heimarbeit in ihrem Umfang nicht zurückgegangen, wenn auch mit der Zahl von über 300 000 zweifellos ein verhältnismäßig bescheidender Personenkreis angesprochen ist. Der Umfang der Heimarbeit ist nicht zurückgegangen, mag sich auch in den einzelnen Branchen eine Gewichtsverschiebung vollzogen haben. Wegen der außergewöhnlichen Eigenart der Heimarbeit zwischen wirtschaftlicher Abhängigkeit und Selbständigkeit bedarf aber der Heimarbeiter nach wie vor des sorgfältigen sozialen Schutzes. Die CDU/CSU begrüßt daher grundsätzlich die nunmehr endlich vorgelegte Novellierung, vor allem die Neuregelungen und Anpassungen an die Rechtslage nach vergleichbaren Gesetzen, insbesondere auf den Sektoren der Urlaubsregelung, des Kündigungsschutzes und der Einbeziehung vermögensrechtlicher Leistungen.Zur Änderung des Tarifvertragsgesetzes muß gesagt werden, daß die einzelnen Regelungen einer sorgfältigen Prüfung bedürfen. Ich will darauf im einzelnen nicht eingehen, aber die Kompliziertheit dieser Materie wurde von den beiden Vorrednern schon deutlich genug angesprochen. Ich muß aber die unerhörte Behauptung meines Vorredners mit Entschiedenheit zurückweisen. Ich meine, man sollte diese schwierige Materie nicht mit solchen Behauptungen belasten. Es geht hier nicht um eine christlich-demokratische Präsidentschaft oder wie auch immer geartete andere Fragen in dieser Richtung. Es geht hier um die berechtigten Belange eines Personenkreises, der bisher in der Tat in einer schwierigen tarifpolitischen Situation gestanden hat.
Das sollten wir in erster Linie sehen, und wir sollten die Situation für diesen Personenkreis nicht erneut schwieriger machen, als das notwendig ist.Im einzelnen möchte ich noch kurz zu einigen, wie ich glaube, relevanten Fragen Stellung nehmen.Die in § 4 Abs. i nunmehr vorgesehene Bildung von Unterausschüssen hat sich in der Tat in der Praxis bewährt; ihr ist aus Zweckmäßigkeitsgründen zuzustimmen. Ebenso ist die in § 4 Abs. 1 neu vorgesehene Errichtung eines gemeinsamen Heimarbeitsausschusses für diejenigen Gruppen, für diejenigen Gruppen, für die nach den Sätzen 1 und 2 dieses Paragraphen keine besonderen Heimarbeitsausschüsse bestehen, zu begrüßen, da tatsächlich gerade in den kleineren Sachgebieten häufig die meisten Unstimmigkeiten festzustellen sind, die auf diese Weise geklärt werden können.Unklar bleibt allerdings die Definition in § 4 Abs. 2, wo die Neufassung sagt: „Die Beisitzer haben Stellvertreter, ...". Soll damit eine Neuerung gegenüber der bisherigen Fassung eingeführt werden, wonach gemäß der ersten Durchführungsverordnung vom 9. 8. 1951 festgestellt wurde:Die zuständige Behörde beruft als Beisitzer des Heimarbeitsausschusses je drei Vertreter der in Heimarbeit Beschäftigten und der Auftraggeber und je drei Stellvertreter.Damit waren die Stellvertreter nicht auf ein bestimmtes ordentliches Mitglied fixiert. Wenn die Neufassung nunmehr so auszulegen wäre, daß jeder Beisitzer bindend seinen fest bestimmten Stellvertreter hätte, müßten dagegen starke Bedenken angemeldet werden, da dies zu einer wesentlichen Erschwerung der Festlegung von Terminen für die Heimarbeitsausschußsitzungen führen könnte.Die Neuregelung in § 4 Abs. 3 bezüglich der Beschlußfähigkeit bei Anwesenheit einer Mehrheit ist angebracht. Dem kann ohne weiteres zugestimmt werden. Es ist in der Vergangenheit wiederholt vorgekommen, daß wegen Fehlens eines Beisitzers ein Beschluß des Ausschusses nicht zustande kommen konnte. Dabei kann natürlich nicht immer der Verdacht ausgeräumt werden, daß hiermit versucht wird, die Arbeit des Ausschusses lahmzulegen.Die in § 4 Abs. 4 nunmehr vorgesehene Regelung zur Geschäftsordnung muß sorgfältig durchdacht und nochmals überprüft werden. In der Praxis gab es bisher nur einen einzigen Ausschuß, der sich eine eigene Geschäftsordnung gegeben hat, so daß offensichtlich kein Bedürfnis dafür vorliegt. Bekanntlich können Geschäftsordnungen dazu führen, daß über Geschäftsordnungsdebatten die eigentliche Ausschußarbeit lahmgelegt wird. Wenn Vorschriften für die Geschäftsführung der Heimarbeitsausschüsse tatsächlich notwendig sein sollten, so wäre der Erlaß solcher Vorschriften eine Aufgabe der Durchführungsverordnung. Damit wäre auch die Gefahr behoben, daß in verschiedenen Ausschüssen verschiedene Geschäftsordnungen praktiziert werden.Bedenken muß allerdings die Neufassung des § 6 Satz 4 auslösen. Der Wegfall der Einsendung einer dreifachen Ausfertigung der Listen und die Zustellung dieser Listen an die. Auftraggeber und die Arbeitnehmervereinigungen wird sicherlich schädliche Auswirkungen zeigen. Die Zusendung der Listen hat sich in Fachgebieten, in denen Heimarbeit von besonderer Bedeutung ist, bewährt. Sie ermöglicht es den Heimarbeitsvertretern, Behauptungen, die Heimarbeit in der Branche sei stark rückläufig oder unwesentlich, an Hand der Listen jederzeit zu überprüfen und diesen Behauptungen gegebenen-Deutscher Bundeslag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2867Gerlach
falls entgegenzutreten. Die nunmehr vorgesehene Einsicht in die Listen ist zeitraubend und stört bei Anforderung die zuständigen Behörden mehr als die bisher praktizierte halbjährige Zusendung. Ich vermute, man wollte hier Zeit sparen. Mir scheint aber, das Umgekehrte dürfte erreicht werden.Zugestimmt wird der Neufassung des § 7 a. Auch dürfte Einverständnis bestehen mit der Streichung der Worte „nach Anhörung des Heimarbeitsausschusses "in § 9 Abs. 2. Tatsächlich hat die Anhörung des Heimarbeitsausschusses bei Antrag auf andere Entgeltbelege unnötig die Arbeit verzögert, da die Ausschüsse bekanntlich oft mehrere Monate lang nicht tagen.
Herr Abgeordneter, wir hatten uns eigentlich auf die Abgabe von Erklärungen verstanden. Bitte, gehen Sie freundlicherweise nicht zu sehr in die Einzelheiten.
Frau Präsidentin, ich bin sofort soweit. Nur noch kurz das, was ich für notwendig halte.
Die Streichung des § 11 Abs. 2 schaltet die Mitwirkung des Heimarbeitsausschusses zur Beseitigung von Mißständen bei ungleichmäßiger Verteilung von Heimarbeit aus. Dies ist aus praktischen Gründen für schädlich zu halten. Es stellt sich die Frage, ob die Behörde über die zu leistende Arbeitsmenge besser im Bilde ist als die sachlich informierten Beisitzer.
Eine grundsätzliche Frage noch! Im Falle der bindenden Festsetzung muß eine Regelung von Ausschlußfristen, wie sie nunmehr vorgesehen ist, zur Schädigung des Heimarbeitsschutzes führen. Die CDU/CSU-Fraktion hält an der bisherigen Regelung des § 19 Abs. 3 fest. Es steht fest, daß die Kontrolleure bei den Gewerbeaufsichtsbehörden bereits innerhalb der zweijährigen Verjährungsfrist nicht in der Lage sind, die notwendigen Kontrollen vorzunehmen. Fast undurchführbar würde diese Kontrolle bei einer weiteren Kürzung der Fristen zur Geltendmachung von Forderungen. Etwas anderes mag dort gelten, wo Tarifverträge abgeschlossen sind. Dort verpflichten sich die Partner selbst zur Einhaltung dieser Regelung.
Die CDU/CSU-Fraktion erwartet, daß die Ausschußberatungen zügig vorangehen, damit auf diesem in der Praxis besonders komplizierten Sektor des Arbeitslebens die notwendigen sozialen Angleichungen baldigst erfolgen und die erforderliche Rechtssicherheit gewahrt bleibt.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gemäß der interfraktionellen Vereinbarung möchte ich hier nicht die Ausschußberatungen vorwegnehmen, Herr Kollege Gerlach,
sondern mich an diese Vereinbarung halten und fürdie Freien Demokraten folgende Erklärung abgeben.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Heimarbeitsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften wird von der FDP begrüßt. Wir Freien Demokraten bejahen die vorgesehenen Verbesserungen der arbeitsrechtlichen und sozialrechtlichen Stellung der Heimarbeiter sowie den Ausbau ihres Kündigungsschutzes. Auf die zunächst vorgesehenen Änderungen des Verfahrens für Entgeltregelungen und Gleichstellungen kann auch nach Auffassung der FDP verzichtet werden, nachdem inzwischen durch das Bundesverfassungsgericht geklärt ist, daß das jetzige Verfahren der Heimarbeitsausschüsse mit dem Grundgesetz im Einklang steht.Ferner stimmen wir Freien Demokraten der vorgesehenen Anpassung des Bundesurlaubsgesetzes und des Seemannsgesetzes gern zu, da es sich hier um eine Übereinstimmung mit dem Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation handelt und hiermit wieder ein Schritt zu einer Harmonisierung europäischer und internationaler Arbeitsrechtsbestimmungen getan wird. Besonderen Beifall verdient aus liberaler Sicht die Streichung der Vorschrift des Seemannsgesetzes, nach der ein Seemann im Falle eines Arbeitsvertragsbruchs mit Kriminalstrafe belegt werden konnte.Auch wir Freien Demokraten sehen einen weiteren Schwerpunkt in der beabsichtigten Öffnung des Tarifvertragsgesetzes für bestimmte arbeitnehmerähnliche Personen, die sich damit gewerkschaftlich organisieren und tarifpolitisch betätigen können. Diese Regelung dient, wie der Entwurf vorsieht, besonders den Interessen der sogenannten freien Mitarbeiter im Bereich von Rundfunk, Fernsehen und Presse. Sie wird von der FDP aus sozial- wie medienpolitischen Gesichtspunkten begrüßt.Entscheidend ist und bleibt für die FDP dabei eine genaue Abgrenzung des hier erfaßten arbeitnehmerähnlichen Personenkreises. Entsprechend der Regierungsvorlage halten wir eindeutig daran fest, daß die Arbeitnehmerähnlichkeit im Sinne des Tarifvertragsgesetzes eine persönliche Tätigkeit für einen anderen in wirtschaftlicher Abhängigkeit voraussetzt, die auch im Rahmen von Arbeitsverhältnissen ausgeübt werden könnte.Für eine darüber hinausgehende Einbeziehung von Erwerbspersonen in das Tarifvertragsgesetz besteht nach Auffassung der FDP keine Notwendigkeit. Dies gilt auch — wie es auch der Regierungsentwurf vorsieht - besonders für die Gruppe der Handels- und Versicherungsvertreter, zumal diese eine derartige Einbeziehung auch gar nicht wünschen. Bei dem anderen Personenkreis war die Sachlage anders. Hinzu kommt, daß der zweifellos erforderliche soziale und wirtschaftliche Schutz der Handels- und Versicherungsvertreter durch besondere handelsrechtliche Verfügungen und Verfahren gewährleistet wird.Schließlich, meine Damen und Herren, ist die FDP erfreut über die vorgesehene Einführung eines einheitlichen Tarifvertragsrechts im Bund und im Lande Berlin. Damit liegt die primäre Zuständigkeit
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Schmidt
für die Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen für den Bereich des Landes Berlin künftig beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Abschließend lassen Sie mich noch einmal sagen, daß wir Freien Demokraten im ganzen in dieser Vorlage eine Zusammenfassung wohlausgewogener, im Interesse der Betroffenen liegender Lösungen ohne Signalwirkung sehen.
Meine Damen und Herren, die Aussprache ist geschlossen.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, den Ausschuß für Wirtschaft — mitberatend — und den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung vor. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts
Drucksache 7/656 —
Das Wort zur Begründung hat Herr Bundesminister Arendt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts begründen.Das vorgeschlagene neue Schwerbehindertenrecht ist ein wichtiges Teilstück der Gesamtkonzeption der Bundesregierung zur Verbesserung der Situation der Behinderten. Damit setzt die Bundesregierung ihre Bemühungen um eine bessere Eingliederung der Behinderten in Beruf und Gesellschaft fort, die sie schon in der vorigen Legislaturperiode eingeleitet hat. An die positive Entwicklung der vergangenen dreieinhalb Jahre wollen wir im Interesse der Behinderten anknüpfen.Der sozialpolitische Rang, den diese Bundesregierung der Eingliederung aller Behinderten in Arbeit, Beruf und Gesellschaft beimißt, wird schon in der Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 deutlich. Die Rehabilitation steht an der Spitze der sozialpolitischen Aussagen.Zwei Dinge stehen dabei im Vordergrund: erstens der Auf- und Ausbau eines Netzes von Rehabilitationseinrichtungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland für alle Bereiche der Rehabilitation und zweitens die Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen der Rehabilitation.Beim Auf- und Ausbau eines Netzes von Rehabilitationseinrichtungen ist der Erfolg der Anstrengungen der Bundesregierung schon weithin sichtbar. Ichbin diesem Hohen Hause sehr dafür dankbar, daß es durch die Bewilligung beachtlicher Mittel aus dem Bundeshaushalt möglich wurde, den Ausbau solcher Einrichtungen erheblich zu fördern. Noch zu keiner Zeit wurden im Bundeshaushalt mehr Mittel für die berufliche Rehabilitation bereitgestellt als seit 1969. Für das Jahr 1973 sind es 43 Millionen DM; dazu kommen die Aufwendungen der Länder, der Bundesanstalt für Arbeit und der übrigen Rehabilitationsträger. Insgesamt werden zur Zeit jährlich rund 300 Millionen DM investiert.Heute nun, meine Damen und Herren, geht es darum, in dem anderen Schwerpunktbereich des Aktionsprogramms Rehabilitation, bei der Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen der Rehabilitation, einen entscheidenden Schritt voranzukommen. Die Grundlinien des Ihnen vorliegenden Entwurfs sind bereits im Aktionsprogramm der Bundesregierung vorgezeichnet:Das in erster Linie zur Überwindung der Kriegsfolgen geschaffene Schwerbeschädigtengesetz soll den veränderten Verhältnissen, insbesondere dem modernen Gedanken einer umfassenden Rehabilitation aller Behinderten angepaßt werden. In den geschützten Personenkreis sollen künftig alle Behinderten einbezogen sein, unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber und die Ausgleichsabgabe sollen neu geregelt, das Verwaltungsverfahren erheblich vereinfacht, die Stellung des Vertrauensmannes weiter gestärkt werden, und schließlich sollen die Werkstätten für Behinderte in den Anwendungsbereich des Gesetzes einbezogen werden.An diesen Grundlinien, meine Damen und Herren, ist die Regierungsvorlage ausgerichtet. Die Ausdehnung des geschützten Personenkreises auf alle schutzbedürftigen Behinderten ohne Rücksicht auf die Ursache oder die Art ihrer Behinderung ist ein Kernpunkt des Gesetzentwurfs. Dadurch soll das bisherige Schwerbeschädigtengesetz zu einem Schutzgesetz für alle Schwerbehinderten werden. Alle Mitbürger, die durch ein schweres Los in ihrer Erwerbsfähigkeit erheblich gemindert sind, sollen besondere Hilfen zur Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft erhalten. Lassen Sie mich diese besonderen Hilfen nach den Regierungsvorschlägen kurz erläutern.Jeder Arbeitgeber ist verpflichtet, bei der Besetzung eines freien Arbeitsplatzes zu prüfen, ob er nicht einen Schwerbehinderten beschäftigen kann. Verfügt er über mehr als 15 Arbeitsplätze, muß er auf wenigstens sechs Prozent der Arbeitsplätze Schwerbehinderte beschäftigen, darunter in angemessenem Umfang auch Schwerstbehinderte. Die Arbeitsverwaltung wird verpflichtet, Schwerbehinderte bevorzugt auf einen Arbeitsplatz zu vermitteln.Nach ihrer Einstellung haben alle Schwerbehinderten Anspruch darauf, von ihrem Arbeitgeber so beschäftigt zu werden, daß sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Im Interesse ihres beruflichen Fortkommens sind sie bei innerbetrieblichen Maßnah-
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Bundesminister Arendtmen der beruflichen Bildung bevorzugt zu berücksichtigen. Die Teilnahme an außerbetrieblichen Maßnahmen ist ihnen zu erleichtern.Ein weitgehender Kündigungsschutz wird bei den Schwerbehinderten einen dauerhaften Arbeitsplatz sichern. Ordentliche sind nur mit einer Mindestkündigungsfrist von einem Monat möglich. Jede Kündigung ist von der vorherigen Zustimmung der Hauptfürsorgestelle abhängig.Dem besonderen Erholungsbedürfnis der Schwerbehinderten wird dadurch Rechnung getragen, daß ihnen ein zusätzlicher Urlaub von sechs Werktagen gewährt wird.Auch für ständige Hilfen im Arbeitsleben wird gesorgt. Im Betrieb wird dem Schwerbehinderten schon vom Zeitpunkt seiner Bewerbung an der Vertrauensmann mit Rat und Tat zur Seite stehen. Neben dem Betriebs- oder Personalrat hat dieser seine besonderen Interessen zu vertreten.Außerbetrieblich obliegt die Betreuung den Hauptfürsorgestellen. Deren Hilfen sind vielseitig. Sie können in Geldleistungen und in der Beschaffung geeigneter Wohnungen bestehen.Alle diese besonderen Hilfen bei der Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft waren bisher nur Kriegs- und Arbeitsopfern vorbehalten. Jetzt, meine Damen und Herren, geht es darum, diese Rechte auf alle Schwerbehinderten auszudehnen. In Zukunft sollen daher nicht mehr die Ursache einer Behinderung, sondern allein die Tatsache der Behinderung und deren Schweregrad entscheidend für die Hilfsmaßnahmen sein.
Welche Bedeutung diese Ausdehnung des geschützten Personenkreises hat, wird klar, wenn man sich die Gruppen vor Augen stellt, die nunmehr in den Schutz des Gesetzes gelangen sollen. Da sind die vielen Tausend von Opfern des Straßenverkehrs, von Unfällen im Haushalt und in der Freizeit, da sind die von Geburt an Behinderten, die zu Auszubildenden und Arbeitnehmern heranwachsen. Schwerbehinderten Jugendlichen, die heute erhebliche Schwierigkeiten haben, einen angemessenen Ausbildungsplatz zu finden, wird es zugute kommen, daß Arbeitgeber künftig auch verpflichtet sein sollen, Plätze für die Ausbildung jugendlicher Schwerbehinderter zur Verfügung zu stellen.Und nicht zuletzt sind da die vielen älteren Arbeitnehmer, bei denen frühzeitig Verschleißerscheinungen auftreten. Auch sie werden in den Geltungs- und Schutzbereich des Gesetzes einbezogen, wenn ihre Erwerbsfähigkeit um 50 Prozent oder mehr gesunken ist. Ich denke da besonders an die Generationen, die den Krieg durchgemacht und dann auch noch oft Übermenschliches beim Wiederaufbau der Städte und Gemeinden, der Wohnungen und Arbeitsplätze geleistet haben. Diese Anstrengungen sind vielfach nicht ohne Folgen geblieben. Sie haben zu Gesundheitsschäden und vorzeitigen Verschleißerscheinungen geführt.Ich betrachte es daher als ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, auch diese älteren Menschen, deren Leistungsfähigkeit heute um mehr als 50 Prozent gesunken ist, in den Schutz dieses Gesetzes einzubeziehen.
Dadurch wird ihr Arbeitsplatz sicherer werden. Das verbürgt der besondere Kündigungsschutz, den das bisherige Gesetz nur für Schwerbeschädigte vorsieht und den wir zugunsten aller Schwerbehinderten noch ausgeweitet und verstärkt haben. Durch die Einbeziehung in diesen besonderen Kündigungsschutz leisten wir zugleich einen wirksamen und sinnvollen Beitrag zum Problem der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer.Meine Damen und Herren, der Ihnen vorliegende Entwurf beschränkt sich nicht darauf, das Schwerbeschädigtengesetz in seiner derzeitigen Fassung lediglich auf einen neuen Personenkreis auszudehnen, vielmehr ist das gesamte Gesetz einer Generalüberholung unterzogen worden. Bewährtes soll beibehalten, vieles, was reformbedürftig ist, soll geändert werden.Lassen Sie mich noch einige Punkte hervorheben:Grundlegend neu ordnen wollen wir das System der Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber und der Pflicht zur Zahlung einer Ausgleichsabgabe im Falle der Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht. Der Neuordnung liegt der Gedanke zugrunde, daß jeder Arbeitgeber mit mehr als 15 Arbeitsplätzen, gleich ob privater oder öffentlicher Arbeitgeber, verpflichtet sein soll, einen Beitrag zur Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit und Beruf zu leisten.Dieser Beitrag des Arbeitgebers zur Rehabilitation Behinderter soll in erster Linie dadurch geleistet werden, daß sechs Prozent der Arbeitsplätze für Schwerbehinderte bereitgestellt werden. Solange ein Arbeitgeber diesen Beitrag nicht leistet, soll er wenigstens einen Geldbetrag zur Verfügung stellen, mit dem die Rehabilitation Schwerbehinderter gefördert wird. Damit wird in erster Linie bezweckt, einen rechten Ausgleich zu erzielen zwischen Arbeitgebern, die Schwerbehinderte beschäftigen, und Arbeitgebern, die ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllen.Bei dieser konsequenten Regelung, meine Damen und Herren, geht es keineswegs darum, eine neue Quelle zur Finanzierung der Rehabilität zu erschließen, um den öffentlichen Haushalt zu entlasten. Eine solche Unterstellung wird schon durch die Realität widerlegt: Der Gesamtaufwand für Rehabilitation durch Bund, Länder und die fünf gesetzlichen Träger der Rehabilitation, — Rentenversicherung, Unfallversicherung, Kriegsopferversorgung einschließlich Kriegsopferfürsorge, Bundesanstalt für Arbeit und Sozialhilfe — beläuft sich auf rund fünf Milliarden DM jährlich, und zwar 4,75 Milliarden DM für die individuelle Förderung, und mehr als 300 Millionen DM für die institutionelle Seite der Rehabilitation. Das Aufkommen aus der Ausgleichsabgabe der Arbeitgeber wird nach Schätzungen im Höchstfalle 100 Millionen DM jährlich betragen.
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Bundesminister ArendtMit diesem Aufkommen könnten also gerade zwei Prozent des Gesamtaufwandes der Rehabilitation bestritten werden. Damit können wir die großen Aufgaben der Rehabilitation nicht lösen.Es bleibt dabei: Die Ausgleichsabgabe hat die Aufgabe, zu einer gleichmäßigen Lastenverteilung beizutragen. Darüber hinaus erscheint sie als ein taugliches Mittel, die Arbeitgeber dazu anzuhalten, Schwerbehinderte einzustellen.Dieser Zweck war auch mitbestimmend dafür, die Zahlung der Ausgleichsabgabe nicht nur für die private, sondern künftig auch für die öffentlichen Arbeitgeber vorzusehen. Die Durchführung des bisherigen Schwerbeschädigtengesetzes hat es ratsam erscheinen lassen, keine Sonderregelung für die öffentlichen Arbeitgeber zu treffen. Auch für diesen Bereich glauben wir, daß diese Verpflichtung zur Ausgleichsabgabe durchaus geeignet ist, die Anstrengungen zur Beschäftigung Schwerbehinderter noch mehr zu verstärken.Zur Neuordnung des Systems von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe gehört schließlich ein einheitlicher Pflichtsatz ohne Ausnahmen für einzelne Branchen oder Verwaltungszweige, ebenso eine strikte Erhebung der Ausgleichsabgabe im Falle der Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht ohne die Möglichkeit zum Erlaß oder zur Herabsetzung der Ausgleichsabgabe. Eine Ausnahme gilt nur für Klein- und Mittelbetriebe. Um sie vor härteren finanziellen Belastungen zu bewahren, kann bei ihnen unter bestimmten Voraussetzungen die Ausgleichsabgabe herabgesetzt oder erlassen werden.Meine Damen und Herren, ein weiterer Komplex, dem unsere Aufmerksamkeit besonders gegolten hat, ist die Stellung des Vertrauensmannes. Der Vertrauensmann kann seinen vielfältigen Aufgaben im Interesse der schwerbehinderten Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber nur dann wirksam nachkommen, wenn seine Stellung diesen Aufgaben im Betrieb gerecht wird. Deshalb wird die Position des Vertrauensmannes nach diesem Gesetzentwurf verstärkt. Sie wird der Rechtsstellung eines Betriebs- oder Personalratsmitgliedes weitgehend angenähert. Seine bisherigen Rechte gegenüber dem Arbeitgeber sind zu einem umfassenden Recht auf Unterrichtung und Anhörung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen Schwerbehinderten oder die Schwerbehinderten als Gruppe berühren, erweitert worden.Der Vertrauensmann wird künftig in allen Bereichen der privaten Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes das Recht haben, an den Sitzungen der Personalvertretung beratend teilzunehmen. Beschlüsse, die nach seiner Auffassung eine erhebliche Beeinträchtigung wichtiger Interessen der Schwerbehinderten darstellen, müssen auf seinen Einspruch hin ausgesetzt werden.Ein wichtiger Teil des Gesetzentwurfes ist die Regelung, die sich mit den Werkstätten für Behinderte befaßt. In diesen Werkstätten sollen diejenigen Schwerbehinderten einen Arbeitsplatz finden, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wegen derSchwere ihrer Behinderung nicht unterkommen können.Diese Werkstätten sind bislang ein Sorgenkind der Rehabilitation. Weder ihre Zahl noch ihre Qualität reichen aus. Ein erster Schritt zur Verbesserung dieser Situation wurde dadurch getan, daß das Arbeitsförderungsgesetz die Bundesanstalt für Arbeit in die Lage versetzt hat, Investitionshilfen zum Aufbau eines bedarfsdeckenden Netzes von Werkstätten bereitzustellen. Das hat zu Erfolgen geführt. In einer ersten Ausbaustufe wurden 96 Werkstätten gefördert; ein Teil davon ist bereits fertiggestellt, andere sind im Bau.Der vorliegende Gesetzentwurf will einen zweiten Schritt tun. Er will dazu beitragen, daß den Werkstätten auch die zur Existenzerhaltung und zur Sicherstellung des laufenden Betriebs erforderlichen Arbeits- und Lieferaufträge erteilt werden. Durch die Möglichkeit, 30 Prozent eines solchen Lieferauftrages auf die fällige Ausgleichsabgabe zu verrechnen, werden nach unserer Meinung wirksame Anreize geschaffen, um eine ständige Beschäftigung der Werkstätten sicherzustellen.Der Bundesrat hat sich sehr eingehend mit dem Entwurf der Bundesregierung befaßt und eine ganze Reihe von Änderungen vorgeschlagen. Einigen von ihnen, die gesetzestechnische Verbesserungen bringen, konnte unbedenklich zugestimmt werden. Bei anderen hat die Bundesregierung Prüfung zugesagt in der Annahme, daß die begrüßenswerten Anregungen auch tatsächlich zu verwirklichen sind. Ich denke hier an die Vorschläge, die öffentliche Hand zu verpflichten, Werkstätten für Behinderte bei der Auftragsvergabe bevorzugt zu berücksichtigen, eine Behinderten- und Rehabilitationsstatistik vorzusehen und das bisher doppelspurige Kündigungsschutzverfahren durch ein einheitliches Verfahren vor den Arbeitsgerichten zu ersetzen.Einige andere Änderungsvorschläge aber sind geeignet — lassen Sie mich das ganz deutlich sagen —, die ausgewogene Konzeption des Gesetzentwurfes zu beeinträchtigen. Dazu gehören die Vorschläge, die gewisse Ausnahmen von der Beschäftigungspflicht und den Verzicht auf die Ausgleichsabgabe im öffentlichen Dienst vorsehen. Ebensowenig halte ich es für zweckdienlich, von der im Arbeitsförderungsgesetz festgelegten und inzwischen bewährten Konzeption der Werkstätten für Behinderte abzugehen. Denn diese Konzeption zielt darauf ab, moderne und zukunftsorientierte Einrichtungen für eine echte berufliche Rehabilitation Schwerstbehinderter zu schaffen, die nur auf diese Weise integriert werden können.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß herzlich bitten, den Entwurf so zügig zu beraten, daß das Gesetz am 1. Januar 1974 in Kraft treten kann.
Ich danke dem Herrn Bundesminister und eröffne die Aussprache.Das Wort hat der Herr Abgeordnete Maucher.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2871
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU-Fraktion begrüßt diesen Entwurf zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts. Sie stellt fest, daß damit auch einem Anliegen des Parteiprogramms der CDU entsprochen wird. Auf Grund der veränderten Verhältnisse, der modernen technischen Entwicklung ist ein solches Aktionsprogramm — d. h. auf gut deutsch: die Weiterentwicklung der Rehabilitationsmaßnahmen — eine unabdingbare Notwendigkeit.Daß diese Entwicklung der Rehabilitation auf der Basis der praktischen Erfahrungen nach dem Schwerbeschädigtengesetz beruht, ist unbestritten ein positiver Beweis dafür, daß nicht erst jetzt oder seit Bestehen dieser Regierung, sondern bereits seit Bestehen der Bundesrepublik, nämlich seit dem Jahre 1949, mit Rehabilitationsmaßnahmen begonnen wurde. Man kann nicht ohne weiteres sagen, wie es der Herr Arbeitsminister in seiner Ankündigungsrede am 21. März 1973 in der 21. Sitzung auf meine Frage getan hat, daß die Rehabilitation bisher ein Schattendasein geführt habe. Das, was wir heute als Entwurf vorliegen haben, ist das Ergebnis eines mühsamen, langwierigen Prozesses nicht zuletzt auf Grund der auf dem Gebiet des gesamten Rehabilitationswesens gesammelten Erfahrungen. Man kann sagen, daß Rom nicht an einem Tag gebaut worden ist. So konnten auch die Rehabilitationsgesetze in vollendeter Form nicht auf einmal vorbereitet und auf die Beine gestellt werden.Zunächst muß festgestellt werden, daß die erste entscheidende Rehabilitationsregelung bereits im Jahre 1950 geschaffen wurde, nämlich mit dem Bundesversorgungsgesetz selbst. Damals wurde in den §§ 25 bis 27 festgelegt, daß sich der Staat und die Gesellschaft der Schwerbeschädigten in allen Lebenslagen anzunehmen haben. Ich möchte damit sagen: dort ist eigentlich der Grundstein zum Rehabilitationsgedanken gelegt worden. Daß sich dieser Gedanke jetzt auf alle Behinderten erstreckt, ist ohne Zweifel ein ganz entscheidender, begrüßenswerter Fortschritt.Als das erste wesentliche Rehabilitationsgesetz wurde im Jahre 1953 das Schwerbeschädigtengesetz verabschiedet. Es wurde damals als das Gesetz des guten Willens bezeichnet. Zu jener Zeit standen nahezu 1 Million Schwerbeschädigte vor einem unlösbaren Problem. Natürlich war es damals nicht wie heute möglich, die Kriegsopfer durch moderne Maßnahmen zu rehabilitieren, sondern im Grunde genommen war dieses Gesetz nur ein Gesetz zur Unterbringung der Schwerbeschädigten. Das wurde mit aller Offenheit eingestanden.Bei dieser Gelegenheit muß man feststellen, daß durch den Einsatz und die Hilfe von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft die Unterbringung der Beschädigten weitgehend gelungen ist. Hierbei muß man allerdings auch sagen, daß die Kriegs- und Arbeitsopfer sowie die Verfolgten des Nazi-Regimes einen ungeheuren Leistungswillen gezeigt haben. Das beweist vor allem die Tatsache, daß es in diesen Bereichen nicht mehr Arbeitslose gab als in der übrigen Bevölkerung. Sie haben vom Staat nicht nur gefordert, sondern unter Aufbietung außerordentlicher Kräfte auch gegeben.
Es muß in diesem Zusammenhang festgestellt werden, daß der Gedanke der zusätzlichen Rehabilitationshilfen auch in den Rentenleistungen der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz enthalten ist. Das Schwerbeschädigtengesetz wurde in der Zwischenzeit geändert. Es hat sich dabei um eine besondere Leistung für die für Volk und Staat gebrachten Opfern gehandelt. Aus diesem Grunde gab es nach übereinstimmender Auffassung aller Fraktionen in diesem Hause für die Kriegsopfer eine unbestrittene Priorität, und zwar begründet in dem sogenannten kausalen Zusammenhang.In diesem Gesetz wird nun das grundlegende Ziel festgelegt. Dabei erfolgt eine Umstellung vom kausalen zum finalen Denken. Das heißt, maßgebend ist nicht mehr die Ursache für eine Behinderung, sondern der Tatbestand, daß jemand behindert ist. Dies wird nach dem Schwerbeschädigtengesetz in die Hilfe einbezogen. Wir treten dieser Auffassung nicht entgegen, sondern stimmen ihr in vollem Umfang zu.An dieser Stelle muß ich aber in aller Deutlichkeit feststellen, daß die Entwicklung für die Kriegsopfer, die Opfer des Nazismus usw. nicht in Frage gestellt werden darf. Das heißt, es kann und darf nicht sein, daß eines Tages das Gesetz der größeren Zahl zu Überlegungen führt, Einschränkungen bei den Vergünstigungen vorzunehmen. Ich möchte feststellen, daß es nach der Umstellung des Grundprinzips eine logische Folgerung ist, daß das Bestehende erhalten bleibt und durch Weiterentwicklung auf verschiedenen Ebenen angepaßt wird.Es wird nun immer wieder der Eindruck erweckt, als ob der Notwendigkeit von modernen Rehabilitationsmaßnahmen vor allen Dingen von früheren Regierungen in den vergangenen Jahren nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Was Rehabilitationsmaßnahmen angeht, so kann man nicht bloße Zahlen, die im Bundeshaushalt standen, zusammenzählen und dann zu dem Ergebnis kommen: Das Zeitalter der Rehabilitation beginnt eigentlich erst jetzt. Wir würden uns in diesem Hause selbst ein schlechtes Zeugnis ausstellen, wenn wir dieser Auffassung beipflichten. Wir haben nicht die Absicht, in dieser Frage irgendwie parteipolitische Agitation zu betreiben, und wünschten, daß sich in gleichem Maße auch die Regierung und die Koalitionsparteien mehr und in erster Linie der eigentlichen Aufgabe, dem Ziel, wie es hier im Gesetz festgelegt ist, zuwendeten.Ich möchte feststellen, daß es nicht bei dem Schwerbeschädigtengesetz aus dem Jahre 1953 geblieben ist. In der Zwischenzeit sind vielmehr eine ganze Reihe von Rehabilitationsmaßnahmen in die seit Jahren bestehenden Sozialgesetze aufgenommen worden. So ist es auf Grund jahrelanger Bemühungen vor allem auch dieses Hauses nun in der Tat gelungen, Rehabilitation im Sinne einer modernen Sozialpolitik zu verstehen und vor allen Dingen alles zu tun, um den körperlich, geistig und seelisch
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2872 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Maucherbehinderten Menschen, die ihre Behinderung aus eigener Kraft nicht überwinden können, bei der Unterbringung in Arbeit zu helfen. Man muß feststellen, daß diese Aufgabe, die hier gestellt ist, die Zielvorstellung dieses Gesetzes, den Menschen gleichwertig in unsere moderne Gesellschaft einzugliedern, von großer Bedeutung ist.Rehabilitation bedeutet aber auch, daß der einzelne Behinderte wieder Selbstbewußtsein erhält. Auf der anderen Seite werden dem Staat und der Gesellschaft durch diese Maßnahmen — auf Grund der Einsparung von Renten und anderen Leistungen — ungeheure Vorteile vermittelt. Der Behinderte will nicht das Rentendasein, er will vielmehr wertgleich in der Gesellschaft wirken.Ich sagte eingangs, daß der vorliegende Entwurf das Ergebnis langwieriger Bemühungen sei. Der Ausschuß für Kriegsopfer und Kriegsfolgen hat sich in diesem Hause unermüdlich und ernsthaft um eine Weiterentwicklung bemüht. Sie können die Forderungen in verschiedenen Resolutionen nachlesen, die der Kriegsopferausschuß in gemeinsamer Zusammenarbeit gefaßt hat. Sie können daraus erkennen, daß das Ziel, das der heute vorgelegte Gesetzentwurf zum Inhalt hat, schon lange angestrebt worden ist. Seinerzeit ist unter Führung meines Kollegen Burger auch ein Sonderausschuß gebildet worden, um im Arbeitsförderungsgesetz eine besondere Regelung für die Unterbringung der Beschädigten zu finden. Diese Regelung, die damals erarbeitet worden ist, stellt sozusagen den Schlüssel für die Weiterentwicklung dar und ist auch vom Bundesarbeitsminister bestätigt worden. Niemand wird bestreiten, daß das Arbeitsförderungsgesetz, das damals unter der Federführung von Hans Katzer vorgelegt wurde, einen entscheidenden Schritt auf dem Wege der Weiterentwicklung darstellt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, man kann somit wohl sagen, daß neben dem Arbeitsförderungsgesetz in der Renten-, in der Unfallversicherung, in der landwirtschaftlichen Alterskasse Rehabilitationsbestimmungen zur Erleichterung der Unterbringung in Arbeit usw. geschaffen wurden. All diese Schritte aus den letzten Jahren münden jetzt in das Behindertengesetz und auch das Harmonisierungsgesetz für die Rehabilitationsgesetze ein, und werden in diesen Gesetzen zusammengefaßt. Das Sozialhilfegesetz hatte ja schon in den 60er Jahren — auf Grund der Zusammenarbeit — den Grundstein gelegt.Wir sind uns, so glaube ich, alle darüber klar, daß das Gesetz in der heutigen Form im Jahre 1953 nicht hätte vorgelegt werden können. In der Zwischenzeit hat sich nicht nur die Meinung dieses Hauses, sondern auch die Meinung draußen, vor allem in den Kriegsopferverbänden, die zu dieser Entwicklung ja sagen, erheblich geändert. Deshalb würde ich es außerordentlich begrüßen, wenn die Vorschläge, die von allen möglichen Seiten gemacht werden, in den Einzelberatungen eingehend diskutiert werden. Es muß aber auch festgestellt werden, daß wir im Jahre 1950 und in den folgenden Jahren bei weitem nicht so hohe Unfall- und Behindertenzahlen hatten, wie wir sie heute haben. Deshalb ist die Weiterentwicklung auf diesem Gebiet von ganz besonderer Dringlichkeit.Es kann nicht unsere Aufgabe sein, heute auf alle Einzelprobleme einzugehen. Wir werden uns vorbehalten, im Ausschuß unsere Anregungen zu machen, und sagen ganz klar zu, daß wir positiv mitarbeiten. Wir werden im Ausschuß die vielen Wünsche vortragen.Grundsätzlich möchte ich aber doch noch feststellen, daß die Beschäftigungspflicht und die Ausgleichsabgabe entsprechend den bisherigen Regelungen vereinfacht, aber auch deutlich verschärft worden ist. Hierüber ist eine eingehende Diskussion im Ausschuß erforderlich. Daß bei mittelständischen Betrieben bis zu 30 Beschäftigten von der Ausgleichsabgabe abgesehen werden kann, begrüßen wir, und zwar nicht nur im Interesse der mittelständischen Betriebe, sondern auch der Beschädigten selbst. Die Ausgleichsabgabe führt bei lohnintensiven und technisch hoch ausgestatteten Betrieben unbestritten zu unterschiedlichen Belastungen. Auch dies bedarf einer eingehenden Überlegung. Natürlich kann man feststellen, daß die Belastung, die sich aus dem Zusatzurlaub ergibt, in der Regel größer sein wird als die Ausgleichsabgabe. Daher ist im Grunde genommen die gleichmäßige Verteilung der Lasten, wie vom Herrn Minister eben dargelegt, durchaus berechtigt.Was den Zusatzurlaub anlangt, gestatten Sie mir die Bemerkung, Herr Minister, daß man diesen Vorschlag bei der umstrittenen Frage „Werktage oder Arbeitstage" als einen leichten Trick ansehen könnte. Wir müssen hierzu im Ausschuß durchaus eine Klarstellung finden.Der Nachweis über den Grad der Erwerbsfähigkeit soll nach diesem Gesetz der Versorgungsverwaltung übertragen werden. Ich darf hier klar feststellen, daß wir diese Regelung bejahen und begrüßen, weil damit von vornherein über die Höhe der MdE eine Einheitlichkeit hergestellt wird und sicherlich auch mit einer schnellen Durchführung gerechnet werden kann. Es erhebt sich die Frage, welche Möglichkeiten — mit Ausweis usw. — für den Übergang gefunden werden können. Aber das sind Einzelheiten, die im Ausschuß diskutiert werden sollen.Meine sehr verehrten Anwesenden, wenn wir hier ein Gesetz von entscheidenden Bedeutung für viele Behinderte verabschieden, soll damit nach Möglichkeit, wie ich gesagt habe, eine reibungslose Durchführung erreicht werden. Weiter möchte ich darauf hinweisen, daß es natürlich allein mit den Pflichtplätzen, der Beschäftigungspflicht, der Gleichstellung, dem Begriff des Arbeitsplatzes und der Ausgleichsabgabe nicht getan ist. Von entscheidender Bedeutung für die Weiterentwicklung sind ebenso die flankierenden Maßnahmen für alle Bereiche. Das gilt nach der Unterbringung für nachgehende Fürsorge, die Begleitung und Betreuung am Arbeitsplatz, wo die Mitwirkung des Vertrauensmanns und die Ausgestaltung der Rechte sehr wichtig sind. Natürlich kommt es bei all diesen Problemen auch darauf an, daß der Beschädigte in der nachgehenden Fürsorge betreut wird.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2873
MaucherIch glaube, hier muß man ein Wort im Blick auf die Hauptfürsorgestelle sagen. Man darf feststellen, daß die Hauptfürsorgestellen in der Vergangenheit in Zusammenarbeit mit den Landesarbeitsämtern Hervorragendes geleistet haben. Aber ebenso ist auch von Bedeutung, daß der Beschädigte nach der Rehabilitation, wenn er in Arbeit untergebracht ist, nicht nur das gleiche Einkommen erzielt, sondern ihm auch das gleiche Nettoeinkommen verbleibt. Er soll also nicht gezwungen werden, erhebliche Teile seines Einkommens für Sonderausgaben aufzuwenden, die auf Grund seiner Behinderung notwendig sind. Das gilt für die orthopädische Versorgung. Ich glaube, auch hier wäre es notwendig, die moderne Weiterentwicklung genau den Verhältnissen von Arbeitsplatz und Wohnung anzupassen und sicherzustellen.Ebenso ist die wohnungsmäßige Unterbringung von ganz entscheidender Bedeutung. Der Beschädigte sollte möglichst unweit von seinem Arbeitsplatz wohnen können und damit in die Lage versetzt werden, seine Arbeit auf die Dauer auszuführen.Auch das Vergünstigungswesen muß den veränderten Verhältnissen angepaßt werden, ohne daß damit die Weiterentwicklung der sozialen Fürsorge für die Kriegsopfer mehr oder weniger angehalten wird.Neben all diesen Maßnahmen ist die Berufsvorbereitung von entscheidender Bedeutung. Die medizinische und die berufliche Rehabilitation müssen Hand in Hand gehen. Hier kommt es vor allem auf die Vorbereitung zur Umschulung an. Das gilt in erster Linie für das große Gebiet der Hirnverletzungen.Das Problem der Werkstätten für Behinderte ist bereits angesprochen worden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf abschließend und zusammenfassend feststellen, daß wir hier im Deutschen Bundestag für die Durchführung der Rehabilitation durch die Gesetzgebung einen möglichst weiten Rahmen schaffen müssen, um eine wirksame Weiterentwicklung zu fördern. Ohne die Hilfe aller Teile und Schichten unserer Bevölkerung aber wird das Werk nicht zur Vollendung kommen. Wir haben gute Ansätze und erhebliche Leistungen in den letzten 20 Jahren aufzuzeigen. Wenn man an die verschiedenen Rehabilitationszentren wie das in Heidelberg und eine Reihe anderer denkt, die nicht erst seit gestern bestehen, muß man feststellen, daß wir Vorbildliches geleistet haben. Deshalb gebühren vor allem den auf diesem Gebiet tätigen Kräften und Einrichtungen, den Kirchen, den karitativen Verbänden und den Kriegsopferverbänden, Dank und Anerkennung für ihren täglichen, unermüdlichen Einsatz. An die Bevölkerung, vor allem auch an die Jugend ist der Appell zu richten, sich in den Dienst der Rehabilitation als einen Dienst im Sinne der Nächstenliebe zu stellen. So laßt uns diese große gesellschaftspolitische und staatspolitische Aufgabe gemeinsam erfüllen! Es geht hier um den behinderten Menschen, der ein Schattendasein am Rande unserer Gesellschaft führt.Ich wünsche nur, daß sich der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung genügend Zeit nimmt, um dieses wichtige Gesetz in aller Gründlichkeit, jedoch ohne Verzögerung, damit es baldmöglichst in Kraft treten kann, zu beraten. Wir sagen unsere positive Mitarbeit zu, weil darin unsere Auffassung bestätigt wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glombig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts. Die Initiativen der sozialliberalen Koalition zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts haben — Herr Bundesminister Arendt hat es bereits zum Ausdruck gebracht — in den Regierungserklärungen von 1969 und 1973 ihren Ausdruck gefunden. Nachdem die Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung vom 18. Januar dieses Jahres der Ein- oder Wiedereingliederung Behinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft erneut eine hohe sozialpolitische Priorität eingeräumt hat, ist es erforderlich, daß jetzt das erste Teilstück eines ganzen Paketes von Gesetzentwürfen zur Rehabilitation in Angriff genommen wird. Jetzt kann der erste Schritt in der Richtung getan werden, die der Bundeskanzler bei seiner Rede in Bethel im Sommer dieses Jahres erneut anvisierte, als er versprach, daß die Bundesregierung jenen verstärkt Hilfe zuwenden will, die im Schatten der Gesellschaft leben.Wir wissen, daß es über 4 Millionen behinderte Menschen in diesem Lande gibt, die zu einem großen Teil von einem schweren Schicksal betroffen sind. Wenn wir bedenken, daß jeder fünfzehnte Bürger dieses Landes in irgendeiner Weise als behindert zu gelten hat, so sollte das unsere Aufmerksamkeit mehr als bisher auf ein Gebiet der Sozialpolitik lenken, das im Bewußtsein der Öffentlichkeit noch immer nicht den gebührenden Platz einnimmt.Es wäre den Behinderten auch damit geholfen, wenn die Tatsache, daß wir heute im Bundestag ein Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft beraten, in der Öffentlichkeit nicht nur als eine Routineangelegenheit abgetan wird. Das meine ich sagen zu müssen, obwohl durch das Verdienst der sozialliberalen Koalition das Interesse der Bürger für die Probleme der Behinderten ganz ohne Zweifel spürbar zugenommen hat. Es ist wahr: Seit Bestehen der sozialliberalen Koalition ist die Rehabilitation in diesem Lande „salonfähig" geworden. Rehabilitation ist heute „modern", oder noch moderner ausgedrückt: „in" — vielleicht nicht so sehr in diesem Hause, aber vielleicht an anderen Stellen unserer Republik um so mehr. Das beweisen die zahlreichen Beiträge in Zeitungen, in Funk und Fernsehen bis hin zur Denkschrift der EKD, die der Rehabilitation ebenfalls höchste sozialpolitische Priorität beimißt.
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2874 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
GlombigDennoch bleibt vieles an ernsthafter Arbeit zu tun übrig.Das Bedeutsamste an diesem Gesetzentwurf ist zweifellos die Tatsache, daß fortan alle Schwerbehinderten, und zwar alle körperlich, geistig und seelisch Behinderten ab einer Erwerbsminderung von 50 v. H., bei ihrer Ein- oder Wiedereingliederung in das Arbeitsleben die Hilfe bekommen sollen, die das jetzige Schwerbeschädigtengesetz bislang weitgehend den Schwerkriegs- und den Schwerarbeitsunfallverletzten vorbehalten hat. Alle anderen Schwerbehinderten konnten Hilfe nach dem Schwerbeschädigtengesetz nur durch das mühselige und oft auch unwürdige Gleichstellungsverfahren erlangen. Sie waren also — das ist keine Übertreibung — Behinderte zweiter Klasse.Dazu zählen z. B. diejenigen von den zirka 550 000 Verkehrsunfallverletzten im Jahr, die bleibende Schäden davontragen, oder diejenigen, die von Geburt an oder seit frühester Jugend behindert sind. Aber auch Tausende von älteren Arbeitnehmern Bundesminister Arendt wies bereits darauf hin -, die die Härte des Arbeitslebens durch eine Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit bezahlen mußten, ohne daß ihnen von Amts wegen eine Berufskrankheit anerkannt werden konnte, werden nun durch die Änderung des Schwerbeschädigtengesetzes die Hilfe erhalten, die sie dringend benötigen.Das geltende Schwerbeschädigtengesetz ist mit seiner kausalen Ausrichtung von den Zivilbehinderten schon immer beklagt und als Diskriminierung empfunden worden. Die hier eintretende Änderung des Schwerbeschädigtenrechts ist so bedeutend, das mit Recht das zu ändernde Gesetz eine andere, eine zutreffendere Bezeichnung erhält und künftig „Schwerbehindertengesetz" heißen wird.An dieser Stelle ist ein Dank an diejenigen angebracht, die sich als Einzelpersonen oder als Verbände schon immer fortschrittlich verhalten und diese Entwicklung gefördert und schließlich ermöglicht haben. Zu den Verbäden, die in diesem Zusammenhang zu nennen wären, gehört vor allem der Reichsbund, der seit seiner Wiedergründung nach dem zweiten Weltkrieg die Einbeziehung der zivilen Schwerbehinderten in den Schwerbeschädigtenschutz immer wieder mit Nachdruck gefordert hat.Leider kann ich in diesen Dank nicht einbeziehen die heutige Opposition, die CDU/CSU, die ja immerhin zwanzig Jahre lang auch das Schicksal der Behinderten in diesem Lande durch ihre Gesetzgebung bestimmt hat.
— Ja, wenn auch die CDU/CSU heute für die Einbeziehung der Schwerbehinderten in das Schwerbeschädigtenrecht ist, so darf man doch nicht vergessen, daß die CDU/CSU zwanzig Jahre lang gegen diese Einbeziehung gekämpft hat.
