Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .Liebe Kolleginnen und Kollegen!
– Nein, es fängt nicht gut an . – Zunächst begrüße ich Siealle herzlich, insbesondere die Kolleginnen und Kolle-gen, die heute Morgen um kurz nach 2 Uhr noch hierwaren und jetzt schon wieder hier sind .
Beinahe hätten wir gestern Nacht vor lauter Begeiste-rung beschlossen, die Tagesordnung für Freitag gleichmitzuerledigen, was in der überschaubaren Besetzungvielleicht noch fixer gegangen wäre. Aber wir geben unsauch heute Mühe, die Tagesordnung so zügig wie ebenmöglich abzuwickeln .Wenn ich mit oder ohne ausdrücklichen Verweis aufdas Vermummungsverbot nun darum bitten darf, diesesicher gutgemeinte, aber nach unseren Regularien nichtzulässige Demonstration einzustellen . – Dann könnenwir in die Tagesordnung eintreten .Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungLegislaturbericht Digitale Agenda 2014 bis 2017Drucksache 18/12130Überweisungsvorschlag: Ausschuss Digitale Agenda
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Das ist offen-kundig unstreitig . Dann können wir so verfahren .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derzuständigen Bundesministerin Brigitte Zypries .
Brigitte Zypries, Bundesministerin für Wirtschaftund Energie:Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Schade eigentlich, dass nur so wenigeKolleginnen und Kollegen da sind .
Ich meine, die frühe Uhrzeit heute Morgen und der späteSitzungsschluss gestern Abend sind das eine .
Aber man könnte auch den Eindruck bekommen, dassdem Kernthema Digitalisierung und damit der Umgestal-tung unserer Gesellschaft vielleicht doch nicht von allendie Priorität und die Bedeutung beigemessen wird, diesie aber hat; denn die Digitalisierung ist eine der großenGestaltungsaufgaben für Wirtschaft, für Wissenschaft,für Gesellschaft und für Politik .Ich denke, die Veränderungen, die sich in der Ge-sellschaft und in der Wirtschaft ergeben, sind in dieserLegislaturperiode ganz besonders sinnfällig geworden .Wir haben in den vergangenen vier Jahren dieser Le-gislaturperiode einen echten Quantensprung erlebt, wasdie Digitalisierung vor allen Dingen im wirtschaftlichenBereich angeht . Diesen Quantensprung haben wir mitunserer Digitalen Agenda gestaltet . Dabei hatten wirdrei Kernpunkte: Wachstum und Beschäftigung; Zugangund Teilhabe, was sich eher auf den gesellschaftlichenBereich bezieht; Vertrauen und Sicherheit . Diesen drei
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Kategorien entsprechend sind auch die Zuständigkeitenin der Bundesregierung verteilt . Mein Part hier erhelltsich leicht, nämlich Wachstum und Beschäftigung . Zuden anderen Bereichen werden die Kollegen später nochsprechen .Ich denke, wir sind einen ganz guten Schritt vorange-kommen . Die Tatsache, dass wir heute Digitalisierung alsganzheitlichen Ansatz betrachten, zeigt für meine Begrif-fe auch, dass wir in der nächsten Legislaturperiode keinDigitalministerium brauchen . Es sollte dabei bleiben,dass jedes Ministerium für die Digitalisierung in seinemBereich zuständig ist .
– Sie haben Ihre Meinung, Herr Kauder, ich habe meine .Im Moment stehe ich hier am Rednerpult und sage meineMeinung; dann kommen Sie und sagen Ihre . So ist das .
Die Digitalisierungsprojekte, für die ein Rahmen ge-setzt werden muss – das machen wir ja als Bundesregie-rung; wir bringen Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg,um zu gestalten –, sollten in den jeweiligen Ministerienbearbeitet werden . Ein eigenes Ministerium ist für meineBegriffe also nicht erforderlich .Lassen Sie mich zu dem kommen, was wir in dieserLegislaturperiode vor allen Dingen gemacht haben, näm-lich die Informierung des deutschen Mittelstandes überdie Veränderungen bei der Digitalisierung . Wir gehendavon aus, dass die großen Unternehmen wissen, wasauf sie zukommt . Sie sind inzwischen gut unterwegs,auch was ihre Verbindung zu Start-ups anbelangt . Aberviele mittelständische Unternehmen haben immer nochnicht realisiert, dass Digitalisierung bedeuten kann, dassihr Geschäftsmodell vielleicht in zwei, drei Jahren nichtmehr gefragt ist . Alle diejenigen beispielswiese, die heu-te fräsen, wissen vielleicht nicht, dass es inzwischen imfabrikmäßigen Maßstab 3-D-Druck für Metalle gibt, derdas Fräsen irgendwann ersetzen wird .Um diese Informierung geht es uns bei der Errichtungunserer Mittelstand 4 .0-Kompetenzzentren . Wir habenbereits 11 in Deutschland aufgebaut . Wir werden wei-tere 13 eröffnen . An diesen Orten sollen Mittelständlerzusammen mit der IHK, die das mit uns und mit ande-ren – Fraunhofer-Institute und viele andere sind dabei –betreiben, die Möglichkeit bekommen, sich zu informie-ren: Was kann alles in meinem Geschäftsfeld passieren?Welche Veränderungen stehen da gegebenenfalls an?Wie verändert sich die Logistikkette? Wie verändernsich einzelne Gegenstände, die beim 3-D-Druck heraus-kommen? Was passiert, wenn die smart werden, wenndie ihrerseits wieder Daten liefern, und was kann ichdann damit anfangen? Solche Lernorte sind diese Mit-telstand 4 .0-Kompetenzzentren, das Ganze gekoppelt mitden Unternehmen, die bereit sind, einen Einblick hinterihre Türen zu geben. Diese findet man auf der Landkar-te der Plattform Industrie 4 .0, die wir eingerichtet habenund die inzwischen europaweit die größte Plattform fürIndustrie 4 .0 und für die Weiterentwicklung ist .Ich denke, das hat sich ganz gut entwickelt . Aber, mei-ne Damen und Herren, wir müssen ganz klar sehen: Andiesem Thema müssen wir weiterarbeiten . Der digitaleUmbau unserer Wirtschaft wird auch in der nächsten Le-gislaturperiode das zentrale Thema bleiben .Was wir dafür auf alle Fälle brauchen, sind mehr In-vestitionen in Breitband . Wir müssen hier einfach besserwerden . Wenn wir in all den Bereichen, in denen wir eskönnen und in denen es kommen wird, Anwendungen di-gitaler Art nutzen wollen, dann brauchen wir ein größe-res Breitband . Ich nehme an, Herr Dobrindt wird gleichdazu noch etwas sagen .
Das ist auf alle Fälle für meine Begriffe unbedingt not-wendig .Wir müssen auch sehen, dass Start-ups eine erhebli-che Rolle spielen; denn unsere deutschen Firmen kom-men von der Manufaktur her und haben ihre Produkteüber viele Jahrzehnte immer besser gemacht, bis sie inden Bereichen Weltmarktführer geworden sind, in denensie es heute sind . Deshalb ist es für diese Firmen nichteinfach, sich plötzlich fragen zu müssen: Wie wäre es ei-gentlich, wenn ich das digital machen würde? Das funkti-oniert nicht so gut . Deswegen brauchen wir die Start-ups .Deswegen haben wir in dieser Legislaturperiode viel fürdie Förderung von Start-ups gemacht und sie finanziellunterstützt, aber nicht nur das, sondern vor allen Din-gen haben wir viel für den Netzaufbau getan, damit sichStart-ups mit etablierter Industrie vernetzen können .Ich möchte mich beim Bundesverband Deutsche Start-ups bedanken, mit dem wir in diesen vier Jahren sehr gutzusammengearbeitet haben und der sich in dem Bereichsehr professionalisiert hat . Es gibt inzwischen in BerlinFirmen, die die Zusammenarbeit zwischen Start-ups undIndustrie organisieren . Wir in unserem Ministerium ha-ben verschiedene Start-up-Nights zu unterschiedlichenThemen gemacht, zuletzt Anfang dieser Woche eine zurGesundheit, wo man sehen konnte, wie sich der Gesund-heitsmarkt digital weiterentwickelt . Auch das war einesehr spannende Veranstaltung . Da müssen wir dranblei-ben .Darüber hinaus müssen wir weiter daran arbeiten, un-sere Energiewende digital zu gestalten . Dafür haben wirmit dem Gesetz zur Digitalisierung der Energiewendedie notwendigen Voraussetzungen geschaffen . Aber dasist ein Bereich, in dem wir, um energieeffizienter zu sein,neuere, bessere, andere Geschäftsmodelle brauchen . Dasist ein wichtiger Punkt .Ich würde mich freuen, wenn wir es in dieser Legis-laturperiode noch schaffen könnten, das WLAN-Gesetzzu verabschieden . Das ist ein sehr konkretes Projekt, dasunser Haus auf den Weg gebracht hat und das Deutsch-land in der öffentlichen Wahrnehmung sehr viel nützenwird, abgesehen davon, dass es für jeden Einzelnen einBundesministerin Brigitte Zypries
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echter Mehrwert ist, wenn er WLAN an öffentlichen Or-ten nutzen kann .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Sitte für die
Fraktion Die Linke .
Danke schön, Herr Präsident . – Guten Morgen, meineDamen und Herren! Mit der Vorlage des Legislaturbe-richts Digitale Agenda ruft uns die Bundesregierung inErinnerung, dass sie eine digitale Agenda hat .
Dies in Erinnerung zu rufen, scheint tatsächlich notwen-dig zu sein; denn viel zu spüren ist davon eigentlich nicht .Damit will ich nicht sagen, dass sich nicht in verschie-denen Bereichen eine ganze Menge abgespielt hat; abermanches läuft eher als Trauerspiel . Die Zeiten, in denenman sich noch auf die Schulter klopfen lassen konnte,wenn man überhaupt Digitalpolitik gemacht hat, sindlange vorbei . Es geht darum, wie diese Politik aussehensoll . Eine Agenda muss deutlich mehr bieten als schöneWorte und ein Sammelsurium vieler einzelner Projekte,die sich in diesem Papier wiederfinden.Wie wenig der vorliegende Bericht mit Strategie zutun hat, zeigt sich daran, dass darin beispielsweise zumNetzwerkdurchsetzungsgesetz nicht ein Wort steht, unddas ist nun wirklich ein gewichtiges Vorhaben . Das wirdauch an dem deutlich, was Frau Ministerin gerade gesagthat . Sie weiß nicht, ob Herr Dobrindt zu diesem Themaredet . Nun mag man das als Kleinigkeit bezeichnen . Aberes zeigt, dass die Ministerien nebeneinanderher arbeiten,ohne tatsächlich koordiniert und abgestimmt zu wirken .
Das heißt, Ihre Digitalisierungspolitik schlepptsich ein wenig visionslos dahin . Aber in der Mitte vonSchwierigkeiten liegen Möglichkeiten . Lassen Sie michdie drei Kernziele, die Sie sich selbst gesetzt haben, an-hand von Beispielen durchgehen .Erstens: Wachstum und Beschäftigung; Sie hatten esgerade erwähnt . Da ist von gutem Arbeiten in der digita-len Welt die Rede . Gekommen ist jetzt erst einmal nur einDialogprozess . Es fehlen nach wie vor konkrete Antwor-ten, etwa auf die Frage: Wie sollen die Gewinne der Digi-talisierung später auch den Beschäftigten zugutekommenkönnen, statt die Lage der Beschäftigten, wie befürchtetwird und wie Studien zum Teil zeigen, noch prekärer zumachen? Die Antwort auf diese Frage drängt, weil mandas nicht dem freien Markt überlassen kann, weil wir beidiesen Themen auch ordnungspolitisch denken müssenund weil wir dazu eine gemeinsame Grundsatzentschei-dung inhaltlicher Art herbeiführen müssen .Zweitens: Zugang und Teilhabe . Den Zirkus, den Siehier in den letzten Jahren zur Störerhaftung bei WLANveranstaltet haben, hatten wir gestern Nacht gerade erstauf der Tagesordnung; ich will da nur auf meine Redeverweisen . Zur Netzinfrastruktur wird mein KollegeHerbert Behrens nachher noch etwas sagen; auch das istnicht unbedingt ein Ruhmesblatt für die Bundesregie-rung .
Ich beschränke mich mit Blick auf Teilhabe auf dieFrage, warum die Reform des Urheberrechts auf halbemWege stehen bleibt, obwohl der Koalitionsvertrag mehrversprochen hat . Jetzt kommen zwar endlich Regelungenfür den Bildungs- und Wissenschaftsbereich; aber dieseKuh ist noch nicht vom Eis . Ich hoffe, dass Sie bzw . wirdas noch hinbekommen . Aber wir haben nur noch zweiSitzungswochen, und mir scheint, dass mit den Verlagenim Hintergrund eine Menge verhandelt wird .
Das wäre zumindest ein Baustein der dringend notwendi-gen Modernisierung . Wir bräuchten zudem eine Reformdes Urhebervertragsrechts, um die Urheber ausdrücklichbesserzustellen, und ein Urheberrecht, das die Nutzungs-formen des digitalen Zeitalters konsequent anerkennt .
– Das habe ich leider nicht verstanden; aber das klärenwir später .
– Aha, okay .Drittens: Vertrauen und Sicherheit . Weiter kann dieSchere zwischen Anspruch und Realität wirklich nichtmehr auseinandergehen als in Ihrem Regierungshandeln .Auf der einen Seite betonen Sie – völlig zu Recht – dieBedeutung von IT-Sicherheit und vertraulicher Kommu-nikation . Auf der anderen Seite soll sie so sicher danndoch nicht sein, wenn es einem politisch in den Krampasst . Warum halten Sie also daran fest, dass deutscheBehörden IT-Sicherheitslücken sammeln können, stattsie zu schließen? Das wäre doch originäre Aufgabe desStaates .
Sogar den Einsatz von Staatstrojanern wollen Sie jetztumfassend freigeben. Ich finde diese Entwicklung völligabsurd .Dass sich dieser Widerspruch nicht einfach auflösenlassen wird, zeigt beispielsweise der große Angriff derSchadsoftware WannaCry vor wenigen Wochen . Das warder größte je erfolgte Angriff, und zwar unter Verwen-dung einer Technologie, mit der die NSA eine Sicher-Bundesministerin Brigitte Zypries
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heitslücke ausgenutzt hat, die schon vor Jahren hätte ge-schlossen werden können .Wie müsste also eine digitale Agenda aussehen, dieihren Namen verdient?Zunächst einmal müsste sie den Mut haben, politischeVerantwortung zu tragen . Wir brauchen jetzt Entschei-dungen, um die gesellschaftlichen Auswirkungen der Di-gitalisierung in allen Politikbereichen zu gestalten .
Sie müsste konsequent die Planung und Koordinie-rung des Regierungshandelns umfassen, anstatt die teil-zuständigen Ministerien – es sind vier bis sechs; manstreitet sich hier – nebeneinander und gegeneinander ar-beiten zu lassen .Für den Bundestag hieße das weiterführend, dass derAusschuss Digitale Agenda mehr Verantwortung tragenmüsste . Dieser Ausschuss müsste mit den anderen Aus-schüssen auf Augenhöhe arbeiten und demzufolge hierdie Federführung haben . Das wäre ein längst fälligerSchritt . Vielleicht wird es der erste in der nächsten Le-gislatur .Ich danke Ihnen .
Das Wort erhält nun der Bundesinnenminister Thomasde Maizière .
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der12 . Mai 2017 wird vielleicht einmal als ein schwarzerFreitag in die IT-Geschichte eingehen . Mit WannaCrywurde ein Angriff auf britische Krankenhäuser, auf diespanische Telefónica, auf das russische Innenministeri-um, auf den französischen Automobilhersteller Renaultund auf viele andere durchgeführt . Deutschland war mitAngriffen auf die Deutsche Bahn noch am geringsten be-troffen .Der Angriff hat vielleicht mit dem zu tun, was Sie,Frau Kollegin Sitte, gesagt haben . Es wurde eine Soft-warelücke bei Microsoft ausgenutzt . Das BSI hatte früh-zeitig auf diese Lücke hingewiesen und alle Firmen undPersonen unterrichtet, dass es sinnvoll ist, diese Lückezu schließen, was mit einem einfachen Software-Updatemöglich war . Alle, die das dem Rat des BSI folgend ge-macht haben, wurden nicht erfolgreich angegriffen . Ichfinde, das war unsere Aufgabe, und das setzen wir auchfort .
Das Beispiel zeigt, dass IT-Sicherheit eine zentrale Er-folgsbedingung für die Digitalisierung der Gesellschaftist . Frau Kollegin Zypries hat von Schutz und Vertrauengesprochen . Ohne Vertrauen in sichere Systeme werdenwir nicht erfolgreich sein . Das meine ich nicht nur bezo-gen auf die klassische Abwehr von IT-Angriffen, sondernauch mit Blick darauf, dass niemand sein Haus intelli-gent mit Computerprogrammen vernetzen wird, wenn erSorge hat, dass der böse Nachbar von außen seine Hei-zung hochdreht, und niemand das automatisierte Fahrennutzen wird, wenn er Sorge hat, dass sein Auto von au-ßen angegriffen und er vor einen Baum gefahren wird .Deswegen ist IT-Sicherheit im klassischen Sinne undauch für die Entwicklung der digitalen Wirtschaft eineErfolgsbedingung, weshalb sie für uns, die Bundesregie-rung – für alle Teile, aber insbesondere für den Bundes-innenminister –, allerhöchste Priorität hat .Was haben wir gemacht? Wir haben das IT-Sicher-heitsgesetz verabschiedet . Das war das erste Gesetz die-ser Art in Europa, und es ist Vorbild für eine europäischeRegelung, die sogenannte NIS-Richtlinie . Darin habenwir festgelegt: Die Betreiber kritischer Infrastrukturenmüssen ihre IT-Systeme nach staatlichen Vorgaben sicherbetreiben . Wenn sie angegriffen werden, dann haben sieeine Meldepflicht zu befolgen. Eine solche Meldepflichtist peinlich, aber sie ist nötig .Denn was ist eine kritische Infrastruktur? Eine Infra-struktur ist dann kritisch, wenn es bei ihrem Ausfall kri-tisch für die Gesellschaft wird . Das trifft nicht auf jedeskleine Krankenhaus zu, durchaus aber auf große Kran-kenhäuser . Das trifft nicht auf jeden kleinen Flughafenzu, wohl aber auf den Frankfurter Flughafen . Das trifftbezogen auf die Elektrizitätsversorgung nicht auf jedeskleine Stadtwerk zu, aber auf die Netzknoten, über diedie Elektrizität in Deutschland verteilt wird . In der Ver-ordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen ha-ben wir geregelt, welche Bereiche dazugehören .Durch all diese Maßnahmen machen wir die kriti-schen Infrastrukturen in Deutschland zu den sicherstender Welt, und das ist gut für unseren Standort .
Wir sorgen dagegen nicht bei den Kleinbetrieben,den Mittelständlern und den Privaten für einen sicherenIT-Betrieb . Das ist nämlich deren Aufgabe . Das BSI hilftaber dabei .Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen will ichmich nur noch auf einen Punkt konzentrieren: Nebendem, was wir intern gemacht haben, läuten wir mit demneuen BKA-Gesetz nun eine neue IT-Systemarchitekturfür die deutschen Polizeibehörden ein . Mit dem Daten-austauschverbesserungsgesetz haben wir das Asylverfah-ren in den Griff bekommen . Mit der IT-Konsolidierungverbessern wir die Systeme in den Behörden selbst . Alldas ist selbstverständlich und kommt gut voran .Ich will einen kritischen Blick auf die digitale Verwal-tung werfen, und zwar auf den Umgang der Verwaltungmit digitalen Angeboten . Da sind wir nicht so schlecht,im europäischen Vergleich aber nicht gut genug . Dasliegt auch an unserer föderalen Struktur . Die Kommu-nen machen Angebote, die Länder machen Angebote, derBund macht Angebote; sie sind aber nicht miteinandervernetzt . Deswegen bin ich wirklich sehr glücklich, dasswir gestern, ohne dass das zu einer großen öffentlichenDr. Petra Sitte
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Debatte geführt hat, mit der Änderung des Grundgeset-zes und mit der Verabschiedung des Onlinezugangsge-setzes im Interesse der Bürgerinnen und Bürger einenwirklichen Durchbruch bei der Nutzung von Verwal-tungsdienstleistungen erreicht haben .
Was heißt das? Bund, Länder und Kommunen wer-den verpflichtet, ihre gesamten Dienstleistungen inner-halb von fünf Jahren digital anzubieten . Da kann mansagen: Das ändert ja nichts an der Zersplitterung . – Wirwerden aber dafür sorgen – das ist Gegenstand diesesVorhabens –, dass jede Bürgerin und jeder Bürger alleDienstleistungen der Behörden über ein einziges Portalerreichen kann . Das heißt, egal wo man ist, egal welcheBehörde zuständig ist – das interessiert den Bürger nicht;das haben wir hier gestern im Zusammenhang mit demKooperationsverbot diskutiert –: Er kann durch eineneinzigen Zugang mit sicherer Identifizierung jede Ver-waltungsdienstleistung, wo auch immer die Behörde ih-ren Sitz hat, wer auch immer zuständig ist, vom Schreib-tisch zu Hause oder von unterwegs abwickeln . Das ist einwirklicher Durchbruch . Das haben wir in dieser Legisla-turperiode in letzter Minute geschafft . Darauf bin ich einbisschen stolz .
Hinzu kommt – das ist ein sehr interessanter Be-reich –: Wir schaffen die Möglichkeit, ein sogenanntesNutzerkonto einzurichten . Was heißt das? Im Momentgeht Datensparsamkeit wie folgt: Wir sagen dem Trägerdes Kindergartens wegen der Gebühren, wie viel Kinderwir haben und was wir verdienen . Wir sagen dem Staatund der Universität wegen des Bezuges von BAföG, wieviel Kinder wir haben und was wir verdienen . Wenn wirKindergeld beziehen, sagen wir wegen der Kinderfreibe-träge der nächsten staatlichen Behörde, wie viel Kinderwir haben und was wir verdienen . Das heißt, der Staatbzw . die Behörden sammeln an zehn Stellen die gleichenDaten . Das verstehen wir bisher unter Datensparsamkeit .Ich glaube, die Debatte um das Nutzerkonto wird inder nächsten Zeit darum gehen, ob Datensparsamkeitnicht etwas ganz anderes bedeutet, nämlich dass der Bür-ger dem Staat seine Daten nur ein einziges Mal gibt . Ersagt ihm dann: Pass auf, ich habe drei Kinder . – Dannmuss der Staat dafür sorgen, dass die Behörden im Rah-men ihrer Zuständigkeit Zugriff auf diese Daten habenund sie für ihre Aufgabenerledigung verwenden können .Das ist die Datensparsamkeit der Zukunft . Diesen Weggehen wir jetzt .
Meine Damen und Herren, trotzdem bleibt viel zu tun .Ich will mich nicht dazu äußern, wie man das am bestenorganisiert . Klar ist jedenfalls, dass ein Digitalministernatürlich nicht für alles zuständig sein kann . Wenn dieDigitalisierung ein neuer Querschnittsbereich ist, wenner alle Bereiche betrifft, dann müssen alle Ressorts da-mit befasst werden und daran arbeiten, ob und wie mandas Ganze besser koordiniert . Darüber kann man langestreiten .Richtig ist der Weg der Digitalen Agenda, den wir ge-gangen sind . Wir legen ein öffentliches Aufgabenbuchvor und beschreiben, was wir tun wollen . Wir legen Re-chenschaft über das ab, was wir erreichen wollen . Daswar ein mutiger, riskanter Weg . Das gemeinsame Ergeb-nis dieser Koalition kann sich sehen lassen . Aber es bleibtweiter viel zu tun . Das werden wir erfolgreich angehen .
Der Kollege Dieter Janecek ist der nächste Redner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr In-nenminister! Es ist gut, dass Sie da sind, denn dann kannman auf Folgendes verweisen: Das Sinnbild dafür, wiedie Einführung einer digitalen Verwaltung erst nicht ge-macht und dann verschleppt wird und schließlich nachihrer Einführung nicht funktioniert, sind nämlich Sie unddie Regierung der Bundesrepublik Deutschland,
die das nicht geschafft haben .
Wir haben die schlechtesten Zahlen in Europa .Was Sie gerade vorgestellt haben, haben die Öster-reicher im Jahre 2000 angefangen . Wir haben jetzt dasJahr 2017 und sollten uns bemühen, auch mit Blickauf die Kompetenzen endlich eine digitale Verwaltungdurchzusetzen, sodass nicht bis zu 130 analoge Behör-dengänge nötig sind, wie es heute in Deutschland immernoch der Fall ist .Es gibt Länder in Europa, in denen man nur noch fürgenau zwei Vorgänge zum Amt muss, und das sind Heiratund Scheidung . Es ist auch ganz gut, wenn das so bleibt;denn das ist sicherlich besser als per SMS .Wir könnten mit diesen Themen ein bisschen weiter-kommen . Das haben wir in den letzten Jahren einfachnicht geschafft . Wir müssen unbedingt beim E-Govern-ment vorankommen . Hier haben wir wirklich ein Versa-gen der Regierung in Deutschland .
Es gibt so viele Potenziale der Digitalisierung . Wennich mir den Bericht zur Digitalen Agenda ansehe – FrauSitte hat es schon angesprochen –, dann stelle ich fest:Es gibt ein Sammelsurium an verschiedenen Initiativen,von denen einige gelungen sind – das will ich auch zu-gestehen –; manche sind mehr gelungen, manche weni-ger, manche gar nicht, wie das E-Government, aber esgibt überhaupt keine Zielrichtung . Was ist denn mit demzentralen Thema der Nachhaltigkeit und der Ökologisie-rung?Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Warum nutzen wir die Potenziale nicht? Warum redenwir bei der Mobilität, Herr Dobrindt, nicht endlich darü-ber, wie wir auch im öffentlichen bzw . auch im ländli-chen Raum mehr Fahrzeuge teilen können?
Wo bleiben denn die Pilotprojekte? Es gibt keine . Wirkommen nicht voran .
Wir haben – das sagt die Wirtschaft – ein CO2-Re-duktionspotenzial durch digitale Technologien von20 Prozent . Aber die Rahmenbedingungen werden nichtgesetzt. Energie und Ressourceneffizienz der Fabrikensind gleich null . Das sind Themen, die wir vorantreibenmüssten .Ich komme noch einmal zum Thema Verkehr zurück .Wir haben ein Personenbeförderungsgesetz von 1936,das 1984 reformiert wurde . Wir haben immer noch nichtdie Möglichkeit, Dienstleistern in der Fläche zu ermögli-chen, Autos zu teilen . Das ist doch auch kein fortschritt-liches Denken im Bundesverkehrsministerium .
Als jemand, der im ländlichen Raum wohnt, sage ichIhnen, warum Sie es nicht machen: weil Sie immer nochvom Auto als Besitz ausgehen . Jeder muss ein Auto be-sitzen, und keiner darf es teilen . Denn dann könnte eswomöglich weniger Autos geben, und das wäre ja ganzschlecht für die Verkehrspolitik in Deutschland .
Beim Thema „Open Data“ – darin können wir Ihnenzustimmen, Thomas Jarzombek – müssen wir wirklichschneller vorankommen, um diese Standards in der Wirt-schaft, für den IT-Mittelstand, und auch im öffentlichenRaum zu verankern . Das ist auch eine Chance, Wettbe-werbsgleichheit gegenüber den Amerikanern herzustel-len . Denn wenn wir uns allein auf deren Systeme verlas-sen, dann werden wir immer abhängiger .Jetzt komme ich zum Wettbewerbsrecht . Wir sind inder Entwicklung jetzt spät dran, wenn es darum geht,die großen digitalen Plattformen aus den USA und ausChina auch in Europa zu unseren Standards zu zwingen .Es kann nicht sein, dass wir in Europa nicht das Markt-standortprinzip durchsetzen, sondern die Standards ausAmerika übernehmen, weil die Systeme aus dem SiliconValley kommen .Deswegen müssen wir mindestens zwei Prinzipienfestlegen . Das eine ist die Datenportabilität . Das heißt,wenn ich meine Daten bei einem Anbieter habe, dannmuss ich sie auch wieder mitnehmen können . Das zweitePrinzip ist: Messengerplattformen müssen auch unterei-nander nutzbar sein . Das geht zurzeit nicht ausreichend .Auch da müssen wir gesetzlich handeln . An der Stelle istmehr Wettbewerb nötig, als es derzeit der Fall ist .
Stichwort „Breitband“ . Ich komme aus Bayern . Dorthat die Telekom einen Marktanteil von 80 Prozent . Auchhier ist der Wettbewerb nicht ausreichend gegeben . EinBlick nach Schweden zeigt, wie es dort gemacht wurde:mit vielen mittelständischen Anbietern vor Ort und einersoliden Infrastruktur . Die Schweden sind weiter als wir .Wir haben das Ganze einem Anbieter überlassen, und dieanderen kommen nicht hinterher . Das kann nicht die rich-tige Strategie sein . Ich weiß, dass Bayern mit bestimmtenUnternehmen sehr stark verflochten ist. Aber das ist nichtder richtige Weg nach vorne, mit dem wir in der Breit-bandversorgung etwas erreichen .
Wir brauchen also deutlich mehr Mut . Die Bilanz istnicht in allen Feldern schlecht, aber sie ist ziemlich ma-ger . Wir sind kein digitales Führungsland . Wir sind imeuropaweiten Index sogar vom neunten auf den elftenPlatz abgerutscht .
Das heißt, Deutschland kann deutlich besser werden . Wirdürfen eines nicht tun, was Sie aber in der wirtschaftspo-litischen Debatte oft machen, nämlich den Menschen zusagen: Die Datensparsamkeit und der Datenschutz sindolle Kamellen von gestern; lasst uns das mal beiseite-schieben, dann werden wir ganz erfolgreich sein .Denn es ist genau umgekehrt: Wenn wir es nichtschaffen, einen stringenten, guten und modernen Da-tenschutz zu verankern und die digitale Souveränität fürunsere Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, dannwerden die Menschen kein Vertrauen haben . Darum gehtes: Die Menschen wollen Vertrauen in die Digitalisie-rung und auch in das Thema Arbeit 4 .0 haben . Sie wollennicht hören, dass sie die niedrigsten Löhne bekommen,wenn es, zum Beispiel durch Click- und Crowdworking,sehr viel Wettbewerb gibt, sondern sie wollen Standardshaben, zum Beispiel ein Mindesthonorar, wie wir es imdigitalen Bereich fordern .
Lassen Sie uns die Digitalisierung gestalten . LassenSie uns ökologisch, nachhaltig, sozial und freiheitlichnach vorne gehen . Dann wird das klappen . Lassen Sieuns bitte der Digitalisierung überhaupt einmal eine Rich-tung geben – dann kommen wir voran –, am besten mitGrünen in der Bundesregierung ab Herbst 2017 .Danke .
Nächster Redner für die SPD ist der Kollege LarsKlingbeil .
Dieter Janecek
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwill hier zu Beginn sagen: Es ist schon ein besondererMoment, wenn wir heute über den Bericht zur DigitalenAgenda diskutieren . Viele, die hier im Parlament sind,haben in der letzten Legislatur in der Enquete-Kommis-sion „Internet und digitale Gesellschaft“ gesessen undsich erstmals mit der Frage auseinandergesetzt, wie wirDigitalpolitik hier im Deutschen Bundestag diskutieren .Die Kommission hatte 34 Mitglieder: 17 Abgeordneteund 17 Sachverständige . Wir haben drei Jahre gerungen,um zu einem 2 000 Seiten langen Abschlussbericht zukommen, in dem auch empfohlen wurde, dass wir Digi-talpolitik zentral hier im Parlament verankern .Das hat die Große Koalition gemacht . Ich will nichtohne Stolz sagen, dass es richtig war, dass wir sowohlin der Regierung als auch im Parlament einen zentralenOrt definiert haben, an dem wir Digitalpolitik gestalten.Vielen Dank an alle, die das in den letzten vier Jahrengetan haben . Es war ein richtiger Schritt, den wir gegan-gen sind .
Wenn wir heute nach dreieinhalb Jahren DigitaleAgenda auf die Dinge schauen, dann können wir fest-stellen: Vieles ist angefangen und vieles ist erledigtworden . Wir haben in der Digitalen Agenda insgesamt121 Einzelmaßnahmen . BITKOM, ein Branchenführerin dem Bereich, hat festgestellt: Es sind gerade einmal4 Prozent der Vorhaben, die nicht angegangen wurden . –Viele Sachen wurden in der Tat erfolgreich abgearbeitet .Wenn Sie mich als Digitalpolitiker heute fragen, ob esan vielen Stellen noch besser gegangen wäre, dann sageich natürlich Ja . Ich glaube, dass wir in vielen Bereichennoch besser werden müssen . Aber die Bilanz – das sageich hier heute mit Stolz – kann sich sehen lassen .Ich will einige Bereiche explizit nennen . Ich will zu-nächst der Ministerin Zypries und ihrem Haus danken,weil sie es geschafft haben, mit dieser Digitalen Agen-da Start-ups in Deutschland zu stärken . Wir sehen, dassEXIST, ein Gründerprogramm für die Hochschulen, aus-gebaut wurde; wir sehen, dass mit INVEST Wagniska-pital für Start-ups in stärkerem Umfang zur Verfügunggestellt wurde und der High-Tech Gründerfonds ausge-baut wurde .Frau Ministerin, ich will explizit auch Ihre Bemühungerwähnen, die Sie gerade in den letzten Wochen an denTag gelegt haben, als Sie sich mit der Frage auseinan-dergesetzt haben, wie wir es eigentlich schaffen können,vor allem junge Frauen bei Unternehmensgründungenzu unterstützen . Ich halte das für einen ganz wichtigenBereich . Wir wollen Sie ermuntern, in dieser Richtungweiterzumachen . Wir müssen schauen, wie wir geradejunge Frauen dazu bringen können, dass sie verstärktUnternehmen gründen .
Ein zweiter Punkt, den ich nennen will, ist der Auf-bruch, den wir bei der Infrastruktur hinbekommen ha-ben . Ich erinnere mich daran, wie wir damals in denKoalitionsverhandlungen debattiert haben, ob der Staatdort eine Verantwortung trägt . Ich sage heute: Ja, es warrichtig, dass wir staatliches Geld in die Hand genommenhaben, um den Breitbandausbau zu stärken . Wir wissenaber auch, Herr Dobrindt, dass 50 Mbit/s nur ein Zwi-schenschritt sind und wir es in der nächsten Legislaturschaffen müssen, die Gigabitgesellschaft zu verankern .Wir brauchen Glasfaser und Funk . Ich sage hier auch:Wir müssen es noch in dieser Legislatur schaffen, offeneWLAN-Netze stärker zu ermöglichen . Auch das gehörtdazu . Ich würde mir wünschen, dass wir den Elan desInnenministers, den wir bei Quellen-TKÜ und Online-durchsuchung gerade erlebt haben, in den nächsten zweiSitzungswochen auch beim Thema „Offene WLAN-Net-ze“ erleben, um Infrastruktur zu schaffen .Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, ist die digi-tale Bildung . Die Kollegin Esken wird gleich noch längerdarauf eingehen . Wir haben es geschafft, mit dem Digi-talpakt ein wichtiges Projekt zumindest erst einmal kon-zeptionell auf den Weg zu bringen . Das ist haushalterischnicht hinterlegt, aber wir wissen doch alle, dass geradeder Bereich der digitalen Bildung in der nächsten Legis-latur ein ganz wichtiger wird . Das bedeutet für mich: DasKooperationsverbot muss weg . Das bedeutet, Bildungs-materialien zu digitalisieren, die Schulen besser auszu-statten und die Lehrer anders auszubilden, damit wirendlich einen Aufbruch in der digitalen Bildung haben .Der vierte Bereich, den ich nennen will, bezieht sichauf die Veränderungen der Arbeitsmarktpolitik . FrauMinisterin Nahles hat mit dem Grünbuch und mit demWeißbuch zum Thema Arbeiten 4 .0 einen Prozess aufden Weg gebracht, den ich als vorbildlichen Prozess indieser Digitalen Agenda sehe .
Wir müssen uns als Parlament doch mit der Frage aus-einandersetzen, was es für Menschen bedeutet, wenn siejeden zweiten, dritten Tag in der Zeitung lesen können,dass ihr Job bald durch die Digitalisierung wegfällt . Wiebereiten wir die Menschen also auf den Wandel des Ar-beitsmarktes durch die Digitalisierung vor?Das bedeutet Bildung, Qualifizierung, Ausbildung undRecht auf Weiterbildung . All diese Dinge werden wir inder nächsten Legislatur stärken müssen, und Frau Nahleshat den Auftakt gemacht . Das bedeutet aber auch – ichwill das hier als Projekt nennen; Frau Nahles hat es defi-niert – das Recht auf mobiles Arbeiten . Es ist doch Wahn-sinn, dass Menschen große Strecken zurücklegen, um zuihrem Arbeitsplatz zu kommen, obwohl heute die tech-nischen Möglichkeiten vorhanden wären, um Homeof-fice und das mobile Arbeiten zu ermöglichen. Es ist zwarauch richtig, dass wir in diesem Bereich in der jetzigenLegislatur vorangekommen sind . In der nächsten Legis-laturperiode brauchen wir dazu jedoch ein Gesetz
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich nacheiner Legislatur Digitale Agenda noch eine persönlicheAnmerkung machen . Ich mache jetzt seit acht Jahren hierim Parlament Digitalpolitik. Wir haben, finde ich, in derEnquete-Kommission und auch jetzt im Ausschuss Digi-
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tale Agenda vieles auf den Weg gebracht . Ich habe geradeversucht, eine kleine Bilanz zu ziehen .Ich will mich, Thomas Jarzombek, auch bei dir für diegute Zusammenarbeit bedanken, die wir in diesem Aus-schuss hatten. Da ging es um etwas Neues. Ich finde, anmanchen Stellen hat es geruckelt, aber an vielen Stellenhaben wir es doch gut geschafft, immer wieder Motor derDigitalisierung hier im Parlament zu sein . Wir hätten unsaber, glaube ich, an vielen Stellen gemeinsam noch mehrgewünscht .Im Hinblick auf die nächste Legislaturperiode will ichhier eines ganz deutlich sagen: Wenn wir nicht begreifen,wie groß die Umbrüche durch Digitalisierung in den Be-reichen Gesundheit, Mobilität, Finanzen, Bildung sind,wenn wir als Parlament bzw . als Regierung nicht anfan-gen, diesem Thema einen angemessenen Stellenwert zugeben, und wenn wir nicht aufhören, uns in Trippelschrit-ten zu bewegen, dann werden wir unsere Chancen ver-passen .Wir haben vor wenigen Tagen einen Bericht in derZeitung Die Welt lesen können, dem zu entnehmen war,dass Deutschland auf dem Gebiet der Digitalisierung ei-nen Rückstand hat, dass wir immer weiter im Rankingzurückrutschen, weil sich die Wirtschaft nicht auf dieTechnologisierung einlässt, weil die Politik hinterher-hinkt und weil es in der Bevölkerung Skepsis gibt . Dahaben wir als Politiker auf zwei Gebieten Verantwortung .Erstens brauchen wir Mut in Deutschland, um die Chan-cen der Digitalisierung zu ergreifen und die Veränderungpositiv zu begleiten . Zweitens brauchen wir auch eineStruktur in der Politik, mit der das Thema vorangebrachtwird .Deswegen bin ich der festen Überzeugung – das istmeine persönliche Meinung –, dass es nicht zielführendist, wenn drei Ministerien für dieses Thema zuständigsind . Wir brauchen eine Bündelung zentral im Kanzler-amt oder in einem Ministerium . Es muss eine Person amKabinettstisch sitzen, die immer wieder den Finger in dieWunde legt und sagt: „Denkt an die Digitalisierung“, unddie versucht, dieses Thema voranzutreiben . Wenn wir dasnicht schaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen, verspie-len wir Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze . Darumsollten wir uns aber kümmern . Das ist die Verantwor-tung, die wir tragen .Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun der Kollege Herbert Behrens für
die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ohne ein stabiles, sicheres und leistungsfähiges Internetist heute nichts mehr zu machen . Das wird hier sicherlichvon allen so mitgetragen . Dann hört es aber, glaube ich,mit den Gemeinsamkeiten auch schon auf . Aber was liegtnäher, als dass man sich wirklich um die dafür notwendi-ge Infrastruktur, also beispielsweise um den Netzausbaukümmert? Was entdecken wir aber in dem 120-seitigenBericht? Das Wort „Netzausbau“ erscheint dort nur zwei-mal .
Wir haben wieder – wie vor einem Jahr auch – gehört,dass es sich um ein Aufgabenheft handelt . Statt Schrittfür Schritt voranzugehen, haben hier drei Ministerienwieder viele Aktivitäten aneinandergereiht . Wir habenimmer wieder kritisiert – auch heute ist das schon ge-sagt worden –, dass es kein erkennbares Konzept bzw .keine Strategie dahinter gibt . Der Minister für Verkehrund digitale Infrastruktur, die Ministerin für Wirtschaftund der Minister des Innern stimmen sich bei diesemThema offenbar überhaupt nicht ab . Die wichtigen Auf-gaben sind nicht beschrieben . Das kommt davon, wennsich drei Ministerien quasi auf den Füßen stehen, anstattzusammenzuarbeiten .
Da hilft es auch nicht, zum Ende der Wahlperiode einengemeinsamen Bericht vorzulegen . Angesichts der anste-henden Aufgaben, die wir immer wieder formuliert ha-ben, ist dieser Bericht einfach eine Zumutung .Es bleibt eine extrem wichtige Aufgabe, eine zu-kunftsfeste Infrastruktur zu schaffen . Wir haben hier imBundestag vor einem Jahr schon einmal über das ThemaGlasfaserausbau oder vielmehr über den unzureichendenGlasfaserausbau debattiert . Damals sprach die Bundes-regierung – und zwar nur die Bundesregierung – voneiner hervorragenden Bilanz . Heute, zwölf Monate und2,3 Milliarden Euro Fördermittel später, gibt es das Glei-che noch einmal, diesmal mit der Überschrift „Legisla-turbericht“ . netzpolitik .org, die bekannte NGO, hat ein-mal einen Artikel überschrieben: „Breitbandausbau: Baldmehr Strategien als Anschlüsse“ . – Dieser Kommentie-rung ist nichts hinzuzufügen .Dabei haben die Ministerin und die Minister erkannt –so steht es im Bericht –: „Grundlegende Voraussetzung,um an den Innovationen des digitalen Wandels teilhabenzu können, ist eine hochleistungsfähige digitale Infra-struktur .“ Sehr richtig! Aber diese hochleistungsfähigeInfrastruktur gibt es nicht, und sie wird es wahrschein-lich in absehbarer Zeit bei dieser Bundesregierung auchnicht geben .Warum? Im September 2016 hat die Bundesnetz-agentur – wir alle erinnern uns – die Nahbereiche von8 000 Hauptverteilern zum allergrößten Teil der Deut-schen Telekom überlassen . Diese hat sich im Gegenzugdazu verpflichtet, die Nahbereiche mit Vectoring-Tech-nik auf Basis von Kupferkabeln zu erschließen . Jetzt, imMärz 2017, musste die Bundesnetzagentur einräumen,dass die Telekom die Angebote an die Konkurrentennachbessern musste . Diese hatten geklagt, weil sie kei-nen gleichberechtigten Zugang zum Endkunden hatten .Echte Glasfaseranschlüsse machen heute gerade einmaleinen Anteil von 7,1 Prozent aus . Deutschland wird sichLars Klingbeil
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auf Jahre darauf einstellen müssen, Schlusslicht beimGlasfaserausbau zu sein . Die digitale Politik der Bundes-regierung ist grandios gescheitert .Das Netz muss sicher sein . Mit dem Verschlüsse-lungsvirus WannaCry wurden vor wenigen Monaten230 000 Computer in 150 Ländern der Erde infiziert.Einen ähnlichen Skandal – wenn auch nicht in diesemAusmaß – hatten wir bereits vor einem Jahr in Deutsch-land erlebt . Vor zwei Jahren erklärte der Innenminister:Deutschland muss der Verschlüsselungsstandort Num-mer eins auf der Welt werden . – Doch was passiert? Eswird eine Zentrale Stelle für Informationstechnik imSicherheitsbereich, ZITiS, aufgebaut . Dort sollen Über-wachungstechniken entwickelt werden, mit denen unteranderem Verschlüsselungen geknackt werden sollen . Ab-surder geht es eigentlich nicht . Aber diese Bundesregie-rung schafft es mühelos, solche gefährlichen Absurditä-ten zu produzieren .
Ein letzter Punkt . Die Kompetenz scheint der Bun-desregierung sehr wichtig zu sein . Deshalb gibt es vieleKompetenzzentren; die Ministerin hat das erwähnt . Bei30 Kompetenzzentren sollte mindestens eines dabei sein,mit der die Kompetenz in den Ministerien erhöht wird .
Nächster Redner ist der Bundesminister Alexander
Dobrindt .
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist es so, dass
die Substanzrevolution der Digitalisierung einen neuen
Wettbewerb zwischen Unternehmen, einen neuen Wett-
bewerb zwischen Regionen der Welt und sogar einen
neuen Wettbewerb zwischen den Staaten in der Welt be-
gründet hat . Richtig ist auch der Grundsatz: Wer nicht
komplett digitalisiert, verliert . – Deswegen haben wir uns
die Digitale Agenda als Arbeitsprogramm gegeben . Wir
haben in dieser Legislaturperiode enorm viel geschafft .
Wir sind damit das digitale Leistungszentrum in Euro-
pa geworden . Wir wissen, dass wir mit diesem Arbeits-
programm die Chancen auf höhere Wirtschaftskraft und
gesteigerte Lebensqualität nutzen und uns weiterentwi-
ckeln können . Deshalb sind die Vorwürfe, die hier in Tei-
len formuliert werden, vollkommen absurd .
Lieber Herr Janecek, Ihr Hinweis, wir digitalisierten
die Mobilität nicht, ist grundfalsch . Wir sind die Vorreiter
im Bereich des automatisierten Fahrens . Wir entwickeln
den ÖPNV digital weiter . Da Sie das bayerische Freyung
als Beispiel genannt haben,
sollte Ihnen bekannt sein, dass dort ein ÖPNV on de-
mand entsteht, der weltweit einzigartig ist . In Bad Birn-
bach werden automatisierte Busse eingesetzt, die die Be-
förderung revolutionieren . Damit lassen sich gerade im
ländlichen Raum neue Mobilitätskonzepte im digitalen
Bereich anwenden .
Dass Sie hier solche Vorwürfe erheben, verwundert
mich sehr . Noch vor einiger Zeit gehörte ein grundsätz-
liches Verbot des Glasfaserkabels zu Ihrem Programm .
Das ist Teil der Wahrheit . Das kann man in Ihren Wahl-
programmen nachlesen . In Ihrem aktuellen Wahlpro-
gramm verlieren Sie kein einziges Wort über automati-
siertes Fahren und Start-ups . Zum Breitbandausbau steht
in Ihrem Wahlprogramm:
Der Ausbau von Leerrohren . . . steht dabei im Vor-
dergrund .
Das ist Ihre Digitalpolitik: „Ausbau von Leerrohren“ .
Wir bauen Glasfaser, Sie wollen Leerrohre . Das ist der
Unterschied .
Herr Minister, darf der Kollege Janecek dazu eine
Zwischenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Ja, gerne .
Da erwarte ich aber schon mehr Begeisterung bei Ih-nen, Herr Dobrindt . Vielen Dank, dass Sie sie trotzdemzulassen . – Ich möchte einen Hinweis geben: Das Projektin Freyung, das Sie angesprochen haben, ist von unseremAbgeordneten Thomas Gambke initiiert worden . Es istschön, dass Sie bei der Präsentation waren . Dieses Pro-jekt ist von den Grünen intensiv vorangetrieben worden .
Da geht es darum, dass man geteilte Mobilität in einerländlichen Region anbietet .Welche gesetzgeberischen Projekte haben Sie dennvorangetrieben, beispielsweise im Rahmen des Perso-nenbeförderungsgesetzes, um eine Mobilität des Teilensauf digitaler Basis überhaupt zu ermöglichen, sodass esGeschäftsmodelle geben kann, die an ÖPNV-Plattformenetc . andocken? Welche Projekte sind das konkret?Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Herr Janecek, erst einmal: Ihr Widerspruch ist jetztschon klar erkennbar . Vorhin haben Sie gesagt: Es gibtüberhaupt nichts in diesem Bereich . Sie haben gar nichtsgemacht . Es gibt nichts Neues . – Jetzt sage ich Ihnen: InFreyung gibt es das modernste ÖPNV-Projekt der WeltHerbert Behrens
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im digitalen Bereich . Der Bürgermeister von Freyung istCSU-Mitglied . Er hat dieses Projekt zusammen mit demBerliner Start-up Door2Door entwickelt .Jetzt werden Sie sagen: Na ja, wahrscheinlich ist ir-gendwann auch einmal ein Grüner dafür gewesen . – Dasist nicht die Art der Politik, die man hier betreiben sollte .Wir müssen mit Schwung und Dynamik in diese neuenTechnologien hineingehen, und wir dürfen nicht wie Sieerst abstreiten und dann sagen: So ein bisschen waren wirauch mit dabei .
Außerdem will ich Ihnen sagen: Wir haben mit unse-rem Carsharing-Gesetz – weil Sie über die Sharing- undPlattformtechnologie gesprochen haben – auch hier einenMeilenstein gesetzt . Sören Bartol war hier an vordersterFront . Er ist übrigens schon seit vielen Jahren dabei, die-ses Thema zu bearbeiten . Ich habe für den Transfer in diedigitale Welt gesorgt . Wir sind heute mit dem, was wirgesetzgeberisch gemacht haben, in der Lage, den Bereichder Carsharingmöglichkeiten deutlich zu erweitern . Daist in der Tat ein Riesenmarkt . Wir haben an dieser Stellezusätzlich alternative Antriebe gefördert . Das heißt, auchhier sind wir ganz vorne mit dabei .Lieber Herr Janecek, es würde sich anbieten, dass Siesich die Initiativen der Bundesregierung, die im BereichDigitale Agenda in dieser Wahlperiode stattgefunden ha-ben, noch einmal direkt vor Augen führen, bevor Sie hiereine weitere Rede zu diesem Thema halten .
Dass die Digitalisierung eine technische Dynamik hat,die mit der üblichen Weiterentwicklung einer Technolo-gie, wie wir sie kennen, nicht vergleichbar ist – deutlichdynamischer ist –, das ist richtig, und darauf müssen sichalle einstellen . Darauf muss sich auch die Politik einstel-len, auch regulatorisch, auch gesetzgeberisch . Wir kön-nen mit unseren bewährten und gewohnten gesetzgebe-rischen Maßnahmen angesichts dieser neuen Dynamikoftmals nicht mithalten . Das heißt, auch wir werden unsdaran gewöhnen müssen, deutlich schneller regulatorischzu arbeiten, wenn wir die Chancen der Digitalisierungumsetzen wollen .Dazu gehört auch, dass wir den Glasfaserausbau zu-sätzlich beschleunigen . Wir haben mit 4 Milliarden Euroin dieser Wahlperiode ein Glasfaserprogramm auf denWeg gebracht, das dazu führt, dass wir dieses Land mitüber 200 000 Kilometer Glasfaser ausbauen . Aktuell istdies bereits mit dem dritten Förderaufruf zugesagt . Dervierte Förderaufruf ist gerade in Vorbereitung . Dadurchwird eine weitere knappe Milliarde Euro an Fördermit-teln in die Kommunen fließen.Wir haben übrigens mit der Netzallianz DigitalesDeutschland, in der alle innovations- und investitions-willigen Unternehmen gebündelt sind, eine Vereinba-rung getroffen, dass aus der Wirtschaft heraus jedes Jahr8 Milliarden Euro in den Glasfaserausbau, in das schnelleBreitbandnetz, investiert werden .Hinzu kommt, dass wir nicht nur das kabelgebundeneschnelle Netz brauchen, sondern wir brauchen auch 5G,also das schnellste Mobilfunknetz der Welt .
5G ist Echtzeitkommunikation . Wir sind das erste Landin Europa, das die nötigen Frequenzen dafür im nächs-ten Jahr ausschreiben wird und damit auch die Chancehat, bis zum Jahr 2025 einen flächendeckenden 5G-Echt-zeit-Mobilfunknetzausbau zu erreichen . Um dies einmalin Zahlen zu sagen: Wir haben in dieser Wahlperiode dieZahl der Glasfaser- und Breitbandanschlüsse um 25 Pro-zent steigern können, sodass wir in Europa inzwischendie höchste Dynamik beim Glasfaserausbau und Breit-bandausbau haben .Das automatisierte Fahren wird das nächste zentraleProjekt bei der Digitalisierung sein . Ob wir mit der Au-tomobilindustrie in Zukunft in der Welt wirtschaftlich er-folgreich sein können, hängt sehr stark davon ab, ob wirautomatisiertes Fahren als Spitzentechnologie umsetzenkönnen . Wir haben dazu eine ganze Reihe von Maßnah-men ergriffen, zum Beispiel das „Digitale Testfeld Auto-bahn“ auf der A 9 in Bayern eingerichtet – ein Leucht-turmprojekt weltweit, die einzige Straße auf der Welt, dieeine eigene Intelligenz hat, die eine eigene Sensorik hat,die Daten erfasst, sodass eine Kommunikation mit denFahrzeugen möglich ist . Diese Strecke wird heute voninternationalen Unternehmen, auch ausländischen inter-nationalen Unternehmen, genutzt,
um die digitalen Techniken, um automatisiertes Fahrenweiterzuentwickeln, einzelne Produkte zu testen – unddas im Realverkehr, nicht auf irgendeinem Testfeld imabgeschlossenen Raum. Der Test findet im Realverkehrstatt und bietet deswegen optimale Möglichkeiten, dieseTechnologien weiterzuentwickeln .Wir haben es als erstes Land der Welt geschafft – dasmeine ich mit „Wir müssen diesen Maßnahmen auchregulatorisch folgen“ –, ein Gesetz zum automatisier-ten Fahren zu verabschieden . Wir sind die Ersten, diees geschafft haben, dass der Computer als Fahrer demMenschen als Fahrer rechtlich gleichgestellt wird . Damithaben wir einen Meilenstein gesetzt, der zurzeit auf derganzen Welt beobachtet wird und für den es viele Nach-ahmer geben wird . Man wird diese regulatorischen Maß-nahmen, diese gesetzgeberischen Maßnahmen genau soumsetzen, wie wir es getan haben .Die zentrale Frage ist: Wie geht es mit diesen Thema-tiken weiter? Wie entwickelt man jetzt eine Agenda 2017plus? Dabei ist die Frage im Raum: Wie organisiert manhier die Zuständigkeiten in der Regierung, wenn es da-rum geht, schneller zu werden? Ich betone ausdrücklich,dass wir mit dem Innenminister und mit der Wirtschafts-ministerin exzellent zusammengearbeitet haben . Es warein gutes und sehr ergebnisreiches Zusammenwirken andieser Stelle; das muss man sagen .Aber die Tatsache, dass Digitalisierung ein ressort-übergreifendes Thema ist, darf uns nicht davon abhalten,Bundesminister Alexander Dobrindt
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die Kompetenzen zu bündeln . In den 80er-Jahren hat esdie Diskussion gegeben, ob man ein Umweltministeriumeinrichtet . Einige haben gesagt: Das ist ressortübergrei-fend . Jeder muss sich um Umwelt kümmern . Deswegenbraucht man kein eigenes Ministerium . – Meine Damenund Herren, man hat sich damals aber richtig entschiedenund hat die Kompetenzen für Umwelt in einem Minis-terium gebündelt . Deswegen kann ich an der Stelle nursagen: Es ist auch richtig, die Kompetenzen für Digitali-sierung zukünftig in einem Ministerium zu bündeln .Herzlichen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Tabea Rößner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Schön, dass Sie sich darüber freuen, Herr Kauder . –Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war ein-mal ein digitales Wunderland namens Deutschland . Dorthatten alle Menschen schnelles Internet . Ihre digitalenVerbraucherrechte wurden gewahrt . Alle Alltagsaktivi-täten ließen sich unkompliziert und sicher auch onlinedurchführen . Alle lebten glücklich bis ans Ende ihrerTage .
Genauso märchenhaft liest sich der Legislaturbericht Di-gitale Agenda: Alles ist schön . Alles ist super .Im Index für digitale Wettbewerbsfähigkeit dagegensteht Deutschland nur auf Platz 17 – hinter Australien,Neuseeland und Österreich . Die Untersuchung hat erge-ben, dass es in Deutschland vor allem an der richtigenEinstellung mangelt, dass die Bereitschaft fehlt, die digi-tale Transformation auch wirklich anzugehen .Ich kann Ihnen auch ein Beispiel dafür geben, wo esan der richtigen Einstellung mangelt . Das ist beim Glas-faserausbau der Fall, Herr Dobrindt. Da befinden wir unsnämlich noch im Dornröschenschlaf; denn Ihr Bundes-breitbandförderprogramm, das Sie immer präsentierenund als Erfolg feiern,
setzt die falschen Anreize .
Sie haben sich von der Telekom umgarnen lassen undfördern vor allem Vectoring . Deshalb belegt Deutschlandbeim Glasfaserausbau in Europa den vorletzten Platz .
Das Ärgerliche daran ist: Es wäre so vermeidbar gewe-sen, meine Damen und Herren .
Sie rühmen sich ja wie das tapfere Schneiderlein undschreiben „50 auf einen Streich“ auf Ihre Schärpe . Siesind so stolz darauf, dass inzwischen 75 Prozent derHaushalte Zugang zu 50 Mbit/s haben, dass Sie ein paarzentrale und wichtige Punkte völlig verschweigen .Erstens . 50 Mbit/s ist weiß Gott kein ambitioniertesZiel, das uns in die digitale Zukunft befördert . Alle wis-sen es bereits heute: Diese Übertragungsrate wird schonbald nicht mehr ausreichen . Übrigens, Herr Dobrindt: 5Ggeht eben auch nur mit Glasfaser .
Zweitens . Viele Menschen bekommen gar nicht dieBandbreite, die die Unternehmen ihnen versprechen . Dashat ja auch die Untersuchung der Bundesnetzagentur sehrdeutlich gezeigt .Und drittens sollten die Menschen im ländlichenRaum ehrlicherweise dann auch gesagt bekommen, dasssie auf ihre Breitbandanbindung wohl noch lange wer-den warten müssen . Denn zur Wahrheit gehört, dass derAusbau bei den restlichen 25 Prozent der Haushalte be-sonders schwierig wird und auch sehr lange dauern wird .Also: Brüsten Sie sich nicht mit einem Ziel, das Sienächstes Jahr ganz sicher nicht erreichen werden; denndas ist den Menschen und den Unternehmen im Land ge-genüber keine ehrliche Politik .Vor diesem Hintergrund musste ich doch sehr schmun-zeln, als ich diese Woche erfuhr, dass das kleine Dorf Wa-cken Schützenhilfe ausgerechnet vom Heavy-Metal-Fes-tival bekommt . Die Festivalleitung hat nämlich Glasfaserauf dem Festivalgelände verlegen lassen und dazu er-klärt, sie sehe das als nachhaltige Investition in die Infra-struktur des Eventstandortes Wacken . Mal ehrlich: Wenndie Menschen auf einem der größten Open-Air-FestivalDeutschlands eine Internetverbindung haben, von der siezu Hause oder in ihrem Betrieb nur träumen können unddie Heavy-Metal-Szene mehr für eine nachhaltige Infra-struktur tut als die Bundesregierung, dann läuft doch hieretwas verdammt schief .
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wer-den Ihren eigenen Ansprüchen nicht einmal im Ansatzgerecht . Auch in anderen Bereichen der Digitalen Agen-da ist vieles nicht Gold, was glänzt . Dabei hat die En-quete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“schon so viele Punkte benannt, die Sie nur fleißig hättenabarbeiten müssen . Stattdessen verzetteln Sie sich weiterim Zuständigkeitschaos, und die Bund-Länder-Kommis-sion zur Medienkonvergenz hat leider auch nichts Weg-weisendes hervorgebracht .Das jüngste Urteil zum virtuellen Erbe rund um Fa-cebook-Daten zeigt exemplarisch: Die UnstimmigkeitenBundesminister Alexander Dobrindt
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der derzeitigen Gesetzgebung müssen wieder einmal dieGerichte klären, weil Sie es nämlich verpasst haben, dierichtigen Weichen zu stellen und mit den Ländern zusam-men endlich auf die drängenden Fragen unserer Zeit dienotwendigen Antworten zu finden – und das, obwohl vie-le Leute das immer wieder angemahnt haben .
Oder nehmen wir das offene WLAN und die Störer-haftung: Fehlanzeige! Das IT-Sicherheitsgesetz – Kol-legin Sitte ist darauf eingegangen – ist völlig unzurei-chend . Oder nehmen wir die Marktmacht von einzelnenUnternehmen im Netz . Da haben Sie auch nicht den Mut,etwas zu ändern . Oder nehmen wir das Urheberrecht, dasunsägliche Leistungsschutzrecht, das Sie trotz Ihres Ver-sprechens nicht einmal evaluiert haben . Es ist bezeich-nend, dass der Justizminister heute bei dieser Debattenicht dabei ist . Das wäre nämlich notwendig .Ich sage noch ein Reizwort des Jahres, nämlich Netz-werkdurchsetzungsgesetz . Wir sind uns ja in den Grund-sätzen einig: Auf strafrechtlich relevante Äußerungenund gezielte Desinformationskampagnen im Netz müs-sen wir Antworten finden. Aber mit dem vorliegendenGesetz haben Sie ein Papier aus dem Hut gezaubert, daswiederum mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet .
Kein Wunder: Ohne Abstimmung mit den Ländern,die doch bereits mit dieser Materie befasst sind und Re-gulierungskompetenzen haben, soll dieses Gesetz jetztim Eiltempo durch den Bundestag gejagt werden . Eineso grundrechtsrelevante und komplexe Materie hat wirk-lich eine ernsthafte Befassung verdient . Sie kennen dochalle die Geschichte von Hase und Igel . Manchmal ist esbesser … Na, Sie wissen schon .Liebe Bundesregierung, bei Ihrer Digitalen Agendamögen Sie sich vieles gewünscht haben . Ich muss Sieleider auf den Boden der Tatsachen zurückholen . Jetzt istes an der Zeit, das Märchenbuch zuzuschlagen und sichendlich auch den unangenehmen Wahrheiten zu stellen .Vielen Dank .
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Saskia Esken
das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchtemich auf zwei für das Gelingen des digitalen Wandelsbedeutende Felder konzentrieren, in denen wir der inter-nationalen Entwicklung schon viel zu lange und nach-weislich hinterherhinken: die digitale Bildung und diedigitale Verwaltung .Die Unterschiede in den digitalen Kompetenzen derMenschen haben die fatale Tendenz, sich selbst zu ver-stärken und sich zu einer digitalen Spaltung unserer Ge-sellschaft auszuweiten . Digitale Bildung gilt deshalb zuRecht als der Schlüssel zur souveränen Teilhabe an denChancen des digitalen Wandels, aber auch zur Bewälti-gung seiner Herausforderungen, und zwar für alle Men-schen .Im Kompetenzbereich des BMBF brauchte es einenAuftrag des Parlaments, und die Länder mussten vorle-gen, damit die Digitale Agenda Fahrt aufnehmen konnte .Im Jahr 2016 hat die Kultusministerkonferenz in großerOffenheit die Strategie „Bildung in der digitalen Welt“erarbeitet . Ministerin Wanka hat mit dem Digitalpakt einInvestitionsvorhaben für die digitale Bildung in Höhevon 5 Milliarden Euro angekündigt
– nein –, zu dessen Finanzierung sie leider auf die kom-mende Legislatur verweisen muss .
– Nein, leider nicht, Herr Kollege Schipanski .Dass es dennoch gelungen ist, zur Umsetzung IhrerBild-am-Sonntag-Idee Eckpunkte mit den Ländern zuvereinbaren, ist ein erstaunlicher Erfolg . Es ist ein Er-folg der konzeptionellen Vorarbeit der KMK, und es istein Erfolg der SPD-Fraktion, die mit Ihrer Positionierungund mit detaillierten Nachfragen darauf gedrungen hat,das Vorhaben zu präzisieren und voranzutreiben .
Es wird nun – wieder auf Basis der KMK-Strategie –ein gemeinsames Vorgehen möglich, das Schulen bei derGestaltung des digitalen Wandels entsprechend unter-stützt . Während die Pläne des BMBF über die Einrich-tung von WLAN-Hotspots kaum hinausgingen, könnennun auch Server und Lernplattformen finanziert werden,ja sogar – man höre und staune – Onlinefortbildungsan-gebote für Lehrkräfte .
Weil wir anders lernen müssen, um anders zu lebenund anders zu arbeiten, brauchen die Schulen beim Wan-del ihrer Pädagogik und Organisation aber auch die Un-terstützung und Kooperation außerschulischer Partner .Das muss gefördert werden . Dazu kommen die Förde-rung frei zugänglicher digitaler Lernmittel und die Stan-dardisierung und Vernetzung digitaler Lernplattformen .Dafür wollen wir uns auch in Zukunft einsetzen .Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch bei in-ternationalen Vergleichen zur digitalen Verwaltung müs-sen wir uns immer wieder vorführen lassen . Der Herr Mi-nister hat es eingeräumt . Auch hier ist er, aber auch seinMinisterium, leider wenig ambitioniert gewesen
Tabea Rößner
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und hat er sich vom Parlament und insbesondere von derSPD-Fraktion zum Jagen tragen lassen .
Bis die Vorhaben Wirkung zeigen, die nun auf den letztenMetern der Wahlperiode in Angriff genommen werden,wird leider noch einige Zeit ins Land gehen .
Die Offenlegung der Daten der Verwaltung birgt inno-vative Potenziale für Gesellschaft und Wirtschaft – daskann man in den Studien der Stiftungen, die Ihnen nahe-stehen, nachlesen –, aber auch für die Verwaltung selbst .Ein Gesetz für Open Data hat das Innenministerium aufDrängen der SPD-Fraktion jetzt endlich vorgelegt .
Der Beitritt Deutschlands zur Open Government Part-nership, eine Vereinigung von Ländern zur Entwicklungvon Aktionsplänen für mehr Offenheit und Transparenzvon Regierung und Verwaltung, ist ebenfalls ein wich-tiger Schritt . Der Ende Juni vorzulegende Nationale Ak-tionsplan wird ein umfangreicher Maßnahmenkatalogwerden . Deshalb müssen wir darauf achten, dass für dieUmsetzung die notwendigen Mittel und Strukturen be-reitgestellt werden . Schließlich haben sich mit dem ge-rade gestern beschlossenen Onlinezugangsgesetz in letz-ter Minute – der Minister hat es eingeräumt – Bund undLänder zur Digitalisierung ihrer Verwaltungsangeboteverpflichtet und die Bündelung in einem Portalverbundverabredet . Dienstleistungen der Verwaltung sollen künf-tig – bis auf wenige Ausnahmen, der Kollege Janecek hatein Beispiel genannt – selbstverständlich online und auseiner Hand angeboten werden .Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehr-ten Damen und Herren, die SPD versteht den digitalenWandel als zentrale politische Gestaltungsaufgabe . Undwie jeder technologische Fortschritt muss gerade auchdie Digitalisierung den Menschen dienen und ihr Le-ben verbessern . Das Gelingen des digitalen Wandels istentscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Lan-des – das ist richtig – und damit für die Beschäftigung,aber auch für die gesellschaftliche Entwicklung und fürden Zusammenhalt in Deutschland .Wir von der SPD-Fraktion wollen deshalb die ver-schiedenen Punkte der Digitalen Agenda in der Zukunftnoch stärker bündeln und zu einer umfassenden Digitali-sierungsstrategie weiterentwickeln .Vielen Dank .
Das Wort erhält nun die Kollegin Nadine Schön fürdie CDU/CSU-Fraktion .
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Tatist in den letzten vier Jahren sehr viel passiert in punctoDigitalisierung . Was mich ein bisschen verwundert, ist,dass keiner der vielen Redner, die heute vor mir gespro-chen haben, auf die gesellschaftlichen Veränderungeneingegangen ist .
In der Gesellschaft hat sich doch sehr viel verändert .Derzeit wird in der Gesellschaft öffentlich auch überThemen wie Filterblasen, Echobunker und die Machtvon Algorithmen diskutiert . Auch die Frage, wie die Di-gitalisierung meinen Arbeitsplatz beeinflusst – versteheich die Maschinen, mit denen ich arbeite, oder verstehendie mich, und wer hat eigentlich die Gewalt darüber? –,ist eine elementare Frage, auf die wir als Politik eine Ant-wort geben müssen . Das Thema Digitalisierung betrifftund interessiert mittlerweile jeden . Das nehme ich inmeinem Wahlkreis vor Ort wahr . Das Thema treibt jedenum: Von der Oma bis zum Enkel hat jeder Fragen zumThema Digitalisierung . Die Fragen lauten: Welche Kom-petenzen muss ich mir aneignen? Wie bewege ich michkompetent und souverän in einer digitalen Welt, und washeißt diese Entwicklung für mich persönlich? – Das sindelementare Fragen, die wir uns alle stellen .In den letzten vier Jahren ist sehr viel passiert . DieDiskussion hat sich ganz entscheidend verändert . Es wirdviel fundamentaler, viel aufgeklärter und viel bewussterdiskutiert . Auch das ist eine Folge der Digitalen Agenda,die wir als Politik angestoßen haben .In der Wirtschaft hat sich viel getan . Digitalisierungbedeutet einen fundamentalen Wandel, und zwar nichtnur im Sinne einer Prozessoptimierung, sondern siebringt auch komplett neue Geschäftsmodelle und kom-plett neue Wertschöpfungsketten mit sich . Es gibt dis-ruptive Entwicklungen, die ganze Branchen plötzlichumwälzen . Auch im Start-up-Bereich, wo wir in denletzten Jahren massiv aufgeholt haben, lautet das großeSchlagwort nicht mehr nur B2C, sondern es geht auchum die Frage, wie Unternehmen untereinander besser ko-operieren können, also B2B, Start-ups und die klassischeIndustrie . Es geht um die Frage, wie die Unternehmendigitalisiert werden können, um Wohlstand und Wert-schöpfung in unserem Land zu sichern .Wir haben neben der wirtschaftlichen und der ge-sellschaftlichen Debatte natürlich auch eine politischeDebatte . Dazu ist sehr viel gesagt worden . Mit der Di-gitalen Agenda haben wir ein Gesamtkonzept . KollegeKlingbeil, für die Digitale Agenda tragen nicht nur dreiMinisterien die Verantwortung . Sie betrifft alle Ressorts .Es gibt drei federführende Ministerien; aber jedes Minis-terium trägt seine Verantwortung . An dieser Stelle möch-te ich auf die Debatte heute Morgen eingehen, darauf,Saskia Esken
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dass gesagt wurde, die SPD-geführten Ministerien hättenalles ganz toll und richtig gemacht,
und die CDU-geführten Ministerien hätten nichts ge-macht:
Ganz ehrlich, das nimmt Ihnen doch wirklich keiner ab .Lassen Sie uns doch gemeinsam dazu stehen, dass wir indiesen vier Jahren viel erreicht haben .
Wenn Sie sich einmal anschauen, wo wir die größtenFortschritte erzielt haben, dann stellen Sie fest, dass dasder Bereich IT-Security ist . Als erstes Land haben wireine Cybersicherheitsstrategie . Wir haben als erstes Landein IT-Sicherheitsgesetz, das jetzt Vorbild ist für die eu-ropäische Richtlinie .
Wir haben massiv in Forschung investiert . Gerade ersthaben wir ein Helmholtz-Zentrum in meinem Heimat-land, im Saarland, gegründet . Im Endausbau wird das diegrößte Forschungseinrichtung zur IT-Sicherheit weltweitsein . Damit sind Maßstäbe gesetzt worden . Die Ministerde Maizière und Wanka – CDU-Minister, wenn Sie esgenau wissen wollen – haben ganz klare Schwerpunktegesetzt . Das wird das Land und die Diskussion über dasThema in den nächsten Jahren komplett verändern .
Beim Thema Breitbandausbau sind wir ein Riesen-stück vorangekommen . Der Minister hat darauf hinge-wiesen, dass derzeit 4 Milliarden Euro verbuddelt wer-den . Sie werden vielleicht fragen: Wieso merke ich dasnoch nicht bei mir vor Ort? – Na ja, weil die vielen Pro-jekte in den Kommunen gerade erst anlaufen . Die Baggerrollen . Das Ganze nahm halt eine gewisse Planungszeitin Anspruch; aber derzeit passiert hier eine ganze Men-ge, und zwar im Bereich Glasfaser, nicht nur Kupfer . Wirsollten wirklich ehrlich sein und nicht versuchen, denMenschen ein X für ein U vorzumachen .Kollegin Esken, im Bereich der digitalen Bildung ha-ben wir ein Gesamtkonzept entwickelt . Es ist schön, dassSie als SPD-Fraktion begrüßen, was Frau Wanka hierzumit den Ländern verhandelt hat . Auch das wird Maßstäbesetzen . Aber ich sage Ihnen: Hier sind auch die Länderund Kommunen verantwortlich . Bildung ist Länder-aufgabe . Die SPD hat in den Ländern an vielen StellenVerantwortung getragen, sie hat die Bildungsminister ge-stellt, und ich kann nicht feststellen, dass in den SPD-ge-führten Häusern in den Ländern sehr viel passiert ist .Ich habe gerade einen Koalitionsvertrag zum ThemaBildung verhandelt . Vorgefunden habe ich ein Konzeptzur digitalen Bildung, das sich rein um das Thema Me-dienkompetenz gedreht hat . Medienkompetenz ist wahn-sinnig wichtig, aber es geht doch darum, die Schüler vonheute fit zu machen und auf das vorzubereiten, was sie ineiner digitalisierten Arbeitswelt erleben .
Wir müssen sie fit machen für einen digitalisierten All-tag . Dazu braucht es ein technisches Grundverständnisvon dem, was in einer digitalen Welt passiert . Das mussschon in den Schulen vermittelt werden; denn nur so ma-chen wir unsere Jugend fit für das, was sie auf dem Ar-beitsmarkt erwartet .Wir haben eine ganze Menge geschafft, wir habenaber auch noch eine ganze Menge zu tun . Das Thema„Digitaler Staat“ ist erwähnt worden . Wir müssen hiermehr als Vorbild fungieren .
Mit der Einführung eines Bürgerkontos, das wir geradegestern beschlossen haben, haben wir einen Meilensteinerreicht . Auch das wurde vom Bundeskanzleramt getra-gen, gepusht und in die Verhandlungen mit den Länderneingebracht . Es ist unsere Aufgabe für die nächsten Jah-re, hier einen guten Schritt voranzukommen .Wir als Politik können die Rahmenbedingungen fürdie Themen „Digitaler Staat“, „Digitale Bildung“ unddie Beantwortung der Frage, wie wir weiter dafür sor-gen können, dass Start-ups, aber eben auch der klassischeMittelstand und unsere Industrie wachsen und die digita-le Transformation schaffen, setzen . Das tun wir . Deshalbfreue ich mich auf die gemeinsame weitere Arbeit zu die-sem wichtigen Themenfeld .
Der Kollege Reichenbach hat nun das Wort für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ErlaubenSie mir, heute meinen Beitrag etwas persönlicher undgrundsätzlicher zu gestalten . Mit dem Ende der Legisla-turperiode geht für mich auf eigenen Wunsch auch meine22-jährige Parlamentstätigkeit im Hessischen Landtagund hier im Deutschen Bundestag zu Ende . Ich war Mit-glied im Innenausschuss, stellvertretender Vorsitzenderder Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-schaft“, und derzeit bin ich stellvertretender Vorsitzen-der des neuen Ausschusses Digitale Agenda und kanndaher sagen: Das Thema Digitalisierung hat die letztenvier Legislaturperioden stark geprägt . Die drei ThemenIT-Sicherheit, kritische Infrastruktur und Schutz der per-sonenbezogenen Daten im Verbraucherschutz habe ichals Berichterstatter besonders bearbeitet .Es ist beschrieben worden: Das Thema Digitalisierungdehnt sich immer weiter in alle Lebensbereiche aus . Fürdiesen Prozess und die damit verbundenen Chancen – derNadine Schön
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Minister hat es angesprochen – ist ein Punkt entschei-dend, und das ist das Thema Vertrauen . Die zwei wesent-lichen Pfeiler von Vertrauen sind die Sicherheit und derSchutz der eigenen personenbezogenen Daten vor Miss-brauch oder vor überbordender Ausspähung .Trotz aller Kritik: Ich glaube schon, dass wir in derLegislaturperiode, die jetzt abläuft, in beiden Bereichenwichtige Schritte gemacht haben . Wir haben das IT-Si-cherheitsgesetz auf den Weg gebracht, die NIS-Richtlinieumgesetzt, und wir haben eine ganze Reihe anderer Maß-nahmen zur Verbesserung der IT-Sicherheit ergriffen . ImZuge der Verhandlungen und mit der Verabschiedung derDatenschutz-Grundverordnung auf europäischer Ebeneund des Anpassungsgesetzes auf nationaler Ebene habenwir auch in dem zweiten Bereich einen Meilenstein er-reicht . Unternehmen beginnen bereits, diesen Standort-vorteil zu nutzen; ich erinnere nur an die deutsche Cloud .Alle diese Herausforderungen werden uns auch in Zu-kunft begleiten, wahrscheinlich noch sehr viel stärker .Von IT und Kommunikation hängt in immer höheremMaße die Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft ab:von der Sicherheit von Eigentum und Leib und Leben bishin in den privaten Bereich der Bürger . Wenn wir Sicher-heit nicht ausreichend garantieren, dann werden von je-der Stelle der Welt dieser Staat, seine Funktionsfähigkeit,aber auch die Sicherheit jedes Einzelnen angreifbar undzerstörbar sein . Ich sage allen, die nicht müde werden,täglich nach schärferen Sicherheitsgesetzen zu rufen:Hier liegt die eigentliche Herausforderung für den Schutzund die Sicherheit unserer Bürger .
Die zweite große Herausforderung liegt in den immerumfassenderen Daten . Darin liegt eine große Chance,aber auch ein Potenzial zum Machtmissbrauch . Es wer-den viele Daten anfallen . Diese beinhalten Details überdie intimsten Bereiche, über unsere Gesundheit und un-sere tägliche Lebensführung und selbst über unsere Le-bensbiografien. Die Konzentration dieser Daten in denHänden von wenigen bietet riesige Chancen, aber auchdas Potenzial zum Machtmissbrauch . Der Schutz dieserDaten ist mit den Fragen verbunden, ob es uns gelingt,hier ethische Werte und Richtlinien durchzusetzen undArtikel 1 des Grundgesetzes – den Schutz der Würde desMenschen – in Zukunft weiterhin zu gewährleisten . Eswird sich auch die Frage stellen, ob es uns gelingt, dieWerte unserer Demokratie wie Gleichberechtigung undauch die Teilhabe zu sichern . Wenn wir nicht aufpassen,dann wird die Spaltung der Gesellschaft auch im digita-len Bereich zu einer Spaltung führen, und zwar zwischendenen, die die Digitalisierung beherrschen, und denen,die von der Digitalisierung beherrscht werden . Das ist einThema, das gerade uns Sozialdemokraten umtreibt .Lassen Sie mich am Schluss Dank sagen . Ich dankemeinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Büro . Siehaben über Jahre hinweg meine Arbeit begleitet und un-terstützt . Wir alle wissen, dass wir ohne diese Mitarbeiternur wenig zustande bringen würden .
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen in den Aus-schusssekretariaten, den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern in der Fraktion und Ihnen allen, meinen Fraktions-kolleginnen und -kollegen, aber auch den Kolleginnenund Kollegen, mit denen ich über die Fraktionsgrenzenhinweg zusammenarbeiten durfte . Dass dies nicht immerim Konsens geschehen konnte, liegt im Grundwesen un-serer pluralen Demokratie . Mein Dank gilt meinen Wäh-lerinnen und Wählern und den Mitgliedern meiner Partei,die mich unterstützt haben . Mein ganz besonderer Dankgilt meiner Frau, die mich in meinem ganzen politischenLeben – von Juso-Zeiten an – begleitet, unterstützt, aberauch kritisiert hat .
Für mich selbst bleibt am Ende der Wunsch, dass manauch über mich einmal sagen wird: Er hat sich stets red-lich bemüht .
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Die Aussicht auf dieses Testat, Herr Kollege
Reichenbach, scheint relativ gut zu sein . Jedenfalls wird
das durch die Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen
deutlich . Ihnen alle guten Wünsche für die Zukunft .
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Jarzombek
für die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glau-be, in dieser Debatte wurde schon umfangreich erklärt,wie viel wir mit der Digitalen Agenda in dieser Legis-laturperiode geschafft haben . Ich erinnere nur an die4,5 Milliarden Euro für das Breitbandförderprogramm,an die Milliarden für die Start-ups und an unser großesIT-Sicherheitsgesetz; dazu hat das Kabinett übrigens amvergangenen Mittwoch den zweiten Korb verabschiedet .Wir haben in vielen Bereichen geliefert . Der Bundesin-nenminister hat im Zusammenhang mit den Bund-Län-der-Finanzbeziehungen auch das Thema der einheitlichenPortalstandards angesprochen . Wir haben in der letztenSitzungswoche – mir persönlich war das ein großes An-liegen – endlich das Open-Data-Gesetz verabschiedet .Heute ist auch der Zeitpunkt, darüber zu reden, wasunsere Aufgabe für die nächste Legislaturperiode seinwird . Gestern habe ich mich mit einem jungen Familien-unternehmer aus der Logistikbranche getroffen . Er hat aneinem schönen Beispiel eine der Herausforderungen be-schrieben, vor denen wir stehen . Er hat mir erzählt, dasser in seiner Firma viele Gabelstapler hat und dass man proGabelstapler vier Leute braucht, um diese durchgehendzu betreiben . Inzwischen gibt es Gabelstapler, die alleinefahren können . Er sagte mir, dass das für ihn ein riesigerGerold Reichenbach
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Vorteil wäre . Allerdings hat er mehrere Hallen, die mit-einander verbunden sind, und zwischen all diesen Hallengibt es Tore. Die Berufsgenossenschaft hat die Auflagegemacht, dass er diese selbstfahrenden Gabelstapler nureinsetzen darf, wenn er jedes Tor zu einem smarten Torumrüstet, damit es mit den Gabelstaplern kommuniziert .Es könnte nämlich passieren, dass ein Brand entsteht, derGabelstapler auf eines der Tore zufährt, nicht versteht,dass sich dieses Tor gerade schließt, und es so blockiert .Dadurch könnte der Brand überschlagen . Kostenpunktfür die Umrüstung: 100 000 Euro . Seine Entscheidung:Selbstfahrende Gabelstapler setzt er nicht ein .Dieses Beispiel zeigt ziemlich deutlich die Problemeauf . Es sind meines Erachtens zwei Probleme . Das eineist, dass wir Deutschen nach wie vor extrem gut darinsind, Prozesse, bevor sie eingeführt werden, so lange zudenken, bis wir ganz sicher auf Probleme stoßen, die eineEinführung unmöglich machen . Ich nenne exemplarischdie Diskussion über die Maschinensteuer nach dem Mot-to: „Da bald Millionen von Arbeitsplätzen entfallen wer-den und Maschinen keine Lohnsteuer und keine Einkom-mensteuer zahlen, müssen wir eine Steuer auf Maschinenerheben und am besten auch noch ein bedingungslosesGrundeinkommen einführen .“ Das ist der falsche Weg .So werden wir keine einzige dieser Maschinen einführen .Diese Maschinen werden woanders ihren Dienst tun, unddie Arbeitsplätze werden gerade bei uns wegfallen .Das zweite Problem ist: Wir müssen den Menscheneine Perspektive aufzeigen, wie es mit ihren Jobs auchnach der Digitalisierung weitergeht . Das ist ein ganz ent-scheidender Punkt . Deshalb brauchen wir eine Weiterbil-dungsrepublik Deutschland . Jeder dieser Gabelstapler-fahrer hat nämlich eine Perspektive, auch wenn er nichtmehr auf dem Gabelstapler sitzt . Er kann zum BeispielFernfahrer werden . In dem gleichen Gespräch, das ich ge-rade angesprochen habe, habe ich nämlich erfahren, dasses einen riesengroßen Mangel an Fernfahrern gibt, dasses hier ein riesengroßes Nachwuchsproblem gibt . EineWeiterqualifizierung ist aber in drei Monaten möglich.Jeder Mensch in Deutschland braucht für sich persönlicheine konkrete Weiterbildungsperspektive, und zwar aufeine Weiterbildung auch auf digitalem Weg . Wir werdendas alles nicht über Präsenzkurse organisieren können .Das ist aus meiner Sicht ein ganz zentraler Punkt .Wir müssen beim Thema Digitalisierung auch in dieSchule hinein . Vorhin habe ich es noch nicht genannt:Die Bundesministerin für Bildung und Forschung hatden DigitalPakt#D mit 5 Milliarden Euro auf den Weggebracht .Ich habe in dieser Woche in Nordrhein-Westfalen amKoalitionsvertrag das Kapitel Digitalisierung mitverhan-delt .
– Das ist keine Drohung . – Wir treffen auf ein Bildungs-system, das noch immer so aussieht wie vor 15 Jahren .Das darf so nicht sein . Die Enquete-Kommission hatin der letzten Wahlperiode beschlossen, jeder Schülerund jede Schülerin brauche ein eigenes Tablet . In Nord-rhein-Westfalen gab es einmal das tolle Programm „Je-dem Kind ein Instrument“ . Denn jedes Kind, das keinInstrument lernt, kann gar nicht feststellen, ob es musi-kalisch begabt ist . Jetzt müssen wir in Deutschland dasProgramm „Jedem Kind eine Zeile Code“ starten . Dennein Kind, das nicht wenigstens auf dem Basisniveau ein-mal Programmieren gelernt hat, kann nicht nur nicht fest-stellen, ob es Talent hat, sondern wird vor allem in dieserWelt von Echokammern, Facebook und all diesen Algo-rithmen überhaupt nicht begreifen, was mit ihm passiert,und wird diese Dinge nicht kritisch hinterfragen können .Wir müssen beim Thema Produktsicherheit eine Men-ge machen . Die Videokameras, die an jeder Ecke gekauftwerden können und die kaum Sicherheitsstandards erfül-len, sind ein wichtiges Thema . Hierzu haben wir schoneinen Entschließungsantrag ausgearbeitet . Da müssenwir mit Europa gehen .Wir müssen auch beim Thema Mobilität neue Wegegehen . Das Thema Personenbeförderungsrecht wurdehier schon angesprochen .Zum Schluss möchte ich den Dank des KollegenKlingbeil erwidern und ihm für die gute Zusammenarbeitin dieser Koalition danken . Ich glaube, in der nächstenKoalition wird aber noch mehr gehen . Darauf freue ichmich sehr . Ich bin überzeugt, dass der Ausschuss Digi-tale Agenda, der bewiesen hat, dass er viel Kompetenzins Parlament eingebracht hat, nicht nur fortgeführt wird,sondern aufgewertet wird . Darauf freue ich mich sehr .Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Tankred Schipanski von der CDU/CSU-Fraktion er-
hält nun das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die di-gitale Bilanz dieser Legislaturperiode kann sich sehenlassen . In allen sieben Handlungsfeldern der DigitalenAgenda haben wir wichtige Fortschritte gemacht, dasalles begleitet vom jüngsten Bundestagsausschuss, demAusschuss Digitale Agenda .Meine Vorredner sind schon auf viele Bereiche einge-gangen . Ich möchte mich daher auf den Bereich Wissen-schaft, Forschung und Bildung konzentrieren . Liebe FrauSitte, das ist ein Bereich, wo Sie die Digitale Agenda je-den Tag spüren können . Bildung und Forschung sind derSchlüssel, um die Potenziale des digitalen Wandels fürdie Menschen und für unsere Wirtschaft zu erschließen .Die beste Antwort auf die Sorge, dass in Zukunft mitder Digitalisierung bestimmte Arbeitsplätze wegfallen,ist nicht die Verzweiflung, sondern ist Bildung. Wir wol-len erreichen, dass Menschen aller Altersklassen die ent-sprechend notwendigen Schlüsselkompetenzen erwerbenkönnen .Nadine Schön und Thomas Jarzombek haben bereitsden sogenannten DigitalPakt#D, die Bund-Länder-Ver-Thomas Jarzombek
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einbarung, angesprochen . Der fußt auf einem Koaliti-onsantrag, liebe Frau Esken, den wir im Bildungs- undForschungsausschuss im März 2015 beschlossen und aufden Weg gebracht haben . Es wurde gesagt, dass der Bunddafür 5 Milliarden Euro in die Hand nimmt . Gestern gabes eine Pressekonferenz, auf der die Eckpunkte dieserBund-Länder-Vereinbarung vorgestellt wurden . Ich hät-te mir gewünscht, dass auch die Länder sagen, wie vielGeld sie für ihren Kernbereich, ihre Kernaufgabe in dieHand nehmen . Das machen sie jedoch nicht, sondern sieverlassen sich bei der Finanzierung einzig und allein wie-der einmal auf den Bund .
Lars Klingbeil hat gesagt, die Kooperation haut nichtordentlich hin . Für den Digitalpakt gilt Artikel 91cGrundgesetz . Eine Grundgesetzänderung ist nicht nötig,damit hier Bund und Länder ordentlich zusammenarbei-ten . Zu dem Vorwurf, warum die 5 Milliarden Euro nochnicht im Haushalt sind, sage ich: Das Ganze ist nochnicht etatreif . Erst dann kann man es in den entsprechen-den Haushalt einstellen .Meine Damen und Herren, mit Blick auf den For-schungsbereich erinnere ich an das gerade neu ausgeru-fene Deutsche Internet-Institut in Berlin, an die Big-Da-ta-Kompetenzzentren in Berlin und Dresden sowie anverschiedenste Forschungsprogramme, die wir im Be-reich des BMBF aufgelegt haben, sei es das Forschungs-rahmenprogramm der Bundesregierung zur IT-Sicher-heit, sei es der Bereich Industrie 4 .0 – da ist das BMBFein absoluter Treiber –, sei es das Forschungsprogrammmit dem Förderschwerpunkt „Mensch-Technik-Interak-tion“, sei es das Forschungsprogramm zur Automatisie-rung und Vernetzung im Straßenverkehr oder das großeRahmenprogramm im Bereich der Mikroelektronik .Ein wichtiges Vorhaben der Digitalen Agenda be-raten wir gegenwärtig noch in diesem Hohen Hause .Daher möchte ich gerne darauf eingehen . Das ist dieEinführung einer Bildungs- und Wissenschaftsschrankeim Urheberrecht . Das ist eine Forderung aus der Enque-te-Kommission . Dies wurde bereits genannt . Sie stehtim Koalitionsvertrag, sie steht in der Digitalen Agendader Bundesregierung und ist natürlich Auftrag aus demKoalitionsausschuss . Ich kann nur festhalten, dass wirDigitalpolitiker hinter dem vorgelegten Gesetzentwurfstehen .