Das stimmt nicht? - Ich kann es Ihnen beweisen, und zwar an unzähligen Protokollen des früheren Kriegsopferausschusses.Wenn hier darauf hingewiesen worden ist, daß die CDU/CSU besonderen Anteil an der Weichenstellung im Arbeitsförderungsgesetz hat, so darf ich doch bescheiden daran erinnern, daß diese Änderung nur möglich gewesen ist, weil die Sozialdemokraten im Ausschuß für Arbeit damals einen zusätzlichen Unterabschnitt für Rehabilition beantragt haben, der in der Regierungsvorlage von Herrn Katzer nicht enthalten war, sondern den wir erst während der weiteren Gesetzgebungsarbeit hineingebracht haben. So ist doch die Tatsache.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Burger?
Bitte schön!
Herr Kollege Glombig, sind Sie in der Lage, diese ungeheure Behauptung zu beweisen, und sind Sie sich darüber im klaren, daß in einer Situation, in der alle Kräfte gemeinsam für die Eingliederung der Behinderten eintreten wollen, eine solche ungeheure Behauptung dieses gemeinsame Bestreben entsetzlich stört?
Herr Kollege Burger, daß Sie das entsetzlich stört, tut mir sehr leid, aber ich kann es leider nicht ändern, weil ich hier nichts anderes tue, als eine historische Wahrheit in Ihre Erinnerung zu bringen. Ich darf hinzufügen, damit Sie das beruhigt: ich bin sehr dankbar dafür, daß Sie seit einigen Jahren diese unsere Forderung unterstützen und diesen Weg mit uns zusammen gehen wollen. Aber der Unterton in den Ausführungen des Kollegen Maucher ist doch nicht zu überhören gewesen. Er sagte: Die Überwindung der Kausalität darf nicht zum Schaden der sogenannten „echten" Schwerbeschädigten führen. — Meine Damen und Herren, Sie wird nicht zum Schaden der „echten" Schwerbeschädigten führen, sondern nur das Unrecht, das 25 Jahre lang bestand, beseitigen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Bitte!
Herr Kollege Glombig, ich glaube, die Diskussionen der letzten Jahre haben gezeigt, daß die volle Eingliederung der Behinderten — wenn ich das als Vorbemerkung sagen darf — ein jahrzehntelanges Bemühen und Anstrengen erfordert. Sind Sie sich darüber im klaren, daß die volle konsequente Gleichbehandlung aller Schwerbehinderten noch weitere ungeheure Anstrengungen für den Gesetzgeber erfordert und daß auch Sie jetzt —
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2875
Burgerich erinnere an unseren Antrag für ein Leistungsgesetz für Behinderte — diese Anstrengungen nur in Stufen werden vollziehen können?
Ich gebe Ihnen zu: wir können diese Entwicklung jetzt leider nur noch in Stufen fördern, weil Sie Weichen im gegliederten System der Rehabilitation gestellt haben, die wir nun nicht einfach mehr überspielen können. Wir können nicht mehr so tun, als wären auf diesem Gebiet nicht vollendete Tatsachen geschaffen worden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Maucher?
Herr Kollege Glombig, würden Sie mir die Namen und die Anträge sagen können, die bei der Änderung des Schwerbeschädigtengesetzes Anfang der 60er Jahre von der Sozialdemokratie gestellt worden sind?
Ich kann Sie daran erinnern, daß seit dem. Jahre 1963 von mir im Ausschuß die Einbeziehung der Schwerbehinderten in den Schwerbeschädigtenschutz immer wieder gefordert und von Ihnen abgelehnt worden ist.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Herr Abgeordneter? — Bitte!
Herr Kollege Glombig, würden Sie mir freundlicherweise bestätigen, daß das damals Ihre persönliche Auffassung war und Ihre Fraktion Ihnen damals nicht gefolgt ist?
Nein, das war auch die Auffassung meiner Fraktion; denn ich habe diese Anregung im Namen meiner Fraktion im Ausschuß immer wieder gemacht. Sie ist immer abgelehnt worden.
— Ich glaube, wir sollten jetzt fortfahren; Privatgespräche werden nach dieser Plenarsitzung sicher noch geführt werden können.
— Das glauben Sie doch nur! Sie wissen von diesen Vorgängen so gut wie gar nichts.
Da würde ich mich etwas zurückhalten.
Die Ausweitung des anspruchsberechtigten Personenkreises auf alle Behinderten — unabhängig von der Ursache der Behinderung — verdient auch wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung für unser gesamtes System der sozialen Sicherung, also über den Rahmen des Schwerbeschädigtenrechts hinaus, größte Beachtung. Es wird im Schwerbeschädigtenrecht ein entschlossener Schritt weg vom Kausalitätsprinzip, hin zum Finalitätsprinzip getan, der entsprechende Auswirkungen auf die anderen Bereiche unseres Systems der sozialen Sicherung haben wird. Das wird gerade von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion besonders begrüßt. Wir sind der Meinung, daß alle Menschen, die der Hilfe bedürfen, ein unabdingbares Recht auf die Hilfe der Allgemeinheit haben. Die soziale Hilfe darf für denjenigen nicht dürftiger ausfallen, der durch sein persönliches Schicksal hart betroffen ist, ohne die Allgemeinheit oder irgendeinen anderen für sein Schick- sal verantwortlich machen zu können. Wir sind der Meinung, daß sich eine Gesellschaft wie die unsere das Kausalitätsprinzip außerhalb von Versorgung oder Versicherung bestimmter Personenkreise moralisch nicht mehr leisten darf; denn die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich zuerst daran, wie sie die Alten, Behinderten, Kranken und Schwachen behandelt.Neben der Ausdehnung des Schutzes des Gesetzes auf alle Behinderten steht die Verbesserung der bisherigen Hilfen des Schwerbeschädigtengesetzes. Bisher stand die Erlangung und Erhaltung des Arbeitsplatzes im Vordergrund. Diese Aufgabe ist im wesentlichen gelöst worden.Nicht gelöst worden ist mit dem bisherigen Schwerbeschädigtengesetz aber die Frage einer angemessenen beruflichen Stellung der Behinderten. Die berufliche Situation des Schwerbehinderten ist nämlich keineswegs so, daß mit seiner „Unterbringung", wie es im Gesetz heißt, im Arbeitsleben alle Probleme gelöst sind. Im Gegenteil! Wie eine von der Bundesanstalt für Arbeit durchgeführte Repräsentativerhebung aus dem Jahre 1970 ausweist, wird ein Drittel aller Behinderten nicht ausbildungsadäquat beschäftigt. Das ist ein wesentlich höherer Prozentsatz als bei den nichtbehinderten Erwerbspersonen. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß die Behinderten im Erwerbsleben stark benachteiligt sind, so daß von einer Chancengleichheit im Beruf nicht gesprochen werden kann.Bei dem neuen Schwerbehindertengesetz geht es — über den bisherigen Rahmen hinaus — insbesondere um die wirksame Anwendung des § 12, wodurch dem Behinderten im Betrieb die Gelegenheit gegeben werden soll, seine Kenntnisse und Fähigkeiten voll zu entfalten. Der Behinderte soll künftig in seinem beruflichen Fortkommen gefördert werden. Hier liegen vor allem die neuen Aufgaben eines modernen Gesetzes zur Sicherung der Rehabilitation.Die Zielsetzungen des Gesetzentwurfes werden von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion grundsätzlich bejaht. Hierzu gehören die Neuordnung der Beschäftigungspflicht, der Ausgleichsabgabepflicht, des Ausgleichsfonds und die Einsetzung eines Beirates für Rehabilitation beim Bundesarbeitsministerium.Besonders herausstellen möchte ich die Einbeziehung des öffentlichen Dienstes in die Ausgleichsabgabepflicht. Die Hoffnungen und Erwartungen des Gesetzgebers der Jahre 1953 und 1961 haben sich nicht erfüllt. Nicht überall ist der öffentliche Arbeitgeber seiner Verpflichtung zur Beschäftigung Schwerbehinderter beispielhaft nachgekommen. Dies ist aus den Übersichten der Bundesregierung über
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2876 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Glombigden Beschäftigungsstand in der Bundesverwaltung deutlich zu ersehen. Die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung in Frankfurt, die sich insbesondere um die Vermittlung schwerbehinderter Akademiker zu bemühen hat, kann ein Lied davon singen, wie erfolglos oft Bittgänge zu Personalverwaltungen des öffentlichen Dienstes sind, um beispielsweise einen blinden Juristen unterzubringen. Ohne das Druckmittel der Ausgleichsabgabe und ohne die Möglichkeit zur Zwangseinstellung ist die Arbeitsverwaltung gegenüber dem einstellungsunwilligen öffentlichen Arbeitgeber machtlos. Meine Damen und Herren, das muß anders werden. Die Einführung der Ausgleichsabgabe auch für den öffentlichen Dienst erscheint ein taugliches Mittel, um den Beschäftigungsstand Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst zu verbessern. Die Ausgleichsabgabe ist kein sinnloser Geldkreislauf, wie manche meinen, sondern sie erscheint durchaus geeignet, die Personalverwaltungen zur Erfüllung ihrer Beschäftigungspflicht nachhaltig anzuhalten.Ich möchte ferner als besonders positiv herausgreifen, daß es künftig weder für bestimmte Branchen und Betriebe noch für bestimmte öffentliche Arbeitgeber Ausnahmen von der Pflicht, Schwerbehinderte zu beschäftigen oder eine Ausgleichsabgabe zu entrichten, wenn sie keine Schwerbehinderten beschäftigen, geben soll. Auch der Umfang der Beschäftigungspflicht wird mit Recht für alle Arbeitgeber — ob private oder öffentliche — gleich sein.Ich bin der Überzeugung, daß gerade mit dieser Regelung der Grundsatz der Solidarität aller Arbeitgeber zugunsten der Schwerbehinderten zum Ausdruck kommt.Wir begrüßen die Verdoppelung der bereits 1953 auf 50 DM festgesetzten Ausgleichsabgabe und hoffen, daß auch diese Maßnahme ein Beitrag dazu sein wird, die nachgehende Hilfe für den einzelnen Schwerbehinderten sowie Zahl und Qualität der Rehabilitationseinrichtungen zu verbessern.Es ist auch zu begrüßen, daß die Werkstätten für Behinderte und die Blindenwerkstätten eine besondere Förderung dadurch erhalten sollen, daß Arbeitgeber anstelle der Zahlung der Ausgleichsabgabe . diesen Werkstätten Aufträge erteilen können. Über die Definition der Werkstätten für Behinderte müssen wir im Ausschuß noch ernsthaft sprechen, weil ich der Meinung bin, daß auch die Schwächsten bei dieser Neuregelung nicht unter die Räder kommen dürfen.Beim Anerkennungsverfahren für die Werkstätten für Behinderte sollte der beratende Ausschuß bei der Hauptstelle der Bundesanstalt für Arbeit mitwirken, um auf die Verwirklichung einer vernünftigen Werkstattkonzeption zu achten. Ich bin auch der Auffassung, daß der beratende Ausschuß bei der Hauptstelle der Bundesanstalt für Arbeit nicht sang-und klanglos wegfallen darf. Er muß und er wird erhalten bleiben. Auf der anderen Seite aber ist es berechtigt, die beratenden Ausschüsse bei den Landesarbeitsämtern nicht wieder entstehen zu lassen; sie haben sich nicht bewährt.Neben dem verbesserten Kündigungsschutz, der die Schwerbehinderten vor sozialen Härten bewahren soll, ist, wie gesagt, die nachgehende Hilfe am Arbeitsplatz oder im Arbeitsleben von besonderer Wichtigkeit. Hier haben die Hauptfürsorgestellen eine ganz besondere Aufgabe. Zur wirksamen Wahrnehmung dieser neuen Aufgabe sollten die bisherigen Beiräte bei den Hauptfürsorgestellen durch neue ersetzt und ihnen beratend zur Seite gestellt werden. Diese neuen Beiräte müßten in ihrer Zusammensetzung auf den neuen schutzberechtigten Personenkreis und auf die neuen Aufgaben Rücksicht nehmen.Lassen Sie mich zum Schluß, meine Damen und Herren, noch auf zwei wichtige Dinge eingehen.Das ist einmal das Ausweis- und Vergünstigungswesen. Wir hätten es gern gesehen, wenn das Ausweis- und Vergünstigungswesen gründlich durchforstet und mit diesem Gesetzentwurf nach den Grundsätzen der Finalität und unter Berücksichtigung von Art und Schwere der Behinderung geändert worden wäre. Denn es geht nicht an, daß auch nach Inkrafttreten dieser Reform des Schwerbeschädigtenrechts für unabsehbare Zeit das Ausweis- und Vergünstigungswesen weiterhin nach einer Vielzahl von nicht aufeinander abgestimmten Vorschriften geregelt ist. Vor allem aber geht es nicht an, daß das Ausweis-und Vergünstigungswesen weiterhin nach der Ursache der Behinderung — und oftmals der Art der Behinderung nicht angemessen — ausgerichtet ist. Die Neuregelung des Ausweis- und Vergünstigungswesens ist indessen so kompliziert, daß sie ohne wesentliche und nicht zu verantwortende Verzögerung nicht mehr im Rahmen dieser Gesetzesnovellierung erfolgen kann. Hier liegt noch eine große Aufgabe vor uns. Ich möchte die Bundesregierung ermuntern, sie zügig in Angriff zu nehmen. Um ihr diese Aufgabe zu erleichtern, werden wir überlegen müssen, ob nicht in den vorliegenden Gesetzentwurf eine Bestimmung eingefügt werden sollte, die die Grundsätze der Neuordnung des Ausweiswesens fixiert.Der andere Punkt, den ich noch ansprechen möchte, betrifft die Einführung einer Behinderten-Statistik. Der Bundesrat fordert, daß eine solche Statistik durch den vorliegenden Gesetzentwurf eingeführt wird. Ich begrüße es, daß sich. die Bundesregierung im Prinzip diesem Wunsche angeschlossen hat. Wir werden diesen Vorschlag auf seine Zweckmäßigkeit hin prüfen.Zum Schluß noch ein Wort zu den übrigen Rehabilitationsgesetzen, die in eine gewisse Beziehung gesetzt werden müssen zum Schwerbeschädigtengesetz. Ich meine, realistische Einzelschritte zur Verbesserung der Situation der Behinderten erscheinen erfolgversprechender als ein umfassendes Behindertengesetz, wie es die CDU/CSU anzustreben vorgibt. Denn die CDU/CSU weiß genau, daß das vor allem von ihr zu verantwortende gegliederte System — ich wiederhole es — in der Rehabilitation nicht einfach zu überwinden ist. Deshalb müssen wir diese Einzelschritte gehen, um am Ende der Beratungen dieses Gesetzes, der Dritten Novelle zum Bundessozialhilfegesetz, des Rehabilitationsangleichungsgesetzes und des von der Bundesregierung angekündigten Gesetzentwurfs über die Neuregelung der Sozialversicherung für die Behinder-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2877
Glombigten feststellen zu können, welche Lücken noch geschlossen werden müssen.Alle Fraktionen sollten durch schnelle Beratung des Gesetzentwurfs
— ja, auch die — dazu beitragen, daß die dringend notwendigen Verbesserungen bald in Kraft treten können. Die bislang Benachteiligten werden, meine Damen und Herren — wie der Bundeskanzler in Bethel zum Ausdruck brachte —, unsere in Festtagsreden gepriesene Demokratie und Solidarität daran messen, was wir für die Behinderten in diesem Lande tun.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hölscher.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 heißt es:In dieser Legislaturperiode werden wir uns noch mehr d e n Menschen zuwenden, die durch persönliches Schicksal am Rande der Gesellschaft leben.Wir Freien Demokraten hoffen, daß es bald nicht mehr notwendig sein wird — wenigstens im Zusammenhang mit den Behinderten —, so zu sprechen.Das Aktionsprogramm der Bundesregierung aus dem Jahre 1970 hat die Grundlagen für eine Politik geschaffen, die in der nächsten Zeit dafür sorgen wird, daß, wie es dort heißt,die Mängel im Bereich ,der Rehabilitation beseitigt und allen Behinderten die Möglichkeit gegeben wird, ihre Chancen in Beruf und Gesellschaft wahrzunehmen.Ich meine, nicht mit Verdrängung, nicht mit Mitleid ist den Behinderten geholfen, sondern mit der Anerkennung und der Realisierung ihrer berechtigten Ansprüche, der Ansprüche, ,die nicht nur ihre materielle Sicherheit garantieren sollen, sondern die die Schwerbehinderten in die Lage versetzen, als Mitglieder unserer Gesellschaft voll anerkannt und akzeptiert zu werden, indem sie z. B. einen Arbeitsplatz finden, der ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht.Diesem Ziel dient nicht nur der heute vorliegende Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts, sondern auch das bekanntlich in Vorbereitung befindliche Gesetz über die Angleichung der Rehabilitationsleistungen.Die mit dem neuen Schwerbeschädigtengesetz beabsichtigte Erweiterung des geschützten Personenkreises wird von uns voll unterstützt. Wenn in Zukunft nicht mehr nach den Ursachen einer Behinderung gefragt wird, sondern wenn alle Behinderten, die zu mehr als 50 % erwerbsgemindert sind, und dazu die Gleichgestellten mit über 30 % den Schutz dieses Gesetzes bekommen, so ist das nicht mehr als recht.Zwar ist niemandem der Vorwurf zu machen — das möchte ich für meine Person sagen —, daß ein solches Gesetz nach dem Kriege zunächst nur für die Kriegsopfer geschaffen wurde; doch versteht heute z. B. ein durch einen Verkehrsunfall Schwerbeschädigter wohl kaum noch, warum sein Fall anders behandelt wird als der eines durch Krieg oder Arbeitsunfall Behinderten.Auch die Neuregelung der Beschäftigungspflicht wird von uns in ihren Grundzügen gebilligt. Wir werden im Zuge der Ausschußberatungen sicher noch die eine oder die andere nützliche Anregung prüfen. Die einheitliche Regelung von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe ist in sich absolut konsequent. Sie führt nicht nur zur Vereinfachung des Veranlagungs- und Einzugsverfahrens, sondern beseitigt auch Ungerechtigkeiten, die bei der Anwendung des bisherigen Systems auf der Arbeitgeberseite nicht auszuschließen waren. Dennoch ist die Neuregelung, so meine ich, flexibel genug, indem sie z. B. auf die besondere Situation der Kleinbetriebe Rücksicht nimmt. Auch darüber, ob die Grenze der Beschäftigtenzahl hier richtig gezogen ist, werden wir sicher noch einmal reden. Trotz einheitlichen Systems ist aber auch die notwendige Flexibilität beim Prozentsatz der in den Unternehmen zu Beschäftigenden gewahrt, da die Quote ja jeweils dem Bedarf an Arbeitsplätzen angepaßt werden soll. Der Vorschlag des Bundesrates in diesem Zusammenhang, eine Behinderten- und Rehabilitationsstatistik vorzusehen, ist dabei ausnahmsweise einmal eine ausgeprochen gute Anregung.Gestatten Sie mir aber auch noch eine persönliche Anmerkung zur Ausgleichsabgabe. Eigentlich sollte ja die Einstellung von Behinderten der Regelfall sein. Wir wissen, daß das in der Praxis leider nicht so ist, und zwar nicht nur deshalb, weil manche Unternehmen die geeigneten Arbeitsplätze nicht zur Verfügung stellen können, sondern auch deshalb, weil manchmal die Bereitschaft dazu fehlt, durch die Einstellung — also nicht durch die Ausgleichsabgabe — einen Beitrag zur Eingliederung von Behinderten zu leisten.Das geschieht nicht nur, wie wir wissen, bei privaten Arbeitgebern, sondern leider auch im öffentlichen Bereich, wo bisher nicht immer alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, Schwerbehinderten einen Arbeitsplatz zu geben. Ein Schwerbehinderter muß aber auch eine echte Chance haben, im öffentlichen Bereich eine Stellung zu finden. Wenn es zutrifft — und die Erfahrungen mit dem bisherigen Gesetz lassen diesen Schluß zu —, daß mit der Erhebung einer Ausgleichsabgabe auch im öffentlichen Bereich eine größere Zahl von Beschäftigungsstellen geschaffen werden kann, dann müssen wir zu diesem Mittel greifen. Diese unabdingbare Ausgleichsabgabe, dieser einheitliche Pflichtsatz, reduziert den Verwaltungsaufwand und kommt vor allem — das muß noch einmal unterstrichen werden —, gleich, ob aus privatwirtschaftlicher oder öffentlicher Hand, direkt wieder den Behinderten zugute.Wenn außerdem der Anreiz gegeben ist, den Werkstätten für Behinderte Aufträge zu erteilen, weil ein Teil des Rechnungsbetrages auf die Aus-
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Hölschergleichsabgabe verrechnet werden kann, so ist auch dies eine gute Regelung, die sicher dazu führen wird, die Existenz der vorhandenen und vor allem der noch zu schaffenden Werkstätten zu erleichtern.Daß in Zukunft auch Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden sollen, meine Damen und Herren, versteht sich von selbst. Ich muß sagen, als jemand, der sich zunächst einmal neu in diese Materie einarbeiten mußte, bin ich doch sehr überrascht - ich gestehe es offen —, daß es das in der Vergangenheit nicht gegeben hat. Denn wie soll ein Schwerbehinderter einen seinen Neigungen, seinen Interessen entsprechenden Arbeitsplatz finden, wenn er nicht bereits als Jugendlicher im Rahmen eines solchen Gesetzes die Möglichkeit zur Ausbildung im Unternehmen hat?Wenn es für die jungen Schwerbehinderten darum geht, durch Ausbildung einen qualifizierten Arbeitsplatz zu bekommen, so geht es bei den älteren Menschen, die ihre Gesundheit durch ein hartes Leben verschlissen haben, darum, den Arbeitsplatz zu erhalten. Herr Minister Arendt hat dazu bereits ausführlich Stellung genommen, auch zum verbesserten Kündigungsschutz, den gerade auch die älteren Arbeitnehmer dringend brauchen. Seinen Ausführungen ist voll beizustimmen.Wir werden — ich darf noch einmal das unterstreichen, was auch Kollege Glombig zum Schluß sagte — dies nicht aus dem Auge verlieren dürfen, wenn wir eine Gleichstellung wirklich in allen Bereichen, auch in denen, die im Augenblick durch dieses Gesetz noch nicht erfaßt sind, verwirklichen wollen. Dazu gehört nicht zuletzt auch das Ausweis-und Vergünstigungswesen. Bei gleicher Erwerbsminderung müssen z. B. auch die gleichen Fahrverbilligungen zugestanden werden, unabhängig von der Ursache der Behinderung. Ich hoffe, daß wir bald in der Lage sein werden, auch hier eine Angleichung vorzunehmen.Ich darf zum Schluß, meine Damen und Herren, für uns Freie Demokraten noch einmal wiederholen: Wir sind sicher, daß die Verwirklichung des .Aktionsprogramms der Bundesregierung und — als wesentlicher Bestandteil hiervon — der heute vorgelegte Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich alle Behinderten in Zukunft als voll anerkannte Mitglieder unserer Gesellschaft fühlen können. Wir werden uns für eine zügige Beratung in den Ausschüssen einsetzen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hürland.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Glombig, der Sie uns den Beweis dafür schuldig geblieben sind, daß die Rehabilitation auf dem Boden der SPD gewachsen ist, bin ich in der Lage, Ihnen zu beweisen, daß hohe Reden über Rehabilitation hier im Hause und die Praxis draußen zwei ganz verschiedene Dinge sind.
Ausführungen zur Rehabilitation in Regierungserklärungen und Zeitungsartikel lösen das Problem nicht.
Ich habe mich gefreut, Herr Minister Arendt, daß Sie besonders den Problemkreis der älteren Arbeitnehmer angesprochen haben, daß Sie sagen, daß in Ihrer Planung eine besondere Förderung der Behindertenwerkstätten erfolgen wird. Ich frage Sie: Wie vereinbart sich dieses Reden hier im Hause mit der Tatsache, daß sämtlichen Arbeitern der Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur in Dortmund, in Essen und in Gelsenkirchen zum 31. Dezember gekündigt worden ist?
Die Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur wurde im Zuge der Neuordnung des Arbeitsförderungsgesetzes gegründet. Es sollte Arbeitnehmern, die ihr Selbstvertrauen verloren hatten, in einjährigen Lehrgängen möglich machen, wieder fit für Arbeitsplätze zu werden. Ich würde es begrüßen, wenn Sie diesen Dingen einmal nachgehen wollten.
Die Aussprache ist geschlossen.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen die Überweisung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mitberatend — sowie den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung vor. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die laufende Anpassung der Altersgelder in der Altershilfe für Landwirte
— Drucksache 7/934 —
Das Wort zur Begründung hat der Herr Bundesminister Arendt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Namen der Bundesregierung möchte ich Ihnen jetzt den Entwurf eines Gesetzes über die laufende Anpassung der Altersgelder in der Altershilfe für Landwirte erläutern. Vor knapp einem Jahr sind bereits bedeutsame Verbesserungen für die Unterstützung und soziale Absicherung des Strukturwandels in der Landwirtschaft eingeführt worden. Die Bundesregierung hat schon damals ihren Wunsch zum Ausdruck gebracht, sobald wie möglich auch im Bereich der landwirtschaftlichen Altershilfe wie in anderen Sozialleistungsbereichen die Dynamisierung der Altersgelder zu verwirklichen. Die finanziellen Voraussetzungen dafür sind inzwischen geschaffen worden. Somit kann dieser Schritt jetzt getan werden, und es kann sichergestellt werden,
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Bundesminister Arendtdaß auch die ehemaligen Landwirte zukünftig an dem allgemeinen wirtschaftlichen Fortschritt teilhaben.Nach dem Entwurf sollen die Altersgelder für Landwirte zunächst mit Wirkung vom 1. Januar 1974 von jetzt 240 DM auf 264 DM für Verheiratete und von 160 DM auf 176 DM für Unverheiratete erhöht werden. Von diesem erhöhten Betrag ausgehend sollen die Altersgelder dann von 1975 an alljährlich durch Gesetz der wirtschaftlichen Entwicklung .angepaßt werden. Dabei sollen die Altersgelder der Landwirte jährlich im gleichen Ausmaß angehoben werden wie die Renten der gesetzlichen Rentenversicherungen. Die Landwirte können daher schon heute davon ausgehen, daß ihre Altersgelder nach der Erhöhung im Jahre 1974 für 1975 um mehr als 11 % erhöht werden.Die Landabgaberente soll ebenfalls an der Erhöhung und Dynamisierung des Altersgeldes teilnehmen und demnach vom 1. Januar 1974 an 439 DM für Verheiratete und 291 DM für Unverheiratetebetragen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf einen anderen Punkt des Gesetzentwurfs eingehen, nämlich auf die vorgesehene Staffelung der Altersgelder nach der Dauer der Beitragszahlung. Bisher gibt es in der Altershilfe für Landwirte nur eine Einheitsleistung für Verheiratete und Unverheiratete, die grundsätzlich eine Beitragszahlung von mindestens 15 Jahren voraussetzt. Da die Altershilfe für Landwirte Ende des Jahres 1957 eingeführt worden ist, wird es erstmalig gegen Ende dieses Jahres Beitragszahler geben, die mehr als 15 volle Jahre Beiträge entrichtet haben. Es entspricht den Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit, daß die über die gesetzliche Wartezeit hinausgehenden Beitragszeiten honoriert werden. Deshalb soll für jedes über 15 Jahre hinausgehende volle Beitragsjahr das Altersgeld um 3 % erhöht werden, so daß nach insgesamt 30 Beitragsjahren eine Steigerung des Altersgeldes um fast die Hälfte eintritt.Meine Damen und Herren, es liegt auf der Hand, daß die soeben dargestellte Dynamisierung und die Staffelung des Altersgeldes nicht unerhebliche Kosten verursachen. Unter Berücksichtigung der weiter fortschreitenden Strukturveränderung im Bereich der Landwirtschaft müssen jedoch Maßnahmen getroffen werden, die einen sozialen Ausgleich für eine solche Entwicklung darstellen. Mit anderen Worten: die Durchsetzung einer als notwendig erkannten strukturpolitischen Zielvorstellung muß sozialpolitisch abgesichert sein. Gelingt eine solchi Absicherung, so müßten von ihr wieder neue Impulse zur Erreichung der strukturpolitisch erwünschten Veränderungen ausgehen. Um eine solche Entwicklung abzustützen, ist in dem Ihnen vorliegenden Entwurf eine Finanzierungsregelung getroffen, die den Bund nunmehr verpflichtet, in der Zukunft den für das Jahr 1973 bereitgestellten Bundeszuschuß jedes Jahr in dem Verhältnis aufzustocken, in dem die Gesamtausgaben für das Altersgeld steigen; das bedeutet praktisch die gesetzliche Garantie eines dynamisierten Bundeszuschusses.Bereits im Jahre 1971 haben wir mit dem agrarsozialen Ergänzungsgesetz die Zuschußgewährung zur Nachentrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung eingeführt. Dadurch soll Landwirten und ehemaligen Landwirten, die Arbeitnehmer sind oder werden, der Übergang in die Rentenversicherung erleichtert werden. Diese Einrichtung, mit der eine wechselseitige Ergänzung sozialpolitischer und agarpolitischer Zielsetzung in beispielhafter Form erreicht werden kann, soll nach den Vorstellungen der Bundesregierung weiter ausgebaut und deshalb die Inanspruchnahme der Zuschußgewährung erleichtert werden.Die Leistungen nach dem Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte sind inzwischen zu einem festen Bestandteil unserer Agrarsozialordnung geworden. Diese Bundesregierung hat ständig am Ausbau dieser Einrichtung gearbeitet und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf über die laufende Anpassung der Altersgelder einen weiteren bedeutsamen Beitrag dazu geleistet. Sie bleibt auch weiterhin darum bemüht, die soziale Sicherung der in der Landwirtschaft Tätigen zu verbessern. Die Bundesregierung erfüllt damit ihr Versprechen aus der Regierungserklärung, sich besonders derer anzunehmen, die durch den raschen Wandel in unserer Gesellschaft Gefahr laufen, ins Hintertreffen zu geraten.
Ich danke für die Begründung des Gesetzentwurfs.
Die Fraktionen haben sich auf Erklärungen geeinigt. Das Wort zu einer Erklärung hat der Herr Abgeordnete Wolf.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Namen der SPD-Fraktion gebe ich folgende Erklärung ab.
Die Bundesregierung setzt mit dem Regierungsentwurf über die laufende Anpassung der Altersgelder in der Altershilfe für Landwirte konsequent ihren eingeschlagenen Weg zu mehr sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit fort, und sie stellt erneut unter Beweis, daß die Agrarsozialpolitik ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer Agrarpolitik ist.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt diesen Entwurf und betrachtet ihn als einen wesentlichen Beitrag auf dem Weg zur Vollendung des sozialen Schutzsystems für Landwirte. Uns erfüllt diese Regierungsvorlage mit Genugtuung auch deshalb, weil hiermit für einen großen Bevölkerungskreis überkommene Unzulänglichkeiten beseitigt und soziale Lücken geschlossen werden. Wir begrüßen die beabsichtigte Einführung der jähr- lichen Anpassung von Landabgaberente und Altersgeld an die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse und dazu die Staffelung des Altersgeldes nach Beitragsjahren sowie eine darauf abgestimmte Regelung der Finanzierung.
In die nun seit einiger Zeit um diesen Vorgang der Anpassung geführte öffentliche Diskussion hat sich ein Fremdwort eingenistet, das vielleicht weni-
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Wolf
ger exakt, aber mehr als geeignet ist, die fortschreitende Bewegung in der Sozialpolitik begrifflich darzustellen. Wir sagen heute — und jedermann weiß, was gemeint ist —: Altersgeld und Landabgaberente werden dynamisiert.
Dynamisch, wie sich die Opposition in der Aufstellung von Forderungen gibt, deren finanzielle Auswirkungen sie nicht zu vertreten hat, wird die CDU/CSU-Fraktion diesem Gesetzentwurf ihre Zustimmung sicherlich nicht versagen. Wenn ich es recht im Ohr habe, hat auch die Opposition im letzten Bundestagswahlkampf die Dynamisierung der Sozialleistungen im landwirtschaftlichen Bereich gefordert, zumindest aber eine ganz bestimmte Gruppe von Oppositionswahlkämpfern, während der zahlenmäßig weitaus stärkere Mannschaftsteil seinerzeit durch Stadt und Land zog, um den von uns eingeschlagenen und weiter auszubauenden Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit in Mißkredit und Zweifel zu bringen versuchte.
Aber, meine Damen -und Herren, oppositioneller Kleingläubigkeit zum Trotz liegt nun das vor, was die Bundesregierung bei der letzten Novellierung des Altershilfegesetzes zugesagt und Bundeskanzler Brandt in seiner Regierungserklärung am 18. Januar mit dem Hinweis auf eine stärkere Betonung der Agrarsozialpolitik zur Vermeidung sozialer Härten in diesem Berufsstand erneut bekräftigt hat: die Dynamisierung der Sozialleistungen mit dem Ziel, die in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung teilnehmen zu lassen. Wir Sozialdemokraten waren von Anfang an davon überzeugt, daß diese Verbesserung im agrarsozialen Bereich geschafft werden muß und geschafft werden kann, und deshalb nehmen wir mit Befriedigung den vorgelegten Entwurf mit in die weiteren Beratungen. Wir sehen es als großen Erfolg an, daß sich die bisherigen zwar häufigen, aber unregelmäßigen Anhebungen des Altersgeldes in Zukunft jährlich durch Gesetz verwirklichen lassen.
Wir sehen auch unsere Forderung nach Staffelung des Altersgeldes nach Beitragsjahren damit erfüllt, daß jedes über 15 Jahre hinausgehende Beitragsjahr zu einer Steigerung, des Altersgeldes um 3 % führt. Es ist zu erwarten, daß die Vorschriften für die Zuschußgewährung zur Nachentrichtung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung mit der geplanten Ausgestaltung zu einer stärkeren Inanspruchnahme führen wird. Es ist auch zu begrüßen, daß mit dieser Maßnahme der Übergang von landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit zur Arbeitnehmertätigkeit erleichtert wird. Wir sind davon überzeugt, daß der Ersatztatbestand, nach dem die Hofabgabe durch eine unwiderrufliche Ermächtigung zur Landveräußerung und Landverpachtung ersetzt werden kann, Härtefälle bei der Gewährung von Altersgeld in Zukunft vermeiden wird.
Das vorgesehene Gesetz wird sicherlich nicht billig sein. Aber nicht Länder und Gemeinden werden dadurch belastet, sondern der Bund. Die Mehraufwendungen, die bei der Altershilfe im Jahre 1974 bereits 98 Millionen DM betragen und auf 490 Millionen DM 1977 anwachsen werden — bei der Landabgaberente ist es weniger, aber immerhin genug: 9 Millionen
1974, 45 Millionen DM 1977 —, sind im Finanzplan des Bundes berücksichtigt. Es wird also nichts beschlossen, was später wegen Liquiditätsschwierigkeiten wieder einkassiert werden müßte. Wir sind davon überzeugt, daß das alles von der Landwirtschaft anerkannt und gebührend gewürdigt wird. Von Dynamisierung zu reden, ist sicher leicht. Viel schwerer dagegen ist es, die Fortschreibung der sozialen Sicherung auf solider finanzieller Grundlage zu beschließen.
Am Rande sei vielleicht noch vermerkt — aber das ist sicherlich nicht weniger wichtig —, daß die zu beschließende Maßnahme keine preistreibende Wirkung haben wird. Die stattlichen, in die Milliarden gehenden Mehrausgaben, die sich der Bund in den nächsten Jahren auflädt, werden überwiegend zur Deckung der Lebenshaltungskosten älterer ehemaliger Landwirte verwendet. Auswirkungen auf einzelrie Preise und das Verbraucherpreisniveau sind aber nach der schlüssigen Darstellung der Regierung nicht zu erwarten.
Abschließend, meine Damen und Herren, darf ich für meine Fraktion erklären, daß wir diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung begrüßen, weil er zielstrebig und systematisch den 1969 eingeschlagenen Weg zum Ausbau der sozialen Sicherung auch in der Landwirtschaft fortsetzt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Horstmeier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Opposition begrüßt den vorliegenden Entwurf der Bundesregierung für ein Siebentes Änderungsgesetz zur Altershilfe für Landwirte, da er eine Anhebung des Altersgeldes um 10 % zum 1. Januar 1974 vorsieht. Ab 1. Januar 1975 ist die Bundesregierung dann gehalten, die Leistungen jährlich anzupassen. Das gleiche gilt auch für die Landabgaberente. Wir sind über diese Regelung deshalb so froh, weil es dann nicht mehr vorkommen kann, daß die Altershilfe in einem Zeitraum von vier Jahren, wie es von 1969 bis 1973 geschehen ist, nur einmal angepaßt wird. Die Renten wurden von 1969 bis 1973 — und dies mit vollem Recht — fünfmal angepaßt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gallus?
Gern.
Herr Kollege, können Sie dem Hause sagen, in welchen Zeitabständen früher seit Bestehen des GAL Anhebungen erfolgt sind?
Herr Kollege Gallus, ich hatte eigentlich gedacht, Sie hätten die Vergängenheitsbewältigung hinter sich.
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HorstmeierIm Jahre 1958 haben wir mit 60 DM begonnen; im Jahre 1969 haben wir 175 DM pro Monat gezahlt. Während unserer Regierungszeit wurden die Leistungen also immerhin fast verdreifacht. Ich glaube, daß das ein ganz guter Ansporn für weitere Leistungssteigerungen sein sollte.
Es muß doch wohl festgestellt werden, daß die gewaltigen Steigerungen der Lebenshaltungskosten auch an den landwirtschaftlichen Altenteilern nicht vorbeigegangen sind. Die Folge war, daß die Hofleistungen für die Altenteiler laufend verbessert werden mußten. Für kleinere Betriebe war das wegen der zum Teil vorhandenen schlechten Wirtschaftslage oft nicht sehr leicht. Ich glaube, daß man dies hier eindeutig feststellen kann.Es wird den Ausschußberatungen vorbehalten bleiben müssen, die in dem Gesetzentwurf noch vorhandenen Unebenheiten zu glätten, wobei ich gerne zugeben will, daß diese Unebenheiten in erster Linie durch die Differenziertheit der Leistungsempfänger zustande kommen. Wir sollten versuchen, hier noch einiges zu tun.Die CDU/CSU-Fraktion beschränkt sich heute in der ersten Lesung darauf, drei Problemkreise oder wenn man so will, zentrale Punkte anzusprechen.Erstens. Über die Finanzierung hat eben auch schon der Herr Minister gesprochen. Die Finanzierung soll auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt werden. Danach beteiligt sich der Bund künftig lediglich an der Finanzierung der reinen Altersgeldaufwendungen, während die übrigen Leistungen für Wiederherstellung der Gesundheit, Betriebs-und Haushaltshilfe sowie Verwaltungskosten ausschließlich durch Beiträge gedeckt werden sollen. Ja, Herr Gallus, so steht es im Gesetzentwurf. Erfahrungsgemäß steigen aber die Aufwendungen für Rehabilitation und Verwaltung infolge der enormen Preis- und Kostensteigerungen stärker als die Altersgeldaufwendungen. Das hat logischerweise zur Folge, daß die Beiträge der Alterskassenmitglieder prozentual stärker angehoben werden müssen als die Bundeszuschüsse.Es kommt erschwerend hinzu, daß die Zahl der Beitragspflichtigen laufend zurückgeht. Wir haben heute noch 720 000 Beitragspflichtige. So steht es im Gesetzentwurf. Nach den Vorausberechnungen werden wir 1977 nur noch 660 000 Alterskassenmitglieder haben. Mithin müßte ein immer kleiner werdender Kreis von aktiven Landwirten einen immer größer werdenden Anteil an den Gesamtaufwendungen tragen. Es darf doch wohl einfach nicht sein, daß die Kosten für solche Leistungsteile wie Heilbehandlung und Verwaltung, die durch die Inflation sprunghaft gestiegen sind, ausschließlich und allein von der immer kleiner werdenden Zahl von Beitragszahlern getragen werden. Das macht die Opposition nicht mit!
Wir plädieren deshalb für eine Beibehaltung der augenblicklichen Rechtslage, die eine Beteiligung des Bundes an den Gesamtaufwendungen der landwirtschaftlichen Alterskassen vorsieht. An diesem Prinzip möchten wir nicht rütteln lassen.Der zweite Punkt, den ich hier ansprechen möchte, ist die Anpassungsbasis. Die Ausgangsbasis für eine jährliche Anpassung von 264 DM im Monat ist unseres Erachtens durch die zwischenzeitliche Entwicklung der Lebenshaltungskosten einfach überholt. Dies um so mehr, als ja auch die Staffelung der Leistungen nach 15 Jahren Beitragszeit nicht gerade hoch ausgefallen ist. Wir meinen, man sollte wenigstens von einer Grundleistung in Höhe von 300 DM im Monat ausgehen. Da neben der jetzt jährlichen Anpassung höchstwahrscheinlich eine Anhebung der Sockelleistungen nicht mehr in Frage kommen wird, sollte man zu diesem Zeitpunkt dafür Sorge tragen, daß wenigstens die Grundleistungen einigermaßen der Kostenentwicklung entsprechen.Weiter sollte überlegt werden, ob der im Entwurf vorgesehene Anpassungszeitpunkt, nämlich der 1. Januar eines jeden Jahres, nicht geändert werden muß. In diesem Hause ist bekannt, daß die Renten der RVO-Kassen neuerdings am 1. Juli eines jeden Jahres angepaßt werden müssen. Die Landwirte müßten dann wie heute noch die Kriegsopfer ein halbes Jahr länger auf eine Anpassung warten. Wir halten es nicht für sinnvoll, daß man zu einem Zeitpunkt, in dem man bemüht ist, gleiche Anpassungstermine für alle Leistungsempfänger zu bekommen, hier erneut einen Personenkreis hängen läßt.Drittens müßte eine Verbesserung des Witwenaltersgeldes möglich sein. Dies ist eine Forderung, die von den Verbänden schon lange erhoben worden ist. Nach der augenblicklichen Rechtslage kann die Witwe eines landwirtschaftlichen Unternehmers erst mit 60 Jahren Witwenaltersgeld erhalten. Dies führt in vielen Fällen zu außergewöhnlichen Härten. Deshalb müßte das Alterserfordernis für die Gewährung des Witwenaltersgeldes geändert werden. Man könnte sich dabei an den Regelungen der Unfallversicherung der RVO orientieren, die eine erheblich verbesserte Witwenrente ab 45 Jahren vorsehen. Denn es ist einfach nicht einzusehen, daß bei Verlust des Ehemanns durch Krankheit keine Hilfe erfolgt, hingegen bei einem Unfall mit tödlichem Ausgang eine Rente an die Witwe gezahlt wird.Der Hinweis in einigen Informationsdiensten, daß man hierbei auch das verwertbare landwirtschaftliche Vermögen sehen müsse, ist, glaube ich, unberechtigt. Einmal kann man das landwirtschaftliche Vermögen in den seltensten Fällen für Versorgungszwecke mobilisieren. Zum anderen wird die Vermögensfrage in keinem anderen Versorgungsbereich gestellt.Es wird sehr viel über die soziale Sicherung der Frau, vor allen Dingen der alleinstehenden Frau, gesprochen. Die Notwendigkeit dieser sozialen Sicherung möchte ich hier erneut unterstreichen. Aber man sollte dann doch zunächst einmal dafür sorgen, daß die Rechtslage dieses angesprochenen Personenkreises den anderen Bereichen angepaßt wird, wo eine Witwenrente schon jetzt üblich ist.Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist nach unserer Ansicht eine Fortset-
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Horstmeierzung der bisherigen Altershilfe auf der Grundlage bestimmter Hofleistungen, die ganz einfach hinzukommen müssen, weil sonst die Versorgung nicht gewährleistet ist. Die CDU/CSU begrüßt, daß diese Hilfen wie alle Renten jetzt jährlich angepaßt werden sollen. Das bedeutet eine erhebliche Verbesserung. Aber nach dem Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom 9. Februar 1971 — Bundestagsdrucksache VI/1812 — sollte die Altershilfe ja eigentlich nach einer Übergangszeit zu einer angemessenen Alterssicherung ausgebaut werden. Nun muß ich allerdings sagen, daß der Gesetzentwurf diesem Erfordernis noch nicht gerecht wird. Wir sind der Meinung, daß das, was Inhalt des erwähnten Schriftlichen Berichts ist, weiterhin gemeinsames Ziel von Opposition und Regierung bleiben sollte. Wir hoffen, die Regierungsvorlage in diesem Sinne verändern und verbessern zu können und vielleicht bei der nächsten Novelle dem Ziel einer angemessenen Alterssicherung näherzukommen.Lassen Sie mich noch eine Schlußbemerkung machen. In einer jetzt veröffentlichten Broschüre des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten über den Agrarbericht 1973 ist unter dem Obertitel „Sozialer Schutz rundum" davon die Rede, daß mit der Einführung der Krankenversicherung ein Schlußstein in das Gebäude der sozialen Sicherung für Landwirte eingebaut worden sei.
Meine Damen und Herren, es ist ein Stein eingebaut. Nach unserer Meinung haben wir, wenn man im Bilde bleiben will, zwar den Rohbau fertig, aber es müssen noch sehr viel Innenarbeiten geleistet werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herrera! Die Fraktion der FDP begrüßt den Gesetzentwurf der Bundesregierung über die laufende Anpassung der Altershilfe für Landwirte. Im Gegensatz zum Sprecher der Opposition möchte ich hier mit aller Entschiedenheit sagen, daß wir in diesem Gesetzentwurf einen ersten und entscheidenden Schritt — einen entscheidenden Schritt; ich betone dieses Wort — auf dem Wege von der Altershilfe zur Alterssicherung sehen.
Daß das nicht der letzte Schritt sein darf, wird auch von unserer Seite nicht bestritten. Ich halte es allerdings für ein müßiges Zahlenspiel, wenn hier betont wird, die jetzige Opposition habe während ihrer Regierungszeit den Betrag von 60 DM Altershilfe im Jahre 1957 bis 1969 verdreifacht. Ich weiß nicht, was eine solche relative Aussage soll, daß ein Taschengeld schließlich bis auf den dreifachen Satz angehoben worden ist: Worauf es entscheidend ankommt, ist das, was in diesem Gesetzentwurf vorgesehen ist, nämlich die Anhebung auf Beträge, die nicht mehr eine Altershilfe, sondern eine Alterssicherung darstellen. Ich komme darauf an einer anderen Stelle noch zurück.
Die Schwerpunkte des Entwurfs sind — es ist hier schon gesagt worden — die Einführung der jährlichen Anpassung der Leistungen an die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse, die Dynamisierung der landwirtschaftlichen Altershilfe, und die Staffelung nach Beitragsjahren; ein Punkt, dem meines Erachtens erheblich mehr Bedeutung beigemessen werden sollte, als es hier eben vom Sprecher der Opposition getan worden ist.
Weiter ist die Finanzierung von entscheidender Bedeutung, bei der der Bund auf den gleichen Anteil an den — durch die Neuregelung erhöhten — Aufwendungen wie bisher festgelegt wird. Lassen Sie mich dazu als eine Antwort auf das, was vom Sprecher der Opposition hier eben gesagt worden ist, einfach einmal feststellen: Diese Beteiligung des Bundes an den reinen Leistungen der Altershilfe bedeutet natürlich auch einen relativen Anstieg der Beitragsleistungen, wenn wir die Gesamtleistungen der Alterskassen für Rehabilitation und Verwaltung mit in die Erwägungen einbeziehen. Das wird nicht bestritten. Aber wenn wir einmal die Gesamtbeteiligung des Bundes betrachten, die auch unter Berücksichtigung dieser Tatsache und unter Berücksichtigung dessen, daß die Zahl der Beitragspflichtigen sinkt, nach. Ablauf der Jahre, für die vorgeplant worden ist, bei 75 °/o bleibt, sollten wir hierin mehr als eine nur notdürftige Beteiligung des Bundes sehen.
Herr Abgeordneter Ronneburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Horstmeier?
Bitte sehr.
Herr Kollege Ronneburger, ist Ihnen beim Studium dieser Vorlage entgangen, daß sich der Bund tatsächlich nur zu 83,3 °/o an den Aufwendungen für das Altersgeld beteiligt und daß die gesamten übrigen Aufwendungen vom Beitragszahler getragen werden müssen?