Wir hatten dazu am Montag eine Sachverständigenan-hörung im Rechtsausschuss, und zwar mit einem klarenErgebnis, nämlich dass wir den vorgelegten Gesetzent-wurf brauchen, dass er fortschrittlich ist, dass er ausge-wogen ist . Ich halte fest: Wenn wir diesen Gesetzentwurfnicht mehr auf den Weg bringen, dann werden die digita-len Semesterapparate an den Hochschulen im Septemberabgeschaltet . Das kann niemand in diesem Hause wollen .
Der Gesetzentwurf bündelt die gegenwärtig verstreu-ten und teilweise schwer verständlichen Regelungen,ordnet sie neu und fasst sie klarer . Des Weiteren führt ereinen ausgewogenen Interessenausgleich zwischen denStudierenden und der Wissenschaftslandschaft sowie denUrhebern und Verlegern herbei . Wir diskutieren das jagegenwärtig in intensiver Art und Weise .Einige Presseveröffentlichungen in den letzten Tagenhaben mich fassungslos gemacht, weil sie nicht nur eineunsägliche Kampagne gegen die Wissenschaftsschran-ke fahren, sondern weil teilweise auch noch unwahr ar-gumentiert wird . Ich habe gestern in der FAZ von einer„perfiden Lobbyarbeit der Wissenschaftsverbände“ gele-sen . Es ist beleidigend und schmähend, so etwas vorzu-werfen und zu unterstellen .
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion .
Vielen Dank . – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Legislaturbericht Digitale Agenda 2014bis 2017 der Bundesregierung ist eine gute Gelegen-heit für ein erstes Fazit . Ich möchte es als Vorsitzenderdes Ausschusses Digitale Agenda sehr gern ziehen . DerAusschuss Digitale Agenda ist der jüngste Ausschuss imDeutschen Bundestag, er ist der kleinste Ausschuss imDeutschen Bundestag, und einige sagen, er ist der wich-tigste Ausschuss im Deutschen Bundestag, was ich hieraber nicht weiter bewerten möchte .Wir haben einen Start hingelegt, der in der Tat etwasholprig war; da ging es quer durch alle Fraktionen et-was holprig und etwas ideologisch zu . Es ging zum Bei-spiel darum, ob wir entgegen der Geschäftsordnung, diewir uns selbst gegeben haben, alle Sitzungen öffentlichdurchführen sollten . Aber ich glaube, das gilt nur fürunseren Start . Wir sind dann sehr schnell zu Pragmatis-mus gekommen und haben eine professionelle Arbeit anden Tag gelegt, die dadurch zustande kam – davon binzumindest ich fest überzeugt –, dass alle Mitglieder imAusschuss eine sehr fundierte Grundlage und sehr gro-ßen Sachverstand auf diesem Themengebiet haben undin anderen wichtigen Bundestagsausschüssen zusätzlichMitglied sind . Das hat uns sehr schnell zur Sacharbeitgeführt .Tankred Schipanski
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Wir haben von Anfang an den Anspruch gehabt, diePotenziale der Digitalisierung zu sehen, ohne die übli-chen Scheuklappen und ohne Angst, sondern ganz offen .Wir haben immer gesagt, dass wir die Chancendiskussi-on in den Vordergrund stellen wollen: Welche Chancenbietet die Digitalisierung? Wie können wir durch die Di-gitalisierung das allgemeine Leben in der Gesellschaftverbessern? Das war unser erster Anspruch .Unser zweiter Anspruch – er gehört dazu – bestand da-rin, die Risiken zu erkennen und sie aufzuzeichnen, umsie letztendlich einzudämmen .Unser dritter Anspruch war – ihm ist, glaube ich, amschwierigsten gerecht zu werden –, in Deutschland eineRegulierung vorzunehmen, die etwas unterstützt und er-möglicht, mit der wir aber nicht von Anfang an alles zuTode regulieren; dafür haben wir in Deutschland nämlichein sehr großes Talent . Das wollten wir mit auf den Wegbringen .Es fanden 90 Ausschusssitzungen statt, und sie dauer-ten insgesamt über 150 Stunden . Wir haben darüber hi-naus 22 öffentliche Anhörungen – ich glaube, das ist einziemlich gutes Ergebnis – mit über 100 externen Sach-verständigen durchgeführt; wir haben uns also externenSachverstand in den Ausschuss geholt . Ferner wurdenim Rahmen der Selbstbefassung 31 Fachgespräche mitüber 50 Gästen geführt . Wir hatten Vertreter nahezu allerMinisterien bei uns im Ausschuss, außerdem EU-Kom-missare, Vertreter von Initiativen, von vielen Verbänden,aber auch von Bundesbehörden, zum Beispiel die Bun-desdatenschutzbeauftragte oder Vertreter der Bundes-netzagentur .Es stellt sich die Frage: Hat sich die Einsetzung desAusschusses gelohnt? Ich denke, die Antwort ist ein kla-res Ja . Das Thema ist im Deutschen Bundestag angekom-men; das ist das Wichtigste . Alle Ausschüsse haben sichim Rahmen ihrer Facharbeit mit diesem Thema beschäf-tigt . Die Vorbehalte, die es bei anderen Kollegen, aberauch in anderen Ausschüssen anfangs natürlich gab –es hieß, jetzt gebe es einen neuen Wettbewerb, und wirwürden den anderen etwas wegnehmen –, sind abgebautworden . Jeder Politikbereich hat seine eigenen digitalenFragestellungen . Deswegen ist es wichtig, dass wir so ge-arbeitet haben, wie wir gearbeitet haben .Ein Ausblick . Was passiert in der nächsten Legisla-turperiode und in Zukunft? Ich denke, der AusschussDigitale Agenda ist aus dem Deutschen Bundestag nichtmehr wegzudenken . Oftmals wurde eine Widerspiege-lung angeregt . Wir brauchen eine Widerspiegelung in derBundesregierung . Bei bestimmten Themen sollte auchdie Federführung bei unserem Ausschuss liegen . Ob eseinen Digitalminister geben oder ob eine Koordinierungim Kanzleramt stattfinden sollte, ist mir eigentlich völ-lig gleich . Aber es muss eine gute Koordinierung sein,damit die verschiedenen Aspekte dieses Querschnitts-themas gebündelt werden . Wir müssen uns mehr auf dieNutzbarkeit und das Nutzererlebnis bei der Digitalisie-rung fokussieren und Dienstleistungen, Service sowie dieMöglichkeiten, die es gibt, mehr als bisher in den Vorder-grund rücken . Dazu gehören insbesondere die Lebens-verbesserung und ganz eindeutig auch die IT-Sicherheitgerade bei der kritischen Infrastruktur .Mein Dank geht an alle Mitglieder des Ausschusses .Es war eine sehr angenehme, sehr faire – natürlich sindauch in unserem Ausschuss gelegentlich die Fetzen ge-flogen; das ist doch ganz klar – und sachbezogene Ar-beit . Ich bedanke mich auch bei allen Mitarbeitern in denFraktionen und den einzelnen Abgeordnetenbüros . Ichbedanke mich ebenfalls beim Ausschusssekretariat undbei der Bundesregierung . Die jeweiligen Minister undinsbesondere die Parlamentarischen Staatssekretäre wa-ren in fast jeder Sitzung da und haben immer Wert daraufgelegt, dass wir gute Informationen bekommen .Ich bedanke mich auch für den Welpenschutz, denwir von den anderen Ausschüssen erhalten haben . DieserWelpenschutz ist jetzt aber vorbei .Es ist keine Frage des Ob, sondern eine Frage des Wie,wenn es um die Gestaltung der Digitalisierung geht . Wirmüssen Antworten geben, und ich glaube, die Digitalisie-rung gibt eher Antworten, als dass sie Fragen stellt .Wir betreten bei der Digitalisierung jeden Tag Neu-land . Es gibt Umbrüche, und wir müssen diese nutzen .Wir setzen uns im Deutschen Bundestag an die Spitze derBewegung . Lassen Sie uns etwas Gutes daraus machen!Der Ausschuss Digitale Agenda ist ein gutes Werkzeugdafür .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufder Drucksache 18/12130 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Hat jemandEinwände dagegen? – Das ist nicht der Fall . Dann ist dieÜberweisung so beschlossen .Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:Eidesleistung der Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und JugendDer Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass erheute gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes fürdie Bundesrepublik Deutschland auf Vorschlag der FrauBundeskanzlerin die Bundesministerin für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend, Frau Manuela Schwesig,aus ihrem Amt als Bundesministerin entlassen und FrauDr . Katarina Barley zur Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend ernannt hat .Nach Artikel 64 Absatz 2 des Grundgesetzes leisteteine Bundesministerin bei der Amtsübernahme den inArtikel 56 vorgesehenen Eid . Frau Dr . Barley, ich darfSie zur Eidesleistung zu mir bitten .
Ich bitte Sie, den im Grundgesetz vorgesehenen Eid zuleisten .Jens Koeppen
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Dr. Katarina Barley, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle desdeutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetzedes Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermannüben werde .
Sie haben den im Grundgesetz vorgesehenen Eid ge-
leistet . Ich darf Ihnen für die Übernahme dieses Amtes
alle guten Wünsche – auch des Hauses – mit auf den Weg
geben . Viel Erfolg .
Dr. Katarina Barley, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Vielen Dank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben den guten
Wünschen für die neue Bundesministerin möchte ich auch
der ausgeschiedenen Ministerin, Manuela Schwesig, den
Dank des Hauses für die geleistete Arbeit aussprechen
und ihr alle guten Wünsche für möglicherweise bevorste-
hende neue Aufgaben mit auf den Weg geben .
Vielleicht müssen jetzt nicht alle hier im Plenarsaal
nach vorne zur Gratulation kommen, damit wir in der
Debatte fortfahren können . – Ich darf Sie bitten, wieder
Platz zu nehmen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an EUNAVFOR MED Ope-
ration SOPHIA
Drucksache 18/12491
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat für die Bun-
desregierung Bundesminister Sigmar Gabriel .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir sprechen heute über die Verlängerung desMandats der Operation EUNAVFOR MED Sophia . Dasist zunächst natürlich eine ganz konkrete und spezifischeFrage . Aber ich glaube, dass man sich bei dieser Debat-te bewusst sein muss, dass wir uns in einer Zeit funda-mentaler Verschiebungen in der Welt befinden, in einerZeit, in der alte Gewissheiten in vielerlei Hinsicht nichtmehr gelten: eskalierende Konflikte, instabile Staaten,verstärkte Migrationsbewegungen in Richtung Europa,aber vor allen Dingen auch Migration zwischen armenLändern .Auf der einen Seite gibt es wachsende Unsicherheit .Auf der anderen Seite stellt sich für uns das Problem,dass wir nicht mehr so richtig sehen, wer noch als Partnerin der Welt zur Verfügung steht, um solche Herausforde-rungen menschlich, demokratisch und friedfertig zu lö-sen . Die gestrige Entscheidung der neuen US-Regierungunter Donald Trump, sich aus dem Pariser Klimaschutz-abkommen zu verabschieden, hat natürlich, wenn es inden kommenden Jahren dabei bleibt, die dramatischeKonsequenz, dass dadurch ein Grund mehr für Migra-tion, für Flucht, für Krieg und Bürgerkrieg existiert . Esgeht um Wasser, um das bisschen Land in manchen Regi-onen, auf dem man überhaupt noch etwas anbauen kann .Deswegen geht es oftmals nicht nur um die klassischenGründe für Flucht und Vertreibung, die schlimm genugsind, sondern auch um sehr langfristige Entwicklungenwie den Klimawandel, der Menschen die Lebensgrund-lage nimmt . Deswegen ist das Verabschieden aus eineminternationalen Klimaschutzabkommen gleichzeitig eineAbwendung vom Kampf gegen die Ursachen von Flucht,Vertreibung und Migration. Das ist, finde ich, eine außer-ordentlich schlimme Entwicklung .
Das zeigt eben, dass wir selbst mit dem, was wir früher„den Westen“ genannt haben, bei Themen wie Migrationund deren Ursachen nicht mehr die gleiche Sichtweisehaben und schon gar nicht die gleiche Sprache finden.Europa – das ist die feste Überzeugung der Bundes-regierung – muss sich in Anbetracht dieser Verschiebun-gen dazu aufraffen, mehr Verantwortung für seine eigeneSicherheit und für die Gestaltung internationaler Politikzu übernehmen . Das ist gar nicht so einfach, weil Eu-ropa nicht als weltpolitischer Akteur gegründet wurde,sondern eher nach innen ausgerichtet ist . Wir lernen erst,dass es eine Aufgabe ist, unsere Ideen zur Zusammenar-beit und zur Inangriffnahme der großen Aufgaben undHerausforderungen in der Welt stärker als Europäer undnicht nur als einzelne Mitgliedstaaten vertreten zu müs-sen . Wir brauchen jetzt mehr denn je ein gemeinsames
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und entschlossenes Handeln, um die Herausforderungendurch instabile Staaten in unserer Nachbarschaft, durchFlucht und ungesteuerte Migration zu bewältigen .Zu Beginn dieser Woche hatte ich wesentliche inter-nationale Akteure in diesem Bereich zu Gast: das Flücht-lingshilfswerk der Vereinten Nationen, die InternationaleOrganisation für Migration, die Internationale Föderati-on der Gesellschaften vom Roten Kreuz und vom RotenHalbmond . Alle sagen einhellig: Die Herausforderungen,die wir durch Flüchtlingsbewegungen und Migration er-leben, beginnen erst .Alle sagen einmütig: Wir werden manchmal auchden Einsatz militärischer Mittel brauchen, um Schlim-meres zu verhindern . Aber nirgendwo, in keinem Kon-flikt, werden wir einen Konflikt allein durch militärischeMittel bewältigen und zur Stabilisierung beitragen . Ganzim Gegenteil: Nur Investitionen in Krisenprävention, inVorbeugung, in die Bekämpfung des Hungers und derArmut, nur die Schaffung von Perspektiven bieten dieChance, diese Herausforderung wirklich zu bewältigen .
240 Millionen Menschen, so sagen die Organisa-tionen, sind weltweit in Bewegung . 65 Millionen da-von sind Flüchtlinge . Anders als wir es in Europa undDeutschland manchmal empfinden, finden 90 Prozent alldieser Flucht- und Migrationsbewegungen gerade nichtbei uns, sondern im globalen Süden statt . Das heißt aberdoch nichts anderes, als dass die Hauptlast diejenigentragen, die ohnehin schon arm sind und die es ohnehinschon viel schwerer haben .Dazu kommen die zersetzenden Auswirkungen desHandels mit Menschen als Gesellschaftsmodell für kri-minelle Organisationen und Schleuser, Korruption,schlechte Regierungsführung und natürlich auch Terro-rismus, Waffen- und Drogenhandel . Skrupellos bringenMenschenhändler jeden Tag Menschen auf dem Mittel-meer in Lebensgefahr .Die EUNAVFOR MED Operation Sophia soll – dasist ihre zentrale Aufgabe – den Schleusern das menschen-verachtende Handwerk legen . Die Soldatinnen und Sol-daten der Operation, zurzeit auch 100 aus Deutschland,haben seit Juni 2015 über 38 700 Opfer dieser Kriminel-len vor dem Ertrinken bewahrt . Sie haben 416 Schleu-serboote versenkt und 112 mutmaßliche Schleuser fest-genommen .Ich weiß, dass es manchmal Diskussionen darübergibt, ob wir durch die Operation nicht vielleicht dieSchleuser noch ermutigen, nach dem Motto „Es gibt jaLeute, die sie retten werden“ . Aber ich glaube, dass mansich diesen Rettungsaktionen nicht entziehen kann . Fast40 000 Menschen wurden dort gerettet . Diese so gewalti-ge Zahl macht deutlich wird, dass die Operation wirklichnötig ist .
Im Rahmen der Unterstützung für die Durchsetzungdes Waffenembargos haben allein die deutschen Einhei-ten 202 Schiffe kontrolliert . Ich möchte daher heute zu-erst all jenen danken, die im Mittelmeer Menschen ausSeenot retten .
Unser Dank gilt den Frauen und Männern der deut-schen Marine, die auf den Schiffen dienen . Mein Dankgilt aber auch den Freiwilligen der Nichtregierungsor-ganisationen, den Helferinnen und Helfern auf den Han-delsschiffen, und er gilt der europäischen und der italie-nischen Küstenwache, die täglich im Einsatz sind .Ich möchte ausdrücklich auch der italienischen Regie-rung von Premierminister Gentiloni danken . Italien stelltsichere Häfen für Flüchtlinge und Migranten, und es istvor allem ein Zeichen der Mitmenschlichkeit, dass Itali-en so viele gerettete Menschen aufnimmt .
Aber dieser Dank darf uns nicht dazu verleiten, zuglauben, dass das unendlich möglich ist . Die Italienerin-nen und Italiener –
– der Kollege Müller ruft völlig zu Recht dazwischen:„Wir dürfen sie damit nicht alleine lassen“ – bewahrenuns zurzeit davor, dass viele Gerettete nach Deutschlandkommen, weil sie sie nicht durchwinken . Jetzt kann mansagen: Vielen Dank .Aber die Steigerung der Zahlen gegenüber denen ausdem letzten Jahr um inzwischen fast 50 Prozent zeigt,dass natürlich auch Italien an die Grenze seiner Belas-tung kommt . Deswegen muss es darum gehen, dass wirin Europa zu einem fairen Verteilungssystem kommen .Aber ich glaube nicht, dass uns das gelingt, wenn wirnicht generell auch an anderen Stellen in Europa besserzusammenarbeiten .Ich bin der festen Überzeugung: Nur wenn wir Initi-ativen für Wachstum und zur Bekämpfung der Arbeits-losigkeit und der Jugendarbeitslosigkeit in Europa ausdeutscher Sicht und mit anderen starken Ländern der Eu-ropäischen Union voranbringen, wenn wir auch anderenLändern helfen wie Italien, Frankreich oder Griechen-land, wird dort die Bereitschaft wachsen, mit uns in derMigrationsfrage zusammenzuarbeiten .Eine Politik, die sich sozusagen der einen Sache ver-weigert, aber die andere einfordert, wird scheitern, mei-ne Damen und Herren . Nur wenn wir die Politik für einstärkeres Wachstum, für Flexibilität der Länder, die sichauf den Reformweg machen, und für Hilfe für Süd- undWesteuropa voranbringen, dann werden auch andere be-reit sein, mitzumachen . Denn es ist nicht nur Osteuropa,das sich der Verteilung der Flüchtlinge widersetzt, son-dern es sind gerade auch die Länder, die zum alten – inAnführungsstrichen – „Westeuropa“ gehören und dieDeutschland eher als Hinderer ihrer wirtschaftlichenBundesminister Sigmar Gabriel
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Entwicklung wahrnehmen und sich deshalb auch der Zu-sammenarbeit in der Migrationsfrage sehr verweigern .Beides gehört zusammen .
Unmenschlich allerdings ist das zynische Geschäfts-modell der Schleuser . Ein Menschenleben zählt für siegar nichts; Hauptsache, die Überfahrt ist bezahlt . DieSchleuser nutzen die Einnahmen, um die Stabilität inLibyen zu unterwandern; denn der Zusammenbruch inLibyen hat ihnen rechtsfreien Raum gelassen . Die Ope-ration, die wir heute hier beschließen, leistet einen un-verzichtbaren Beitrag zur Eindämmung der Aktivitätenund der Aushebelung des Geschäftsmodells der Schleu-ser; denn wir wollen natürlich nicht, dass Libyen weiterdestabilisiert wird .Aber die Operation ist nur ein Teil dessen, was wirmit Blick auf die Lage in Libyen tun und tun müssen .Wir müssen sie nüchtern betrachten . Die Sicherheitslageist instabil . Die Umsetzung des von den Vereinten Nati-onen vermittelten „Libyschen Politischen Abkommens“stockt . Präsidialrat und libysche Einheitsregierung sindweiterhin nicht in der Lage, gesamtstaatlich zu agieren .Wenn es, wie zuletzt, positive Zeichen gibt, gerät derProzess schnell wieder durch gewalttätige Extremistenunter Druck .Wir dürfen in dieser Lage nicht zuschauen und ab-warten, so schwierig Ergebnisse auch zu erreichen sind .Wir Europäer müssen uns im Klaren sein: Ein instabilesLibyen an der Schengen-Außengrenze, wenn sie aucheine Seegrenze ist, gefährdet uns als Nachbarn direkt undunmittelbar und birgt die Gefahr, dass das Mittelmeer im-mer mehr zu einem gigantischen Friedhof wird .Eine Stabilisierung Libyens und eine Bewältigung desFlüchtlingsdramas im Mittelmeer können wir übrigensnur mit einem gemeinsamen europäischen Antritt schaf-fen . Was in Libyen zu erheblichen Schwierigkeiten führt,ist, dass dort immer unterschiedliche Länder agieren,und zwar einerseits die als ehemalige Kolonialstaatenwahrgenommenen Länder wie Italien und Frankreich,andererseits wir und andere . Was Libyen braucht, ist eingemeinsamer europäischer Antritt und eine gemeinsameeuropäische Strategie, aber nicht eine Politik, in der sichunterschiedliche Länderinteressen widerspiegeln .
Die langfristigen Ziele der Bundesregierung sind na-türlich, mit der EU in Libyen und darüber hinaus in denLändern der südlichen Nachbarschaft der EuropäischenUnion Stabilität zu fördern, in den Herkunfts- und Tran-sitstaaten der Region staatliche Strukturen, Konfliktlö-sung und besseres Migrationsmanagement zu unterstüt-zen und die Lebensperspektiven der Menschen in ihrenHeimatländern zu erhalten . Wir sind – das sage ich auch,weil Gerd Müller hier ist – gemeinsam der Überzeugung,dass man manchmal Militär braucht, aber nur alles zu-sammen am Ende Stabilität schafft . Deshalb ist das, waswir dort gemeinsam machen, gut angelegt .Bilateral unterstützt Deutschland als einer der größ-ten Geldgeber Libyen . Mit der internationalen Stabilisie-rungfazilität, die wir initiiert haben, setzen wir konkreteProjekte in allen Teilen des Landes um . Über den Fondskann rasch handfeste Hilfe geleistet werden . Wir unter-stützen die Stärkung der Kommunen, die Verbesserungder Dienstleistungen, wir fördern Versöhnungs- und Me-diationsinitiativen; zudem leistet die Bundesregierunghumanitäre Hilfe, um die Not zu lindern .Die Europäische Union hat eine zivile Mission fürLibyen, die Mission EUBAM Libyen, und ist weiterdabei, von Tunis aus die Arbeitsgrundlagen zu schaf-fen . Deutschland und die Europäische Union unterstüt-zen zudem die Mission der Vereinten Nationen unterLeitung des Sondergesandten Martin Kobler . Darüberhinaus treibt die Bundesregierung die Umsetzung derEU-Migrationspartnerschaften voran .Aber eines müssen wir auch klarmachen: Wir könnenbei diesem Zustand vor Ort nicht darüber nachdenken,externe Auffanglager für Flüchtlinge unter diesen Bedin-gungen zu organisieren . Wer einmal die Bilder der soge-nannten Detention Centres gesehen hat, die nichts ande-res als übelste Gefängnisse sind, der versteht, warum einBotschafter den politisch nicht ganz richtigen Vergleichgewählt hat, als er uns vor ein paar Monaten geschriebenhat, dort herrschten KZ-ähnliche Zustände .Es muss der internationalen Staatengemeinschaft ge-lingen, diese Detention Centres unter die Kontrolle derVereinten Nationen bei Einhaltung der Standards desUNHCR zu stellen . Wir müssen im Zweifel auch bereitsein, dafür Sicherheitskräfte zur Verfügung zu stellen .Anders kann man das nicht machen .
Herr Minister, wenn Sie nicht als Minister, sondern als
Abgeordneter hier reden würden, dann müsste ich Ihnen
jetzt ganz dringend empfehlen, zum Schluss zu kommen .
Ich darf Sie darum auch im Interesse der nachfolgenden
Rednerinnen und Redner bitten .
Frau Präsidentin, das müssen Sie auch dem Minister
gegenüber . Deswegen bin ich auch fertig . – Ich glaube,
wir sind uns über das einig, was wir mit der Mission er-
reichen wollen, aber auch darüber, was gerade mit Blick
auf diese Lager in nächster Zeit dort zu geschehen hat .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Der Kollege Stefan Liebich hat jetztdas Wort für die Fraktion Die Linke . Bitte schön .
Bundesminister Sigmar Gabriel
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 238 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Juni 201724330
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Lieber Herr Gabriel, Sie haben ja eben am ganz großenRad gedreht . Dabei ging es um das neue Europa, um denKlimawandel, um Hilfe für Kommunen sowie um dieRettung Ertrinkender . Das ist alles sehr schön, und vie-lem davon würden wir auch zustimmen . Nur hat das mitdem, worüber wir heute reden, gar nichts zu tun .
Sie haben hier einen Antrag gestellt, in dem etwas ganzanderes steht . Wenn Sie Ertrinkende retten wollten, HerrGabriel und Herr Kauder, dann könnten Sie das einfachmachen . Sie könnten Schiffe ins Mittelmeer schicken,und Sie müssten nicht einmal den Bundestag um Zustim-mung bitten . Ich vermute aber, der Bundestag würde demsogar zustimmen .
Was wir hier heute diskutieren, hat einen ganz ande-ren Grund . Hier liegt ein konkreter Mandatsantrag derBundesregierung vor, dass bis zu 1 000 Soldatinnen undSoldaten in einen bewaffneten Einsatz ins Mittelmeer ge-schickt werden sollen, und zwar um Flüchtlingsströmezu beobachten, die libysche Küstenwache auszubildenund die NATO bei ihrer Operation Sea Guardian zu un-terstützen . Nennen wir es beim Namen: Es geht Ihnenhier mit diesem Antrag gar nicht um Hilfe, es geht umFlüchtlingsabwehr . Sie sagen das sogar in Ihrer Begrün-dung . In dem Antrag – wir alle haben ihn natürlich auf-merksam gelesen – steht:Angesichts . . . des hohen Migrationsdrucks auf derzentralen Mittelmeerroute … haben die Staats- undRegierungschefs der EU . . . einen Zehn-Punkte-Planverabschiedet, der darauf zielt, Ansätze für die Be-wältigung der Migrationsproblematik . . . zu entwi-ckeln .Sie wollen eine weitere Abschottung der EuropäischenUnion . Wir wollen das nicht, wir sagen dazu Nein .
Getroffen haben sich Angela Merkel und ihre Kolle-ginnen und Kollegen übrigens auf Malta im Mittelmeer,buchstäblich umgeben von den Leichen Tausender, diebei ihrer Flucht ertrunken sind .
– Ja, das müssen Sie sich anhören . – Allein in diesemJahr sind 1 720 Männer, Frauen und Kinder – im letztenJahr waren es über 5 000 – ertrunken . Und die nahezutäglich verbreiteten Meldungen – man merkt es hier anden Reaktionen – sind schon fast eine mörderische Re-alität geworden . Man vergisst, innezuhalten . Ich möchtedas hier tun . Auch Sie möchte ich bitten, mit mir in einemMoment der Stille an die Väter, Mütter und Kinder zudenken, die einfach nur ein besseres Leben wollten unddieses darüber verloren haben . – Ich danke Ihnen dafür .Wenn Sie wirklich etwas dagegen tun wollen, wennSie wirklich etwas gegen Schleuser bzw . Kriminelle tunwollen, Herr Gabriel, die die Not und das Leid der Men-schen ausnutzen, um damit Geld zu verdienen – da gebeich Ihnen ja recht –, dann gibt es nur einen Weg: Wirmüssen ihnen die Geschäftsgrundlage entziehen . Wirbrauchen legale Einreisemöglichkeiten .
Einen Kampf „Militär gegen Schleuser“ bei ge-schlossenen Grenzen können Sie nicht gewinnen . DieserKampf ist aussichtslos . Die Zahlen belegen das . Ja, essind einige Schleuser festgenommen und an italienischeBehörden übergeben worden . Im gleichen Zeitraum aberhat die Zahl derer, die sich auf die Schleuser eingelassenhaben und in diese wackeligen Gummiboote geklettertsind, nicht abgenommen, sondern zugenommen . Hun-derttausende Menschen warten an den Küsten von Liby-en auf eine Überfahrt . Und seit Sie mit Ihren FreundenErdogan und Orban die Balkanrouten geschlossen haben,werden es immer mehr . Wenn das irgendwann enden soll,dann müssen nicht die Flüchtenden, sondern die Flucht-ursachen bekämpft werden .
Sie machen allerdings das Gegenteil . Was ist das füreine menschenverachtende Politik, Waffen in alle Weltzu verkaufen und nicht einmal einen Stopp der Lieferun-gen in Kriegs- und Krisengebiete zu erreichen? Wenndann die Opfer dieser Kriege und dieser Gewalt hier-herkommen, versuchen wir, sie mit Militär zu stoppen .Dafür wollen Sie die libysche Küstenwache stärken, dielaut Sea-Watch mutwillig Flüchtlingsboote rammt unddie Flüchtlinge dann ertrinken lässt . Das ist eine Küsten-wache, die laut den Vereinten Nationen mit den Schmug-glern, die Sie ja angeblich bekämpfen wollen, zusam-menarbeitet, um Profit zu machen. Diese Küstenwachebringt die Menschen in ein Land zurück, in dem sexuellerMissbrauch und Versklavung von Flüchtlingen an der Ta-gesordnung sind . Genau diese Küstenwache trägt dazubei, dass die Menschen in die Detention Center kommen,die Sie gerade kritisiert haben . Da fragt man sich schon,was in Ihren Köpfen los ist .
Machen Sie endlich etwas, was wirklich mutig ist .Wir müssen die militärische Abschottungslogik been-den . Kein Stacheldraht, keine Mauer aus Stein und kei-ne Mauer aus Militärschiffen wird die millionenfachenFluchten beenden . Nur der Einsatz für eine gerechtere,friedlichere, sozialere Welt und, ja, der Kampf gegenden Klimawandel sind die richtigen Antworten . Ich weißschon: Das sind sehr langfristige Aufgaben . Aber wennwir diese nicht anpacken, dann wird es uns nie gelingen .Das ist der einzige Weg, der funktionieren wird .
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 238 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Juni 2017 24331
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Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Jürgen Hardt .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am 30 . Juni 2015 hat die deutsche Marine im Rahmenvon EUNAVFOR MED Operation Sophia mit ihrersystematischen Beteiligung an der Linderung der ex-trem bedrückenden Zustände vor der libyschen Küstebegonnen . Vorangegangen waren in den Wochen zuvorSeenotrettungsoperationen deutscher Schiffe . Angesichtsder hohen Zahl ertrunkener Menschen vor der libyschenKüste mussten wir etwas tun . Aber wir müssen mehrtun, als nur Seenotrettungsoperationen durchführen . Wirmüssen auch dem Schleuserunwesen das Handwerk le-gen . Die Operation hat in den letzten beiden Jahren über400 Schleuserboote zerstört sowie zahlreiche Schleuserfestgesetzt und den Gerichten zugeführt . Sie hat fast40 000 Menschen aus Seenot gerettet, allein die deutscheMarine über 20 000 . Das ist eine beachtliche Zahl . Da-für verdienen die Soldatinnen und Soldaten an Bord derSchiffe unseren Dank .
Wir haben zudem den Waffenschmuggel vor der li-byschen Küste unterbinden können . Gegenwärtig wirdfür den Kampf gegen den Waffenschmuggel der Tender„Rhein“ eingesetzt . Genau das ist der Grund, warum wirdas Bundestagsmandat brauchen . Wir wollen die Bun-deswehr in die Lage versetzen, Schiffe, die im Verdachtstehen, an Bord Waffen und Munition zu haben, und sicheiner Durchsuchung widersetzen, notfalls unter Anwen-dung robuster militärischer Mittel zu durchsuchen . Ge-nau deshalb ist dieser Einsatz mandatierungspflichtig.Wichtig ist ebenfalls, dass wir mit Daten zum Lage-bild erheblich beitragen . Die Informationen werden imÜbrigen im europäischen Operation Headquarter zusam-mengetragen . Diese Operation ist genauso wie andereOperationen der Europäischen Union ein gutes Beispieldafür, dass Europa in diesem Bereich etwas kann . Ichfinde es gut, dass unsere Bundeskanzlerin, aber auch dieBundesverteidigungsministerin, die französische Vertei-digungsministerin und die Europäische Kommission mitJean-Claude Juncker als Präsidenten in diesen Wochenund Monaten konkrete Vorschläge dafür machen, wie Eu-ropa seinen Beitrag zu seiner eigenen Sicherheit und zurBewältigung globaler Krisen durch eine verstärkte ge-meinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Stich-wort „Verteidigungsunion“ – erhöhen kann . Ich glaube,dass wir in diesem Jahr einen Quantensprung erlebenwerden . Die entsprechenden Instrumente im EU-Vertragsind vorhanden . Dann werden solche Operationen wieEUNAVFOR MED Operation Sophia in einem größerenZusammenhang – inklusive parlamentarischer Kontrol-le – auf europäischer Ebene durchgeführt werden; dasfinde ich sehr gut.Deutschland ist an diesem Einsatz mit dem Tender„Rhein“ beteiligt, der von Souda auf Kreta aus operiert .Ich bin 1985 mit der Fregatte „Augsburg“ in Souda ge-wesen und hatte gemeinsam mit dem Ortungsoffizierden Auftrag, die logistische Infrastruktur dieses altenbritischen Kriegshafens zu untersuchen . Wir haben dasdamals für höchst überflüssig gehalten. Wir haben nichtverstanden, warum die deutsche Marine wissen muss, wodort Wasser- und Stromanschlüsse sind . Wir haben dannerlebt, dass in Souda der Minenräumverband der Marinenach dem ersten Golfkrieg stationiert wurde . Heute istdaraus eine wichtige Basis für NATO-Schiffe und euro-päische Schiffe in dieser Region geworden .Ich möchte noch darauf eingehen, was der Ministerangesprochen hat – dem stimme ich uneingeschränktzu –, nämlich dass eine nachhaltige Lösung der Problemeim Mittelmeerraum und insbesondere vor der libyschenKüste nur möglich ist, wenn wir unsere zivilen und poli-tischen Möglichkeiten zur Gänze ausschöpfen .Unser Ziel muss sein, den Staat Libyen in die Lage zuversetzen, in eigener Verantwortung und unter Wahrunghumanitärer, rechtsstaatlicher Grundsätze diesem Schleu-serunwesen Einhalt zu gebieten und den Flüchtlingen inLibyen eine vorübergehende Heimstätte zu bieten, in derwir guten Gewissens unsererseits unterstützend tätig seinkönnen . Die Flüchtlinge in Libyen müssen in Einrichtun-gen untergebracht sein, in denen sie nicht nur, was dieHygiene, Essen und Trinken, Gesundheit, sondern auchwas Schule und Bildung für Kinder angeht, vergleichbargute Voraussetzungen finden, wie sie in anderen Teilender Welt gegeben sind .Wir müssen den libyschen Flüchtlingen die Möglich-keit geben, herauszufinden, ob es für sie einen legalenWeg nach Europa geben kann . Wenn das Ergebnis ist,dass sie legal nicht nach Europa kommen können, dannmüssen wir ihnen zusammen mit ihren HerkunftsländernVorschläge machen, wie sie in ihr Land zurückgehenkönnen, sodass diejenigen, die noch in ihren Heimatlän-dern sind, zum Beispiel in Mali, zum Beispiel in BurkinaFaso, zum Beispiel im Senegal sind, sehen, dass es kei-nen Sinn macht, einem Schlepper Tausende von Dollarin die Hand zu drücken, um nach Libyen an die Mittel-meerküste gebracht zu werden, sondern dass man besserin der Heimat bleibt und darauf vertraut, dass Europa alsVölkergemeinschaft hilft .
Wir sind von diesem Punkt leider noch sehr weit ent-fernt . Dem stehen erhebliche Widerstände entgegen . Wirhaben in Libyen gegenwärtig keinen konkreten, verläss-lichen Ansprechpartner, weder was die Regierungsseitenoch was die parlamentarische Vertretung angeht . Wirhaben auch im Hinblick auf Polizei und Küstenwache er-hebliche Probleme . Deswegen ist es enorm wichtig, dasswir sehr sorgfältig auswählen, wen wir in dieser Missi-on, die wir dort gemeinsam mit anderen im Rahmen vonSophia durchführen, ganz konkret ausbilden . 89 Küs-tenwachpolizisten sind ausgebildet worden . Jetzt gibt eseinen neuen Lehrgang mit 20 Teilnehmern . Ich glaube,diese Personen werden auf griechischem Boden auf Herzund Nieren geprüft, sodass man mit bestem Wissen und
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Gewissen sagen kann, dass wir da Menschen ausbilden,die ihre Verantwortung sauber wahrnehmen .Wir werden im Auswärtigen Ausschuss in der nächs-ten Sitzungswoche den Antrag der Bundesregierung aufFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-kräfte an EUNAVFOR MED Operation Sophia sorgfältigprüfen . Die Obergrenze bleibt die gleiche . Der Auftragbleibt der gleiche . Wir werden die Gelegenheit nutzen,uns noch einmal intensiver mit den Fortschritten zu be-schäftigen . Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses Man-dat hier in der übernächsten Sitzungswoche verlängern .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächste spricht AgnieszkaBrugger, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! NachAngaben der Vereinten Nationen war 2016 mit über5 000 Menschen, die vor den Toren Europas ertrunkensind, das tödlichste Jahr im Mittelmeer . Wenn der Kolle-ge Liebich hier um einen kurzen Gedenkmoment bittet,dann ist das, finde ich, eigentlich kein Moment, wo manquatscht und lacht, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Die Tragödie wäre noch weitaus größer, wenn nichtSoldatinnen und Soldaten, zivile Seenotrettungsinitiati-ven und auch Handelsschiffe Zehntausenden von Men-schen das Leben gerettet hätten . Ihnen allen kann mannur von Herzen danken .
Unter sehr schwierigen, sehr belastenden Bedingungenzeigen sie mit ihrem selbstlosen Einsatz den humanitärenGeist und die Verantwortung, die viele Mitgliedstaatender Europäischen Union mit ihrer Abschreckungs- undAbschottungspolitik nur allzu oft vermissen lassen . Trotzder beeindruckenden Rettungsleistung ist auch die Mis-sion EUNAVFOR MED, über die wir heute hier disku-tieren, ein Baustein dieser falschen Politik . Nach wie vorist die Hauptaufgabe nämlich die gefährliche militärischeSchlepperbekämpfung, und nach wie vor hält die Bun-desregierung, halten die europäischen Mitgliedstaaten anden Plänen fest, sobald es irgendwie geht, auch an Landdann gegen die Schlepper in Libyen vorzugehen .Ja, viele Schlepper nutzen die verzweifelte Notlageder Geflüchteten grausam aus. Wenn man ihnen die Ge-schäftsgrundlage aber wirklich wirksam entziehen will,dann braucht es doch nicht militärische Antworten, son-dern eher polizeiliche und vor allem aber auch sichereund legale Fluchtwege .
Dann soll die Mission auch noch die libysche Küstenwa-che ausbilden . Es ist immer ein großes Risiko, wenn esdarum geht, in einem Land, in dem politische Kontrolle,politische Führung fehlen, Sicherheitskräfte auszubilden .Es gibt doch die Berichte der Nichtregierungsorganisati-onen, die ganz klar sagen, dass ein Teil der Küstenwacheauch ein Teil des Problems ist und mit den Schleppernzusammenarbeitet . Dazu hört man von der Bundesregie-rung nichts . Gerade läuft über die dpa-Ticker, dass Siefür den nächsten Ausbildungsdurchgang keine verlässli-chen Partner für die Ausbildung finden. Das ist doch auchein Zeichen dafür, dass der Baustein dieses Mandats allesandere als unproblematisch ist .
Als dritte Aufgabe soll die Mission die Aufgabe ha-ben, Waffenschmuggel zu unterbinden . Das ist theore-tisch auch sinnvoll, doch wenn einige Mitgliedstaatenwie Italien ihre eigene Agenda verfolgen, dann ist auchdieser Auftrag am Ende nicht wirkungsvoll, und sinnlos .Mit dem neuen Mandat kommt ein vierter Auftrag hin-zu: die Kooperation mit der NATO-Mission Sea Guardi-an, wo man auch sagen muss: Mit Mandatsklarheit hatdas am Ende nicht mehr viel zu tun .Es ist ein Mandat mit vier problematischen Aufträ-gen . Erfolgreich ist es vor allem bei einer Aufgabe, dieim Mandat eben nur nebenbei als völkerrechtliche Ver-pflichtung aufgeführt ist und angesichts der anderen,problematischen Aufgaben auch in den Hintergrund zugeraten droht . Ja, über 30 000 Menschen sind aus See-not gerettet worden . Gemessen am dramatischen Sterbenim Mittelmeer ist das aber zu wenig . Es können und esmüssen mehr Menschen gerettet werden . Dafür bräuchtees aber eine flächendeckende, eine funktionierende undvor allem eine langfristig finanzierte europäische Seenot-rettung .Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch schonbeschämend, dass private Seenotrettungsinitiativendieses Versagen der Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion auffangen müssen . Wenn nun aber der Chef vonFrontex, wenn Abgeordnete aus der Union im Bundes-tag, im Europäischen Parlament den Retterinnen undRettern vorwerfen, dass sie das Geschäft der Schlepperbetreiben, dass sie Beihilfe dazu leisten, Menschenlebenzu gefährden, wenn der österreichische AußenministerSebastian Kurz gar fordert, dass der NGO-Wahnsinn imMittelmeer beendet werden muss, dann ist das mehr alsblanker Zynismus .
Diese Haltung hat auch nichts mehr mit Menschlichkeitund mit Verantwortung zu tun; sie ist ethisch und völker-rechtlich hochproblematisch und unhaltbar .Jürgen Hardt
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Diese Aussage entbehrt vor allem auch jeder empi-rischen Grundlage . Es gibt mittlerweile eine Reihe vonwissenschaftlichen Analysen der Zahlen, die glasklar wi-derlegen, dass es einen solchen Effekt gibt . Zur Lektüreempfehle ich die jüngste Studie aus Oxford . Die Men-schen, die sich hier engagieren, verdienen nicht wahr-heitswidrige Beleidigungen und Beschimpfungen, son-dern sie verdienen unseren Dank und nochmals unserenDank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, statt dass die Bun-desregierung dieses Mandat endlich ehrlich und kritischüberprüft und ihre Abschottungspolitik beendet, die jaauch wirkungslos ist, die die eigenen Ziele nicht erreicht .Herr Gabriel, wenn Sie das wirklich ernst meinen – mitvielem, was Sie gesagt haben, haben Sie recht; die Zu-stände in den Lagern in Libyen sind grauenerregend –,dann erwarte ich schon von der Bundesregierung, dassSie hier nicht nur stehen und schöne Reden halten, son-dern dass Sie das auch wahrmachen und im Kabinettdurchsetzen . Es ist Ihr Kollege Thomas de Maizière, derInnenminister, der immer wieder die Idee mit den Lagernin Libyen, mit dem Zurückbringen der Flüchtlinge insGespräch bringt . Sorgen Sie dafür, dass damit ein für alleMal Schluss ist und dass die Bundesregierung hier eineklare Haltung hat .
Sorgen Sie auch dafür, dass die Diskussionen, einenähnlich dreckigen Deal wie mit der Türkei zu machen,endlich vom Tisch kommen, und dafür, dass es bei derGrenzsicherung keine Kooperation mit Libyen gibt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, es passt einfachnicht zusammen, hier nur schöne Reden zu halten unddie Toten im Mittelmeer zu beklagen und gleichzeitigeine solche falsche Politik und solche zynischen Plänefortzusetzen . Was es stattdessen braucht, sind legale undsichere Fluchtwege, eine engagierte Bekämpfung derFluchtursachen, vor allem eine effektive zivile europäi-sche Seenotrettung .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächstes hat Dr . Reinhard Brandl,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie mich eines vorausschicken: EUNAVFORMED Operation Sophia ist eine gute Mission, und wirwerden der Mission nach den Beratungen in den Aus-schüssen auch zustimmen .Aber die Mission zeigt auch das Dilemma, in demwir bei der Bekämpfung von illegaler Migration im Mit-telmeer stecken . Das Ziel der Mission ist die Bekämp-fung der Schleuserkriminalität . Der Erfolg der Missionist, dass bis heute 38 000 Menschen aus Seenot geret-tet worden sind . Meine Damen und Herren, der bittereBeigeschmack des Erfolgs ist – das wurde immer wiederangesprochen –, dass die Schlepper mittlerweile die Ret-tung mit einkalkulieren und die Flüchtlinge aus Kosten-gründen mitunter in Boote setzen, die gar nicht geeignetsind, bis nach Italien zu kommen . Sie kalkulieren alsodamit, dass die Flüchtlinge auf dem Weg dorthin gerettetwerden .Die Lösung, liebe Frau Brugger, ist nicht, die Missioneinzustellen . Das fordern wir auch nicht . Selbst wenn wirdie Mission einstellen würden, würden sich immer nochMenschen in Boote setzen, würden immer noch Men-schen ums Leben kommen .
Die Lösung dieses Dilemmas kann nur an Land, in Li-byen, erfolgen . Wenn es nicht gelingt, in Libyen einMindestmaß an Frieden, an Stabilität, an Sicherheit undEntwicklung zu gewährleisten, wird sich diese humani-täre Katastrophe, die wir in den Lagern, die wir auf hoherSee erleben, absehbar noch verschlechtern . Wir sehendas doch an der Entwicklung der Flüchtlingszahlen . Indiesem Jahr sind bereits 54 000 Flüchtlinge aus Libyenin Italien angekommen – 45 Prozent mehr als im Vorjahr .Wir wissen, dass es, wenn die Entwicklung im Sommerso weitergeht, am Ende des Jahres 300 000 sein werden .Im letzten Jahr waren es 180 000, und wir wissen ausvielen Schätzungen von IOM und des UNHCR, dass sichin Libyen noch circa 700 000 bis 1 Million Menschenaufhalten und auf eine Überfahrt warten . Um dieser Ka-tastrophe etwas entgegenzusetzen, braucht es internati-onale Hilfe vor Ort in Libyen . Aber die kann nur erfol-gen, wenn es zumindest eine Perspektive auf Frieden undAussöhnung gibt .Meine Damen und Herren, da gibt es in den letztenWochen durchaus zarte Pflanzen, Signale der Hoffnung,die wir vernehmen . Die Nachbarstaaten Algerien, Tune-sien, Ägypten übernehmen Stück für Stück Verantwor-tung . Es ist zumindest gelungen, gemeinsame Gesprächeder Konfliktparteien in Abu Dhabi zu organisieren. Ichweiß auch, dass diese gemeinsamen Gespräche noch lan-ge keinen Frieden bedeuten und noch lange kein tragfä-higes Ergebnis darstellen . Aber es ist immerhin besser,wenn die Konfliktparteien miteinander reden, als wennsie nicht miteinander reden würden .Wir können das auch unterstützen – BundesministerGabriel hat es vorhin angesprochen –, indem wir als Eu-ropäer eine konsistente Politik gegenüber diesen Ländernverfolgen und nicht jeder differenziert seine eigenen In-teressen verfolgt . Wir müssen vor allem verhindern, dassin Libyen ein Stellvertreterkrieg entsteht . Was wir aucherkennen, ist, dass zum Beispiel Ägypten oder Russland,wenn sie auf der Seite des Generals Haftar stehen, ihreeigene Politik verfolgen . Erst wenn ein Stellvertreter-Agnieszka Brugger
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krieg verhindert werden kann, kann die Hilfe, die Mi-nister Müller fordert, nämlich UNHCR-Standards auchin den Flüchtlingslagern in Libyen durchzusetzen, wir-kungsvoll einsetzen .Dass die Politik der Migrationspartnerschaften wirkt,sieht man am Beispiel Niger . Niger war eines der Haupt-transitländer der Flüchtlinge . Im letzten Jahr sind nachSchätzungen von IOM über 300 000 Flüchtlinge durchNiger in Richtung Libyen gegangen .
Wir haben in diesem Jahr durch die Zusammenarbeit mitder EU erreicht, dass es nur noch wenige Zehntausendsind, die durch Niger gegangen sind .
Das heißt, die Hilfe wirkt . Diese Hilfe müssen wir fort-setzen – in den Nachbarländern und sobald als möglichauch in Libyen selbst .
Das ist der richtige Ansatz . EUNAVFOR MED ist einwichtiger Baustein, aber es ist nicht die Lösung . DenSoldaten, die für uns diesen Auftrag erfüllen, rufe ich zu:Wir danken euch für euren Einsatz, für euer Engagement,für euren Dienst!Meine Damen und Herren, wir werden nach intensi-ven und konstruktiven Beratungen in den nächsten Wo-chen voraussichtlich dieses Mandat auch verlängern, undich bitte dafür schon jetzt um Ihre Zustimmung .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Jetzt hat Volker Mosblech für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort . Bitte schön .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Libyen – dasist ein volatiler Brandherd in direkter Nachbarschaft zuEuropa und Deutschland; Libyen – das ist ein Land, indem unterschiedlichste Gruppierungen, Stämme undWarlords um Macht, Geld und Einfluss kämpfen; Li-byen – das ist die libysche Bevölkerung, die unter denKämpfen und der Mangelversorgung am stärksten leidet .Ausgehend von diesem Konfliktfeld debattieren wirheute über die Verlängerung der EUNAVFOR MEDOperation Sophia . Wir alle wissen, dass Sophia keineMusterlösung für die eben skizzierten Probleme in Liby-en sein kann und auch nicht den Anspruch darauf erhebt .EUNAVFOR MED gliedert sich als ein Mosaikstein inden langwierigen Prozess der Stabilisierung des Landesein, den wir gemeinsam in der EU vorantreiben .Die Entscheidung für einen militärischen Einsatz aufhoher See war in Anbetracht der schwierigen Lage vorOrt notwendig . Die militärischen Kräfte der EUNAVFORMED Operation Sophia entfalten allein durch ihre An-wesenheit eine abschreckende Wirkung; nicht Abschre-ckung – wie es die Linke kolportiert – von Flüchtlingen,sondern von Schleppernetzwerken und Waffenschmug-glern .
Auch benötigt man diesen bewaffneten Einsatz, umdie illegale Einfuhr von Waffen nach Libyen aktiv zuunterbinden . Zivile Fähren, wie von den Linken gefor-dert, hätten wohl schlecht das Anfang Mai von Tender„Rhein“ aufgebrachte, mit zahlreichen Waffen beladeneMotorboot stoppen können . Ein Boot, das mit Maschi-nengewehren, Mörsern, Panzerabwehrwaffen und hau-fenweise Munition beladen ist, kann man nun einmalnicht mit freundlichem Zureden und bemalten Protest-plakaten stoppen . Hierfür benötigen wir ein robustesMandat . Unsere top ausgebildeten Soldatinnen und Sol-daten kooperieren mit unseren internationalen Partnern .EUNAVFOR MED operiert dabei vor der Küste Libyensin einem klar definierten Handlungsrahmen, um Waf-fenschmuggel nach Libyen zu verhindern, Schleuserak-tivitäten zu unterbinden sowie bei der Ausbildung derlibyschen Küstenwache behilflich zu sein. In allen dreigenannten Bereichen konnten wir seit Beginn der Opera-tion wichtige Erfolge verzeichnen und erste Grundsteinefür eine funktionierende libysche Küstenwache legen .Neben dem offiziellen Aufgabenspektrum erfüllenunsere Männer und Frauen in Uniform auch eine weite-re, enorm wichtige Aufgabe wie die Seenotrettung . BisMitte Mai konnten dank EUNAVFOR MED über 38 Per-sonen aus dem Wasser gerettet werden . Mein ganz spezi-eller Dank gilt unseren Soldatinnen und Soldaten vor derlibyschen Küste, die unter größten Anstrengungen ihrenDienst leisten und sich darüber hinaus für die Rettungvon in Seenot geratenen Menschen einsetzen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, militärischeLösungen stehen niemals für sich alleine, sondern bet-ten sich in einen umfassenden Ansatz ein . Libyen wirdsich nicht schlagartig aufgrund von Marineschiffen vorder Küste stabilisieren, aber wir leisten unseren Beitragund unsere Hilfe dort, wo wir sie leisten können, wo sievon der libyschen Einheitsregierung gebraucht wird . Na-türlich müssen wir auch langfristige Ziele angehen, dasBildungssystem und die Gesundheitsversorgung verbes-sern, einen funktionierenden Rechtsstaat aufbauen, dieZivilgesellschaft stärken und eine Versöhnung der kon-kurrierenden Konfliktparteien anstreben. Das sind allesPunkte, die wir in unseren umfassenden Ansatz bereitsberücksichtigen . Mit uns wird das unter der kompetentenLeitung von Martin Kobler mit Versöhnungs- und Me-diationsinitiativen und finanziellen Mitteln für humani-täre Hilfe und Wiederaufbau in Libyen gelingen . Aberein Land, in dem Sicherheit an vielen Orten ein Fremd-Dr. Reinhard Brandl
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wort ist, in dem die öffentliche Ordnung in der Hand vonteils fragwürdigen Milizen liegt, in dem mehr Waffen alsMenschen sind und in dem kriminelle Schmugglernetz-werke grassieren, braucht eine robuste Unterstützungund militärische Hilfe zur Selbsthilfe .Unsere Bundeskanzlerin hat erst kürzlich deutlich ge-macht, dass wir in Zusammenarbeit mit unseren europä-ischen Partnern mehr Verantwortung für unsere eigeneSicherheit übernehmen müssen, dass die EU enger zu-sammenrücken muss, um die anstehenden Aufgaben inunserer direkten Nachbarschaft erfolgreich zu meistern .Minister Gabriel hat gerade einiges dazu gesagt .Wie ich eingangs sagte, sind Libyen, der gesamteMaghreb und Nordafrika direkte Nachbarn von Europa .Somit liegt es in unser aller Interesse, dort unterstützendund stabilisierend zu wirken mit den notwendigen underbetenen Fähigkeiten, die unser Land und die Europä-ische Union zu bieten haben . Die CDU/CSU stellt sichdieser Verantwortung und unterstützt die Verlängerungder EUNAVFOR MED Operation Sophia .Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche trotzdes ernsten Themas ein frohes Pfingstfest.
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .
Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, dass
die Vorlage auf Drucksache 18/12491 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird .
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall .
Dann ist so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der „United Nations In-
terim Force in Lebanon“
Drucksache 18/12492
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre auch
hierzu keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat Achim Post,
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach dieser Debatte über den Bundeswehreinsatz imMittelmeer habe ich mich gefragt: Wie oft haben wirin diesem Hause, in diesem Plenarsaal schon über dieschwierige ja dramatische Lage im Nahen und MittlerenOsten geredet, wie oft über den nicht enden wollendenKrieg in Syrien, über den Krieg im Jemen, über denMachtkampf zwischen Iran und Saudi-Arabien, über dieLage in Israel und Palästina, wo Verhandlungen, wo einFrieden weiter entfernt ist als in den letzten Jahren, so-gar Jahrzehnten? Wie oft haben wir darüber geredet, wasunsere, was Deutschlands Fähigkeiten, Möglichkeiten,Einflussmöglichkeiten sind? Und wie oft haben wir indiesem Zusammenhang auch darüber geredet, dass wir inmanchen, in vielen Fragen hilflos und ohnmächtig sind?Vielleicht ist es deshalb gut, dass wir heute über denLibanon reden, über ein Land, bei dem wir etwas tunkönnen, bei dem wir etwas tun und bei dem wir weiteretwas tun müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen . DerLibanon ist ein kleines Land, das vor vielen Herausforde-rungen steht . Diese Herausforderungen sind sicherheits-politischer Natur, ökonomischer Natur, sozialer Naturund humanitärer Natur . Auch wenn es nach monatelangerBlockade jetzt eine neue Regierung gibt, bleibt die Lagefragil . Sie ist weit entfernt von einem nachhaltigen Frie-den . Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass es bemer-kenswert ist, dass der Libanon in dieser Situation nochnicht zusammengebrochen, noch nicht auseinandergefal-len ist . Wer hilft dabei? Die UN-Mission UNIFIL . Sie istaus Sicht meiner Fraktion ein unersetzlicher Stabilitäts-anker, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Heute geht es um ebendiese Mission . Es geht umdie Beteiligung deutscher Soldatinnen und Soldaten amUNIFIL-Flottenverband . Das Mandat soll um ein weite-res Jahr verlängert werden, bis zum 30 . Juni 2018 . Fürmeine Fraktion kann ich eindeutig sagen: Wir befürwor-ten das Mandat . Ich will Ihnen dafür drei gute Gründenennen:Der erste Grund . UNIFIL ist ein Garant für den Waf-fenstillstand . Seit fast 40 Jahren engagieren sich die UNim Libanon . Immer wieder wurde und wird so der Aus-bruch kriegerischer Handlungen oder gar eines Kriegeszwischen dem Libanon und Israel verhindert . Die Wahr-heit ist doch: Der Waffenstillstand bleibt fragil . Deswe-gen lautet die erste Frage, die wir uns stellen müssen,wenn wir über UNIFIL reden: Wollen wir die Waffen-ruhe zwischen Israel und dem Libanon aufs Spiel set-zen, ja oder nein? Ich bin mir sicher, dass die übergroßeMehrheit dieses Hauses das nicht will; denn UNIFIL istein wichtiger Stabilitätsanker, nicht nur für den Libanon,sondern auch für die gesamte Region .Die Bedrohung durch ISIS und durch al-Qaida wächst .Der Libanon steht innen- und außerpolitisch unter enor-mem Druck . Die UN unterstützen UNIFIL . Gemeinsamverhindern sie, so gut es geht, das Überschwappen desSyrien-Konfliktes. UNIFIL stabilisiert nicht nur die sy-risch-libanesische Grenze, sondern indirekt auch die li-banesisch-israelische Grenze . Damit sorgt UNIFIL auchfür die Sicherheit Israels .
Volker Mosblech
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Das ist die erste Komponente von UNIFIL .Die zweite Komponente betrifft die See . Diese Auf-gabe besteht vor allem in der Aufklärung und Überwa-chung des Seegebietes, der seewärtigen Sicherung derlibanesischen Küste und der nachhaltigen Hilfe für dielibanesischen Streitkräfte . Die Bundesrepublik beteiligtsich seit 2006 mit der deutschen Marine am Flottenver-band . Seit 2006 unterstützen deutsche Soldatinnen undSoldaten mit großem Engagement und hoher Kompetenzdie libanesischen Streitkräfte . Dafür gebührt ihnen derDank von uns allen .
Die Fähigkeiten der libanesischen Marine haben sichverbessert, aber es fehlen weiterhin seetüchtige und ein-satzbereite Einheiten . Deshalb sollten wir unser Engage-ment fortsetzen .Das bringt mich zu einem zweiten Grund für UNIFIL .UNIFIL ist auch ein klares politisches Bekenntnis . Mitunserer Beteiligung unterstützen und stärken wir die Ver-einten Nationen . Deshalb lautet die zweite Frage: Wollenwir uns jetzt von dem politischen Bekenntnis verabschie-den? Ich hielte das für unverantwortlich . Es ist wichtig,dass wir als internationale Gemeinschaft zusammenhal-ten, gerade in Zeiten, in denen die USA überlegen, obsie, wie im Haushaltsausschuss der Vereinten Nationenangekündigt, massive finanzielle Einschnitte vornehmenwollen . Die Verhandlungen darüber sind nicht zu Ende .Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir unser Engage-ment fortsetzen – für Prävention, für Kooperation und fürnachhaltigen Frieden .
Der dritte Grund für die Fortsetzung des Mandats istder Drei-Parteien-Mechanismus . UNIFIL bietet eine ein-zigartige Plattform für den direkten Austausch zwischenIsrael und dem Libanon . Die UN sind Streitschlichterund Vermittler zugleich . Auch deswegen ist UNIFIL un-entbehrlich . Deshalb lautet die dritte Frage: Dürfen wirriskieren, dass der Gesprächsfaden abreißt? Die Antwortlautet: Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, das dürfenwir nicht . Im Gegenteil: Es gilt, unsere humanitäre Hilfezu verstetigen und gegebenenfalls zu erhöhen . Seit 2012hat Deutschland insgesamt über 750 Millionen Euro zurVerfügung gestellt . An dieser nachhaltigen Hilfe solltenwir festhalten .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein zusätzliches Ar-gument ist: Der Libanon und Israel schätzen das deutscheEngagement . Sie bitten uns um Hilfe, und wir sollten ih-nen diese Hilfe nicht verweigern .
Zusammengefasst: Alleine kann der Libanon nichtgegen alle Herausforderungen ankämpfen . Es ist unsereVerantwortung, den Libanon zu unterstützen, und zwarzur Bekämpfung des Terrorismus und zur Stabilisierungder Region . Letztendlich ist dies zu unserem eigenenNutzen . Der Generalsekretär der Vereinten Nationen,António Guterres, hat recht: Wir dürfen den Libanonnicht alleinlassen . Wir müssen weiter zur Stabilisierungdes Landes beitragen . – Ich bin mir sicher, dass der Deut-sche Bundestag seiner Verantwortung gerecht werdenwird .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Für die Linken hat jetzt Wolfgang
Gehrcke das Wort .
Danke sehr, Frau Präsidentin . – Ich möchte mit Fra-gen beginnen: Was müsste Deutschland eigentlich tun,um zu erreichen, lieber Kollege Post, was du angespro-chen hast, nämlich dass es nicht nur im Libanon einenWaffenstillstand gibt – was schon wichtig ist –, sondernauch in Syrien? Was müsste Deutschland tun, um denUNO-Vermittler de Mistura besser zu unterstützen? Wasmüsste Deutschland in dieser Region tun, um Israel deut-lich zu machen, dass es sich als Teil des Nahen Ostensverstehen muss, damit aus einem Waffenstillstand einFriedensschluss werden kann? – Ich möchte Ihnen dazueinige Vorschläge unterbreiten .Wir waren immer für Waffenstillstand . Ich war zu derZeit, als dort der Krieg tobte, in Beirut und habe die Ra-keten- und Bombenanschläge nicht nur gesehen, sondernauch gespürt . Die Hetze gegen die UNO, sie sei unfähig,ist nur ein Kaschieren des Zustands, dass der UNO nichtdie entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt werden .Das muss man ändern . Ich bin dafür, die UNO und dieVermittlungsbemühungen der UNO zu stärken,
aber nicht militärisch . Meine Sorge war immer, dassDeutschland seine politischen Möglichkeiten kleinermacht, wenn wir auf Militär setzen und militärisch agie-ren . Ich mache Ihnen einen Vorschlag – die sozialdemo-kratischen Kollegen können vielleicht einmal darübernachdenken –: Wäre es nicht ein erster Schritt, zu sa-gen: „Wir werden uns kategorisch dafür einsetzen, dassDeutschland sich an keinerlei Waffenlieferungen in denNahen Osten beteiligt, und überall eine nichtmilitärischeLösung befördern“? Ich will kurz einige Punkte anspre-chen .Wieso bauen wir die Waffenlieferungen nach Sau-di-Arabien weiter auf und nicht ab? Sie kritisieren zuRecht den amerikanischen Präsidenten; Sie finden dasalles furchtbar und unanständig . Gleichzeitig müsste diesaber Anlass zur Selbstkritik sein, wie sich unser Land ge-genüber Saudi-Arabien, einer Kopf-ab-Diktatur, verhält .Warum vermeiden Sie das?
Achim Post
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Müssten wir nicht völlig klar sagen, dass das Leasingbewaffneter Drohnen aus Israel, die Stationierung dieserDrohnen und die Ausbildung der sogenannten Pilotenin Israel eine Katastrophe ist? Man muss mit Israel da-rüber reden, dass sie an ihren Grenzen mehr Sicherheiterhalten, wenn sie mit den Palästinensern zu einer Rege-lung kommen und es eine Zwei-Staaten-Lösung gibt . DieChance auf eine Zwei-Staaten-Lösung ist geringer, wennDeutschland Waffen liefert . Deutschland liefert überall-hin Waffen .Meinen Sie nicht, dass wir gemeinsam dafür sorgenmüssen, dass die AWACS-Flugzeuge nicht mehr in Syri-en eingesetzt werden? Sie sollten nicht nur aus der Türkeiabgezogen werden, sondern dieser Einsatz sollte generellbeendet werden . Und glauben Sie nicht, dass wir darüberreden sollten, keine atomwaffenfähigen U-Boote mehran Israel zu liefern und zu verkaufen? Mit solch einerPolitik würden wir im Nahen Osten einen ganz anderenWeg gehen .Zu diesen Entscheidungen war die Bundesregierungnie fähig und bereit . Sie hat immer auf eine militärischeLösung gesetzt; das haben wir immer kritisiert . Deswe-gen sagen wir – wir wissen, dass dies eine schwierigeEntscheidung wäre –: Der Krieg in Israel und die Lageim Libanon machen einen Waffenstillstand unter demDach der Vereinten Nationen notwendig . Das bedeutetnicht, dass sich Deutschland militärisch daran beteiligenmuss . Deswegen werden wir Nein sagen . Daran hat sichnichts geändert . Ich biete Ihnen aber an – daran habenwir ein großes Interesse –, mit Ihnen und allen anderenüber Fragen eines nichtmilitärischen Agierens im NahenOsten zu diskutieren .Danke .
Vielen Dank . – Jetzt hat die Bundesregierung das
Wort . Es spricht der Parlamentarische Staatssekretär
Dr . Ralf Brauksiepe . Bitte schön .
D
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir haben soeben über die Operation So-phia debattiert . Es ist deutlich geworden, dass die Situa-tion in Libyen einen Krisenherd in der Region darstellt .Wir sehen täglich das Leid der syrischen Bevölkerungund die unzähligen Flüchtlinge, die das schreckliche Re-gime und der Bürgerkrieg dort auslösen . Es ist gerade vordiesem Hintergrund überhaupt nicht selbstverständlich,dass wir im Libanon, in diesem dicht besiedelten sehrkleinräumigen Gebiet, seit Jahren eine Situation haben,die vergleichsweise stabil ist . Das hat etwas mit der in-ternationalen Gemeinschaft und ihrem Engagement zutun und damit, dass wir anerkannter und geachteter Teildieses internationalen Engagements sind .
Die Mission UNIFIL mit derzeit rund 11 000 Sol-datinnen und Soldaten aus 40 Staaten ist ein besonderswichtiger Stabilitätsfaktor im Nahen und Mittleren Os-ten, gerade in dieser Region . Mit dieser Mission unter-stützen wir seit vielen Jahren die Friedensentwicklungdes Libanon . Sie ist bereits seit dem Jahr 1978 dort aktiv .Es ist ihr auch zu verdanken, dass im Libanon positivepolitische Entwicklungen zu verzeichnen sind . Die Wahlvon Michel Aoun zum neuen libanesischen Präsidentennach einer langen Periode des Vakuums an dieser Stelleund die sich anschließende Regierungsbildung sind eingutes jüngeres Beispiel dafür .Die Mission UNIFIL und ihre substanzielle Verstär-kung bereits im Jahr 2006 haben hierzu einen wichtigenBeitrag geleistet . Aber wir dürfen uns nicht täuschen las-sen: Der Libanon ist weiterhin keineswegs eine Insel derStabilität . Er ist ein Land, das natürlich auch von anderenKrisenfaktoren in der Region massiv betroffen ist, insbe-sondere durch den Krieg in Syrien, durch die Terroror-ganisationen IS und al-Qaida und auch dadurch, dass dieHisbollah im Süden des Landes agiert und sich auf sy-rischem Boden militärisch zugunsten Assads engagiert .All dies sind ernsthafte Herausforderungen für Friedenund Stabilität im Libanon . Die vergleichsweise stabileSituation dort ist alles andere als selbstverständlich .Wir sollten auch nicht vergessen, dass derzeit nahezu2 Millionen Flüchtlinge in diesem Land leben, das selbstlediglich rund 6 Millionen Einwohner umfasst . Der liba-nesische Staat ist damit verständlicherweise an die Gren-zen seiner Leistungsfähigkeit gelangt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Engagementim Rahmen von UNIFIL ist weiter gefordert und in derRegion auch ausdrücklich erwünscht . Ich will in Erinne-rung rufen, dass sich Libanon und Israel offiziell nachwie vor im Kriegszustand befinden. UNIFIL bleibt des-wegen ein ganz wichtiger Rahmen auch zum Austauschzwischen diesen beiden Nachbarländern, deren friedli-ches Zusammenleben auch für uns so wichtig ist .Seit dem Jahr 2006 beteiligen wir uns mit der Bun-deswehr an der Marinekomponente von UNIFIL . Zielunseres Einsatzes ist und bleibt die Befähigung der liba-nesischen Marine zum Schutz ihrer eigenen Seegrenzen .Darunter fällt die Unterstützung bei der Seeraumüber-wachung genauso wie die Ausbildung der libanesischenMarine . Deutschland stellt derzeit eine Korvette und hältrund 120 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz . Die bis-her geltende Obergrenze von 300 Soldatinnen und Sol-daten soll bestehen bleiben . Damit wird es uns auch imnächsten Jahr möglich sein, ohne Einschränkungen aufdem bereits Erreichten aufzubauen und weiterhin unse-ren wichtigen Beitrag zu dieser Mission zu leisten .Unsere Beteiligung an UNIFIL ist eingebettet in dasganzheitliche Engagement der Bundesregierung für denLibanon und die Region . Das knüpft auch an das an, waswir schon im Zusammenhang mit der Mission Sophiaheute Morgen diskutiert haben und worauf der Bundes-außenminister und der Bundesentwicklungshilfeministerschon hingewiesen haben . Es ist klar und unbestreitbar:Wir werden uns ganzheitlich beteiligen, nicht nur mitSoldatinnen und Soldaten . Unser Ansatz umfasst politi-Wolfgang Gehrcke
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sche, entwicklungspolitische und natürlich sozioökono-mische Maßnahmen in der Region .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen unsfür den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten nichtzu entschuldigen . Ich sage das nicht rechtfertigend . Esbedarf all dieser Komponenten, und dazu gehört auch dieKomponente der Soldatinnen und Soldaten . Wir könnenstolz sein auf ihren Einsatz; wir können ihnen dankbarsein für den Einsatz, den sie leisten . Sie sind Teil einesganzheitlichen Ansatzes, ein wichtiger Teil, keiner, denwir verstecken müssten . Es ist ein Einsatz, der in der Re-gion gewünscht wird und um dessen Fortsetzung ich Sieherzlich bitte .Danke schön .
Vielen Dank . – Jetzt hat Omid Nouripour für Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieBundeswehr beteiligt sich seit 2006 an UNIFIL . Bereitsseit 2006 stimmt meine Fraktion diesem Einsatz stets mitgroßer Mehrheit zu, auch deswegen, weil die Beteiligungan UNIFIL eine der Bedingungen für den Waffenstill-stand war . Dies zu erwähnen, hat der Kollege Gehrckegerade leider versäumt .
Es ist, wie gerade schon erwähnt wurde, ein Einsatz,der von beiden Konfliktparteien erwünscht ist. DieserUmstand ist gerade bei einer VN-Mission nicht selbst-verständlich. Wir sehen gerade bei ganz vielen Konflik-ten, allen voran dem Konflikt in Syrien, dass es dort kei-ne gemeinsame Macht gibt, die sich in die Mitte stellt .Deshalb ist es gut, dass es UNIFIL gibt, gerade auch,weil die Konfliktparteien das wollen.
UNIFIL hat zwei Aufgaben . Die eine Aufgabe umfasstdie Überwachung des Friedens, im Falle der Bundeswehrim maritimen Bereich . Die zweite Aufgabe betrifft dieAusbildung der Streitkräfte . Das ist für den Libanon ge-rade angesichts der schwachen Staatlichkeit ganz wich-tig . In einem so konfessionalisierten Land braucht es einestaatliche Institution, die überkonfessionell Vertrauen ge-nießt . Das sind die Streitkräfte . Deshalb ist es gut, dasswir dort helfen .Seit der Erteilung des letzten Mandats haben sich zweiDinge im Libanon massiv geändert . Das eine ist, dasses endlich eine Regierung gibt . Zweieinhalb Jahre und45 Wahlgänge hat es gedauert, bis sie einen Präsidentenhatten . Man kann über den Präsidenten und die Art undWeise der Regierungsbildung vieles sagen, aber richtigist, dass es jetzt endlich so etwas wie Staatlichkeit gibt .Diese Staatlichkeit braucht Unterstützung, damit sie dasLand weiterhin stabilisieren kann . Das Zweite, was sichim Libanon geändert hat, ist, dass die Konflikte zwischenHisbollah und Israel gerade durch das aggressive Vorge-hen der Hisbollah auf der Seite von Assad in Syrien mas-siv zugenommen haben und die Spannungen größer wer-den . Diese beiden Gründe sind aus unserer Sicht weitereBestärkungen dafür, dass man diesen Einsatz fortsetzenmuss . Deshalb kann ich bereits an dieser Stelle sagen,dass wir dem Einsatz mit großer Mehrheit zustimmenwerden .Wenn wir über Stabilität sprechen – der Herr Staats-sekretär hat gerade von ganzheitlichen Ansätze gespro-chen –, dann will ich noch einiges über Libanon sagen,die achtzigst kleinste Volkswirtschaft der Welt mit einerRate bei der Flüchtlingsaufnahme, die es weltweit nichtnoch einmal gibt .Libanon braucht ganz dringend unsere Unterstützung;das ist hier an vielen Stellen gesagt worden . Wir sind ge-rade in einer besonders dramatischen Situation, weil derUS-Präsident angekündigt hat und es auch so in seinemBudgetentwurf verschriftlicht, dass die Vereinigten Staa-ten von Amerika massiv Geld streichen werden bei denUN-Hilfsorganisationen, beim UNHCR, dem Flücht-lingswerk, genauso wie beim Welternährungsprogramm .Das ist sehr dramatisch, insbesondere für Libanon . Manmuss darüber nachdenken, wie man das auffängt . Aberman muss selbstverständlich auch mit den Amerikanerndarüber reden, was das bedeutet .Ich erwähne das an dieser Stelle, weil es gerade in derUnion einige Leute gibt, die wie selbstverständlich sa-gen: Na ja, dann geben wir 2 Prozent für Militär aus; dasist unsere internationale Verpflichtung, das bringt mehrSicherheit und beruhigt den amerikanischen Präsiden-ten . – Das ist so nicht richtig . Wir müssen den Amerika-nern erklären, dass genau hier die richtigen Ausgaben fürSicherheit ansetzen .
Nicht Geld zu verbrennen in ineffizienten Beschaffungs-strukturen bringt mehr Sicherheit, sondern Geld auszuge-ben für diejenigen, die in den Lagern sitzen und dringendHilfe brauchen . Das ist der größte Beitrag, den wir zurStabilität im Libanon leisten können .
Schauen Sie sich einmal die Situation gerade in denkleineren Kommunen vor Ort an! Schauen Sie sich an,welche Konflikte es um die Verteilung von Ressourcenwie Strom und Wasser gibt . Es gibt Städte und Dörfermit drei oder vier Unterrichtsschichten: Vormittags wer-den die libanesischen Kinder in Französisch unterrich-tet, nachmittags in drei Schichten die syrischen Kinderin arabischer Sprache . Das zeigt, dass Libanon wirklichjede Hilfe brauchen kann . Im Übrigen müssen wir wegvon der humanitären Hilfe . Wir müssen stattdessen dau-erhafte Strukturen im Gesundheitsbereich und eine ver-nünftige Infrastruktur schaffen . Wir müssen mehr inves-tieren . Beim Libanon wird es nicht mehr um humanitäreHilfe gehen, sondern um Entwicklungszusammenarbeit .Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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Auch hier gilt es, Geld richtig zu investieren, um Stabi-lität zu erreichen .
Vielen Dank . – Letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der kleine und gesellschaftlich offene Libanon war schon
immer Spielball regionaler Mächte und der Interessen ei-
niger westlicher Staaten . Seit bereits mehr als zehn Jah-
ren ist er Schauplatz eines Kräftemessens um die neue
Machtbalance in der Region . Die Operation UNIFIL hat
einen wesentlichen und wichtigen Anteil daran, dass der
Libanon noch nicht im Chaos versunken ist und dass es
der syrische Bürgerkrieg bisher nicht geschafft hat, in das
Land überzuschwappen .
UNIFIL setzt ein Zeichen im von Krieg und Zerstö-
rung, von Not und Elend geprägten Nahen Osten . Die
Mission macht Hoffnung, weil sie zeigt, wie durch nach-
haltige praktische Zusammenarbeit über Jahre Kompe-
tenzen und Sicherheit aufgebaut werden . Die Operation
UNIFIL dient der Begleitung der Waffenruhe zwischen
Libanon und Israel, unterstützt die libanesische Regie-
rung bei der Grenzsicherung und hilft beim Kampf gegen
den Waffenschmuggel, und dies – wir haben es bereits
gehört – mit vollem Erfolg: Der Waffenschmuggel über
See ist praktisch zum Erliegen gekommen .
Der deutsche Beitrag dient neben der Beteiligung
an der maritimen Taskforce mit der Korvette „Braun-
schweig“ im Schwerpunkt dem Ausbau der Fähigkeiten
der libanesischen Marine . Auch bilateral engagiert sich
Deutschland bei Ausbildung, Ausstattung und beim Auf-
bau der maritimen Streitkräfte zur Überwachung der See-
grenzen .
Neben der Unterstützung der Marine sollen in diesem
Jahr weitere Projekte im Rahmen der deutschen Ertüch-
tigungsinitiative im Libanon umgesetzt werden . Der
Fokus liegt auf der Stärkung der Kapazitäten der liba-
nesischen Armee zur Sicherung der Grenzen mit Syrien .
Wir müssen die Fähigkeiten der libanesischen Marine
so ausbauen, dass sie in der Lage ist, die südliche Küste
selbstständig zu überwachen .
Aber wie helfen wir darüber hinaus? Herr Gehrcke hat
es so dargestellt, als wenn wir hier nur militärisch unter-
wegs wären . Nein, Herr Gehrcke, das stimmt nicht . Sie
haben das, denke ich, wissentlich und ganz bewusst unter
den Tisch fallen lassen, weil Sie einen anderen Eindruck
erzeugen wollen . Die Beteiligung an UNIFIL ist nur ein
Teil eines umfassenden Engagements für den Libanon .
Deutschland ist einer der größten bilateralen Geldgeber .
Kooperationsschwerpunkte sind die Versorgung der pa-
lästinensischen Flüchtlingscamps, die Schul- und die
berufliche Bildung sowie die Nahrungsmittelsicherheit.
Seit 2012 hat das Entwicklungshilfeministerium dafür
590 Millionen Euro zur Verfügung gestellt . Das libanesi-
sche Bildungsprogramm RACE wurde seit 2014 mit über
142 Millionen Euro unterstützt . So konnte allein in den
Jahren 2016 und in diesem Jahr, 2017, für über 200 000
syrische Kinder der Schulbesuch gesichert werden .
Ich denke, dass wir diesen wichtigen Baustein bei der
Hilfe für den Libanon und bei der Hilfe, die Stabilität im
Libanon zu erhalten, brauchen . Daher ist es richtig, heute
zuzustimmen . Wir sollten entsprechend beraten .
Lassen Sie mich abschließend auf eines hinweisen:
Die deutsche Marine leistet nicht nur im Rahmen von
UNIFIL-Missionen einen hervorragenden Beitrag, son-
dern sie ist seit Jahren in einer ganzen Reihe von weiteren
Einsätzen gefordert . Sie operiert an der Belastungsgren-
ze und liefert dabei hervorragende Arbeit ab . Mein Dank
gilt deshalb den Soldatinnen und Soldaten, die fernab der
Heimat für ein Stück mehr Sicherheit und Stabilität in
dieser Region kämpfen .
Ich sage ganz ehrlich, Herr Kollege Nouripour: Ich
finde es gut, dass Sie dieses Mandat unterstützen und dass
Sie sich für den Einsatz unserer Soldatinnen und Solda-
ten ausgesprochen haben . Aber Sie können nicht auf der
einen Seite sagen, dass Sie sich für die Soldatinnen und
Soldaten in solch wichtigen Missionen einsetzen und auf
der anderen Seite weniger Geld für die Ausrüstung und
Ausbildung ausgeben wollen .
Nein, damit unsere Soldatinnen und Soldaten auch die-
sen Einsatz bestmöglich bestreiten können, brauchen wir
zusätzliche Investitionen in unsere Truppe .
Wenn die Bundeswehr sagt: „Wir dienen Deutsch-
land“, dann sollten wir öfter sagen: Wir danken euch .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .Die Vorlage auf Drucksache 18/12492 soll nach einerinterfraktionellen Vereinbarung an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden . SindSie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall .Dann ist so beschlossen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 c sowieden Zusatzpunkt 9 auf:42 . a) Beratung des Antrags der Abgeordne-ten Katja Kipping, Sabine ZimmermannOmid Nouripour
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, Matthias W . Birkwald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEProgramm für soziale Gerechtigkeit –Konsequenzen aus dem Fünften Armuts-und ReichtumsberichtDrucksache 18/11796Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend
zu dem Antrag der Abgeordneten NorbertMüller , Sabine Zimmermann
, Sigrid Hupach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKEKinder und Familien von Armut befrei-en – Aktionsplan gegen KinderarmutDrucksachen 18/10628, 18/12454c) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend
zu dem Antrag der Abgeordneten NorbertMüller , Sigrid Hupach, NicoleGohlke, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEKinderrechte umfassend stärkenDrucksachen 18/6042, 18/11886 Buchsta-be aZP 9 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Wolfgang Strengmann-Kuhn, KerstinAndreae, Beate Müller-Gemmeke, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENTeilhabe statt Armut – Alle Menschen amWohlstand beteiligenDrucksache 18/12557Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heitInterfraktionell wurde vereinbart, für die Aussprache38 Minuten vorzusehen . Sind Sie damit einverstanden? –Ich sehe allgemeines Nicken . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort für die FraktionDie Linke hat die Kollegin Sabine Zimmermann .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Die Union will indieser Wahlperiode gar nicht erst über den Armuts- undReichtumsbericht im Plenum diskutieren . Frau Merkelsagt: Deutschland geht es gut .
Eine Diskussion über Armut passt da natürlich nichtin Ihr Bild, Kolleginnen und Kollegen von der Union;das ist völlig klar . Dabei ist die zunehmende Armut inDeutschland eines der größten Probleme, das endlich an-gegangen werden muss .
Wenn Millionen Menschen in Armut leben, obwohl siearbeiten, können Sie doch nicht einfach wegschauen . Dasist verantwortungslos von der Politik bzw . von Ihnen .
Ich bin seit 27 Jahren im Bereich der Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik tätig, und ich habe schon viele Refor-men mitgemacht, aber die Agenda 2010 – das muss ichIhnen ehrlich sagen – hat sehr viel Armut in unser Landgebracht . Das kann man täglich sehen . Ich stelle fest, dassdie Menschen immer weniger Geld in der Tasche haben,weil sie immer mehr bezahlen müssen für Energie, Was-ser, Bus, Bahn, Bildung, Gesundheit und Pflege. Und Siestellen sich hier hin und erzählen den Bürgerinnen undBürgern, was für ein Jobwunder Sie bewirkt haben . DenPreis für Ihr Jobwunder zahlen die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer mit den niedrigen Löhnen, Menschen,die zwei oder drei Jobs haben, Langzeiterwerbslose, dienicht wissen, wie sie mit den Almosen über die Rundenkommen sollen .Ich nenne Ihnen einmal die Zahlen, die Sie nie hörenwollen – das sind keine Zahlen der Linken, sondern Zah-len des BMAS, die wir angefragt haben –: Jeder zehnteBeschäftigte ist heutzutage armutsgefährdet . 2,7 Millio-nen Menschen sind mittlerweile auf einen Zweitjob ange-wiesen . 1 Million Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter be-kommen 50 Prozent weniger als die Stammbelegschaft .6,4 Millionen Menschen sind im Hartz-IV-System gefan-gen . 1,7 Millionen Kinder wachsen in Armut auf . ZumThema Altersarmut: 2,7 Millionen über 65-Jährige sindvon Armut bedroht . Mittlerweile haben wir in Deutsch-land 1 000 Tafeln mit über 2 000 Ausgabestellen . – UndSie wollen nicht über Armut reden? Das ist Zynismuspur .
Meine Damen und Herren von SPD, Bündnis 90/DieGrünen und CDU/CSU – die FDP ist vier Jahre langnicht vermisst worden –, Ihre Agenda 2010 hat die Lohn-spirale nach unten in Gang gesetzt, und die kann nichtaufgehalten werden . Die Armut in diesem Land nimmtzu . Sie kann sich nicht verstecken . Man kann sie auchnicht wegdiskutieren . Wer sich dieser Diskussion nichtstellt, der entzieht sich der Verantwortung für eines dergrößten Probleme in unserem Land .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Ausgerechnet Altkanzler Schröder hat letztes Jahr denLudwig-Erhard-Preis für seine Arbeitsmarktreform be-kommen . Diese Reform hat den Sozialstaat so geschlif-fen, dass er nicht mehr vor Armut schützt . Das ist dasErgebnis Ihrer Reform, und das wird die Linke nie ak-zeptieren .
Meine Damen und Herren der SPD, ich muss Ihnenehrlich sagen: Es lohnt sich nicht, an der Agenda 2010herumzudoktern . Sie müssen an den Kern der Agendagehen, und der Kern ist der Niedriglohnbereich . Dermuss bekämpft werden .
Sie haben dafür gesorgt, dass jede Arbeit zumutbar ist .Qualifikationen sind nichts mehr wert, weil jede Arbeitangenommen werden muss, egal zu welchen Bedingun-gen . Arbeiten rund um die Uhr und zu jedem Lohn ist an-gesagt, und das ist unsozial und spaltet die Gesellschaft .
Die Bürgerinnen und Bürger brauchen mehr Geld inder Tasche . Das ist doch der Punkt .
Wenn sie mehr Geld in der Tasche haben, Kollege Bartke,dann können sie auch mehr kaufen, und wenn sie mehrkaufen können, dann muss mehr produziert werden, undwenn mehr produziert wird, dann entstehen mehr Ar-beitsplätze . Das ist der Kreislauf, an den Sie sich einmalhalten sollten .
Selbst unsere Nachbarn Frankreich und Belgien habensich bei der EU beschwert, weil Deutschland einen sogroßen Niedriglohnsektor hat und sie damit einen Wett-bewerbsnachteil haben .
– Hören Sie mir bitte zu!Nach dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht ha-ben 40 Prozent der Erwerbstätigen weniger Einkommenals 1999 . Das ist doch das Problem; darum müssen Siesich einmal kümmern . Im Gegensatz dazu hat sich dieKonzentration des Vermögens in Deutschland stärkerausgeprägt . Die oberen 10 Prozent besitzen 60 Prozentdes Vermögens, während die untere Hälfte nur 1 Prozentbesitzt . Das sagt doch schon alles . Diese Entwicklung istpervers und asozial, und die Linke sagt: Die Umvertei-lung von unten nach oben muss endlich umgekehrt wer-den .
Es darf auch nicht sein, dass die Interessen der Reichenin der Politik stärker vertreten werden als die Interessender Armen . Dieses Ergebnis der Studie hat die Bundesre-gierung in diesem Bericht einfach verschleiert .Meine Damen und Herren, Einkommensreichtumbedeutet ein hohes Maß an Gestaltungs- und Verwirkli-chungschancen . Das gilt aber auch andersherum: Armutan Einkommen und Vermögen bedeutet, dass das eige-ne Leben nicht gestaltet werden kann . Es bedeutet, dassman seinen Wohnsitz nicht frei wählen kann, weil dieMieten überall steigen . Es bedeutet, dass man sich nichtkleiden kann, wie man möchte . Es bedeutet, dass manvon sozialen Aktivitäten wie dem Besuch eines Kinosoder eines Tierparks ausgeschlossen ist, weil man keinGeld hat, und es bedeutet, dass man seinen Kindern nichtdas geben kann, was sie brauchen . Tun Sie endlich, wasdas Grundgesetz mit dem Sozialstaatsgebot von Ihnenverlangt! Tun Sie endlich etwas gegen die Spaltung derGesellschaft, meine Damen und Herren! Lesen Sie end-lich einmal den Armuts- und Reichtumsbericht! Dannbekommen Sie vielleicht eine Vorstellung davon, wie esden Menschen geht, die in unserem Land kein Geld ha-ben .
Vielen Dank . – Jetzt spricht Paul Lehrieder für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Ich freue mich, dass wir auch in die-ser Woche eine Debatte über die Zukunft unseres Landesführen, über unsere Kinder . Kinder brauchen Verlässlich-keit und Zuwendung in der Familie und in ihrem Umfeld .
Sie haben keinen Einfluss darauf, ob sie in einem Brenn-punktviertel zur Welt kommen oder bei wohlhabendenEltern aufwachsen .Leider ist unbestritten, dass es auch in unserem LandKinder gibt, die von Armut betroffen sind . Kinder ausarmen Familien haben oftmals keine echten Chancen aufgleichberechtigte Teilhabe . Im Unterschied zu Erwach-senen haben sie selbst zudem kaum Möglichkeiten, ihreLage zu verbessern bzw. Einfluss auf ihre Lage zu neh-men . Frühe Armut prägt die Betroffenen von klein aufund bleibt oft ein Leben lang bestehen . Es gibt sogar so-genannte vererbte Armut .Arme Kinder wachsen sozial isolierter auf, habenhäufiger gesundheitliche Beschwerden und häufiger Pro-bleme auf ihrem Bildungsweg als Gleichaltrige ohne fi-nanzielle Sorgen . Obwohl Deutschland zu den reichstenLändern der Erde zählt, hat sich die Armutsrisikoquotehierzulande erhöht, und zwar von 12 bis 14 Prozent auf16 Prozent . Dazu muss man wissen: Die Armutsrisiko-quote bezieht sich auf 60 Prozent des Medianeinkom-Sabine Zimmermann
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mens . Wenn das Medianeinkommen durch Lohnsteige-rungen wächst, kann man auch mit einem etwas höherenEinkommen weiterhin von Armut bedroht sein .