Es ist richtig, daß der An-tell des Bundes an den reinen Altersgeldaufwendungen bei 83,3 °/o liegt. Aber ich wäre Ihnen dankbar gewesen, wenn Sie auch festgestellt hätten, daß nach der Vorlage der Anteil des Bundes an den Gesamtaufwendungen einschließlich Rehabilitation und Verwaltung bei 77 °/o gegenüber 23 °/o Beitragsleistungen bleibt. Ich bitte, das doch als eine Leistung zu würdigen, auch unter Anrechnung der Tatsache, daß hier eine Alterssicherung für einen beabsichtigten Strukturwandel gezahlt wird. Ich meine, Sie sollten nicht übersehen, daß bei der Berechnung dieser voraussichtlichen Prozentzahlen der Rückgang — ich betone das noch einmal — der Zahl der Beitragspflichtigen mit in Rechnung gestellt
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Ronneburgerworden ist. Das ist also nicht etwa eine rein theoretische Rechnung.Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einige weitere Punkte hinweisen, einmal darauf, daß die Hofabgabe grundsätzlich Voraussetzung für den Erhalt der Altershilfe - nach unserer Überzeugungmit Recht - bleiben soll, die Einführung eines Ersatztatbestandes hier aber eine wesentliche Verbesserung darstellt mit der Berechtigung zum Bezug der halben Rente bei Weiterbewirtschaftung des Betriebes.Auch die Landabgaberente nimmt an der Dynamisierung des Altersgeldes teil. Der Personenkreis der Landabgaberenteberechtigten ist durch eine Strukturverordnung der Europäischen Gemeinschaft erweitert worden. Jetzt sind auch diejenigen Betriebsinhaber landabgaberenteberechtigt, deren Unternehmen zwar die fünffache Mindestbetriebsgröße überschreitet, jedoch nicht ihren Inhabern bei Förderungsmaßnahmen vergleichbare Einkommen sichern können. Diese Bestimmung ist strukturpolitisch wie sozialpolitisch von großer Bedeutung. Wer einen nicht entwicklungsfähigen Betrieb abgeben will, gleich welcher Größe, kann in den Bezug von Landabgaberente kommen.Auf die Anteile des Bundes und das anteilige Beteiligungsverhältnis an den Beiträgen habe ich eben schon hingewiesen. Aber um das auch noch einmal an realen Zahlen zu untermauern und deutlich zu machen, noch einige zusätzliche Hinweise. Für den Bundeshaushalt bedeuten die Beteiligung im festgelegten Verhältnis an der Altershilfe und die Mittel für die Landabgaberente Zuschüsse in Höhe von 1 Milliarde 158 Millionen DM im Jahre 1974. Diese Aufwendungen steigen jährlich in einem erheblichen Maße bis zum Betrag von 2 Milliarden 600 Millionen DM im Jahre 1976.Ich glaube, die Zahlen sind unbestreitbar und doch wohl ein deutliches Zeichen dafür, welches Projekt hiermit in Angriff genommen wird und mit welchem Verantwortungsbewußtsein soziale und strukturelle Veränderungen im Bereich der Agrarpolitik gesehen und mit entsprechenden Leistungen honoriert werden. Ich meine, diese Zahlenreihen zeigen die Leistungen der sozialliberalen Koalition in der Agrarsozialpolitik.Diese agrarsozialen Leistungen des Staates sind nun nicht nur Hilfen für die ältere Generation — ich befinde mich, wenn ich das so sage, in einer von mir begrüßten Übereinstimmung mit dem Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes, Herrn Heereman —, für aus der Landwirtschaft Ausscheidende oder fur Kranke. Diese Leistungen bringen vielmehr eine wesentliche Entlastung für die landwirtschaftlichen Betriebe und wirken insofern direkt auch einkommenssteigernd. Ich meine, das sollte in diesem Zusammenhang auch einmal anerkannt und gewürdigt werden.Wir Freien Demokraten verkennen nicht, daß es noch wichtige und auch dringliche Vorhaben im agrarsozialen Bereich gibt, und ich stimme damit meinem Herrn Vorredner in einem der Punkte zu. Für vordringlich halten wir eine gerechte Regelungder landwirtschaftlichen Unfallrenten, in diesem I Falle insbesondere der Höhe des zugrunde gelegten Jahresarbeitsverdienstes bei der Berechnung der Renten und auch der Witwenrenten in der landwirtschaftlichen Altershilfe. Nur sollten wir uns darüber im klaren sein, daß solche zusätzlichen Forderungen sicherlich nicht erfüllt werden können ohne eine Erhöhung der Beiträge. Ich kenne zu dieser Frage sehr unterschiedliche Stellungnahmen der einzelnen Alterskassen, die zum Teil zu einer solchen Erhöhung der Beiträge, auch gerade in der Frage der Witwenrente, bereit sind, und andere, die sich dem verschließen.Ich meine, wir sollten uns darüber im klaren sein, daß hier ein guter, ein vernünftiger Weg eingeschlagen wird, aber daß man nicht alle Forderungen auf einmal erfüllen kann.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Logemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesminister Arendt hat Ihnen die Schwerpunkte der 7. Novelle zum Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte dargelegt. Ich möchte dies nicht wiederholen. Gestatten Sie mir bitte nur eine Ergänzung durch einen Hinweis auf die agrarpolitischen Wirkungen, die von dem Gesetzentwurf ausgehen werden.Wenn wir uns als Ziel der Agrarpolitik gesetzt haben, daß die in der Landwirtschaft Tätigen an der allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsentwicklung teilnehmen sollen, ist hierin eingeschlossen das Bemühen um eine soziale Sicherung der Landwirte und ihrer Familien, die unter Berücksichtigung der speziellen Situation eines selbständig erwerbstätigen Personenkreises ebenso umfassend und wirkungsvoll ist wie der soziale Versicherungsschutz der übrigen Bevölkerung. Hierin ist auch für uns die Forderung nach sozialer Parität eingeschlossen. Seit Bestehen der sozialliberalen Koalition haben wir dieses Ziel konsequent verfolgt. Der heute eingebrachte Gesetzentwurf stellt mit der Dynamisierung des Altersgeldes und seiner Staffelung nach der Beitragsdauer einen weiteren wesentlichen Schritt zur Herstellung der sozialen Parität dar. Nicht nur die Altersgeldempfänger selbst werden dies dankbar begrüßen, auch für die aktiven Landwirte sind dies Neuregelungen von wesentlicher Bedeutung; denn das Bewußtsein einer gesicherten Altersversorgung erleichtert es ihnen, die gestellten Aufgaben mit ganzer Kraft zu erfüllen.Agrarpolitisch besonders bedeutsam sind die vorgesehenen Änderungen im Landabgabenrecht und die Neuregelung des Nachentrichtungszuschusses. Herr Minister Arendt hat schon darauf hingewiesen, daß das Recht der Landabgaberente an die Vorschriften der EWG-Richtlinie Nr. 72/160 angepaßt werden muß. Strukturpolitisch bedeutet dies, daß künftig die Abgabe des frei werdenden Landes an
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Parl. Staatssekretär Logemannsolche Betriebe Priorität erhält, die einzelbetriebliche Förderung in Anspruch nehmen. Sind derartige Betriebe jedoch nicht vorhanden, soll auch in Zukunft nach den bisher geltenden Bestimmungen abgegeben werden können. Mit diesen neuen Vorschriften wird also eine gewisse Steuerung mobilisierter Flächen erreicht, ohne daß andererseits das bisherige Abgaberecht eingeschränkt wird. Wesentlich ist ferner, daß die zur Zeit noch mögliche Lücke zwischen sozialem Ergänzungsprogramm und einzelbetrieblichem Förderungsprogramm durch den Gesetzentwurf geschlossen werden wird. Künftig sollen auch Betriebe über der fünffachen Mindesthöhe der oberen Betriebsgrößengrenze für die Anspruchsberechtigung Landabgaberente erhalten können, wenn sie nachweisbar nicht entwicklungsfähig sind.Beim Nachentrichtungszuschuß geht der Gesetzentwurf einen neuen Weg. Grundsatz soll künftig sein: Jeder Landwirt, der sich hauptberuflich aus der Landwirtschaft löst, soll diesen Schritt auch hinsichtlich seiner Alterssicherung tun können. Doppelversicherung mit zweifacher Beitragsbelastung soll künftig nicht mehr erforderlich sein. Dieser neuen Konzeption folgend, sollen die Bedingungen, unter denen der Zuschuß zur Nachentrichtung gewährt wird, wesentlich erleichtert werden. Es soll auch nicht mehr in allen Fällen erforderlich sein, den Betrieb strukturverbessernd abzugeben. Von Bedeutung wird die Neuregelung vor allem für unsere Nebenerwerbslandwirte sein, die den Zuschuß auch ohne Abgabe des Betriebes erhalten sollen, wenn sie auf Antrag aus der Altershilfe ausscheiden.Meine Damen und Herren, es gibt noch eine Reihe von Änderungen im Recht der Altershilfe, die Ihnen mit diesem Gesetzentwurf zur Beratung und Beschlußfassung vorgelegt werden. Ich kann hierauf aus zeitlichen Gründen nicht mehr eingehen. Lassen Sie mich nur noch ein Wort sagen. Die Verbesserungen im Leistungsrecht der Altershilfe kosten sehr viel Geld, das nur zum kleineren Teil von unseren Landwirten selbst aufgebracht werden kann. Ich bin glücklich, daß es gelungen ist, die benötigten Bundesmittel für diesen Zweck bereitzustellen. Die Bundesregierung ist sich, wie an diesem Gesetzesvorhaben deutlich wird, ihrer Verantwortung gegenüber der landwirtschaftlichen Bevölkerung bewußt. Sie wird dies auch künftig unter Beweis stellen. Im übrigen schließe ich mich der Bitte von Herrn Minister Arendt an, die zeitliche Dringlichkeit des Gesetzentwurfs bei seiner weiteren Behandlung zu berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, wird weiter das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Aussprache.
Ich schlage Ihnen vor, den Gesetzentwurf an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — mitberatend — und an den Haushaltsausschuß gem. § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sozialgesetzbuchs — Allgemeiner Teil —— Drucksache 7/868 —
Weiter rufe ich den Zusatzpunkt auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rollmann, Kroll-Schlüter und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Schaffung eines einheitlichen und umfassenden Jugendgesetzbuches
- Drucksache 7/1019 —
Zur Begründung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sozialgesetzbuches hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf des Allgemeinen Teils eines Sozialgesetzbuchs legt Ihnen die Bundesregierung den ersten Abschnitt eines Gesetzgebungswerks vor, das der Herr Bundeskanzler in den Regierungserklärungen vom 28. Oktober 1969 und 18. Januar 1973 angekündigt hat.Ziel dieses Vorhabens ist es, das gesamte Sozialrecht grundlegend zu vereinfachen und dadurch für den Bürger überschaubarer und verständlicher zu machen. Die Schaffung eines Sozialgesetzbuches ist daher sozial- und rechtspolitisch von größter Bedeutung.Die Forderung nach einer Vereinfachung und größeren Überschaubarkeit des Sozialrechts wird nicht nur in der Praxis und Wissenschaft, sondern seit langem auch im politischen Raum erhoben. Wenn auch unsere Sozialordnung in ihrem Leistungssystem eine imponierende Geschlossenheit aufweist, so ist doch ihre rechtliche Form in einer fast unüberschaubaren Zahl von Gesetzen und Verordnungen zersplittert. Der Bürger steht vielfach verständnis- und hilflos diesem Dschungel von Gesetzen und Verordnungen gegenüber. Ich meine, daß dieses Paragraphen- und Gesetzesdickicht endlich gelichtet werden muß, um das Vertrauen des Bürgers in das Recht und damit in den Staat und seine sozialen Institutionen zu fördern. Das Vertrauen in das Recht ist eine der Grundvoraussetzungen lebendiger Demokratie. Das kann jedoch nur durch eine größtmögliche Verständlichkeit des Rechts erhalten werden.Gerade im sozialen Bereich darf das Recht nicht eine Geheimwissenschaft der Experten sein. Es muß vielmehr auch in dem Sinne sozial werden, daß es von möglichst a 11 e n Bürgern verstanden und als i h r Recht empfunden wird.Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß sich eine optimale Vereinfachung und Überschaubarkeit des Sozialrechts nicht durch eine Überarbeitung der einzelnen Sozialgesetze erreichen läßt. Erforderlich ist vielmehr die Zusammenfassung aller Sozialleistungsbereiche in einem Gesetzeswerk. Nur durch eine solche Kodifikation kann sichergestellt
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Bundesminister Arendtwerden, daß Fragen, die in den verschiedenen Bereichen in gleicher Weise entstehen, nach einheitlichen Grundsätzen geregelt werden; daß Regelungen, die unterschiedlich bleiben müssen, so weit wie möglich harmonisiert und aufeinander abgestimmt werden und daß der innere Zusammenhang zwischen den verschiedenen Sozialleistungsbereichen mehr als bisher bei der Gesetzgebung und Rechtsanwendung beachtet wird.In diesem Zusammenhang möchte ich hervorheben, daß Schematisierungen nicht beabsichtigt sind. Jedoch müssen wir im Rahmen unserer gegliederten Sozialrechtsordnung die vielfältigen Differenzierungen dahin überprüfen, ob sie dazu dienen, mit der im Rechtsstaat erforderlichen Genauigkeit unterschiedliche Tatbestände angemessen zu regeln.Um in der genannten Weise die äußere und innere Transparenz des Sozialrechts herzustellen, müssen in das Sozialgesetzbuch alle auf Dauer angelegten Sozialleistungsbereiche einbezogen werden. Demgemäß soll das Sozialgesetzbuch folgende Rechtsbereiche umfassen: die Ausbildungs- und Arbeitsförderung, die gesamte Sozialversicherung, die soziale Entschädigung bei Gesundheitsschäden, das Kindergeld- und Wohngeldrecht sowie die Sozial-und Jugendhilfe.Meine Damen und Herren, eine so umfassende Kodifikation kann allerdings nur stufenweise und nicht in e in er Gesetzesvorlage realisiert werden. Der heute vorgelegte Allgemeine Teil enthält als erste Stufe die Regelungen, die teils als Grundlagen-und Einweisungsvorschriften übergreifende Bedeutung haben, teils in allen Sozialleistungsbereichen einheitlich gelten sollen.Bereits dabei wird deutlich, daß das Sozialgesetzbuch nicht ausschließlich zur Vereinfachung des Rechts beitragen soll, sondern zugleich begrenzte Sachreformen, die von aktueller Bedeutung sind, verwirklichen wird.Zu Beginn des Allgemeinen Teils wird erstmals im deutschen Sozialrecht ein Katalog sozialer Rechte formuliert, die die Entscheidung des Grundgesetzes für den sozialen Rechtsstaat konkretisieren. Diese sozialen Rechte sprechen die Leitideen unserer Sozialordnung aus, die von der Verwaltung und Rechtsprechung bei der Rechtsanwendung berücksichtigt werden müssen und Grundlage für die Rechtsfortbildung sein werden. Sie machen deutlich, daß unser Staat sich für die soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit seiner Bürger verantwortlich fühlt. Zugleich enthalten sie eine Sozialcharta für den Bürger, indem sie ihm seine Teilhabe an den verschiedenen sozialen Förderungs- und Sicherungseinrichtungen unserer Gesellschaft aufzeigen.Einen Schwerpunkt des Gesetzentwurfs bildet die Verbesserung der Information der Bevölkerung über ihre Rechte und Pflichten im sozialen Bereich. Die Aufklärung und Beratung des Bürgers ist eine der wesentlichen sozialpolitischen Aufgaben unserer Zeit.
Wir dürfen es nicht länger mehr hinnehmen, daßBürger ihre Rechte aus Unwissenheit, Unerfahren-heit oder Unsicherheit nicht wahrnehmen. Wer Rat oder Auskunft in sozialen Angelegenheiten benötigt, soll einen Anspruch darauf bekommen, daß die zuständige Stelle der Sozialverwaltung ihn umfassend und schnell berät. Dieser Anspruch darf nicht daran scheitern, daß für eine Sozialleistung mehrere Stellen in Betracht kommen und der Bürger nicht weiß, an wen er sich wenden soll. Deshalb ist vorgesehen, daß bürgernahe Verwaltungsstellen Auskünfte über alle sozialen Angelegenheiten erteilen. Darüber hinaus gibt der Gesetzentwurf selbst einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Sozialleistungen und die für sie zuständigen Leistungsträger.Die Auffassung der Bundesregierung, daß Sozialleistungen heute nicht mehr so „von oben herab gewährt" werden, sondern eine selbstverständliche Aufgabe des sozialen Rechtsstaates sind, liegt allen Vorschriften des Gesetzentwurfs zugrunde. So ist festgelegt, daß auf Sozialleistungen in der Regel ein Rechtsanspruch besteht und hierauf Vorschüsse und vorläufige Leistungen zu erbringen sind, wenn sich die Feststellung der Leistungshöhe oder des zuständigen Leistungsträgers verzögert. Folgerichtig wird auch bestimmt, daß Geldleistungen, mit denen ein Leistungsträger im Rückstand ist, unter bestimmten Voraussetzungen verzinst werden müssen und im Falle des Todes an seine Angehörigen auszuzahlen sind.
Andererseits erscheint es der Bundesregierung geboten, Sozialleistungen nicht mehr länger völlig dem Rechtsverkehr zu entziehen, sonder im sozialpolitisch vertretbaren Maße übertragbar und pfändbar zu machen.Ein weiteres Grundanliegen des Gesetzentwurfs ist es, das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Sozialverwaltung zu verbessern. Dieses Ziel kann nicht allein durch eine Vereinfachung und größere Überschaubarkeit des Sozialrechts erreicht werden. Erforderlich sind vielmehr Vorschiften, die sicherstellen, daß der Bürger sich bei der Verwirklichung seiner sozialen Rechte als Partner der Sozialverwaltung versteht. Insoweit verweise ich auf die Vorschriften über die Mitwirkung des Bürgers bei der Ausgestaltung von Rechten und Pflichten sowie bei der Geltendmachung von Sozialleistungen, über die Anhörung Beteiligter und über die Geheimhaltungspflicht der Leistungsträger.Den vorliegenden Geestzentwurf, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung in engem Zusammenwirken mit der von ihr berufenen Sachverständigenkommission erarbeitet. Dieser Kommission gehören namhafte Vertreter der Wissenschaft, der Rechtsprechung, der Sozialpartner, der Spitzenverbände und der Länder an. Ihnen möchte ich auch an dieser Stelle meinen Dank für die geleistete Arbeit aussprechen.Weitere Abschnitte des Sozialgesetzbuchs werden bereits vorbereitet und Ihnen noch im Laufe dieser Legislaturperiode zugeleitet werden. Diesen Arbeiten liegt eine Gesamtkonzeption zugrunde, die sicherstellt, daß das Sozialgesetzbuch die immer wieder erhobene Forderung nach einem „Sozialrecht2886 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag; den 20. September 1973Bundesminister Arendtaus einem Guß" so weit wie möglich in die Tat umsetzt.Schon heute kann gesagt werden, daß die Kodifikation des Sozialrechts zu einer erheblichen Verringerung der sozialrechtlichen Vorschriften führen wird. Das Sozialgesetzbuch wird für die Regelung aller Sozialleistungsbereiche sehr wahrscheinlich nicht mehr Vorschriften benötigen, als sie heute in der Reichsversicherungsordnung allein für die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und die Rentenversicherung der Arbeiter bestehen.Außerdem möchte ich betonen, daß die Arbeiten am Sozialgesetzbuch die Dynamik unseres Sozialrechts in keiner Weise behindern oder gar hemmen werden. Vielmehr erwarte ich, daß die systematische Durchdringung des Sozialrechts im Zuge seiner Kodifikation den Blick für notwendige und zukunftsweisende Verbesserungen schärfen wird.Eine solche Kodifikation, meine Damen und Herren, kann nur bei intensiver Mithilfe dieses Hohen Hauses gelingen. Um diese Unterstützung möchte ich Sie bitten, damit wir für die Bürger in unserem Lande möglichst bald ein einfacheres und verständlicheres Sozialrecht erreichen.
Das Wort zur Begründung des Antrags der Abgeordneten Rollmann und Genossen hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begründe ganz kurz den Antrag zur Schaffung eines einheitlichen und umfassenden Jugendgesetzbuches. Wir stellen diesen Antrag deswegen jetzt, weil das Thema „Jugendhilfe" im Sozialgesetzbuch enthalten ist. Aus diesem Grunde steht unser Antrag jetzt auf der Tagesordnung; wir müssen ihn in diesem Zusammenhang mit einbringen, weil er dann gleichzeitig auch an die zuständigen Ausschüsse überwiesen wird.
Wir streben mit diesem Antrag an, daß ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, der das Recht der Jugend in einem Gesetzbuch zusammenfaßt. Insofern kollidiert dieser Antrag mit der Einbringung des Sozialgesetzbuchs, weil hier die Jugendhilfe mit einbezogen ist. Wir glauben aber, daß es richtiger ist, die Jugendhilfe mit in ein umfassendes Jugendgesetzbuch hineinzunehmen, weil wir meinen, es ist absolut richtig und wichtig, daß auch die Jugend bei allen Problemen, die mit der Jugendhilfe, mit der Ausbildungsförderung, mit dem Jugendschutz, dem Jugendstrafrecht und dem Jugendstrafvollzug zusammenhängen, weiß, daß das alles in einem einzigen Gesetz zusammengefaßt ist.
Ich bitte Sie herzlich darum, daß dieser Antrag dann auch dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung überwiesen wird, damit diese Problematik im Zusammenhang mit dem Sozialgesetzbuch beraten werden kann.
Der Gesetzentwurf und der Antrag zu Punkt 5 der Tagesordnung sind somit begründet. Ich verbinde die Debatte.
Das Wort in der gemeinsamen Aussprache hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt die Vorlage und dem Grunde nach auch das damit zusammenhängende Vorhaben, im Laufe der Zeit das gesamte Sozialrecht stufenweise in einem Sozialgesetzbuch- zusammenzufassen.Dies schließt aber eine kritische Einstellung im einzelnen nicht aus. So ist unseres Erachtens zu fragen, ob das Wohngeld nicht doch in erster Linie, wie es der Bundesrat sagt, als ein bedeutsames Instrument der Wohnungsbauförderung statt als eine Sozialleistung angesehen werden muß.Was die Jugendhilfe betrifft, so hat eben mein Kollege Müller. den Antrag begründet. Hierzu wird, soweit ich unterrichtet bin, mein Kollege Rollmann noch sprechen.Wir begrüßen also die Zielsetzung des Entwurfs insoweit uneingeschränkt, als damit das bisher in zahlreichen Einzelgesetzen geregelte und dadurch unübersichtlich, ja geradezu zu einem Dickicht gewordene Sozialrecht möglichst vereinfacht und übersichtlich in einem Gesetzbuch zusammengefaßt werden soll, um die Rechtsanwendung durch Verwaltung und Rechtsprechung zu erleichtern. Sicher wird auch die Rechtssicherheit damit gefördert. Ob letztere damit gewährleistet wird, so wie es in der Begründung heißt, ist eine völlig andere Frage. Ob damit auch schon das dringend erwünschte Rechtsverständnis des Bürgers und sein Vertrauen in den sozialen Rechtsstaat wesentlich verbessert werden, ist ebenfalls noch offen. Wir würden uns mit Ihnen, Herr Minister, freuen, wenn dieses mittels eines Gesetzes erreicht werden könnte. Hier ist unseres Erachtens die sachbezogene Aufklärung in geeigneter und leicht verständlicher Form sicherlich erfolgreicher. Sie haben in Ihrer Begründung selbst darauf hingewiesen. Wir messen deshalb auch den §§ 13 bis 15 in Art. I, die die allgemeine Aufklärung, Beratung und Auskunft zum Inhalt haben, eine gewisse Bedeutung bei. Nur reicht das nicht ganz; denn auch bisher waren z. B. Rentenversicherungsträger zur Auskunft verpflichtet, was in der Praxis jedoch nicht ausschloß, daß auch einmal eine falsche Auskunft erteilt wurde. Mir selbst sind in der letzten Zeit vier Fälle bekanntgeworden, bei denen dies so gewesen ist.Wir vertreten auch die Auffassung, daß beispielsweise die gemeinsamen Vorschriften für alle Zweige der Sozialversicherung in Form einer Zusammenfassung aller bisher geltenden Vorschriften vereinfacht und so weit wie erforderlich den veränderten Verhältnissen angepaßt werden sollte. Die Reichsversicherungsordnung ist immerhin schon im Jahre 1911 verabschiedet worden. Da gibt es heute sicher das eine oder andere, das an die veränderten Verhältnisse anzupassen ist; weniger wird das beim Arbeitsförderungsgesetz notwendig sein. Bleiben
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Müller
wir also bei der Bewertung des Vorhabens ganz nüchtern und realistisch und auf dem Boden der Tatsachen und ergehen wir uns nicht in Höhenflügen!Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel nennen. Der Allgemeine Teil des vorgesehenen Sozialgesetzbuchs, über den wir hier heute diskutieren, soll sich in drei Abschnitte gliedern.Der Zweite Abschnitt,— ich zitiere aus der Begründung —... enthält Regelungen, die dem Bürger den Zugang zum Sozialrecht und zu den Sozialleistungen erleichtern.Was sollen solche wohlklingenden und etwas übertriebenen, hochtrabenden Töne?!Das Sozialgesetzbuch wird, wenn es fertig ist, sicher etwas umfangreicher sein als die heutige RVO. Da frage ich mich doch: Welche und wie viele Bürger kennen denn die RVO und wissen damit umzugehen? — Nicht mehr Bürger werden es auch sein, die später das Sozialgesetzbuch kennen werden. Wir sind schon mit dem angestrebten Ziel einverstanden, wenn alle einschlägigen Vorschriften in einem überschaubaren Gesetzbuch zusammengefaßt werden.Wenn nun in der Begründung des Entwurfs gesagt wird, daß in manchen Sozialleistungsgesetzen gleichliegende Sachverhalte nach Wortlaut und Inhalt unterschiedlich geregelt oder in den einzelnen Gesetzen benutzte Abgrenzungskriterien teilweise auch nicht aufeinander abgestimmt sind, so trifft das sicherlich zu. Ich denke hier z. B. nur an den Begriff der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, mit dem wir uns lange genug beschäftigt haben. Uns kann es auch nur recht sein, wenn hier auf diese Weise eine Bereinigung erfolgt. Wir möchten nur nicht, daß mit der grundlegenden Vereinfachung eine Gleichmacherei für den ganzen Sozialbereich eingeleitet wird. Ich bin Ihnen, Herr Minister, geradezu dankbar, daß Sie hier in der Begründung gesagt haben, daß unterschiedliche Tatbestände auch unterschiedlich behandelt werden sollen. Um es deutlicher zu sagen: „Sozialleistungen" werden in weiten Kreisen der Bevölkerung ohne Unterschied der Leistungsträger und des Leistungsrechts als Leistungen des Staates, die sie gar nicht sind, hingestellt und angesehen, obwohl die Leistungen beispielsweise der gesetzlichen Krankenversicherung ausschließlich und die der Rentenversicherung im wesentlichen von den Betroffenen, natürlich im Rahmen der Versichertengemeinschaft, selbst finanziert werden. Andererseits können vergleichbare Leistungen aber auch auf einer anderen Rechtsgrundlage auf Kosten der Allgemeinheit gewährt werden. Nur die, wenn Sie wollen, Fachleute und ein relativ kleiner Kreis von Bürgern unterscheiden zwischen lohn- oder besser leistungsbezogenen und anderen auf Grund sozialstaatlicher Prinzipien gewährten Sozialleistungen. Wir wünschen hier keine Verwischung der Rechtsgrundlagen und Begriffe.Gut wäre es auch, wenn zur Unterscheidung der einzelnen Systeme und daraus resultierender Ansprüche klare unterschiedliche Begriffe im Sozialrecht ihren Niederschlag fänden. Heute sind docheine Reihe von Sozialleistungen unter dem einfachen Begriff „Rente" geläufig, obwohl sie aus unterschiedlichen Rechtsquellen fließen. Das schafft auch draußen Verwirrung. Wenn die Forderung nach grundlegender Vereinfachung in der Öffentlichkeit immer dringender erhoben wird — und ihre Verwirklichung wäre auch aus unserer Sicht wünschenswert, so liegt das eben an der Tatsache, daß unser differenziertes Sozialrecht so weit wie möglich am Leistungsprinzip orientiert ist, dies aber den Bürgern nur ungenügend bewußt ist. Wir halten an diesem Prinzip fest, weil es unserer freiheitlichen Rechtsordnung am ehesten entspricht. Das möchte ich ausdrücklich betonen.Wir möchten heute schon ankündigen, daß wir die weiteren Vorhaben der Bundesregierung oder auch der Koalition mit kritischer Aufmerksamkeit verfolgen werden. Das schließt nicht aus, daß wir für alle notwendigen Anpassungen unseres Sozialrechts stets aufgeschlossen bleiben. Wir sind schon etwas beruhigt, daß in der allgemeinen Begründung ausdrücklich darauf hingewiesen wird: „Die Zusammenfassung so verschieden strukturierter Sozialleistungsbereiche ... in einem Gesetzbuch soll ... deren Wesen und Grundprinzipien nicht antasten", oder an einer anderen Stelle: „... daß die Arbeiten am Sozialgesetzbuch von der vorgegebenen Gliederung unseres Sozialleistungssystems ausgehen". In diesem Sinne haben Sie, Herr Minister, unsere volle Unterstützung.Wir werden also das mit der Vorlage verbundene Anliegen bei den kommenden Beratungen im Ausschuß bei aller kritischen Betrachtung unterstützen, wobei wir hoffen, uns mit ebenso unvoreingenommenen und sachbezogenen gründlichen Beratungen und Argumenten verständigen zu können. Es handelt sich immerhin um die Verwirklichung wichtiger Sozialstaatsprinzipien, die uns allen durch das Grundgesetz aufgegeben sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich dem Kollegen Müller meine Glückwünsche zu seinem Entdeckermut aussprechen. Sie haben als Christdemokrat gewissermaßen Neuland betreten. Wenn ich richtig informiert bin — und ich habe mich in den letzten Tagen darum gekümmert —, war diese Ihre Erklärung die erste Äußerung von der CDU/CSU zu dem so wichtigen Projekt des Sozialgesetzbuches. Es ist für einen braven Sozialdemokraten in der Vergangenheit geradezu unheimlich gewesen,
für eine Sache zu sein, bei der er noch gar nicht wußte, ob die CDU auch dagegen sein würde. Nun habe ich zu meiner Zufriedenheit erfahren, daß Sie das Projekt im Grundsatz begrüßen — das begrüßen wir auch, daß Sie es begrüßen —, daß aber noch einige Streitpunkte nachbleiben, über die man diskutieren kann.
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2888 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
GanselMit dem vorliegenden Entwurf ist der Anfang gemacht worden, eine alte sozialdemokratische Forderung zu erfüllen. Denn schon das Godesberger Programm, das ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren darf,
sagt — und das ist immerhin schon zehn Jahre her —:Die gesamte Arbeits- und Sozialgesetzgebung ist einheitlich und übersichtlich in einem Arbeitsgesetzbuch und einem Sozialgesetzbuch zu ordnen.Mit dem Arbeitsgesetzbuch geht es etwas langsam, aber immerhin, der Entwurf zu einem Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches liegt nun vor. Zehn Jahre hat es gedauert seit Verabschiedung des Godesberger Programms, daß diese wichtige Forderung in. die Regierungserklärung Eingang gefunden hat, in die Regierungserklärung der sozialliberalen Koalition von 1969.Daran knüpft sich natürlich die Frage, warum das so lange gedauert hat. Denn immer wieder war Kritik geübt worden an der Zersplitterung und Zerfaserung, an der fast chaotischen Unübersichtlichkeit unseres Sozialrechts. Schon vor vielen Jahren klagte z. B. der Bundesverband der Ortskrankenkassen, das Sozialrecht der Bundesrepublik habe sich zu einem Geheimrecht entwickelt. Diese Kritik rührte in den zehn Jahren freilich die CDU/CSU nicht; sie war ja auch an den kritisierten Zuständen nicht ganz un-schuldig. Denn ihre Politik war in einem nicht geringen Umfang eine Politik der Trostpflästerchen und Gefälligkeiten auch im sozialpolitischen Bereich.
- Das Ergebnis war eben, daß Sie zur Unübersichtlichkeit und Unstimmigkeit des Rechtes erheblich beigetragen haben.
— Daß an dieser Stelle eine Zwischenfrage kommen würde, war mir klar. Deshalb darf ich mal nachgucken, wo ich hier in meinem Manuskript die entsprechende Antwort dazu habe, Herr Burger.
Herr Abgeordneter Burger zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege, ich stelle meine Frage ganz langsam, damit Sie die Antwort auch gleich finden. Aber ich darf Ihren munteren Stil anerkennen und darf Sie fragen, ob Ihnen entgangen ist, daß der Herr Bundesminister bei der Einführung dieses Gesetzentwurfes gesagt hat, daß unser Sozialsystem von imponierender Geschlossenheit sei.
Ja, das hatte ich mitgekriegt.
Daran ist natürlich auch imponierend, wie der Herr Minister diese Äußerung auf die hinter uns liegenden vier Jahre begrenzen konnte, aber das ist sicherlich eine Ausrede. Tatsache ist doch, daß bei der Menge sozialpolitischer Leistungen, zu denen Sie sicherlich auch beigetragen haben — —
— Augenblick, ich habe eben gesagt „in nicht unerheblichen Umfange" ; ich habe also einen anderen Umfang durchaus dafür offengelassen. Daß trotzdem auf vielen Gebieten eine Zerfaserung und Zersplitterung besteht, hat der Kollege Glombig doch vorhin an dem Schwerbeschädigten- und Schwerbehindertengesetz geradezu exemplarisch dargestellt, so daß sich weitere Beweise dazu eigentlich erübrigen.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Burger?
Wenn das auf meine Redezeit aufgeschlagen wird, gerne. Sonst täte es mir leid.
Das ist selbstverständlich.
Ich danke Ihnen für die Antwort. Ich bin nicht ganz zufrieden. Aber darf ich Sie nochmals fragen: Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß die Begründung, die Sie eben anführen — daß eine solche Fülle von Gesetzesvorlagen, die eine solche Fülle von Rechten beinhalten, einer Koordinierung bedarf —, nicht auch die Behauptung einschließt, daß diese CDU/CSU in der Vergangenheit sehr fruchtbar gewirkt und sehr viele Gesetze und gute Gesetze verabschiedet hat?
Eine Politik der Trostpflästerchen und der Gefälligkeiten — neben anderen Maßnahmen, die in diesem Hause gemeinsam beschlossen worden sind — ist doch geradezu das Charakteristikum einer plan- und konzeptionslosen Sozialpolitik, Herr Burger. Aber wenn ich fortfahren darf? Ich bin sicher, daß ich Sie nicht überzeugen kann.
Der vorliegende Entwurf des Allgemeinen Teils eines Sozialgesetzbuches schafft mehr Übersichtlichkeit und innere Stimmigkeit. Er trägt zur Vereinfachung des Sozialrechts bei und bringt die Voraussetzung für die Sozialisierung von Geheimwissen. Wir werden uns bei den Beratungen gerade über diesen Gesetzentwurf auch um die Demokratisierung der Gesetzesprache kümmern müssen. Bei allem Respekt vor der Juristerei und ihrer Landessprache darf gerade dieses Gesetz kein Gesetz nur für Richter, Rechtsanwälte und Regierungsräte werden. Dieses Gesetz muß der interessierte Bürger lesen und verstehen können. Warum, Herr Müller, kann der Bürger denn nicht die Reichsversicherungs-
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Ganselordnung lesen? Weil sie selbst für Juristen ein Alptraum ist. Sie kennen doch sicherlich auch aus der Praxis die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man Bestimmungen überhaupt erst einmal aufspüren will, Schwierigkeiten, unter denen auch Experten, ja, selbst Richter, sehr oft leiden.Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion legt Wert auf die Feststellung: Daß wir uns jetzt im Parlament an die Arbeit an einem Sozialgesetzbuch machen können, ist ein Verdienst der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung.
Der vorliegende Entwurf ist eine solide Kodifikationsarbeit mit vorsichtigen Reforminhalten. Vorsicht war sicherlich bei den Kodifikationsarbeiten, bei dem Versuch des Zusammenfassens und Zusammenschreibens, geboten, um ,das ganze Projekt nicht zu gefährden. Aber der allgemeine Teil enthält doch eine ganze Reihe materieller und formeller Verbesserungen der Rechtsstellung des Bürgers. Einige möchten wir besonders begrüßen.In den §§ 13, 14 und 15 wird das Recht auf Aufklärung, Beratung und Auskunft über Sozialleistungen festgelegt. Herr Müller, diese Neuerung ist nicht nur von „gewisser" Bedeutung, sondern sie hat für den Bürger einen hohen praktischen Wert. Ich glaube, kennzeichnend ist das, was die „Frankfurter Rundschau" einmal in einem Kommentar unter der Überschrift „Sozialgesetzbuch weniger Geheimrecht" geschrieben hat und was ich mit Genehmigung des Präsidenten ebenfalls zitieren darf. Die „Frankfurter Rundschau" schrieb:Wer einmal durchgemacht oder auch nur von ferne beobachtet hat, wie ein Hilfesuchender von Amt zu Amt geschickt wird, weil niemand sich für zuständig halten will, der weiß, welches Maß von Demütigung und Entmutigung in derartigen Situationen steckt.Wir wissen doch auch alle aus der praktischen Arbeit in den Wahlkreisen, wieviel Phantasie manchmal notwendig ist, um einen Leistungsträger ausfindig zu machen, und wie oft wir es mit Fällen von Fristversäumnissen zu tun haben.Andere wichtige Verbesserungen sind folgende:§ 34: das Recht auf Anhörung eines Beteiligten, wenn eine Maßnahme in seine Rechte eingreift,§ 35: der Anspruch darauf, daß Geheimnisse des Bürgers vor allem aus der Privatsphäre — nichtunbefugt offenbart werden dürfen, § 36: die Festlegung der sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit, also der Fähigkeit, Sozialleistungen zu beantragen und entgegenzunehmen; auf das 14 Lebensjahr, § 43: das Recht auf vorläufige Sozialleistungen, wenn unter mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, und § 44: die Verzinsung von Ansprüchen auf .Geldleistungen. Alles das sind Verbesserungen, die zwischen Leistungsberechtigten und Leistungsverpflichteten ein partnerschaftliches Verhältnis schaffen sollen.Es ist also nicht so, daß etwa „Sozialleistungen des Staates an seine Bürger als Beglückungsobjekte" verschrieben werden, wie es Herr von Weizsäckerbei der Debatte über die Regierungserklärung gesagt hat. Gerade weil wir den Bürger als ein freies Subjekt, also als Träger von Rechten, verstehen, und zwar mit einem vielleicht ist das für die Opposition ein großes Wort — Mindestanspruch auf Lebensglück auch und gerade gegen den Staat, deshalb legen wir auf dieses partnerschaftliche Verhältnis so viel Wert.Herr Müller, Sie haben in diesem Zusammenhang vorhin den Begriff „Sozialleistungen" problematisiert. Im Bürgerlichen Gesetzbuch, bei zivilrechtlichen, schuldrechtlichen Ansprüchen, ist auch von „Leistung" die Rede. Also daran kann man so etwas schlecht aufhängen. Im übrigen ist ein Staat, der Sozialleistungen zu erbringen hat, auch eine Leistung seiner Bürger, auf die die Bürger stolz sein können.Um so bedauerlicher finde ich es, daß der Bundesrat eigentlich bis auf die Informationspflichten und das Recht auf vorläufige Sozialleistungen alles abgelehnt hat, was die Position des Bürgers verbessern soll. Die Stellungnahme des Bundesrates ist in einer Beziehung einheitlich: es wird eigentlich alles abgelehnt, was die Arbeit der Verwaltung nach Meinung des Bundesrates vermehren oder erschweren könnte. Das sind nun leider auch die Regelungen, die die Position des Bürgers gegenüber der Verwaltung stärken. Ich meine, erstens ist die Furcht des Bundesrates vor Mehrarbeit zum großen Teil unbegründet, und zweitens dürfte Mehrarbeit kein Kriterium für eine sozialpolitische Reform sein. — Die gegenwärtige Belastung der Sozialverwaltungen darf nicht unterschätzt werden. Sie ist auf die Vernachlässigung dieser Verwaltungen in personeller, bildungsmäßiger und technischer Hinsicht in vielen vergangenen Jahren zurückzuführen. Sie ist auch darauf zurückzuführen, daß die Arbeit derer, die in der staatlichen Verwaltung, in der Selbstverwaltung und in den freien Verbänden tätig sind, in einer profitorientierten Leistungsgesellschaft oft nicht die Anerkennung gefunden haben, die notwendig gewesen wäre. Wir werden uns natürlich auch um verwaltungsmäßig praktikable Lösungen bemühen. Aber gerade weil der Bürger für uns kein Beglückungsobjekt, sondern Subjekt, Träger von Rechten und Pflichten ist, darf seine Rechtsstellung nicht den angeblichen Sachzwängen einer Verwaltungspraxis untergeordnet werden. Wir werden deshalb zu prüfen haben, wo und wie die Sozialrechte des Bürgers gestärkt und verbessert werden können.Ich möchte dazu zwei Beispiele nennen. Erstens. Entgegen der vorgeschlagenen Fassung des § 34 Abs. 2 Satz 4 sollte die Anhörung auch bei gleichartigen Verwaltungsakten erfolgen, bei denen man sich automatischer Einrichtungen bedient. Es wird immer mehr die Regel sein, daß man sich solcher Einrichtungen bedient. Wir können das Anhörungsrecht des Bürgers nicht aus Gründen der technischen Entwicklung zur Ausnahme machen.Zweitens. Die Regelung betreffend die Höhe der Verzinsung von Geldleistungen nach § 44 Abs. 1 sollte vergleichbaren Regelungen im Abgabenrecht entsprechen.2890 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973GanselEin Wort zur Einbeziehung des Wohngeldes und der Jugendhilfe. Ich meine, daß das Projekt gefährdet würde, wenn man fragen wollte: Was kann eigentlich außerhalb des Sozialgesetzbuches geregelt werden? Die Frage muß vielmehr lauten: Was kann, wenn wir ein umfassendes Sozialgesetzbuch haben wollen, wenn wir Schlüssigkeit haben wollen, im Sozialgesetzbuch geregelt werden?
Im übrigen kann die Opposition, wie ich meine, aus gewissen Diskussionen hier und dort nicht viel Honig saugen. Der Bundesrat hat zwar die Einbeziehung der genannten Bereiche abgelehnt, aber die Fachausschüsse des Bundesrates waren durchaus anderer Meinung. Herr Müller, mich bekümmert es eigentlich, daß Sie als Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales in dieser Beziehung eine gewisse Verzichtpolitik betreiben. Diese Frage wird aber sicherlich weiter diskutiert werden. Hierzu ist ja auch heute ein Antrag gestellt worden.Meine Damen und Herren, weil viele Bürger an das Sozialgesetzbuch große Erwartungen knüpfen, sollte schon jetzt vor zwei Fehleinschätzungen gewarnt werden.Erstens. Das Sozialgesetzbuch wird nicht so lesbar und so konkret sein können, daß jemand seine Rente auf Heller und Pfennig wird ausrechnen können. Der Bürger wird aber die Anspruchsgrundlagen finden können, mit denen er sein Recht wird erreichen können. Wir werden die Arbeit in staatlichen Verwaltungen, in der Selbstverwaltung und für die freien Verbände erleichtern. Wir werden sicherlich auch die traurige Situation verändern, die Siegers in einem Aufsatz zum Sozialgesetzbuch folgendermaßen beschreibt — ich zitiere :Immer noch wird es an Deutschlands Hochschulen für wichtiger erachtet, daß der angehende Jurist über die Feinheiten des preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes und seine modernen Nachfolger Bescheid weiß, als daß er die Grundstruktur des Sozialrechts kennt, das für nahezu jeden Bürger von eminenter und immer noch wachsender Bedeutung ist.Meine Damen und Herren, der Allgemeine Teil — das ist der zweite Punkt — bringt noch nicht die große Reform des Systems der sozialen Sicherung, die manche erwarten. Aber die Vorbereitungen dieser Reform laufen ja auch jetzt während der Kodifikationsarbeit weiter, wie gerade der heute eingebrachte Gesetzentwurf zum Schwerbeschädigtenrecht beweist. Der Allgemeine Teil bereitet die Reform vor, und vor allem: er behindert sie nicht. Das wird vor allem an der juristischen Konstruktion der sozialen Rechte in den §§ 2 bis 10 deutlich. Recht auf Bildungs- und Arbeitsförderung, Sozialversicherung, soziale Entschädigung bei Gesundheitsschäden, Minderung des Familienaufwands, Zuschuß für eine angemessene Wohnung, Jugendhilfe, Sozialhilfe, Eingliederung Behinderter — alle diese Rechte sollen nur nach Maßgabe der nachfolgenden Einzelgesetze gelten. Aber schon jetzt wird die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes konkretisiert. Das darf für die Arbeit von Rechtsprechung und Verwaltung nichtgering erachtet werden. Vor allen Dingen erhält der Gesetzgeber, wir, einen Auftrag. Diese sozialen Rechte weisen einen Weg für die Arbeit am besonderen Teil, was vielleicht am deutlichsten in der Fassung des § 10 — Eingliederung der Behinderten zum Ausdruck gebracht ist. Das ist glasklar das Finalitätsprinzip.Meine Damen und Herren, nur noch eine Bemerkung für die Sozialdemokraten, die für konservative Ohren vielleicht etwas unverständlich klingt, die man aber doch sagen sollte. Andererseits möchten wir nämlich vor einer Überschätzung dieser sozialen Rechte warnen. Für uns Sozialdemokraten gibt es noch andere Rechte, ich möchte sagen: soziale Menschenrechte, die nicht in unserer Verfassung geregelt sind und die man wahrscheinlich auch nur zum Teil durch Gesetzesform wird einklagbar machen können. Solche sozialen Menschenrechte sind das Recht auf Arbeit, auf Schutz vor Ausbeutung, das Recht auf Mitbestimmung des einzelnen Arbeitnehmers und auf Selbstbestimmung aller arbeitenden Menschen in der Wirtschaft, selbst das Recht auf Wohnung und das Recht auf Freizeit. Diese sozialen Menschenrechte bleiben die Grundprinzipien unserer Politik, die wir schrittweise verwirklichen werden.
Der vorgelegte Entwurf eines Allgemeinen Teiles des Sozialgesetzbuchs kann ein großer Schritt vorwärts werden. Wir sind bereit, diesen Schritt zu gehen.Meine Damen und Herren, wir danken der Sachverständigenkommission, dem Ministerium und seinen Mitarbeitern für die geleistete Arbeit. Die SPD-Fraktion wird ihren Dank dadurch abstatten, daß sie für eine zügige und gründliche Behandlung
— auch mit Ihrer Hilfe, Herr Müller — sorgen wird.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Spitzmüller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wenn ich an die 50er und 60er Jahre denke und in das Plenum sehe, dann erinnere ich mich, daß man uns Sozialpolitikern damals oft vorgeworfen hat, das Plenum sei leer oder werde leerer, weil wir uns in Sozialchinesisch, d. h. unverständlich unterhielten. Heute haben wir es dagegen mit einem Gesetzentwurf zu tun, bei dem die Zielsetzung ganz klar ist: das Recht durchschaubarer, überschaubarer und für den Bürger verständlicher zu machen, damit die sozialen Rechte und Möglichkeiten besser zu erkennen sind. Dieser Entwurf bringt die erste Stufe der bereits 1969 versprochenen umfassenden Kodifikation des gesamten Sozialrechts. Als erste Stufe faßt dieser Entwurf soziale Bereiche unter bestimmten Gesichtspunkten zusammen, die ich, weil sie der Herr Arbeitsminister schon aufgeführt hat, nicht zu wiederholen brauche.
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SpitzmüllerDiese Rechtsgebiete werden im Ersten Buch, dem Allgemeinen Teil, insbesondere unter drei Gesichtspunkten zu sehen sein. Der Erste Abschnitt bringt die allgemeinen Aufgaben und Leitlinien für das Gesamtgebiet. Aus ihnen folgen grundsätzlich keine neuen Rechtsansprüche, wie § 2 deutlich macht. Aber sie sind von großer politischer und auch rechtlicher Bedeutung als Auslegungsgrundsätze für unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensentscheidungen bei Verwaltung und Rechtsprechung und von daher als notwendig zu begrüßen.Zum zweiten sind die sogenannten Einweisungsvorschriften des Zweiten Abschnitts insbesondere rechtspolitisch gemeint. Hervorzuheben ist hier der grundsätzliche Rechtsanspruch auf Beratung und Auskunft sowie auf Hilfe bei der Antragstellung. Die Zusammenstellung der wichtigsten Leistungen der einzelnen Leistungsbereiche ist lediglich deklaratorisch und soll die Durchsichtigkeit für den Bürger eröffnen. Insofern sind diese Vorschriften zu begrüßen und ein Schritt nach vorn.Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zu dem Regierungsentwurf in 20 Punkten Gegenvorschläge unterbreitet. Die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung in 14 Fällen widersprochen. Bei drei Fällen handelt es sich um grundsätzliche Bestimmungen des Entwurfs, auf die ich deshalb kurz eingehen möchte.Der Bundesrat möchte in der grundsätzlichen Bestimmung des § 1 den besonderen Schutz der Familie ausdrücklich erwähnt wissen. Obwohl die Bundesregierung dem widersprochen hat, weil sich sonst andere Gruppen zurückgesetzt fühlen könnten, sind wir Freien Demokraten der Meinung, daß im Ausschuß noch einmal ausgelotet werden sollte, ob eine solche Hervorhebung der Familie neben den bereits erwähnten Jugendlichen nicht doch ernsthaft zu erwägen ist, wenngleich einzusehen ist, daß der Familienlastenausgleich in § 6 und damit die Familie ebenfalls besonders herausgehoben sind.Der Bundesrat hat sich gegen die Einbeziehung des Wohngeldes in das Sozialgesetzbuch ausgesprochen, weil das Wohngeld in erster Linie ein Instrument der Wohnungsbauförderung sei und deshalb in ein — man höre und staune! — noch zu schaffendes Wohnungsgesetzbuch einzubeziehen sei. Die Bundesregierung hat diesem Vorschlag — wie ich meine, mit Recht — widersprochen, da das Wohngeld in erster Linie eine soziale Funktion erfülle und die Schaffung eines Wohnungsgesetzbuchs noch in weiter Ferne stehe.Um so mehr verwundert es, daß die Christlich-Demokratische Union den Bundesratsvorschlag insofern nicht nur aufgenommen, sondern erweitert hat. Der Bundesrat hat lediglich der Einbeziehung der Jugendhilfe in das Sozialgesetzbuch widersprochen; eine Forderung, der die Bundesregierung wie ich meine, mit Recht — entgegengetreten ist. Die Begründung des Bundesrates und hier auch der CDU, die Jugendhilfe sei mehr und mehr in den Bereich der Erziehung und Bildung übergegangen, stimmt, und dies ist erfreulich. Aber sie stimmt eben nur teilweise und ändert nichts daran, daß der Gesamtbereich der Jugendhilfe einschließlich der Bildung des Jugendlichen ein überwiegend soziales Problem ist und bleiben wird. Außerdem spricht der besonders enge Zusammenhang von Jugend- und Sozialhilfe für die einheitliche Einbeziehung beider Bereiche in das Sozialgesetzbuch.Zu dem Antrag der CDU/CSU, der nachher von Herrn Rollmann noch ausführlicher dargelegt werden wird, nur einige Anmerkungen. Sinn der Kodifikation des Sozialrechts im Sozialgesetzbuch ist doch gerade die Zusammenfassung zwecks Überschaubarkeit für den Burger. Wenn hier nun ein Jugendgesetzbuch gefordert wird, wenn vom Bundesrat ein Wohnungsgesetzbuch gefordert wird, dann frage ich: Wann kommt die Forderung nach dem FGB, nämlich nach dem Familiengesetzbuch, nach dem AGB, nach dem Altersgesetzbuch, nach einem neuen BGB, nämlich Behindertengesetzbuch, nach einem FrGB, nach einem Frauengesetzbuch?
Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten sind sehr für Vielfalt, aber nicht auf Kosten der Überschaubarkeit der Gesetzgebung. Ich glaube, das muß man bei der Beratung dieses Problems einfach sehen. Der Zusammenhang zwischen Jugend- und Sozialhilfe, der insbesondere nach Schaffung des Jugendhilfegesetzes sehr eng sein wird, würde zerrissen, wenn man diesen Vorstellungen folgte. Die allgemeinen Grundsätze für das Sozialgesetzbuch gelten eben auch für das Jugendhilferecht und würden in einem Jugendgesetzbuch, wie es die CDU fordert, nur wiederholt oder, was wir als schlimmer empfinden würden, wahrscheinlich modifiziert. Das würde dem erklärten Ziel des Sozialgesetzbuchs widersprechen.Meine Damen und Herren, zum Abschluß darf ich auf den Dritten Abschnitt eingehen. Er bringt, sozusagen als Klammer vorgezogen, gemeinsame Vorschriften für alle in das Sozialgesetzbuch einbezogenen Leistungsbereiche. Hervorzuheben ist insbesondere, daß auf Sozialleistungen grundsätzlich ein Rechtsanspruch besteht. Ganz wichtig — und das ist hier durch andere Redner schon unterstrichen worden — ist ferner die generelle Vorschrift des § 43, wonach der zuerst angegangene Leistungsträger die Leistung zu erbringen hat, wenn streitig ist, welcher Träger zuständig ist. Durch diesen Paragraphen wird ein ganz unerträglicher Zustand beseitigt werden. Besonders hervorzuheben sind in diesem Teil auch die gemeinsamen Vorschriften für Behinderte. Dies entspricht der starken Heraushebung der Rehabilitation in der Regierungserklärung von 1973.Für diese Grundsätze, wie sie im Sozialgesetzbuch im Allgemeinen Teil niedergelegt sind, tritt die FDP ein. Bei der Änderung der Vorschriften für einzelne soziale Leistungsbereiche muß jedoch eine gründliche Prüfung im Detail im Ausschuß erfolgen, ohne daß dadurch eine ungebührliche Verzögerung eintritt. Denn, meine Damen und Herren, das geltende Sozialrecht soll und muß durch Vereinfachung für den Bürger überschaubarer und verständlicher
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Spitzmüllergemacht werden. Das ist das Ziel dieses Gesetzes, und darüber sollten wir nicht zu lange im Ausschuß streiten, sondern wir sollten sehen, daß wir zügig vorankommen.
Das Wort hat der Abgeordnete Rollmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Entgegen dem Votum des Bundesrates und der Fachverbände der .Jugendhilfe, ja selbst der von der Bundesregierung berufenen Jugendhilferechtskommission, und noch im Gegensatz zu der Haltung der Bundesregierung in ihrer Erwiderung auf die Stellungnahme des Bundesrates in der letzten Legislaturperiode sieht der Regierungsentwurf eines Sozialgesetzbuches nunmehr in dieser Legislaturperiode vor, daß die Jugendhilfe in das Sozialgesetzbuch einbezogen wird. Diese Konzeption lehnt, wie mein Kollege Müller bereits vorgetragen hat, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ab.
Eine Vermengung der Jugendhilfe mit solchen Bereichen wie der Sozialversicherung, dem Wohngeld und der Kriegsopferversorgung in einem Sozialgesetzbuch wird dem besonderen Charakter der Jugendhilfe nicht gerecht. Die Jugendhilfe umfaßt nicht nur soziale und erzieherische Aspekte, die Gegenstand des Sozialgesetzbuches sind. Wer die Jugendhilfe so sieht, bringt sie wieder in jene Enge zurück, aus der wir sie in den vergangenen
) Jahrzehnten gerade herausgeholt haben.
Die Jugendhilfe hat in der notwendigen Stärkung der Erziehungs- und Bildungskraft der Eltern und der Familie auch familienpolitische und in der notwendigen Förderung der freien Jugendverbände auch staatspolitische Aspekte; und die Jugendhilfe ist schließlich von eminent bildungspolitischer Bedeutung. Das ist nicht zuletzt darin zum Ausdruck gekommen, daß der Elementarbereich der Jugendhilfe, also die Kindergärten und die Jugendpflege, mithin die außerschulische Jugendbildung, in den Bildungsgesamtplan von Bund und Ländern einbezogen worden ist.
Wir haben doch alle den Wunsch, 'daß sich die Jugendhilfe durch das neue Jugendhilfegesetz noch fortentwickelt und erweitert. Eine so verstandene moderne, in die Zukunft gerichtete Jugendhilfe paßt dann nicht in das Bett des Sozialgesetzbuches hinein, das für andere Materien geschaffen ist. Zwingen wir die Jugendhilfe trotzdem in das Sozialgesetzbuch hinein, dann wird das nicht nur auf Kosten der Qualität, sondern vor allen Dingen auch auf Kosten der Einheit der Jugendhilfe in diesem Lande gehen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist demgegenüber der Auffassung, daß es an der Zeit ist, die so zahlreichen und so weit verstreuten Gesetze, ,die die junge Generation in diesem Lande angehen, in einem einheitlichen und umfassenden Jugendgesetzbuch aufeinander abzustimmen, zu reformieren und zusammenzufassen. Das, und nicht eine weitere Verstreuung des Jugendrechtes, wird allein der Bedeutung der jungen Generation und der sie betreffenden Rechtsmaterien gerecht.
Die Schaffung eines Jugendgesetzbuches bezweckt also gerade das Gegenteil von dem, was Herr Kollege Spitzmüller soeben ausgeführt hat. Wir sind der Auffassung, daß ein solches Jugendgesetzbuch das Recht der Jugendhilfe, der Ausbildungsförderung, des Jugendschutzes, des Jugendstrafrechts, des Jugendstrafvollzugs und möglicherweise weitere Materien, über die im Ausschuß zu reden wäre, umfassen sollte. Wir sind der Meinung, daß sich die Bundesregierung an diese Aufgabe — eine wirkliche Reform — möglichst bald heranmachen und von ihrem Plan ablassen sollte, die Jugendhilfe im Sozialgesetzbuch zu regeln, wo sie unserer Auffassung nach nicht hineingehört.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Westphal.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Diskussion der Frage, ob der Bereich der Jugendhilfe in das Sozialgesetzbuch einbezogen werden soll oder nicht, habe ich den Eindruck, daß von den Kritikern, sowohl von jenen, die hier zu diesem Thema sprechen, als auch von denen, die draußen in den Verbänden über diese Frage Überlegungen angestellt haben, die Entscheidung der Bundesregierung auf Einbeziehung des Jugendwohlfahrtsgesetzes des gegenwärtig geltenden Rechts als ein eigenes Buch in das Sozialgesetzbuch gar nicht beachtet wird. Sie übersehen, daß es in der Zwischenzeit eine ganze Menge neuer Entwicklungen auf diesem Gebiet gegeben hat und daß eine Veränderung der wichtigen Einleitungsparagraphen des Allgemeinen Teils zum Sozialgesetzbuch gegenüber der Vorlage stattgefunden hat, die schon in der letzten Legislaturperiode in der Vorbereitung gewesen ist. Die zur Beratung anstehende Vorlage hat hierüber eine Reihe von wichtigen Punkten, auf die ich noch ganz kurz eingehen möchte. Die neue Vorlage weist prinzipielle Verbessenrungen auf, die die Kritiker offenbar teilweise noch nicht erkannt haben. Wenn man beide Entwürfe einmal nebeneinander ansieht, wird dies deutlich.Die Vorstellung, die Bundesregierung wolle die Jugendhilfe in die Rolle einer überholten, veralteten Fürsorgevorstellung dadurch zurückdrängen, daß sie zu dem Gedanken, die Jugendhilfe in das Sozialgesetzbuch einzubeziehen, ja gesagt hat, ist doch nicht haltbar. Ich will das begründen.Einerseits ist das nicht haltbar, weil unter den im Sozialgesetzbuch zu kodifizierenden Materien des Sozialversicherungsrechts, des Versorgungs- und Entschädigungsrechts und auch der sich am Bedarf orientierenden Sozialleistungen kein einziges Gesetz mit überholten fürsorgerischen Vorstellungen ist. Man kann doch wirklich gerade in diesem Haus — quer durch alle Fraktionen — nicht sagen, daß
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Parl. Staatssekretär Westphaldiejenigen, die das Bundessozialhilfegestz einmal gestaltet haben, dabei etwa überholte, alte fürsorgerische Vorstellungen aufrechterhalten hätten. Nein, ganz im Gegenteil: Sie waren es, die damit ein fortschrittliches Gesetz mit seinen an der Person orientierten Hilfen geschaffen haben, das weit von früheren fürsorgerischen oder gar Armenhausvorstellungen vergangener Zeiten weggeführt hat. Gerade die Entwicklung der Sozialhilfe zeigt doch den wachsenden sozialpädagogischen — ich betone innerhalb dieses Wortes den Teil „pädagogischen" — Aspekt eines ganz beachtlichen Teils des Sozialleistungsrechts. Wir sind in diesem Hause zur Zeit gerade dabei, dies durch die Beratung der dritten Novelle zum Sozialhilfegesetz noch auszubauen.Eine zweite Begründung, die ich gern hinzufügen möchte: Wir haben die besonderen Wesensmerkmale und Zielsetzungen des Jugendhilferechts und auch des Sozialhilferechts in diesen ersten Paragraphen, auch im § 11, § 17 und vor allem in der Definition der Jugendhilfe in § 8 des Allgemeinen Teils zum Sozialgesetzbuch deutlich hervorgehoben, und dies hat auch in der Begründung seine Ausführungen gefunden. -Lassen Sie mich dafür einige Beispiele geben. So bringt der § 1 des Entwurfs zum Sozialgesetzbuch, der die Aufgaben des SGB beschreibt, in seiner neuen Fassung zum Ausdruck, daß zu den im Sozialgesetzbuch gestalteten Sozialleistungen auch die sozialen und erzieherischen Hilfen gehören, die insbesondere auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit junger Menschen fördern und den Hilfeempfänger zur Selbsthilfe befähigen soll. Weiterhin wird es als eine. Aufgabe des SGB bezeichnet, dazu beizutragen, daß die zur Erfüllung der genannten Aufgaben erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Im § 8, der -die Jugendhilfe . als ein soziales Recht definiert, heißt es jetzt wie folgt:Jeder junge Mensch hat zur Entfaltung seiner Persönlichkeit ein Recht auf Erziehung. Dieses Recht wird von der Jugendhilfe durch Angebote zur allgemeinen Förderung der Jugend und der Familienerziehung und, soweit es nicht von den Eltern verwirklicht wird, durch erzieherische Hilfe gewährleistet.Also der ganze breite, weite, in Bildung und Erziehung hineingehende Aspekt der Jugendhilfe ist hier eingefangen. Ich will nur noch erwähnen, daß in § 11 begrifflich klargestellt worden ist, daß Dienstleistungen im Sinne des Gesetzes auch die persönliche und die erzieherische Hilfe sind. Ich könnte dies fortsetzen, indem ich Sie auch auf die Begründung dieser Paragraphen und des '§ 17 verweise; aus Zeitgründen will ich aber verzichten.Wer sonst noch Zweifel hat, möge sich den Diskussionsentwurf zum Jugendhilfgesetz ansehen, der von einer Kommission erarbeitet wurde und hier schon erwähnt worden ist. Wir befinden uns mitten in der Diskussion. Eindeutig geht der Trend in Richtung auf Verstärkung des Erziehungs- und Bildungscharakters dieses Rechtsgebietes. Trotzdem wird niemand leugnen können, daß das JugendhilferechtSozialleistungen gewährt und in dieser Hinsicht seinen Zusammenhang zu den anderen Leistungsgeestzen dieses Bereiches behalten muß.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rollmann? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter!
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie es sich dann, daß sich trotzdem die Jugendhilferechtskommission gegen die Einbeziehung der Jugendhilfe in das Sozialgesetzbuch ausgesprochen hat?
Herr Kollege Rollmann, ich habe schon am Anfang meiner Ausführungen darauf hingewiesen, daß ich den Eindruck habe, die meisten Kritiker haben nicht im Blick, daß es inzwischen eine wesentliche Veränderung in den wichtigen, grundlegenden Paragraphen des Allgemeinen Teils des SG$ gegeben hat. Dies konnte die Kommission Jugendhilferecht nicht beachten. Sie hat ihre Arbeit zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, als die Arbeit am SGB noch nicht vollendet war. Insofern hoffe ich in dem Kreis der fachlich Interessierten auf eine weiterführende Diskussion, welche auch die Argumente aufnimmt, die ich hier gerade zusammengefaßt zu erläutern versuche. Ich weiß, daß wir noch nicht alle von dieser Position überzeugt haben. Aber wir führen diese Diskussion, und wir tun es nicht nur mit guten Argumenten, sondern auch mit dem Nachweis, daß wir uns bemüht haben, zusammen mit dem Arbeitsminister den Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches so zu gestalten, daß die Eigenheiten und Besonderheiten der Jugendhilfe in ganz besonderer Weise beachtet werden.Lassen Sie mich noch ein paar Gedanken hinzufügen. Jugendhilfe ist ein eigenständiger Bereich. Wir alle sind daran interessiert, seine Bedeutung zu verstärken, Herr Kollege Rollmann. Die Bedeutung dieses Bereiches wird aber nicht stärker, wenn er sich sozusagen in der Mitte zwischen dem Bildungswesen einerseits und dem Sozialbereich andererseits isoliert. Er wird die Stärke, die wir ihm geben wollen, doch nur dann erreichen, wenn er sozusagen mit beiden Beinen fest auf diesen Grundlagen steht, nämlich — ich möchte es einmal bildlich sagen — das eine Bein im Gesamtbereich der Daseinsvorsorge, das andere Bein im Bildungswesen.Sie haben selbst darauf hingewiesen, daß wir bei der Weiterentwicklung sind. Der Bildungsgesamtplan hat inzwischen Bereiche der Jugendhilfe — Elementarerziehung und außerschulische Jugendbildung — in sich aufgenommen. Die Bundesregierung hat angekündigt, daß bei künftigen Fortschreibungen dieses Bereichs auch die Heimerziehung und ihr großes, breites sozialpädagogisches Vorfeld ein- bezogen werden sollen. Weitere Gebiete werden also hinzukommen.Im übrigen darf ich auf das Bundesausbildungsförderungsgesetz hinweisen. Im Entwurf steht, daß
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Parl. Staatssekretär Westphales als ein eigener Bereich in das Sozialgesetzbuch einbezogen wird. Wenn Herr von Dohnanyi hier spräche, würde er sagen, dies sei ganz eindeutig ein bildungspolitsiches Gesetz mit sozialpolitischen Konsequenzen, mit Sozialleistungen, die es enthalte. Jeder andere hätte auch recht, der umgekehrt sagt, dies sei ein Sozialleistungsgesetz mit bildungspolitischen Konsequenzen. Dies zeigt, wie sehr sich beide Bereiche in der Sozialgesetzgebung, in dieser Gesetzgebung überhaupt zusammenfinden. Damit kann man auch den Jugendhilfebereich durchaus vergleichen.Zum Schluß, Herr Kollege Rollmann, ein Wort an die Opposition zu dem Thema eigenes Jugendgesetzbuch. Sie wollen das Recht im Zusammenhang mit der Jugend vom Jugendarbeitsschutzrecht über das Kindergeld — das haben Sie jetzt in Ihrer Äußerung ausgelassen; vor einigen Wochen war es noch mit dabei — über den Jugendschutz bis hin zum Jugendstrafrecht und dann das Jugendhilferecht in einem Jugendgesetzbuch zusammenfassen. Ich bin immer bereit, neue Gedanken zu überlegen. Das ist aber kein neuer Gedanke. Es kommt doch nur eine Zusammenfassung außerordentlich heterogener Bereiche dabei heraus, die das einzige zusammenfassende Stichwort Jugend in sich haben. Herr Rollmann, kein einziger Gedanke Ihrer Äußerung hier spricht dafür, daß Sie eine Idee für den Allgemeinen Teil eines Jugendgesetzbuches hätten. Wie wollen Sie den für den Bereich des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit gestalten, der sich doch mehr und mehr an den Gewerbetreibenden, an den Kinobesitzer, an den Gastwirt wendet, aber doch nicht an den Jugendlichen? Der soll geschützt werden. Wie wollen Sie das beim Strafrecht sehen? Wir haben heute ein Jugendstrafrecht, das 14- bis 21jährige umfaßt. In Zukunft wird, unter dem Gesichtspunkt der Volljährigkeit, der Schnitt bei 18 Jahren sein. Die Tendenz muß doch dahin gehen, ein Jungtäterrecht zu entwickeln, in das der junge Erwachsene einbezogen wird, und nicht, die Jugend zu isolieren. Für den gesamten Bereich des Kindergeldes steht die Frage an, ob das ein Teil des Steuerrechts wird, jedenfalls wenn es nach den Vorschlägen der Bundesregierung für die große Reform des Familienlastenausgleichs geht.Mir scheint, daß wir unsere Arbeitskraft auf die inneren Verbesserungen, also auf die Reform des Jugendhilferechts, verwenden sollten, nicht auf seine Kodifizierung. Wir würden unsere Beamten mit diesen Aufgaben befassen, anstatt daß sie sich darauf konzentrieren könnten, inhaltliche Überlegungen anzustellen.Meine Damen und Herren, ich möchte gern schließen mit dem Hinweis, daß, wie ich in dem Hauptteil meiner Ausführungen dargelegt habe, die Einbeziehung der Jugendhilfe in das Sozialgesetzbuch von der Bundesregierung wie aus der Begründung deutlich hervorgeht — wohl durchdacht ist. Ich glaube, daß es ein Weg in die richtige Richtung ist, wenn man die Sache so anpackt, wie es hier von der Bundesregierung versucht worden ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, es liegen keine Wortmeldungen mehr vor.
— Es wünscht auch niemand das Wort. Ich schließe die Aussprache.
Sie kennen den Überweisungsvorschlag des Ältestenrats für den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Sozialgesetzbuch. Erhebt sich Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist der Entwurf an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, den Rechtsausschuß und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
— mitberatend — sowie den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen.
Ich höre, daß bezüglich des Antrags der Abgeordneten Rollmann, Kroll-Schlüter und der Fraktion der CDU/CSU interfraktionell vereinbart ist, ihn an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend — und zur Mitberatung sowohl an den Rechtsausschuß als auch an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes
— Drucksache 7/861 --
Das Wort- zur Begründung hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch den jetzt zur ersten Lesung aufgerufenen Gesetzentwurf soll das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit beschleunigt werden. Er dient dem Ziel der Bundesregierung, dem Bürger nicht nur ein gutes, sondern auch ein schnelles Gerichtsverfahren zur Verfügung zu stellen.Die lange Verfahrensdauer in der Sozialgerichtsbarkeit ist seit vielen Jahren Gegenstand der Kritik. Sie werden als Abgeordnete draußen in Ihren Wahlkreisen häufig hierauf angesprochen worden sein und dabei die Unzufriedenheit der betroffenen Bürger gefühlt haben. Man hat auch Verständnis für diese Unzufriedenheit, wenn man auf Grund der vorhandenen statistischen Unterlagen weiß, daß mancher Rechtsstreit tatsächlich oft unvertretbar lange dauert. Trotz gewisser Besserung in den letzten Jahren sind z. B. von den im Jahre 1972 bei den Landessozialgerichten abgeschlossenen Verfahren seit Erhebung der Klage immer noch mehr als ein Drittel drei Jahre und länger anhängig gewesen. Beim Bundessozialgericht waren im gleichen Zeitraum bei mehr als 40 Prozent der erledigten Verfahren seit Erhebung der Klage vier Jahre und länger vergangen. Eine Verbesserung dieser Verhältnisse ist erforderlich, zumal hiervon gerade die finanziell schwächeren Kreise unserer Bevölkerung betroffen werden.In den Rechtsstreitigkeiten vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit geht es, meine Damen und Herren, schließlich in erster Linie um die Durchsetzung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, die
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Bundesminister Arendtden Lebensunterhalt der Betroffenen sicherstellen sollen. Je länger solche Verfahren dauern, desto eher geraten die betroffenen Bürger in eine akute Notlage. Dem will die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf, in dem sie auch Beschlüsse und Anregungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung aus der letzten Legislaturperiode berücksichtigt hat, begegnen. Er enthält Vorschläge, die nach Auffassung der Bundesregierung geeignet sind, die notwendige Beschleunigung des Verfahrens vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit herbeizuführen.Die Schwerpunkte sind: Erstens. Zur Entlastung der Sozialgerichte wird das Vorverfahren in allen Bereichen eingeführt. Künftig wird dann der Versicherte auch in Angelegenheiten der Unfallversicherung und der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten die Maßnahmen der Verwaltung immer in einem Vorverfahren überprüfen lassen können. Zahlreiche Streitfälle zwischen den Versicherten und den Versicherungsträgern werden dadurch bereits im Vorverfahren bei der Verwaltung erledigt werden können. Wir haben, meine Damen und Herren, in der knappschaftlichen Rentenversicherung, die ein solches umfassendes Vorverfahren schon lange kennt, diese Erfahrung machen können. Die Klagehäufigkeit ist hier jedenfalls viel geringer als in der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten.In allen Fällen, in denen bisher im Bereich der Unfallversicherung und der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten die Klage ohne Vorverfahren zulässig war, soll auch künftig unmittelbar Klage erhoben werden können, wenn der Bürger den Weg des Vorverfahrens nicht beschreiten will.Ein zweiter Schwerpunkt ist die Möglichkeit, gegen Urteile der Sozialgerichte unter Übergehung des Landessozialgerichts Sprungrevision beim Bundessozialgericht einzulegen. Diese Möglichkeit wird ausgedehnt. Streitige Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung können dadurch früher als bisher dem Bundessozialgericht vorgelegt und von ihm entschieden werden. Dies dient nicht nur der unmittelbare Beschleunigung des einzelnen Verfahrens, sondern führt durch eine frühere Entscheidung des Bundessozialgerichts zu grundsätzlichen und in der Regel für zahlreiche weitere Einzelfälle bedeutsame Rechtsfragen auch zu einer allgemeinen Beschleunigung der Gerichts- und Verwaltungsverfahren.Drittens soll die Verfahrensrevision eingeschränkt und zugleich die Beschwerde zum Bundessozialgericht gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Landessozialgericht eingeführt werden. Damit soll der beträchtlichen Belastung des Bundessozialgerichts mit Verfahrensrevisionen, auf die allein etwa 40 Prozent aller seiner Entscheidungen entfallen und die nur in ganz geringem Umfang Erfolg haben, begegnet werden.In den letzten Jahren ist bereits ein sehr erfreulicher Rückgang an anhängigen Revisionen beim Bundessozialgericht festzustellen. Bei Fortdauer der bisherigen Belastung mit Verfahrensrevisionen läßt sich jedoch nicht ausschließen, daß die eigentlichen Aufgaben des Bundessozialgerichts, Fragen des Sozialrechts von grundsätzlicher Bedeutung zu klärenund die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung zu gewährleisten, gefährdet wird.Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Beschränkung der Verfahrensrevisionen soll jede Gefährdung dieser wichtigen Aufgabe des Bundessozialgerichts vermeiden und Raum für eine verstärkte und schnellere Rechtsprechung auf materiellrechtlichem Gebiet geben. Dies wird insbesondere dem rechtsuchenden Bürger zugute kommen und die Durchsetzung seiner Rechtsansprüche beschleunigen helfen.Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, daß die in dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Regelungen auch dem Bemühen der Bundesregierung Rechnung tragen, das Gerichtsverfahren in der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit so weit wie möglich zu vereinheitlichen.Deshalb sind die Regelungen der Revision mit dem bereits vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechts der Revision in Zivilsachen und in Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit abgestimmt worden.
Der Gesetzentwurf ist begründet. Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Arnold.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion ,der CDU/CSU begrüßt, daß der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes, der in der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr verabschiedet werden konnte, erneut vorgelegt wird. Vor allem unter zwei Gesichtspunkten halten wir eine Änderung dieses Gesetzes für dringend geboten:Erstens geht es darum, eine Beschleunigung der Verfahren zu erreichen. Die sehr lange Laufzeit der Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit wird seit vielen Jahren in unserem Lande kritisiert. Diese Kritik ist berechtigt; sie ist es insbesondere deshalb, weil die von dieser langen Laufzeit der Gerichtsverfahren Betroffenen ganz überwiegend solche Bevölkerungskreise sind, die finanziell schwach dastehen, und nicht selten ist von den geltend gemachten Ansprüchen ihre jeweilige Existenz abhängig. Die Situation ist dadurch gekennzeichnet, daß es sehr viele Verfahren gibt, die länger als drei Jahre und länger als vier Jahre dauern. Das ist unerträglich. Ich glaube, daß es in den Einzelberatungen der Ausschüsse jetzt entscheidend darauf ankommt, hier ein Höchstmaß an Straffung und auch an klarer Vereinfachung zu erreichen.Zweitens ist nach unserer Auffassung von gleicher Wichtigkeit, die in dem Gesetz zu treffenden Regelungen an die anderen öffentlich-rechtlichen Verfahrensordnungen anzugleichen, um, meine Damen und Herren, auf diese Weise eine größere Vereinheitlichung zu erreichen und um die Rechtspflege für den einzelnen Bürger auch auf diese Weise durchschaubarer zu machen.
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2896 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Dr. ArnoldWir meinen, daß beide Ziele erreicht werden können. Wir wünschen eine zügige Beratung, und wir hoffen, daß dieses Gesetz schon alsbald verabschiedet werden kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der SPD stellt mit Befriedigung fest, daß die in der letzten Legislaturperiode gefaßten Beschlüsse des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung in den neuen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes aufgenommen worden sind. Dies gilt insbesondere für die Einschränkung der Verfahrensrevision, die dem Bundessozialgericht die Möglichkeit schaffen soll, sich in Zukunft stärker als bisher auf die materielle Rechtsprechung zu konzentrieren. Wir haben es hier soeben noch einmal von Herrn Bundesarbeitsminister Arendt gehört: 40% aller Entscheidungen des Bundessozialgerichts betrafen Verfahrensrevisionen; das ist, wie Sie zugeben werden, ein unhaltbarer Zustand, der der dringenden Veränderung bedarf. Mit der Einschränkung der Verfahrensrevision wird der berechtigte Anspruch des Bürgers auf umfassenden Rechtsschutz nicht eingeschränkt, weil gleichzeitig die Möglichkeit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingeführt wird.
Die Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit liefen in der Vergangenheit viel zu lange. Mehr als ein Drittel der Verfahren bei den Landessozialgerichten dauerte drei Jahre und länger, beim Bundessozialgericht ist, wie wir soeben hörten, das Bild noch viel ungünstiger. Wir tun gut daran, uns zu vergegenwärtigen, meine Damen und Herren, was eine zu lange Laufzeit des Verfahrens konkret bedeutet. Die Klage beim Sozialgericht hat grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung, also auch dann nicht,. wenn es um den Entzug oder die Herabsetzung von Renten geht.
Wir begrüßen es, daß das Vorverfahren generell eingeführt werden soll. Alle Betroffenen müssen die Möglichkeit haben, die Änderung eines Bescheides zu verlangen, ohne sofort die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu bemühen, wenngleich dieser direkte Weg natürlich offenbleiben muß — ich lege großen Wert darauf, das besonders zu betonen — und auch offenbleiben wird.
Ein anderer wichtiger Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist die Ausdehnung der Sprungrevision, um schneller zu Grundsatzentscheidungen zu kommen. Die beabsichtigte Änderung wird nicht nur eine Verfahrensbeschleunigung bringen, sondern auch die Rechtspflege für den rechtsuchenden Bürger durchschaubarer machen.
Ich habe den Eindruck, daß es bei der Beratung dieses Gesetzentwurfs keine erheblichen Meinungsverschiedenheiten geben wird. Deshalb werden wir ganz sicher auch in der Lage sein, diesen Gesetzentwurf so schnell wie möglich zu beraten und zu verabschieden.
Ich möchte zum Schluß, meine Damen und Herren, den Antrag stellen, diesen Gesetzentwurf an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend — und an den Rechtsausschuß — mitberatend — zu überweisen. Es entspricht der bisherigen Übung dieses Hauses, Gesetzentwürfe dem Ausschuß zu überweisen, dessen Fachgebiet dem des jeweiligen Fachministeriums entspricht, das federführend bei der Vorlage eines Gesetzentwurfes ist. Das ist in diesem Falle das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Mithin sollten wir, dieser Übung entsprechend, diesen Gesetzentwurf dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zur federführenden Beratung überweisen. Ich versage es mir, über diese formelle Begründung hinaus auf die sachliche Begründung einzugehen, weil uns das länger als notwendig aufhalten würde.
Ich möchte Sie bitten, diesem Antrag Ihre Zustimmung zu geben.
Das Wort hat der Abgeordnete Groß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der offensichtlich in der Sache weitgehend vorhandenen Übereinstimmung kann ich es wie meine Vorredner kurz halten. Es besteht Übereinstimmung über die Notwendigkeit einer Straffung dieser Verfahren.Ich möchte aber auf einen Aspekt hier besonderen Wert legen, nämlich auf die Angleichung der Verfahrensordnungen, die ja in der Vergangenheit noch nicht den gewünschten Stand erreicht hat. Es trägt sicher dazu bei, die Verfahren zu beschleunigen, wenn Streitigkeiten, die zwischen den einzelnen Gerichtsbarkeiten über das Verfahren bestehen und wiederum die Gerichte beschäftigen, ausgeräumt werden können.Noch eine Anmerkung, und das schließt an an das, was der Kollege Glombig eben gesagt hat. Es ist wirklich die Frage, ob für alle Zeiten ein Gesetzentwurf für das Gebiet der Rechtspflege, weil er aus einem bestimmten Hause kommt, in dem für den Fachbereich dieses Hauses zuständigen Fachausschuß beraten werden muß. Ich meine, wir müssen uns auch bei dieser Gelegenheit das Ziel vor Augen halten, doch einmal einer Zusammenfassung der Rechtspflegeorgane näherzukommen, soweit sie verwaltungsmäßig in einem Hause erfaßt werden. Es ist heute nicht der Zeitpunkt, wo wir im einzelnen darüber sprechen sollten, es sollte aber doch gesagt werden, daß es mit Sicherheit eine etwas trügerische Vorstellung ist, wenn man glaubt, die Dienstaufsicht über im übrigen selbständige und unabhängige Richter garantiere den Einfluß des Hauses, oder wenn der Versuch gemacht werden soll, das auf diesem Wege zu erreichen. Schon allein dieser Gedanke könnte für die Richter eine unangemessene Einmischung in ihren Bereich sein oder so empfunden werden. Es sollte unser aller Interesse sein, hier vorzubeugen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2897
GroßIch meine, der Rechtsausschuß dieses Hauses wird Gelegenheit haben, seine Erwägungen zu diesem Gesetzentwurf vorzulegen, auch wenn er nicht federführender Ausschuß ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Arnold.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will ein Wort zur Frage der Überweisung sagen. Es war in der letzten Legislaturperiode so, daß wir diese Vorlage übereinstimmend zur Federführung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung überwiesen haben.
— Es ist damals so gewesen; das ist nachzulesen im Protokoll. Es gab auch gute Gründe, so zu verfahren.
Da es sich hier ganz überwiegend um Verfahrensrecht handelt und zudem um die Angleichung von Verfahrensrecht an andere öffentlich-rechtliche Ordnungen, hielte ich es auch jetzt für richtig, wenn wir so wie damals beschließen würden. Ich habe aber gehört, daß inzwischen unter den Fraktionen in der Richtung gesprochen worden ist, daß die Federführung nunmehr bei dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, die Mitberatung beim Rechtsausschuß liegen soll. Ich stelle mit Rücksicht darauf den früheren Antrag jetzt nicht, meine aber, daß man in vergleichbaren Fällen für die Zukunft über diesen Fragenbereich noch einmal grundsätzlich reden sollte.
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Wenn ich recht zugehört habe, steht nur der Antrag „Überweisung mit Federführung beim Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und Mitberatung beim Rechtsausschuß" zur Abstimmung.
Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr.
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 auf:
Fragestunde
— Drucksache 7/1004 —
Wir fahren zunächst mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung fort. Der Herr Abgeordnete Stahl hat die
von ihm eingebrachten Fragen 38 und 39 zurückgezogen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung abgeschlossen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Ravens zur Verfügung. Die erste Frage — Frage 64 — ist von dem Herrn Abgeordneten Freiherr Spies von Büllesheim eingebracht worden:
Warum hat der Bundeskanzler nicht sofort nach Vorlage des sogenannten Schlieker-Berichts, der schwerwiegende Mängel in der Flugsicherung und bei den Arbeitsbedingungen der Fluglotsen feststellt, für die Aufnahme interministerieller Beratungen über ein Konzept der Bundesregierung zur Lösung der Probleme Sorge getragen?
Herr Staatssekretär- !
Herr Kollege, die Bundesregierung hat sich seit Jahren immer wieder mit dem Problem der Flugsicherung und seiner Lösung befaßt. Sie hat dabei sowohl in interministeriellen Beratungen als auch im Kabinett viele konstruktive Vorschläge geprüft und wesentliche Teile davon verwirklicht. In diesem Zusammenhang sind auch die von Ihnen angeführten Empfehlungen des Herrn Schlieker zu sehen und behandelt worden.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist die Bundesregierung bereit zu prüfen, ob eine Veröffentlichung des sogenannten Schlieker-Berichts dazu beitragen könnte, die Diskussion um den Fluglotsenkonflikt zu versachlichen und damit die Basis für eine baldige Lösung zu schaffen?
Herr Kollege, wie ich sehe, hat der Verkehrsausschuß die Bundesregierung dazu aufgefordert. Sie werden diese Frage morgen im Verkehrsausschuß durch den Ressortminister sicherlich beantwortet erhalten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist der Bundesregierung bekannt, daß der Bundesverkehrsminister nicht einmal bereit ist, den sogenannten Schlieker-Bericht in den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestages zur Diskussion zu stellen?
Ich weiß nicht, ob das eine Frage der Bereitschaft ist oder ob es um die Frage des Behandelns von vertraulichen Mitteilungen durch Herrn Schlieker geht. Sie werden mir sicher zustimmen, daß, soweit solche Erklärungen vertraulich abgegeben worden sind, sie nicht einer öffentlichen Behandlung zugänglich sind.
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2898 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Müller-Hermann!
Herr Staatssekretär, ist der Bundeskanzler bereit, Weisung zu geben, daß der Schlieker-Bericht in angemessener Weise veröffentlicht wird, gegebenenfalls, wenn Sie meinen, daß er vertrauliche Dinge enthält, in den entsprechenden Teilen?
Herr Kollege, ich rate dringend, die Ausschußsitzung am morgigen Tag, in der der zuständige Minister und der Innenminister dem Verkehrsausschuß und dem Innenausschuß umfänglich Bericht erstatten und auch Gründe nennen werden, abzuwarten und diese Frage dann noch einmal zu stellen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Börner.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß es unfair ist, Ihnen heute eine solche Frage vorzulegen, nachdem sich der Bundesverkehrsminister am vergangenen Freitag im zuständigen Verkehrsausschuß ausdrücklich zur Veröffentlichung des Berichts bekannt hat, die Veröffentlichung eines Teils, der nur von Herrn Schlieker als Person verfaßt, nicht aber von der Kommission untermauert wurde, jedoch abgelehnt hat?
Einen Augenblick, Herr Staatssekretär! — Herr Kollege, soweit Ihre Zusatzfrage eine Wertung enthält, ist diese unzulässig. In der Sache ist sie dagegen zulässig.
Bitte!
Herr Kollege Börner, ich danke Ihnen für den Hinweis. Ich glaube, daß er für die Weiterbehandlung dieses Punktes hilfreich ist.
Ich rufe die nächste Frage —Frage 65 — des Herrn Abgeordneten Schulte auf:
Ist der Bundeskanzler der Auffassung, daß eine schleppende Behandlung der Schlfeker-Empfehlungen und Zusagen des ehemaligen Verkehrsministers Leber an die Fluglotsen entscheidend zu dem Fluglotsenkonflikt beigetragen haben?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, Sie wissen als Mitglied des Verkehrsausschusses sicherlich aus den häufigen Beratungen in Ihrem Ausschuß, daß von einer „schleppenden Behandlung" nicht die Rede sein kann. Die Behauptung, daß Bundesminister Leber den Fluglotsen in der Sache Zusagen gemacht hätte, ist unzutreffend. Im übrigen haben Sie wie alle Ihre Kollegen im Verkehrsausschuß erst am vergangenen Freitag einen umfassenden Bericht des Herrn Bundesverkehrsministers zu diesem Fragenkomplex entgegengenommen. Soweit ich unterrichtet bin, haben Sie dort Bedenken gegen die unterbreiteten Vorschläge oder Alternativen nicht vorgetragen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter!
Herr Staatssrekretär, hätte die Bundesregierung nach den leidvollen Erfahrungen der Gespräche, die der frühere Bundesverkehrsminister Leber ja doch mit den Fluglotsen geführt hat, nicht von Anfang an durch eine koordinierte, interne Strategie dafür Sorge tragen müssen, daß der jetzige Bundesverkehrsminister nicht durch unausgegorene und im Zickzackkurs abgegebene Vorschläge ins Zwielicht gerät?
Herr Kollege, was die Wertung betrifft, gilt dasselbe, was ich dem Herrn Abgeordneten Börner gesagt habe. In der Sache lasse ich Ihre Frage zu.
Herr Kollege, darf ich für die Bundesregierung feststellen: Die Bundesregierung — ich habe dies in den vergangenen Tagen noch einmal sehr sorgfältig geprüft — hat alle ihre Schritte in enger Übereinstimmung mit den Fachausschüssen. des Deutschen Bundestages durchgeführt. Ich erinnere an die Entschließung Ihres Ausschusses vom 18. Juli dieses Jahres, in der es ausdrücklich heißt, daß unter Druck nicht verhandelt werden solle.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für ein koordiniertes Vorgehen, wenn der Bundesverkehrsminister eine Kabinettsvorlage einbringt, diese Vorlage aber vorher beteiligten Verbänden zur Kenntnis gegeben wird und das Kabinett diese Vorlage nachher nur zur Kenntnis nimmt, aber nicht zustimmt?
Herr Kollege, dies ist ein Irrtum, der bei Ihnen entstanden ist. Das Kabinett hat eine Vorlage des Herrn Bundesministers für Verkehr gehabt. In dieser Vorlage ging es auch um Fragen besoldungsrechtlicher Art. Es standen Verhandlungen mit den Gewerkschaften an, die dazu ja gehört werden müssen. Das Kabinett hat es auf Empfehlung des Herrn Bundesverkehrsministers für richtig gehalten, den Teil nicht zu beschließen, der diesen Fragenkomplex „Besoldung und Veränderung in der Besoldungsstruktur" beinhaltete. So ist die Geschichte im Kabinett gelaufen. Das heißt: Der Verkehrsminister hat für seine Verhandlungen auf der Grundlage des vorgelegten Papiers die volle Rückendeckung des Kabinetts erhalten und auf dieser Basis dann auch weitere Gespräche geführt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2899
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß der Herr Bundesverkehrsminister am 20. August ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Fluglotsenverbandes, Herrn Kassebohm, geführt hat, und haben dabei die ehemaligen Zusagen von Herrn Leber eine Rolle gespielt?
Herr Kollege Müller-Hermann, auch diese Frage sollten Sie dem Herrn Bundesverkehrsminister stellen, der seine Gespräche führt, ohne daß er bei mir vorher fragt, welche er führt.
Ich rufe die Frage 66 des Herrn Abgeordneten Dr. Miltner auf:
Hält es der Bundeskanzler angesichts seiner Feststellung, der rechtswidrige Bummelstreik der Fluglotsen diskreditiere insgesamt die Beamten in der öffentlichen Meinung, fur angemessen, daß das Bundeskabinett erstmals am 27. August 1973 — drei Monate nach Beginn der Bummelaktion -- eingehender über Lösungsmöglichkeiten beraten hat?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, Sie irren in Ihrer Annahme. Die Bundesregierung hat sich nicht erst am 27. August dieses Jahres, sondern schon weit vor diesem Termin, und zwar mehrfach und intensiv, mit den Fragen der Fluglotsen und der Flugsicherheit befaßt und darüber in den Fachausschüssen des Bundestages auch berichtet.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter!
Herr Staatssekretär, betraf das aber nicht die anderen Bummelstreiks? Kann man nicht davon ausgehen, daß es bei diesem nun laufenden Bummelstreik das erste Mal war?
Nein, auch bei diesem laufenden Bummelstreik.
Bitte, Herr Kollege, eine weitere Zusatzfrage!
Sind Sie der Meinung, Herr Staatssekretär, daß der Bundeskanzler mit seinem Schreiben vom 3. August an den Vorsitzenden des Verkehrsausschusses das Notwendige getan hat, um zu einer schnellen Beseitigung eines Ärgernisses für das soziale Klima in der Bundesrepublik beizutragen?
Der Bundeskanzler hat mit seinem Brief das in der damaligen Zeit Notwendige getan. Er hat darüber hinaus eine Reihe von weiteren Schritten unternommen.
Ich rufe die Frage 67 des Herrn Abgeordneten Dr. Miltner auf:
Sieht der Bundeskanzler angesichts der verschiedenen Absichten und Vorschläge des Bundesverkehrsministers sowie der Dauer der Auseinandersetzung nicht die Gefahr, daß sich der Öffentlichkeit jede von der Regierung jetzt angestrebte Lösung so darstellen muß, als sei letztlich doch unverantwortliches Handeln der Fluglotsen belohnt worden?
Zunächst, Herr Kollege Miltner, freue ich mich, feststellen zu können, daß Sie mit der Beurteilung der Bundesregierung übereinstimmen, es liege ein unverantwortliches Handeln von Fluglotsen vor. Die Bundesregierung sah und sieht sich auch durch das Verhalten der Mitglieder aller Fraktionen in den verschiedenen Sitzungen des Verkehrsausschusses und, soweit es dort eine gemeinsame Basis gab, auch des Innenausschusses in ihrer Auffassung bestärkt, nicht unter ungesetzlichem Druck zu verhandeln. Das kann die Bundesregierung jedoch nicht von der Aufgabe befreien, über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken und Vorschläge zur Verbesserung der Flugsicherung zu entwickeln und vorzulegen. Ich erinnere hier an das Ausbauprogramm 1970 bis 1975.
Herr Kollege, im übrigen sind Regierung und Opposition aber nicht dagegen gefeit, nicht nur in der Öffentlichkeit mißverstanden zu werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Miltner.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die zögernde Haltung der Bundesregierung und insbesondere auch das Hin und Her des Bundesverkehrsministers zu einer Unruhe in der Beamtenschaft geführt haben?
Herr Kollege, sind Sie der Auffassung — dies muß ich dann so feststellen —, daß die Bundesregierung von vornherein einem erpresserischen Druck nachgeben sollte oder daß sie es jetzt tun soll? Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß sie dies nicht tun, sondern bei ihrer Haltung bleiben sollte.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, würden Sie mit mir einen Unterschied zwischen Verhandeln und Sprechen machen, und entspricht das nicht auch dem, was die Bundesregierung jahrelang getan hat und was ja offenbar auch der Verkehrsminister am 27. August getan hat?
Es besteht durchaus ein Unterschied zwischen Verhandeln und Sprechen. Das sehe ich auch so.
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2900 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Schulte.
Herr Staatssekretär, warum hat die Bundesregierung, wenn sie nicht unter Druck verhandeln will, nicht vor Beginn des Bummelstreiks, der ja angekündigt war, versucht, ernsthafte Gespräche zu führen?
Herr Kollege, geht das nach dem Motto „wenn einer droht, fällt die Regierung um" oder wie? Ich glaube, das ist nicht die Haltung dieser Bundesregierung.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Spies von Büllesheim.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Warum war eine neue Untersuchung der Grundfrage „Beamtenrecht oder nicht?" noch notwendig, nachdem eine interministerielle Kommission, an der sechs Ministerien beteiligt waren, eindeutig festgestellt hatte, daß eine Lösung nur auf der Grundlage des Beamtenrechts möglich sei?
Herr Kollege, auch dies fällt ja wohl in das Beantwortungsrecht des Bundesministers für Verkehr. Aber es gibt immer wieder die Notwendigkeit, Entscheidungen auch interministerieller Gremien unter neuen Gesichtspunkten noch einmal zu durchleuchten. Wir können jeden Tag alle klüger werden.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Hoffie.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, den Kollegen darauf hinzuweisen, daß es der ausdrückliche Wunsch auch der Opposition war, gerade diese Statusfrage erneut überprüfen zu lassen?
Schönen Dank, Herr Kollege. Ich bin gern bereit.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Breidbach.
Herr Staatssekretär, nachdem die Bundesregierung nicht unter Druck verhandeln will, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen eine tarifliche Auseinandersetzung bekannt ist, in der im letzten nicht unter Druck verhandelt wird.
Herr Breidbach, es ist wohl ein erheblicher Unterschied, ob ein Beamter widerrechtlich seine Möglichkeiten mißbraucht, um für sich und seine Gruppe Vorteile zu Lasten der Gesamtbeamtenschaft und der Gesamtbevölkerung herauszuholen, oder ob Arbeitnehmer in einem ordnungsgemäßen Verfahren des Tarifrechts Auseinandersetzungen mit ihrem Arbeitgeber führen. Hier liegt ein großer qualitativer Unterschied.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Wagner.
Herr Staatssekretär, wir sind uns einig, daß das Verhalten der Fluglotsen rechtswidrig ist. Sind Sie nicht trotzdem der Auffassung, daß die Bundesregierung eine Schuld an der Entwicklung insoweit hat, als sie über eine Reihe von Jahren hinweg Versprechungen über die Lösung der Status- und der Besoldungsfragen gemacht hat, die niemals irgendwie verwirklicht worden sind?
Herr Kollege Wagner, hier muß ich an die Souveränität des Parlaments appellieren und darf vielleicht darauf verweisen, daß der Herr Bundesverkehrsminister in seinem Haushalt vorgeschlagen hatte, für dieses Jahr zusätzlich 35 Stellen zu bewilligen. Der Haushaltsausschuß war der Auffassung — und ich habe das zu akzeptieren —, daß Personalvermehrungen auch auf diesem Gebiet in diesem Jahr nicht erfolgen sollten.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen irgendein eigener konstruktiver Vorschlag der Opposition bekanntgeworden, der geeignet gewesen wäre, in der Sache weiterzuführen?
Wenn Sie so fragen, Herr Kollege, muß ich mit einem klaren Nein antworten.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Pfeffermann.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir einräumen, daß in diesem Zusammenhang und im Zusammenhang mit der Statusfrage, die vorhin vom Kollegen Hoffie angesprochen worden ist, gerade der Vorschlag des Herrn Hoffie für die Weiterbehandlung des Themas durchaus nicht — um es vorsichtig auszudrücken sehr freundlich für die Bundesregierung war?
Herr Kollege, die Bundesregierung hatte in diesem Fall den Wunsch des Ausschusses zu respektieren — sie ist dem nachgekommen —, über die Statusfrage noch einmal neu nachzudenken.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Müller .
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2901
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Opposition im Haushaltsausschuß am 14. Juni dieses Jahres die Stellenanforderungen der Bundesregierung und damit auch die 35 Stellen, die der Bundesverkehrsminister für die Flugsicherungsanstalt angefordert hatte, grundsätzlich abgelehnt hat, während die Koalition in Aussicht gestellt hat, im September diese Dinge positiv zu behandeln, und daß dabei die Opposition auch jetzt noch nicht die Zeit gefunden hat, die neue Vorlage zu behandeln, sondern dies erst am 3. Oktober geschehen soll?
Schönen Dank, Herr Kollege. Vielleicht darf ich aber auch hier sagen: Bisher habe ich den Eindruck gehabt, daß das Parlament — mit wenigen Ausnahmen — in den Fachausschüssen eine einheitliche Auffassung gehabt hat, die sich mit der der Bundesregierung deckte. Das Parlament trug diese Auffassung mit, nämlich: keine Verbesserungen, solange der Druck fortgesetzt wird.
Das mag der auslösende Effekt für das Verhalten im Haushaltsausschuß gewesen sein. Ich hoffe, daß der Bundestag gemeinsam mit der Bundesregierung im Haushaltsausschuß die neue Vorlage nun möglichst schnell prüft, um hier neue Spielräume zu schaffen.
Letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jenninger.
Herr Staatssekretär, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß die Opposition leider Gottes noch nicht die Mehrheit im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages hat und daß dort die Koalition diese Stellen abgelehnt hat, aber nicht, wie Sie es vorher dargestellt haben, weil wir diese Stellen nicht genehmigen wollten, sondern weil die Bundesregierung in der Person des Parlamentarischen Staatssekretärs Haar nicht in der Lage war, die Stellenanforderungen im einzelnen zu begründen und auch dazu etwas zu sagen, daß in diesem gesamten Bereich der Flugsicherung über 100 Stellen bisher nicht besetzt sind, daß also ausschließlich dies der Grund war, diese Unfähigkeit der Bundesregierung?
Herr Kollege, ich habe Sie hier, um die Debatte nicht abzubrechen, reden lassen. Aber Zusatzfragen -- das muß auch jedem parlamentarischen Geschäftsführer klar sein müssen nach der Geschäftsordnung knapp und klar sein.
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, ich bedaure nicht — aus wohl auch von Ihnen verstandenen Gründen —, daß die Opposition im Haushaltsausschuß nicht die Mehrheit hat. Ich begrüße dies.
Das, was im Haushaltsausschuß nach den Berichten wohl eine Rolle gespielt hat, ist die gemeinsame Haltung des Haushaltsausschusses, bestärkt durch den Verkehrsausschuß, gewesen, daß nicht verhandelt werden sollte. Wogegen ich mich wehre — und, Herr Kollege, ich glaube, auch wehren muß --, ist, daß die Opposition die bisherige Haltung, die sie mitgetragen hat, nun plötzlich durch eine Hintertür verlassen und den Eindruck erwecken will, sie habe das alles vorher gar nicht so mit gewollt.
Die nächste Frage, die Frage 68, ist von Herrn Abgeordneten Sick eingebracht:
Trifft die Feststellung des Bundeskanzlers noch zu, daß die vom Bundesverkehrsminister eingeleiteten Disziplinarmaßnahmen mit Nachdruck verfolgt werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Ja.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, ob diese Disziplinarmaßnahmen schon praktische Auswirkungen, spürbare Auswirkungen gehabt haben, und können Sie dazu genauso klar und umfassend antworten, wie Sie es eben getan haben?
Herr Kollege, Disziplinarmaßnahmen haben ihre eigenen Gesetze. Sie gehen nach Recht und Gesetz. Ihr Ablauf muß abgewartet werden. Sie werden Ihre Wirkungen im vollem Umfang wahrscheinlich erst dann zeigen, wenn sie zu Ende geführt worden sind. Hier steht die Bundesregierung aber in Recht und Gesetz.
Eine weitere Zusatzfrage.
„In vollem Umfang" sagen Sie, Herr Staatssekretär. Treffen Andeutungen des Verbandsvorsitzenden Kassebohm zu, daß es sich hier nur noch um eine verbale Pflichtübung handle und im übrigen die Disziplinarmaßnahmen nur auf Sparflamme gekocht würden?
Dies ist falsch.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Müller-Hermann.
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2902 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Herr Staatssekretär, wie steht es denn mit den Gerichtsverfahren, die Sie in Hannover angestrengt haben?
Dieses Gerichtsverfahren wird, soweit meine Informationen lauten, jetzt im November durch das Gericht auf die Tagesordnung gesetzt. Aber Sie wissen wie ich, Herr Müller-Hermann, daß die Gerichte in diesem Lande nicht von Weisungen der Regierung abhängig sind, sondern ihre Tagesordnungen selber festlegen. Darauf müssen wir warten.