– Herr Birkwald, stellen Sie eine Frage . Dann habe ichmehr Zeit . – Laut den Zahlen des fünften Armuts- undReichtumsberichts sind alleinerziehende Mütter und Vä-ter nach wie vor besonders von Armut betroffen, unter ih-nen vor allem diejenigen ohne berufliche Qualifizierung.Zwar ist der Anteil der Personen, die von erheblichenmateriellen Einbußen betroffen sind – Herr Birkwald, Siemüssen zuhören –, zwischen 2013 und 2015 von 5,4 auf4,4 Prozent zurückgegangen . Dennoch sind Armut undsoziale Ausgrenzung gerade von Kindern und Jugend-lichen aus unserer Sicht mit einer Politik auf der Basiseines christlichen Verständnisses nur schwer vereinbar .Daher wollen wir allen Kindern und Jugendlichen fai-re Startchancen und optimale Entwicklungs- und Entfal-tungsmöglichkeiten bieten . Das geht zum einen über eineBeschäftigung der Eltern, mit der sie vernünftig verdie-nen, und zum anderen über Hilfen für die Kinder und fürdie Familien .Die Familien in unserem Land werden mit unzähligenfamilienpolitischen Leistungen unterstützt, die Eltern einsolides Auskommen sichern und Kinderarmut bekämp-fen sollen, beispielsweise durch das Kindergeld, denKinderfreibetrag, den Ausbildungsfreibetrag, den Entlas-tungsbetrag für Alleinerziehende, welche die Steuerlastsenken können . Alleinerziehende und ihre Kinder sollendarüber hinaus durch die Ausweitung beim Unterhalts-vorschuss besser unterstützt werden; das Gesetz, das wirgestern im Rahmen der Verfassungsreform auf den Weggebracht haben .Künftig soll der Unterhaltsvorschuss bis zum 18 . Le-bensjahr gezahlt werden . Die maximale Bezugsdauer von72 Monaten wird ab nächsten Monat entfallen . Mit demKinderzuschlag werden Eltern im Niedrigeinkommens-bereich unterstützt, die im ergänzenden ALG-II-Bezugüberdurchschnittlich oft vertreten sind . Er wurde im letz-ten Jahr um 20 Euro erhöht und liegt seit dem 1 . Januar2017 bei maximal 170 Euro . Auch Kinderbetreuungskos-ten wirken sich steuermindernd aus .Doch nicht allein die materielle Absicherung, sondernauch das Lebensumfeld und die Bildungsmöglichkeitensind entscheidende Parameter für die Entwicklung vonKindern . Der Zugang zu Bildung und Ausbildung so-wie die soziale und kulturelle Teilhabe spielen bei derBekämpfung von Kinderarmut eine besondere Rolle . Jehöher der Bildungsgrad, desto eher sind die Menschen inder Lage, für sich und ihre Familien selbst zu sorgen undArmut durch Erwerbstätigkeit zu überwinden . Beschäf-tigung und mehr Bildung sind die Schlüssel zur Armuts-vermeidung, meine sehr verehrten Damen und Herren .Das wichtigste Mittel gegen Kinderarmut ist da-her nach wie vor, die Eltern in Arbeit zu bringen; HerrBirkwald, ich hatte bereits zu Beginn darauf hingewie-sen .
– Mit ordentlichem Lohn . Auch das habe ich schon ge-sagt . Frau Zimmermann, danke, dass Sie mir so genauzuhören . – Die Eltern brauchen Anreize für die Aufnah-me von Arbeit, die entsprechende Infrastruktur und mehrChancen auf dem Arbeitsmarkt . Auch dank meiner lang-jährigen Tätigkeit im Ausschuss für Arbeit und Sozialesweiß ich, dass wir diesbezüglich schon weitreichendeSchritte unternommen und gute Erfolge vorzuweisenhaben . Mein geschätzter Kollege Professor Dr . MatthiasZimmer wird dies als nächster Redner nach mir ausführ-licher darlegen .Zu einer guten Arbeits- und Beschäftigungspolitik ge-hört zwingend die Vereinbarkeit von Familie und Beruf .Eltern können nur dann beruhigt zur Arbeit gehen, wennsie die Kinder in guten Händen wissen . Auch da habenwir beispielsweise erst vor drei Wochen mit 100 000neuen Kitaplätzen und 1,2 Milliarden Euro Investitio-nen gemeinsam mit den Kommunen und Ländern rich-tungsweisende Weichenstellungen vorgenommen . Ichbedanke mich auch bei den Kolleginnen und Kollegenunseres Koalitionspartners dafür, dass wir dort wieder ander Spitze der Bewegung waren und den Familien einweiteres Hilfspaket zur Verfügung stellen konnten .Dem aktuellen Fortschrittsindex des Bundesfamilien-ministeriums zufolge ist die Arbeitswelt in Deutschlandin den vergangenen Jahren insgesamt familienfreundli-cher geworden . Zu den Fortschritten gehört neben derZunahme familienfreundlicher Maßnahmen in den Un-ternehmen wie der Arbeitszeitverkürzung und -flexibili-sierung auch ein Anstieg der Betreuungsquoten bei denunter dreijährigen Kindern .Der Kitaausbau trägt entscheidend zu einer neuenQualität der Vereinbarung von Familie und Beruf bei .Ja, es ist richtig: Als wir den Kitaausbau begonnen ha-ben, sind wir von einer Nachfragequote von zunächst32 Prozent, dann 35 Prozent und schließlich 38 Prozentausgegangen; mittlerweile sind wir bei einer Nachfrage-quote von 42 Prozent . Hier schafft das Angebot wiederNachfrage, und wir werden auch in den nächsten Jahrenaufpassen müssen, dass wir den Familien rechtzeitig aus-reichende Kitaplätze anbieten können .Mit dem Gesetz zum weiteren quantitativen und qua-litativen Ausbau der Kindertagesbetreuung wurde dasInvestitionsprogramm „Kinderbetreuungsfinanzierung“2017 bis 2020 auf den Weg gebracht . Ich habe bereitsauf die 1,2 Milliarden Euro Investitionen hingewiesen,die wir vor drei Wochen auf den Weg gebracht haben .Wir sind dabei, den Familien zu ermöglichen, aus eigenerKraft Kita, Familie und Beruf zu vereinbaren .Wir haben Arbeitsplätze geschaffen und haben mitt-lerweile die besten Beschäftigungszahlen seit 26 Jahren:weniger als 2,5 Millionen Arbeitslose .
Paul Lehrieder
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– Dass Sie das zum Schnaufen bringt, verstehe ich, FrauZimmermann .Frau Präsidentin, ich sehe, dass die Lampe blinkt . Ichmuss einen Zettel drauflegen. – Wir haben weniger alshalb so viele Arbeitslose wie zu der Zeit, als ich in denDeutschen Bundestag einziehen durfte; das war 2005 .Ich glaube, so viel hat die Große Koalition, die unions-geführte Regierung, in den letzten Jahren nicht falschgemacht .Ich bitte Sie, uns auf unserem weiteren Weg zwarkritisch, aber doch zu begleiten . Reden Sie Deutschlandnicht schlechter, als es ist! Ich wünsche Ihnen auf jedenFall auch an den kommenden Pfingstfeiertagen den Hei-ligen Geist, dass Sie bessere Anträge schreiben können,Frau Zimmermann .Danke schön .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetztDr . Wolfgang Strengmann-Kuhn das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der mittlerweile vorliegende Armuts- und Reichtums-bericht der Bundesregierung mit seinen über 600 Seitenist eine Bilanz von zwölf Jahren Regierung unter Uni-onsführung . Man muss sagen: Es ist ein Armutszeugnis;denn Armut und Ungleichheit sind auf einem Rekordni-veau, und das alles trotz guter ökonomischer Rahmenbe-dingungen . Wie gesagt, es ist ein Armutszeugnis .
Man darf dabei nicht vergessen: In diesen zwölf Jah-ren hat auch die SPD mitregiert . Das heißt, es ist auchein Armutszeugnis für die SPD . Man muss angesichtsaktueller Umfrageergebnisse und Wahlerfolge der FDPauch noch einmal daran erinnern: Vier Jahre lang warauch Schwarz-Gelb an der Regierung . In dieser Zeit ist,vorsichtig formuliert, nichts besser geworden, sonderneher schlechter .Die Zahlen liegen jetzt auf dem Tisch, und sie lassensich nicht schönreden, auch wenn das von Vertretern derRegierungsfraktionen und der Regierung immer wiederversucht wird . Es ist auch bezeichnend, dass heute zudem Armutsbericht zwei Anträge von den Linken undden Grünen zu Konsequenzen aus den Ergebnissen vor-liegen . Armut ist für Sie in der Großen Koalition schlichtkein Thema .
Aber Armut ist ein zentrales Gerechtigkeitsproblem .Das Niveau von Armut und sozialer Ungleichheit ist inDeutschland so hoch, dass der soziale Zusammenhalt inDeutschland ernsthaft gefährdet ist . Deswegen ist jetztendlich Handeln angesagt .
Wir Grünen haben dazu in den letzten Jahren immerwieder Konzepte vorgelegt, die wir jetzt in unserem An-trag noch einmal gebündelt haben . Wir wollen, dass ausarmen Menschen nichtarme Menschen werden . Wir wol-len soziale Teilhabe für alle, und zwar selbstbestimmteTeilhabe für alle . Wir wollen eine inklusive Gesellschaft .Dazu gehört auch, dass wir untere und mittlere Einkom-men entlasten, vor allem Familien .Wir haben das in unserem Antrag in elf Bereiche mitvielen Unterpunkten untergliedert, die ich jetzt nicht alledetailliert vortragen kann . Ich nenne aber die wichtigstenPunkte .Wir brauchen gute Arbeit und müssen die prekäre Be-schäftigung eindämmen . Wir brauchen insbesondere fürdiejenigen mit den größten Schwierigkeiten wie Lang-zeitarbeitslose und Geflüchtete Zugang zum Arbeits-markt .Wir brauchen Zugang zu guter Bildung für alle, eininklusives Bildungssystem . Wir brauchen bezahlbarenWohnraum; das ist eines der zentralen Probleme in denStädten . Wir brauchen Zugang zu Gesundheitsleistungenfür alle; dazu haben wir vielfältige Maßnahmen in unse-rem Antrag aufgeführt .Wir brauchen aber auch finanzielle Leistungen; dennein Mindestmaß an Einkommen ist notwendig, um amgesellschaftlichen Leben teilhaben zu können .
Das Bundesverfassungsgericht – das muss immer wie-der betont werden – sagt, dass ein menschenwürdigesExistenzminimum ein Grundrecht sei . Wir Grüne wollendieses Existenzminimum in allen Lebenslagen und Le-bensphasen gewähren, und zwar möglichst unbürokra-tisch und, wo es geht, auch ohne Bedürftigkeitsprüfung .Zentral ist das grüne Familienbudget mit einer Kinder-grundsicherung, die das jetzige System der Familienför-derung aus Ehegattensplitting, Kinderfreibeträgen undKindergeld ersetzt; denn wir wollen, dass die Förderungbei den Kindern ankommt . Wir wollen die Kinder in denMittelpunkt der Familienförderung stellen .
Wir brauchen einen Kindergeldbonus; denn wir wol-len, dass das sächliche Existenzminimum tatsächlich füralle Kinder im unteren Einkommensbereich garantiertPaul Lehrieder
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wird . Wir wollen nicht, dass wie bisher mit dem Kinder-zuschlag das Geld in der Verwaltung, in der Bürokratiehängenbleibt, sondern es soll bei den Kindern ankom-men .
Weiterhin machen wir Vorschläge zur Rente . Die Ga-rantierente soll gewährleisten, dass Menschen, die langein die Rentenversicherung eingezahlt haben, eine Rentebekommen, die über dem Grundsicherungsniveau liegt .Auch das soll ohne Bedürftigkeitsprüfung geschehen .Das wäre eine echte Rente . Wir sind die einzigen, dieeine echte Garantierente vorschlagen .
Auch die soll ohne Bedürftigkeitsprüfung gewährt wer-den, nicht nach dem Modell der Linken, bei dem man ei-nen Antrag stellen muss, man sein Vermögen offenlegenmuss und man angeben muss, wie groß die Wohnung ist,in der man wohnt; bei diesem Modell werden alle zusätz-lichen Einkommen angerechnet .
Das ist keine Rente, genauso wenig wie die Solidarren-te der SPD . Wir brauchen vielmehr eine Garantierente,ohne dass die Menschen zum Sozialamt gehen und ihreEinkommens- und Vermögensverhältnisse offenlegenmüssen .
Wir brauchen am Ende natürlich eine gute, bürokratie-freie Grundsicherung .Schließlich darf man, wenn man über Armut redet,über Reichtum nicht schweigen . Wir brauchen wiederdie Einführung der Vermögensteuer und andere Maßnah-men, damit sich die Reichen wieder ausreichend an denöffentlichen Ausgaben beteiligen .Da meine Redezeit jetzt fast zu Ende ist, will ich nurnoch eine wichtige Gruppe erwähnen, die sonst fast garnicht vorkommt und auch im Armuts- und Reichtumsbe-richt nur am Rande erwähnt wird, nämlich die Obdachlo-sen in Deutschland . Sie tauchen im Zusammenhang mitden Zahlen im Armuts- und Reichtumsbericht, die schongenannt worden sind, gar nicht auf, weil diese Zahlen aufUmfragen basieren, bei denen die Obdachlosen nicht er-fasst werden . Wir müssen endlich vernünftige Zahlen be-schaffen und ein Maßnahmenpaket gegen Obdachlosig-keit in Deutschland beschließen; denn das sind wirklichdie Ärmsten in Deutschland .Wir dürfen uns nicht an die Obdachlosigkeit gewöh-nen, aber auch nicht an die 2,5 Millionen armen Kinder,nicht an die 4 Millionen armen Erwerbstätigen und nichtan die steigende Altersarmut . Wir müssen jetzt endlichhandeln . Es geht um den sozialen Zusammenhalt .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Daniela
Kolbe das Wort .
Liebe Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen undKollegen! Gestern hat dieses Hohe Haus mit einer Zwei-drittelmehrheit das Grundgesetz an verschiedenen Stel-len geändert . Es gibt auch in der Bevölkerung eine satteZweidrittelmehrheit . Die betrifft allerdings eine ganz an-dere Frage, nämlich die Frage, ob die Schere zwischenArm und Reich in Deutschland zu weit aufgegangen ist .71 Prozent in Westdeutschland und sogar 77 Prozent inOstdeutschland haben genau das Gefühl: Die Schere istzu weit aufgegangen .
Dahinter steckt ein massives Ungerechtigkeitsgefühl:Man hat das Gefühl, dass es in Deutschland nicht mehrum Leistung geht, dass es denjenigen gibt, der Millionen-boni erhält, egal welche Leistungen er erbracht hat, undes diejenige gibt, die den ganzen Tag an der Kasse stehtund Regale einräumt, am Ende des Monats aber trotzdemimmer wieder im Dispo ist .Es gibt Kinder, die – es sei ihnen gegönnt – sprich-wörtlich mit dem goldenen Löffel im Mund geborenwerden, die eine Nanny haben, Geigenunterricht bekom-men und eine Bibliothek im eigenen Haus haben, und esgibt die Kinder, die in problematischen Stadtvierteln, indenen noch mehr arme Kinder leben, geboren werden,die womöglich ohne Frühstück in die Schule geschicktwerden .
Auch die Weltbank, die OECD und andere Organi-sationen schreiben es Deutschland ins Stammbuch: Dieungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen inDeutschland ist so frappierend, dass das nicht nur ein so-ziales Problem, sondern auch ein ökonomisches Problemist . Deutschland verspielt durch diese ungleiche Vertei-lung Wirtschaftschancen . Ergo reden wir hier nicht nurüber ein Gefühl der Bevölkerung, sondern über die Reali-tät . Die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschlandist zu weit aufgegangen .
Das heißt auch: Es ist viel zu tun . Gute Politik beginntbeim Realisieren und Annehmen der Wahrheit .Zum Armuts- und Reichtumsbericht gab es Studien .Aus einer wurde in dem von Frau Nahles ursprünglichvorgelegten Entwurf wie folgt zitiert:Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderungist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderungvon einer großen Anzahl von Menschen mit höhe-rem Einkommen unterstützt wird .Liebe CDUler und CSUler, wenn Sie sich über dasGefühl vieler Menschen wundern, die das Gefühl haben,Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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sie könnten nichts bewegen – das schlägt einem manch-mal auch als Aggression entgegen –, möchte ich Ihneneine kleine Leseempfehlung geben . Sie bezieht sichauf die Studie von Armin Schäfer . Ich bitte darum, dieHauptaussagen solcher Studien in Zukunft nicht im Be-richt zu löschen . Die komplette Studie – da ist der Minis-terin zu danken, die hier einen sehr transparenten Prozessdurchgeführt hat – findet man im Internet unter www .armuts-und-reichtumsbericht .de . Unter „Service“ und„Studien“ ist es der oberste Eintrag . Ich empfehle Ihnen,es zu lesen . Ich empfehle dem gesamten Haus, sich die-se Studie anzusehen; denn in dieser Studie versteckt istauch ein Hinweis darauf, warum die Verteilung so weitauseinandergegangen ist . Das ist so, weil in der Vergan-genheit eben auch in den Bereichen Arbeitsmarkt und Fi-nanzpolitik tendenziell eine Politik gemacht worden ist,die den höheren Einkommen zupasskam . Die Beziehersolcher Einkommen haben diese Politik befürwortet . Da-mit ist die ungleiche Verteilung in Deutschland durchausweiter vorangetrieben worden . Mich hat das nachdenk-lich gemacht . Es sollte uns alle nachdenklich machen .
Aber wir haben viel vor . Wir werden über Steuernsprechen müssen . Das werden wir intensiv im Wahl-kampf tun . Deswegen werde ich dazu jetzt nichts wei-ter ausführen . Im Armuts- und Reichtumsbericht ist aberauch Ermutigendes zu sehen . Die Kinderarmut ist dortgeringer, wo die Eltern arbeiten gehen . Und wir habensehr viel dafür getan, dass Eltern in gute Arbeit kommen .Wir haben den Mindestlohn eingeführt und die Tarifbin-dung gestärkt . Wir haben die Vereinbarkeit von Familieund Beruf vorangebracht . Auch ist nicht alles so schwarz,wie es die Linke gerne malt, wenn es um den Arbeits-markt geht .
Es bleibt aber noch viel zu tun . Ich nenne die Stichworte„Leiharbeit“ und „Langzeiterwerbslose“ . Auch da wer-den wir – das werden wir im Wahlkampf ansprechen – ineiner künftigen Regierung für mehr Gerechtigkeit sorgen .
Vielen Dank fürs Zuhören .
Vielen Dank . – Jetzt hat der eben schon angekündigte
Professor Dr . Matthias Zimmer das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, auch für diefreundliche, gleich doppelte Ankündigung . – Liebe FrauKollegin Kolbe, man hatte bei Ihnen streckenweise denEindruck, Sie würden nicht dieser Koalition angehören .Dabei hat die Bundesregierung, die von dieser Koaliti-on getragen wird, auch mit der Arbeitsministerin AndreaNahles Vorzügliches geleistet. Ich finde, das sollten wirauch einmal anerkennen .
Meine Damen und Herren, ich will den Armuts- undReichtumsbericht einmal nutzen, um die Rituale der da-durch ausgelösten Verteilungsdebatten infrage zu stellen .Ich frage: Wie können wir langfristig sicherstellen, dassunsere Gesellschaft nicht auseinanderfällt? Hier solltenwir, so finde ich, die Frage von Leistungs-, Teilhabe- undVerteilungsgerechtigkeit auf die Umwälzungen unsererArbeitswelt beziehen .Ich will drei Herausforderungen skizzieren .Die erste Herausforderung sehe ich in der Bilanzder sogenannten vierten industriellen Revolution . DasWeltwirtschaftsforum geht davon aus, dass durch dieseindustrielle Revolution zwar neue Arbeitsplätze geschaf-fen werden, dies aber bei weitem nicht ausreicht, um dieArbeitsplätze zu kompensieren, die verloren gehen . Ichfinde, wir sollten uns Folgendes überlegen: Wenn es Ar-beit ist, die bei uns Sozialsysteme finanziert, und wennes Maschinen sind, die die Arbeit ersetzen, sollten dannnicht Maschinen herangezogen werden, unsere Sozial-systeme mitzufinanzieren? Müssen wir über eine Ma-schinensteuer nachdenken? Ich finde, nachdenken ist niefalsch, und Frageverbote darf es nicht geben .
Darüber hinaus: Es kann doch nicht klug sein, wennwir nur noch Produzenten haben, aber keine Konsumen-ten mehr, die Produkte nachfragen . Es hilft also keinem,wenn wir die Nachfrage durch Freisetzung von Arbeits-kräften systematisch schwächen, auch wenn es betriebs-wirtschaftlich sinnvoll sein mag . Aber die Summe be-triebswirtschaftlicher Rationalitäten mündet eben nichtin ein wirtschaftliches Gemeinwohl .
Eine zweite Herausforderung sehe ich in der mögli-chen Zerfaserung der Arbeitswelt . Karl Marx hat in derDeutschen Ideologie das Reich der Freiheit einmal kon-kretisiert als die Möglichkeit, morgens zu jagen, mittagszu fischen, abends Viehzucht zu treiben und nach demEssen zu kritisieren, ohne jemals Jäger, Fischer, Hirteoder Kritiker zu werden . Eine wahrhaft noble Vision!Wir müssen uns aber heute eher der Gefahr erwehren,dass in absehbarer Zeit durch Internetplattformen ein Ar-beitnehmer morgens Buchhaltung macht, mittags Sekre-tariatsaufgaben erledigt, abends Pflegedienste leistet undnach dem Essen die Akquise der Aufträge für den Folge-tag macht, ohne jemals Buchhalter, Bürofachkraft oderPfleger zu sein, weil man eigentlich soloselbstständig istund die soziale Absicherung in weite Ferne gerückt ist .Das Reich der Freiheit wäre damit ebenso in weite Fernegerückt wie verlässliche soziale Perspektiven . Das wäredas Aufkommen eines digitalen Prekariats, unfähig, sichals Gemeinschaft zu organisieren, zerfasert sowohl in derArbeit als auch in der Arbeitsorganisation, die endgültigeReduktion des Einzelnen auf einen Kostenfaktor .Daniela Kolbehttp://www.armuts-und-reichtumsbericht.dehttp://www.armuts-und-reichtumsbericht.de
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Man muss ja die Vision von Marx nicht teilen . Aberder Sumpf der bloßen Notwendigkeit, der sich hier alsGefahr auftut, entspricht auch nicht unserem Menschen-bild als christliche Demokraten . Zugegeben, eine düstereVision . Aber schon heute tun wir ja so, als ob das Heilaller Arbeitnehmer darin liege, über Arbeit 4 .0 mehr Fle-xibilität zu haben, örtlich und zeitlich . Das halte ich fürzu kurz gegriffen . Ein Zugewinn an Flexibilität ist nichtgleichzusetzen mit einem Zugewinn an Autonomie odergar an Emanzipation .
Die dritte Herausforderung: die Organisation lebens-langen und übergreifenden Lernens . Der Schlüssel zurBefreiung aus materieller Deprivation liegt in der Bil-dung . Da sind Schulen und Hochschulen ebenso gefragtwie Betriebe und die Sozialpartner . Ich vermute, dasshier langfristig diejenigen Bildungssysteme im Vorteilsind, die inklusiv angelegt sind und Bildungschancennicht von der Finanzkraft der Eltern abhängig machen .
Wahr ist allerdings auch: Die bloße Ausbildung von Fer-tigkeiten zur Verstetigung von Berufsperspektiven imBesonderen und des wirtschaftlichen Wachstums im All-gemeinen mag zwar notwendig sein, ist aber nicht hin-reichend für ein gutes Leben . Wer seinen Lebenszweckausschließlich in Formen des Geldverdienens und einemzweckfreien Hedonismus sieht, trägt zu Formen geistigerund spiritueller Armut bei, die eine Gesellschaft ebensoschädigen können wie materielle Armut .
Deswegen: Bei allem Verständnis für MINT-Fächer, un-ser Leben bereichern eher diejenigen Fächer, die uns dieMöglichkeit der Reflexion auf uns selbst geben.
Die Zukunft, schrieb Rilke einmal, tritt in uns ein, „umsich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht .“Das ist unsere Chance, unsere Wirtschaft nach dem Bildvon uns in uns zu gestalten und damit auch maßgeblichdie Berichterstattung über Armut und Reichtum in dennächsten Jahren schon jetzt zu schreiben, bevor sie ge-schrieben wird .
Vielen Dank . – Jetzt hat Ulrike Bahr für die SPD-Frak-
tion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen undKolleginnen! Kinderarmut ist ein Thema, das niemandenvon uns kaltlässt . Arme Kinder sind Kinder mit reduzier-ten Chancen; denn zur materiellen Armut kommen invielen Fällen Bildungsferne und leider oft auch gesund-heitliche Probleme . Da ist die Politik gefragt . Da müssenwir handeln; keine Frage . Darum bin ich froh, dass dieKollegen und Kolleginnen von der Linken mit ihren An-trägen die Kinder stärker in den Fokus rücken .Aber wo ist der Hebel, um armen Kindern die bes-ten Chancen zu eröffnen? Mehr Geld ist immer gut; aberjeder Euro an direkten Transferzahlungen kostet großeSummen und entfaltet erst einmal begrenzte Wirkung .Eine massive Entlastung für die von Armut besonders be-drohte Gruppe der Alleinerziehenden haben wir übrigensgerade mit der Ausweitung beim Unterhaltsvorschuss be-schlossen . Ich meine, eine hervorragende Prävention ge-gen Armut für Kinder und Eltern sind beitragsfreie Kitas .Es ist nicht einzusehen, dass alle Bildungseinrichtungenbis hin zur Hochschule gebührenfrei sind, nur die wich-tigste Grundbildung und Erziehung nicht .
Natürlich können Eltern im Hartz-IV-Bezug von Gebüh-ren freigestellt werden; aber auch Kinder von Eltern mitniedrigem und mittlerem Einkommen würden enormprofitieren. Von den Eltern mit hohem Einkommen holtman sich das Geld noch besser über Steuern wieder zu-rück .
Statt über Steuersenkungen zu diskutieren, sollten wirmit diesen Steuereinnahmen gute Kitas und natürlichauch gute Schulen stärken .
Wichtig ist vor allem, dass Kinder ohne langwierigeAnträge und bürokratische Hürden eine Kita besuchenkönnen . Genau das ist es, was arme Familien davon ab-hält, ihre Kinder dort anzumelden .
Gemischte Kitas mit einem guten Bildungsangebot fürKinder aus allen sozialen Schichten leisten einen nach-haltigen Beitrag für mehr gesellschaftlichen Zusammen-halt und sind ein Schlüssel zur Teilhabe für alle Kinder .Gleichzeitig erhalten die Eltern damit die nötigen zeitli-chen Freiräume, um sich Arbeit zu suchen, sich weiter-zubilden, um sich Beratung und Unterstützung zu holen .Mit dieser Aufgabe darf der Bund die Länder undKommunen natürlich nicht alleinlassen . Mit dem Son-dervermögen „Kinderbetreuungsausbau“ haben wir imBund schon viel bewegt, um die Investitionen in neueKitaplätze zu stemmen . Mit einem Kitaqualitätsgesetzbekäme der Bund auch die Möglichkeit, inhaltliche Ar-beit mitzufinanzieren. Das geschieht bereits erfolgreichin Modellprojekten wie dem Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ .Armut hat noch weitere – oft gut versteckte – Gesich-ter . Arm sind auch die Kinder von Inhaftierten und viel-fach auch die Kinder mit psychisch kranken Eltern, dieüber ihre Probleme oft gar nicht sprechen können – ausScham, aus Angst vor weiterer Ausgrenzung . Dazu kom-men oft auch noch finanzielle Probleme und Eltern, diestaatlichen Hilfsangeboten vielleicht mit Misstrauen be-Dr. Matthias Zimmer
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gegnen . Ich bin froh, dass wir in dieser Wahlperiode we-nigstens noch erste Schritte unternehmen können, um fürdiese Kinder systematisch Hilfsangebote zu entwickeln .Einen interfraktionellen Antrag zu Hilfen für Kinder vonpsychisch Kranken werden wir in der nächsten Sitzungs-woche beschließen .
– Danke sehr .Armut ist immer auch im Kontext von Wohnquartie-ren, ländlichen wie städtischen Räumen zu sehen . Darumist es wichtig und richtig, wenn wir in der Kinder- undJugendhilfe sozialräumliche Angebote ausbauen, wennwir niedrigschwellige Beratung und auch ombudsschaft-liche Vertretung stärken . Die Vorschläge dazu liegenauf dem Tisch; denn Hilfe zur Selbstermächtigung –Empow erment – ist der beste langfristige Weg hinaus ausder Armut und weg aus der Abhängigkeit von staatlichenTransferzahlungen .
Nicht zuletzt sollten wir endlich Kinderrechte insGrundgesetz aufnehmen .
Ich bedauere sehr, dass sich die Große Koalition dazuin dieser Wahlperiode nicht hat aufschwingen können .Natürlich sind Kinder Menschen und stehen schon jetztunter dem Schutz des Grundgesetzes . Ja, Deutschland hatauch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationenunterschrieben. Darin verpflichten sich alle Unterzeich-ner auf klar definierte Kinderrechte. Dennoch: Ein Be-kenntnis in der Verfassung zum besonderen Schutz fürKinder, zu ihrem Recht auf Beteiligung, zur Chancen-gerechtigkeit und zur Verpflichtung des Staats auf dasKindeswohl würde zumindest mittelfristig Wirkung ent-falten; davon bin ich überzeugt .Auch an dem simplen Satz „Männer und Frauen sindgleichberechtigt“ arbeiten wir uns noch immer ab; aberwir nähern uns der Gleichstellung immer mehr an . DieseSogwirkung wünsche ich mir auch für die Kinderrechteund den Kampf gegen Kinderarmut .Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Jetzt hat Eckhard Pols, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir debattieren heute nicht nur über den Armuts-und Reichtumsbericht, sondern auch – Frau Bahr hat esam Ende ihrer Rede gesagt – über den Antrag der Frak-tion Die Linke mit dem Titel „Kinderrechte umfassendstärken“ . Sie beziehen sich da auf die Rechte, die in derUN-Kinderrechtskonvention verbrieft sind und die damitunbestritten auch für unser Land gelten . Frau Bahr, ichmöchte in meiner Rede gern auf Ihre letzten Ausführun-gen antworten und darlegen, wie wir, die Unionsfraktion,das sehen .Es geht um die wichtigen Rechte der Kinder auf freieMeinungsäußerung, auf Schutz vor Gewalt und Krieg,auf gesundes Aufwachsen, aber auch auf Spiel, Freizeitund Ruhe; ich will nur einige nennen . Ich denke, wir sindhier im Hohen Hause nicht weit voneinander entfernt,was die Wertschätzung und den Wunsch nach Stärkungder Kinderrechte angeht . Zweifelsfrei sind es die Kinder,die unseren Schutz besonders brauchen .Bei aller Einigkeit in der Einstellung zu Kinderrech-ten gibt es jedoch auch Dinge, die uns, also die Regie-rungsfraktionen, und die Opposition im Detail trennen .Das ist vor allem die Frage der praktischen Umsetzung:Welche Wege wollen wir einschlagen, um eine Stärkungder Kinder und ihrer unveräußerlichen Rechte zu errei-chen? Im Grunde lässt sich die immer wiederkehrendeDebatte auf zwei Fragen zuspitzen: Werden die Kinder-rechte wirklich stärker wahrgenommen und wirken siestärker, wenn sie im Grundgesetz stehen? Und: Werdensie besser geachtet, wenn das Amt eines Bundeskinder-beauftragten eingerichtet wird? Ihr Antrag greift beideForderungen auf und fügt dem potenziellen Amt einesBundeskinderbeauftragten auch gleich weitere Anforde-rungen, Aufgaben und Strukturen hinzu . Akteneinsichts-recht, Anhörungsrecht, Amtshilferecht, Einführung einesKinder- und Jugendbeirats werden gefordert .Nun ist es im Kreis der Familienpolitiker ein offenesGeheimnis, dass ich einer Stärkung der Kinderrechte, inwelcher Form auch immer, sehr offen gegenüberstehe .Für mich ist bei allen Optionen, die hier im Raum ste-hen, entscheidend, dass wir am Ende eine substanzielleVerbesserung für Kinder und deren Interessen erreichen,was ich übrigens zum 25-jährigen Jubiläum der UN-Kin-derrechtskonvention an gleicher Stelle schon dargelegthabe .Es muss daher die Frage geklärt werden, ob die Ein-richtung einer neuen Bundesstelle für die Anliegen vonKindern hilfreich ist oder ob hinderliche Doppelstruktu-ren zu bestehenden Institutionen und Organen geschaffenwürden . Auch muss geklärt werden, ob nicht Verbesse-rungen an bestehenden Organisationen sinnvoller sind,um eine Aufwertung von Kinderrechten zu erreichen .Unabhängig von den angesprochenen Fragen wur-de vor einiger Zeit bereits eine wichtige Stärkung vonKinderrechten vorgenommen . Die Monitoringstelle fürKinderrechte hat ihre Arbeit aufgenommen und sich eta-bliert . Sie ist beim Deutschen Institut für Menschenrech-te angesiedelt und ist ein aus Bundesmitteln gefördertersehr kompetenter Ansprechpartner, meine Damen undHerren . Daraus wird deutlich: Es ist einiges in Bewegungim Bereich der Kinderrechte – anders als es uns die Op-position immer gern glauben machen möchte .
Ulrike Bahr
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Erlauben Sie mir an dieser Stelle noch einen Hinweiszu der durchaus symbolisch wertvollen und für michauch – das zu sagen, sei mir gestattet – charmanten Idee,Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern . Diese Dis-kussion führen wir – Frau Bahr hat es angesprochen –schon seit mehreren Jahren . Es wird immer so getan,als seien Kinder bezogen auf das Grundgesetz rechtloseWesen . Dabei ist es unstrittig, dass sie auch Träger vonGrundrechten sind und weit mehr als Objekte von Schutzund Fürsorge .Bereits vor der Geburt genießen sie den Schutz desLebens und der Menschenwürde . Nach ihrer Geburt sindsie Träger aller Grundrechte . Über Artikel 6 Absatz 2Satz 2 unseres Grundgesetzes besteht ein Anspruch aufstaatlichen Schutz bei Gefährdung des Kindeswohls . Da-rüber hinaus benennt das deutsche Familienrecht nachdem Bürgerlichen Gesetzbuch und das Kinder- und Ju-gendhilferecht nach dem SGB VIII Kinder klar als Trägereigener Rechte . Es bedarf keiner Nennung von Kindernals Subjekte im Text der Verfassung .Ich möchte noch einmal auf den Bundeskinderbeauf-tragten zurückkommen, und zwar bezüglich der gesell-schaftlichen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen . Ichhabe es im Ausschuss oft angesprochen und möchte es alsaktiver Kommunalpolitiker wiederholen: Dass ein Kin-derbeauftragter die Partizipation von Kindern stärkt, magim ersten Moment sehr schön klingen, aber nur im erstenMoment . Gerade im Bereich der Beteiligungsrechte liegtein Großteil der Zuständigkeiten nicht auf der Bundes-ebene . Partizipation von Kindern fängt für mich überalldort an, wo die Lebenswelten von Kindern berührt sind .Das ist in der Familie, in den Kitas, in Schulen, in Sport-vereinen, im direkten örtlichen Umfeld der Fall . Genauan diesen Orten gibt es bereits wunderbare Beispiele fürdie Einbindung und Beteiligung von Jugendlichen undvon Kindern .Meine Redezeit ist jetzt leider um, sonst könnte ichIhnen noch einige Beispiele nennen . Meine Damen undHerren, unsere Aufgabe als Bundespolitiker ist immer,den nötigen Rahmen zu schaffen . Dabei ist es wichtig,vom Ziel her zu denken und nicht in ideologisch einge-fahrenen Strukturen, liebe Kollegen der Linken .Vielen Dank. Ich wünsche schöne Pfingsten.
Vielen Dank . – Jetzt hat Kerstin Griese für die
SPD-Fraktion das Wort .
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Ich beginne mit einem Zitat des Generalsekretärsdes Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, den wirin dieser Woche verabschiedet haben . Er hat in einem In-terview auf die Frage nach wachsender Ungleichheit inDeutschland geantwortet – ich zitiere mit Erlaubnis derFrau Präsidentin –:… es ist ein Unterschied, ob man feststellt, dassdie Ungleichheit zugenommen hat, aber wir seit2005 eine einigermaßen stabile Lage haben, oderob behauptet wird, die Zustände verschlimmertensich kontinuierlich . Mit immer neuen Superlativenversetzt man die Mittelschicht in Panik . Und das istpolitisch kontraproduktiv .Ich sage das, weil ich diese besonnene Haltung gut fin-de . Ich danke auch ausdrücklich dem Kollegen MatthiasZimmer dafür . Denn wenn man dauerskandalisiert undimmer behauptet, dass alles in Armut versinkt, dass dieWelt untergeht,
dann verliert man den Blick für die echten Probleme undden Blick dafür, wo man ansetzen muss, um Armut zubekämpfen .
Der Armuts- und Reichtumsbericht tut das in sehrsachlicher Klarheit und schlägt deshalb auch konkre-te politische Maßnahmen vor, wo man ansetzen muss .Wenn ich sage: „Es ist kontraproduktiv, dauerzuskan-dalisieren“, dann heißt das nicht, die Probleme nicht zuerkennen und nicht nach guten Lösungen zu suchen, son-dern dann heißt das, genauer hinzusehen .
Genauer hinzusehen, heißt, dass jedes einzelne Kind, dasin Armut lebt, dass jeder Mensch, der trotz eines arbeits-samen Lebens im Alter Grundsicherung beziehen muss,uns aufrütteln muss, uns zum Nachdenken bringen muss,und dass jeder, der lange aus dem Arbeitsleben ausge-schlossen bleibt und am Rand der Gesellschaft lebt, einRecht hat, in die Mitte der Gesellschaft zurückzukehren .Um bei den Ursachen anzusetzen, ist es gerade sowichtig, Kinderarmut zu bekämpfen . Dazu gibt es einehöchst interessante Zahl im Armuts- und Reichtumsbe-richt: Das Armutsrisiko von Kindern liegt bei 64 Pro-zent, wenn keiner der Eltern arbeitet . Wenn ein Eltern-teil in Vollzeit arbeitet, sinkt das Armutsrisiko schon auf15 Prozent, wenn beide Eltern in Vollzeit arbeiten, auf3 Prozent .
Es ist also wichtig, dass wir die Eltern in Arbeit bringen,dass wir vor allem für Alleinerziehende noch mehr tun,passgenaue Unterstützungsangebote schaffen, damit Ar-beit und Kinderbetreuung vereinbar sind . Genau da hatdie SPD schon viel durchgesetzt, und da wollen wir nochmehr erreichen .
– Vieles auch gemeinsam, Herr Kollege .Ja, wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit26 Jahren . Ja, wir haben Maßnahmen für Langzeitar-Eckhard Pols
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beitslose eingeführt, aber zu wenige . Ja, wir haben einesehr gute wirtschaftliche Lage, aber – auch das zeigt derBericht – das reicht nicht aus; denn es geht eben nichtimmer sozial gerecht zu . Genau da müssen wir ansetzen .Das wollen wir ändern .
Die Gefahr von Altersarmut betrifft nur etwa 3 Pro-zent . 3 Prozent der über 65-Jährigen bekommen Grund-sicherung .
In der Gesamtbevölkerung sind es 9,3 Prozent, bei Kin-dern noch viel mehr . Deshalb geht es darum, dass wirgerade da ansetzen . Gestern haben wir hier in diesemHaus die Verbesserung der Erwerbsminderungsrentenbeschlossen . Das ist richtig; denn damit setzen wir beidenen an, die Unterstützung brauchen . Andrea Nahleshat ein gutes Gesamtkonzept zur Alterssicherung vorge-legt, das vorsieht, dass Selbstständige in die Rentenver-sicherung einbezogen werden sollen . Und auch das setztan der richtigen Stelle an: Gerade die Selbstständigen mitgeringem Einkommen, die keine eigenen Versorgungs-werke haben, sind besonders gefährdet, im Alter in Ar-mut zu fallen . Insofern setzen wir da genau an der rich-tigen Stelle an .
So ist das auch mit der gesetzlichen Solidarrente, diewir fordern . Ein arbeitsreiches Leben soll ohne Gangzum Sozialamt enden . Ein Rentenniveau, das 10 Prozentoberhalb des durchschnittlichen regionalen Grundsi-cherungsbedarfes liegt, soll mindestens herauskommen .Das, was wir vorhaben, ist: mehr öffentlich geförderteBeschäftigung, ein Arbeitslosengeld Q, mehr Qualifizie-rung . Das sind die richtigen Schritte, die man bei genauerAnalyse, aber eben nicht bei Dauerskandalisierung he-rausfinden kann.Noch ein letztes Wort zum Thema „Reichtum inDeutschland“ .
Aber wirklich ein letztes Wort .
Genau . – Es ist lobenswert, dass dieser Bericht zum
ersten Mal auch den Reichtum genauer untersucht und
zeigt: Die wirklich großen Vermögen in Deutschland
werden vererbt .
Die wirklich großen Vermögen sind leistungslos erwor-
ben . Da stellt sich die Frage nach dem sozialen Ausgleich .
Ich finde, der richtige Schritt ist: Wir müssen mehr tun
für die Menschen in den niedrigen Lohnbereichen . Da
muss es besser werden . Da brauchen wir bessere Löh-
ne . Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit . Wir haben gute
Vorschläge dafür . Gerechtigkeit bedeutet auch soziale
Sicherheit . Daran arbeiten wir, und dafür werden wir mit
aller Kraft kämpfen .
Vielen Dank . – Das war ein wunderbares Beispiel da-für, wie lange ein letztes Wort sein kann . Wenn das alleso machten, dann würden wir gar nicht mehr fertig .Ich schließe die Aussprache .Wir kommen zu den Abstimmungen; wir haben meh-rere .Zunächst stimmen wir über den Tagesordnungs-punkt 42 a und den Zusatzpunkt 9 ab . Hier haben sichdie Fraktionen darauf geeinigt, die Vorlagen auf denDrucksachen 18/11796 und 18/12557 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen . –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen .Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesord-nungspunkt 42 b . Hier handelt es sich um die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die Lin-ke mit dem Titel „Kinder und Familien von Armut befrei-en – Aktionsplan gegen Kinderarmut“ . Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/12454, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 18/10628 abzulehnen . Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke angenommen .Wir stimmen über den Tagesordnungspunkt 42 c ab .Hierbei handelt es sich um die Beschlussempfehlung desAusschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugendzu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel„Kinderrechte umfassend stärken“ . Der Ausschuss emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/11886, den Antrag der Fraktion Die Lin-ke auf Drucksache 18/6042 abzulehnen . Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppositi-on angenommen .Herzlichen Dank für diese Abstimmungen .Ich rufe Tagesordnungspunkt 43 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN25 Jahre Europäische Charta der Regional-oder Minderheitensprachen – GemeinsamerAuftragDrucksache 18/12542
Interfraktionell wurden für diese Aussprache 38 Mi-nuten vorgesehen . – Ich höre von Ihrer Seite keinen Wi-derspruch . Dann ist so beschlossen . – Ich darf Sie bitten,die Plätze einzunehmen .Kerstin Griese
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Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat für die CDU/CSU-Fraktion Hartmut Koschyk .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist gut, dass wir heute einen Antrag beraten, der einebreite Mehrheit im Deutschen Bundestag genießt, dervon den Koalitionsfraktionen eingebracht worden ist undder auch die Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünenfindet. Wir haben in dieser Woche bei dem traditionel-len Gespräch zwischen den autochthonen Minderheitenin Deutschland und der Sprechergruppe der Niederdeut-schen mit dem Innenausschuss unter Vorsitz von HerrnKollegen Heveling auch Zustimmung der Fraktion DieLinke angekündigt bekommen .
Es ist gut, dass Minderheitenpolitik in Deutschland fürdie vier autochthonen Minderheiten und die Sprecher-gruppe der Niederdeutschen kein Thema von Partei-enstreit ist .Es ist schön, Frau Präsidentin – ich sage das sicherauch mit Ihrer Genehmigung –, dass es Bundestagsver-waltung und alle Fraktionen im Bundestag ermöglichthaben, dass heute Vertreter aller autochthonen Minder-heiten in Deutschland, der Sprechergruppe der Nieder-deutschen und der europäischen Dachorganisation imBereich der Minderheitenpolitik, der FöderalistischenUnion Europäischer Nationalitäten, von der Besuchertri-büne des Deutschen Bundestages diese Debatte verfol-gen können . Das ist gelebte politische Partizipation vonMinderheiten in Deutschland im Hinblick auf die für siezu führenden Debatten .
Aufhänger für unseren heutigen Antrag und die De-batte ist der 25 . Jahrestag der Verabschiedung der Chartader Regional- oder Minderheitensprachen, die auf derEbene des Europarates vor 25 Jahren zur Zeichnung auf-gelegt worden ist . 25 Mitgliedstaaten des Europarateshaben die Charta inzwischen ratifiziert. Die Bundesrepu-blik Deutschland gehörte zu den Ländern, die sie ganzschnell gezeichnet und ratifiziert haben. Diese Chartabildet gemeinsam mit dem Rahmenübereinkommen zumSchutz nationaler Minderheiten das wichtigste Werte-und Rechtsgerüst zum Schutz autochthoner Minderhei-ten und ihrer Sprachen in Europa .In dem Antrag, den wir heute dem Deutschen Bundes-tag zur Befassung vorlegen, ist formuliert, was im Be-reich der Minderheitenpolitik in Deutschland in diesen25 Jahren und davor erreicht wurde . Aber – und dafürbin ich sehr dankbar – wir ruhen uns auf dem Erreichtennicht aus, sondern wir formulieren Aufträge für die Zu-kunft; denn in der Minderheitenpolitik – jeder, der sichdamit beschäftigt, weiß das – ist Stillstand Rückschritt .Wir müssen deshalb die Erfordernisse eines modernenMinderheitenrechts immer an die Erfordernisse der mo-dernen Lebenswirklichkeit anpassen .Als wir in dieser Woche mit dem beratenden Aus-schuss für die Angelegenheiten des sorbischen Volkesdie aktuellen Anliegen des sorbischen Volkes diskutierthaben, ist uns allen, den Kolleginnen und Kollegen imBundestag und den Ländervertretern, von den Vertreterndes sorbischen Volkes sehr plastisch deutlich gemachtworden, dass die Veränderungen in der Wirtschafts- undInfrastruktur wie die Veränderungen beim Braunkohle-abbau in den Hauptwohngebieten des sorbischen Volkesin Brandenburg große Auswirkungen auf die Zukunfts-chancen der jungen Generation dort haben .Wenn ich mir die Situation unserer vier autochthonenMinderheiten und der Sprechergruppe der Niederdeut-schen anschaue, muss ich sagen: Wir haben viel erreicht;aber es bleibt auch in Zukunft noch viel zu tun .Ich danke vor allen Dingen den Kolleginnen und Kol-legen des Deutschen Bundestages, die in den beratendenAusschüssen für die Dänen, für die Sorben, für die Frie-sen, für die Sinti und Roma und für die Sprechergruppeder Niederdeutschen engagierte Parlamentsarbeit leisten .Ich danke dem Parlament, dass es in den letzten Jahrendie Ansätze in den verschiedenen Haushalten für die au-tochthonen Minderheiten und die Sprechergruppe derNiederdeutschen über die jeweiligen Regierungsansätzehinaus erhöht hat . Es ist gut für die Minderheitenpolitik,Rückenwind aus dem Parlament und keinen Gegenwindzu bekommen .Bei den Themen, die vor uns liegen, brauchen wir dieUnterstützung des Bundestages . Wir müssen aber aucheng mit unseren Bundesländern zusammenarbeiten; denndie Verpflichtungen, die Deutschland eingegangen ist,sind in unserem föderalen Staatsaufbau Verpflichtungen,die Bund und Länder gemeinsam erfüllen müssen . Ichwill nicht verhehlen, dass es da auch Sorgen gibt – Sor-gen, die wir versuchen müssen im Bundestag anzugehen,Sorgen, die wir gemeinsam mit den Ländern angehenmüssen .Ich finde es sehr gut, dass die beiden innenpolitischenSprecher der Koalitionsfraktionen in einer Anhörungdeutlich gemacht haben – dafür danke ich Stephan Mayerund Burkhard Lischka –, dass es gute Gründe gibt, beimDeutschen Bundestag auch ein Expertenkomitee für Fra-gen des Antiziganismus einzurichten . Es wäre gut, wennaus dem Deutschen Bundestag heraus eine Willenserklä-rung erfolgen würde, dass eine solche Kommission, dieauch von allen autochthonen Minderheiten im Minder-heitenrat unterstützt wird, in der nächsten Legislaturperi-ode beim Deutschen Bundestag eingerichtet wird .