Wir würden es begrüßen, wenn die damit befaßten Gerichte alles zur Beschleunigung der bei ihnen anhängigen Verfahren täten.
Herr Kollege, eine Zusatzfrage!
Ist der Bundesregierung bekannt — und, wenn nein, warum nicht —, daß die angeblich mit Energie betriebenen Disziplinarmaßnahmen von seiten der zuständigen Dienstbehörde offensichtlich als go-slow-Aktion betrieben werden?
Diese Ihre Unterstellung ist wiederum falsch. Sie werden mit Nachdruck betrieben.
Ich rufe die nächste Frage auf, die Frage 69 des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Teilt der Bundeskanzler die Auffassung seines Verkehrsministers, der Flugverkehr in der Bundesrepublik Deutschland verlaufe im wesentlichen normal, obwohl täglich ca. 150 Fleige ausfallen und allein der Lufthansa monatlich ein finanzieller Verlust von 50 Millionen DM entsteht?
Herr Kollege Müller-Hermann, Ihre Frage hat sich eigentlich durch die Sitzung des Verkehrsausschusses am 14. September erledigt. Ich will es trotzdem wiederholen. Sinngemäß hat der Bundesminister für Verkehr dort erklärt, daß es sich bei Verspätungen bis zu 20 Minuten um Verzögerungen bei An- und Abflügen handle, die auch außerhalb derartiger go-slow-Aktionen und bei voller Besetzung im Tower vorkommen könnten. Selbst höhere Werte seien infolge importierter Verzögerungen von ausländischen Kontrollstellen möglich und üblich. --- Ich nehme doch an, daß Sie an der Sitzung teilgenommen haben, oder?
Eine Zusatzfrage.
Dr. Müller-Hermann : Herr Staatssekretär, wenn 150 Flüge am Tage eingespart werden müssen und Verspätungen bis zu drei Stunden durchaus etwas Normales sind — leider geworden sind —, würden Sie dann die Auffassung des Herrn
Bundesverkehrsministers auch heute noch bestätigen wollen, daß der Flugverkehr im Grunde völlig normal sei?
Diese Auffassung hat der Bundesminister für Verkehr nicht vertreten, sondern er hat darauf verwiesen, daß Verspätungen bis zu 20 Minuten auch bei vollbesetztem Tower, auch außerhalb von goslow-Aktionen, auch bei einem vollen Flugplan üblich und möglich sind und daß sie sich zum Teil durch importierte Verspätungen, d. h. -Verspätungen von Flugzeugen, die aus anderen Staaten kommen, sogar noch verlängern können.
Das sind doch lächerliche Verharmlosungen — —
Herr Abgeordneter Müller-Hermann, ich bitte Sie dringend, keine Feststellungen zu treffen, sondern Zusatzfragen zu stellen. Sie haben offensichtlich keine Zusatzfrage mehr.
— Herr Kollege, dann stellen Sie bitte Zusatzfragen, statt solche Bemerkungen zu machen.
Bitte!
Herr Staatssekretär, müssen Sie nicht objektiverweise zugeben, daß diese Verharmlosung der doch tatsächlich eingetretenen Verspätungen und der Verkürzung des Flugdienstes auf den Stand der 50er Jahre und solch völlig abwegige, in dem Zusammenhang gar nicht verständliche Abmilderungsversuche des Bundesverkehrsministers nicht angemessen sind?
Das ist kein Abmilderungsversuch gewesen. Der Bundesverkehrsminister hat niemals geleugnet, daß die Einschränkung von Flügen im innerdeutschen Flugverkehr ein anormaler Zustand ist. Er hat auch nicht geleugnet — im Gegenteil: er hat das immer wieder festgestellt —, daß das ursächlich mit rechtswidrigem Verhalten von Fluglotsen zusammenhängt, nicht mit seinem Verhalten; denn er läßt nicht ausfallen, sondern durch Verhalten der Fluglotsen fallen Flüge aus.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Börner.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß es der Klärung solcher Probleme in der Fragestunde förderlich wäre und sich Mißverständnisse oder — besser gesagt — Mißinterpretationen vermeiden ließen, wenn Herr Müller-Hermann die zuständige Sitzung des Fachausschusses, dem er ja angehört, auch besuchte?
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2903
Ich bin bisher von der Annahme ausgegangen, Herr Kollege Börner, daß Herr Müller-Hermann die Sitzungen des Ausschusses für Verkehr regelmäßig besucht. Da scheine ich mich getäuscht zu haben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Waffenschmidt.
Herr Staatssekretär, wie würden Sie die noch in der vergangenen Woche bei Verspätungen wiederholt gegebenen Informationen der Fluggesellschaften, daß eben diese Verspätungen auf den Bummelstreik der Fluglotsen zurückzuführen seien, in Einklang bringen mit dem, was Sie soeben vorgetragen haben, nämlich daß das wohl im Rahmen landesüblicher oder international üblicher Verspätungen zu sehen sei?
Ich glaube, Herr Kollege, man muß das hier sauber auseinanderhalten. Es gibt eine Reihe und es treten durch die Haltung der Fluglotsen eine Fülle von Verspätungen ein. Aber — das, glaube ich, soll und muß man auch sagen — wir dürfen auch nicht den Eindruck erwecken, Herr Kollege, als könnte bei voller Besetzung und ohne go slow in der Luftfahrt ein Fahrplan eingehalten werden, wie er bei der Bundesbahn üblich ist, nämlich auf die Minute genau.
Diese Frage hat nach den Ausschußprotokollen eine Rolle gespielt. Darauf ist diese Antwort gegeben worden. Ich glaube, das sind zwei verschiedene Felder, die man dabei nebeneinander, sauber und sorgfältig getrennt, sehen muß.
Eine letzte Zusatzfrage ,des Herrn Abgeordneten Schulte.
Herr Staatssekretär, würden Sie es als eine Böswilligkeit des Kollegen Wolfgang Schmidt aus der SPD-Fraktion bezeichnen, wenn dieser auf einer Pressekonferenz in München erklärt, die Angaben aus Lauritzens Ministerium, der Flugverkehr laufe normal, seien einfach falsch?
Ich habe die Äußerungen des Kollegen Schmidt nicht gelesen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mit dem Kollegen Schmidt darüber redeten. Er kann hier jetzt leider keine Antwort geben, und ich kann in diesem Moment schlecht Vermittler spielen.
Ich rufe die Frage 70 des Herrn Abgeordneten Müller-Hermann auf:
Wie lange will der Bundeskanzler angesichts des seit übe! drei Monaten anhaltenden Fluglotsen-Konflikts noch seinen Verkehrsminister im Amt halten?
Gespräche zwischen Parlamentariern sind jederzeit möglich, nur nicht von dieser Stelle aus. Das ist das Problem. So ist die Fragestunde konstruiert. —Entschuldigung, Herr Präsident.
Herr Müller-Hermann, für die Auseinandersetzung mit einer Spezialistengruppe, die durch unverantwortliches Handeln — wie Herr Kollege Miltner es nannte — den Luftverkehr beeinträchtigt und während der Hauptreisezeit einigen zigtausend Urlaubern mit ihren Kindern unkalkulierbare Wartezeiten mit zum Teil erheblichen Strapazen zugemutet hat, wäre es gut, wenn die Opposition nicht nur in den Fachausschüssen, sondern auch im Bundestag und in der Öffentlichkeit die Haltung der Bundesregierung unterstützte.
Der Herr Bundeskanzler steht voll hinter seinem Verkehrsminister. Wenn es sich, wie der Verkehrsausschuß in seiner Sitzung am 18. Juli 1973 einstimmig festgestellt hat, um rechtswidriges Verhalten einer Gruppe gegenüber dem Staat handelt, wäre es gut, wenn auch Sie sich dieser Haltung anschließen und sich auf die Seite des Rechts stellen könnten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, ich unterstelle zunächst, daß Sie wissen, wie sehr die Opposition das Verhalten der Fluglotsen verurteilt hat.
Darf ich die Frage stellen, ob der Herr Bundeskanzler bei den Zusammenhängen, die lange zurückreichen und die man ja sehen muß — denn dieser Fluglotsen-Bummelstreik ist der fünfte und hat eine lange Vorgeschichte —, nicht doch der Meinung ist, die auch der Kollege Wolfgang Schmidt zum Ausdruck gebracht hat, daß ein großes Verschulden beim Verkehrsminister wegen dessen ungeschickter, widersprüchlicher und auch fahrlässiger Verhandlungsführung zu suchen ist.
Herr Kollege Müller-Hermann, hier handelt es sich um eine Auseinandersetzung auf einem schwierigen Feld. Wir haben es hier mit Beamten zu tun, die nach dem Willen eines viel früheren Verkehrsministers zu Beamten gemacht worden sind,
die normalerweise in der Dienstverpflichtung gegenüber ihrem Dienstherrn stehen. Diese Beamten halten sich nicht an ihre Dienstpflicht. Bei der Sonderheit dieses wirklich schwierigen Betriebes — das
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2904 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Parl. Staatssekretär Ravenswill ich gern zugestehen —, den sie dort durchführen, ist der Nachweis von rechtswidrigem Verhalten schwierig; auch dies wissen wir.Die Probleme im Flugsicherungsdienst sind weitreichender, umfassender Natur. Das führt dahin — wie Sie wahrscheinlich besser wissen als ich daß z. B. Entwürfe für bestimmte Einrichtungen, die benötigt werden, gemeinsam mit der Industrie und den dort Tätigen geschaffen werden müssen. Es gibt dort nicht irgend etwas, was man im Kaufhaus kaufen kann. Das führt dahin, daß bestimmte Einrichtungen, die dringend notwendig sind, erst im Jahre 1975 oder 1976 zur Verfügung stehen können. Wir haben es hier mit einem Anpassungsprozeß zu tun, der die Flugsicherheit über die Anfangsjahre des Flugbetriebes in der Bundesrepublik bis in die Mitte oder zum Ende der 60er Jahre an die Notwendigkeiten anpaßt, die sich jetzt immer stärker ergeben. Das ist ein Prozeß, von dem wir wissen, daß er von der Technik her nicht von heute auf morgen gelöst werden kann. Genau in diesen schwierigen Prozeß stoßen die Gruppen von Spezialisten hinein und nehmen den Faktor Mensch als eine Möglichkeit, mehr zu stören, als es notwendig wäre.Hier zu sagen, die Bundesregierung habe ihrerseits, nachdem sie sich für all ihre Schritte jeweils auch die Meinung des Parlaments in den Fachausschüssen geholt hat, gesäumt, falsch gehandelt oder nicht rechtzeitig gehandelt, widerspricht, so glaube ich, besserem Wissen eines Mannes, der in seiner Fraktion seit Jahren Verkehrspolitik betreibt und ) mit diesem Problem bekannt und vertraut sein sollte.
Herr Abgeordneter Müller-Hermann, eine weitere Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, ich befinde mich natürlich Ihnen gegenüber im Nachteil, weil ich meine Aussagen in Frageform kleiden muß. Ich kann daher auch Ihre Versuche schlecht zurückweisen, nun praktisch noch die Schuld am Bummelstreik der Opposition anlasten zu wollen.
Da es, wie Sie mit Recht sagen, viele Zuständigkeiten auch für dieses Gebiet innerhalb des Kabinetts gibt und die Abstimmung durch den Bundeskanzler offenbar nicht erfolgt,
darf ich konkret die Frage stellen: wäre es dann nicht zweckmäßiger gewesen, gerade in den Besoldungsfragen auch den für diese Dinge zuständigen Innenminister als Verhandlungsführer einzusetzen, statt diesen Themenbereich dem Herrn Bundesverkehrsminister zu belassen?
Der Herr Innenminister ist an allen Gesprächen beteiligt gewesen, Herr Müller-Hermann. Zu Ihrem ersten Punkt: Der Bundeskanzler ist mit dieser Frage ständig beschäftigt; es ist nicht so, wie Sie sagen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach.
Herr Staatssekretär, können Sie einen Vorgänger von Herrn Lauritzen im Amt oder einen anderen Ministerkollegen benennen, der sich unter Druck oder in ähnlich schwierigen Situationen wie der jetzige Verkehrsminister ähnlich lange Zeit als so unfähig erwiesen hat, diesen Druck zu beseitigen, wie Herr Lauritzen?
Herr Kollege Breidbach, zunächst hat Herr Kollege Lauritzen in der Auseinandersetzung bewiesen, daß er Nerven hat und daß er mit diesem Problem fertig wird. Dies ist das erste.
Deswegen muß ich Ihren Vorwurf der Unfähigkeit zurückweisen.
Nun zum zweiten, Herr Kollege Breidbach. Sie sind Gewerkschaftler und wissen wie ich, daß sich hier erstmals für die Bundesrepublik etwas stellt, was sich in der ganzen westeuropäischen Welt bis jetzt schon einige Male gestellt hat: das Phänomen von Einzelgruppen in Schlüsselstellungen, die auf dem Rücken anderer für sich selber Vorteile erwirtschaften wollen. Dies stellt sich zum erstenmal und ist nach unserem Beamtenrecht nur ein schwer lösbares Problem. Vor diese Frage ist vor Herrn Bundesminister Lauritzen und vor Herrn Bundesminister Genscher noch kein anderer Minister gestellt worden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Liedtke.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß Fragen der Besoldung, des Laufbahnrechts, des Statusrechts zur ständigen Aufgabe der Regierung gehören, da wir alle wissen, daß diese Bürokratie nicht statisch, sondern dynamisch ist? Teilen Sie meine Auffassung, daß es verheerende Folgen hat, wenn wir ein Gesamtkonzept verlassen, um Pressure groups einen Vorrang einzuräumen?
Herr Kollege, zum ersten Teil Ihrer Frage: So ist es, auch wenn uns das immer wieder auf der Haushaltsseite Bauchschmerzen bereitet. Zum zweiten Teil Ihrer Frage sage ich ganz klar ja.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Spies von Büllesheim!
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2905
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, sind Sie der Auffassung, daß die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers in dieser Frage in irgendeiner Weise wirksam in Erscheinung getreten ist? Sind Sie nicht auch mit mir der Meinung, daß es angesichts dieses erstmals aufgetretenen von Ihnen so genannten Phänomens unter Beteiligung verschiedener Ministerien an dieser Frage ein Anlaß gewesen wäre, diese Richtlinienkompetenz auch auszuüben?
Herr Kollege, ich würde raten, einmal in die Verfassung zu schauen und dann die Frage selbst zu beantworten. Ich glaube, Sie hätten sie dann nicht gestellt. Im übrigen — ich sage das noch einmal — haben sich das Kabinett wiederholt unter Vorsitz des Herrn Bundeskanzlers und. der interministerielle Ausschuß, auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers hin gebildet, mit diesem Problemkreis beschäftigt. Der Herr Bundeskanzler kann allerdings den Fluglotsen nicht die Anweisung erteilen, sie sollten aufhören zu bummeln.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schulte.
Herr Staatssekretär, um auf Ihre erste Antwort zurückzukommen, möchte ich Sie fragen, ob Sie es für logisch zwingend halten, aus der Rechtswidrigkeit des Fluglotsenstreiks zu folgern, man müsse einen im Zickzackkurs fahrenden Verkehrsminister verteidigen?
Es ist kein Zickzackkurs gefahren worden. Sie können beim Nachlesen der Protokolle und Entscheidungen sehen, daß es eine bis heute genau durchgehaltene gerade Linie gibt.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Tillmann.
Herr Staatssekretär, Sie sagen, der Herr Bundesverkehrsminister habe bisher bewiesen, daß er mit dem Problem fertig werde. Können Sie mir vielleicht verraten, wie sich das in der Vergangenheit bemerkbar gemacht hat?
Nun, ich darf ebenfalls bitten, daß Sie nachlesen, was Ihre Kollegen im Verkehrsausschuß zu den bisherigen Maßnahmen des Verkehrsministers erklärt haben, insonderheit zu dem Ausbauprogramm 1970/75.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Straßmeir.
Herr Staatssekretär, Sie haben davon gesprochen, daß sich die Bundesregierung zum erstenmal dem Druck von Spezialisten-
gruppen ausgesetzt sieht. Ich darf Sie fragen, wieviel Bummelstreiks der Fluglotsen Sie der Bevölkerung noch zumuten wollen, ehe sich die Bundesregierung Gedanken macht, wie man solche Probleme strukturell lösen kann?
Sie sehen, daß sich die Bundesregierung darüber Gedanken macht. Sie kennen das Konzept, das vorgelegt worden ist, Herr Kollege.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Berger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, sehen Sie es als eine gerade Linie an, wenn der frühere Verkehrsminister Leber 600 DM bis 700 DM in Aussicht stellte, die dann durch Herrn Genscher und Herrn Schmidt nicht genehmigt wurden, wenn anschließend Herr Innenminister Genscher Vorschläge für 200 DM Erschwerniszulage machte, wozu es nicht kam, wenn mal vorgeschlagen wurde, die Fluglotsen ins Angestelltenverhältnis zu übernehmen, mal vorgeschlagen wurde, sie nach Eurocontrol zu übernehmen, und bis heute keine klare Konzeption für die Besoldung der Fluglotsen vorliegt?
Dies ist falsch, Herr Kollege. Der Bundesverkehrsminister hat im Verkehrsausschuß und der Bundesinnenminister wird morgen in der gemeinsamen Sitzung von Innen- und Verkehrsausschuß eine Konzeption zur Besoldung vorlegen. Das Kabinett hat darüber ja Beschlüsse gefaßt.
Sie sagen, der damalige Bundesverkehrsminister Leber habe Zusagen in Höhe von 600 DM gemacht. Das ist falsch. Ich habe das schon in einer früheren Antwort zurückgewiesen. Diese Vorschläge standen in einem Papier, sie waren aber nicht Vorschläge des Herrn Bundesverkehrsministers und auch keine Zusage an die Fluglotsen. In der Sache hat Bundesminister Leber keine Zusagen gegeben.
Meine Damen und Herren, damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Zander zur Verfügung.
Die erste Frage ist vom Abgeordneten Zebisch eingebracht worden:
Wird die Bundesregierung bei der geplanten Forderung überbetrieblicher beruflicher Ausbildungszentren ihre Konzeption mit der Konzeption der regionalen Strukturpolitik abstimmen und den Schwerpunktorten des Rahmenplans zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" dabei besondere Förderpräferenzen einräumen?
Die Bundesregierung hat in den vom Kabinett am 19. September,
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2906 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Parl. Staatssekretär Zanderalso gestern, beschlossenen Richtlinien zur Förderung von überbetrieblichen Ausbildungsstätten als besondere Zielsetzung u. a. hervorgehoben, vor allem das Ausbildungsangebot für strukturschwache Gebiete zu erweitern. In den Richtlinien ist weiterhin die enge Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bei der Entscheidung über die Projekte festgelegt. Danach sind die Anträge über die ober- . sten Landesbehörden einzureichen, die insbesondere zur Einordnung der Projekte in die Regionalplanung Stellung nehmen. Ferner soll von Bund und Ländern ein Bedarfsplan, der u. a. mit der raumordnerischen und strukturpolitischen Konzeption der Bundesregierung abzustimmen ist, erarbeitet werden. Mit einem inzwischen von der Bundesregierung vergebenen Forschungsauftrag werden detaillierte regionale Planungsdaten und -verfahren erarbeitet, die dabei von Nutzen sein können.
Zusatzfrage Herr Abgeordneter Zebisch.
Herr Staatssekretär, Sie sprechen von unterentwickelten Gebieten. Welchen Stellenwert hat hierbei das Zonenrandgebiet?
Ich kann Ihnen mitteilen, daß das Bundeskabinett gestern ausdrücklich die Erwähnung des Zonenrandgebiets in diesen Richtlinien beschlossen und damit die Bedeutung noch einmal hervorgehoben hat.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Werden im Zonenrandgebiet selbst bei der Förderung die übergebietlichen Schwerpunkte besonders berücksichtigt?
Herr Kollege Zebisch, diese Frage kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht beantworten, weil diese Planungen gemeinsam mit den Ländern vorgenommen werden müssen und über die Länder an den Bund herangetragen werden. Es fallen also auch Entscheidungen, die diese Abstimmung betreffen, auf der Ebene der Bundesländer.
Ich rufe die Frage 5 des Herrn Abgeordneten Dr. Haenschke auf:
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, Arbeitnehmer finanziell zu fördern, die sich als Berufsausbilder qualifizieren oder weiterbilden wollen?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Haenschke, ich beantworte Ihre Frage im Einvernehmen mit dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung wie folgt.
Der Bund hat zur Zeit keine Möglichkeit, Arbeit- nehmer finanziell zu fördern, die sich als Ausbilder qualifizieren oder weiterbilden wollen. Eine Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz kommt nicht in Betracht, weil die Ausbildung nicht an einer in § 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes genannten oder von der zuständigen Landesbehörde als gleichwertig anerkannten Ausbildungsstätte erfolgt.
Zwar ist in § 43 Abs. 1 Nr. 5 des Arbeitsförderungsgesetzes die „Heranbildung und Fortbildung von Ausbildungskräften" angesprochen. Andererseits wird die Förderung von interessengebundenen Maßnahmen durch das Arbeitsförderungsgesetz ausgeschlossen. Die Ausbildungsbetriebe, die Berufsausbildung im Sinne des Berufsausbildungsgesetzes durchführen, haben sich vertraglich verpflichtet, diese Ausbildung zu gewähren; dazu gehört auch, daß sie geeignete Ausbilder einsetzen und gegebenenfalls notwendige Ausbildungen ihrer Ausbilder selbst finanziell tragen. Es sollte deshalb nicht Aufgabe der Förderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz sein, Verpflichtungen der Ausbildungsbetriebe auf die Gemeinschaft der Beitragszahler abzuwälzen.
Die Bundesregierung hofft jedoch, daß eine Möglichkeit besteht, künftig auch solche Fachkräfte zu fördern, die sich durch eigenen Entschluß — und nicht nur auf Wunsch des Betriebes — zum Ausbilder qualifizieren wollen, um sich danach als Ausbilder - unter Umständen bei einem anderen Betrieb — bewerben zu können. Diese Frage ist zur Zeit noch Gegenstand von Erörterungen zwischen der Bundesregierung und der Bundesanstalt für Arbeit. Sie wird auch bei den Beratungen über die Erfahrungen mit der Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung eine Rolle spielen.
Keine Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Berkhan zur Verfügung. Die Frage 40 ist von dem Herrn Abgeordneten Möllemann eingebracht:
Kennt die Bundesregierung die unerträgliche Belästigung und Gefährdung, der die Bürger von Coesfeld und den übrigen sechs Tiefflugzonen in der Bundesrepublik Deutschland durch dauernden Tieffliegerlärm ausgesetzt sind, und welche Möglichkeiten sieht sie, das Recht der Bürger auf menschenwürdige Lebensverhältnisse mit den Notwendigkeiten unserer Verteidigungspolitik besser in Einklang zu bringen?
Herr Präsident, Herr Kollege Dr. Möllemann, es liegen nicht nur aus dem Raum Coesfeld Klagen über Lärmbelästigungen durch tieffliegende Flugzeuge vor, sondern aus vielen Bereichen der Bundesrepublik Deutschland. Daher, Herr Präsident, bitte ich um Ihr Verständnis
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2907
Parl. Staatssekretär Berkhandafür, daß die Antwort auf diese Frage etwas ausführlicher ausfällt, als Sie es sonst gewöhnt sind.Zu Ihrer Information, Herr Kollege Möllemann, möchte ich zunächst auf folgendes hinweisen.Die Bundeswehr war und ist bemüht, die Lärmbelästigung der Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. Sie dürfen insbesondere versichert sein, daß das Bundesministerium der Verteidigung die ihm im Rahmen der Umweltschutzbestrebungen zufallende Verantwortung sehr ernst nimmt. Die Bundeswehr hat daher schon vor Jahren davon abgesehen, die nach internationalen Vereinbarungen zulässigen Mindestflughöhen von 75 bzw. 150 m über Grund für den Routineübungsflugbetrieb der Starfighter- bzw. Phantom-Flugzeuge in Anspruch zu nehmen. Die Mindestflughöhe für diese Flugzeugtypen wurde vielmehr auf 800 Fuß, also 250 m über Grund, heraufgesetzt. Für G 91-Flugzeuge ist eine Mindestflughöhe von 150 m vorgeschrieben. Dieser Regelung hat sich die Mehrzahl der Alliierten Luftstreitkräfte angeschlossen. Abweichungen, z. B. bei Manövern, bedürfen der Genehmigung.Für Flüge im Höhenband zwischen 150 und 450 m steht grundsätzlich das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung. Es mußten jedoch ausgenommen werden: grenznahe Gebiete im Osten und im Süden des Landes, Räume hoher Luftverkehrsdichte in der Nähe von Zivilflughäfen, weit über 150 zusätzliche Sperrgebiete, z. B. Flugplatzkontroll- oder -schutzzonen und Städte mit über 100 000 Einwohnern. Darüber hinaus sind Kurorte und Heilbäder, soweit überhaupt möglich, zu umfliegen. Tiefflüge dürfen grundsätzlich nur an Werktagen — Montag bis Freitag zwischen 7 und 17 Uhr — stattfinden. Nachttiefflug ist auf die Zeit zwischen Sonnenuntergang und 24 Uhr des gleichen Tages beschränkt.Für hauptsächlich bei Manövern erforderliche Flüge im Höhenband zwischen 250 Fuß, also 75 m, und 500 Fuß, also 150 m, über Grund ist ein aus Übungsgebieten und Verbindungsstrecken bestehendes Tiefflugsystem vorgesehen. Es wurde in Zusammenarbeit mit dem Bundesverkehrsministerium und den Landesregierungen so weit wie möglich über dünnbesiedelten Landstrichen angelegt. In einem dieser Gebiete liegt der Raum westlich von Münster.Abschließend, Herr Kollege Möllemann, darf ich bemerken: Das Bundesministerium der Verteidigung hat Vorstellungen für eine Neuordnung des Luftraums über der Bundesrepublik Deutschland entwikkelt. Beabsichtigt ist eine breitere Fächerung des Tiefflugbetriebs und damit eine Minderung der Lärmkonzentration. Dieser Vorschlag berührt die Interessen aller Luftraumbenutzer, auch die unserer NATO-Verbündeten. Er bedarf daher einer sorgfältigen Prüfung und Koordinierung und wird nur im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Verkehr verwirklicht werden können.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Auffassung, die von der in Coesfeld arbeitenden Aktionsgemeinschaft vertreten wird, man solle durch härtere Verhandlungen mit den NATO-Partnern diese dazu bewegen, zumindest die gleichen Höhen und Distanzen wie die Maschinen der Bundesluftwaffe einzuhalten?
Herr Kollege Möllemann, wenn Sie das Wort „hart" aus Ihrer Frage streichen und sagen würden „durch Verhandlungen", dann würde ich antworten: Ja, wir stehen in ständiger Verbindung mit unseren Verbündeten und versuchen, ein Minimum an Lärmbelastung für unsere Bevölkerung herauszuholen. Ich glaube, daß auf diesem Felde harte Verhandlungen nicht nützlich sind. Man muß geschickte Verhandlungen führen, man muß sich also diplomatisch und klug verhalten, um das Nötige machbar zu machen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Die von Ihnen erwähnten Grundzüge einer neuen Konzeption wollen Sie hier wahrscheinlich noch nicht skizzieren. Aber können Sie sagen, ob diese Konzeption spürbare Erleichterungen für die Bürger in Coesfeld bringen würde?
Es ist, weil Coesfeld in einem besonderen Übungsraum liegt, sehr schwer, hier eine bindende Aussage zu machen. Aber das Prinzip des neuen Konzepts ist es, den Lärm über breitere Flächen zu verteilen, also die Bürger gleichmäßiger zu belasten und die Konzentration an einigen Orten etwas aufzulockern.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Köster.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, vor allen Dingen in den Gebieten, die vom Fluglärm besonders betroffen sind, Kontrollen zur Einhaltung der Bestimmungen einzuführen bzw. sie zu verstärken?
Herr Kollege Köster, die fliegenden Verbände stehen unter Aufsicht ihrer Einheitsführer. Diese Einheitsführer führen die Kontrollen durch. Sie werden Verständnis dafür haben, daß ich hier nicht im Detail darlege, wie diese Kontrollen durchgeführt werden. Darüber hinaus gibt es auch noch Kontrollen anderer Art.Dort, wo uns Verstöße gegen Befehle oder gar gegen Gesetze bekanntwerden und wo diese Verstöße nachweisbar sind, wird unnachsichtig gegen denjenigen, der das Flugzeug geführt hat, durchgegriffen.
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2908 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten van Delden.
Herr Bundesminister, würden Sie bitte dafür Sorge tragen, daß die regionalen Zeitungen von Manövern rechtzeitig unterrichtet werden, und darauf dringen, daß diese Unterrichtung dann auch weitergegeben wird, weil nämlich die Anforderungen an Abgeordnete und kommunale Behörden hinsichtlich des Lärms während der Manöver immer besonders groß sind, und würden Sie auch dafür sorgen, daß insbesondere die Alliierten die regionalen Feiertage, die manchmal bei der NATO nicht bekannt sind, nicht übersehen, denn durch die alliierten Flieger treten die meisten Belastungen auf, und würden Sie sich im Rahmen Ihrer Überlegungen auch — —
Sie haben nur eine Zusatzfrage. Sie haben bereits zwei gebracht. Eine dritte kann ich nicht mehr zulassen.
Herr Kollege van Delden, die Organisationsgewalt über die Bundesregierung liegt beim Kanzler; Sie sprechen hier mit dem Parlamentarischen Staatssekretär. Es ist nicht meine Absicht, den Stuhl des Ministers einzunehmen.
Ich möchte Ihnen dann noch folgendes sagen:
Erstens. Wir bemühen uns schon, Manöver anzukündigen. Es ist, glaube ich, in diesem Herbst ganz gut gelungen, es über die örtliche Presse bekanntzugeben. Das bedeutet aber nicht, daß eine Lärmentlastung eintritt.
Zweitens. Ich bin gern bereit, mich dafür einzusetzen, daß in einem gewissermaßen abgedruckten Kalender den befreundeten Luftstreitkräften unsere Feiertage, die auch noch regional gestreut sind, bekanntgemacht werden.
Drittens. Ich muß allerdings sagen, Herr Kollege van Delden, daß die alliierten Luftstreitkräfte ihre Pflichten und Rechte hier auf der Grundlage eines Vertrages wahrnehmen, eines Vertrages, den die Regierung Brandt nicht geschlossen hat, den ich auch nicht beklage. Aber ich muß feststellen, daß dieser Vertrag vor uns liegt und wir uns an ihn zu halten haben. Es wird also darauf ankommen, zu begreifen, daß wir nicht alles haben können. Wir können nicht ein einziger großer Kurort in der Bundesrepublik Deutschland sein, frei von schlechter Luft, nur sauberes Wasser haben, ohne Lärmbelästigung auskommen und gleichzeitig ein absolut gegen Druck, Drohung oder Erpressung von anderen Mächten gesichertes Gebiet haben.
Luftwaffen müssen üben, um überhaupt ihre Bereitschaft unter Beweis stellen und in Ordnung hal-
ten zu können. Das bringt schwere Belastungen und große Zumutungen für die zivile Bevölkerung mit sich; das wissen wir. In meiner ersten Antwort habe ich die Damen und Herren des Hauses darauf hingewiesen, daß wir uns bemühen, das so niedrig wie möglich zu halten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hoffie.
Herr Staatssekretär, treffen Behauptungen aus dem Kreise der Bevölkerung zu, daß gerade in Coesfeld bestimmte Gebäude als Manöveranflugziele verwendet werden sollen?
Herr Kollege Hoffie, ich habe das gehört, muß Ihnen aber offen sagen, daß ich erst heute davon erfahren habe. Ich werde der Sache nachgehen. Daher will ich hier weder ja noch nein sagen. Die Sache muß untersucht werden; das dauert eine geraume Zeit. Wenn der Untersuchungsbefund vorliegt, bin ich gerne bereit, die zuständigen Ausschüsse des Hauses darüber zu informieren oder Ihnen eine persönliche Information zukommen zu lassen, sofern es gewünscht wird. Aber hier heute ja oder nein zu behaupten, erscheint mir unangemessen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Tönjes.
Herr Staatssekretär, sehen Sie bei der anstehenden Neuordnung der Lufträume eine Möglichkeit, einen ständigen Wechsel der Übungsgebiete einzubauen, so daß nicht immer die gleichen Gebiete von der Lärmbelästigung betroffen werden?
Herr Kollege Tönjes, wir werden uns darum bemühen. Aber ich bin gerne bereit, Ihnen einmal an Hand einer Karte zu zeigen, welche Möglichkeiten es für uns überhaupt noch gibt — entschuldigen Sie bitte! — die Luftwaffe einzusetzen.
Die Schwierigkeit dabei ist, daß die Bundesrepublik Deutschland im Laufe der Jahre zu einem durchgehend dichtbesiedelten Gebiet geworden ist. Es gibt kaum noch Gebiete, die man zu Recht als unbesiedelt oder dünnbesiedelt bezeichnen kann. Wir werden uns bemühen, das größtmögliche Maß an Erleichterung herauszuholen. Ein gewisses Maß an Lärmbelästigung bleibt jedoch bestehen.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Kraske.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß nicht nur der Kreistag von Coesfeld, sondern auch die Kreistage von Ahaus, Borken und Rees zu diesem Thema eine gleichlau-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2909
Dr. Krasketende Entschließung gefaßt haben? Wären Sie bereit, mit den Mitgliedern des Hauses aus diesem Bereich und den zuständigen Behörden der Kreise zu einer gemeinsamen Besprechung zusammenzukommen, um zu erwägen, was hier getan werden kann?
Herr Kollege Dr. Kraske, Sie haben es mir soeben bekanntgemacht — mir ist es noch nicht bekannt gewesen —, und ich nehme das hiermit zur Kenntnis.
Ich erkläre für das Ministerium die Bereitschaft, die betroffenen Kollegen und die Bürger zu empfangen.
Ob ich das alles selber übernehmen kann, Herr Dr. Kraske, weiß ich nicht. Sie haben in Ihrer Fraktion Kollegen, die lange genug in der Regierung waren, um Sie darüber informieren zu können, daß auch der Arbeitstag eines Parlamentarischen Staatssekretärs
in zeitlichen Grenzen abläuft.
Meine Damen und Herren, ich danke all den anderen örtlich interessierten Abgeordneten, die sich an der Debatte heute nicht beteiligt haben.
Ich rufe die Frage 41 des Herrn Abgeordneten Dr. Enders auf:
Kann die Bundesregierung Auskunft über die Zahl der apl. Lehrer geben, die bei der Bundeswehr Dienst tun oder demnächst eingezogen werden sollen?
Herr Präsident, Herr Kollege Dr. Enders, ich wäre dankbar, wenn ich die Fragen 41 und 42 im Zusammenhang beantworten könnte.
Der Fragesteller ist damit einverstanden. Ich rufe auch noch die Frage 42 des Herrn Abgeordneten Dr. Enders auf:
Sollte angesichts des gegenwärtig drückenden Lehrermangels und des Ausfalls zahlreicher Unterrichtsstunden nicht wenigstens vorübergehend von der Einberufung von Lehrern zur Bundeswehr abgesehen werden?
Statistiken über die Anzahl der außerplanmäßigen Lehrer, die als Wehrpflichtige in der Bundeswehr Dienst tun oder die zur Einberufung heranstehen, werden nicht geführt. Die Bundesregierung kann deshalb keine Auskunft über die Zahl der in Frage kommenden Lehrer geben.
Zur Erläuterung darf ich Ihnen hierzu folgendes mitteilen. Die Berufe der Wehrpflichtigen werden hei der Musterung erfaßt. In diesem Zeitpunkt sind die Wehrpflichtigen, die später einmal Lehrer werden wollen, im Normalfall noch Schüler oder Abiturienten. Sie sind zwar verpflichtet, einen Wechsel oder den Abschluß ihrer Ausbildung und den Wechsel ihres Berufes dem Kreiswehrersatzamt anzuzeigen, kommen dieser Verpflichtung aber nicht immer nach. Eine allgemeine Erfassung des Berufswechsels von Amts wegen durch die Wehrersatzbehörden ist praktisch nicht möglich.
Schon früher sind wiederholt Sonderregelungen für wehrpflichtige Lehrer gefordert worden. Diese Frage wurde eingehend geprüft und insbesondere auch mit der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder erörtert. Die Bundesregierung ist nach wie vor der Auffassung, daß der Lehrermangel und die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten im Bildungswesen kein Grund sein können, diese Wehrpflichtigen anders als die übrigen zu behandeln. Durch eine entsprechende Sonderregelung würde ein Privileg für eine Gruppe von Wehrpflichtigen geschaffen, das mit dem Verfassungsgrundsatz der Gleichbehandlung nur schwer in Vereinbarung zu bringen ist.
Eine generelle Sonderregelung ist im übrigen auch nicht erforderlich, weil im Einzelfall durch eine Unabkömmlichstellung den Belangen der Schule Rechnung getragen werden kann. Die Wehrersatzbehörden sind seit langem angewiesen, bei Vorschlägen auf Unabkömmlichstellung von Lehrern das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung des Unterrichts gebührend zu berücksichtigen.
Haben Sie Zusatzfragen? — Bitte, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für vertretbar, daß ähnlich den Fällen, in denen Wehrpflichtige wegen persönlicher Härten oder wirtschaftlicher Schwierigkeiten von der Bundeswehrzeit befreit werden können, auch aus Gründen, die dem Staate dienen — im vorliegenden Fall der Unterricht der Kinder —, auf die Ableistung der Wehrpflichtzeit verzichtet werden kann?
Herr Kollege, ich habe gerade versucht, in meiner Hauptantwort klarzumachen, daß es heute schon eine Möglichkeit gibt, die Unabkömmlichstellung zu beantragen. Das Verfahren ist geregelt. Dafür gibt es ein ganz geordnetes Verfahren. Die berufene Stelle muß nur den Antrag stellen. Ich halte es für völlig unmöglich, eine Sonderregelung für eine Gruppe herauszubringen.
Keine weitere Zusatzfrage.Die Frage 43 ist von dem Herrn Abgeordneten Augstein eingebracht. Der Herr Fragesteller hat seine Frage zurückgezogen.Ich rufe die Frage 44 des Herrn Abgeordneten Dr. Beermann auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung beantwortet.
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2910 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenIch rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Westphal zur Verfügung. Die Frage 45 ist von dem Herrn Abgeordneten Dr. Franz eingebracht:Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung vorgesehen, um eine Einschleppung der Cholera in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu vermeiden?Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Dr. Franz, die Maßnahmen zur Verhütung der Ausbreitung übertragbarer Krankheiten in der Bundesrepublik Deutschland werden von den obersten Landesgesundheitsbehörden getroffen. Der Bund besitzt lediglich die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit auf diesem Gebiet, die durch das Bundesseuchengesetz vom Juli 1961 ausgeschöpft worden ist. Die in diesem Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zur Absonderung von Kranken und Überwachung von Kontaktpersonen haben sich in der Vergangenheit als wirksam erwiesen.
Nachdem sich im Jahre 1970 ein Vormarsch der Cholera-Variante El-Tor von Ostasien aus über Indien in den Nahen Osten und die östlichen Mittelmeergebiete abzeichnete, hat die Bundesregierung sofort die Cholera-Situation mit den obersten Landesgesundheitsbehörden erörtert. Die Bundesregierung wurde gebeten, zum Zwecke eines einheitlichen Vorgehens in der Bundesrepublik in Verbindung mit der Weltgesundheitsorganisation jeweils bekanntzugeben, in welchen Gebieten die Cholera aufgetreten ist und welche Personengruppen aus diesem Grunde bei der Einreise besonderen Maßnahmen zu unterwerfen sind bzw. mit besonderen Hinweisen versehen werden müssen. Ferner wurden Leitsätze zur Cholera-Situation erarbeitet, die von den Landesregierungen seitdem als Grundlage für die von ihnen zu treffenden Maßnahmen angesehen werden.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung im Robert-Koch-Institut des Bundesgesundheitsamtes Ausbildungslehrgänge für Ärzte und Technische Assistenten in der Medizin in der Labordiagnostik des vibrio El-Tor durchführen lassen. Anläßlich eines Seminars wurden mit den zuständigen Ländervertretern beim Bundesgesundheitsamt die Ergebnisse der Cholerakonferenz der europäischen Staaten erörtert, die die Weltgesundheitsorganisation Ende 1971 durchgeführt hatte. Hierbei wurden Empfehlungen erarbeitet, die im Falle von Choleraeinschleppungen in die Bundesrepublik ein möglichst einheitliches Vorgehen bewirken sollten. Diese Vorsorgemaßnahmen haben sich beim erneuten Auftreten der Cholera in Tunesien im August und in Italien im September dieses Jahres bewährt.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege? — Im Augenblick nicht.
Ich rufe dann die nächste Frage des Kollegen Dr. Franz — Frage 46 — auf:
Sind insbesondere Impfmaßnahmen bei Einreisen aus Italien, speziell auch bei Gastarbeitern vorgesehen, oder falls nicht, welche sonstigen Schutzmaßnahmen sind ergriffen oder in Vorbereitung?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Dr. Franz, bereits im November 1972 war gemeinsam mit den Ländern festgestellt worden, daß wegen der kurzen Inkubationszeit der Cholera eine Impfung bei der Ankunft aus Infektionsgebieten zu spät kommt. Auch ist sie bei bestehender Infektion möglicherweise sogar gefährlich. Aus diesem Grunde sind auch Massenimpfungen nach einer möglichen Einschleppung nicht angezeigt. Nur vor der Ausreise bietet die Choleraimpfung einen gewissen individuellen Schutz.
Diese Auffassung deckt sich mit der der Weltgesundheitsorganisation. In der Bundesrepublik Deutschland sind deshalb bei der gegenwärtigen Choleraepidemie in Italien keine Impfmaßnahmen für aus Italien Einreisende vorgesehen.
Wie die Bundesregierung in den vergangenen Jahren mehrfach mitgeteilt hat, wird sich die Einschleppung im Einzelfall nicht verhindern lassen. Dank der in der Bundesrepublik Deutschland gegebenen hygienischen Verhältnisse ist jedoch mit einer Ausbreitung solcher Fälle nicht zu rechnen. Im übrigen werden von den Ländern die in den bereits erwähnten Leitsätzen zur Cholerasituation im November 1970 und die im Januar 1972 vom Bundesgesundheitsamt mit den Ländern im einzelnen erarbeiteten Maßnahmen zur Absonderung Verdächtiger oder Erkrankter und zur besonderen Beobachtung von Kontaktpersonen sorgfältig durchgeführt.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die nächste Frage — Frage 47 — des Herrn Abgeordneten Kiechle auf:
Ist die vorn Bundesgesundheitsministerium in einer Antwort auf die Frage des Abgeordneten Gallus erwähnte Überprüfung des Gutachtens von 1968/1970 über die ernährungsphysiologische Bedeutung von Butter und Margarine durch das Bundesgesundheitsamt bereits erfolgt, und welches Ergebnis hatte diese Überprüfung?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Kiechle, die Überprüfungen des Bundesgesundheitsamtes sind noch nicht abgeschlossen. Ich möchte jedoch auf die im Zweiten Ernährungsbericht zitierten Veröffentlichungen hinweisen, denen in jüngster Zeit weitere Publikationen namhafter Autoren gefolgt sind. Hierin ergeben sich weitgehend übereinstimmende Hinweise darauf, daß tatsächlich Zusammenhänge zwischen dem Fettverzehr und der Epidemiologie von degenerativen Gefäßerkrankungen bestehen. Die Morbidität an degenerativen Gefäßerkrankungen scheint günstig beeinflußt zu werden, wenn die Gesamtaufnahme von Fett und Cholesterin gesenkt wird. Vor allem scheint eine Verminderung der Zufuhr von Fetten mit
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2911
Parl. Staatssekretär Westphalhohem Gehalt an gesättigten Fettsäuren bei gleichzeitig erhöhtem Verzehr von Fetten mit einem hohen Gehalt an mehrfach ungesättigten Fettsäuren erforderlich zu sein.Zur Vorbereitung seiner gutachtlichen Äußerung wird das Bundesgesundheitsamt Anfang Dezember dieses Jahres unter Beteiligung maßgebender medizinischer Fachwissenschaftler ein wissenschaftliches Symposium unter dem Motto „Ernährungsmedizinische Bedeutung und Bewertung von Nahrungsfetten bei der Pathogenese und Prophylaxe von degenerativen Gefäßerkrankungen" durchführen.
Zusatzfrage, Herr Kollege!
Herr Staatssekretär, warum hat die Bundesgesundheitsministerin das Ergebnis der von ihrem eigenen Ministerium ja angeordneten Überprüfung nicht abgewartet und hat sich damit in Gegensatz zu den Äußerungen des Bundesgesundheitsamtes gesetzt, die bis zur Stunde ja noch als gültig gelten müssen und die lauten, daß diese Aussagen, so wie sie sie getroffen hat, dem Sinne nach jedenfalls wissenschaftlich als nicht abgesichert gelten müssen?
Herr Kollege Kiechle, Frau Bundesminister Focke hat in einem Artikel, auf den Sie abheben und auf den ich bei der Beantwortung Ihrer zweiten Frage noch eingehen werde, sich auf der Grundlage des Zweiten Ernährungsberichts geäußert, den die Bundesregierung auf der Basis von Arbeiten deutscher Fachkräfte vorgelegt hat. Im übrigen hat sie sich nicht nur zu den Ernährungsfragen geäußert, sondern auch zu dem, was den Verbraucher interessiert, zu der Frage, welche Fette billiger sind.
Ich rufe dann die nächste Frage — Frage 48 — des Kollegen Kiechle auf:
Befindet sich der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Frau Dr. Katharina Focke, mit der Aussage, daß Pflanzenfett und Margarine uns oft erheblich besser bekommen und dazu noch billiger seien mit der Auffassung des Bundesgesundheitsamts in Übereinstimmung?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Kiechle, der von Ihnen zitierte Satz aus einer Veröffentlichung im „Kölner Stadt-Anzeiger" vom 8. August 1973, „Fit durch richtige Ernährung", ist aus dem Zusammenhang genommen, so daß er in dieser Form zu einer falschen, nicht beabsichtigten Schlußfolgerung führt.
Es scheint,
— so heißt es dort —
als hätten wir 28 .Jahre nach Kriegsende noch
immer unseren Nachkriegshunger nicht gestillt.
Vor allem aber haben wir noch immer unsere längst überholten Vorstellungen vom „guten Essen" nicht geändert. Hier muß der Hebel angesetzt werden: Wir müssen endlich begreifen, daß eine Mahlzeit nicht dann besonders „gut" war, wenn sie besonders viel Fett enthielt, daß wir unseren Wohlstand nicht unbedingt dadurch dokumentieren müssen, daß wir ausschließlich „gute Butter" verwenden. Pflanzenfett und Margarine bekommen uns oft erheblich besser und sind dazu noch billiger.
Das war das Zitat.
Wie Sie hieraus ersehen, sollte der Verbraucher vor allem auf die Notwendigkeit einer kaloriengerechten Ernährung und einer Mäßigung beim Fettverbrauch — ich fühle mich als Verbraucher auch immer durch die Maßnahmen des eigenen Ministeriums angesprochen — hingewiesen werden. Außerdem sollte ihm angesichts der augenblicklichen Preissteigerung ein Hinweis gegeben werden, daß er sich auch mit der wesentlich billigeren Margarine ernährungsphysiologisch einwandfrei ernähren könne und ihm in bestimmten Fällen die pflanzlichen Fette, z. B. bei Fettstoffwechselstörungen, besser bekommen würden. Diese Aussagen stehen in vollem Einklang mit cien im zweiten Ernährungsbericht enthaltenen wissenschaftlichen Schlußfolgerungen, wonach z. B. bei Fettstoffwechselstörungen, an denen etwa 10 % der erwachsenen Bevölkerung leiden, zur Vermeidung von Gefäßerkrankungen pflanzlichen Fetten der Vorzug zu geben ist.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kiechle.
— Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Unterhaltungen so führten, daß man den Fragesteller hören kann. Es ist ohnehin ein für uns alle sehr interessantes Thema.
Da diese Aussage — zumindest liest sie die Bevölkerung so — in ihrer Betonung zugunsten der billigen und noch dazu bekömmlicheren Margarine gegen die „gute Butter" gerichtet war, möchte ich Sie einmal fragen, welche Rückschlüsse der Verbraucher nun aus der Tatsache ziehen soll, daß der Ernährungsminister zu mehr Butterverbrauch aufruft und der Gesundheitsminister Margarine empfiehlt.
Herr Kollege Kiechle, ich möchte Ihnen fast mit einer Gegenfrage antworten. Ich habe mich schon immer darüber gewundert, daß die zusammengehörigen Verbände auf diesem Gebiet, die die Interessen von Butter und Milch vertreten, nicht meinen Minister, Frau Focke, für die Milchwerbung einsetzen. Das Gute, das sie über die Milch gesagt hat, haben Sie gar nicht erwähnt.
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2912 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Parl. Staatssekretär WestphalIm Hinblick darauf kann ich Ihnen nicht zustimmen, wenn Sie meinen, daß der Artikel im „Kölner StadtAnzeiger" so ausgelegt werden müsse, als wenn er sich gegen „gute Butter" richte. Sonst hätte ich meinem Minister gesagt, daß auch ich gern „gute Butter" esse.
Herr Kollege Kiechle, Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß die Äußerung der Frau Minister die Margarineindustrie gegebenenfalls zu verstärkter gesundheitsbezogener Werbung veranlassen könnte, obwohl dasselbe Ministerium diese Art der Werbung offiziell hier in diesem Hause als unzulässig und unerwünscht bezeichnet hat?
Ich bin überhaupt sehr in Sorge darüber, daß im Lebensmittelbereich mit Gesundheitsvorstellungen, die möglicherweise nicht voll durchdacht sind, zuviel Werbung betrieben wird. Deswegen ist dem Hohen Hause ein Lebensmittelrechtsänderungsgesetz vorgelegt worden, ein großes, umfassendes Reformwerk, das dafür sorgen soll, daß auch auf diesen Gebieten nicht in unziemlicher und nicht der Sache gemäßer Weise Werbung betrieben wird, sondern daß man dort eingreifen kann, um Schlimmes zu verhindern.
Damit, meine Damen und Herren, sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Wir sind am Ende der Fragestunde.
Zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Seiters das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Monaten dauern die Erschwernisse und Unzuträglichkeiten auf den deutschen Flughäfen an. Seit Monaten wird der Streit zwischen Fluglotsen und Bundesregierung auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen, ohne daß ein Konzept der Regierung zur Lösung des seit Jahren anstehenden Problems erkennbar wäre.