Ich will auch die Sorge nicht verhehlen – wir hörenzwar gute Worte –, ob die Länder Niedersachsen, Bre-men, Hamburg und Schleswig-Holstein, nachdem siedem Institut für niederdeutsche Sprache quasi die Auf-lösung anheimgestellt haben, etwas Gutes und Zukunfts-weisendes für die künftige Beschäftigung mit der nieder-deutschen Sprache errichten wollen . Die Botschaft höreich wohl, allein mir fehlt der Glaube . Es wird auch eineAufgabe des Bundestages sein, dies zu begleiten .Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Auf Bundesebene werden wir übrigens sicherstellen,dass für den Bundesrat für Niederdeutsch wie für die an-erkannten Minderheiten ein Minderheitensekretariat, einSekretariat für die niederdeutsche Sprache, geschaffenwird . Haushaltsmäßig haben wir schon vorgesorgt . Ichmeine, es macht Sinn, dass dieses Sekretariat wie dasMinderheitensekretariat in Berlin angesiedelt wird .
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möch-te ich Sie bitten, eine Initiative zu unterstützen, die ech-ten europäischen Bürgersinn zum Ausdruck bringt: dasMinderheitenschutzpaket . Dieses wurde im Hinblick aufdie Registrierung der Europäischen Bürgerinitiative fürdie Minderheiten in Europa ein Stück weit gegen denWillen der Kommission durchgesetzt . Die vergangeneKommission hat sie nicht zugelassen . Daraufhin habendie Initiatoren erfolgreich vor dem EuGH geklagt . Diejetzige Kommission hat sie zugelassen .
Ich habe heute früh das Maßnahmenpaket der Euro-päischen Bürgerinitiative für mehr Minderheitenschutzin Europa unterzeichnet . Ich lade alle Kolleginnen undKollegen des Deutschen Bundestages ein, es mir gleich-zutun . Damit setzen wir das Signal, dass wir mehr undbesseren Minderheitenschutz in Europa wollen als eineder besten Formen von Friedens-, Versöhnungs- und Ver-ständigungspolitik .
Und jetzt kommen Sie aber bitte zum Schluss .
Ich schaue, Frau Präsidentin, auf die Zeit und komme
in meiner letzten Rede vor dem Deutschen Bundestag
zum Schluss .
Okay .
Das zeigt, wie wichtig es ist, dass Parlament, Regie-
rung, Bund und Länder, aber auch Zivilgesellschaft in
Deutschland auch in Zukunft gute Minderheitenpolitik
für die Minderheiten in unserem Land, aber auch in Eu-
ropa leisten .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Ich darf die nachfolgenden Rednerin-
nen und Redner bitten, sich an die Redezeiten zu halten .
Wir haben noch eine ganze Menge an Tagesordnungs-
punkten .
Jetzt hat Herbert Behrens für die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sprache hat etwas mit Heimat zu tun, Sprache hat etwasmit Identität zu tun . Das gilt insbesondere für Minder-heitensprachen . Hier ist es wichtig, dass sich Gruppentreffen können, um sich in ihrer Muttersprache, in ihrerUrsprungssprache zu verständigen . Das gilt für schonlange hier lebende Minderheiten, das gilt nicht wenigerauch für Zugewanderte . Es geht darum, dass Identitätenerhalten werden können und es den Menschen erlaubtsein soll, sich in ihrer Sprache zu unterhalten, und dasöffentlich und zu jeder Zeit .
Wir unterstützen deshalb den Ansatz, der im vorlie-genden Antrag enthalten ist . Es geht darum, Minderhei-tensprachen zu fördern; denn sonst droht ein Verlust anIdentität und es fehlen auch ein Stück weit die kulturellenWurzeln, die mit Sprache und Habitus zu tun haben . Wirwissen zwar viel über die Welt, aber manchmal wissenwir herzlich wenig über Nachbarschaft . Ich glaube, es er-det Menschen, es verwurzelt Menschen, wenn sie mehrüber sich, über ihr Umfeld, über ihre Herkunft wissen .Wir begrüßen Initiativen zum Schutz von Minderhei-ten und von Regionalsprachen der Minderheiten . Darumist es gut, dass in dem vorliegenden Antrag aufgezeigtwird, wie die Bundesländer damit umgehen und welcheguten Initiativen es da gibt . In Brandenburg gibt es denMaßnahmenplan für Niedersorbisch und Niederdeutsch,in Westdeutschland gibt es diverse Vereinbarungen zumErhalt der dort vorkommenden Minderheitensprachen .Thüringen ist in dem Antrag nicht aufgeführt . Dort gibtes jetzt eine Vereinbarung mit dem Zentralrat DeutscherSinti und Roma . Ich glaube, das ist eine gute Vereinba-rung .
Wir stellen fest: In den Landesregierungen, an denenwir beteiligt sind, handelt die Linke im Sinne der Spra-chenminderheiten . Insofern – ich habe es per Einwurfschon gesagt – finde ich es bedauerlich, dass die Links-fraktion den vorliegenden Antrag nicht mitzeichnen soll-te . Es wäre, glaube ich – die Kollegin Ulla Jelpke hattebereits im Ausschuss darauf hingewiesen –, gut gewesen,wenn es einen gemeinsamen Antrag gegeben hätte .
Trotzdem unterstützen wir den vorliegenden Antrag: alsAbgeordnete, als Bürgerinnen und Bürger und auch alsPartei . Ein Hinweis jedoch, vielleicht für die nächsteHartmut Koschyk
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Wahlperiode: Dieser Antrag gehört eigentlich nicht andas Ende, sondern an den Anfang einer Wahlperiode .
Denn dann können wir die Umsetzung von Beschlüs-sen auch kontrollieren und vielleicht nachsteuern, wennmanches nicht auf den Weg gebracht worden ist .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schätzen unsereVielfalt und unsere kulturellen Identitäten . Darum schüt-zen wir Minderheiten – hier schon lange lebende unddazukommende – und auch die Minderheitensprachen .Wenn Sie erlauben, Frau Präsidentin – wir sollten ja nichtnur über Minderheitensprachen sprechen, sondern viel-leicht auch in Minderheitensprachen –, will ik versöken,so’n poor Wöör ok in Plattdüütsch to seggen .
Spraak is Heimat, Spraak hett wat mit Identität todoon, wi weet, wo wi herkaamt, un wi köönt kieken, wowi henwüllt . Wenn dat nich mööglich is, denn verleertwi wat, denn verleert wi ok en gesellschaftlichenTosamenhang . Ik glööv, Spraken – un ok Plattdüütsch unannere Minderheitenspraken – köönt so eniges maken .
Denn is goot, dat dat düssen Andrag gifft . Dor steihten Menge in, wat wi maken wüllt mit Minderheiten unwat wi mit ehr Spraken maken wüllt . Ik heff wat vertelltut Brandenborg, de hebbt wat maakt för Neddersorbischun Nedderdüütsch . Un in Thüringen gifft dat ok enVereinbarung mit den Zentralrat vun Sinti un Roma .Wi as Linke finnt dat wichtig, dat wi mit us Spraak watmaakt un ok versöökt, dat hier in’t Plenum to bringen,ok wenn wi nich ganz so kommod dormit sünd . Wi wülltgeern den Andrag, de hier vörliggt, mit unterstützen .Wi maakt dat nu mit de Afstimmung, wi hebbt dat nichdaardör maken kunnt, dat wi mit op den Andrag opstaht .Wi wüllt ok in de nächste Wahlperiode dor wat to maken .Dorum is dat wichtig, dat wi an’n Anfang vun de nächsteWahlperiode so’n Andrag op’n Disch kriegt . Denn kööntwi ok kontrollieren, ob dor wat ut worrn is . Un wenndat nich umsett worrn is, dat wi noch mal mit en egenAndrag dor achterangahn köönt .Leve Kolleginnen un Kollegen, wi finnt dat goot, dathier in Düütschland so’n Vielfalt vun Spraken un vunMinderheiten sünd . Wi wüllt dat schützen . Wi wüllt datgeern ok in de Tokunft so holen: Wi wüllt Minderheitenschützen, wi wüllt ehr Spraak schützen . Un denn kööntwi ok en gode Gesellschaft opboen, wo all ehren Platzhebbt .Besten Dank .
Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Karin Evers-
Meyer für die SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Leve Plattsnackers! „Dat Plattdüütschekummt vun’t Hart, dat Hoochdüütsche ut’n Kopp“, soseggt man to Huus bi us .Mi freit dat, dat ik mien letzte Reed vondagen in Plattsnacken kann . Un mi vun Harten bi jo, miene Kollegenin den Düütschen Bunnestag, för dat gode Mit’nannerbedanken kann .
Ik kann nu al seggen: Dat weer en gode Tiet!Leve Froenslüüd, leve Mannslüüd! Börgerrechtespeelt in us Land un ok in Europa en grote Rull . Un datis ok goot so . Dor höört mit to, dat de lüttjen Sprakenun Kulturen, de dat in Düütschland al alltiet geven hett,schützt warrt .Ik seh, de een oder annere maakt sik hier Sorgen ümdem Stenografischen Deenst.
Also, wi hebbt dorför sorgt, ik hebb dorför sorgt, datde rechte Utfertigung denn ok al bi de liggt, denn is datWark nich so stuur .Also: För den Schutz sorgt de Rahmkuntrakt för denSchutz vun natschonale Minderheiten un de EuropäischeCharta vun de Regional- un Minderheitenspraken .25 Johr is dat nu her, dat de Europaraat deSprakencharta opleggt hett . 1998 hett ok Düütschland deCharta ünnerschreven . Allens, wat an Förderung för deRegional- un Minderheitenspraken in Düütschland löppt,hebbt wi de Charta to verdanken . De Bunnslänner sünd –vunwegen de „Kulturhoheit“ – dorför tostännig, dat deCharta ok würklich överall ümsett warrt .Mit sien Ünnerschrift hett Düütschland toseggt: Ja, wiwüllt de Spraken vun de natschonalen Minderheiten Stüttun Stöhn geven . – Dat is dat Däänsche, dat Noord- un datSaterfreesche, dat Nedder- un dat Obersorbische un ok datRomanes . Aver dat gellt genauso för de RegionalspraakNedderdüütsch .Dat eenmal in de Legislatur hier in den Bunnesdagde Minderheitenspraken – in Englisch nöömt man dat janeudeutsch sotoseggen „Native Speaker“ – hier ok malsnacken köönt,
Herbert Behrens
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so as ehr dat Muul wussen is, dat hebbt wi ok de Chartato verdanken .Ik snack Nedderdüütsch oder, as wi bi mi to Huusseggt, Platt . Platt is nich, so as vele dat meent, eenDialekt . Plattdüütsch is de ole Spraak vun de Hanse .Dorüm warrt dat vandagen noch in acht Bunneslännersnackt . Tohuus is de nedderdüütsche Spraak in Bremen,Hamborg, Mekelnborg-Vörpommern, Neddersassen unSchleswig-Holsteen un denn noch in de nöördlichen Delevun NRW, Sassen-Anholt un Brannenborg .Mit de Annahm vun die Charta hebbt de Länner nu överGrenzen hinweg toseggt – dat is ja nich immer so ganzeenfach –, se wüllt wat för den Bestand vun de Spraakdoon . De Länner Schleswig-Holsteen, Neddersassen,Bremen un Hamborg hebbt düssen Opdrag an dat Institutför nedderdüütsche Spraak geven . Wi seggt jümmerINS dorto, dat is körter . Wi Plattdüütschen sünd nich soümständlich .In dat INS hebbt sik de Plattsnackers tohoopdaan . Sehebbt sik al 1972 as Vereen grünnt . De Vereen maaktgode, wichtige Arbeit, kümmert sik üm de Spraak, ümde Minschen, de Platt snackt . He sammelt un bringt watin Gang bi Kultur un Literatur, bringt de Plattsnackersin Nettwarken tohoop un hett immer en Oog dor op, datde Spraak nu ok noch bi de jungen Minschen ankümmt .De nich bit INS organisierten Plattdüütschen – deTheater, Verene, Verbänn un Hoochscholen in all deBunnslänner – hebbt bannig gau begrepen, dat se, wennse överhaupt wat dörsetten wüllt för ehre Spraak inDüütschland un Europa, denn över de Grenzen weg miteen Stimm snacken mööt . Dat maakt nu de Bunnsraat förNedderdüütsch . Dat sünd allens Ehrenamtlers, de nippun nau henkiekt, wat de Sprakencharta ok ümsett warrtun wo dat nu woll haken deit . Un dat maakt se vör allenDingen op de Bunns- un Europaebene . Dat is veel Arbeitun enigs veel to veel för Ehrenamtlers .De Verbänn vun de natschonalen Minderheiten gungdat nich anners . De kunnen ehre Arbeit ok nich mehrehrenamtlich leisten . So is 2005 för de natschonalenMinderheiten ein Sekretariat inricht worrn . DütMinderheitensekretariat kann sik nu aver nich för dePlattdüütschen insetten . Dat is bit vandagen en würklichgroten Nadeel för de Plattsnackers . Un dat wüllt wi mitusen Andrag in de Reeg bringen .
Denn de meisten Plattsnackers höört ja to kene natschonaleMinderheit to . Dorüm is Plattdüütsch utgerekent ok keenMinderheitenspraak . Un dat gifft deswegen auch keenhauptamtliche Steed för se .Leve Froenslüüd, leve Mannslüüd, 25 Johr gifft dat deSprakencharta, un dat hett so’n aktive Sprakenpolitik –seggt wi in Needüütsch – in Gang sett . Trotzdem is datmit use Regionalspraak wieter bargdal gahn . Immerweniger Minschen snackt platt . 1984 hebbt noch ungefähr6 Millionen Minschen Platt snack . De letzte groteÜmfraag vun dat Institut för nedderdüütsche Spraak vun2016 seggt: Nu sünd dat blots noch 2,5 Millionen . – Datheet, in man blots een Generatschoon hett sik de Tahlvun de Plattsnackers so goot as halbeert . De Ümfraagseggt ok: Bi Schoolkinner kummt de Spraak meist gornich mehr an .Aver een gode Naricht heff ik doch: De Lüüd möögtPlatt . Se verlangt ok, dat mehr för use Regionalspraakmaakt warrn müss, un dat verlangt se in all de achtLänner, wo Platt snackt warrt .Dor passt dat överhaupt nich in’t Bild – Herr Koschykhett dat al seggt –, dat de Länner Bremen, Hamborg,Neddersassen un Schleswig-Holsteen den Verdrag fördat Institut för nedderdüütsche Spraak opkünnigt hebbt,
un dat in en Tiet, wo wi för us Spraak Ideen bruukt,wo ok in’n Kinnergoorn un in de School vunwegen deTweesprakigkeit – ik denk dor blots an Schoolböker –wat in Gang sett warrn mütt, över Lännergrenzen weg .Denn Spraak maakt doch vör Grenzen nich Halt .De Plattsnackers hebbt sik gegen de Kündigungwehrt, jüst so as de Bunnsraat för Nedderdüütsch . Mihebbt vele Minschen schreven, dat se sehr untofreden mitde Kündigung sünd . De Lüüd fraagt sik, wo se vun 2018an mit all ehr Fragen üm dat Plattdüütsche hen schüllt .Wer övernimmt in Tokunft de Arbeit vun’t INS un förde Plattdüütschen? Wer is tostännig för de Regerungen,för de Expertenkommissionen vun den Europarat? Werunterstützt nu de plattdüütschen Bühnen, Initiativenun Bürgerverene mit Rat un Tat? Wer maakt denn dewissenschaftliche Arbeit? – Op düsse Fragen mööt deLänner so gau as mööglich Antwort geven . So richtigveel för de Regionalspraken hebbt de Länner ja noch niemaakt . Schleswig-Holsteen is en beten dorvun utnahmen .Besünners de Tosammenarbeit ünner de Länner hettselten klappt . Ik weet to’n Bispill vun en Wettbewerb vunSchooljungen un -deerns, de is vun Schleswig-Holsteenwunnen worrn, aver Neddersassen hett dat Priesgeld nichbetahlen wullt, wiel de Neddersassen ehr Geld blots förNeddersassen utgeevt – mütt man sik mal vörstellen .
So süht de Realität vunwegen de Tosammenarbeittwüschen de Länner ut .Um de Länner so’n beten op’t Peerd to setten unde Plattdüütschen in ehr Nootlaag to helpen, hett sikde Beraten Utschuss en Plaan vörleggen laten un deBunnslänner hebbt en Koordinerungssteed anreegt;aver dor is nich veel bi rutsuert, egens weer dat en betenärmlich . An düsse Steed much ik mi aver bi Se, HerrKoschyk, vun Harten för ehr Engagement bedanken .Herr Koschyk, blots mit Ehre Hölp hebbt wi tosamen mitden Beratenden Utschuss noch en beten wat henkregen .Leve Froenslüüd un Mannslüüd, de ehrenamtlicheArbeit, also de Arbeit vun den Bunnsraat un de NGOs,mütt ünnerstützt warrn . Deswegen seggt de Koalitionok in düssen Andrag, de Regionalspraak NedderdüütschKarin Evers-Meyer
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kriggt genauso as de Minderheiten tokünftig enNedderdüütschsekretariat in Berlin .
Dat Sekretariat schall den Bunnsraat för Nedderdüütschbi sien spraakpolitische Arbeit to Hand gahn . Dormithett de Bund sien Plicht un Schuldigkeit för datNedderdüütsche daan .De grote Wunsch vun de Plattsnackers is nu, dat ok deLänner sik besinnt – mööglichst all acht tosamen –, datde de Verplichtungen vun de Charta erfüllt un dat Institutför nedderdüütsche Spraak dorbi nich vergeet .Velen Dank un atschüss . Laat jo dat gootgahn!
Vielen Dank, Frau Kollegin Evers-Meyer . – Wenn ich
das zwischendrin einmal sagen darf: Meine Bewunde-
rung, meine Hochachtung gilt unseren Stenografen, die
hier Höchstleistung vollbringen .
Jetzt hat das Wort der Kollege Cem Özdemir für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inunserem Land gibt es mehrere Minderheitensprachen:Dänisch in drei Varianten in Schleswig-Holstein, Ober-sorbisch in Sachsen, Niedersorbisch in Brandenburg,Nordfriesisch in Schleswig-Holstein, Saterfriesisch inNiedersachsen, Romanes und schließlich die Regional-sprache Niederdeutsch oder Platt unter anderem in Bre-men, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersach-sen, Schleswig-Holstein und im Deutschen Bundestag .
Um es klar zu sagen: Keine dieser Sprachen ist eineausländische Sprache . Sie sind Teil unseres Kulturerbesund damit einheimische Sprachen .
Deshalb muss man die Übergriffe beispielsweise gegen-über der sorbischen Bevölkerung in Form von Überma-len sorbischer Ortsschilder, Hassgruppen auf Facebook,gewalttätigen Attacken rechter Schläger auf sorbischeJugendliche deutlich ansprechen und unmissverständlichverurteilen .
Das sorbische Leben in der Lausitz ist seit dem frü-hen Mittelalter, also seit über 1 400 Jahren, belegt, viellänger als jede deutsche Präsenz in diesen Landstrichen .Deshalb ist es absolut widerlich, wenn Angehörige dieserVolksgruppe nun in ihrem eigenen Land von Rassistenals Fremde angefeindet werden . Auch das darf nieman-den von uns kaltlassen .
Mich freut es sehr, dass hier alle große Anhänger derSorben sind . Dann können wir diese Debatte doch gleichzum Anlass nehmen, für die letzten Dörfer der Sorben inder Niederlausitz, die gerade vom Tagebau bedroht sind,etwas zu tun und zu sagen: Diese Dörfer erhalten wir . –Denn das Dorf kann man nicht von der Sprache trennen,meine Damen und Herren .
Genauso wenig wegschauen dürfen wir beim Anti-ziganismus in unserem Land, bei der Diskriminierungbeim Wohnen, bei Bildung, Arbeit und Gesundheit . Auchda gib es schon lange die Forderung, dass wir, so ähn-lich wie beim Antisemitismus, einen unabhängigen Ex-pertenkreis einsetzen, der sich mit dem Antiziganismusbeschäftigt . Ich will lobend erwähnen, dass das Land Ba-den-Württemberg, mein Heimatland, mit den Roma undSinti einen Staatsvertrag geschlossen hat, in dem auchdrinsteht, dass es die gemeinsame Heimat ist .
Das gibt mir, wenn Sie gestatten, die Gelegenheit, ei-nen persönlichen Bezug in die Debatte einzubringen undden zweiten Teil meiner Rede in einer meiner zwei Mut-tersprachen fortzusetzen, nämlich auf Schwäbisch .
Im Gegensatz zu dem, was viele, wenn sie meinen Na-men das erschte Mal hören, glaubet, waren die erschtenWorte, die ich im Kreißsaal von Bad Urach im Herzender Schwäbischen Alb gehört hab, keineswegs Türkisch;
denn meine Mutter war damals mit anderen Dingen be-schäftigt, nämlich damit, mich auf die Welt zu bringen .Es waren schwäbische Worte, die ich das erschte Mal inmeinem Leben im Kreißsaal der Stadt Bad Urach gehörthab . Ich gebe zu: Die Erinnerung verblasst im Alter et-was, wie das halt manchmal so isch .
Ich will das zum Anlass nehmen, zu sagen, dass derRichard Sennett uns nich umsonschd dran erinnert hat inseinem großartigen Buch Der flexible Mensch: Eine derunbeabsichtigten Folge’ vom moderne Kapitalismus, desisch die Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung .Deshalb koscht du Heimat doch gar ’et vom Dialekt trenne; des g’hert z’samme . Heimat und Dialekt, das istois für ons, und es wär gut, wenn m’r des älle miteinan-der so sehet und au unterstützet .
Ich fend, ’s isch endlich Zeit, dass m’r aufheret mitdem Irrsinn – i hab des no erlebt in meiner Schul, vonKarin Evers-Meyer
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Lehrerinne’ und Lehrer und manchmal auch von Er-wachsene –, dass m’r Kändr de Dialekt austreibe will .Des miass m’r stoppe! Kändr sollet Dialekt schwätze . Dafällt näam’rd en Zacke aus d’r Krone, liebe Kolleginnenund Kollege’ .
Ich will uns alle au ermutige’ . Ich sag des au selbst-kritisch . I ertapp mi doch selb’r d’rbei, dass i oft gnugomswitch, wie m’r heitzutag so schee sagt, auf des offizi-elle Deutsch . Es fällt au uns Politiker koin Zacke aus derKrone – na wer’n mer vielleicht au wieder besser ver-stande von die Leut –, wenn m’r so schwätzet, wie onsd’r Schnabel gewachse isch . Des schad’ ons net – ganzim Gegeteil, liebe Kolleginnen und Kollege’ .
I will a Brück baue zur andre Muttersprach, die iau hab: das Türkische . Mir hat das oglaublich g’hol-fe, zu sehe, dass au Deutsche a Problem hen mit ihrerSproch, wenn sie vom Schwäbische ins Hochdeutsche rumswitche müsset . Meiner Mutter goht’s heit no so: Diehat a Mischung aus Schwäbisch und Türkisch . I woiß net,wie das g’nannt wird . Also, des schadet au nix, wenn m’rde Flüchtlinge helfet, dass se Deutsch lernet, aber gerneau, wenn se wellet, die Mundart lernet . Au des g’hert fürmi zu r’a gute Integrationspolitik dazu .
Etzt will i eahne zum Schluss was sage, was no koi-ner hier g’sagt hat: Des isch au gut für d’Außepolitik .Wenn wir Regionalsprache, wenn wir Minderheitenspra-che pfleget, sin m’r doch viel glaubwürdiger, wenn m’rder Türkei saget: „Ganget anderschd om mit Kurdisch“,wenn m’r de Chinese saget: „Ganget anderschd om mitUigurisch .“ – Du bischd glaubwürdig, wenn du des,was du de andere verzählscht, bei dir im eigene Land machschd . Also ganget m’r da mit gutem Beispiel voran .I hab als Politiker noch en persönliche Grund, warumi Mundart klasse fend . Wenn i jetzt hier zum Beispiel enKollege begrüße tät: „Ja, was machschd du alt’s Arsch-loch da?“ – Auf Schwäbisch isch des total nett .
– Wirklich, wirklich! – Wenn i des etzt allerdings aufHochdeutsch g’sagt hätt, hätt i a Rüge kriagt . Also, derJoschka Fischer hat damals einen Fehler gemacht . Derhätt’s auf Schwäbisch sage solle, dann wär nix passiert .In diesem Sinne: Danke .
Nächster Redner ist der Kollege Ingo Gädechens für
die Fraktion der CDU/CSU .
Mien leev Präsident! Leev Kolleginnen un Kollegen!Froens- un Mannslüüd op de Tribün! Veel Johr isdat al her, dat ik hier in’n Saal mal so schöön as hüütPlattdüütsch höört heff . Dormals stünn hier an’t Pultmien Kolleeg Wolfgang Börnsen ut den nöördlichstenWahlkreis vun Düütschland an de Grenz to de dänischNaverslüüd .Ich heff noch dat Bild – un dat is ja nu al enpoormal ansnackt worrn – ok vun de Gesichter von unsSchrieverslüüd hier in’t Parmlament vör Ogen . Aver wimööt dat Skript – dat ganz to Beruhigung vun jo all –vörher afgeven . Un ik glööv, se schrievt dor so’n lüttbeten bla, bla, bla, weil se dat, glööv ik, gor nich verstaht,wat hier an’t Pult snackt warrt .Villicht fraagt ok de een oder anner: „Hebbt de dorin’n Düütschen Bundesdag nix anneres to doon?“, unvillicht hebbt se sogor Recht . Aver wenn ik an so manchannere Debatten torüch denken do, wat dor so an annerThemen mennicheen rümbraselt un gesabbelt wird – unmanchmal is dor en Barg dumm Tüüch mit bi –, denn isdat woll gor nich verkehrt, an en Spraak to erinnern, desiet 1999 as Kulturerbe ünner Schutz steiht . Plattdüütschis de eenzige vun 20, de as Regionalspraak annerkannt is .Ik bün en echten Holsteiner Jung . Mien Heimat liggtan de Ostsee, un dor gifft dat so smucke Ostseebäder asTimmdörper Strand, Scharbeutz, Grömz, Hiligenhaben,Wittenhüser Strand, un ik sülvst wahn op de InselFehmarn . Wi hebbt en wunnerbore Landschaft in unsHolsteener Schweiz üm Malente bet hen to uns Kreis-und Rosenstadt Eutin . Dor in de Kreisverwaltung gifftdat de en oder anner Amtsstuuv, dort steiht an de Döör:Ik snack Platt .Ok uns Kreispräsident un Landrat geevt sik bannigMöhg, bi de Traditionverbände Platt to snacken .Un dormit dat beter flutscht, hett de Kreis sogar enPlattdütschbeopdragten: Heiner Evers . He is en ganzgroten Verfechter för de plattdüütsche Spraak . Un wennde Schrievers un de een oder anner hier in’n Saal nichallens verstaht, denn hebbt wi in dat World Wide Webde Sied „Platt för Plietsche“ . Dor gifft dat sogor enWöörbook, un Se köönt allens wonnerbor nalesen unöversetten .Mien Daams un Heren, wi nehmt dat Eernst mit dePleeg – aver dat is ok en groot Aggewars . Wie heetdat so schöön op Hoochdüütsch: „Was Hänschen nichtlernt, lernt Hans nimmermehr .“ Schall heten: Wi möötbi de Kinner anfangen . – Ok dat geiet an mach Schoolganz goot, un mit dat Lehren vun plattdüütsch Leder unGedichte, aver ok mit plattdüütsch Theater . De Lüttenhebbt dorbi meist en bannig Vergnögen .Pleegt warrt Plattdüütsch ok in de Schüttenvereen unin de Gillen . Dorvon heff ik in mien Heimatwahlkreisen ganzen Barg . Ik kann ehr gor nich all optellen; averanfungen över de Börgercompanie op Fehmarn vun1494 – dor bün ik Hauptmann –
Cem Özdemir
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gifft dat vele ole Gillen, de hebbt sik meist in ene Tieten Opdrag geven, sik ünnereenanner to verteidigen, asdormals noch Schergen un düstere Gestalten dörch deLande trocken, um den een oder annern to beklauen .Gillen un Broderschaften würen grünnt, dormit de eenför den annern insteiht .Dat is nich oolt un konservativ, dat is hoochmodern:Een för den annern instahn, Heimat, Sraak, Kulturun Tradition bewohren – dat is nich oolt, dat is manhoochaktuell . Junge Gillbröder un -süstern leevt dat to’nBispeel in de groot Börgergill vun Hiligenhaben, in deGroot Eutiner Schüttengill, in de Niestätter Schüttengill,in de Grömzer Börgergill un ok in de öllst Gill vun ganzDüütschland, in Oldenborg bi de St . Johannes Doden- unSchüttengill vun 1192 .Ik nutz mal de Gelegenheit: En hartlichenGlückwunsch geiht hüüt ut den Düütschen Bundesdagan de Oldenborger Gill, de in dit Johr dat 825 Jubiläumfiern warrt.
Ik frei mi all op den Kommers, op den Umtochdörch de ganze Stadt, op dat bunte Drieven in deZeltgemeinschaften, wenn wi, as in all de annern Johrn,op den Vagel scheten warrt . – Op düssen Vagel warrt nichschaten, Herr Präsident .Wenn wi all tohoop en Spraak nich starven laten wüllt,gifft dat veel to doon . An all mien Landlüüd in Bremen,Hamborg, Schleswig-Holsteen, in Neddersassen, inMeckelnborg-Vörpommern, man ok in dat nöördlicheNordrhein-Westfalen segg ik: Leve Lüüd, snackt malwedder Platt .
Uns Radiosender vun den Noorddüütschen Rundfunksegg ik: Dat mütt veel mehr plattdüütsche Sendungengeven as nur Hör mal ‘n beten to.Ji all hebbt mi en beten tohöört . Velen, velen Dank förde Aufmerksamkeit .
Vielen Dank ebenso, lieber Kollege Gädechens . – Jetzt
hat zum Abschluss in dieser Aussprache die Kollegin
Maria Michalk für die Fraktion der CDU/CSU das Wort .
Česćeny knjez prezident! Sehr verehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Und bei uns zu Hauseheißt das: Lubi bratřa a lube sotry! Witajće k nam!Před 25 lětami je so Europska charta za regionalnea mjeńšinowe rěče předpołožiła. Mjeztym su 25 statowtutu podpisali. Němski stat běše jedyn z prěnich. Tak su wNěmskej rěče awtochtonych mjeńšinow a delnjoněmčinajako regionalne rěče připóznate. Serbska rěč wězo ktomu słuša.Meine Damen und Herren, so klingt es auf Sorbisch,
wenn ich die gesetzliche Grundlage für unsere heutigeDebatte in meiner Muttersprache erkläre . Ich sprecheheute hier zum dritten Mal an diesem Pult in sorbischerSprache . Deshalb will ich mich ausdrücklich auch beiHerrn Koschyk schon an dieser Stelle bedanken, derdurch seine hervorragende, engagierte Arbeit unter ande-rem dazu – aber auch vieles andere mehr – beigetragenhat .
Rěč je kluč k wutrobam. Das heißt auf Deutsch: DieSprache ist der Schlüssel zu den Herzen . So praji, zo jerěč najwažniši grat politikarjow. Man sagt, die Sprache istdas wichtigste Werkzeug für uns Politiker . Aber für jedenMenschen ist die Muttersprache das Wichtigste, weil esHeimat ist . Ob er es nun selbst zugibt oder nicht – da binich mit dem Kollegen Özdemir ganz einer Meinung –, esist Heimat. Za kóždeho čłowjeka je maćeršćina domizna,hač wón to připóznaje abo nic.Wir Sorben in der Oberlausitz und in derNiederlausitz – hier wählen wir auch die BezeichnungWenden – setzen auf die Bekenntnisfreiheit . Sie selbstentscheiden, ob sie sorbisch bzw . wendisch sind odernicht . Auf Niedersorbisch heißt dieser Satz – und es istein Unterschied zwischen diesen beiden Sprachen –: Wyrozsuźijośo sami, lěc sćo serbska abo serbski abo nic. Wirals sorbisches bzw . wendisches Volk haben uns niemalsüber ein Territorium definiert, sondern immer über dieKulturautonomie . Deshalb sind für uns die Sprache unddie Kultur von existenzieller Bedeutung, wie für jedesandere Volk auch .A tohodla smy na to pokazani, zo so w dwurěčnymrumje našeje Łužicy serbšćina wězo doma w swójbach,w cyrkwi a wosebje tež w zjawnej towaršnosći wužiwa arěči. Za to smy sej w 25 lětach dobry koncept nadźěłali,po kotrymž w našich žłobikach, našich pěstowarnjacha tež w našich šulach młodźi ludźo serbsce wuknu.Das heißt jetzt: Wir sind darauf angewiesen, dass imzweisprachigen Siedlungsgebiet unserer Lausitz Sorbischnatürlich zu Hause in den Familien, in den Kirchen undvor allem aber auch in der Öffentlichkeit gesprochenund genutzt wird . Dafür haben wir uns in 25 Jahren einegute Grundlage, ein gutes Konzept erarbeitet, nach demin den Kinderkrippen, in den Kindergärten und auch inden Schulen unsere Kinder Sorbisch lernen und damitzweisprachig aufwachsen . Ich füge an dieser Stelle hinzu:Ingo Gädechens
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Wenn Sie alle etwas gegen die Demenzerkrankung –eine große Gefahr für uns, weil sich das Lebensalterder Gesellschaft stark erhöht – tun wollen: Lernen SieSorbisch .
In der Sächsischen Verfassung und auch in derBrandenburgischen Verfassung ist festgeschrieben, dassder deutsch-sorbische Charakter des Siedlungsgebietesder sorbischen Volksgruppe zu erhalten ist. Němsko-serbski charakter sydlenskeho teritorija serbskejenarodnosće ma so zdźeržeć. Tohodla mamy dwurěčnetafle a smy tež na to pokazani, zo so wone korektnje pisaja.Und deshalb sind wir auf zweisprachige Beschilderungenan Straßen und auch auf Plätzen angewiesen . Nur beiAutobahnschildern haben wir noch Nachholebedarf . Tumamy na zwjazkowej runinje hišće tójšto dźěła.
Dass ich heute hier in meiner Muttersprache sprechenkann, ist ein starkes Signal; das will ich ausdrücklich sa-gen .
Und dass die Bundesförderung für die Stiftung für dassorbische Volk auf sicheren Füßen steht, das ist auch einstarkes Signal. Zusätzlich stehen finanzielle Mittel fürdie Digitalisierung unserer Sprache bereit, und das zeigt:Tradition und Fortschritt gehören zusammen . Das sindzwei Seiten ein und derselben Medaille. Nětko pak dyrbiso hišće Europska komisija sylnišo z mjeńšinowyminaležnosćemi zaběrać. Zo by so to poradźiło, hromadźimyrunje jedyn million podpismow . Das war in Sorbisch derAufruf, den Herr Koschyk mit dem Plakat gezeigt hat .Nětko chcych ja hišće rjec, zo je wažne, zo stykamdo susodnych krajow jako wobstatk našeje dźěławosće –a wosebje tež we wobłuku Domowinskeho dźěła –wulki wuznam přiměrimy. Das heißt, die Domowinaals die Sprecherin unseres Volkes koordiniert vieleengagierte Initiativen in unserer breiten, vielfältigenkulturellen Arbeit. Aber sie pflegt auch ganz intensivKontakte zu unseren Nachbarn, vor allen Dingen zuunseren slawischen Nachbarn . Und diese Kontakte sindausgesprochen wichtig .To podšmórnje, kajki wuznam serbšćina runje wzwisku z našimi słowjanskimi susodami ma. Wer daserleben will, den lade ich schon jetzt ein, in 14 Tagen indie Lausitz zu kommen . Wir werden ein internationalesFolklorefestival haben, und dann können Sie dieSorben in all ihrer Kunst, in ihrer breiten Gesangs-und musikalischen Freude und vor allen Dingen inihrer Trachtenvielfalt und in den Kontakten zu allenMinderheiten und Sprachgruppen der Welt kulturellerleben . Kultur ist international . Sie versteht alles . Bittekommen Sie!
Sym přeswědčena, zo je serbska rěč wohrožena.Tohodla dyrbimy za to wjele činić. Ale sym težpřeswědčena, zo njebudźe so serbska rěč zhubić. Ich binüberzeugt: Auch wenn die sorbische Sprache bedroht ist,sie wird nicht vergehen. Přeju sej, zo tež w přichodnymzwjazkowym sejmje serbska rěč zaklinči, byrnjež tu samahižo njebudu. Ich wünsche mir, dass auch im nächstenDeutschen Bundestag die sorbische Sprache erklingt,auch wenn ich selbst dann nicht mehr dabei sein werde .Erlernen kann es jeder .Und deshalb wünsche ich Ihnen jetzt ein gesegnetesPfingstfest. Žohnowane swjatki!Wutrobny dźak. Herzlichen Dank.
Danke, liebe Kollegin Maria Michalk . – Ich möchtenoch eine Anmerkung machen . Es war für die Sitzungs-leitung außerordentlich angenehm, diese Debatte zu lei-ten . Das zeigt, dass die Wertschätzung von Regional- undMinderheitensprachen nichts mit babylonischer Sprach-verwirrung zu tun hat, sondern viel mit gemeinsamemVerständnis, Respekt, Wohlwollen und Harmonie . Dankeschön!
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antragder Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DieGrünen auf der Drucksache 18/12542 mit dem Titel„25 Jahre Europäische Charta der Regional- oder Min-derheitensprachen – Gemeinsamer Auftrag“ . Wer für die-sen Antrag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand .Damit ist der Antrag einstimmig mit allen Stimmen die-ses Hohen Hauses angenommen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 44 a und 44 b auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungAktionsplan der Bundesregierung zur Umset-zung von Resolution 1325 zu Frauen, Frieden,Sicherheit des Sicherheitsrats der VereintenNationen für den Zeitraum 2017 bis 2020Drucksache 18/10853Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungUmsetzungsbericht zum Aktionsplan derBundesregierung zur Umsetzung von Reso-lution 1325 des Sicherheitsrats der VereintenNationen für den Zeitraum 2013 bis 2016Drucksache 18/10852Maria Michalk
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Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widersprucherhebt sich keiner . Dann ist das so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin Frau Staatsministerin Professor Dr . Maria Böhmerfür die Bundesregierung das Wort .
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben eben, glaube ich, eine begeisternde Sprach-reise erlebt . Jetzt darf ich Sie zu einem anderen, einemaußenpolitischen Thema mitnehmen . Die globale Studieder Vereinten Nationen über die Umsetzung der Resolu-tion 1325 kommt zu einem eindeutigen Fazit: Je größerder Einfluss von Frauen auf einen Friedensprozess ist,desto nachhaltiger ist der Frieden. Ich finde, das darf unshoffnungsvoll stimmen .
Frauen sind Trägerinnen politischer Prozesse, sie sindMotor einer nachhaltigen Entwicklung, vorausgesetzt,sie haben die Möglichkeit, am Verhandlungstisch Platzzu nehmen . Ich will ein Beispiel aus der jüngsten Zeitdafür bringen .Der kolumbianische Friedensvertrag ist weltweit dererste Friedensvertrag, der die Rechte von Frauen promi-nent integriert . Zahlreiche Frauenorganisationen warenan der Entstehung dieses Friedensvertrags beteiligt . Ex-pertinnen und Experten wurden zum Thema sexuelle Ge-walt angehört . Vor allen Dingen wurden entsprechendeFolgerungen gezogen . Man kann zu diesem Friedensver-trag sagen: Das ist ein historischer Erfolg gewesen .Der Grund, warum ich von einem historischen Erfolgspreche, liegt darin, dass bisher nur jede 25 . Unterschriftunter einem Friedensvertrag von einer Frau geleistetwurde . Zwischen 1992 und 2011 waren nur 9 Prozent derVerhandelnden in offiziellen Friedensprozessen Frauen.Das ist ein ernüchterndes Ergebnis . Auch 17 Jahre nachVerabschiedung der grundlegenden Resolution 1325sind wir noch weit davon entfernt, dass Frauen weltweitgleichberechtigt am Erhalt von Frieden und Sicherheitmitwirken . Damit bleibt ein großes Potenzial ungenutzt .Das heißt, es ist uns ein Ansporn, noch mehr Anstren-gungen zu unternehmen, um die Rechte von Frauen auchweltweit durchzusetzen; denn Frauenrechte sind Men-schenrechte .
Für die Bundesregierung heißt das ganz klar: Wir wer-den uns weiter mit allem Nachdruck für den verbessertenSchutz von Frauen und Mädchen vor sexueller Gewaltin bewaffneten Konflikten engagieren. Wir werden unsweiterhin auf allen Ebenen für die verstärkte Beteiligungvon Frauen in Friedensprozessen einsetzen .Was ist nun neu an diesem zweiten Aktionsplan? Wirhaben dem Austausch mit zivilgesellschaftlichen Orga-nisationen einen hohen Stellenwert gegeben; denn diesezivilgesellschaftlichen Organisationen und gerade dieFrauen, die sich dort mit ihrer Expertise und ihren Part-nernetzwerken einsetzen, leisten einen entscheidendenBeitrag zur Umsetzung der Agenda „Frauen, Frieden undSicherheit“ in Deutschland und weltweit . Dafür möchteich allen einen sehr herzlichen Dank sagen .
Der Umsetzungsbericht zum ersten Aktionsplan fürden Zeitraum 2013 bis 2016 zeigt: Die Bundesregierunghat erhebliche Ressourcen für den Schutz und die Förde-rung der Rechte von Frauen und Mädchen in Krisen undKonflikten eingesetzt.Ich will hier ein Beispiel für Deutschland bringen . Wirschulen Personal von Polizei und Bundeswehr und ausdem zivilen Bereich, das für Einsätze in Krisengebietenvorgesehen ist . Das ist eine neue Weichenstellung .Wir setzen uns dafür ein, den Frauenanteil in inter-nationalen Organisationen zu stärken . Ein für mich sehrbegeisterndes Beispiel ist auch das African Women Lea-ders Network . Von deutscher Seite aus unterstützen wirein Projekt von UN Women in Kooperation mit der Af-rikanischen Union . Dabei geht es darum, ein Netzwerkpolitisch aktiver afrikanischer Frauen in Führungspositi-onen aufzubauen . Warum tun wir das? Das Ziel ist, dassFrauen stärker an nationalen Wahlprozessen teilhaben .Denn wir sind davon überzeugt, dass dies den gesell-schaftlichen Prozess voranbringt . Ich glaube, man kannsolche Ansätze mit Fug und Recht als richtungsweisendbezeichnen . Wir wollen sie weiter ausbauen .
Die Umsetzung der Resolution 1325 ist auch ganz imSinne der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung .Das sagt sich aus heutiger Sicht so leicht daher . Ich selbsthabe die Verhandlungen in New York führen können . Eswar ein harter Kampf, ein Ziel durchzusetzen, von demich überzeugt war, dass es heute selbstverständlich seinwird, nämlich Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbe-stimmung für Frauen und Mädchen als eigenes SDG-Ziel zu verankern . Hier war es extrem hilfreich, dass sichdie vielen Frauenorganisationen eingebracht haben . Wirwussten alle ganz genau: Jetzt gilt es, jetzt müssen wirFarbe bekennen, und jetzt müssen wir unsere Netzwerkenutzen . Denn zwischen Geschlechtergleichstellung, demSchutz der Menschenrechte, nachhaltiger Entwicklungund der Wahrung von Frieden und Sicherheit – darumging es – besteht ein ganz enger Zusammenhang . Ichglaube, das muss in die Köpfe gebracht werden . Das Be-wusstsein dafür muss geschärft werden . Deshalb war dieVerankerung bei den SDGs so wichtig .Vizepräsident Johannes Singhammer
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Dazu gehört auch, dass wir der sexuellen Gewalt inbewaffneten Konflikten wirklich Einhalt gebieten. Dennimmer wieder benutzen Konfliktparteien und Terror-gruppen – ich erinnere hier an den „Islamischen Staat“und an Boko Haram – Vergewaltigungen und Zwangs-verheiratungen gezielt als Mittel der Kriegsführung . Wirhaben den Aufschrei erlebt – es gab ihn zu Recht –, alsdie abscheulichen Verbrechen an den Jesidinnen undden nigerianischen Schülerinnen geschahen . Sie habendie Welt aufgerüttelt . Doch es darf nicht bei dem Aufruf„Bring back our girls“ bleiben . Die meisten dieser grau-samen Taten bleiben ungesühnt, die Täter ungestraft . Daskönnen wir nicht länger hinnehmen . Die Täter müssenfür schwerste Menschenrechtsverletzungen und für mut-maßliche Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogenwerden . Dafür werden wir uns einsetzen .
Der Schutz von Mädchen und Frauen sowie die Stär-kung der Rechte von Frauen lassen uns nicht ruhen . Un-sere Erfahrungen wollen wir weltweit mit anderen Frau-en teilen . Wir wollen sie ermutigen und befähigen, sichaktiv einzubringen und Verantwortung beim Schaffenvon Frieden, beim Wiederaufbau und bei der gleichbe-rechtigten Mitgestaltung der Gesellschaft – auch nachBeendigung von Konflikten – zu übernehmen. DassFrauen, wenn sie sich vernetzen, viel bewegen und Din-ge zum Positiven verändern können, habe ich persönlichhier und weltweit immer wieder erfahren . Ich habe dasauch gerne mit vorangebracht .Nach 27 Jahren im Deutschen Bundestag ist das heu-te meine letzte Rede . Ich erinnere mich an meine ersteBundestagsrede . Sie fand auch an einem Freitag vor ei-nem Feiertagswochenende statt . Damals ging es um dieLebenssituation von Frauen in Deutschland . Heute gehtes um die Lebenssituation und die Rechte von Frauenweltweit . In diesen 27 Jahren – das können wir, glaubeich, alle festhalten – hat sich für Frauen in unserem Landviel verändert . Es muss sich aber noch weltweit viel fürFrauen verändern . Sich dafür einzusetzen, dazu möchteich Sie alle ermutigen .Ich habe gerne und mit Leidenschaft für die Rechteder Frauen, aber auch für unsere politischen Ziele hiergekämpft . Ich gestehe Ihnen: Ich werde zeitlebens mitLeib und Seele Bundestagsabgeordnete bleiben, auchwenn ich diesem Hohen Hause nicht mehr angehöre .Ich bin wirklich dankbar für die vielfältigen Aufgabenund Funktionen, die ich wahrnehmen durfte . Damit habeich die Chance erhalten, Politik zu gestalten und etwas zubewegen . Dazu gehörte, so manches Mal heftig zu strei-ten . Aber wir haben gelernt: Streit in der Politik hat et-was Klärendes . Schließlich geht es um die beste Lösung .Umso mehr habe ich mich gefreut, wenn wir am Endeeines Streits ein Resultat erzielt haben .Ich habe auch gelernt, dass es sich lohnt, am Ball zubleiben . Man erreicht manches Ergebnis nicht im erstenAnlauf . Manchmal sind mehrere Anläufe notwendig .Umso wichtiger ist dann, dass es Kolleginnen und Kolle-gen gibt, auf die man setzen kann . Was mich hier immerwieder beeindruckt hat, ist die kollegiale und freund-schaftliche Zusammenarbeit . Das, was uns über alle Par-tei- und Fraktionsgrenzen hinweg zusammengeführt hat,ist das Eintreten für unsere Demokratie .In diesem Sinne möchte ich allen einen sehr herzlichenDank für die gute und freundschaftliche Zusammenarbeitsagen . Ich wünsche Ihnen allen und denen, die neu hin-zukommen, allzeit eine glückliche Hand und alles Gute,wenn Sie in Zukunft Entscheidungen über die Geschickeunseres Landes treffen .Herzlichen Dank .
Liebe Kollegin Böhmer, Sie haben nun sieben Legis-
laturperioden dem Hohen Hause angehört, und zwar in
vielen wichtigen und herausragenden Ämtern, in dieser
Legislaturperiode als Staatsministerin im Auswärtigen
Amt . Ich möchte Ihnen dafür nicht nur in meinem Na-
men, sondern auch im Namen des ganzen Hauses Hoch-
achtung und Dank aussprechen . Herzlichen Dank!
Wir fahren fort . Ich gebe der Kollegin Kathrin Vogler
für die Fraktion Die Linke das Wort .
Vielen Dank, Herr Präsident . – Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Staatsministerin, ich möchte Ihnen auchim Namen meiner Fraktion alles Gute für Ihren weiterenLebensweg wünschen und auch, dass Sie noch viele Ge-legenheiten haben, weitere Fortschritte für die Frauen indiesem Land und weltweit zu beobachten .Das, worüber wir heute diskutieren, sollte es, wenn esnach der schwarz-gelben Koalition und der letzten Bun-desregierung gegangen wäre, eigentlich gar nicht geben .Sie haben uns jahrelang erklärt, ein nationaler Aktions-plan zum Schutz von Frauen und Mädchen in Gewalt-konflikten sei gar nicht nötig. Dann plötzlich, kurz vorEnde der letzten Legislaturperiode, gab es ihn doch: denAktionsplan zur UN-Resolution 1325 . Die Begründunglautete – wenn ich das einmal flapsig und kurz zusam-menfassen darf –, man glaube zwar noch immer nicht,dass ein solcher Aktionsplan nötig sei, dass man es aberleid sei, sich ständig der öffentlich vorgebrachten Forde-rung erwehren zu müssen, und dass es daher einfachersei, einmal etwas aufzuschreiben . Das war natürlich einLob für uns, die Opposition, aber vor allem für die vie-len Organisationen der Frauen-, Friedens- und Entwick-lungsbewegungen, die der Bundesregierung damals or-dentlich Zunder gegeben haben . Dafür möchte ich michbedanken .
Allerdings wirkte dieser Aktionsplan dann auch eherbeliebig, von Unwilligkeit geprägt . Der Umsetzungsbe-richt krankt daran, dass es sich um ein buntes Sammel-surium vieler einzelner Initiativen der BundesregierungStaatsministerin Dr. Maria Böhmer
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und der Zivilgesellschaft handelt . Aber auf die Frage,was eigentlich gut funktioniert hat und was nicht, wo dieBundesregierung noch Verbesserungsbedarf sieht, waswirklich gewirkt hat, gibt er leider kaum eine Antwort .Ohne eine solche Bestandsaufnahme fehlt natürlich dieGrundlage für die Neuauflage. Es gibt keine Beschrei-bung des Istzustands, keine klaren Ziele und keine In-dikatoren . Eine Hilfsorganisation, die auf der Grundlageeines solchen Umsetzungsberichts einen so nachlässigausgearbeiteten Projektantrag beim Auswärtigen Amtoder beim Entwicklungshilfeministerium stellen würde,bekäme von der Bundesregierung vermutlich keinen ein-zigen Cent .Apropos Geld: Auch der neue Aktionsplan ist wederfinanziell noch personell untersetzt. Dabei hat doch dieOSZE in ihrer Studie über die nationalen 1325-Aktions-pläne betont, dass fehlende Ressourcen einer der Haupt-gründe für die geringen Fortschritte bei der Umsetzungsind . Meine Damen und Herren von der Koalition, dieBelange von Frauen im Zusammenhang mit Gewaltkon-flikten und der Kampf gegen geschlechtsspezifische undsexualisierte Gewalt dürfen keine Orchideenthemen sein,die nur dann bearbeitet werden, wenn gerade nichts ande-res anliegt. Sie brauchen Ressourcen – personelle, finan-zielle –, und sie müssen auch stetig sein .
Frau Böhmer hat es gesagt: Wir müssen am Ball bleiben .Etwas, wo ich persönlich am Ball bleiben möchte,weil es mir wichtig ist, ist der unbewaffnete Schutz vonZivilistinnen in Kriegen . Die globale Studie der UN, dieGlobal Study, die auch Sie schon erwähnt haben, betont,dass unbewaffnetes, ziviles Peacekeeping durch speziellausgebildete Friedensfachkräfte sich als besonders effek-tiv für den Schutz von Frauen und Kindern in Gewalt-konflikten erwiesen hat. Ich finde, die Bundesregierungsollte das endlich einmal zur Kenntnis nehmen und Kon-sequenzen ziehen, anstatt ihr Mantra vom angeblichenNutzen militärischer Interventionen wieder und wiederzu beten .
Zum Schluss muss ich Sie auch noch fragen, wie ernstSie eigentlich Ihre eigenen Ansprüche nehmen . Der neueAktionsplan betont – das ist auch richtig –, dass die Um-setzung der Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“eine Querschnittsaufgabe ist . Aber auf den mehr als140 Seiten des Weißbuchs wird sie nur flüchtig erwähnt.In der Zukunftscharta des Entwicklungsministeriumstaucht sie gar nicht auf . Kann es sein, dass Sie Angst ha-ben vor den Verpflichtungen, die sich aus der Verabschie-dung dieser Agenda ergeben würden? Wenn Sie wirklichdie Ursachen von Gewalt gegen Frauen angehen wollten,dann müssten wir viel stärker über Prävention reden, unddann wird es nämlich unbequem; denn dann müssten wiruns fragen, ob die Politik dieser Bundesregierung in allenRessorts wirklich auf die Verhütung von Kriegen ange-legt ist .
Am deutlichsten wird dieser Widerspruch bei der ak-tuellen Rüstungsexportpolitik dieser Bundesregierung .Um ein Beispiel zu nennen: Saudi-Arabien führt im Je-men einen blutigen Krieg, unter dem die Zivilbevölke-rung, insbesondere die Kinder und die Frauen, leiden .Die schreckliche Not der über 3 Millionen Flüchtlingeist für uns kaum vorstellbar . Viele Familien sehen sichinzwischen gezwungen, ihre minderjährigen Kinderzwangszuverheiraten, um mit der Mitgift das Essen fürdie anderen Familienmitglieder bezahlen zu können . Dasist die brutale Wirklichkeit des Krieges, und dieser Kriegwird auch mit deutschen Waffen geführt, mit Waffen, diemit Genehmigung der Bundesregierung an das saudischeUnrechtsregime geliefert wurden . Prävention müsstedoch zumindest bedeuten, den Rüstungsexport in solcheStaaten wie Saudi-Arabien konsequent und komplett zubeenden, und zwar sofort .
Das, meine Damen und Herren, ist Ihre Verantwortunggegenüber den Töchtern und den Müttern im Jemen undanderswo .
Für die Fraktion der SPD spricht jetzt die Kollegin
Gabriela Heinrich .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Täglich sehen wir in den Nach-richten schreckliche Bilder; täglich hören wir furchtbareGeschichten aus vielen verschiedenen Regionen dieserWelt . Es wird gebombt, geschossen, verschleppt und zer-stört – und vergewaltigt . Sexuelle Gewalt wird gezielt alsKriegsstrategie eingesetzt, um die Bevölkerung zu demü-tigen und um Sozialstrukturen zu zerstören . Frauen undMädchen sind meist nicht direkt an bewaffneten Konflik-ten beteiligt; aber sie sind nicht weniger von Leid betrof-fen . Die Liste der Gräueltaten sexueller und sexualisier-ter Gewalt ist sehr lang: systematische Vergewaltigung,sexuelle Folter, Verkauf als Sexsklavinnen, Missbrauch,Ermordung nach Vergewaltigung, Zwangsverheiratung,Verschleppung .Gewalt gegen Frauen und Mädchen – sexuelle Gewaltgegen Frauen und Mädchen – ist ein Thema der UN-Re-solution 1325 . Die Bundesregierung hat jetzt den zweitennationalen Aktionsplan zu dieser Resolution vorgelegt .Er beschreibt die Ansätze der Bundesregierung für dienächsten drei Jahre . Ich bin sehr froh, dass wir heute die-se Diskussion hier führen können . Leider war es nichtmöglich, zu diesem Thema einen Antrag des Menschen-rechtsausschusses einzubringen .Welche Problemstellungen finden wir bei diesemThema? Es ist immer noch ein Tabu, das aber durch dieBeachtung des unfassbaren Leids der Jesidinnen ein biss-chen aufgebrochen wurde . Unzählige von ihnen wurdenOpfer systematischer sexueller Gewalt durch den IS . DieKathrin Vogler
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Berichte und das mutige Engagement einiger noch sehrjunger jesidischer Frauen haben eine sehr hohe interna-tionale Aufmerksamkeit erhalten . Aber was ist mit denFrauen aktuell, zum Beispiel im Südsudan?Häufig werden Frauen und Mädchen, die sexuelle Ge-walt erlebt haben, für das verantwortlich gemacht, wasihnen angetan wurde . Hochtraumatisiert und im Intims-ten verletzt, werden sie häufig von ihren Familien undGemeinschaften ausgestoßen . Wenn sie aufgrund einerVergewaltigung schwanger werden, gilt das als großeSchande . Die ausgestoßene Frau muss dann alleine dasKind ihres Vergewaltigers großziehen, und das Traumaüberträgt sich auf die nächste Generation .Aber wissen Sie, was wirklich den Begriff „Schande“verdient? Wenn UN-Blauhelme vergewaltigen! Auchdieser Problematik müssen wir uns stellen .
Ich bin froh, dass auch dieser Punkt deutlich im Aktions-plan aufgeführt ist .Die Bundesregierung muss sich noch sehr viel mehrfür die Sensibilisierung einsetzen und alle am KonfliktBeteiligten mit einbeziehen – auch und natürlich gera-de die Jungen und die Männer . Wie im Aktionsplan an-gesprochen, spielen unsere Auslandsvertretungen dabeieine wichtige Rolle: Gerade in diesem hochsensiblenFeld ist die Zusammenarbeit mit der Zivilbevölkerungelementar, und dafür braucht es Ressourcen . Noch sindunsere Auslandsvertretungen hier sehr unterschiedlichaufgestellt . Gezielte Schulungen und zusätzliches weib-liches Personal könnten eine stärkere Sensibilisierungbewirken .Die Tabuisierung führt im Weiteren dazu, dass sexuelleGewalttaten in Konflikten häufig nicht verfolgt werden;Frau Dr . Böhmer, Sie haben es bereits angesprochen . Invielen Ländern, in denen eine Aufarbeitung durch Straf-verfolgung stattfindet, kommen die Täter trotzdem nursehr selten vor Gericht . Meist wird behauptet, man könnees nicht beweisen . Im letzten Jahr wurde das Verfahrenvor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen Ahmadal-Mahdi aufgenommen . Al-Mahdi ist ein Kriegsverbre-cher, der in Mali an der Misshandlung etlicher Frauenbeteiligt gewesen sein soll . Trotzdem wurde er lediglichwegen der Zerstörung von Weltkulturerbe angeklagt .Versuchen Sie sich vorzustellen, welche Botschaft hier-mit verbunden ist . Wiegt die Zerstörung von Kulturerbeschwerer als die Zerstörung von Frauen?Die Bundesregierung muss sich – wie es wörtlich imAktionsplan steht – auf allen Ebenen für eine gerechteStrafverfolgung einsetzen, auch als Vorbedingung fürVersöhnung .Und wenn wir über Gewalt gegen Frauen in Konflik-ten sprechen, dann kommen wir natürlich unweigerlichauch zu den Frauen, die bei uns Schutz suchen . „Aufar-beitung“ ist hier das Stichwort, aber auch „Sicherheit fürgeflüchtete Frauen in unseren Unterkünften“.Es geht jetzt darum, den Aktionsplan umzusetzen –und zwar in allen Ressorts – und mit genügend Finanz-mitteln . Wir müssen und wir werden das auch in derkommenden Legislatur auf der Agenda behalten . Wirwerden uns dafür einsetzen, dass Frauen vor sexuellerGewalt besser geschützt werden und dass die Täter nichtstraflos bleiben.Vielen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr . FranziskaBrantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Wir beraten heute den zweiten Aktionsplander Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Resoluti-on 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“, und gleich-zeitig diskutieren wir den Umsetzungsbericht zum erstenAktionsplan . Man sollte meinen, dass man einen Umset-zungsbericht diskutiert, bevor man den nächsten Akti-onsplan verabschiedet,
damit man die Empfehlungen, die daraus resultieren,noch einarbeiten und das Ganze voranbringen kann . Dassdas nicht geschehen ist, ist ein Fehler . Das zeigt, dass wirdas nicht richtig haben angehen können .Ich möchte ein paar Kritikpunkte anbringen, die ur-sächlich dafür sind, dass der Aktionsplan aus der Sichtunserer Fraktion wahrscheinlich nicht wirklich ein Akti-onsplan, sondern eher ein Absichtsplan ist .Erstens . Es fehlt das Geld . Das hat Frau Vogler gesagt;das haben auch Sie gerade gesagt .
Es gibt keine Hausnummern in diesem Aktionsplan . Esgibt keinen Topf für die Ziele . Es gibt gar nichts, unddas ist ein großer Fehler . Alle zivilgesellschaftlichen Ak-teure und Akteurinnen haben eingefordert: Wir brauchenGeld . – Es gibt keine Gleichberechtigung für umsonst .Die Beteiligung von Frauen muss uns das wert sein .Es ist schade, dass wir in diesem Aktionsplan dafür garnichts haben .
Zweitens ist der Plan unkonkret, ohne Indikatoren .Eine klare Forderung aus der Zivilgesellschaft war: Wirbrauchen Indikatoren, anhand deren wir uns nachhergemeinsam davon überzeugen können, dass der Akti-onsplan umgesetzt wird . Wir müssen wissen: Was habenwir erreicht? Was haben wir nicht erreicht? Dazu gibt esübrigens von der OSZE auch gute Anleitungen, wie maneinen Indikatorenplan machen kann . Das ist alles schonausgearbeitet . Das hätte die Bundesregierung überneh-Gabriela Heinrich
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men können . Aber leider ist das Ganze zu unkonkret .In dieser Unpräzision ist das kein Plan, nicht einmal einPlänchen, sondern auch hier nur eine Absichtserklärung .
Ein Bereich, in dem das besonders deutlich wird, istdie Verteidigungspolitik; Sie haben es auch schon an-gesprochen: Wir haben in allen Mandaten, die wir hierals Bundestag in den letzten Jahren verabschiedet haben,nicht einen Bezug zur Resolution 1325 – nicht in einemMandat . Dabei geht es doch in diesen Mandaten genaudarum, was unsere Soldatinnen und Soldaten im Aus-land machen, nämlich Frauen zu schützen . Warum stehtin diesem Aktionsplan nicht drin, dass in Zukunft keineinziges Mandat mehr durch dieses Haus hier gehen darf,wenn es nicht einen Bezug zur Resolution 1325 enthält?
Das wäre mal ein echter Plan, ein echtes Ziel .
– Sie schauen da immer genau hin, welchen Mandatenwir zustimmen und welchen nicht . Manchen stimmenwir zu, manchen nicht . Aber auf jeden Fall ist die Forde-rung nach einem Bezug zur Resolution 1325 eine extremwichtige .Drittens . Wenn man sich die Kohärenz anschaut, dannstellt man fest – ich knüpfe jetzt an den Aspekt der Rüs-tungsexportpolitik an, der vorhin schon genannt wurde –:Rüstungsexporte wirken in vielen Ländern als Brandbe-schleuniger, und es wäre eigentlich notwendig, hier stär-ker auf die Situation von Frauen zu schauen . Es gibt denArms Trade Treaty . Der wurde 2014 verabschiedet . Denhat auch Deutschland mitgezeichnet . Artikel 7 Punkt 4nennt als explizites Kriterium für den Nichtexport vonWaffen, dass diese in den Ländern zu geschlechtsspe-zifischer Gewalt beitragen. In diesem Artikel wird ge-schlechtsspezifische Gewalt als Ausschlusskriterium fürExporte von Rüstungsgütern genannt . Diesen Artikel ha-ben wir mit unterschrieben . Der wird aber noch nicht ein-mal aufgeführt; der ist überhaupt nicht mehr Teil dessen,was wir uns vornehmen . Das ist eigentlich unmöglich .Das müsste dringend korrigiert werden .
Ich sage Ihnen: Es geht auch anders . Schauen Sie sichmal die schwedische Außenministerin Margot Wallströman . Die hat Waffenexporte nach Saudi-Arabien aufgrunddieses Artikels abgelehnt . Sie hat gesagt: Dort werdendiese Waffen auch für geschlechtsspezifische Gewalt ge-nutzt . – Deswegen hat sie gesagt: Keine Exporte mehr indieses Land . – Ich bin mal gespannt, wann sich der ersteMinister traut, mit dieser Begründung Rüstungsexporteabzulehnen .
Viertens . Frauen haben es auch bei uns mittlerweileschwer, wenn sie als Geflüchtete gekommen sind.
Auch nicht alle Unterkünfte sind bei uns so, dass dieseFrauen vor Gewalt geschützt sind; das wissen wir . Dashaben wir schon zigfach diskutiert . Auch das gehört zurResolution 1325 . Wir brauchen endlich bundesweit ver-bindliche Kriterien und mehr Unterstützung . Darüberhinausgedacht: Wo sieht die Bundesregierung eigentlichdiese Frauen als Akteurinnen für Frieden, wenn sie zu-rückkommen?
Wo wird denn Diaspora aufgebaut? Wo werden sie dennunterstützt, um dort ihren Beitrag zu leisten? Wo fangenwir hier schon an, diese Frauen einzubeziehen? Fehlan-zeige!Letzter Punkt . Die Zeiten werden ja nicht besser . Wirhaben Trump . Alle haben jetzt darüber geredet, dass erdas Klimaabkommen aufgekündigt hat . Aber worüberwir nicht diskutieren, ist, dass er das Budget für den Be-völkerungsfonds der Vereinten Nationen, den UNFPA,auf null gesetzt hat . Da werden Gelder gekürzt, auf nullgesetzt, die Frauen dabei helfen sollen, selber zu ent-scheiden, wann sie Kinder bekommen und ob sie Kin-der bekommen . Aufklärung, Verhütungsmittel: Das istso zentral, wenn wir Frauen stärken wollen . Und genaudiese Gelder werden auf null gestellt . Da vermisse ichden Aufschrei .
Eigentlich müsste die Bundesregierung sagen: Das fi-nanzieren wir jetzt . Da springen wir ein . Für die Lücke,die Trump bezüglich der Frauenrechte bei den VereintenNationen reißt, stehen wir jetzt ein . Wir lassen Trumpnicht weltweit die Frauenrechte zurückschrauben . Dafürkämpfen wir . Das ist Resolution 1325 . – Das fände ichmutig . Vielleicht macht es ja die nächste Regierung .
Die Kollegin Dr . Ute Finckh-Krämer spricht als
Nächste für die Fraktion der SPD .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribünen!Krieg wird fast immer von Männern gemacht . Beim Frie-den ist es wichtig, dass die Frauen einbezogen werden .Das ist etwas, was sich historisch belegen lässt . Dahergibt es die UN-Resolution 1325, die am 31 . Oktober2000 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen be-schlossen wurde .Dr. Franziska Brantner
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Diese Resolution benennt drei zentrale Prinzipien . Ichmöchte zunächst einmal auf das Prinzip eingehen, überdas wir bisher noch nicht diskutiert haben, nämlich diePrävention; denn im Krieg stirbt nicht nur als Erstes dieWahrheit, sondern als Zweites sterben die Menschen-rechte und damit auch die Frauenrechte . In jeder vonKrieg, von Bürgerkrieg gefährdeten Gesellschaft stehenFrauenrechte unter Druck, sind Frauen nicht mehr in derLage, ihre elementaren Rechte wahrzunehmen . Insofernist Prävention ein ganz wichtiger Teil dessen, was wir zurUmsetzung der UN-Resolution 1325 brauchen .Wichtig ist auch – das hat diese Resolution bewirkt –,dass die Frauenfriedensgruppen und die Friedens- undMenschenrechtsgruppen, die nicht nur Menschenrechteallgemein, sondern speziell auch Frauenrechte im Blickhaben, einen Anknüpfungspunkt haben, um darauf zuverweisen, wie viele Frauen es gibt, die sich für den Frie-den und damit auch dafür einsetzen, dass es gar nicht erstzum Krieg kommt .Im Jahr 2003 hat sich auf internationaler Ebene eineGruppe gebildet. Sie hat Biografien von 1 000 Frauenzusammengestellt und gesagt: Es gibt 1 000 Frauen, dieden Friedensnobelpreis verdient hätten . – Sie hat vor-geschlagen, dass diese 1 000 Frauen im Jahr 2005 denFriedensnobelpreis gemeinsam bekommen . Diesen Vor-schlag hat das Nobelpreiskomitee nicht übernommen .Inzwischen haben aber zwei oder drei Frauen entwederden Friedensnobelpreis oder den sogenannten Alternati-ven Nobelpreis erhalten . Die Aufmerksamkeit für diese1 000 Frauen war sowohl in den Ländern, in denen sieleben – es sind viele Konflikt- und Krisenländer dabei –,als auch international sehr groß . Ich bin deswegen froh,dass sich die Zivilgesellschaft da etwas vorgenommenund umgesetzt hat, was Regierungen nicht so gut könnenoder was nicht auf deren Agenda steht .
Eine indirekte Folge der UN-Resolution 1325 war,dass mit Geldern des Auswärtigen Amtes im letzten Jahrin Berlin der Global Peacebuilder Summit veranstaltetwurde . Es wurden 30 Friedensexpertinnen und -experten,Friedensstifterinnen und -stifter nach Paretz eingeladen .Von diesen 30 Eingeladenen waren 15 Frauen, weil in-zwischen das Bewusstsein vorhanden ist, wie groß nichtnur das Potenzial von Frauen als Friedensstifterinnen,sondern auch wie wichtig das Friedenshandeln von Frau-en ist .Als Unterausschuss Zivile Krisenprävention hattenwir die Möglichkeit, mit den Teilnehmerinnen und Teil-nehmern des Global Peacebuilder Summit zu sprechen .Bei diesem Gespräch haben wir gemerkt, dass ein ande-res Projekt, das wir uns als Unterausschuss vorgenom-men haben, nämlich das Projekt einer Ausstellung überFriedenshandeln, damit verknüpft war . Diejenigen, diediese Ausstellung – sie wird übrigens am 19 . Juni imPaul-Löbe-Haus eröffnet und dauert zwei Wochen – vor-bereiten sollen, waren dabei, als wir mit den Peacebuil-dern aus den verschiedensten Ländern gesprochen ha-ben . Unter den teilnehmenden Ländern waren auch harteKonfliktländer vertreten wie Afghanistan und Pakistan,aber auch Länder wie Indien oder Kenia, bei denen esauch darum geht, präventiv tätig zu werden . Es werdensicher einige der Interviews mit den Friedensstifterinnenund Friedensstiftern in der Ausstellung geführt werden .Insofern ist es nicht nur wichtig, das Papier, also denBericht und damit den neuen Aktionsplan, zu beurteilen,sondern auch zu schauen, was durch die Bundesregie-rung indirekt gefördert wird . Es lohnt sich, die Liste derProjekte anzusehen, die in dem Bericht über die Jah-re 2013 bis 2016 genannt werden, auch wenn es nur eineAufzählung ist . Es sind wichtige und interessante Pro-jekte dabei . Ich hoffe, dass wir den Umsetzungsberichtzum Aktionsplan für die Jahre 2017 bis 2020 so bekom-men, dass wir ihn vor einem dritten Aktionsplan, der fürdie Jahre 2021 bis 2024 erstellt werden soll, diskutierenkönnen und wir dann in einen Prozess kommen, in demaus dem Umsetzungsbericht Folgerungen für den jeweilsnächsten Aktionsplan gezogen werden .Das ist etwas, was alle von uns, die für den nächstenBundestag antreten, mitnehmen sollten . Ich hoffe, dasswir auch in der nächsten Legislaturperiode im Unteraus-schuss Zivile Krisenprävention interfraktionell so kon-struktiv zusammenarbeiten können, wie wir das bishergetan haben, und auch die vielen am Umsetzungsberichtund am Aktionsplan beteiligten Ressorts genauso gut zu-sammenarbeiten werden wie in dieser Legislaturperiode .Danke schön .
Für die CDU/CSU spricht als Nächste die Kollegin
Elisabeth Motschmann .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe, sehr ver-einzelte männliche Kollegen! Ich freue mich über jedenEinzelnen, der hier ist . Meine Damen und Herren auf denTribünen! Ich möchte heute beginnen mit einem Zitatvon Mahatma Gandhi, dem großen Friedens- und Frei-heitskämpfer aus Indien . Er hat gesagt:Im Kampf gegen den Krieg sollten die Frauen dieFührerinnen sein . Es ist die ihnen gemäße Aufgabe .Liebe Kolleginnen, es ist die uns gemäße Aufgabe .
Das möchte ich gerne als Überschrift über meine kurzeRede stellen .Wir sind uns sicher einig, dass, wenn es um Krieg undFrieden geht, nach wie vor viel zu wenige Frauen an denVerhandlungstischen sitzen . Das müsste sich wirklichlangsam ändern . Das Zitat von Gandhi ist hundert Jahrealt, und wir sind Lichtjahre von dieser Einsicht und derVerwirklichung entfernt .Dr. Ute Finckh-Krämer
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Deshalb ist es gut, dass wir sowohl den Umsetzungs-bericht als auch den Aktionsplan der Bundesregierunghaben – beide betrachten die Resolution 1325, einmalrückblickend, einmal in die Zukunft gerichtet –, um aufdieser Basis zu überlegen, was wir daran ändern können,dass so wenige Frauen – das ist das einzige Thema mei-ner Rede – an den Verhandlungstischen vertreten sind .Vielleicht müssen wir Frauen uns selber viel stärkerkonzentrieren auf die wirklich wichtigen Themen – Kriegund Frieden sind ja ein wichtiges Thema – und dürfenuns nicht verlieren in teilweise albernen Formulierungender gendergerechten Sprache . Es bringt uns nicht weiter,wenn wir alles sprachlich feminisieren,
sondern wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrie-ren .Ich habe gesagt, wir, die Frauen, sitzen nicht an denVerhandlungstischen . Das betrachte ich jetzt einmal et-was genauer: Uns wurde eine Reihe von Prozentzahlenund Zahlen vorgelegt; aber die täuschen . Wenn wir unsdie Beteiligung von Frauen in internationalen Gremienanschauen, und zwar in allen Gremien, in denen es umFrieden oder Krieg geht, und dabei alle bei den Verein-ten Nationen beschäftigten Frauen einbeziehen, auch dieunteren Dienstgrade, dann sieht es relativ gut aus . Aberwer sitzt denn in den Führungsetagen? Wer sitzt denn anden Verhandlungstischen? Dort sieht es ganz anders aus .Damit wir nicht nur auf andere blicken, blicken wirnun einmal auf uns selber . Ich denke, dass Frauen ein un-glaubliches diplomatisches Geschick haben . Wenn das soist, müssten wir unter unseren Botschaftern eine Vielzahlvon Frauen haben . Ich habe selbst durchgezählt – da ver-lasse ich mich nicht auf andere; das können Sie nachzäh-len –: 154 deutsche Auslandsvertretungen sind besetzt,davon 21 mit Frauen . – Na toll! Das kann nun wirklichnoch besser werden . Das kann nicht nur, sondern mussbesser werden .
Interessant ist Folgendes: Wenn man beim Auswärti-gen Amt anfragt, wie viele Frauen Botschafterinnen sind,dann werden die Generalvertretungen gleich mit einbe-zogen, um auf eine etwas höhere Zahl zu kommen, näm-lich auf 28 .
Aber das hilft uns nicht weiter . Wenn wir uns allein dieZahl der Ständigen Vertreter in internationalen Organi-sationen anschauen, die aus Deutschland kommen, dannstellen wir fest: Es gibt 13, und davon sind 2 Frauen . Mansieht: Da ist noch viel Luft nach oben, meine Damen undHerren .
Ich sage aber auch kritisch: Wenn es in den Medienum Krieg und Frieden, um Außenpolitik und um Sicher-heitspolitik geht: Wen fragen denn unsere Journalisten?Sie fragen immer die gleichen Herren; die ich alle liebeund alle schätze .
Aber der Blick der Medienvertreter ist ziemlich verengt .Sie beziehen weder in den Talkshows noch morgens imDeutschlandfunk die Stimme der Frauen ein, die sichmit diesen Themen beschäftigen . Und ich meine nichtnur Außenpolitikerinnen und Verteidigungspolitikerin-nen . Vielmehr könnte man die vielen hoch kompetentenFrauen in den Thinktanks, in den Stiftungen und vielenOrganisationen einbeziehen, aber leider bezieht man sienicht ein .Helmut Kohl – ich muss leider zum Ende kommen –hat schon vor über 30 Jahren gesagt: Das Engagementder Frauen brauchen wir in Zukunft nötiger denn je beider Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben auf un-serem Weg zu mehr Verständigung in der Welt . – Wir ha-ben schon einen langen Weg hinter uns, wir haben einenweiten Weg vor uns, wenn es um die Beteiligung vonFrauen an außenpolitischem Nachdenken und an der Be-antwortung von drängenden Fragen geht .Lassen Sie mich am Ende sagen: Vielleicht müssenwir Frauen uns selbst offensiver und stärker in die The-men einmischen; denn wenn so wenig Frauen in denAuswärtigen Ausschuss gehen, dann ist das ja nicht dieSchuld der Männer, sondern das liegt auch am Wahlver-halten von Frauen am Beginn einer Legislatur .Das ist eine herzliche Einladung . Wir Frauen müssenoffensiver sein . Die Männer müssen noch mehr verste-hen, dass wir in der Diplomatie mindestens so gut, abereigentlich besser sind .
Wir machen gerne mit, und zwar mit hoher Kompetenz .Wir sollten fraktionsübergreifend zusammenhalten . Ichbin dabei .Vielen Dank .
Zum Abschluss dieser Aussprache hat die Kollegin
Julia Obermeier das Wort für die CDU/CSU .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Friedensnobelpreis wird seit 1901 jährlichverliehen . In dieser Zeit haben aber nur 16 Frauen denwichtigsten internationalen Friedenspreis erhalten, zu-letzt 2014 das pakistanische Mädchen Malala Yousafzai .Sie hatte sich gegen das Bildungsverbot der Taliban fürFrauen ausgesprochen und sich für das Recht aller Kin-der auf Bildung starkgemacht . Einen brutalen Anschlagder Taliban, die ihr in den Kopf schossen, hat sie nurElisabeth Motschmann
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knapp überlebt . Heute setzt sie sich für ihre Ziele alsUN-Friedensbotschafterin ein . Malala ist ein positivesBeispiel dafür, wie Frauen erfolgreich für Frieden undSicherheit arbeiten .Frauen und Mädchen bilden fast die Hälfte derMenschheit . Doch wie das Leben von Malala in Pakis-tan zeigt: Frauen werden noch immer häufig in vielenBereichen benachteiligt . Dabei können Frauen wichtigeBeiträge leisten, gerade in den Bereichen Frieden und Si-cherheit. Bei der Lösung von Krisen und Konflikten istdie Beteiligung von Frauen erwiesenermaßen von gro-ßer Bedeutung . Sitzen sie bei Friedensgesprächen mitam Tisch, sind die Verhandlungsergebnisse nachhaltiger .Frauen setzen ihren Schwerpunkt häufig auf zivile Kon-flikt- und Friedenslösungen und bringen aufgrund ihrerpersönlichen Erfahrungen andere Themen ein wie bei-spielsweise Gesundheits- und Bildungsfragen . Vielfaltermöglicht dauerhaften Frieden!Die im Jahr 2000 verabschiedete UN-Resolution 1325„Frauen, Frieden, Sicherheit“ setzt hier an . In ihr wirdgefordert, dass Frauen verstärkt in die politischen Pro-zesse der Konfliktvorbeugung und -bewältigung und derFriedenssicherung eingebunden werden .Daher begrüße ich es, dass die Bundesregierung inden vergangenen vier Jahren einen ersten Aktionsplanzur Umsetzung der Resolution 1325 aufgelegt hat . DasBundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung und das Auswärtige Amt haben einegroße Zahl an Maßnahmen gefördert . Viele Projekte wid-men sich der Aufgabe, Frauen in den politischen Wieder-aufbau in Nachkonfliktgesellschaften einzubeziehen unddamit weiteren Konflikten vorzubeugen. Beispielsweisein Libyen werden Frauen einerseits dazu befähigt, eineRolle in politischen Prozessen zu übernehmen, und an-dererseits, sich für ihre Rechte ein- und diese durchzu-setzen . Ein weiteres Beispiel stammt aus Tunesien . Dortwurden Entscheidungsträgerinnen dabei unterstützt, an-dere Frauen für Politik zu begeistern .Selbst aktiv für mehr Sicherheit zu sorgen, ist derFokus von weiteren Maßnahmen des Aktionsplans . In15 Staaten im südlichen Afrika werden in regionalenPeacekeeping-Training-Centern Frauen besonders ge-fördert und vernetzt . Der Frauenanteil bei dieser Ausbil-dung liegt mittlerweile bei über 30 Prozent . Ein weiteresBeispiel: Im Irak wird Frauen geholfen, sich am Aufbaueiner bürgernahen, zivilen Polizei zu beteiligen . Zudemdienen etliche Projekte dazu, Frauen eine eigene Stimmezu geben . In Ägypten werden hierzu Journalistinnen inspeziellen Schulungen ausgebildet .Auf Grundlage des Aktionsplans hat die Bundesre-gierung zwischen 2013 und 2016 fast 200 Maßnahmenergriffen . Diese machen deutlich: Frauen sind wichtigepolitische Akteure . Sie haben eine eigene Stimme – so-wohl in der öffentlichen als auch in der politischen Dis-kussion . Frauen sind nicht nur schutzbedürftig, sondernsie können auch andere schützen und Frieden stiften . Dievielen Konflikte auf der ganzen Welt können nicht dau-erhaft friedlich beigelegt werden, ohne die Frauen, ohnedie Hälfte der Menschheit einzubinden . Daher müssenwir auch zukünftig die gleichberechtigte Teilhabe vonFrauen fördern: bei der Vorbeugung und der Beilegungvon Konflikten sowie beim Wiederaufbau und bei derFriedensschaffung .Der zweite Aktionsplan der Bundesregierung für denZeitraum 2017 bis 2020 entwickelt den ersten fort . Er istwichtig; denn wir brauchen Frauen für mehr Frieden undSicherheit auf unserer Welt .Nicht nur das Beispiel der UN-FriedensbotschafterinMalala zeigt: Frauen leisten einen wichtigen Beitrag fürden Frieden, und zwar überall auf dem Globus . Dabeiwollen wir sie auch weiterhin unterstützen .Vielen Dank .
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/10853 sowie 18/10852 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen . – Widerspruch gegen diesen Vorschlag sehe ich kei-
nen . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Damit kommen wir zum letzten Tagesordnungspunkt
am heutigen Tag, den Tagesordnungspunkt 45, den ich
hiermit aufrufe:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr . Harald Terpe, Lisa Paus, Katja Dörner,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Cannabiskontrollgesetzes
Drucksache 18/4204
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit
Drucksache 18/12476
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
dagegen sehe ich keinen . Dann ist das somit beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Emmi Zeulner für die Frak-
tion der CDU/CSU .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als Erstes möchte ich sagen: Ich persönlichbedaure es, dass mein geschätzter Kollege Harald Terpehier jetzt nicht seine letzte Rede halten wird . Es ist wohldem Wahlkampf geschuldet, dass der Parteivorsitzendezu diesem Tagesordnungspunkt spricht .
Julia Obermeier
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Dies bedaure ich sehr . Aber Sie als Grüne kämpfen gera-de, und das ist anzuerkennen .
Wir beraten heute abschließend – zumindest für die-se Legislaturperiode – den Entwurf eines Cannabiskon-trollgesetzes in zweiter und dritter Lesung . Ich kannfeststellen: Der Entwurf wurde trotz der Diskussion nichtweiterentwickelt, und es wurden keine unserer Bedenkenaufgenommen . Gerade in der heutigen Debatte zeigt sichdeshalb, dass Sie, liebe Kollegen von Bündnis 90/DieGrünen, die Ignoranz, die Sie uns immer wieder vorwer-fen, selbst an den Tag legen; sonst hätten Sie sich dieMühe gemacht, an Ihrem Gesetzentwurf etwas zu ändern .Sie fordern weiter den legalen Besitz von bis zu30 Gramm Cannabis und den Eigenanbau von bis zu dreiCannabispflanzen. Ich habe immer wieder betont, dassdiese Mengen einfach viel zu hoch sind .
Ich finde es weiterhin richtig, über eine bundeseinheit-liche Regelung zur Eigenbedarfsmenge bei Cannabis zudiskutieren . Selbstverständlich sollte dafür der bundes-weit niedrigste Wert genommen werden; denn wozu diejetzt tolerierten Höchstmengen führen, sehen wir geradein Berlin im Görlitzer Park .Schon in der letzten Rede habe ich gefordert, dass derGörlitzer Park wieder den Familien gehören muss undnicht irgendwelchen Kleindealern, die nicht belangt wer-den . Die Dealer tragen nämlich die tolerierte Menge amMann, während das größere Versteck, aus dem sie sichimmer wieder neu bedienen, angeblich keinem gehört .
Dass die rot-rot-grüne Regierung in Berlin vor der Kri-minalität einfach kapituliert
und statt Polizisten Sozialarbeiter einsetzt, ist eine Frech-heit gegenüber den Menschen in Berlin .
Sie gehen in Ihrem Gesetzentwurf noch einen Schrittweiter: Für die Abgabe von Cannabis an Minderjährigewollen Sie die Strafgrenzen im Gegensatz zum jetzigenBetäubungsmittelrecht sogar herabsetzen . Damit machenSie es den Kleindealern noch einfacher . In Ihrem Vor-schlag dann aber zu schreiben, den Jugendschutz beson-ders im Blick zu haben,
ist einfach nur lächerlich;
denn natürlich hätte man bei 30 Gramm den Spielraum,etwas weiterzugeben – gerade an Jugendliche, für dieCannabis selbstverständlich weiterhin nicht legal zu-gänglich wäre .
Jugendschutz und das Öffnen eines Marktes für eineDroge passen für mich nicht zusammen; es funktioniertim Allgemeinen auch nicht .
Das zeigen vier Fakten aus einer Studie zur Legalisie-rung von Cannabis in Colorado ganz deutlich .
Erstens . Der Cannabiskonsum bei Minderjährigen istdort um 20 Prozent angestiegen, obwohl diesen kein le-galer Zugang gewährt wurde . Ihr hochgelobter Rückgangdes Konsums – gerade haben Sie diesen wieder als Folgeeiner Legalisierung angesprochen – ist hiermit widerlegt .Zweitens . Die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle un-ter dem Einfluss von Cannabis in Colorado ist von 71 imJahr 2013 auf 115 Fälle im Jahr 2015 gestiegen, also umgut 60 Prozent .Drittens . Die Zahl der Krankenhausaufenthalte, die mitCannabis im Zusammenhang stehen, ist von 6 715 Fällenim Jahr 2012 auf unglaubliche 11 439 Fälle im Jahr 2014angestiegen, also um 70 Prozent .Viertens . Auch die Zahl der Notfälle wegen Kindern,die sich an Cannabisprodukten vergiftet haben, ist seitder Legalisierung deutlich angestiegen . So hat sich dieZahl der Kinder unter neun Jahren, die Cannabis oral zusich genommen haben, mehr als verdoppelt .Der entscheidende Schritt, der in Colorado offensicht-lich fehlt, muss sein, Minderjährige wirksam zu schüt-zen, um so dem Schutzauftrag, der uns gegeben wurde,tatsächlich nachzukommen .
Neue Studien zeigen, dass nicht nur die ersten fünf bissechs Lebensjahre besonders prägend sind, sondern vorallem der Zeitraum zwischen 15 und 20 Jahren für dieGehirnentwicklung besonders entscheidend ist: In dieserZeitspanne findet eine Reorganisation des Gehirns statt,Emmi Zeulner
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während der die Jugendlichen für schädliche Umweltein-flüsse besonders anfällig sind.Cannabis, THC, erhöht das Risiko einer Psychose umdas Siebenfache .
In der Fachambulanz für Suchterkrankungen in Münchenhaben fast 60 Prozent der Patienten die HauptdiagnoseCannabisstörung . Solche Zahlen – ob sie aus Coloradooder aus Deutschland kommen – können wir gerade alsGesundheitspolitiker nicht einfach ignorieren .
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist meiner Ansichtnach, dass finanzielle Gründe niemals die Basis für einWeniger an Gesundheitsschutz und eine Legalisierungsein dürfen; denn wenn man so denkt, dann müsstenwir – überspitzt gesagt – bei der Strafbarkeit ziemlichvieler Taten ansetzen, deren Durchsetzung den Steuer-zahler täglich Zigtausende Euro kostet .
Die Kosten für einen Gefängnisinsassen betragen täglichdurchschnittlich 92 Euro . Überlegen Sie einmal, welcheEinsparungen wir machen würden, wenn wir zum Bei-spiel Wohnungseinbrüche legalisieren würden . Danngäbe es Tausende Einbrecher weniger im Gefängnis undMillionen mehr im Topf . Das kann doch wohl nicht IhrErnst sein .
Ihr Vorwurf – das ist genauso tiefste Mottenkiste –, wirwürden jeden, der 5 Gramm Cannabis bei sich hat, aufdas Schlimmste kriminalisieren, entbehrt jeder Grund-lage . Wir haben ein sehr ausdifferenziertes Strafrechts-system, das sich besonders durch die Individualentschei-dung auszeichnet . Einzelfallentscheidung bedeutet ebennicht – wie man gerne verstanden werden möchte –, dassder Einzelne willkürlich anders als der andere behandeltwird,
sondern es bedeutet, dass man sich den Einzelfall mit al-len Facetten anschaut . Natürlich wird jemand, der bereitsVorstrafen hat und auffällig wurde, anders behandelt alsjemand, der zum ersten Mal auffällig geworden ist .Für mich sind deshalb in der Drogenpolitik anderePunkte zentral . Wir müssen uns mehr für die Substitu-tion einsetzen . Wir haben bereits in dieser Wahlperiodeviele wichtige Maßnahmen getroffen, um den Substituie-renden den Weg in einen weitgehend normalen Alltag zuerleichtern . Doch wir haben noch so viel Bedarf an denSchnittstellen .