Der Bundesverkehrsminister, der in diesen Wochen bei der Behandlung dieser Frage von einem Extrem ins andere geschwankt ist, hat ein Bild der Hilflosigkeit und Konzeptionslosigkeit gezeigt gegenüber einem für die Sicherheit und Funktionsfähigkeit des deutschen Flugverkehrs ganz dringenden und entscheidenden Problem. Zu beklagen ist darüber hinaus ein tiefer Verlust staatlicher Autorität, für den die Bundesregierung die Verantwortung trägt.
Die Beantwortung der heutigen Fragen durch die Bundesregierung ist völlig unbefriedigend und ausweichend.
— Ich kann das gerne wiederholen: Die Beantwortung der heutigen Fragen durch die Bundesregierung ist völlig unbefriedigend, ausweichend und in bekannter Weise beschönigend gewesen.
Nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es dringend erforderlich, daß sich das Parlament mit der fahrlässigen Behandlung dieses Falles durch die Bundesregierung beschäftigt. Namens meiner Fraktion beantrage ich daher eine Aktuelle Stunde.
Nach den Bestimmungen der Geschäftsordnung treten wir nunmehr in die
Aktuelle Stunde
ein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Müller-Hermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was die Bundesregierung während der letzten 15 Wochen bei der Bewältigung des Bummelstreiks der Fluglotsen der staunenden Öffentlichkeit geboten hat, ist wahrhaftig ein klägliches Schauspiel der Führungslosigkeit.
Es muß alle jene in unserem Lande ermutigen, die unserem demokratischen Staat ohnehin keine Kraft zutrauen. Insofern ist das Problem des Fluglotsenstreiks ein Thema von grundsätzlicher Bedeutung.Niemand billigt oder verteidigt das Erpressungsmanöver der Fluglotsen.
Meine Damen und Herren, dessenungeachtet trägt diese Bundesregierung die volle Verantwortung dafür, daß der Flugverkehr auf den Stand der 50er Jahre zurückgedreht worden ist, enorme volkswirtschaftliche Verluste eingetreten sind und laufend eintreten und viele Bürger an Gesundheit, Zeit und auch am Geldbeutel geschädigt werden.
Meine Damen und Herren, es ist etwas makaber, wenn genau jene Kräfte, die meinen, im öffentlichen Dienst auf die Treuepflicht des Beamten verzichten zu können, sich jetzt zu ihrer eigenen Entschuldigung auf den Beamtenstatus berufen. Wir werfen der Bundesregierung vor, daß sie sich bisher nicht genügend um das Problem der Flugsicherung gekümmert hat, obwohl hier vieles seit langem im argen liegt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2913
Dr. Müller-HermannDer Bericht von Herrn Schlieker offenbart erschrekkende Mängel. Wir werfen der Bundesregierung vor, daß sie offenbar völlig unvorbereitet in den neuen Bummelstreik hineingeschlittert ist, obwohl sie wissen mußte, was auf sie zukommt. Wir werfen der Bundesregierung vor, daß sie sich in der Behandlung des Konflikts widersprüchlich, konzeptionslos und, so würde ich sagen, bemitleidenswert hilflos erwiesen hat.
Die Regierung hat in einer schwierigen Situation total versagt.
Meine Damen und Herren, zunächst hat der Herr Bundesverkehrsminister mit Disziplinarmaßnahmen und Gerichtsverfahren wie ein hartgesottener, strenger Arbeitgeber reagiert. Wenn die Regierung auf dieser Linie hätte fahren wollen, hätte sie folgerichtig bleiben und sich vor allem von dem Druck einer Spezialistengruppe unabhängig machen müssen. Es gibt keine Entschuldigung dafür, daß sich die Bundesregierung trotz fünf Bummelstreiks nicht rechtzeitig Gedanken über eine langfristige Ersatzlösung — etwa durch die Bestellung ausländischer Fluglotsen oder durch die Heranbildung von Fluglotsen aus dem militärischen Bereich als Eingreifreserve — gemacht hat.Ich wiederhole für meine Fraktion, daß wir die Aktion der Lotsen als ein schlechtes Beispiel mangelnder Pflichterfüllung verurteilen. Aber unabhängig davon, daß die Verhandlungspartner der Regierung die dafür gesetzlich vorgesehenen gewerkschaftlichen oder Beamtenorganisationen sind, hätte die Regierung unseres Erachtens von Anfang an das intensive Gespräch mit den Fluglotsen suchen müssen, um auf die Pflichtwidrigkeiten hinzuweisen und auch gemeinsam auf eine Abstellung der offensichtlichen Mängel hinzuwirken. Erst gab Herr Lauritzen die Parole aus: Mit Rechtsbrechern verhandle ich nicht! Am 27. August hat er sich dann mit Herrn Kassebohm besprochen, der in seinem Berufsverband von immerhin 80% der Fluglotsen getragen wird. Als es dann nicht zu einer Verständigung kam, war in dem Gespräch wieder Sendepause. Meine Damen und Herren, das unglückselige Verhalten der Regierung hat bewirkt, daß bei der Lösung des Konflikts immer weniger die Sache-und immer mehr persönliches und politisches Prestige ins Spiel kam. Damit wuchs und wächst die Gefahr, daß jede mögliche Lösung des Konflikts letztlich als eine Belohnung für eine unbotmäßige Aktion und als eine Ermutigung für andere Spezialistengruppen ausgelegt wird.
Minister Lauritzen hat sich in die starke Kritik, die nicht nur wir, sondern auch die Publizistik an ihm geübt haben, selber hineinmanövriert.
Herr Abgeordneter Müller-Hermann, ich weise Sie auf den Ablauf der Redezeit hin.
Zumindest was die Besoldungsprobleme angeht, hätte Herr Lauritzen besser daran getan, sie dem zuständigen Bundesminister des Innern zu überlassen.
Herr Abgeordneter Müller-Hermann, Sie kennen die strengen Vorschriften der Aktuellen Stunde. Ich bitte Sie, nun zu Ende zu kommen.
Ja. — Ich bedaure, daß der Herr Bundeskanzler selber von seiner Richtlinienkompetenz keinen Gebrauch gemacht hat,
und ich stelle fest, daß sich der Herr Bundesverkehrsminister für den Kanzler und die Regierung blamiert hat.
Herr Abgeordneter Müller-Hermann, kommen Sie damit bitte zum Ende!
Ich möchte
hier — —
Herr Abgeordneter Müller-Hermann, ich muß Ihnen das Wort entziehen. Sie haben Ihre Zeit bereits um 60 Sekunden überzogen. Es bedarf dazu keiner besonderen Hinweise, Herr Abgeordneter Wehner.
Ich darf als Schlußbemerkung auf Herrn Bundesminister Ehmke hinweisen, der von der Pleite der Regierung gesprochen hat.
Herr Abgeordneter Müller-Hermann, ich entziehe Ihnen das Wort!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Börner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Darstellung von Herrn Kollegen Müller-Hermann war oberflächlich und in der Sache falsch.
Deshalb treffe ich hier einige Feststellungen.
Erstens. Die Strukturprobleme der Flugsicherung von heute haben ihre tiefere Ursache in einer falschen Weichenstellung, die 1962 durch einen CDU-Verkehrsminister
2914 Deutscher. Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
burner
mit der Zwangsverbeamtung dieses Personenkreises vorgenommen wurde.
Diese Verbeamtung hat z. B. die Ausbildung von Angestellten erheblich beschnitten und schafft heute da und dort Personalmangel.
Zweitens, Der Luftverkehr ist in allen Industriestaaten schneller gewachsen, als es, gemessen an den Erfordernissen der Flugsicherung, vorauszusehen war. In dieser Angelegenheit ist nicht nur die jeweilige Regierung, sondern auch das Parlament gefordert. Das trifft insbesondere für die Bereitstellung von Stellen zu und z. B. auch für das Ausbauprogramm der Bundesanstalt für Flugsicherung.
Hier ist der Vorwurf erhoben worden, daß sich der Bundesverkehrsminister nicht um die Dinge gekümmert hat.
Dieser Vorwurf muß zurückgewiesen werden.
Er kann nur von jemand erhoben werden wie von Herrn Müller-Hermann, der die Ausschüsse für Verkehr und Inneres nicht besucht hat.
Ich stelle fest: Der Bundesverkehrsminister hat am 6. Juni vor dem Ausschuß einen Bericht zur Lage und zu den beabsichtigten Maßnahmen gegeben. In dieser Sitzung hat der Abgeordnete Sick von der CDU — hier war von „Zickzack" die Rede — die Privatisierung der Flugsicherung gefordert. Zweitens hat der Bundesverkehrsminister in der Sondersitzung des Verkehrs- und des Innenausschusses am 18. Juli die in der Juni-Sitzung gegebenen Möglichkeiten aufgezeigt und einen Zwischenbericht über die Absichten der Bundesregierung erstattet. Dem ist in der Sache nicht widersprochen worden. Ich darf darauf verweisen, daß Herr Schulte als einer der Sprecher der Opposition gesagt hat:
Offene und faire Auseinandersetzungen über die finanzielle Einstufung der Fluglotsen. Die endgültige Entscheidung muß das Parlament im Zusammenhang mit einer umfassenden Besoldungsneuordnung im öffentlichen Dienst treffen, zu der ohnehin noch für dieses Jahr ein Entwurf angekündigt ist. Die Lösung muß im Rahmen des Beamtenrechts, nicht durch eine Überführung in das Angestelltenverhältnis getroffen werden.
Ich frage, wie Sie hier zu den Erklärungen von Herrn Sick oder zu dieser Erklärung von Herrn Schulte stehen.
Dritter Punkt. Meine Damen und Herren, wenn Sie heute dem Bundesminister für Verkehr den schwerwiegenden Vorwurf der Pflichtversäumnis
machen, dann frage ich Sie: Ist es nicht richtig, daß dieser Minister die erste Gelegenheit nach der Sommerpause benutzt hat, um dem Parlament Bericht zu geben, und in der Verkehrsausschußsitzung am vorigen Freitag ein Konzept vorgelegt hat, das sowohl in sachlicher Hinsicht als auch in personeller Hinsicht eine gute Diskussionsgrundlage ergibt,
die wir in den vorausgegangenen Sitzungen gefordert haben? Wenn hier der Vorwurf der Pflichtversäumnis erhoben wird, dann muß gesagt werden: Pflichtvergessen ist nicht ein Minister, der dem Parlament einen Vorschlag macht, pflichtvergessen ist eine Opposition, die keine sachliche Alternative hat.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoffie.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Das Spektakel, das die Opposition hier heute wieder bietet, verlangt endlich einmal die Frage nach dem Keim dieses illegalen Tower-Terrors, der seit 113 Tagen auf dem Rücken Unbeteiligter ausgetragen wird. Hier hat nicht diese Regierung versagt,
sondern hier ist festzustellen, daß der Keim des Dilemmas — auch wenn Sie das jetzt nicht gern hören — bereits in einer Zeit aufging, in der der damalige Bundesverkehrsminister Seebohm Verantwortung dafür trug,
daß sich die Bundesanstalt für Flugsicherung in einem desolaten Zustand befand.
Damals fehlten — ich werde Ihnen das gleich belegen — auch die dringendsten Investitionen, und man verstand es, wie die „Frankfurter Rundschau" am 29. November 1968 rückblickend feststellte, ein Betriebsklima in dieser Anstalt zu züchten, das jeder angewandten Psychologie Hohn spricht.Seebohm provozierte — und wer sich an diese Zeit erinnern kann, wird das zugeben — den ersten Lotsenstreik in der Geschichte dieser Bundesrepublik, indem er die Angestellten gegen ihren eigenen Willen in das Beamtenverhältnis überführte, was dadurch belegt wird, daß z. B. die „Süddeutsche Zeitung" am 5. Juni 1962 schrieb:Bei dem damaligen Streik ging es keineswegs um eine prozentuale Erhöhung der Gehälter. Der eigentliche Grund ist die geplante Übernahme der Angestellten in den Beamtenstatus.In einer Denkschrift des VDF, im Oktober 1968 veröffentlicht, können Sie nachlesen, daß hier der Kern zu jahrelangen Konflikten gelegt wurde, die heute anhalten.
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Deutscher Bundestag -- 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2915
HoffieErst 1964 wurde dann ein 10-Jahres-Investitionsprogramm vorgelegt, nach dem, wenn es noch heute Gültigkeit hätte, unser gesamter Luftverkehr, der heute im innerdeutschen Bereich tatsächlich fast zusammengebrochen ist, weltweit überhaupt nicht mehr möglich wäre. Dieses damalige Programm hat sich dann schon nach vier Jahren als zu eng und zu klein herausgestellt und mußte von Bundesverkehrsminister Leber sehr kräftig korrigiert werden.Auch der Kollege Strauß hat sich 1968 auf Stellenzulagen und Verbesserungen erst verstehen können, nachdem das auch Ihnen bekannte Hopf-Gutachten dies zwingend notwendig machte.
Hier hat im Kern der Dinge nicht diese Regierung versagt, hier ist von Anfang an versäumt worden, das Stellengefüge nach besonderen Tätigkeiten und Funktionen genügend zu differenzieren. Erst heute setzt sich die Erkenntnis durch, daß es sich bei der Tätigkeit der Lotsen im Grunde genommen um eine beamten-atypische Aufgabe handelt.Diese Regierung hat — und das möchte ich hiermit deutlich machen — ein übles Erbe angetreten.
Schon am 29. November 1968 stellte der Luftfahrtpublizist Kurt W. Streit in der „Frankfurter Rundschau" fest:Die Wirklichkeit sieht so aus, daß die Flugsicherungsorganisation, ganz besonders über der Bundesrepublik, dem Zusammenbruch und damit ihrer absoluten Wirkungslosigkeit näher ist, als jede Statistik vermuten mäße.Und das wurde zu einer Zeit festgestellt, als diese Regierung nun weiß Gott nicht die Verantwortung für diese Situation trug.Der Oppositionsführer fordert den Bundeskanzler auf, sich mit Rechtsbrechern an einen Tisch zu setzen, während Ihre Fraktionsmitglieder im Verkehrsausschuß eindeutig unsere Ansicht geteilt haben, es müsse dem geltenden Recht zur Aufrechterhaltung der Staatsautorität und der Dienstbereitschaft im öffentlichen Dienst Achtung verschafft werden.
— Bitte, ich könnte weitere Dinge bringen, z. B. Ausführungen des Kollegen Müller-Hermann, der ja die Forderungen der Fluglotsen in seinen Stellungnahmen als weitgehend berechtigt anerkannt hat. Dann muß hier in aller Deutlichkeit festgestellt werden: Solche unqualifizierten Äußerungen ermutigen die Lotsen geradezu, ihre Aktionen fortzusetzen.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, tragen ein gerüttelt Maß Schuld daran, daß der innerdeutsche Luftverkehr heute zusammenbricht,
daß Tausende von Menschen, die an diesem Luftverkehr beteiligt sind, um ihre Arbeitsplätze zu fürchten haben und Millionenschäden entstehen.
Herr Kollege, — —
Ich komme zum Schluß.
Sie verstehen Ihre Rolle als Opposition auch in dieser Frage leider wieder nur in reiner Kritik, und zwar destruktiver Kritik, nicht aber — wenn auch nur in der geringsten Andeutung — im Aufzeigen von Alternativen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesverkehrsminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Art und Weise, wie die Opposition versucht, aus den Vorgängen im Flugverkehr politisches Kapital zu schlagen, wird wohl der Tragweite und der Bedeutung dieser Frage nicht ganz gerecht
und läßt leider auch die Verantwortung vermissen, die zu tragen auch eine Opposition bereit sein müßte.Was ist es für ein seltsames Spiel, daß sich die Regierung und die Fraktionen in stundenlangen Beratungen der Ausschüsse bemühen, den Fragen auf den Grund zu gehen, sie zu klären und Vorschläge zu diskutieren, und dann werden von der Opposition Sprecher vorgeschickt, die an diesen Beratungen nicht beteiligt waren und die alten Kamellen wieder auf den Tisch holen, die in den Ausschüssen längst zurückgewiesen worden sind?
Ein sehr seltsamer parlamentarischer Stil. WollenSie damit irgendwelchen politischen Effekt erzielen?
— Sie müssen mir schon erlauben, Herrn MüllerHerrmann zu antworten, wie ich es für richtig halte.
— Die Vorschläge haben Sie schriftlich auf Ihrem Tisch liegen.
Dann kommt Herr Müller-Hermann wieder mit der alten Parole: Der Lauritzen hat weiter nichts wie Widersprüche gemacht.
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2916 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Bundesminister Dr. LauritzenDas ist eine gänz bewußte Verdrehung der Tatsachen, auf die Herr Börner schon hingewiesen hat. Ich habe bei manchen Gesprächen, sowohl im Ausschuß wie auch in der Öffentlichkeit gesagt: Wenn es um die Statusfrage geht, gibt es eine Reihe von Vorschlägen, die man prüfen kann.
Ich habe mich für keinen Vorschlag ausgesprochen
und habe den Ergebnissen der Beratungen im Verkehrsausschuß nicht vorgegriffen, bis ich dem Verkehrsausschuß die Kabinettsvorlage vorgelegt hatte, in der mein Vorschlag steht.
— Das ist ein ganz klarer und eindeutiger Vorschlag, und von Widerspruch kann gar keine Rede sein. Alles andere ist doch eine bewußte Verdrehung der Vorgänge.
Und es kommt noch etwas: Das Verhalten der Fluglotsen kann man nicht einheitlich über einen Leisten schlagen wollen; denn es gibt eine Reihe unter ihnen, die sich ernsthaft bemühen, ihren Dienst zu verrichten. Man muß ein solches differenziertes Verhalten der Fluglotsen auch differenziert würdigen.
Darum habe ich mich immer bemüht. Das bezeichnen Sie als Widerspruch. Ich halte das für die einzig mögliche Haltung eines Dienstherrn, der für einen so großen Dienstbereich verantwortlich ist.
Nun kommt das, was ich Ihnen als das — von Anfang an eingehaltene — Konzept im Verkehrsausschuß wiederholt erläutert habe. Als der Fluglotsenstreik begann, kam es zunächst darauf an, die Flugsicherheit auf jeden Fall sicherzustellen, alle Maßnahmen zu treffen, damit es nicht zu Unsicherheiten im Flugverkehr kommt. Das ist bisher gelungen, und da sind sehr harte dienstrechtliche, betriebliche und organisatorische Maßnahmen notwendig gewesen.
Sie sind in der Kabinettsvorlage im einzelnen erläutert. Die Kabinettsvorlage ist in den Händen der Mitglieder des Verkehrsausschusess und des Innenausschusses. Ich darf Ihnen nur die Stichworte wiederholen: notwendige Reduzierung des Verkehrs, Flugplankoordination, Aufbau eines Verkehrsinformationsdienstes, Umlenkung des Flugverkehrs, Verstärkung der Dienstaufsicht. Das sind insgesamt elf Positionen, die deutlich machen, welche organisatorischen und technischen Maßnahmen getroffen werden mußten und getroffen worden sind.
— Das hatte das Ergebnis, daß wir heute noch einen Flugverkehr haben;
denn das Bestreben der Fluglotsen ist es doch gewesen, uns zur Einstellung des Flugverkehrs zu zwingen.
Als zweite Maßnahme sind zum erstenmal bei einem Go-slow — das ist nicht der erste, den wir haben — alle dienstrechtlichen und dienststrafrechtlichen Möglichkeiten eingesetzt worden, um dort, wo schuldhaftes Verhalten der Fluglotsen festzustellen war, sofort einzugreifen.
88 dienststrafrechtliche Ermittlungsverfahren sind eingeleitet worden. Wenn heute gesagt wird, sie würden nicht zügig genug durchgeführt, so kann ich nur sagen, daß wir zusätzlich Fachleute aus anderen Verwaltungen herangezogen haben. Wir müssen allerdings das etwas schwerfällige Verfahren des Dienststrafrechts beachten, und das Dienststrafrecht ist auch Schutzrecht. Insofern geht es hier um Vorschriften, die es leider nicht möglich machen, zu kurzfristigen Entscheidungen zu kommen.
Tatsache ist: Der sogenannte Sick-out, d. h. das bewußte Krankmelden, hat aufgehört, alle Dienstposten sind regelmäßig besetzt und damit ist die Sicherheit im Flugverkehr gewährleistet. Das ist damit erreicht worden.Was das Konzept angeht, so darf ich auch hier auf die Kabinettsvorlage Bezug nehmen, die die Mitglieder beider Ausschüsse erhalten haben. Hier sind eine ganze Reihe von besoldungsrechtlichen und stellenplanmäßigen Verbesserungen in einem Umfang vorgesehen, wie es bisher in keiner anderen Verwaltung erreicht worden ist. Nun, so meine ich, ist allerdings auch eine Grenze erreicht worden, die nicht mehr mit weiteren besoldungsrechtlichen Maßnahmen überschritten werden kann.
-- Meine Zeit wird auf die Aktuelle Stunde nicht angerechnet, die nimmt Ihnen keine Redezeit!
Ich darf nur eines noch zum Schluß sagen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2917
Ich bitte freundlichst, dem Herrn Minister, insbesondere im Interesse derjenigen, die noch das Wort ergreifen wollen, zuzuhören, damit sie sich mit den Ausführungen beschäftigen können.
Ich bin schneller fertig, wenn Sie zuhören. Die Nervosität, die sich bei Ihnen breitmacht, scheint ja besondere Ursachen zu haben.
Vielleicht hängt sie mit dem Lotsenstreik überhaupt nicht zusammen. Jedenfalls habe ich nur festgestellt, daß sich die Opposition selber sehr widersprüchlich verhalten hat. Herr Carstens meinte, wir dürften uns dem Druck von Fluglotsen nicht beugen. Herr Müller-Hermann — ich glaube, er hat es auch heute wieder gesagt — meint, wir hätten von Anfang an verhandeln müssen. Was ist denn nun richtig? Herr Carstens meint, das Verlangen der Fluglotsen sei berechtigt, aber dem Druck dürften wir uns nicht beugen. Ich sehe darin nur Widersprüche, dieselben Widersprüche, die ich auch heute gehört habe. Vielleich klärt sich heute noch manches.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spies von Büllesheim .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Börner hat gerade von dem sachlichen Konzept gesprochen, das uns durch die Kabinettsvorlage vom 14. August auf den Tisch des Verkehrsausschusses gekommen sei. Auch Herr Bundesminister Lauritzen hat sich darauf bezogen. 680 Millionen DM Investitionen für die Flugsicherung! In der Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, als wolle die Regierung jetzt mit einem gewaltigen finanziellen Kraftakt die trostlose Situation beenden, in die unsere Flugsicherung geraten ist. Meine Damen und Herren, es muß hier deutlich ausgesprochen werden, daß die 680 Millionen DM — genau sind es 679,7 Millionen DM — die sind, die in der Kabinettsvorlage stehen, die das Ausbauprogramm 1970 bis 1975 enthält, also in der Kabinettsvorlage, die schon am 4. Januar 1971 verabschiedet worden ist. Ohne jede Änderung!
Gerade dieser Plan ist ganz besonders geeignet, dieser Koalition nachzuweisen, wie sehr sie versagt hat, und zwar — das ist das Schöne — gemessen an ihren eigenen Plänen.Meine Damen und Herren, die Bummelaktion der Fluglotsen steht im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Tatsächlich ist aber diese Aktion nur die weithin sichtbare Spitze eines Eisberges von Unzulänglichkeiten, Versäumnissen, Fehlentwicklungen, der für die Öffentlichkeit unsichtbar, unter der Wasserfläche dahertreibt.
Allein in den Jahren 1971 und 1972 — auch das ist in der Kabinettsvorlage nicht erwähnt worden, Herr Bundesverkehrsminister — konnten über 50 Millionen DM von den 680 Millionen DM nicht ausgegeben werden, weil es an der Planung und Koordinierung fehlte.
Sie wollen Tatsachen hören. Die Zeit ist zu kurz. Ich darf Sie aber auf folgende Tatsachen verweisen.Die Regionalkontrollstelle Bremen ist schon acht Jahre im Bau und immer noch nicht fertig. Frühestens 1974 kann sie in Betrieb gehen. Die Regionalstelle Düsseldorf ist weiter zurück, von Frankfurt und München nicht zu reden. Die Umstellung auf das DERD-Darstellungssystem, das den Fluglotsen wirklich eine Erleichterung brächte, ist mehr als zwei Jahre gegenüber der Fünfjahresplanung von 1970 auf 1975 zurück.
Die Regionalkontrollstellen sollten bis 1975 mit dem neuen System der Flugzielerfassung TARC ausgerüstet sein. Meine Damen und Herren, die Angebote liegen seit Monaten ungeöffnet in der Bundesanstalt für Flugsicherung
und werden nicht geöffnet, weil sich die Anstalt nicht darüber im klaren ist, ob angesichts der sonstigen Versäumnisse dieses System überhaupt noch in den 70er Jahren eingeführt werden kann.
Die Kosten für dieses System sind in dem Plan von 680 Millionen DM enthalten. Bis 1975 sollten alle Stellen damit ausgerüstet sein. Mir fehlt die Zeit, ich könnte noch vieles sagen.
Wir werden darüber im Ausschuß sprechen.1968, 1969, 1971, 1972,
1973 sind die Daten der bisherigen Aktionen der Fluglotsen.
— Ich kann ja verstehen, meine Damen und Herren von der Koalition, daß Sie bei diesem Thema so erregt werden,
insbesondere dann, wenn Fakten genannt werden.
Der Fehlbestand an Personal hat bei den fünf Aktionen stets eine Rolle gespielt. Jetzt hören wir aber heute in der Fragestunde von der Regierung, dieser Fluglotsenstreik sei ein Phänomen, das erstmals auf uns zukomme. Mag sein, Herr Bundesverkehrsminister, daß auch die Fluglotsen selbst einen Anteil daran gehabt haben, den Personalbestand ge- ring zu halten. Mag sein! Aber um so mehr wäre es Aufgabe Ihrer Regierung gewesen, dem entgegenzuwirken, damit es nicht zu dieser Situation gekommen wäre.
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2918 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Dr. Freiherr Spies von BüllesheimDie Flugsicherungsschule Mörfelden sollte 1975 fertig sein. Nach meiner Erinnerung wurde vor sechs Wochen plötzlich festgestellt, daß die bisherigen Pläne weitgehend wertlos sind, weil das Grundstück plötzlich nicht mehr zur Verfügung steht.
Die Idee des doppelten Schichtbetriebs, durch das die Ausbildungskapazität im Jahre von 100 auf 135 gehen kann, ist erst eine Frucht des Fluglotsenstreiks; von der Bestellung eines zweiten Simulators, der jetzt mit zwei Jahren Lieferzeit bestellt wird, überhaupt nicht zu reden, ebenso nicht von den übrigen Ersatzprogrammen.Beim technischen Personal ist es noch viel schlimmer. Die Fremdwartung wird im Jahre 1973 statt von 25 Personen jetzt von 80 Personen vorgenommen. Das ist nicht nur teurer, sondern schafft vor allem neue Abhängigkeiten, weil mittlerweile nur die Fremdfirmen mit der neuen Computertechnik warten und arbeiten. Die Flugsicherungstechniker sind mangels Ausbildungsmöglichkeiten nicht in der Lage, damit zu arbeiten, und beschäftigen sich mit der alten Röhren- und Transistortechnik. Wenn dieser Zustand nicht abgestellt wird — das sei hier vorausgesagt —, wird das in der Zukunft noch Schwierigkeiten machen.
Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, zu Ende zu kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich komme zum Schluß.
— Ich freue mich über den Beifall dafür, daß ich zum Schluß komme. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die Handhabung dieses wesentlichen Bereichs durch die Regierung ist unerträglich. Sie ist glücklos, ungekonnt, schwankend und entscheidungsscheu.
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Das Wort hat Herr Abgeordneter Wiefel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will einmal den Versuch unternehmen, dieses etwas erregende Thema weniger erregend abzuhandeln.Herr Kollege Müller-Hermann, wir müßten Sie nicht kennen,
um nicht zu wissen, daß Sie ab und zu einmal ein paar Enten auf den Teich setzen, die dann kräftig gackern.
Sie sind ja kurz vor Antritt Ihres Urlaubs auch einmal auf dem Tower in Hannover gewesen. Wenn ich mir Ihre Vorschläge ansehe, die Sie herausgegeben haben, so ist das Nonplusultra: Kurzfristige Besoldungsverbesserungen, sind in die Wege geleitet, mittelfristige Beseitigung personeller Engpässe — auch dies ist durch die neuen Strukturverbesserungen in die Wege geleitet —, Einsatz ausländischer Fluglotsen — hier wurde gar von Militärfluglotsen gesprochen. Sie wissen sehr genau, was da möglich ist, wenn da ein paar von Amerika kommen und die Deutschen denen den Rücken zudrehen. Darüber hinaus haben Sie noch einiges gesagt über die Prüfung, über mehrere Modelle für eine langfristige Regelung des Fluglotsenstatus.Zunächst haben wir einmal von dem gegenwärtigen Status auszugehen, und dieses — das wissen Sie sehr genau — ist der Beamtenstatus. Hier ist viel gesagt worden wie bei der Opposition in dieser Frage überhaupt —, aber keine hilfreichen Vorschläge, nur Worte! Sie können zwar sagen: Das ist Ihr eigenes Bier, das ist das Bier der Regierung. Aber es ist ja doch im Grunde so in einer Demokratie, daß die Opposition, wenn sie etwas Besseres wüßte, dieses auch vor dem Volke sagen sollte. Und das vermissen wir.
Sie sagen dann: Die Regierung tut nichts. Tut sie was, meine Damen und Herren, dann gibt sie nach, dann wird gesagt: Die arme Bevölkerung, die so viel leiden muß! Und die Fluglotsen, na ja, die haben auch ein bißchen recht —. Damit sind dann alle politischen Bereiche bei Ihnen abgedeckt.
Der Minister sagte soeben, daß wir noch einen Flugverkehr haben, Ja, meine Damen und Herren, warum soll er das denn nicht sagen? Das, was von einigen Ihrer Leute gesagt worden ist: „Wir machen den Himmel über der Bundesrepublik dicht", das ist ja nun weiß Gott der Weisheit bester Schluß auch nicht.Nun einiges zu den Fluglotsen. Ich habe das im Ausschuß einmal gesagt. Ich habe ohne Auftrag mit den führenden Leuten gesprochen und habe ihnen gesagt: Nun neutralisiert doch einmal das Rennen, laßt den Dampf aus den Kesseln und blast die Aktionen ab! Dann haben wir für alle Beteiligten eine entlastete Verhandlungsatmosphäre. — Die Antwort war die, daß man sagte: Das ist unmöglich, weil dann vor Gericht bewiesen wäre, daß der, der den Dampf ablassen kann, ihn auch in den Kessel hineingeben könnte. Dieses „Jetzt oder Nie" bei den Fluglotsen läßt eine absolute Verhandlungsunwilligkeit von der anderen Seite erkennen und ist keineswegs der Regierung anzulasten, die ja ver-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2919
Wiefelhandlungsbereit war, aber schließlich nicht bereit zu Verhandlungen mit jenen Leuten, gegen die als Beamte ein Disziplinarverfahren lief. Und das waren immerhin, wie hier gesagt wurde, mehr als 80. Und wenn das Flugsicherungspersonal den Beamtenstatus behalten will -- und das soll ja überwiegend, wie man hört, wohl der Fall sein , dann muß es sich den Rechtsnormen unterwerfen, die in diesem Staate Geltung haben, und das ist das Bundesbeamtengesetz mit der Begründung eines Dienst- und Treueverhältnisses der Beamten zu dieser Bundesrepublik.
Man kann schließlich nicht die Segnungen dieses Status für sich in Anspruch nehmen wollen und sich zugleich contra legem wie ein wildgewordener Tarifpartner verhalten, wie das hier geschieht.Das „go slow" oder, noch mehr, dieses „sick out" mit 70 °/o Krankenstand, das läßt doch, meine Damen und Herren, eine erschreckende Dienstauffassung dieser Beamten erkennen. Und die Crux liegt doch darin, daß die großen Gewerkschaften als Tarifpartner ausgeschaltet sind und kleine Spezialistengruppen hier den Staat unter Druck setzen. Ich kann für meine Fraktion — und wohl auch mit für die Regierung -- erklären, daß wir nicht bereit sind, unter diesem Druck zu verhandeln.Die Lotsen haben einen schweren Dienst, zugegeben. Aber den haben andere Berufsgruppen in unserem Volke auch.
Man sollte endlich von dieser elitären Arroganz in diesem Haufen und von diesen Starallüren herunter!
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.
Nein, ich meine damit die Fluglotsen, die solche Dinge fordern wie Gehälter zwischen denen von Piloten und denen von Ko-Piloten. Und Sie wissen ja wohl, wohin das dann reicht und wohin wir dann in unserem Besoldungsgefüge kommen.
Die Regierung ist nicht untätig gewesen, und das technische Equipment, das hier angesprochen wurde, ist zumindest auf unseren mittleren und auf unseren Großflughäfen durchaus so wie in anderen Staaten auch.
Wir sollten hier, meine Damen und Herren, die am 18. Juli festgelegte Linie des Innen- und des Verkehrsausschusses beibehalten. Das Losschlagen durch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, auf die Regierung ohne eigenes Konzept muß diejenigen ermuntern, die Sie nicht ermuntern sollten.
Wer sich die Redezeiten ansieht, wird feststellen, daß hier alle gleich behandelt werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Groß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist das gute Recht der Opposition, die Regierung zu kritisieren, wenn sie glaubt, daß diese Fehler gemacht hat. Wenn ich aber das Engagement der Oppositionsvertreter sehe, frage ich mich, ob hier nicht die Maßstäbe ein wenig verschoben werden, d. h. ob dieses Engagement — so wichtig dieses Thema auch ist — nicht manchmal einer anderen Sache angemessener wäre. Ich glaube, es gibt in unserem Lande eine Fülle von Themen, die auch hier weitaus mehr Engagement verdienen als gerade dieses Thema der Flugsicherung in der Bundesrepublik;
ich brauche nur einmal das Thema „Bildungspolitik" anzusprechen.
Wir haben alle Veranlassung, dieses Thema ernst zu nehmen, aber ich glaube, wir sollten auf den Kern der Sache zurückkommen. Und der Kern liegt nicht in der mit Sicherheit unzulänglichen Ausstattung der Flugsicherung, sondern darin, daß hier eine kleine Gruppe von Spezialisten in einer maßlosen Selbstüberschätzung — erklärlich aus ihrer sogar buchstäblichen Isolierung in ihrem Tower -glaubt, sich mit Maßstäben messen zu können, die einfach nicht angemessen sind.Der Kern ist mit Sicherheit nicht die Frage, ob das nun Beamte oder Angestellte sind. Der Kern ist, daß hier eine solche Spezialistengruppe glaubt, das Parlament, die Allgemeinheit erpressen zu können. Denn nichts anderes als Erpressung ist das. Und das Betrübliche an dieser Situation ist doch wohl, daß diese Erpresser eine Unterstützung oder zumindest eine Ermunterung aus der Öffentlichkeit bekommen haben. Denn was anderes als eine Ermunterung ist es, wenn etwa der Kollege Müller-Hermann sagt, daß man doch mit Hilfe einiger hundert Mark, die man zulegen könne, das Problem lösen könne?
— Herr Kollege Müller-Hermann, das können wir ja dann vielleicht noch klären. Jedenfalls haben Sie bisher diese Ihre Erklärung nicht dementiert. Meine Damen und Herren, wenn wir das täten — nämlich hier mit Hilfe einiger hundert Mark ein vermeintliches Loch stopfen —, rissen wir mit Sicherheit neue Löcher auf, und wir honorierten ein Verhalten, von dem wir alle, so hoffe ich, überzeugt sind, daß es gesetzwidrig ist. Wir werden damit all jenen ungezählten Beamten und Angehörigen des öffentlichen Dienstes der verschiedensten Kategorien nicht gerecht, die, ohne sich in dieser Weise zu verhalten,
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2920 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Großihren Dienst tun. Wir werden mit einem solchen Zugeständnis, das vielleicht, wie man so sagt, 10 Millionen DM kostet, nicht nur eine Fülle von Milliarden-Forderungen, die wir dann nicht mehr abwehren können, auf uns zukommen sehen, sondern wir werden darüber hinaus die Moral des öffentlichen Dienstes in einer Weise untergraben, wie wir uns das schlimmer gar nicht vorstellen können. Das sage ich vor allen Dingen an die Adresse derjenigen, die immer besonders gern das Berufsbeamtentum hochschätzen, aber dann, wenn es einmal darum geht, auch die Pflichten des Berufsbeamtentums in Anspruch zu nehmen, vielleicht etwas leiser sind.Meine Damen und Herren, es ist Erpressung, und gegenüber einer Erpressung ist jeder Erpreßte in einer schwierigen Situation. Als vorhin Herr Minister Lauritzen sagte, es seien 88 Dienststrafverfahren eingeleitet worden, hörte ich den Zuruf: Aber was hat's geholfen!?Hier sind wir, meine Damen und Herren, an einer ganz kritischen Stelle. Wenn wir meinen, daß mit Hilfe dieses — zugegeben schwerfälligen — rechtsstaatlichen Verfahrens nicht auszukommen sei, dann frage ich mich, was Sie uns für Mittel empfehlen wollen.
Hier mit Hilfe der Polizei oder mit Gewaltanwendung vorgehen zu wollen, ist doch mit Sicherheit der Sache nicht angemessen.
— Meine Damen und Herren, zur Sache werden wir in den Ausschüssen weiter sprechen.Eine Schlußbemerkung: Es handelt sich hier um ein außerordentlich kompliziertes Problem, das nicht nur ein Besoldungsproblem ist, und komplizierte Probleme, meine Damen und Herren, verlangen komplizierte Lösungen. Lösungen mit Hilfe von einigen Zulagen und einigen hundert D-Mark, noch dazu in der Situation des Erpreßten, sind keine Lösungen.
Das Wort hat der Herr Bundesinnenminister Genscher.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der irrtümlich als Bummelstreik bezeichnete rechtswidrige Arbeitskampf von Fluglotsen sollte für niemanden Anlaß zur Schadenfreude sein; denn in Wahrheit handelt es sich um eine Herausforderung an den demokratischen Rechtsstaat.
Deshalb, meine Damen und Herren, darf bei aller Kritik, die dieser und jener für berechtigt halten mag, an Fragen der technischen Flugsicherung eines nicht unterschlagen werden: Was immer an Versäumnissen — früher oder in der jüngsten Vergangenheit -- aus der subjektiven Lage des Kritikers heraus vorgeworfen werden kann: niemals kann es das rechtswidrige Verhalten einer kleinen Gruppe rechtfertigen.
Deshalb, Herr Kollege Müller-Hermann, habe ich es nicht verstehen können, daß Sie am 25. Juni dieses Jahres erklärt haben:Die Union hat aber kein Verständnis dafür, daß die Bundesregierung jetzt mit Drohungen verschiedenster Art die Konfrontation weiter anheizt.Wenn eine Regierung, meine Damen und Herren, insonderheit ein Minister, hier der Verkehrsminister, der es in dieser Lage wirklich nicht leicht hat, die Fluglotsen auf ihre gesetzmäßigen Pflichten hinweist und die gesetzmäßigen Folgen beschreibt, hat das nichts mit einer Drohung zu tun, die zu verurteilen wäre.
— Bitte schön?
— Ja, Sie haben außerdem noch gesagt, innerhalb von sechs Wochen müsse sich eine Lösung der Besoldungsfragen finden lassen,. wenn beide Seiten den guten Willen mitbrächten. Meine Damen und Herren, hier handelt es sich primär wahrlich nicht um eine Besoldungsfrage, sondern hier handelt es sich um die Frage, wie eine bestimmte Gruppe ihre gesetzlichen Pflichten als Beamte sieht bzw. wie sie sie nicht sieht.
Sehen Sie einmal hinaus ins Land! Wir haben im öffentlichen Dienst große Gruppen, von denen ich als verantwortlicher Minister sagen muß, sie haben berechtigte Forderungen zu stellen, und wir können sie ihnen nicht erfüllen. Diese Menschen machen zwar von den legalen Formen der Interessenwahrnehmung Gebrauch, stellen sich aber nicht hin und tragen in einem rechtswidrigen Arbeitskampf ihre persönlichen Sorgen auf dem Rücken Dritter und Unbeteiligter aus.
Die Bundesregierung hat im letzten Jahr eine Erschwerniszulage von 200 DM angeboten, eine damals wahrlich nur schwer zu verantwortende Maßnahme angesichts der Forderungen anderer Gruppen. Wir stehen heute noch dazu, und wir sind be- reit, sie in Kraft zu setzen. Wir werden sie aber auf keinen Fall in Kraft setzen, solange diese rechtswidrigen Verhaltensweisen andauern, weil wir nicht daran denken, den Rechtsbruch auch noch finanziell zu belohnen.
Ich frage mich wirklich, wie wir alle gemeinsam unsere Verantwortung wahrnehmen wollen vor Zehntausenden von Krankenschwestern, vor den
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Bundesminister GenscherPolizeibeamten. Sehen Sie sich einmal die Leistungen bei der Bundespost, bei der Bundesbahn an. Dort sind Menschen, die Tag und Nacht und auch an Sonn- und Feiertagen ihren Dienst tun und die wahrlich etwas zu fordern hätten. Aber sie erfüllen ihre Pflicht. Sie treten uns in harten Tarifgesprächen gegenüber, aber sie werden niemals — davon bin ich überzeugt — den Weg einer rechtswidrigen Maßnahme beschreiten.
Ich habe deshalb die herzliche Bitte an Sie, Herr Kollege Breidbach, nicht noch einmal wie in der Fragestunde dieses rechtswidrige Verhalten im Zusammenhang mit einem legalen Arbeitskampf zu nennen. Meine Damen und Herren, der legale Arbeitskampf bringt für den Arbeitnehmer auch alle Risiken des Arbeitskampfes. Es geht aber nicht an, in der Geborgenheit des Beamtenseins mit lebenslanger Anstellung und Pension Arbeitskampfrechte zur Durchsetzung von Besoldungsforderungen in Anspruch zu nehmen.
Deshalb möchte ich hier erklären: Die Bundesregierung wird konsequent den Weg der technischen Verbesserung der Flugsicherung gehen. Sie ist aber nicht bereit, sich unter Druck setzen, sich erpressen zu lassen — das auch zum Nachteil unserer gesamten Gesellschaft, vor allem aber auch zum Nachteil der Hunderttausende pflichtbewußter Beamter, denen ich heute hier ausdrücklich für ihr Verhalten in den letzten Monaten danken möchte.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Berger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, Sie alle haben spätestens beim Beifall der Opposition bei einigen Feststellungen des Innenministers Genscher gemerkt, daß es gar nicht zweifelhaft sein kann, daß die Opposition von Anfang an das rechtswidrige Verhalten der Fluglotsen getadelt und zurückgewiesen, verurteilt hat. Es gab bei der Diskussion heute einige Unklarheiten, und nur insofern stimme ich Herrn Lauritzen zu, als er von Widersprüchen sprach. Sie ergeben sich nämlich daraus, daß Herr Genscher gerade sagte, er habe 200 DM Zulage angeboten. So schrieben ja auch die Zeitungen. Die erste Frage ist: Warum wurden eigentlich die 200 DM Zulage erst einen Tag nach der Wiederaufnahme der Streikmaßnahmen der Fluglotsen angeboten?Wenn wir noch einmal auf die „gerade Linie" zurückkommen, von der der Herr Staatssekretär Ravens sprach, dann ist doch festzustellen, daß im Juni 1971 die Maßnahmen, die Herr Leber damals vorschlug, nämlich eine Verbesserung von 600 bis 700 DM, der Grund gewesen sind, der zunächst zur Beschwichtigung der Fluglotsen führte. Immer wieder wurden auf der einen Seite Versprechungen gemacht und auf der anderen Seite Drohungen ausgesprochen.So klar ich die Rücksichtslosigkeit der Fluglotsen verurteile, genauso klar muß ich die Mitverantwortung der Bundesregierung feststellen. Die Bundesregierung hat wiederholt durch unkoordiniertes widersprüchliches Vorgehen ihrer einzelnen Minister abwechselnd mal gedroht, mal beschwichtigt. Sie hat hohe finanzielle Erwartungen erweckt, die sie dann später nicht erfüllen konnte.
Ich sage es noch einmal, es war damals die Rede von 600 bis 700 DM. Darum wundere ich mich, Herr Minister Genscher, daß Sie sagen, Ihr Angebot von 200 DM fiel Ihnen schwer. Wie konnte sich dann Herr Leber bereits im Juni 1971 den Vorschlägen der Kommission anschließen, die damals dann nicht verwirklicht wurden? Rechtlich ist es richtig, daß das damals noch keine verbindlichen Zusagen waren. Aber politisch mußten doch die Einsetzung der Schlieker-Kommission und diese Vorschläge berechtigte Erwartungen bei den Fluglotsen wecken, die eben nachher nicht realisiert wurden. Die Fluglotsen waren doch gerade durch diese Erwartung zur Beendigung ihres damaligen Bummelstreiks bewegt worden und fühlten sich nachher getäuscht und hintergangen. Das ist doch in etwa verständlich — trotz aller Ablehnung der rechtswidrigen Maßnahmen.Im Juni 1972 wurde dann der dritte Bummelstreik mit der Einsetzung einer interministeriellen Arbeitsgruppe beendet, die die Zulagen von 160 bis 200 DM empfahl. Es hat sich aber dann fast ein Jahr — bis Mai 1973 — hingezogen, bis von Ihnen, Herr Genscher, das Angebot mit den 200 Mark kam. Am 17. Juli 1973 kam dann die „große Wende", wenn ich einmal eine deutsche Tageszeitung vom 18. Juli zitieren darf: „Endlich Wende im Fluglotsenstreik. Lauritzen will Kabinett neue Vorschläge machen. Lauritzen erklärte, er wolle dem Bundeskabinett den Vorschlag unterbreiten, die Fluglotsen in die europäische Flugsicherungsorganisation ,Eurocontrol einzugliedern."Später hat dann der Minister Lauritzen gesagt: Da bin ich ganz mißverstanden worden. Das war nur einer von verschiedenen Vorschlägen. — Ich fand es ja rührend, Herr Minister Lauritzen, wie Sie uns in der Sondersitzung sagten, als wir Ihnen nun diese ganzen Fakten auf den Tisch legten: „Bitte, Herr Abgeordneter, denken Sie doch an den Streß dieses Tages und legen Sie nicht jedes meiner Worte vor dem Fernsehen und der Presse auf die Goldwaage." Ich wundere mich bloß, daß man hier bei den Formulierungen des Kollegen Dr. Müller-Hermann mit Zitierungen und halben Zitierungen Deutungen ver- sucht, ohne zu bedenken, daß einer meiner Vorredner, der Kollege Hoffie, ja gerade in dieser Sonderausschußsitzung die Forderung erhoben hatte: „Übernahme durch Eurocontrol", und es dann dazu später nicht kam.
-- Ja, das böse Beispiel der Fluglotsen in Deutsch-land könnte Schule machen. Auch andere Gruppenvon Spezialisten könnten versuchen, auf Kosten von
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2922 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
BergerMillionen anderer Bürger materielle Verbesserungen zu erzwingen.Es ist nicht so, daß die Opposition ohne Vorschläge wäre. Wir beklagen ja gerade, daß etwa die Frage der Einrichtung eines Zeitbeamtenverhältnisses nicht geprüft wurde oder die Möglichkeit, die Zulagen etwa in Form einer Durchstufung wie im Richterverhältnis unterzubringen Da gibt es viele Möglichkeiten. Aber diese Möglichkeiten haben wir im Innenausschuß bisher nicht erörtern können. Es ist immer wieder vertröstet worden.Auch die Fluglotsen müssen selbstverständlich nach Leistung bezahlt werden. Aber statt klarer Konzeption zeigt sich eine erschreckende Hilflosigkeit der Bundesregierung und leider keine Koordinierung durch den Herrn Bundeskanzler. Manchmal wird ja auch gesagt, es sei mit der Bummelaktion gar nicht so schlimm, mal ist die Opposition schuld, mal ist der Herr Seebohm schuld. Ich glaube, eine gewisse Verwirrung ist da, die man durch Fakten klären sollte. Die Fakten sagen ganz deutlich: im Laufe von über zwei Jahren ist es der Bundesregierung nicht gelungen, eine befriedigende Lösung in dieser Frage zu finden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Engholm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man sich die Mühe macht, den sachlichen und konstruktiven Gehalt der bisherigen Äußerungen der CDU zusammenzufassen, so kann man ihn reduzieren auf den einzigen vielleicht bekannten Spruch: „Wenn morgens früh die Sonne lacht, dann hat's die CDU gemacht, gibt's aber Regen oder Schnee, dann war's die böse SPD."
Zu mehr hat es doch bisher bei Ihnen an konkreten Aussagen nicht gereicht.
Es sind viele sachliche Argumente aus den Reihen der Koalition vorgetragen worden, um die Fadenscheinigkeit ihrer Angriffe deutlich zu machen. Man sollte ein Argument hinzufügen, um das Mosaik abzurunden, ein Argument, das bisher nicht genannt worden ist, das bei der politischen Strategie der Oppositionsparteien sicher eine Rolle gespielt hat. So beschäftigt sich z. B. der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Stoltenberg am 23. Mai in der „Nordschau" maliziös mit der politischen Historie des Bundesverkehrsministers und einige Tage darauf der Herr Dr. Narjes in der „Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung" mit anderen Dingen, mit der Frage „Welche Chancen hat ein Mann wie Lauritzen als Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein".
Und dann kommt der berühmte Hamburger Kollege Orgaß und hat die Unverfrorenheit, von einem „nationalen Unglück" zu sprechen.
Hier wird systematisch zusammengemengt, angefangen vom Fluglotsenstreik über politische Geschichte bis zum Alter und zur Qualifikation.
Wir sind uns doch über eines einig: dies ist ebenso wie der Zeitpunkt Ihrer heutigen Debatte kein Zufall. Sie wollen hier nicht ausschließlich den Bundesverkehrsminister treffen,
sondern Ihr Ziel ist es auch, einen unliebsamen und Ihnen gefährlich werdenden Mann in Schleswig-Holstein ans Messer zu liefern.
Es ist kein Zufall, daß dies in der bei Ihnen üblichen Art gemacht wird, die der persönlichen Art dieses Ministers völlig zuwiderläuft. Denn dieser Minister ist ein loyaler Mann, ein grundanständiger Mann und ein Mann, der als Minister durchaus erfolgreich war. Das wissen Sie sehr wohl.
Ich ziehe daraus das Fazit, daß es hier nicht um die Qualität eines Ministers auf Bundesebene geht, sondern daß hier vorbeugend eine Entlastungsschlacht für Sie in Schleswig-Holstein geschlagen wird. Ich ziehe daraus zweitens das Fazit, daß Sie mit der alten Masche versuchen, sich immer dann, wenn Ihnen sachlich die Luft ausgeht, in die Emotionalität zu flüchten.
Das Fazit aus der bisherigen Debatte kann nur heißen: Sie haben Ihren Fluglotsen für die Bestimmung Ihres politischen Kurses noch nicht gefunden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ollesch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich frage mich, wem diese Veranstaltung, die Aktuelle Stunde, die Sie heute beantragt haben und durchführen, nützt. Sie nützt sicherlich nicht der Sache. Sie löst das Problem nicht, es sei denn, Sie legen noch konstruktive Vorschläge hier auf den Tisch. Das haben Sie bisher nicht getan.
Sie kann auch Ihnen nicht nützen, meine Damen und Herren, weil draußen sicherlich aufmerksam verfolgt wird, daß Sie versuchen, aus dieser Sache, die uns alle bedrückt und die große Teile unserer Bevölkerung — sie ist daran völlig unschuldig —trifft, Kapital zu schlagen. Es wird der Eindruck erweckt, daß Sie versuchen, ein parteitaktisches Geschäft zu machen. Sie versuchen mit Ihrem Auftritt,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2923
Olleschder Bundesregierung die Schuld in die Schuhe zu schieben. Sie besorgen damit eigentlich die Geschäfte derjenigen, die uns durch ihr rechtswidriges Verhalten in diese Situation hineingebracht haben, weiter nichts.
Das wird von den Betreffenden sehr freudig aufgenommen; denn mit Ihrem Verhalten könnten Sie dazu beitragen, daß ein Stimmungsumschwung in der Bevölkerung eintritt, deren Stimmung jetzt noch eindeutig gegen die Fluglotsen gerichtet ist.Sie wissen, meine Damen und Herren, daß Sie selber dort, wo Sie in der Verantwortung stehen, sehr leicht in ähnliche Situationen hineinkommen können. Denn bei der Entwicklung zur Hochtechnik in unserer Wirtschaft und zu immer größerer Arbeitsteilung w erden Spezialistengruppen gezüchtet, denen man eine leistungsgerechte Behandlung mit dein Beamtenrecht und der Beamtenbesoldung nur schwer zuteil werden lassen kann. Das werden Sie wissen. Von daher gesehen stehen wir nicht nur hier, sondern auch anderenorts vor diesen Problemen, die sich ausweiten werden.Nun hat die Regierung bzw. der Bundesverkehrsminister ein Konzept vorgelegt. Sie haben bisher noch nicht zu erkennen gegeben, ob Ihnen dieses Konzept ausreicht, ob die Vorschläge nach Ihrer Meinung für die Betroffenen akzeptabel sind oder nicht. Das haben Sie wohlweislich nicht getan. Allerdings haben sich die Fluglotsen schon ablehnend dazu geäußert. Sie sind damit nicht zufrieden. Nun möchten wir gern von Ihnen wissen, ob Sie die Ansicht der Fluglotsen teilen oder ob dieses Konzept der materiellen Vorschläge zur Besoldung und einer besseren technischen Ausrüstung Ihre Zustimmung findet. Sie haben heute hier noch nicht gesagt, ob Sie mehr fordern und mehr zu geben bereit sind.Sie kritisieren, die Angebote kämen zu spät. Das mag sein. Ich erinnere aber daran, daß es das Angebot des Bundesinnenministers, Erschwerniszulagen in der gleichen Höhe zu gewähren, bereits 1972 gab, daß die Fluglotsen dieses Angebot als völlig unzureichend ablehnten und schon damals den Streik androhten. Es ist also nicht erst unter der Drohung des Streiks und angesichts des Vorganges, der sich zur Zeit vollzieht, gehandelt worden.Sie haben davon gesprochen, daß viele Vorschläge vorgelegt worden seien, die Ihnen inakzeptabel erscheinen. Sie selbst haben allerdings gar keinen Vorschlag gemacht, mit Ausnahme von Herrn Sick, der dann auch im „Sicksack" marschiert.
Wir wissen, daß diese Vorschläge keine Lösung des Problems auf Dauer bedeuten, daß sie Anreize für andere Gruppen sein könnten. Aber, meine Damen und Herren, wenn Sie Vorschläge anderer kritisieren, eigene jedoch nicht vortragen können, haben Sie im Grunde wohl nicht das Recht zu der Kritik, wie Sie sie hier und heute vorgetragen haben.Ich meine, diese Veranstaltung heute ist wenig hilfreich im Hinblick auf die Lösung des Problems.Sie kann Ihnen draußen keine besondere Achtung einbringen. Sie kann höchstens für unsere ganze Bevölkerung bei Anlässen ähnlicher Art neue Erschwernisse bringen. So gesehen, meinen wir: Prädikat „ungenügend" für Sie!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute, wie ich meine, schon einige ganz erstaunliche Begründungen und Motivationen für die vielen Schwierigkeiten gehört. Herr Ollesch hat eben nun auch noch Zensuren erteilt. Ich möchte fast sagen, um bei Herrn Hoffie zu bleiben, wenn Luftverkehr auf der Palette dessen, was man sich unter Verkehr alles vorstellen kann, nicht so etwas schrecklich Neues wäre, wären wir wohl in der Beantwortung der Frage, wer denn nun schuld ist, bei Adam und Eva gelandet. Wir wollen doch einmal festhalten, daß die Verantwortlichkeit für die Verkehrspolitik immerhin seit sieben Jahren zweifelsfrei feststeht.
Darüber brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Herr Kollege Börner, wir brauchen uns auch nicht darüber zu unterhalten, daß wir uns in der Beurteilung einig sind: Der Streik ist rechtswidrig. Wir wollen uns schließlich gemeinsam bemühen, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Eines müssen wir aber doch feststellen. Diese rechtswidrige Handlung hat eine Ursache. Was ist denn die Ursache dieser rechtswidrigen Handlung? Es ist das Versagen dieser Regierung und dieses Verkehrsministers!
Ich glaube, das ist eine notwendige Feststellung.Eines müssen wir auch wissen. Es geht ja schon gar nicht mehr nur um verkehrspolitische Wirkungen, sondern es geht heute schon um die gefährliche Entwicklung auf anderen Gebieten. Der Herr Bundeskanzler spricht oft von Lebensqualität. Was immer das sein mag, zumindest sind damit doch auch, so meine ich, Wohltaten für den einzelnen Menschen gemeint. Dazu gehören Verkehrsleistungen. Und was dies angeht, so muß ich feststellen, daß im Bundesverkehrsministerium permanent Demontage von Lebensqualität betrieben wird.
Meine Damen und Herren, das gilt insbesondere im Hinblick auf die Menschen in den entfernt liegenden Gebieten, in den peripheren Gebieten, in den Zonenrandgebieten, die sowieso schlecht bedient werden und die nach der neuen Konzeption der Bundesbahn „Heraus aus der Fläche" noch schlechter bedient werden. Herr Minister, jetzt erfolgt eine Einschränkung des Luftnahverkehrs, und wir haben die begründete Befürchtung, daß nicht alle Dienste, die jetzt eingehen, wieder eingerichtet werden. Ich will jetzt gar nicht untersuchen — wir werden es auf andere Art und Weise tun —, ob man das technisch durch Herabsetzung der Eckwerte der
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SickLandebahnbelastung usw. vielleicht noch untermauert und glaubwürdiger macht, aber mit einer durchaus negativen Folge.
— Nein, ich will darauf hinaus, daß diese Verkehrspolitik Wirkungen auf andere Bereiche hat, z. B. eine unerhörte raumordnungspolitische Relevanz, und zu einer raumordnungspolitischen Konzeption führen kann, die wir nicht wollen, von der wir aber nicht mehr sicher sind, ob sie nicht von einem Konzept her bereits so eingeleitet wird.Herr Kollege Engholm, wir sind ja beide Schleswig-Holsteiner. Es entspricht wohl der Mentalität Ihres Freundeskreises, daß Sie hier bei dem Angriff auf den Bundesverkehrsminister natürlich wieder eine Verschwörung vermuten.
Damit befinden Sie sich anscheinend in sehr guter Gesellschaft.Wenn der Herr Bundeskanzler sagen würde, eine solche Raumordnungsrelevanz, die zur passiven Sanierung führt, entspreche nicht seinen Absichten, dann müßte ich feststellen, daß der Verkehrsminister entgegen den Richtlinien des Bundeskanzlers gehandelt hätte, und dann wäre es wohl nur logisch, den Bundeskanzler zu fragen, nicht nur ob, sondern auch wann er sich von diesem Minister zu läsen gedenkt. Nur, Kollege Engholm, ich habe etwas Bedenken, die klare Empfehlung zu geben, diesen Verkehrsminister zu entlassen, weil Sie sagen: Dann bekommen wir in Schleswig-Holstein den von uns gefürchteten Gegner. Ich tue es trotzdem, und ich meine, wir werden damit fertig werden.
Herr Börner, ich lege Wert darauf, daß wir uns im Ausschuß echt um die Einzelheiten bemühen. Aber diese Sicht, diese weitergehende Befürchtung, die war haben: was sich daraus als irreparabel entwickeln kann, berechtigt beispielsweise auch einen Kollegen Müller-Hermann, der nicht an den Sitzungen teilnimmt, hierher zu gehen und seine allgemeinpolitische Sorge zum Ausdruck zu bringen.
Ich hatte darauf hingewiesen, Herr Minister, daß die Bundesbahn — —
Herr Kollege Sick, bitte, kommen Sie zum Ende!
Zum Schluß folgendes, meine Damen und Herren. Es ist eine nicht ganz glückliche Paarung, u ie ich sagen würde. Der Kanzler, den ich hier sehe, hat, soweit ich es erfahren habe, dem Vorsitzenden des Ausschusses einen unbefriedigenden Brief geschrieben: mangelnde Koordinierung. Herr Minister, bei Ihnen muß man doch immerhin anerkennen, daß Sie in Ungeschicklichkeiten erhebliche Routine gewonnen haben.
Als Mann der Küste würde ich sagen — und damit schließe ich, Herr Präsident —: Das Schiff ist festgefahren, aber doch wohl auch, weil der Minister ein schlechter Lotse und der Kanzler kein besonders guter Kapitän war.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manches, was wir hier gehört haben, war nicht zu verstehen und hat eigentlich auch den Anlaß Ihres Wunsches nach einer Aktuellen Stunde nicht weiter aufgeklärt. Eben hat der Kollege Sick versucht, etwas sachlicher zu sprechen. Wir haben ja morgen früh eine gemeinsame Sitzung von Innen- und Verkehrsausschuß, und ich begreife überhaupt nicht, warum das, was sachlich zu diesem Thema zu sagen ist, nicht morgen früh in der Ausschußsitzung hätte gesagt werden können,
ebenso wie Herr Kollege Berger selbstverständlich im Innenausschuß Gelegenheit gehabt hätte, dazu etwas zu sagen, wenn er nur die Möglichkeit gehabt hätte, konkrete Vorschläge auf den Tisch zu legen. Aber genau dies war nicht der Fall.Herr Kollege Sick hat hier eben noch gefragt: Was ist eigentlich die Ursache gewesen? Herr Kollege Hoffie hat eingangs der Debatte darauf hingewiesen, daß es mit einer Verbeamtung der Fluglotsen angefangen hat, und zwar gegen deren Willen.
Damit haben die Fluglotsen keine Möglichkeit eines Streikrechts mehr gehabt. Das Arbeiten nach Vorschrift ist zweifellos illegal gewesen. Kein Zweifel, wenn andere Beamtengruppen in derselben Weise verführen wie die Fluglotsen -- die anderen Beamtengruppen tun es nicht —, dann wären Sie die ersten gewesen, die hier heraufmarschiert und über den Verfall der Staatsautorität lamentiert hätten. Ich hätte den Kollegen Dregger schon gesehen, wie er mit blauen Augen in den Saal starrt und das hier vorträgt. Die Regierung muß erklären, daß sie einem solchen rechtswidrigen Druck nicht weichen kann. Sie hat das erklärt. Sie müssen sich darüber klarwerden, auf welcher Seite Sie bei dieser Auseinandersetzung stehen und was Sie mit einer solchen spektakulären Aktion hier erreichen wollen.Wir leben in einem Zeitalter der wachsenden technischen Verflechtung. Daraus folgt, daß die Verantwortung der Spezialisten immer größer wird. Daraus folgt aber auch, daß wir neue Wege finden müssen, sie beim Verteilungskampf dieser Gesellschaft zu beteiligen. Dazu liegen Vorschläge auf dem Tisch. Die Kommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts hat dazu bemerkenswerte Äußerungen gemacht. Das ist der Punkt, über den wir in aller Ruhe auch im Innenausschuß reden müssen, aber nicht in dieser Form hier.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2925
Dr. HirschSie müssen sich entscheiden, meine Damen und Herren, ob Sie sich einen kurzfristigen Erfolg von einer solchen Aktion erhoffen oder ob Sie mit uns zusammen das Problem lösen wollen, und zwar nicht zu Lasten dieses Staates, sondern zu seinen Gunsten. Die Entscheidung, die Sie hier getroffen haben, ist eine Fehlentscheidung.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht darf auch ich noch ein paar Bemerkungen machen und zunächst sagen: Ich würde mich wundern, wenn ich der einzige wäre, der den Eindruck gewonnen hat, daß die Aktuelle Stunde nicht eigentlich geeignet war, das Problem, vor dem wir hier miteinander stehen, ein schwieriges Problem zugegebenermaßen, lösen zu helfen.
Ich will zunächst ein paar Bemerkungen machen, die mit der Polemik, die diese Aktuelle Stunde geprägt hat, eigentlich nichts zu tun haben. Ich denke, niemand in diesem Hause wird bestreiten wollen, daß wir es im Kern mit dem Problem zu tun haben, wie der Staat mit Spezialisten oder Monopolgruppen, wie man will, zu Rande kommt, die mit ihren Forderungen auf die Allgemeinheit keine oder keine ausreichende Rücksicht nehmen. Ich denke, diese grundsätzliche Frage wird uns in kommenden Jahren bei uns und in anderen industriellen Massengesellschaften zunehmend beschäftigen. Es ist nicht nur eine Frage des Beamtenstatus, sondern die Frage wird uns unabhängig davon beschäftigen, welchen Status die einzelnen einnehmen, und wir werden Antworten finden müssen. Ich bitte um Mitarbeit und um gemeinsames Überlegen, um die Antwort zu finden, die keiner von uns hat — ich habe sie nicht —,
die Antwort nämlich auf die Frage: Wie kommen wir zu einer anderen Art des Sich-Verständigens mit Gruppen, die für das Leben, die Gesundheit und die Sicherheit der Bevölkerung, d. h. ihrer Mitbürger, eine besondere Verantwortung tragen? Das ist der Kern des Problems.
Daran müssen wir miteinander arbeiten.
Wenn es wie in dieser Situation um ein irreguläres oder gar widerrechtliches, rechtswidriges Verhalten gegenüber dem Staat und der Allgemeinheit geht, dann müßte dieses Haus Geschlossenheit zeigen. Mir ist berichtet worden, daß die Opposition das im Verkehrsausschuß bisher auch getan hat.
Sie hat insbesondere den Vorschlägen der Bundesregierung dort nicht widersprochen. Sie hat, wenn ich es recht sehe, auch heute Alternativen nicht aufgezeigt, was ich nicht als hämische Kritik aufzufassen bitte; denn ich habe ja eben selbst gesagt, wie
schwierig das Sich-Befassen mit einer solchen Situation ist. Die Opposition hat vielmehr der gemeinsamen Entschließung des Verkehrsausschusses und des Innenausschusses am 18. Juli dieses Jahres zugestimmt. Dann finde ich es doch etwas verwunderlich, wenn diese im Ausschuß gezeigte Haltung von der Opposition nicht auch stärker, als es geschehen ist, nach außen vertreten wird. Denn durch das nicht entsprechende Vertreten dieser Einsichten auch nach außen wird bei der betroffenen Personengruppe — die ich übrigens nicht als d i e Fluglotsen bezeichne; ich lasse den bestimmten Artikel bewußt weg — eine unrichtige Erwartung geweckt oder werden falsche Hoffnungen und falsche Reaktionen gefördert. Das muß man doch ganz deutlich sehen.
Die Bundesregierung — auch die Opposition erwartet von ihr nichts anderes — ist zu rechtsstaatlichem Handeln verpflichtet, sie muß also auch den mühseligen und langwierigen Weg der Disziplinarmaßnahmen gehen, um die Betroffenen an ihre Pflichten zu erinnern. Ich bedaure sehr, daß es dahin kommen mußte.
Aber noch mehr bedauere ich, daß das irreguläre Verhalten in den Kontrolltürmen nun schon bald vier Monate dauert. Die Bundesregierung hat sich bemüht — und nicht erst seit gestern —, das zu tun, was ihr unter den gegebenen rechtlichen Bedingungen möglich war, um technische und personelle Verbesserungen in unserem Flugsicherungsdienst zu erreichen. Jedenfalls kann man der Bundesregierung unter gar keinen Umständen vorwerfen, sie sei nachlässig gewesen oder habe es an dem notwendigen Bemühen urn angemessene Lösungen fehlen lassen.
Ich will nicht der Versuchung nachgeben, hier schon einen Vorgriff auf Landtagswahlen in einem nördlichen Bundesland zu machen; sondern ich will einfach nur auf den Mann bezogen sagen: Lauritz Lauritzen hat nicht nur die Ruhe weg, sondern er verfügt in Stadt und Land über ungewöhnliche Erfahrungen, und er hat mein ganz persönliches Vertrauen.
Meine Damen und Herren, als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich mit einer Redezeit von drei Minuten dem Herrn Abgeordneten Dr. Waffenschmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, die Frage der Spezialistengruppen in unserer modernen Industriegesellschaft wird uns in diesem Hause sicherlich noch öfter gemeinsam beschäftigen, und — da teilen wir Ihre Ansicht —um die Lösung dieses Problems werden wir uns gemeinsam zu bemühen haben.Aber — das muß deutlich gesagt werden — diese Ihre Einlassung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein ganz klares Versagen bei dem Thema an-
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2926 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Dr. Waffenschmidtsteht, das wir heute behandeln, nämlich bei dem Fluglotsenstreik. Wir hätten es begrüßt, wenn Sie sich, die Sie sich heute in die Debatte hineinbegeben haben, mit Ihrer Richtlinienkompetenz doch vielleicht schon etwas früher zur Behebung dieser bösen Situation hätten bemerkbar gemacht. Herr Bundeskanzler, wir hatten z. B. eine Sitzung in den Parlamentsferien. Dort trat Ihr Verkehrsminister auf, dort trat Ihr Innenminister auf. Es wäre gut gewesen, wenn sie mit einem gemeinsamen Konzept, gestützt durch Ihre Autorität, dort hätten auftreten können und nicht divergierende Aussagen gemacht hätten.
Ich will etwas anderes sagen. Die meisten Redner, die von seiten der Regierung, der Regierungsparteien gesprochen haben, haben uns doch ein Bild gezeigt, das uns aus sozialistischer Verhaltensweise vertraut ist: die Regierung versagt in der Gegenwart, sie entschuldigt sich mit der Vergangenheit, und sie vertröstet uns auf die Zukunft.
Wenn Sie, Herr Kollege Börner, viele Dinge aus der Vergangenheit ausgraben, dann kennen wir das Spiel ja schon: Das ist das Spiel, den Schwarzen Peter in eine andere Tasche zu stecken und wieder einmal einen Schuldigen zu suchen, um von der Regierung abzulenken. Das machen wir nicht mit. Das ist kein Verfahren zur Regelung von Problemen.Wenn auf die Vorlage des Verkehrsministers verwiesen wird, die wir in der letzten Verkehrsausschußsitzung bekommen haben, ist es doch einfach lächerlich, zu sagen, hier hätten wir ein großes Konzept, nachdem wir monatelang gesehen haben, wie die Mitbürger unter diesen Verhältnissen auf den Flughäfen leiden mußten. Diese Konzeption ist eben um Monate zu spät gekommen
Am Schluß dieser Aktuellen Stunde stellen wir auch noch einmal ganz eindeutig fest: Es war keine Strategie vorhanden, es war ein Laborieren von einem Tag zum anderen, mal mit Zuckerbrot von Angeboten, mal mit der Peitsche von Regreßforderungen. Eine Strategie war nicht zu sehen. Daß muß deutlich ausgesprochen werden.
Ich sage Ihnen noch einmal ganz deutlich, was wir auch in den Sitzungen der Ausschüsse ausgesprochen haben: Wir sind für alles, was der Ausbildung, der Verbesserung der Arbeitsplätze, einer Verbesserung von Einsatzreserven, von zusätzlicher personaler Kapazität ist. Aber Sie dürfen hier nicht immer wieder die Rollen verwechseln. Am Zuge waren und sind Sie! Sie stellen sieben Jahre den Verkehrsminister in diesem Lande, und da können Sie nicht so tun, als ob die Opposition hier schuld wäre.
Herr Abgeordneter Waffenschmidt, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich schließe mit dem Satz: Wer sich in einem anderen Betrieb oder in einer anderen Organisation ähnlich hilflos gezeigt hätte wie hier die Bundesregierung, der wäre längst nach Hause geschickt worden!
Damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.
Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre
-- Drucksache 7/820 —
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kunz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte namens der Fraktion der CDU/CSU eine Erklärung zum Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre abgeben. Die Bundesregierung hat es für richtig gehalten, einen Entwurf zur Neufassung dieses Gesetzes vorzulegen, wobei sich dieser Entwurf dadurch auszeichnet, daß das Amtsverhältnis eines Parlamentarischen Staatssekretärs in Zukunft allein mit dem des zuständigen Bundesministers enden soll, also das Ende der Wahlperiode des Bundestages, sei es durch Zeitablauf oder durch Auflösung, nicht zur Beendigung des Amtes eines Parlamentarischen Staatssekretärs führen soll. Dieser Regelung — hier ist der politisch beachtliche Punkt — soll Rückwirkung zum 9. April 1967 beigemessen werden.
Schon dadurch ist das Gesetz irgendwie eine Besonderheit. Natürlich hat man einen Grund für diese in der Tat den üblichen Rahmen überschreitende Rückwirkung. Dieser Grund ist darin, zu sehen, daß man, indem man die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre so regelt, einen Grund dafür schaffen will, daß in Zukunft die damaligen Beanstandungen des Rechnungshofes gegenstandslos sein sollen.Wie waren diese Vorgänge? Ich darf sie wie folgt in Erinnerung rufen. Der Bundestag wurde bekanntlich am 22. September 1972 aufgelöst. Nach dem geltenden Recht über die Parlamentarischen Staatssekretäre bestand keine Rechtsgrundlage dafür, daß sie weiter im Amt blieben.
Dies war auch die dezidierte und sehr klar hervorgebrachte Meinung des Bundesrechnungshofes, und zwar ausgedrückt in einem Brief an den damaligen Chef des Bundeskanzleramtes, Herrn Ehmke. Herr Ehmke hat diese Stellungnahme nicht nur nicht beherzigt, sondern er hat sich damit verteidigt, daß die Funktionsfähigkeit der Häuser gewahrt werden müsse und die Funktionsfähigkeit der Häuser es erfordere, daß die Staatssekretäre im Amt blieben.
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Kunz
Daß die Funktionsfähigkeit der Häuser ausgerechnet durch Parlamentarische Staatssekretäre, die sich ja im Wahlkampf selbst uni ein neues Mandat bemühen mußten, gewahrt werden sollte, entbehrt nicht der Komik. Hinzu kommt, daß, wie wir alle wissen, in einer solchen Zeit nur mit halber Kraft gearbeitet wird, jedenfalls was die Fülle der Abteitungen der Häuser betrifft. Dies ist also eine Begründung, die überhaupt nicht zieht. Weil das alles nicht zog, muß man jetzt diese in der Tat weit hergeholte Rückwirkung bemühen.Diese Rückwirkung hat zum Ziel, für die Ausübung der Amtstätigkeit nach Auflösung des Bundestages eine zureichende Rechtsgrundlage zu schaffen. Vor allem dürfte beabsichtigt sein, die Beanstandung des Rechnungshofes gegenstandslos zu machen, und so gesehen ist das, was die Bundesregierung vorlegt, nichts geringeres als eine Art Indemnitätsvorlage,
eine Vorlage, die sich besonders durch eine bisher kaum vorgekommene Rückwirkung auszeichnet, die aus rechtsstaatlichen Erwägungen unzulässig ist und die, vom politischen Stil her gesehen, mit das Übelste darstellt, was wir bisher überhaupt gehabt haben.
Es ist einheitlich anerkannt, daß eine Rückwirkung in bezug auf statusrechtliche Regelungen überhaupt nicht möglich ist. Dies ist natürlich den Rechtsexperten der Bundesregierung genauso bekannt, Herr Dürr, Ihnen genauso wie mir. Wenn man es gleichwohl versucht, muß man seine Gründe haben.Lassen Sie mich bei dieser Erklärung noch einen besonderen Punkt herausheben. Eine Fülle von Problemen bei der Regelung der Rechtsstellung der Parlamentarischen Staatssekretäre bleibt im Entwurf ungeklärt. Hinreichend klar ist allein eines, nämlich daß die Parlamentarischen Staatssekretäre weitgehend der Exekutive zugeordnet und der Legislative sozusagen „weggeordnet" werden sollen. So ist, wie bereits ausgeführt, im Entwurf die Tätigkeit eines Parlamentarischen Staatssekretärs grundsätzlich an die Amtszeit des zuständigen Mitgliedes der Bundesregierung gebunden, wobei die Amtsstellung von einer Auflösung des Bundestages und dem Ende der Legislaturperiode unberührt bleibt.Auch durch die Regelung der materiellen Verhältnisse sind die Parlamentarischen Staatssekretäre klar an die Seite der Minister gestellt. Im Entwurf heißt es, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre die Mitglieder der Bundesregierung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen. Was damit präzise gemeint ist, bleibt außer der weitgehenden Exekutivzuordnung völlig offen. Wenn der Begriff des Parlamentarischen Staatssekretärs, wie er durch das Gesetz im Jahre 1967 geschaffen wurde, nicht völlig seines Sinnes entleert werden soll, wenn insbesondere die dahinterstehenden politischen Überlegungen nicht geradezu ins Gegenteil verkehrt werden sollen, muß die Bindung der Amtstätigkeit der Parlamentarischen Staatssekretäre an die Mitglied-schaft im Parlament schlechthin erhalten werden, und nichts anderes sonst.
Sollte allerdings, wie vorgesehen, die Bundesregierung die primäre Zuordnung dieser Staatssekretäre zur Exekutive mit Hilfe der Koalitionsfraktionen durchsetzen, so muß gerade für diesen Fall sichergestellt werden, daß Parlamentarische Staatssekretäre nicht zugleich Exekutivrechte und parlamentarische Kontrollbefugnisse wahrnehmen können. Wie die Regelung auch sei — wir haben gesagt, wie sie sein sollte —, beides zugleich geht auf gar keinen Fall.
So ist es beispielsweise nicht möglich — es gibt dafür Beispiele —, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre einerseits als Abgeordnete das Wort ergreifen und zugleich das jederzeitige Rederecht der Exekutive in Anspruch nehmen. Gleichermaßen auszuschließen ist, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre in Stellvertretung ihrer Minister in Bundestagsausschüssen für die Bundesregierung tätig werden und dann als Abgeordnete der Ausschüsse über denselben Vorschlag mit abstimmen.Bitte, Herr Dürr!
Eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Dürr.
Herr Kollege, teilen Sie meine Meinung, daß wir dergleichen Probleme besser in den Ausschüssen des Bundestages behandeln sollten? Bei allem Reiz, den etwa die juristische Behandlung der Frage hat, ob und inwieweit ein Bundesminister in seiner Eigenschaft als Abgeordneter zum Haushalt 02 sprechen darf oder nicht, meine ich, daß das für ein kleineres Gremium bestimmt nützlicher ist als für das Plenum.
Herr Kollege Dürr, ich freue mich auf die Aussprache in den Ausschüssen. Ich würde mich besonders darüber freuen, wenn wir in Rechtsfragen weitgehend die einzig mögliche, nämlich die rechtsstaatliche Lösung wählen und nicht das, was uns hier vorgelegt worden ist.
In diesen Sonderfällen bin ich allerdings der Meinung, daß es sich nicht allein mehr um juristische Fragen handelt, sondern sich zeigt, in welcher beispiellos leichtfertigen Weise diese Bundesregierung mit dem Verfassungsrecht im besonderen umgeht.
— Bitte!
Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard!
Teilen Sie meine Auffassung, Herr Kollege Kunz, daß die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf hat, zu wissen,
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2928 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Erhard
ob Parlamentarische Staatssekretäre in einer Weise Beamtenrechte, Besoldungs- und Versorgungsrechte bekommen sollen, wie es hier in exorbitanter Weise rückwirkend vorgesehen ist?
Ich glaube, Herr Kollege Erhard, gerade dieses Gesetz ist im gesamten so angelegt, daß diese Problematik verschleiert wird. Ich kann Ihnen aus diesem Grunde nur zustimmen, daß es notwendig ist, diese Probleme hier zu behandeln, weil sie im Kern, Herr Dürr, nicht juristisch sind. Auf dieses Gleis werden Sie mich nicht leiten können.
— Herr Dürr, dies hängt mit dem Gesamtproblem zusammen. Aber ich freue mich schon jetzt — um mich insoweit zu wiederholen—, daß wir in die Materie einsteigen werden, und ich hoffe auf Ihre Mitwirkung bei dem Versuch, diese unmöglichen Dinge zu ebnen und insbesondere zu einer politisch sauberen Lösung zu gelangen.
Lassen Sie mich bitte noch eine letzte Frage an- schneiden. Es wird auch zu klären sein, inwieweit die Parlamentarischen Staatssekretäre Weisungsrecht gegenüber den Verwaltungen besitzen. Ich spreche dies deshalb an, weil sich eine Wirklichkeit herausgebildet hat, in der zu beobachten ist, daß beamtete Staatssekretäre in vielen Fällen gerade wegen ihres Einflußschwundes im wahrsten Sinne des Wortes zu bemitleiden sind.
Unter der Regierung Brandt hat es eine beachtliche Vermehrung der Zahl der Parlamentarischen Staatssekretäre gegeben.
Diese Entwicklung war und ist mit einer allgemeinen Aufblähung der Verwaltung verbunden. Wenn man einmal zusammenzählt, wer dem Kabinett im weiteren Sinne angehört, kommt man auf eine Zahl, die in der Nähe von 40 liegt. Das ist wirklich eine Reform, die bisher ihresgleichen nicht gesehen hat.
Ich glaube, bei der Beratung der Grundkonzeption
— und dies müssen wir im Ausschuß eingehend tun
— müssen wir uns klar sein, daß es unabdingbar ist, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre von ihrer Funktion her an das Parlament gebunden bleiben müssen — ohne Ausnahme, in einer politisch und rechtlich einwandfreien Lösung. Wir müssen uns auch klar sein, daß wir zur Grundkonzeption finden müssen gegenüber einer Entwicklung, von der Friedrich Karl Fromme gesagt hat, daß sich immer mehr Alltags- und Versorgungsroutine in dieses Gebiet einschleicht. Einer solchen Konzeption wird dieser Entwurf, der uns vorgelegt worden ist, nicht gerecht. Ich wiederhole, daß ich den Sinn dieser Vorlage nur darin sehen kann, durch Rückwirkung das zu verschleiern, was vorliegt, nämlich einer der eklatantesten Rechtsbrüche, der sich im Zusammenhang mit der Auflösung des Bundestages vollzogen
hat. Was Sie uns vorgelegt haben, ist also eine Art Indemnitätsvorlage.
Das Wort hat der Abgeordnete Liedtke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor Tisch liest es sich oft anders als hinterher. Ich erinnere mich noch, wie wir im Jahre 1967 mit Ihnen als Koalitionspartner das erste Gesetz über die Parlamentarischen Staatssekretäre verfaßten und damit Neuland betraten. Es bestand Übereinstimmung darin, dieses Gesetz bewußt nicht zu scharf zu fassen, um Erfahrungen zu sammeln und unnötige Einengungen von vornherein nicht zu fixieren. Wer sich dieses alte Gesetz ansieht, findet dort im wesentlichen nichts anderes als erstens die Aufgabenstellung: die Parlamentarischen Staatssekretäre unterstützen ihre Minister, und zweitens die Feststellung: sie bleiben im wesentlichen Abgeordnete; folglich ist es ein Ehrenamt, das mit einer Entschädigung versehen wird.Inzwischen sind sechs Jahre ins Land gegangen. Erfahrungen sind gemacht worden, und es stellte sich heraus, daß diese vereinbarte Großzügigkeit in der Gesetzesfixierung im nachhinein, als Sie in die Opposition rutschten, zu Streitpunkten führte. Lesen Sie das alte Gesetz: die Parlamentarischen Staatssekretäre unterstützen die Minister. Und schon gab es ein Florettgefecht auf einem Nebenkriegsschauplatz, als Sie plötzlich zu erkennen glaubten, daß das aufhört, wenn sich der Bundestag auflöst, und daß es nicht an die Tätigkeit des Ministers gebunden ist.Es gibt durchaus genügend Beispiele dafür, daß man, wenn ein ursprünglich gemeinsamer Gesetzentwurf hinterher strittig ausgelegt wird, im nachhmein bei einem neuen Gesetz die Bestimmungen so fixiert, daß diese unnötigen und völlig wirkungslosen Streitereien nun nicht zusätzlich zu Reibungsverlusten im Parlament führen. Und wenn ich Sie berichtigen darf: Auch im Statusrecht der Beamten gibt es selbstverständlich rückwirkende Gültigkeit.
So schwarz-weiß ist diese Welt nicht.Nun, das ist der eine Teil. Es lohnt im Grunde nicht, darüber groß zu streiten.
-- Machen Sie es im Rechtsausschuß bis drei Stellen hinter dem Komma, aber verschonen Sie das Parlament jetzt mit einer gemischten politischrechtlichen Debatte!
— Auch wenn Sie ein noch so böses Gesicht machen, wird es nicht klarer. Glauben Sie mir das.
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Liedtke– Lassen Sie mich doch einmal ausreden. Es kommt doch alles wieder hierher. Die Regierung bringt doch erst ihren Entwurf ein. Hier ist keine verschlossene Tür. Die zweite Lesung wird in ganz spezifizierter Weise dann zu klären haben, was in der ersten Lesung in dieser Akribie das wissen Sie selbst — in diesem Hause nicht üblich ist.
Die zweite Veränderung, gegen die Sie auch Sturm laufen, beruht auf folgender Erfahrung. Es ist, nachdem also sechs Jahre lang Erfahrungen gesammelt worden sind, festzustellen, daß nach der Einfahrzeit nun die Belastung der Parlamentarischen Staatssekretäre so groß ist, daß die Ausübung eines Berufes und die Wahrnehmung dieser Tätigkeit nicht in einen zeitlichen und physischen Einklang zu bringen sind. Aus dieser Erkenntnis heraus erfolgt die Überleitung in ein Amtsverhältnis, folglich auch die Zahlung von Amtsbezügen mit einem Versorgungsanspruch, dies aber gekoppelt mit einem Berufsverbot.
Nun mögen wir im Ausschuß darüber streiten, ob das mit Beginn dieser Regierung der Fall ist — die Rückwirkung ist möglich — oder ob Sie es also vom nächsten Ersten an machen. Das ist nicht der Kern dieser Sache. — Bitte schön!
Eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Erhard .
Würden Sie dann die folgende Frage beantworten: Soll durch das Berufsverbot mit rückwirkender Kraft der Umstand, daß damals jemand als Parlamentarischer Staatssekretär noch einen Beruf ausgeübt hat, nach Verabschiedung des Gesetzes illegal gewesen sein?
Wenn wir mit 1972 beginnen und Sie einen Parlamentarischen Staatssekretär finden, der von 1972 bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes noch einen Beruf hatte — ich sagte Ihnen ja, wir haben unsere Erfahrungen gesammelt, daß das nicht mehr geht —, dann kommen wir, wenn Sie es wünschen, in das Anrechnungsverfahren hinein. Aber das geht alles außenherum.
— Ach, das glauben Sie doch wohl selbst nicht!
Aber jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen. Das erste Gesetz — das haben wir gesehen — war noch zu weit gefaßt. Dieses zweite Gesetz — das gestehe ich Ihnen zu — ist auch noch ein Übergangsgesetz, denn der Parlamentarische Staatssekretär ist zwar näher an seinen Minister herangerückt, aber er ist noch Abgeordneter, wenn auch mit beschränkten Rechten.
Es heißt also weitere Erfahrungen sammeln.
Die einzig wirklich saubere Lösung ist eine Grundgesetzänderung, mit der wir die Parlamentarischen Staatssekretäre zu einem Verfassungsorgan machten. Dazu sind Sie offensichtlich nicht bereit. Das mag aber auch verdeutlichen, mit welchem Respekt vor der Verfassung dieses Haus Erfahrungen sammelt, bevor die Gewißheit da ist, daß durch eine Verfassungsänderung eine größere Funktionsfähigkeit der Regierung und somit ein Gewinn für diesen Staat und seine Bürger zu erzielen ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Liedtke hat mir manches von dem vorweggenommen,
was ich zu diesem Gesetz hatte sagen wollen. Das wird mich nicht hindern,
auch noch einmal einiges dazu zu erklären; selbstverständlich, Herr Kollege.Das erste Gesetz datiert aus dem Jahre 1967, die ganze Institution hat also kein ehrwürdiges Alter; sie ist eigentlich ein Symbol für den wachsenden Zeitdruck, in dem wir uns befinden, und für die Vielfältigkeit gleichzeitiger Verpflichtungen, die in immer höherem Maße auf jeden von uns zukommen. Das sollte ein Anlaß zu einem gemeinsamen Nachdenken über unsere zeitlichen Planungen und über unsere Arbeitsmöglichkeiten in diesem Hause sein, auch der einzelnen Abgeordneten, die nicht die Möglichkeit haben, sich sozusagen durch parlamentarische Sekretäre partiell zu verdoppeln. Aber es ist sicherlich nicht sinnvoll, das hier und jetzt zu tun; es genügt, dieses Thema und diesen Zusammenhang einmal zu nennen.Der Kollege Kunz hat recht, wenn er darauf hinweist, daß dieses Gesetz keine vollständige und erschöpfende Regelung der Fragen bringt, die sich an die Institution der Parlamentarischen Staatssekretäre anschließen; auch dieses ist nichts Neues. Herr Liedtke hat darauf hingewiesen, daß das auch in dem ersten Gesetz von 1967 der Fall war. Ich weiß nicht, Herr Kollege Kunz, ob Sie es damals mit beschlossen haben, ob Sie schon hier im Hause waren oder ob Sie es, ebenso wie ich, hier vorgefunden haben.
Ich glaube, daß es wirklich nicht notwendig ist, hier nun bei einer Einrichtung in Perfektionismus auszubrechen, von der wir alle wissen, daß sie sich im Wandel befindet und daß ihre Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist.
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2930 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Dr. HirschDas Parlament hat an einem Punkt ein wesentliches Interesse, nämlich daran, daß durch die Einrichtung der Institution der Parlamentarischen Staatssekretäre die politischen Verantwortungsverhältnisse gegenüber dem Parlament nicht verwirrt werden; dieses Erfordernis ist da. Es ergibt sich aus den Regelungen dieses Gesetzes ganz eindeutig, daß die politischen Verantwortungsverhältnisse der Minister — politische Verantwortung gegenüber dem Parlament, rechtliche Verantwortung gegenüber dem Bundskanzler — in keiner Weise berührt werden.Was die Frage der Rückwirkung angeht, so kann man das anders sehen, Herr Kollege Kunz. Sie haben in diesem Zusammenhang über § 4, also zu der Frage, wann das Amt zu enden hat, gesprochen: ob es mit dem Ende der Wahlperiode ausläuft. Die einfachste Lösung dieses Problemes ist natürlich nicht die Diskussion über die Frage, was rechtens wäre, wenn es nicht gesetzlich geregelt ist, sondern die einfachste Lösung dieses Problems besteht darin, es gesetzlich zu regeln; darum begrüßen wir diese Klarstellung im Gesetz.Ich würde auch nicht sagen, daß es ein Versuch ist, rückwirkend eine Rechtsgrundlage nachzuschieben, sondern wir sind vielmehr der Meinung, daß die Rechtsgrundlage schon bestanden hat und daß es hier nur darum geht, diese Rechtslage klarzustellen, allerdings — da stimme ich Ihnen zu — rückwirkend klarzustellen; dieses aber halte ich für zulässig.Das Kernstück des Gesetzes machen das Berufsverbot, die Regelung der Amtsbezüge und die Versorgungsregelung aus, wobei der letztgenannte Punkt zweifellos der wichtigste ist, und zwar nicht wegen Versorgungsdenkens, sondern wegen der Tatsache, daß die tatsächliche Arbeitsbelastung der Parlamentarischen Staatssekretäre in einem Maße zugenommen hat, das bei dem ersten Erlaß des Gesetzes im Jahre 1967 nicht erkennbar war.Wir glauben, daß man über einzelne Punkte dieses Gesetzes natürlich reden kann und muß, im großen und ganzen aber eine sachgerechte Regelung vorgeschlagen ist. Wir würden es begrüßen, wenn sich alle Fraktionen des Hauses darum bemühen würden, diese notwendigen Änderungen im Status der Parlamentarischen Staatssekretäre möglichst schnell im Interesse der Klarheit vorzunehmen und den Gesetzentwurf dann zu verabschieden.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir in dieser seltsamen ersten Lesung eine persönliche Bemerkung. Ich persönlich halte es für nicht gut, daß wir eine erste Lesung über ein so gefaßtes Gesetz halten, ohne daß die Regierung durch Bundesminister vertreten ist.
— Bitte, das kann ich ja wohl als meine persönliche
Meinung sagen. Ich werde mir vorbehalten, das, was
ich zu diesem Gesetzentwurf als Person zu sagen habe, in der dritten Lesung zu sagen, da mir gar keine andere Möglichkeit bleibt.
Ich gehöre zu denen, die nicht nur darüber zu reden haben, wie das mit den Parlamentarischen Staatssekretären einmal zustande kam, ich kenne auch die Vorgeschichte und weiß auch, wie lange es gedauert hat, ehe überhaupt die CDU/CSU — und nicht als Person, sondern damals als die Institution Adenauer — daran, nun, sagen wir einmal, denken ließ, daß man das machen könnte. Nur ist das heute kein Gegenstand der Erörterung mehr. Gegenstand der Erörterung ist hier, ob die fundamentalen Fehler — und als solche bezeichne ich das, was 1967 in einigen Punkten gemacht worden ist; aber versuchen Sie bitte aus dieser Suppe keine parteipolitischen Lorbeeren zu fischen, denn dann müßte man sagen, nach wessen Maß das damals gemacht worden ist —, ob diese parteipolitischen Fehler heute sozusagen fortgeschrieben werden sollen. Das sage ich alles als Person.
Ich hätte es begrüßt, wenn hier in einer ersten Lesung, auf die ja der Bundestag, wenn er sich darüber nicht einigt, nicht verzichten kann — und es war offenbar nicht möglich , jemand von der Bundesregierung, und zwar einer der Bundesminister, Rede und Antwort gestanden hätte. Wir hätten dann in eine Ausschußbehandlung hineingehen können, die Sinn gehabt hätte. So werden wir uns blockieren.
Wird weiter das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf dein Innenausschuß — federführend —, dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sowie dem Rechtsausschuß — mitberatend — und an den Haushaltsausschuß — mitberatend und gemäß § 96 GO — zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Meine Damen und Herren, ich rufe die Punkte 8 bis 12 der Tagesordnung auf:8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Umweltstatistiken— Drucksache 7/988 Üherweisungsvorschlag des Altestenrates:Innenausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß fur Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß gemäß § 96 CC)9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 7. Juni 1968 betreffend Auskünfte über ausländisches Recht— Drucksache 7/992 -überweisungsvorschlag des Altestenrates:RechtsausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 CO
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Vizepräsident Dr. Jaeger10. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Europäischen Übereinkommens vom 7. Juni 1968 betreffend Auskünfte über ausländisches Recht— Drucksache 7/993 -Üherweisungsvorschlag des Altestenrates:RechtsausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GO11. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von Verfahrensmängeln beim Erlaß einiger Gesetze— Drucksache 7/1000 -Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Rechtsausschuß12. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Maßnahmen zur Förderung des deutschen Films— Drucksache 7/974 -Überweisungsvorschlag des Altestenrates:Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Bildung und WissenschaftEs handelt sich um von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwürfe. Das Wort wird nicht gewünscht.Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen Sie aus der Tagesordnung. Zu Punkt 12 der Tagesordnung --- Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Maßnahmen zur Förderung des deutschen Films — soll zusätzlich der Innenausschuß mitberatend herangezogen werden. Wird gegen einen dieser Überweisungvorschläge Einspruch erhoben? — Das ist nicht der Fall; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Orgaß, Rollmann, Werner, Dr. Unland, Müller , Bremer, Damm, Geisenhofer, Müller (Berlin), Frau Tübler, Schröder (Lüneburg), van Delden, Dr. Frerichs, Sick, Dr. von Bismarck, Katzer, Dr. Waffenschmidt und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Schiffahrtsenquete- - Drucksache 7/963Das Wort zur Begründung hat der Abgeordnete Orgaß. Für ihn sind 40 Minuten Redezeit angemeldet.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Namens der CDU/CSU-Fraktion darf ich Ihnen den Antrag auf Drucksache 7/963 begründen, in dem die Opposition die Erstellung einer umfassenden und detaillierten Schifffahrtsenquete fordert. Wir meinen, daß es dringend erforderlich ist, daß sich dieses Parlament mit den Problemen der deutschen Seeschiffahrt auseinandersetzt, denn deutsche Seeschiffahrt gestern und heute ist identisch mit enormer Leistung, einer Leistung,der wir sehr viel mehr Beachtung schenken sollten und die wir zu überfordern beginnen.Erst 1949/50 durfte deutsche Seeschiffahrt, mit vielerlei Auflagen verbunden, wieder betrieben werden. Die frühere Flotte war vernichtet, und was blieb, mußte restlos abgeliefert werden. Aus diesem Nichts heraus gingen Reeder und Seeleute daran, eine Flotte wieder aufzubauen. Der Staat half dabei mit unterschiedlicher Intensität. Milliarden an Steuergeldern sind seitdem in die Seeschiffahrt geflossen. Reeder bewiesen Cleverness und Geschick, und Seeleute und ihre Gewerkschaften hielten sich in ihren Heuern bis heute zurück, was dazu führte, daß der Anschluß an vergleichbare Landberufe bei gleicher Leistung noch immer nicht erreicht wurde.Heute haben wir eine der modernsten Flotten der Welt mit einem Durchschnittsalter von 7,5 Jahren gegenüber 9,5 Jahren der Welttonnage. Unter den zehn führenden Schiffahrtsländern der Welt nahm die Bundesrepublik 1971 den achten Platz mit 8,7 Millionen BRT und 3,5 % der Welthandelstonnage ein. Inzwischen hat sich die Tonnage in der Zeit vom 1. Januar 1971 bis zum 30. Juni 1973 um 570 Einheiten mit 712 000 BRT verringert. Legt man hingegen die Zahlen von „Lloyds Register" zugrunde, dann haben wir sogar in dieser Zeit einen Flottenverlust von genau 1 Millionen BRT zu verzeichnen, und das trotz des weiteren Anstiegs des Welthandels. Wir sind längst auf den neunten oder sogar schon auf den zehnten Platz zurückgefallen. Das ist die Folge einer nicht vorhandenen schiffahrtspolitischen Konzeption dieser Bundesregierung mit — wie noch zu sagen sein wird sowohl volkswirtschaftlich als auch sozial außerordentlich kurzsichtigen Entscheidungen und Maßnahmen.Das Unverständnis und die Unsicherheit in schifffahrtspolitischen Fragen wird wohl kaum deutlicher als in einer Aussage des Hamburger Wirtschaftssenators Kern, in dessen Bereich 52 % der deutschen Flotte beheimatet sind, wenn er in einem Interview des „Norddeutschen Rundfunks" am 27. März 1973 einerseits ausführt: „Die Lage in der deutschen Seeschiffahrt ist zweifellos kritisch und ernst" — so weit, so gut —, andererseits aber daraus keine andere Schlußfolgerung zu ziehen weiß als — wörtlich -- : „Es ist überhaupt kein Zweifel, daß die deutschen Reeder begreifen müssen, daß ihre Zukunft unter deutscher Flagge in der Spezialfahrt, der kostspieligen Schiffahrt teurer Einheiten, Großkontainerschiffe, Produktentanker usw., liegt und die Regelfahrt des Trampbereichs mehr und mehr unter billige Flaggen geht." Senator Kern hebt in diesem Interview weiter hervor, daß es den Reedern in jedem Falle erlaubt sein müsse, ihre Schiffe unter billigen Flaggen fahren zu lassen, mit der Begründung — wörtlich : „Ich wäre konsequent dagegen, daß den Reedern verwehrt wird, was man jedem Industriellen erlaubt, nämlich das Kapital auch im Ausland zu investieren." Tatsächlich aber — und das sei Senator Kern gesagt -- wandert ja gerade immer stärker auch die Spezialtonnage ab. Kein Wort aber von diesem Mann darüber, was aus der Flotte werden soll, und kein Wort vor allem auch über die sich daraus ergebenden sozialen Probleme.
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2932 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
OrgaßWie aber ist denn nun die Situation in Wirklichkeit? Die Zahl der in der Seeschiffahrt Beschäftigten ging in der Zeit von 1971 bis Mitte 1973 von 56 361 auf 43 326 um rund 13 000 Mann zurück. Die Steigerung der Zahl der beschäftigten Ausländer — vorwiegend von nicht der EWG angehörenden Ländern — betrug von 1960 bis 1970 über 700 % und hat sich bis jetzt in der Relation nicht verändert. Der seemännische Nachwuchs verringert sich immer mehr und mehr.Die Fluktuationsraten, zuletzt 1966 zuverlässig von einer Gewerkschaft untersucht, sind volkswirtschaftlich höchst bedenklich. Danach ergibt sich, daß ein vollausgebildeter Nautiker, dessen Ausbildung den Staat und damit den Steuerzahler erhebliche Summen gekostet hat, nur eine Verweildauer von 8,3 Jahren und ein Schiffsingenieur gar nur von etwas mehr als 5 Jahren hat.Die seit zwei Jahren verstärkt zu verzeichnende Ausflaggungstendenz und der dadurch entstehende Verlust an Seeleuten in der deutschen Seeschiffahrt ist die Folge der nicht stattfindenden Schiffahrtspolitik dieser Bundesregierung. Diese Malaise entzieht, wenn es so weitergeht, dem Gewerbe nach und nach die Existenzmöglichkeiten. Aber statt politisch aktiv zu werden, schreibt dann dieser Verkehrsminister Lauritzen, von dem wir ja einiges eben schon gehört hatten, an anderer Stelle, am 18. August 1972 an den Verband Deutscher Reeder, und teilt mit, daß er nun auch das Ausflaggen von Schiffen erlaubt, deren Bundeshilfen noch nicht zurückgezahlt sind, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, was wohl aus den davon betroffenen Seeleuten werden soll, die entweder mit den Schiffen ins Ausland gehen müssen oder, was den größeren Teil betrifft, entlassen werden.Was aber Ausflaggen wirklich bedeutet, meine Damen und Herren, das muß wohl einmal vor der Öffentlichkeit ausgesprochen werden. Da nämlich die Flagge das jeweilige Recht deckt, bedeutet dies, daß ein ausgeflaggtes Schiff damit der deutschen Rechtsordnung entzogen ist, obwohl es nach wie vor im deutschen Schiffsregister eingetragen ist. Statt deutscher Rechtsprechung gilt dann die Rechtsprechung des jeweiligen Landes, dessen Flagge gezeigt wird, z. B. Singapurs, Panamas, Liberias oder welches Land auch immer. Als Gerichtsorte werden dann höchst willkürlich Orte wie Tegucigalpa in Honduras oder London oder sonst etwas eingesetzt und dem deutschen Seemann zugemutet. Das bedeutet also, daß z. B. ein englischer Richter oder einer aus Honduras über Arbeitsstreitigkeiten eines deutschen Seemannes, wenn dieser überhaupt auf dem Schiff verbleiben kann — meist sind das nur wenige Patentinhaber —, dann nach dem Recht eines dritten, vielleicht eines exotischen Landes zu befinden hat. Das muten wir den deutschen Seeleuten zu.Für den deutschen Seemann bedeutet das Ausflaggen den Verlust fast aller seiner Rechte, nämlich statt Rechte aus dem deutschen Arbeitsrecht: nichts, statt Betriebsverfassungsgesetz: gar nichts, statt Kündigungsschutzgesetz: überhaupt nichts, statt Arbeitslosenversicherung: genauso wenig, und stattGerichtsort Hamburg, wie gesagt: irgendwo ein willkürlich gewählter Ort in aller Welt. Die Alternative für den betroffenen Seemann bedeutet, an Land gesetzt zu werden, ausgebildet in einem Beruf, den man nicht mehr ausüben kann — fehlsubventioniert.Es ist jedoch billig, die Ursachen hierfür ausschließlich bei den Reedern zu suchen, denn die währungspolitischen Beschlüsse dieser Bundesregierung negierten die Existenz der deutschen Seeschifffahrt. Das angeführte Schreiben vom 18. August 1972 an den Verband Deutscher Reeder war offenbar eine Notbremse, weil man sich im Ministerium anders nicht mehr zu helfen wußte, eine indirekte Hilfe für die eine Seite, die sich voll zu Lasten der Seeleute auswirkte und auf deren Rücken ausgetragen wurde.Meine verehrten Damen und Herren, es geht hier weder um „Sozialklimbim noch um Prestigefragen einer Nation. Es geht hier und heute auf Grund der Entwicklung bereits um die entscheidende Frage, ob wir zukünftig noch deutsche Seeschiffahrt betreiben wollen. Allein im ersten Halbjahr 1973 war ein effektiver Tonnagerückgang von 112 400 Bruttoregistertonnen mit 123 Seeschiffen zu verzeichnen, und es sind keine Änderungen im Trend zum Verkauf und zur Abwanderung wertvoller Tonnagen zu erkennen. Der Anteil der Bundesrepublik Deutschland am Weltauftragsbestand für Schiffsneubauten ist seit langem rückläufig, und die Zurückhaltung bei Neuaufträgen hält unvermindert an, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Konjunkturpolitik der Bundesregierung. So richtig diese für die allgemeine Wirtschaft sein mag, so problematisch ist sie im Bereich der Seeschiffahrt. Dabei muß man wissen, daß die Seeschiffahrt eine volkswirtschaftliche Schlüsselstellung einnimmt, was diese Bundesregierung offenbar bis heute noch nicht zur Kenntnis nehmen will; denn sonst würde sie diese Entwicklung nicht tatenlos hinnehmen und die Schwierigkeiten immer wieder bagatellisieren. Jeder weiß, daß die Bundesrepublik ein hochentwickeltes, exportintensives Industrieland mit weltweiter Bezugs- und Absatzverflechtung ist. Sie ist in hohem Maße für die Versorgung mit Rohstoffen und Energieträgern von der Einfuhr abhängig. Rund 20% der Industrieerzeugnisse unseres Landes werden exportiert. Die Bundesrepublik importierte 1970 zirka 300 Millionen t. 73 % davon wurden auf dem Seewege hereingebracht, wobei der Anteil von Rohstoffen und Energieträgern außerordentlich hoch ist. Auf der anderen Seite wurden 123 Millionen t ausgeführt, davon 33,8 % auf dem Seewege. Die Bundesrepublik Deutschland muß ein lebenswichtiges Interesse an sicherer, ungestörter und preisgünstiger Bedienung im Seeverkehr, einer im hohen Maße ausreichenden Freiheit in der Wahl des Transportmittels, einem wichtigen Einfluß auf internationale Schiffahrtspolitik und ebenso auf das Seefrachtniveau haben.Hinzu kommt auch eine verteidigungspolitische Komponente im Bereich der Sicherheitspolitik.Seit Jahren steigt der Umfang des deutschen Seeverkehrs stärker als der Umfang der Transportlei-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2933
Orgaßstungen der deutschen Handelsflotte. Das Defizit in der Seetransportbilanz der Bundesrepublik steigt seit Jahren an: von 1,3 Milliarden DM im Jahre 1966 auf 2,2 Milliarden DM im Jahre 1970. Der größte Posten in der Bilanz sind die Seefrachtkosten für die Einfuhr mit rund 6 Milliarden DM und für die Ausfuhr mit 1,7 Milliarden DM. Das Defizit vergrößert sich angesichts des Tonnagerückgangs erheblich.Aus Quellen des Verbandes Deutscher Reeder, des Bundesverkehrsministeriums, der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl wird nachweislich erkennbar, daß der jährliche Investitionsaufwand der deutschen Seeschiffahrt bis 1970/71 über Jahre hinaus genauso groß und teilweise sogar größer war als der des deutschen Steinkohlenbergbaus und der der deutschen Eisen- und Stahlindustrie zusammengenommen. Die Seeschiffahrt hat in den letzten Jahren bis 1970 zwei- bis dreimal soviel für Fahrzeuge, Reparaturen und Umbauten aufgebracht wie die Bundesbahn.Meine verehrten Damen und Herren, spätestens hier wird deutlich, welchen Stellenwert die Seeschifffahrt in der gesamten Volkswirtschaft hat und welche Auswirkungen — bis hin zu den Arbeitnehmern und der Gesamtbevölkerung — die schiffahrtspolitische Blindheit dieses Verkehrsministers und dieser Bundesregierung haben muß.
Einen Augenblick! Es wird hier begründet. Bei der Begründung kann keine Zwischenfrage gestellt werden.
Der Kumpel an Rhein und Ruhr ist genauso betroffen wie der Maschinenbauer in Augsburg und anderswo, wenn wir deutsche Seeschiffahrt nicht mehr zur Kenntnis nehmen und mit wirtschafts-, währungs- und konjunkturpolitischen Entscheidungen sogar ihre Möglichkeiten beschneiden. Seeschiffahrt kann nicht auf einen Binnenmarkt ausweichen.Wer sich ihrer entledigt, zerstört nicht nur eine unvergleichbare Aufbauleistung unserer Seeleute und des ganzen Gewerbes nach dem Kriege, er begibt sich auch volkswirtschaftlicher Notwendigkeiten, ohne die unser Land nicht auskommt.
Bei der Auswertung von Indexzahlen und anderem ergänzenden Material wird jedermann feststellen, daß die großen Anstrengungen unserer Seeleute und Reeder nicht ausgereicht haben, für eine Handelsflotte zu sorgen, die in angemessenem Verhältnis zum Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland steht. Bei aller Anerkennung früherer Maßnahmen zugunsten der deutschen Handelsflotte fehlt in Politik und Wirtschaft bis heute überall ein wirkliches Verständnis für die deutsche Seeschiffahrt. Es ist auch bezeichnend, daß der Deutsche Bundestag dann, wenn es um Fragen der Seeschifffahrt geht, leer ist und die Debatte über dieses Thema im übrigen mit Unmut geführt wird.
Die Gruppe der Seeleute — in ihrer Gesamtheit weniger als die Belegschaft eines Großbetriebes --unterliegt dabei jedoch Bedingungen, die wir anderen nicht zumuten wollen. Deshalb gehören zu den Bemühungen, die Handelsflotte zu stärken, ebenfalls große Anstrengungen für eine zukunftsgerechte Personal- und Sozialpolitik zum Zwecke der Überwindung des permanenten Personaldilemmas in der Seeschiffahrt. Eskalierende soziale Unruhen in der Seeschiffahrt wären vermeidbar, 1970 protestierten zum erstenmal nach dem Kriege mehrere Tausend angehende deutsche Schiffsoffiziere und Kapitäne dadurch, daß sie mehr als 5 Monate die Seefahrtschulen boykottierten, um eine aus ihrer Sicht erträgliche Schiffsbesetzung und Ausbildungsordnung durchzusetzen und gegen die Ausnahmegenehmigungspraxis des Bundesverkehrsministeriums, nämlich die Erlaubnis, Schiffe ständig unterzubesetzen, zu protestieren. Die Folge waren eine Personalkatastrophe nie dagewesener Art und ein breiter Vertrauensschwund des Nachwuchses.Das Klima zwischen den Sozialpartnern hat sich seither von einer großen gemeinsamen Anstrengung im Wiederaufbau zu unüberbrückbaren Verhärtungen verschlechtert. Was in diesem Land als eine ungeheure Diskriminierung empfunden oder auch Kolonialismus genannt würde und deshalb aus guten Gründen mit Hilfe der Arbeitserlaubnisverordnung durch die Bundesanstalt verboten wurde, nehmen wir in der Seeschiffahrt hin. Zirka 1 000 Seeleute aus der Dritten Welt dürfen wählen zwischen Hunger in der Heimat oder — z. B. bei Laskaren — einer monatlichen Bruttoheuer für 56 Wochenarbeitsstunden gestaffelt nach den Sätzen zwischen 58,28 und 73,14 DM auf deutschen Schiffen!Keiner dieser Leute, meine Damen und Herren, ist legal durch die Bundesanstalt in Pakistan angeworben worden, auch kein Südseeinsulaner, Gilbertese oder dergleichen, wo man diese seemännische Erschließung entdeckte.Andererseits sind 13 000 qualifizierte deutsche Seeleute durch die Ausflaggungsvorgänge der letzten Zeit und den Einsatz von „Billigkräften" der Dritten Welt nach Hause geschickt worden. Sie stehen auch in Zukunft der deutschen Seeschiffahrt nicht mehr zur Verfügung, mit dem Erfolg, daß die von Reedern und Gewerkschaften erst im Sommer dieses Jahres im Rahmen der Seeberufsgenossenschaften ausgearbeiteten Schiffsbemannungsrichtlinien, die eine Reduzierung des Personals vorsehen, schon jetzt nicht mehr funktionieren, weil Quantität nur durch Qualität ersetzt werden kann. Diese Qualität aber ist nicht mehr gegeben; denn inzwischen fehlen mindestens 16 % dieser benötigten Matrosen mit Matrosenbrief in der deutschen Seeschiffahrt.Neue, moderne und notwendige Besatzungsstrukturen scheitern an fehlendem Personal, das wir zu-
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2934 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Orgaßvor noch hatten. Mehrzweckbesatzungen oder gar Minibesatzungen für das Schiff der Zukunft werden unter diesen Umständen nicht verwirklicht werden können.Immer schärfer werdende Konfrontationen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind festzustellen. Die diesjährigen Boykottaktionen beider deutscher Seeleutegewerkschaften gegen eine Vielzahl deutscher Reeder lassen Schlimmes in diesem Bereich auch für die Zukunft befürchten.Die sozialen Spannungen gehen aber bei weitem nicht allein zu Lasten der Sozialpartner. Sie sind. vielmehr eine Folge der ungerechten Behandlung auch durch dieses Parlament und durch die vergangenen Verkehrsminister der SPD, die ihre Ermächtigungsmöglichkeiten des Seemannsgesetzes nicht ausnutzten, die Verpflichtungen aus internationalen Vereinbarungen nicht erfüllten und die Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf höchstens zur Kenntnis nahmen.So ist es doch nur mit Mühe gelungen, die Seeleute voll in das Arbeitsförderungsgesetz aufzunehmen, die mittelalterlichen Heuerstellen abzuschaffen und überhaupt erst das Arbeitsamt in der Seeschifffahrt einzuführen sowie eine internationale Verpflichtung aus dem IAO-Abkommen Nr. 71 über die besondere Altersrente für die Seeleute zu erfüllen, ohne daß die öffentliche Hand hierfür zur Kasse gebeten wird, und das noch gegen den zunächst erheblichen Widerstand der Regierungskoalition, obwohl sich Seeleute und Reeder über die Finanzierung längst einig waren.Die Seeleute sind nur unzureichend und auch nur mit Mühe in das Betriebsverfassungsgesetz aufgenommen, unzureichend deshalb, weil bei Unternehmen mit weniger als neun Schiffen oder weniger als 250 Beschäftigten die Seeleute noch heute keine Möglichkeit haben, Seebetriebsräte aus ihren eigenen Reihen zu wählen, wovon zirka 50% aller Seeleute auf deutschen Schiffen betroffen sind.
Hinzu kommt, daß durch das Ausflaggen von Schiffen bei deutschen Reedereien auch bereits gewählte Seebetriebsräte ihre Arbeit einstellen müssen, weil die Belegschaftsstärke der unter deutscher Flagge verbliebenen Schiffe unter die angegebenen Zahlen abgesunken ist. Die Seeleute auf den ausgeflaggten Schiffen der gleichen Reederei genießen dieses Recht ohnehin nicht, und außerdem werden auch den anderen die Rechte entzogen. So einfach geht das!Deswegen, meine verehrten Damen und Herren, gehört zu einer Enquete über die personelle und wirtschaftliche Situation in der deutschen Seeschifffahrt auch der ganze Komplex der staatlichen Exekutive, ihre Qualität und ihre Quantität sowie ihre Praktiken, wenn es um die Wahrung und Durchsetzung von Rechten, Vorschriften, Gesetzen und Verordnungen auf dem Gebiet der Seeschiffahrt geht. Die Arbeitnehmer tragen hier ständig vor, daß in der Seeschiffahrt die Rechtsstaatlichkeit nicht immer gewährleistet ist. Hierfür können sie gute Grande nennen. Ich meine, das ist eine vernichtende Kritik.Die Bundesanstalt für Arbeit, die Hamburger Bürgerschaft, den Senat und die Küstenländer haben wir allein gelassen mit dem Problem des seemännischen Arbeitsmarktes, der Schwarzvermittlung der Ausländer und den sich daraus ergebenden sozialen und Sicherheitsproblemen.Ich habe damals als einziger Abgeordneter umsonst versucht, die Seeleute in das Berufsbildungsgesetz mit einzubeziehen. Das mißlang, was heute von allen Beteiligten und den vier Küstenländern zutiefst bedauert wird. Ich habe von dieser Stelle aus das Parlament vergeblich gebeten, diesen Fehler gutzumachen.Die Entwicklung: Ani 10. Mai dieses Jahres protestierten, vom Kapitän angefangen, Seeleute eines ausgeflaggten Schiffes in Hamburg, traten demonstrativ vor die Öffentlichkeit und wandten sich an Wirtschaftssenator Kern. Sie demonstrierten in der Hamburger Innenstadt und forderten die Bevölkerung auf, ihre Bundestagsabgeordneten und Bürgerschaftsabgeordneten zu fragen, was sie denn bisher für die Seeschiffahrt und deren Sorgen geleistet hätten.Allen Kollegen dieses Hauses — und dabei schließe ich meine Fraktion nicht aus —, sei gesagt, daß Seeschiffahrt kein Regionalproblem ist, sondern eine nationale Notwendigkeit.
Alle Fraktionen wären gut beraten, wenn sie der deutschen Seeschiffahrt sehr viel mehr Aufmerksamkeit schenkten und Unterstützung gewährten, als das bisher der Fall war, bei allen Entscheidungen sowohl im sozialen wie im wirtschaftlichen Bereich dies auch stets mit berücksichtigten und nicht einfach darüber zur Tagesordnung gingen. Denn Gleichgültigkeit des Parlaments im Bereich der Schiffahrtspolitik wird uns teuer zu stehen kommen. Ein Tankerprogramm von 150 Millionen DM für sieben Tanker wie jetzt ist ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts der Milliardenbeträge, die wir heute für unsere Flotte aufbringen müssen. Deswegen gilt es auch, den Vorwurf des fehlenden Schiffahrtsbewußtseins des Parlaments auszuräumen.Wir sind verantwortlich. Wir haben auch das Seeaufgabengesetz, das wir selber beschlossen haben, zu erfüllen. Wir haben eine komplette Sondergesetzgebung für die Seeleute erlassen, dafür einen Teil ihrer Grundrechte eingeschränkt und der Bundesregierung Ermächtigungen erteilt, ohne zu fragen, was daraus geworden ist, und ohne uns weiter darum zu kümmern. Unsere Aufgabe ist es — nicht die der vier Küstenländer --, unseren Verpflichtungen hier nachzukommen. Es stünde uns deshalb wohl auch gut an, selbstkritisch unsere Haltung zur Seeschiffahrt insgesamt zu überprüfen.Aber der Bundesregierung ist zu sagen, daß sie gleichzeitig auf dem gesamten Verkehrsbereich versagt hat; denn noch nie nach dem Kriege hat es derartige verkehrspolitische Schwierigkeiten gegeben. Allen Kollegen ist das Problem der Luftfahrt bekannt. Wir haben es hier gerade wieder diskutiert. Aber doch nicht nur bei den Fluglotsen und Flugleitern, wo es jetzt spektakulär sichtbar ist, tritt die
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OrgaßKonzeptionslosigkeit der Bundesregierung in Erscheinung, sondern sie ist in dein Bereich der Seeschiffahrt mindestens ebenso skandalös, und sie zeichnet sich auch bereits bei der Deutschen Bundesbahn ab. Die verkehrspolitische Situation wird katastrophal. Ein allseits überforderter Verkehrsminister
sollte deshalb schnellstens aus dem Verkehr gezogen werden und einem qualifizierten Mann Platz machen. Ich meine, man kann es sich auch nicht leisten, angesichts dieser Probleme einen Verkehrsminister für einen Landtagswahlkampf als Spitzenmann zu delegieren, sondern man sollte ihn nach dorthin entlassen.Die Bundesregierung und wir müssen erkennen, daß Geld allein nicht mehr ausreicht, das Versäumte zu reparieren, sondern wir brauchen politisches Handeln, wir brauchen ein politisches Konzept.Der Bundeskanzler hat kürzlich bei einem Besuch in Norddeich Radio die Gelegenheit wahrgenommen, alle Seeleute auf unseren Schiffen zu grüßen, ihre Leistungen hervorgehoben, auch im Hinblick auf die Völkerverständigung. Das war zu begrüßen. Aber er ist mit keinem Wort auf die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten eingegangen, was den Betroffenen sicher wichtiger und hilfreicher gewesenwäre.Der Verkehrsminister erklärt in einer Fensehsendung des ZDF am 2. Mai 1973:Ich rechne nicht damit, daß weitere nennenswerte Ausflaggungen notwendig sein werden, wie wir uns auch bemühen wollen, entsprechend durch Gesetzgebung dafür zu sorgen, daß der Wettbewerb, was die Besatzungsvorschriften, die sozialen Vorschriften, die Sicherheitsvorschriften angeht, sich nicht zu Lasten der Bundesrepublik Deutschland auswirkt.Das kann aber doch nur bedeuten, daß dieser Mann glaubt, daß es nur über den Verlust des sozialen Besitzstandes gehen kann und/oder zu Lasten der Schiffssicherheit.Ich meine, für viele ist Seeschiffahrt Lebensinhalt geworden, aber ich glaube, es ist von ganz entscheidender Bedeutung zu sehen, daß die Schiffahrt für uns alle ein bedeutender Faktor ist. Der Beginn einer revolutionierenden Entwicklungsphase in der Seeschiffahrt und im Welthandel ist längst eingeleitet. Wir müssen uns schnell anpassen, und wir müssen eine auf breiter Basis getragene Schiffahrtspolitik anfangen.Es geht auch nicht an, daß die Bundesregierung stets von Flaggendiskriminierung spricht, aber bis heute überhaupt nicht handelt. Ganz Nord- und Südamerika beispielsweise beansprucht 50 Prozent des Ladungsaufkommens für die eigene nationale Flotte. Viele Länder Asiens und Afrikas sind diesem und anderen Beispielen längst gefolgt. Aber auch in Europa sind solche Praktiken nicht unbekannt. So werden beispielsweise fast alle Bananentransporte aus den eigenen überseeischen Gebieten Frankreichs ausschließlich auf deren Schiffen durchgeführt.Aber auch der unvergleichbar große Ansatz von Haushaltsmitteln anderer Länder im Bereich ihrerFlotten macht deutlich, daß unsere Flotte nicht mehr mithalten kann und im Konkurrentenverhältnis aus dem Rennen geworfen wird, zumal die seit 1969 anhaltenden DM-Aufwertungen und Dollar-Abwertungen bislang über 40 Prozent ausmachen und die Wettbewerbsposition deutscher Schiffahrt an den Rand des Ruins getrieben hat.So stellten zur Verfügung — umgerechnet in DM — beispielsweise Frankreich 1971 360 Millionen, 1972 453 Millionen bei einer Flottenstärke von7 Millionen BRT; Italien 1971 665 Millionen, 1972 698 Millionen bei einer Flottenstärke von 8,1 Mßlionen BRT; Japan 1971 1 650 Millionen, 1972 1 550 Millionen bei einer Flottenstärke von 30,5 Millionen BRT; USA 1971 1 170 Millionen, 1972 1 500 Millionen bei einer Flottenstärke von 16,3 Millionen BRT; die Bundesrepublik Deutschland 1971 61 Millionen, 1972 60 Millionen bei einer Flottenstärke von 8 Millionen BRT.Und selbst bei den jetzt vorgesehenen Tankerprogrammen mit den übrigen Mitteln von insgesamt 250 Millionen DM fallen wir hoffnungslos hinten ab.Die Richtlinien für eine zukünftige Schiffahrtspolitik sind in Holland, in Japan, in England und in anderen Ländern längst erarbeitet. Bei den zunehmenden Verzahnungen mit dem sehr schnellen Wachstum der Weltwirtschaft steht die Seeschiffahrt im Begriff, in eine Schlüsselposition hineinzuwachsen. Daraus muß auch die Bundesrepublik Deutschland, wie das andere Nationen erfolgreich tun, Schlußfolgerungen ziehen.Die Flottenausbauprogramme des Auslandes sind beträchtlich: Z. B. Japan bis 1974 von 30,5 Millionen auf 45 Millionen BRT; Norwegen bis 1973 von 21,7 Millionen auf 24 Millionen BRT; Italien bis 1975 von 8,1 Millionen auf 12 Millionen BRT; Frankreich bis 1975 von 7 Millionen BRT auf 10,6 Millionen BRT und Spanien bis 1980 von 3,9 Millionen BRT auf8 Millionen BRT, vom Ostblock ganz abgesehen.Unsere Flotte hingegen verringert sich zusehens, läuft ins Ausland weg; eine schiffahrtspolitische Konzeption gibt es nicht; die Hilfsmöglichkeiten des Außenhandelsgesetzes werden nicht ausgenutzt; die Möglichkeit der Herausnahme der Seeschiffahrt aus dem Bardepotgesetz wird nicht ergriffen. Bilaterale Verhandlungen, um den Flaggenprotektionismus einzudämmen, werden offenbar nicht geführt.Die CDU/CSU-Fraktion hat deshalb mit der Drucksache 7/963 eine umfassende Schiffahrtsenquete zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der deutschen Seeschiffahrt beantragt. Sie vollzieht damit das, was die SPD bereits 1970 verkündete und — wie vieles andere — dann schließlich nicht einhielt, nämlich ihren Beschluß vom Januar 1970 über den Einsatz einer Enquete-Kommission zur gleichen Problematik mit zwölf Schwerpunkten. Ich verweise auf Ihren Pressedienst vom 13. 1. und vom 20.2. 1970. Herr Grobecker, wenn Sie das sehen wollen, können Sie das Stück notfalls bei mir mit einsehen.
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2936 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
OrgaßDamals erhielten Sie Beifall von den Arbeitgebern, den Seeleuten, deren Gewerkschaften und der Presse. Sie hatten auch mit unserer Unterstützung rechnen können. Wir hoffen deshalb, daß Sie heute bereit sein werden, Ihren damaligen Schritt mit uns zu vollenden — um der Sache willen, um die es hier geht.
Die Enquete muß deshalb von der Fragestellung ausgehen: Brauchen wir eine nationale Flotte?
Sie wird sicherlich zu dem Ergebnis kommen, daß dieses für eine Industrie- und Exportnation wie die Bundesrepublik vonnöten ist. Dann aber muß daraus die Frage abgeleitet werden: Wie ist die wirtschaftliche Struktur der deutschen Handelsflotte im Hinblick auf technische Entwicklung und Wettbewerb? Das bedeutet z. B. Erforschung einer mittel- und langfristigen Bedarfsplanung deutscher Tonnagekapazitäten, an Quantitäten und an Qualitäten, wie auch der notwendigen Unternehmensstruktur des Reedereigewerbes und all dieser Dinge mehr.Wir müssen wissen, daß sich in der deutschen Seeschiffahrt zwangsläufig eine rasante Entwicklung vollziehen wird. Fachleute stellen bereits heute Untersuchungen über das „Schiff der Zukunft" an, welches von wenigen, dafür aber hochqualifizierten Fachleuten betrieben werden und in den Häfen allerdings einen völlig anderen Service als den bisherigen erfordern wird.Eine solche Entwicklung kann jedoch nicht einfach dem Zufall überlassen bleiben. Förderung durch den Bund wird unumgänglich notwendig sein, und deshalb setzt auch für das Parlament Freiheit der Entscheidung Kenntnis der Alternativen voraus, um vor Fehlentwicklungen weitgehend geschützt zu sein.Eine vernünftige Schiffahrtspolitik — das sei schließlich noch gesagt — ist jedoch nicht losgelöst von einer entsprechenden Personalpolitik zu betreiben. Wer die wirtschaftliche Struktur der Seeschifffahrt in den Griff bekommen will, kann und darf die sozialen Bedingungen der in der Seeschiffahrt Beschäftigten nicht außer acht lassen oder auch nur am Rande behandeln. Die Schiffahrtsenquete muß deshalb ebenso detailliert die soziale Sicherung, die arbeitsrechtlichen Bestimmungen, Chancengleichheit sowie Einkommensverhältnisse in Lohnzeitfaktoren behandeln und hier vor allem objektives Zahlenmaterial vorlegen, damit nicht — wie in der Vergangenheit — die Zahlen des einen Sozialpartners vom anderen mit anderen Zahlen bestritten werden. Die bisher durchgeführten Untersuchungen in der deutschen Seeschiffahrt — vorwiegend durch die Treuhand — haben den Nachteil, daß sie nur einen kleinen Ausschnitt im Bereich der finanziellen Seite der Seeschiffahrt beleuchten und bis heute der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind.Vorrangig ist auch die Frage nach Aus- und Weiterbildung, weil das eine entscheidende Voraussetzung für die künftige Entwicklung in der deutschen Seeschiffahrt sein wird.Wenn das Hohe Haus diesen Antrag bejaht, was ich hoffe, dann bleibt seine technische Abwicklung sowie der Arbeitskreis unter einer von allen anerkannten Persönlichkeit festzulegen. In diesem Arbeitskreis sollten alle vertreten sein, die mit der Seeverkehrswirtschaft in Verbindung stehen, das Parlament, die Regierungen der Küstenländer, die Seeleutegewerkschaften, Arbeitgeber und andere Beteiligte der Seeverkehrswirtschaft.Auch Reeder stellten fest, daß neben der Enquete, die in dieser Form eindeutig auf die übergeordneten Aufgaben des Bundes bezogen sein muß, ergänzende Problemkreise Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein sollten. Die zu untersuchenden Fragen sollten in erster Linie von Gewerkschaften und Reedern vorgeschlagen werden.Wenn in der aufgezeigten Weise bereits eine umfassende Übersicht der Zusammenhänge vorläge, dann könnten schon heute einige anstehende Aufgaben leichter in Angriff genommen werden. Wir brauchen ein einheitliches Ausgangsmaterial zur Erarbeitung einer neuen personal- und sozialpolitischen Konzeption. Wir brauchen eine neue einheitliche Ausgangsposition für Seeleute, Reeder und deren Verbände im Rahmen einer autonomen Tarifpartnerschaft.Die Funktion der Handelsflotte muß nicht nur für die unmittelbar Beteiligten, sondern für die ganze Öffentlichkeit und das Parlament transparenter gemacht werden. Der Nutzen der eigenen Handelsflotte läßt sich damit für die Außenhandelsfunktionen und als politischer Faktor objektiver einschätzen. Regierung und Parlament sollten sich Klarheit schaffen und könnten um so wirksamer handeln. Die anerkannten Belange der deutschen Seeschiffahrt und damit auch die der Häfen ließen sich, gestützt auf die Ergebnisse einer solchen Enquete, wirkungsvoller als bisher vertreten.Ich möchte aber alle Beteiligten nachhaltig davor warnen, die schon jetzt dringlichen schiffahrtspolitischen Entscheidungen so lange aufzuschieben, bis das Ergebnis einer solchen Enquete vorliegt. Das müßte katastrophale Folgen haben und würde auch die Enquetekommission unter nicht zu vertretenden Zeitdruck setzen. Damit wäre auch der Erfolg gefährdet. Letztlich dürfen sich alle politischen Entscheidungen bis dahin nicht zuungunsten des Gewerbes und der dort Beschäftigten auswirken.Ich bitte Sie, meine verehrten Damen und Herren, nach Prüfung dieses Antrages in den Ausschüssen im Parlament diesem Antrag mit breiter Mehrheit zuzustimmen.
Der Antrag ist begründet.
Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Abgeordnete Ollesch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, daß der Antrag, der uns jetzt zur Debatte vorliegt, eigentlich überflüssig ist. Der Kollege Orgaß hat
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973 2937
Olleschalles das schon getan, was er von der Bundesregierung fordert. Er hat nämlich eine umfassende Darstellung der Situation der deutschen Seeschiffahrt gegeben. Wenn man ihm Glauben schenken soll, geht sie, wie man so volkstümlich zu sagen pflegt, am Stock und steht kurz vor dem Verlöschen.Ich habe allerdings im Juni anläßlich unserer Schiffahrtspolitischen Konferenz in Bremen das Gegenteil von den deutschen Reedereivertretern gehört.
— Herr Orgaß, die hatten gar nicht so sehr Ihre Sorgen, sondern vielmehr Sorge darüber, ob es nicht möglich sein könnte, die guten Ergebnisse dieses Jahres in die nächsten mageren Jahre mit hinüberzuretten, die todsicher kämen, weil sich das Schiffahrtsgeschäft in Wellenbewegungen vollziehe, wir uns zur Zeit oben auf der Welle befänden und nicht unten im Tal.
Sehen Sie, so sieht das zur Zeit aus und nicht ganz so, wie Sie es dargestellt haben.Für den Außenstehenden muß durch den Antrag der CDU/CSU zur Vorlage einer Schiffahrtsenquete der Eindruck entstehen, als habe sich die Bundesregierung in der Vergangenheit überhaupt nicht um eine Analyse der Probleme der Seeschiffahrt bemüht. Wir müssen schlicht und einfach feststellen, das Gegenteil ist der Fall. Es dürfte Ihnen auch nicht unbekannt sein, daß sich die Bundesregierung mit der Vergabe von 15 Untersuchungen, deren Ergebnis bereits vorliegt oder die in absehbarer Zeit fertiggestellt sein werden, intensiv um eine umfassende Analyse der Situation der Seeschiffahrt und der damit zusammenhängenden Probleme bemüht hat. Zur Stützung Ihres Erinnerungsvermögens möchte ich nur auf die Arbeiten der Treuarbeit zur Untersuchung der Entwicklung der Reedereiergebnisse in den Jahren 1969 bis 1972, das Gutachten zu Paritätsänderung und Seeschiffahrt im Auftrag des BMWi und die Untersuchung der langfristigen Entwicklung des grenzüberschreitenden Güterverkehrs, in Auftrag gegeben vom BVM, verweisen.Es ist mir etwas unverständlich, daß Sie den Antrag gerade im jetzigen Zeitpunkt stellen. Das heißt, es wäre mir unverständlich, wenn ich hier in einem Glashaus säße und nicht daran dächte, daß sich in unseren nördlichen Bundesländern ja in absehbarer Zeit Wahlen vollziehen werden. Herr Orgaß, Ihr Auftritt könnte doch sicherlich mit beginnendem Wahlkampf, zumindest in Hamburg, in Verbindung gebracht werden.
Ihr Antrag ist mir gerade zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich unverständlich, da man doch zunächst einmal die Ergebnisse des Gutachtens, das vom Haushaltsausschuß in Auftrag gegeben wurde und das einzel- und gesamtwirtschaftliche Entwicklungstendenzen in der Seeschiffahrt untersucht und dem Hause in einigen Wochen vorliegen wird, abwarten sollte.Des weiteren sollte die Opposition berücksichtigen, daß die umfassende Forschungsarbeit zur Automation und Schiffsbesetzung, das SBAO-Gutachten, zur Zeit abschließend in der Forschungsstelle für Schiffahrtsbetriebstechnik in Flensburg beraten wird. Diese Tatsache müßte zumindest Ihren Schiffahrtsexperten bekannt sein. Auch sollte man voraussetzen, daß die in dem Antrag zur Erstellung einer Schiffahrtsenquete gestellten Fragen zum Teil von den in naher Zukunft zu erwartenden Gutachten ohnehin beantwortet werden.Angesichts dieser Ausgangslage, die ich Ihnen hier vortrage, fällt es mir schwer, Ihnen abzunehmen, daß es Ihnen um vermehrte Sachinformation geht. Ich meine vielmehr, daß vordergründige Interessen, die ich eingangs erwähnte, den Ausschlag geben.Selbstverständlich ist es Ihr gutes Recht, die Bundesregierung aufzufordern, fachliche Untersuchungen in wichtigen Teilbereichen der Politik anzustellen. Hier, meine Damen und Herren, soll wohl mehr eine bestimmte zielgerichtete Stimmungsmache gegen die sozialliberale Koalition betrieben — wie vor einigen Stunden — und der Verdacht genährt werden, daß die sozialliberale Koalition sich nicht genug um die Probleme der Seeschiffahrt kümmere. Für mich ist das aber nicht überzeugend. Es überzeugt mich um so weniger, als die Opposition selbst bis jetzt nicht in der Lage gewesen ist, ein alternatives Konzept in der Schiffahrtspolitik zu erarbeiten, das dem der Bundesregierung gegenübergestellt werden könnte.
Auch Ihre vielen Kleinen Anfragen und Ihr Antrag können den Mangel einer fehlenden Konzeption nicht verdecken. Ich meine, es stünde Ihnen gut an, wenn Sie einmal abwarteten, was die Untersuchungsberichte zu erkennen geben, und wenn Sie zunächst einmal die Auskünfte der Bundesregierung auswerteten, bevor Sie immer neue Anfragen produzieren.Die FDP-Fraktion hat jedenfalls die im Herbst vorigen Jahres von der Bundesregierung veröffentlichten schiffahrtspolitischen Leitsätze und die in den vorgelegten Gutachten erarbeiteten Fakten ausgewertet. Im Juni dieses Jahres haben wir eigene schiffahrtspolitische Leitlinien erarbeitet, nach denen wir unsere Politik in diesem Hause ausrichten und ausrichten werden. Diese Leitlinien sind die Grundlage unserer Auffassungen zur Schiffahrtspolitik auch in der Zukunft.Ich darf die Antragsteller weiterhin auf die von der Bundesregierung bisher schon geleisteten Hilfen für die Seeschiffahrt verweisen. Ich erinnere an die 100 Millionen DM im Haushalt 1973 für die Schifffahrtsförderung in Form von Neubauzuschüssen und an das Tankerprogramm der Bundesregierung, das einen Betrag von 150 Millionen DM vorsieht.Ich gestehe zu, daß es möglicherweise trotz dieser vielen Untersuchungen durch die Bundesregierung und durch Beauftragte der Bundesregierung noch Erkenntnislücken geben mag und daß auch nach Vorlage der Berichte noch Lücken bleiben werden. Von
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Olleschdaher sind wir der Auffassung, daß Ihr Antrag den zuständigen Ausschüssen — dem Verkehrsausschuß federführend überwiesen werden sollte, damit wir ihn mit Ihnen gemeinsam etwas stärker auf die Teile und Notwendigkeiten hin präzisieren, die uns zu einem besseren Erkenntnisstand verhelfen können. Daher werden wir der Überweisung zustimmen.Aber auf eine Bemerkung von Ihnen, Herr Orgaß, kann ich schon eingehen. Sie sagten: die Bundesregierung muß die Antwort auf die Frage geben, ob wir eine deutsche Flotte brauchen. Für die Freien Demokraten darf ich Ihnen sagen, daß wir die Antwort darauf am Ende unserer Schiffahrtskonferenz in Bremen am 25. Juni 1973 - also nicht erst jetzt — gegeben haben. Da heißt es:Die Freien Demokraten unterstreichen die Feststellung in den schiffahrtspolitischen Leitsätzen der Bundesregierung vom 31. Oktober 1972, daß die Bundesrepublik auf eine angemessene, qualitativ hochwertige und leistungsfähige Handelsflotte auf privatwirtschaftlicher Grundlage nicht verzichten kann.
— O ja, Herr Orgaß, wir haben in der Vergangenheit bei allen Vorschlägen und Vorhaben zur Förderung der deutschen Seeschiffahrt nach dieser Auffassung gehandelt, und wir werden das auch weiterhin tun. Ich sagte Ihnen eingangs: Zur Panik besteht kein Grund. Die Beschäftigungslage ist mehr als ausreichend. Die Frachtraten sind hoch, und sie sind — nach den Ergebnissen der gestrigen Beratungen zu urteilen — noch höher geworden. Die Arbeitslosigkeit, die Sie als Schreckgespenst aufgezeigt haben, besteht nicht oder nicht in diesem Umfang; sie bewegt sich innerhalb der Quote, die in allen Industrien und bei allen Beschäftigungsarten festzustellen ist.Die Frage wird sein, Herr Orgaß — und da bemühen wir uns, eine Antwort und eine Lösung zu finden —, wie wir die deutsche Seeschiffahrt in die Lage versetzen, in den fetteren Jahren die Rücklagen zu bilden, die sie dazu befähigen, todsicher kommende magere Jahre — todsicher kommend, weil sie nicht allein von unserem Handeln abhängen — zu überbrücken. Das wird — sicherlich auch mit Ihnen gemeinsam — unsere Aufgabe sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Ewen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Bundestag hat den soeben auch mündlich von Herrn Kollegen Orgaß begründeten Antrag der Fraktion der CDU/ CSU zur Kenntnis genommen. Das darin enthaltene Verlangen nach einer Schiffahrtsenquete läßt vermuten — und die Einbringungsrede, die Sie, Herr Orgaß, hier in mehr als 40 Minuten gehalten haben, hat das bestätigt —, daß doch wohl in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt werden soll, als hätten diese Regierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen im Bereich der Schiffahrt nicht genügend gearbeitet und diesem Bericht nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet.Ein solcher Eindruck wäre völlig falsch. Ich darf darauf hinweisen, daß vom Bundesminister für Verkehr von 1969 bis 1972 insgesamt 15 verkehrstechnische Untersuchungen, die 25 Sachgebiete umfaßten, in Auftrag gegeben worden sind bzw. abgeschlossen wurden. Drei weitere Untersuchungen, auf die Herr Kollege Ollesch hingewiesen hat, werden zur Zeit durchgeführt, und die Ergebnisse werden wir in absehbarer Zeit hier vorliegen haben.Als Sie die Situation der deutschen Seeschiffahrt hier darstellten, habe ich mich zeitweise gefragt, von welcher Seeschiffahrt, von welchem Land und von welcher Flotte Sie eigentlich geredet haben.
Denn ich darf einmal auf das hinweisen, was der Vorsitzende des Verbandes Deutscher Reeder in einer Zeitung geschrieben hat, die mir vor wenigen Wochen zugegangen ist. Er sagt:Nach Alter, Struktur und technischem Stand zählt die deutsche Handelsflotte zu den modernsten und leistungsfähigsten Flotten der Welt.
Und er sagt weiter — und das gibt doch bezüglichdessen, was Sie gesagt haben, einiges zu denken —:Der hohe Anteil an modernen Spezialschiffen sichert ihr eine überproportionale Beteiligung am Welthandel über See.Daß das nicht eine Einzelmeinung ist, geht aus dem Bericht der Handelskammer Hamburg hervor, die vor wenigen Tagen zu dem Ergebnis gekommen ist — ich darf zitieren —,daß es der deutschen Seeschiffahrt zufriedenstellend geht, daß die Entwicklung des Frachtaufkommens und der Raten gut ist und die Gewinnentwicklung bei den einzelnen Betrieben unterschiedlich ist.Da gerade die Handelskammer Hamburg nicht dafür bekannt ist, daß sie in erster Linie Lobsprüche von sich gibt, muß man doch hier wohl feststellen, daß es in dem von Ihnen angesprochenen Bereich sicherlich nicht so schlecht aussieht, wie Sie sagen.Ich hatte an anderer Stelle den Eindruck, daß Sie in dem personal- und sozialpolitischen Teil nahezu nach einer Reglementierung riefen und nicht dem freien Spiel der Tarifpartner das volle Recht geben wollten; das wäre für mich eine völlig untragbare Situation. Nur, Sie haben in Ihren Ausführungen — nicht expressis verbis, aber doch im Grunde —den beteiligten Gewerkschaften immer wieder ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt. Denn Sie haben eine Fülle von Problemen angeschnitten, die in erster Linie zum Lösungsbereich der Gewerkschaften gehören.
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Ewen-- Was das Problem des Ausflaggens angeht, so ist auch das, Herr Kollege Orgaß, angesprochen worden; diese Dinge sind ja wohl etwas schwieriger. —Gerade weil wir eine sozialpolitische Vorstellung von dem Dienst an Bord haben, die wir auf deutschen Schiffen durchsetzen möchten, gehen die doch weg und entziehen sich uns. Das können wir doch leider im Moment nicht verhindern. Es gibt nun bloß zwei Möglichkeiten: entweder unsere sozialpolitischen Vorstellungen zurückzuschrauben — dazu bin ich nicht bereit — oder alles zu tun, was in unserer Kraft steht, die übrigen schiffahrttreibenden Nationen auf unseren Level zu bringen. Das ist, so meine ich, eine wichtige Aufgabe, an der wir noch allerhand zu tun haben werden.
Wenn Sie hier in einer sehr langen Rede bedauert haben, daß die Öffentlichkeit und auch der Bundestag sehr wenig Interesse aufbringen, dann, meine ich, hat gerade Ihre Rede nicht dazu beigetragen, den Interessen der in der' Seeschiffahrt Beschäftigten und der Reedereiverbände Rechnung zu tragen. Denn wer an der Klagemauer steht, steht mit dem Rücken zur Wand und kann nicht politisch handeln. Ich meine, daß die Verbände sicherlich gut beraten sein werden, Teile Ihrer Ausführungen zurückzuweisen.
— Die Teile, die sich mit der wirtschaftlichen Lage der Seeschiffahrt beschäftigt haben; ich will das gerne präzisieren.
-- Allerdings.
Wenn man sich mit der Vielfalt der Fragen beschäftigt, die in der Enquete gemäß dem Antrag dargestellt werden sollen, dann wird klar, daß wegen der mangelnden gesetzlichen Möglichkeiten, Unterlagen der beteiligten Betriebe einzusehen, nur begrenzte Aussagen gemacht werden können. Sie, Herr Kollege Orgaß, waren im 6. Deutschen Bundestag schon dabei, ich noch nicht. Sie wissen, daß damals die großen Schwierigkeiten noch darin bestanden, hier verläßliches Material zu bekommen. Deswegen hat die Enquete-Kommission, weil die gesetzlichen Möglichkeiten fehlen, ihre Arbeit wohl auch nicht aufgenommen.
Das ist mir aus den Protokollen anders in Erinnerung; ich habe sie extra nachgelesen.
-- Na, davon bin ich nicht so ganz überzeugt. —Wenn also diese Enquete kein Märchenbuch werdensoll, das die Probleme eher verschleiert als transparent macht, wird der Ausschuß für Verkehr die Fragen präzisieren müssen, damit eine klare Aussage zu Einzelproblemen möglich wird. Bis die Enquete erstellt sein kann, werden die in der Schiffahrt Tätigen unter Berücksichtigung der schiffahrtspolitischen Leitsätze der Bundesregierung vorn 31. Oktober dieses Jahres leben und arbeiten können. Herr Kollege Ollesch hat sie vorhin zitiert, ich brauche sie deswegen nicht zu wiederholen.Wenn Sie weiter bedenken, daß durch Tarifabschlüsse der Gewerkschaften und durch das Betriebsverfassungsgesetz
auch den Seeleuten in erheblichem Umfange Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten eingeräumt wurden, dann verstehe ich nicht ganz, wem durch den Antrag auf Durchführung dieser Enquete gedient werden soll.
Es fragt sich, ob nicht in dieser oder jener Richtung falsche Erwartungen geweckt werden sollen. Ich meine, Sie haben mir für meinen Geschmack heute ein bißchen zu viel nach staatlicher Hilfe geschrien, wo Selbsthilfe am Platze ist. Ich kann hier nur die Hoffnung ausdrücken, daß die weitere Behandlung des Antrags zu einem höheren Grad an Klarheit hinsichtlich seiner sachlichen Berechtigung führt.Wir von der SPD-Fraktion stimmen der Überweisung des Antrags an den Ausschuß für Verkehr — federführend — und an die weiteren zuständigen Ausschüsse zu und hoffen, dann ein überzeugendes Konzept zu bekommen.Lassen Sie mich allerdings zum Schluß sagen, ich habe eine solche Anfrage in der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Verkehrspolitik vermißt. Da waren weder Binnenschiffahrt noch Seeschiffahrt vertreten. Auch heute in Ihren Ausführungen habe ich nichts zur Binnenschiffahrt gehört. Ich meine, auch sie gehört mit in den großen Bereich, und wir werden im Ausschuß einiges dazu zu sagen haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Meinecke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es kann bei solchen Auseinandersetzungen manchmal ganz gut sein, wenn ein Abgeordneter, der nicht unmittelbar die Sachkenntnisse hat und nicht in dem Ausschuß tätig ist, einige wenige Sätze dazu sagt. Ich finde es jedenfalls erstaunlich, daß es schiffahrtspolitische Leitsätze der Bundesregierung und Maßnahmen vom 31. Oktober 1972 gibt und daß der Kollege Orgaß diese nicht einmal in einem einzigen Punkt zitiert hat, sondern sich dieses von den anderen Abgeordneten vorhalten lassen muß. Ich finde es erstaunlich, daß es eine Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom Sommer zur Verkehrspolitik gibt und die angebliche Ignoranz dieses
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2940 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1973
Dr. MeineckeHauses darin noch bestätigt wird, sich um die Schifffahrtspolitik nicht zu kümmern.Es war bisher Usus in diesem Haus, und wir haben dieses Privileg den Bayern vorbehalten, hier im Bundestag ein wenig ihren Wahlkampf auszutragen. Wir haben das immer mit Humor ertragen. Das liegt schon an den sprachlichen Formulierungen unserer süddeutschen Kollegen; die können das besser als wir aus Norddeutschland. Daß aber gleich zwei Landtagswahlkämpfe hier heute eröffnet werden, nämlich sowohl der schleswig-holsteinische wie der hamburgische, obwohl die Eröffnung des schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampfes bereits in der Aktuellen Stunde hier entlarvt worden ist, ist ein starkes Stück, zumal der Versuch noch einmal wiederholt wurde.Herr Kollege Orgaß, trotz zweier Aufwertungen ist der Exportüberschuß der Bundesrepublik — das wissen Sie doch genau — immens und enorm gestiegen — trotz zweier Aufwertungen. Und Sie haben den Mut, hier nach staatlichem Protektionismus zu rufen, nach staatlichen Eingriffen, die sehr schwierig zu vollziehen sind,
ohne daß Sie es wagen, den Appell auch an diejenigen zu richten, die kraft des Exportes und des Verdienstes auch etwas für die deutsche Schiffahrt tun müssen. Sie wissen genau, daß der von Ihnen angegriffene Senator Kern Ihnen gestern gesagt hat — und Sie haben dazu ganz schön zustimmend mit dem Kopf gewackelt —: „Die Scheiße ist, daß die deutsche Industrie und der deutsche Export sich um das Schicksal der deutschen Seefahrt und der Seeschiffe nicht kümmern, sondern eines halben Pfennigs wegen und wegen des Ausfeilschens von Vorteilen in andere europäische Häfen ausweichen!"
— Genau das haben Sie hier in der Deutlichkeit nicht gesagt! Nein, dieser Appell hat gefehlt!
— Ich will Ihnen gar kein Bein stellen, Herr Kollege Orgaß. Das ist gar nicht meine Absicht.Ich meine, es ist ein starkes Stück, den Inhalt eines Berichts, einer Enquete hier vorzutragen. Dann hätte doch ein anderer parlamentarischer Weg eingeschlagen werden müssen. Warum haben Sie keine Große Anfrage eingebracht, warum nicht ein Bündel von Gesetzesinitiativen?
Herr Kollege Orgaß, jetzt spricht der Redner. Nachher können Sie wieder das Wort haben.
Ich bin auch gleich fertig. — Ihre Fraktion steht doch dahinter.
Ich meine also, daß Sie mit dem heutigen Antrag und insbesondere der Begründung dieser Sache keinen großen Gefallen getan haben.
Meine Damen und Herren, wird des weiteren das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich schlage Ihnen vor, den Antrag an den Ausschuß für Verkehr — federführend — und an die Ausschüsse für Wirtschaft und für Arbeit und Sozialordnung — mitberatend — zu überweisen. Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
Ich rufe die Punkte 14 und 15 der Tagesordnung auf:
Beratung der von der Bundesregierung beschlossenen Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
— Drucksache 7/987
Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Wirtschaft
Beratung der von der Bundesregierung beschlossenen Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
— Drucksache 7/999 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft
Das Wort wird nicht gewünscht.
Ich schlage Ihnen vor, die beiden Verordnungen dem Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 16 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen betr. Bundeseigenes Restgelände des ehemaligen Flugplatzes Paderborn;
hier: Veräußerung an die Stadt Paderborn — Drucksache 7/998 --
Überweisungsvorschlag des ältestenrates: Haushaltsausschuß
Begründung und Aussprache finden nicht statt.
Ich schlage vor, den Antrag dem Haushaltsausschuß zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. September 1973, 12 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.