Denn gerade die Menschen, die sich entschließen, denSuchtweg zu verlassen, müssen wir auffangen und ihnenzur Seite stehen . Besonders bei der Substitution im Straf-vollzug müssen wir dahin gehend nachbessern . Vor allemnach einer Entlassung gibt es viele Todes- und Vergif-tungsfälle . Das ist nicht tragbar . Wir werden uns dafüreinsetzen, dass wir auch in anderen Ländern Modellvor-haben wie in Niedersachsen bekommen . Hier wird in Zu-sammenarbeit mit Substitutionsärzten acht Wochen vorder Entlassung mit der Behandlung begonnen und diesedann nahtlos nach der Entlassung weitergeführt . Da seheich Handlungsbedarf .Eines ist mir besonders wichtig: Wir müssen Lösun-gen finden, wie wir diejenigen stärken, die Nein zu Dro-gen sagen, damit sie den Mut haben, sich in einer Gruppezu behaupten, selbst wenn der Druck von anderen sehrgroß ist .
Aber das Wichtigste ist: Im Bereich der Anwendungvon Cannabis als Medizin müssen die Krankenkassendas, was der Gesetzgeber ihnen aufgetragen hat, ausfüh-ren . Sie dürfen Patienten die Erstattung der Kosten vonCannabis nicht ohne schwerwiegende Gründe verwei-gern .
Wir hören, dass die Krankenkassen hier sehr restriktivverfahren . Wir werden das genau beobachten und, wenndas so ist, nicht hinnehmen . Denn dieses Gesetz „Can-nabis als Medizin“ war von Anfang an dazu gedacht, diePatienten zu entlasten und keine neuen Hürden aufzubau-en . An diesem Ziel halten wir weiterhin fest . Wenn dieKrankenkassen auch zukünftig den gesetzgeberischenWillen ignorieren, müssen wir selbstverständlich denGenehmigungsvorbehalt überdenken .
Das sind nur drei der zentralen Punkte, die ich als pri-oritär ansehe, prioritär vor der Legalisierung einer wei-teren Droge .Wenn ich Ihren Gesetzentwurf mit einer Note verse-hen müsste, dann würde ich eine Vier minus geben .
Emmi Zeulner
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Und ein Fleißsternchen hätten Sie sich auch nicht ver-dient, denn Sie haben gar nichts geändert . Ihr Entwurfüberzeugt mich deshalb weiterhin nicht . Deswegen leh-nen wir als Unionsfraktion den Gesetzentwurf selbstver-ständlich ab .Vielen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Frank Tempel für die
Fraktion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Zum Ende dieser Legislatur möchte auch
ich beim Thema Drogenpolitik etwas grundsätzlicher
werden .
Sie wissen, dass mein Blickwinkel durch die Arbeit
als Kriminalbeamter in der Bekämpfung der Rauschgift-
kriminalität geprägt wurde . Doch auch viele Suchtmedi-
ziner, Streetworker und betroffene Konsumenten haben
mich mit ihren Argumenten bestärkt . Aber in den politi-
schen Debatten zur Drogenpolitik sind auch heute noch
viele Reden von Vorurteilen und falschen Begrifflichkei-
ten geprägt .
Wir reden zum Beispiel ausdrücklich nicht davon, Dro-
gen, auch nicht Cannabis, freizugeben . Die Linke redet
von einer durchdachten Regulierung auf legaler Basis .
Das gilt auch für die Grünen mit ihrem hier vorgelegten
Gesetzentwurf .
Das ist etwas ganz anderes als eine Freigabe, meine Da-
men und Herren; denn das beinhaltet Regeln, die es auf
dem Schwarzmarkt nicht gibt .
Regulierung heißt, man kann Festlegungen treffen:
zum Wirkstoffgehalt, zur Zusammensetzung der Inhalts-
stoffe, zum Jugendschutz, zu den erlaubten Mengen usw .
Aus den Reihen der Union wird ja häufig beklagt, Can-
nabis habe heute einen höheren Wirkstoffgehalt und sei
deswegen gefährlicher .
Herr Kollege Tempel, gestatten Sie eine Zwischenfra-
ge der Kollegin Zeulner?
Oh, das ist meine erste Zwischenfrage nach siebenein-
halb Jahren . Daher gestatte ich sie natürlich .
Geschätzter Kollege, Sie sagen ja immer, es gehe Ih-
nen nicht um eine pauschale Legalisierung, sondern um
eine Regulierung . Aber das passt nicht zu dem Gesetz-
entwurf, den Sie eingebracht haben . Da haben Sie näm-
lich für Ihre Partei formuliert:
Wir treten . . . für eine rationale und humane Drogen-
politik ein, was eine Entkriminalisierung des Dro-
genkonsums und langfristig eine Legalisierung aller
Drogen beinhaltet .
Dazu würde ich natürlich gerne eine Aussage von Ihnen
hören; denn das ist nicht das, was Sie gerade gesagt ha-
ben .
Doch, das ist es . Da steht ja nicht „Freigabe“, sondern„Legalisierung“ . Legalisierung kann sehr viel Verschie-denes sein .
Ich kann Ihnen da das Buch von Professor Heino Stövervon der Universität Frankfurt empfehlen, der eine gan-ze Menge entsprechender Möglichkeiten vorgestellt hat .Wir haben hier im Plenum übrigens mehrfach, auch inAnträgen, unsere Vorstellungen klar regulierter Variantenvorgestellt . In der letzten Legislatur haben wir einen Vor-schlag zum Cannabiskontrollgesetz gemacht . In dieserLegislatur ging es uns darum, den Besitz und Erwerb ge-ringer Mengen dieser Substanzen zu entkriminalisieren
und Modellprojekte in den Bundesländern, wie zum Bei-spiel von Bremen beabsichtigt, zu genehmigen . Das istalso ein sehr vorsichtiger, sehr langsamer Einstieg,
Emmi Zeulner
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der uns ermöglicht, zu evaluieren, wie sich eine solchelegale Variante auswirkt . Das alles ist sehr viel kleintei-liger .Was Sie eben nicht zitiert haben, ist, dass wir immerauch von Langfristigkeit sprechen .
Das heißt, dass hier vom Gesetzgeber ein sehr vorsich-tiger, intelligenter Weg zu wählen ist, immer begleitetdurch eine Evaluierung .
Auch eine solche Evaluierung haben wir in dieser Legis-latur gemeinsam mit den Grünen vorgeschlagen, indemwir gesagt haben: Lassen Sie uns gemeinsam und ergeb-nisoffen das Drogenstrafrecht evaluieren . – Sie sagen,es hilft . Wir sagen, es hilft nicht . Auch diesen Vorschlaghaben wir gemacht . Das ist etwas ganz anderes als einepauschale Freigabe .
Sie befürchten, wie gesagt, dass Cannabis heute vielgefährlicher ist, weil der Wirkstoffgehalt höher ist . Aufdem Schwarzmarkt gibt es keine Regularien im Hinblickauf den Wirkstoff . Illegalisierte Drogen werden so nochgefährlicher, als sie aufgrund ihrer Grundsubstanz per seschon sind . Aus den Reihen der Union wird auch gernebehauptet, dass Cannabiskonsumenten den Drang haben,immer stärkeren Stoff zu nehmen . Das ist ganz einfachnicht wahr . Wenn Sie Ihren Alkoholkonsum mit einemGlas Wein oder Bier begonnen haben, landen Sie auchnicht zwangsläufig beim hochprozentigen Schnaps, zu-mindest die meisten nicht . Wenn Cannabiskonsumentendie Möglichkeit bekommen, geringer dosiertes Cannabiszu wählen, werden nicht alle, aber doch viele genau diestun . Darum sollte es uns gehen: Wir wollen die Gefahrenund Schäden durch Drogenkonsum in unserem Land zu-mindest verringern . Das ist doch das Ziel einer vernünf-tigen Gesundheitspolitik .
Bei den Schäden, die durch den Drogenkonsum ent-stehen, denkt natürlich jeder an die Zahl der Drogen-toten . Gut, reine Cannabiskonsumenten gehören nichtdazu, aber zunehmend Konsumenten sogenannter LegalHighs . Sie wissen, dass zwei Drittel dieser Produkte, alsosynthetische Kräutermischungen usw ., auf synthetischenCannabinoiden beruhen . Viele Konsumenten wollenganz einfach das Cannabisverbot umgehen . Da, wo derVerfolgungsdruck für die Konsumenten am größten ist,nämlich in Bayern, ist auch das Problem mit syntheti-schen Cannabinoiden am stärksten, übrigens inklusiveder Todeszahlen .Sie wissen auch, dass Legal Highs in Holland, wo derBesitz von natürlichem Cannabis geduldet wird, kaumverbreitet sind . Wenn Sie heute dem Entwurf eines Can-nabiskontrollgesetzes der Grünen zustimmen würden,könnten Sie den Bedarf an synthetischen Cannabinoidendeutlich senken und damit auch die Zahl der Drogentotenin Deutschland reduzieren .
Die Union beklagt gern – das haben wir gerade gehört;Sie haben das angesprochen – die schlimmen Zuständedurch illegale Dealer in bekannten Szenen wie im Gör-litzer Park . Ja, Drogendealer haben gegenwärtig das Mo-nopol auf diese sehr riskanten Substanzen und profitierenvon dem Verbot . Deswegen sollen legale Varianten ange-boten werden, um den Dealern diesen Markt zu nehmen .Als jemand, der mehrere Drogendealer als Beschuldigtein Strafverfahren vernommen hat, kann ich Ihnen sagen:Drogen sind per se einfach zu gefährlich, als dass man siediesen Dealern, denen die Gesundheit und das Alter ihrerKunden egal ist, durch Illegalisierung überlassen darf .
Ich will nur kurz ein Beispiel außerhalb des ThemasCannabis anreißen, das das Problem noch einmal ver-deutlicht: Aus dem einst legalen Pervitin wurde nachdem Verbot die heutige Droge Crystal Meth, die sehr vielstärker, sehr viel brutaler, unberechenbarer und tödlicherist . Das passiert mit Drogen, wenn sie nicht mehr staat-lich reguliert werden .
Drogen sind einfach zu gefährlich, um sie einemSchwarzmarkt zu überlassen .
Viele Fachleute und Organisationen haben das schonlange erkannt und warnen uns hier vor der Anwendungdes Strafrechts . Wir haben das Thema gerade durch IhreFrage aufgegriffen . Sie hatten in dieser Legislaturperiodedie Chance, den Sinn und die Wirksamkeit des Drogen-strafrechts zu überprüfen . Sie haben das abgelehnt . Siehaben davor gekniffen und wollten die Ergebnisse nichthören .Wir haben vorgeschlagen, das auf den Prüfstand zustellen . Sie wollen weiter eine Drogenpolitik, die aufLaw and Order setzt, statt sich auf einen akzeptierendenAnsatz einzulassen, auf eine Orientierung auf Schadens-minimierung, wie das zum Beispiel auch die DeutscheHauptstelle für Suchtfragen, die Deutsche AIDS-Hilfeusw . empfehlen .Deswegen bitte ich Sie: Bewegen Sie sich anhand wis-senschaftlicher Erkenntnisse und nicht anhand von Vor-urteilen und alten Begrifflichkeiten.
Begraben Sie Ihre Vorurteile, wie Sie es bei der medizi-nischen Verwendung von Cannabis ja auch getan haben .Hier hat sich in dieser Legislatur gezeigt, dass man durcheinen entsprechenden Dialog mit Ihnen und mit den Kol-Frank Tempel
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legen von der SPD – mit denen sogar ein bisschen mehr –zusammenarbeiten und zu Ergebnissen kommen kann .Sie haben das Thema aufgegriffen . Ich möchte die Bit-te ganz zum Schluss wiederholen, weil es bei dem hiergemeinsam beschlossenen Gesetz zur Verwendung vonCannabis als Medizin in der Praxis leider an allen Eckenund Enden hakt: Hören Sie den Patienten zu! – Das Leiddieser Patienten ist sehr groß . Das greifen wir auch auf,und ich möchte abschließend noch einmal positiv erwäh-nen, dass das unser gemeinsames Anliegen war . In derPraxis funktioniert das momentan aber nicht . Hier könn-ten wir zeigen, dass alle vier Fraktionen auch durchausgemeinsam zu guten Ergebnissen kommen können .
Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhard Blienert für
die Fraktion der SPD .
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute ist in dieser
Legislaturperiode tatsächlich das Finale der Diskussion
bzw . Debatte um Cannabis . Wir haben in den letzten vier
Jahren an vielen Stellen, anhand vieler Anträge und in
vielen Diskussionsrunden mal mehr, mal weniger heftig
gestritten . Wir haben uns einmal an einem Freitagmor-
gen gemeinsam den Görlitzer Park angeschaut . Es waren
sachliche und leidenschaftliche Debatten, bei denen ich
tatsächlich auch eine Menge gelernt habe .
Deshalb möchte ich zu Beginn erst einmal Danke an
Herrn Tempel und Herrn Terpe sagen . Herr Terpe, Sie ha-
ben gestern Ihre letzte Rede hier gehalten; ich habe sie
gehört . Ich hätte Sie heute gerne auch noch einmal zu
dieser Frage gehört . Danke aber auch an Emmi Zeulner
für die Debatten, die wir geführt haben, in denen wir bis-
her aber leider eben nicht auf einen gemeinsamen Nenner
gekommen sind . Aber das kann ja noch werden .
Im Ausschuss habe ich deutlich gemacht, dass ich den
Gesetzentwurf der Grünen für die sachliche Debatte sehr
begrüßt habe: solide Arbeit, gut recherchiert, viele gute
und richtige Punkte zum Thema „Neue Wege in der Can-
nabispolitik“ .
Eines ist klar: Die realitätsferne Drogenpolitik in
Deutschland ist gescheitert . Sie hat mit der Lebenswirk-
lichkeit der Menschen nichts mehr zu tun und greift mit
ihren strafrechtlichen Maßnahmen überhaupt nicht – eher
im Gegenteil . Statt wirksam die organisierte Kriminalität
und das illegale Geld anzugreifen und an die eigentlichen
Täter heranzugehen, werden Bürgerinnen und Bürger ins
Visier genommen . Das sagen uns die alarmierenden Zah-
len doch eindeutig .
Hochrechnungen und Schätzungen, wie viel im Mo-
ment konsumiert wird, sind immer schwierig . Man geht
davon aus, dass in Deutschland circa 2 000 Tonnen Can-
nabis pro Jahr konsumiert werden .
Herr Kollege Blienert, gestatten Sie eine Zwischenfra-
ge des Kollegen Sorge?
Bitte schön .
Herr Kollege Blienert, wir haben in der Sache ja sehr
kontrovers gestritten . Sie sagen jetzt, Sie würden ja ger-
ne, dürfen aber nicht so richtig . Sie verbiegen sich hier
ein bisschen und loben den Entwurf der Grünen . Das
kann ich aus Ihrer Sicht nachvollziehen .
Mir stellt sich hier eine Frage, die ich Ihnen auch stel-
len möchte . In der medialen Berichterstattung der letzten
Wochen – der rot-rot-grüne Senat hier in Berlin und der
Görlitzer Park sind angesprochen worden – sieht man
dann solche Überschriften wie: Rot-rot-grüner Senat
macht Dealer froh!
Das heißt, dass sich die Dealer im Görlitzer Park über die
Politik des Senats freuen . Meine Kollegin Emmi Zeulner
hat angesprochen, dass die tolerierte Höchstmenge he-
raufgesetzt werden soll .
Wie wollen Sie denn den Bürgern, den Familien, die
im Görlitzer Park jeden Tag unterwegs sind, erklären,
dass wir den Cannabiskonsum legalisieren?
Ihr Argument ist, dass wir dann dem Schwarzmarkt die
Grundlage entziehen .
Glauben Sie denn ernsthaft, dass mit einer nachhaltigen
Legalisierung die Probleme gelöst werden können?
Glauben Sie weiterhin ernsthaft, dass dann das Problem
im Görlitzer Park in der Form, wie wir es momentan ha-
ben, gelöst wird?
Das, was Sie hier erzählen, ist absolut nicht nachvoll-
ziehbar .
Lieber Herr Kollege, ich möchte Ihnen gerne mit zweiPunkten antworten . Der erste Punkt ist: Ich habe auchandere Überschriften in Zeitungen und Zeitschriften ge-Frank Tempel
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lesen, in denen genau das Gegenteil von dem stand, wasSie gerade aufgezählt haben . Würden wir uns daran ori-entieren, könnten wir immer eine muntere Debatte überdie Schlagzeilen mit den größten Buchstaben führen .Eine solche Debatte will ich nicht .
Mein zweiter Punkt . Wir glauben nicht nur, sondernwir wissen aufgrund von Untersuchungen, dass genaudiese Gespräche erfolgreich sind . Wenn man die Sachemit der Legalisierung und die Wirkungskette, die da-mit verbunden ist, erklärt, dann nimmt man ganz vieleMenschen mit und bewegt sich wirklich in der Lebens-wirklichkeit der Menschen, die mit dem Problem zu tunhaben .
– Darauf komme ich gleich zu sprechen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei einem Konsumvon angenommenen 2 000 Tonnen Cannabis und einemangenommenen Preis von circa 10 Euro pro Gramm re-den wir über circa 20 Milliarden Euro, die im Jahr nurdurch Cannabis umgesetzt werden; Schwarzgeld, wel-ches natürlich unversteuert nicht wohltätigen Zweckenwie Steuern oder anderen Sachen zugutekommt, sonderneher für unsaubere Geschäfte genutzt wird . Wir wissendoch: International ist der Drogenhandel der Motor desTerrors .
Das Geld aus dem Handel mit Cannabis ist dafür der we-sentliche Treibstoff .Ich möchte jetzt zum Thema „Konsum von Canna-bis“ kommen . Auch da bitte ich Sie, einige Zahlen zuregistrieren, die man nicht vernachlässigen kann unddie auch mit der jetzigen Politik nicht verhindert wer-den . Laut Drogenbericht 2016 der Beauftragten habenim Jahr 2015 6,6 Prozent aller Jugendlichen zwischen12 und 17 Jahren Cannabis konsumiert . Die DeutscheHauptstelle für Suchtfragen, für deren Zusammenarbeitin den letzten vier Jahren ich mich ganz herzlich bedan-ke, schrieb in einer Stellungnahme: „Die Lebenszeitprä-valenz Erwachsener in Deutschlandliegt bei circa 23,2 % .“ Grob geschätzt: Jeder vierte Er-wachsene hat in seinem Leben schon einmal Cannabiskonsumiert . Gucken wir einmal genauer hin: In den letz-ten zwölf Monaten waren es 2,3 Millionen erwachseneMenschen in Deutschland und innerhalb des letzten Mo-nats circa 1,2 Millionen .
Wenn es das Ziel der deutschen Drogen- und Sucht-politik sein soll, ein Leben in einer drogenfreien Gesell-schaft ohne Sucht und Krankheit zu erreichen, dann istdas Instrument der jetzigen Drogenpolitik völlig geschei-tert .
Wenn es das Ziel sein soll, dass wir in einer Gesellschaftleben, in der Schäden durch Konsum verhindert und re-duziert werden sollen sowie den Konsumenten Hilfe undUnterstützung für ein selbstbestimmtes und eigenverant-wortliches Leben gegeben werden sollen, dann ist diejetzige Drogenpolitik nicht nur kontraproduktiv, sondernebenfalls gescheitert .
Jugendschutz? Verbraucherschutz? Fehlanzeige! Dassind die Fakten . Deshalb ist es richtig, dass wir Antwor-ten auf die Frage geben müssen: Wie sieht es denn mitanderen Konzepten aus?Ich habe in der letzten Debatte zu Herrn Tempel ge-sagt: Die Cannabispflanze auf dem Balkon kann aus mei-ner Sicht noch nicht die richtige Antwort auf die Forde-rungen nach mehr Jugendschutz und Verbraucherschutzsein .
Die Idee einer weitgehenden Legalisierung des Anbausund Konsums, den ich eher verfolge, setzt auf einen re-gulierten und kontrollierten Ansatz . Das möchte ich andieser Stelle gerne betonen .Auch die Akzeptanz des Besitzes in der Größe einerJahresernte bzw . einer Höchstgrenze von 30 Gramm proEinkauf sehe ich skeptisch . Über solche Details mussman mit Experten diskutieren und die Grundrichtung ei-nes Gesetzentwurfes nachschärfen . Die Anhörungen derletzten Jahre bestätigen dies auch . Nahezu alle Expertenfordern von uns, in Fragen der Drogenpolitik umzuden-ken . Allein eine Seite des Hauses verweigert sich noch .Die Union verschließt sich nach wie vor den Argumen-ten . Sie nimmt eine Blockadehaltung ein . Im Koalitions-vertrag ist dazu leider nichts vereinbart worden . Wir hör-ten in dieser Wahlperiode immer ein striktes Nein . Das istnicht vorwärtsweisend .Vordergründig geht es um die Grenzen zwischen „ver-boten“ und „erlaubt“, zwischen akzeptiertem Drogen-konsum und Genuss, der nur geduldet wird . Es geht nichtum die Abwägung in der Sache, sondern um die reineLehre . Was derzeit gilt, wird nicht geändert .
Mir jedoch geht es um die Frage, welche Rolle derStaat gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern im Kernhat . Können der Staat und die Gesellschaft die Menschenausreichend schützen, ohne allein auf Repression undStrafe zu setzen, sondern auch auf Verantwortung undMündigkeit? So verstehen wir nämlich den Staat: nichtBurkhard Blienert
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als Obrigkeitsstaat, sondern im Sinne der Teilhabe, Mit-gestaltung und Verantwortung .
Es geht wie immer im Kern darum, den Menschen einselbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, mit aller staatli-chen Unterstützung für ein gesundes und stabiles Leben .Deswegen ist die Frage von Drogenkonsum und -miss-brauch für mich keine Frage des Strafrechts, sondern eineFrage der Gesundheitspolitik und der Sozialpolitik .
Das Strafrecht kommt dann zum Zuge, wenn es umdie damit verbundene Kriminalität geht . Wir lassen eszurzeit zu, dass eine organisierte Kriminalität existiert,die sich aus Schwarzgeld, Gewalt und anderen Straftatenim Zusammenhang mit dem Handel und dem Verkaufnährt . Daher ist es aus meiner Sicht wichtig, dass wir dieKonsumenten durch einen gesicherten Zugang besserschützen . Denn wir sehen: Durch ein Verbot fördern wirletztlich Kriminalität, Gewalt und rechtsfreie Räume .Ich bin erfreut darüber, dass sich jenseits der Uniongerade in den letzten Jahren viele auf den Weg gemachthaben, über andere Wege nachzudenken . Viele Stellung-nahmen, zum Beispiel von den Wohlfahrtsverbänden wiedem Paritätischen Wohlfahrtsverband, der Arbeiterwohl-fahrt und der schon zitierten Deutschen Hauptstelle fürSuchtfragen, haben den Ansatz einer kontrollierten undregulierten Abgabe aufgegriffen und betont, dass Mo-dellprojekte notwendig sind, um Erfahrungen zu sam-meln . Sie haben gesagt, dass das Betäubungsmittelgesetzunbedingt auf den Prüfstand gehört . Wir hören auch ausden Ländern und Kommunen, dass sie bereit sind, neueWege zu gehen . Berlin, Bremen, Düsseldorf, ja sogarMünster würden gerne ein entsprechendes Modellprojektdurchführen .
Das Problem ist: Die Drogenbeauftragte blockiert ge-rade all diese Versuche .
Sie verweigert den Kommunen, entsprechende Modell-projekte durchzuführen .Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir werdenuns auch in der kommenden Legislaturperiode mit die-sem Thema beschäftigen müssen . Ich wünsche mir, dasswir uns in dieser Frage um drei wesentliche Dinge küm-mern .Das Erste ist, Modellprojekte zuzulassen, damit wirErfahrungen sammeln können in der regulierten und kon-trollierten Abgabe . Das Zweite ist, das Betäubungsmit-telgesetz auf den Prüfstand zu stellen und die notwendigeEntkriminalisierung vorzunehmen .Das Dritte ist: Wir werden uns um eine Reform desCannabisgesetzes – Cannabis als Medizin – kümmernmüssen, weil wir zurzeit einige Schwierigkeiten bei derkonkreten Umsetzung haben . Auch das muss, wenn esnicht jetzt schon untergesetzlich geregelt werden kann,in der nächsten Legislaturperiode in Angriff genommenwerden .
Frau Mortler, ich weiß nicht, ob Sie gleich noch re-den werden, aber Sie sind jedenfalls anwesend . Ich weißnicht, ob ich es an Ihrer Stelle besser gemacht hätte, aberdas käme vielleicht auf einen Versuch in der nächsten Le-gislaturperiode an .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Jetzt spricht der Kollege Cem Özdemir für die Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DiePolizei wendet einen großen Teil ihres Personals für dieVerfolgung der Drogenkriminalität auf, verbunden mitvielen Ermittlungs- und noch mehr Schreibtischstunden .58 Prozent dieser Arbeit landen später im Mülleimer . Dassind die deutschen Cannabisdelikte . Sie werden von denStaatsanwaltschaften oder Gerichten größtenteils einge-stellt .Welcher Irrsinn und welche große Verschwendung istdas für die Polizisten und die polizeiliche Motivation?Ich glaube, niemand arbeitet gerne für den Mülleimer .Warum quälen wir dann unsere Polizisten weiter mit ei-nem sinnlosen Gesetz, das wir endlich abschaffen soll-ten?
164 000 Cannabisdelikte – ich sage es nochmals, da-mit es jeder hört: 164 000 Cannabisdelikte – stellen eineBeschäftigungstherapie für Polizisten dar, die bei der Be-kämpfung von Einbruchsdelikten und Ähnlichem fehlen .Auch da kann ich Ihnen nur sagen: Wenn Sie nicht aufmeine Fraktion hören, dann hören Sie doch auf die Po-lizei, hören Sie auf die Kriminologen, hören Sie auf dieJustiz, hören Sie auf die Experten, die etwas von demThema verstehen und uns Recht geben .
Ich zitiere gerne einmal stellvertretend André Schulz,
den Vorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeam-ter:Burkhard Blienert
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Noch nie gab es so viele Drogenkonsumenten wieheute und das trotz eines kompletten Drogen-Ver-botes .Frau Zeulner, Sie haben vorhin den Görlitzer Park an-gesprochen .
Ich wohne mit meiner Frau und meinen zwei Kindernnicht so weit weg davon . Ich kann Ihnen nur sagen: DieNulltoleranzpolitik des CDU-Innensenators in Berlin,die Politik von Herrn Henkel ist gescheitert .
Fragen Sie doch einmal die Dealer, welche Politik besserfür sie war, unsere Politik oder die des Vorgängers .Ich glaube, es ist höchste Eisenbahn, dass wir dieIdeologie im Papierkorb der Geschichte versenken unduns endlich um einen wirkungsvollen Jugendschutzkümmern . Der gehört nämlich auf die Tagesordnung .
Auf die Tagesordnung gehört auch, zur Kenntnis zunehmen, dass 2,5 Millionen Menschen Cannabis konsu-mieren . Das ist eine Realität . Das haben wir heute schonein paarmal gehört . Der Konsum ist durch die Verbots-politik eben nicht zurückgegangen . Wir sind uns dochalle einig hier . Ich freue mich, dass bei einem Satz immerEinigkeit herrschte, nämlich dass wir aufpassen müssen,dass wir die Gefahren von Cannabis nicht verharmlosen .Deshalb muss man auch deutlich machen: Wir brauchenein Cannabisverbot für Minderjährige . Elternverbän-de, Psychiater und Ärztevereinigungen warnen doch zuRecht vor den Risiken für Jugendliche .Aber jetzt hören Sie einmal aufmerksam zu, was sieauch sagen . Sie warnen auch vor den Folgen von Alko-holkonsum . Da sind wir eben anders . Wir drehen unsereHand nicht um bei Gefahren für Jugendliche . Für unsgibt es nicht größere und kleinere Gefahren, sondern füruns gibt es Gefahren für Jugendliche – und das sehen wirganz ohne Ideologie .
Herr Präsident, es gibt eine Zwischenfrage .
Ich entnehme Ihrer Armbewegung und Ihrem Hin-
weis, dass Sie diese Frage zulassen .
So ist es .
Ich frage mich, warum Sie dann das Strafmaß für die
Weitergabe von Drogen an Jugendliche senken . In Ihrem
Gesetzentwurf wird das Strafmaß gesenkt . Im jetzigen
Betäubungsmittelgesetz ist das Strafmaß höher .
Ich verstehe Ihre Aussage, dass Sie die Jugendlichen bes-
ser schützen wollen, nicht, wenn Sie für die Dealer und
die Personen, die die Drogen an Jugendliche weiterge-
ben, das Strafmaß senken .
Frau Kollegin, ich biete Ihnen gerne an, dass wir unsdie Szene im Görlitzer Park und am Kottbusser Tor ganzohne Kameras und ohne Journalisten anschauen, einmalzuhören und mit den Leuten reden . Dann fragen wir ein-mal gemeinsam, ob die Drogendealer nach dem Perso-nalausweis fragen . Dann fragen wir gemeinsam, ob dieDrogendealer eine Packungsbeilage mitgeben, wenn sieihren Kunden das Zeug verkaufen .
Wir fragen dann einmal gemeinsam, ob die Drogen-dealer beispielsweise mit dem Verbraucherschutz vorherdas Zeug getestet haben . Dann fragen wir gemeinsam,welche Gesundheitsgefahren davon ausgehen . Dann fra-gen wir einmal gemeinsam, ob die Szenen dort getrenntsind, ob diejenigen, die die weichen Drogen verkaufen,nicht auch dieselben sind, die die harten Drogen verkau-fen .
Ihr Argument von der Einstiegsdroge wird doch ge-nau durch das, was Sie sagen, bestätigt . Nur wenn Siedie Szenen trennen, indem Sie endlich dazu beitragen,dass es ein Cannabiskontrollgesetz gibt und Erwachsene,die Cannabis konsumieren wollen, von den Jugendlichengetrennt werden, dann bekommen Sie einen wirkungs-vollen Jugendschutz .
Wir wollen den Jugendschutz, Sie verhindern den Ju-gendschutz doch gerade, Frau Kollegin .
Mein Angebot war übrigens ernst gemeint . Das warnicht dem Wahlkampf geschuldet . Ich glaube wirklich,dass ein großes Problem bei dem Thema die mangelndeCem Özdemir
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Sachkenntnis ist . Es hilft uns, glaube ich, wenn man sichausführlich mit diesem Thema beschäftigt .
In unserem Entwurf zum Cannabiskontrollgesetzsprechen wir gerade nicht von einem unkontrolliertenVerkauf, sondern wir reden von einer mengenmäßigenBegrenzung . Ich habe Ihnen aufmerksam zugehört . Siehaben die drei Pflanzen erwähnt und gesagt, Ihnen ge-falle das nicht . Reden wir von mir aus über die Mengen,aber hören wir endlich auf, hier ideologisch zu diskutie-ren .
Wir brauchen ein umfassendes Gesetz, das Jugend-schutz, Verbraucherschutz und Suchtprävention regelt .Volljährige Konsumenten – um die geht es hier; das kannman gar nicht oft genug sagen – dürfen nicht weiter kri-minalisiert werden . Die Strafverfolgungsbehörden müs-sen im Umkehrschluss entsprechend entlastet werden .Wenn Sie auch da nicht auf uns hören, so reden Siedoch einmal mit den Kolleginnen und Kollegen Parla-mentariern und Politikern in anderen Ländern . Ich meine,es ist doch kein Zufall, dass in immer mehr Ländern –man muss doch einmal hinhören, warum das so ist – ge-sagt wird: Gerade wegen des Jugendschutzes müssen wirdie bisherige Politik auf den Prüfstand stellen . Jüngst istnoch Justin Trudeau aus Kanada zu den bekannten Bei-spielen hinzugekommen . Er argumentiert ausdrücklichmit dem Jugendschutz, indem er sagt: Wir wollen denDrogenmarkt schwächen, wir wollen es den Dealernschwerer machen. Ich finde, er hat recht. Auf ihn solltenwir da hören, liebe Kolleginnen und Kollegen .
In den Debatten der vergangenen Jahre haben Sieuns – gerade wenn es um Umweltschutz ging – sehr ger-ne gesagt, wir sollten die Bürgerinnen und Bürger, wasderen Freiheit angeht, nicht gängeln . Ich will Sie jetzteinmal fragen: Mit welchem Recht verbieten wir hartarbeitenden erwachsenen deutschen Staatsbürgern einenentspannten Feierabendjoint auf der heimischen Terrasseoder auf dem heimischen Balkon?
Mit welchem Recht mischen wir uns in das Privatlebenvon Millionen erwachsenen Cannabiskonsumenten ein,die nichts anderes wollen als einfach ihre Ruhe? Sieschlagen ihre Frauen nicht, sie bringen niemanden um .Nach Ihrer Logik wird – das haben wir über Jahrzehntehinweg übrigens auch in diesem Hause gemacht – derAlkoholkonsum verharmlost . Dagegen kriminalisierenwir die anderen Drogen . Das versteht doch kein normalerMensch in diesem Land mehr .
Ich komme zum Schluss . Ich bedanke mich dafür,dass sich bei der Schmerztherapie etwas getan hat . Mitdem Thema Cannabis habe ich aufgrund eines Videosein bisschen zu tun gehabt . Ich habe viele Menschen mitschrecklichsten Schmerzen – mit Gehirntumoren usw . –getroffen . Es ist gut, dass wir uns da bewegt haben . Ichwill aber auch sagen: Dass man es davor nicht gemachthat, war auch nichts anderes als eine Art von unterlasse-ner Hilfeleistung .
Jetzt sind Sie den ersten Schritt gegangen . Dann gehenSie doch bitte auch den zweiten Schritt und räumen Sieauch da ideologischen Müll zur Seite .Danke sehr .
Zum Abschluss dieser Aussprache hat der Kollege
Dr . Georg Kippels, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist schon wirklich erstaunlich, am Freitagnachmittagum fast 15 Uhr noch so viel Leben bzw . Lebhaftigkeitin einer Debatte vorzufinden; aber ganz offensichtlich istdas Thema Cannabis durchaus geeignet, noch einmal sorichtig den ideologischen Boxring aufzubauen und einenintensiven Schlagabtausch vorzunehmen .Bei der letzten Debatte 2015 war ich noch nicht Voll-mitglied im Ausschuss für Gesundheit . Deshalb habe ichmir zur Einstimmung einmal das Protokoll angeguckt .Schon damals ließen die Herzhaftigkeit, der Wortreich-tum und natürlich die Emotionalität nichts zu wünschenübrig . Offenbar haben zwei Jahre der politischen Debatteauch nicht dazu beigetragen, dass eine Sachlichkeit ein-kehren konnte . Das ist eigentlich schade . Es ist schonallein deshalb schade, weil hier mindestens ein Vorwurfbzw . Vorurteil unverändert sehr intensiv in den Ge-sprächsbeiträgen der Kollegen von den Grünen und auchvon den Linken immer wieder geäußert wird . Auch HerrKollege Blienert – er ist anscheinend schon weg – konntees sich nicht ganz verkneifen, den Eindruck zu erwecken,als ob abgesehen von der CDU/CSU alle zukunftsfähigmit dem Thema Cannabis umgehen könnten .
Weit gefehlt, liebe Kolleginnen und Kollegen . Wenn mansich lediglich in irgendeiner Form vermeintlich einemMegatrend anschließt, hat das nichts mit Zukunftsorien-tierung zu tun . Vor allen Dingen hat es auch nicht au-tomatisch etwas mit Verantwortungsbewusstsein zu tun .Wenn man die energischen Einsätze des KollegenÖzdemir erleben darf, dann gewinnt man den Eindruck,dass der gesellschaftliche Friede auf der Kippe steht,wenn wir nicht morgen jedem den Feierabendjoint er-möglichen . Und man hat den Eindruck, dass wir in diehöchstpersönliche Sphäre der Menschen eingreifen, sieCem Özdemir
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 238 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 2 . Juni 2017 24375
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gewissermaßen auf der Grundlage des Grundgesetzesvergewaltigen und ihnen jede Form der persönlichenEntspannung oder Beruhigung streitig machen wollten .Das Gegenteil ist aber der Fall .Wir haben uns ja in den letzten zwei Jahren, was dasErgebnis anbelangt, einstimmig sehr konstruktiv, vorallen Dingen aber auch sehr sachlich mit dieser Mate-rie auseinandergesetzt . Sie haben das zum Schluss – zuRecht – gelobt, Herr Kollege Özdemir . Auch die Parla-mentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach hat in derSchlussdebatte im Januar dieses Jahres ausdrücklich her-vorgehoben, dass die Diskussion in hohem Maße sach-lich und qualitativ hochwertig geführt wurde und dasswir dann zu einem vernünftigen und der Sache angemes-senen Ergebnis gekommen sind .Da in der aktuellen Diskussion – das ist das eigentlichStörende und Irritierende – immer wieder eine intensivekriminologische Betrachtung vorgenommen wird – hinund wieder zu Recht – und in großem Umfang der Hin-weis auf die Gesundheit eine Rolle spielt, möchte ichdarauf hinweisen: Federführend hat sich in der Tat derAusschuss für Gesundheit mit diesem Thema befasst .Die gesamte kriminologische Debatte hätte vielleicht einbisschen mehr im Ausschuss für Recht geführt werdensollen; das wäre gerechtfertigt gewesen .Sehr geehrter Kollege Tempel, Sie haben aus Sicht ei-nes Kriminalbeamten auf Ihre beruflichen Erfahrungenim Umgang mit Beschuldigten verwiesen . Ich war inmeinem Wahlkreis, dem Rhein-Erft-Kreis, der Luftlinieungefähr 50 Kilometer von der holländischen Grenzeentfernt ist, als Jurist 25 Jahre auch im Bereich der Straf-verteidigung tätig . Mir ist daher das von Ihnen angeführ-te Tatbestandsbild durchaus nicht unbekannt gewesen,vor allem der Fall, dass der eine oder andere Jugendli-che am Sonntagnachmittag im Überschwang der Gefühleeinen kleinen Ausflug in die Beneluxstaaten und insbe-sondere nach Holland gemacht und dann im Coffeeshopdringend die Notwendigkeit gesehen hat, einen Test zumachen . Das führt in der Tat zu nachhaltigen Problem-stellungen und Verwirrungen . Aber meine Erfahrungenvor allen Dingen mit der Jugendgerichtsbarkeit sind die,dass der Erziehungs- und der Präventivgesichtspunktbeim Jugendstrafrecht erfolgreich berücksichtigt wer-den, gerade dann, wenn im Rahmen der Auflagen des Ju-gendstrafrechts eine Teilnahme an einer Drogenberatungangeordnet wird . Das ist genau das, was wir letztendlichwünschen, nämlich eine verantwortungsvolle Auseinan-dersetzung im Rahmen des Jugendschutzes .
Kollege Kippels, der Kollege Tempel möchte eine
Zwischenfrage stellen .
Herr Kollege, Sie hatten eigentlich eben ausreichend
Gelegenheit .
Wenn es unbedingt sein muss, werde ich Ihre Frage in
aller Kürze beantworten . – Bitte, gern .
Ich werde die drei Minuten nicht ausschöpfen . – Da Sie
gesagt haben, dass Sie aus Ihren Erfahrungen als Jurist
schöpfen: Ihnen ist sicherlich bekannt, dass mehr als die
Hälfte aller Strafrechtsprofessoren in Deutschland, also
derjenigen, die sich mit dem Strafrecht befassen, genau
das untersucht und eine Resolution an uns Bundestagsab-
geordnete geschrieben haben, in der sie aus juristischer
Sicht genau dargelegt haben, dass die Verhältnismäßig-
keit, also die drei Punkte „geeignet“, „erforderlich“ und
„angemessen“, nicht gegeben ist und dass die präventive
Wirkung des Drogenstrafrechts nicht nachgewiesen ist,
sondern eine Legende ist . Haben Sie davon Kenntnis ge-
nommen, und, wenn ja, wie bewerten Sie das als Jurist?
Herr Kollege Tempel, das bewerte ich mit einer Stan-dardantwort aller Juristen: Zwei Juristen, drei Meinun-gen!
Es gibt hier kein Mehrheitsprinzip: Insofern beeindrucktmich ein Votum von 50 Prozent der auf diesem Sektor tä-tigen Professoren nicht besonders . Schließlich haben sichdie restlichen 50 Prozent – aus welchen Gründen auchimmer – teilweise gar nicht geäußert . Vielleicht wolltenSie sich mehr ihrer akademischen Tätigkeit widmen . Dievon Ihnen zitierten Aussagen sind mir jedenfalls bekannt .
Wenn Sie gestatten, möchte ich zum Thema Jugend-schutz zurückkommen . Ich möchte zu dieser Tageszeitschon fast verzweifelt zwei, drei Bemerkungen zu demKonstrukt des Gesetzes machen, und zwar gerade unterdem Aspekt des Jugendschutzes . § 4 enthält den Hinweisauf den Jugendschutz, während § 5 die Bestimmungenenthält, wie die Maßnahmen angewendet werden sol-len . Was mich letztendlich dazu gebracht hat, an diesemKonstrukt zu zweifeln, ist die Tatsache, dass es häufigzu Situationen kommen wird, in der der volljährige Bru-der oder die volljährige Schwester dem Ihrer Vorstellungnach vollkommen freigegebenen oder legalisierten – dieWahl der Begrifflichkeit ist egal – Anbau von Cannabisnachgehen, während das minderjährige Geschwisterkindin eine Erprobungsphase kommt . Wie will man in einersolchen Situation einen effektiven Schutz gewährleisten?Trägt man nicht auf diese Art und Weise ein Problem inDr. Georg Kippels
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Familien und erzeugt so einen gewissen Rechtfertigungs-druck?
Das Ganze ist sicherlich überlegenswert . Aber solcheKonstellationen müssen in letzter Konsequenz betrachtetwerden . Ich glaube, dass Ihr Gesetzentwurf noch nichtausgewogen ist .Ein weiterer Punkt . An dieser Stelle möchte ich aufdie Strafvorschriften nach § 42 Cannabiskontrollgesetzhinweisen: Wir müssen bei Verstößen natürlich zu einerSanktionierung kommen . Insofern ist das eine spannen-de Debatte zum Gesamtvorwurf der Kriminalisierung indiesem Bereich; denn es könnte rein theoretisch so sein,dass unter diese Strafvorschriften der eine oder andereFamilienangehörige fällt, weil er nicht in ausreichendemMaße den Vorschriften gefolgt ist .Letzten Endes – das ist eigentlich mein Kernbeden-ken bei der Situation, mit der wir uns hier und heute aus-einandersetzen –: Wenn ich mir die enormen Vorgabennach § 22 und § 23 Cannabiskontrollgesetz anschaue,dann bin ich schon der Meinung, dass wir hier wirklichzu hohe bürokratische Hürden aufbauen würden, die demGrundgedanken des Jugendschutzes aus rein pragmati-schen Gründen leider nicht gerecht werden .
Herr Kollege Kippels, gestatten Sie noch eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Terpe?
Nein, an dieser Stelle, ehrlich gesagt, nicht mehr . Ich
möchte gerne zum Ende kommen, Herr Präsident .
Wir haben uns mit diesen Vorgaben intensiv auseinan-
dergesetzt . Im Moment beherrscht die Diskussion noch
die Ideologie . Sollten wir voraussichtlich in der nächs-
ten Wahlperiode zur Sachlichkeit zurückkehren, sind alle
Diskussionen erlaubt . Heute führen sie nicht zum Erfolg,
und deshalb bleiben wir – ideologiefrei – bei der Ableh-
nung dieses Gesetzes .
Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksam-
keit .
Der Kollege Terpe hat jetzt die Gelegenheit zu einer –
kurzen – Kurzintervention .
Vielen Dank, Herr Präsident, dass ich eine Kurzin-
tervention vortragen kann . – Ich wollte dem Kollegen
Georg Kippels eigentlich dafür danken, dass er jetzt zu-
mindest mündlich einmal einen Vorschlag gemacht hat,
wie man unseren Entwurf eines Cannabiskontrollgeset-
zes modifizieren und vielleicht auch verbessern kann. Ich
teile die Befürchtung gar nicht, dass in den Familien mit
dieser Frage nicht verantwortungsvoll umgegangen wird .
Ich denke, dass sich die Situation bei Cannabis in den
Familien überhaupt nicht anders als bei Alkohol darstellt .
Als Familienvater von sechs Kindern habe ich ausrei-
chend Erfahrung sammeln können, was man in den Fami-
lien mit den Kindern verantwortungsvoll machen kann .
Das ist niemals Gegenstand einer parlamentarischen Dis-
kussion . Das ist sozusagen die Freiheit, die man in der
Familie wahrnehmen kann . Aber natürlich müsste man
ausschließen, dass Familienangehörige in eine Strafsitu-
ation kommen; da bin ich der gleichen Meinung . Darü-
ber haben wir im Übrigen bei anderen Themen ebenfalls
häufiger diskutiert.
Meine Schlussbemerkung ist: Ich habe eigentlich ver-
misst, dass sich die CDU/CSU konstruktiv mit unserem
Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes auseinander-
setzt . Schriftliches habe ich jedenfalls nie gesehen . Än-
derungsanträge sind auch nicht vorgelegt worden .
– „Wo sind sie?“ – Insofern denke ich, das ist etwas, was
man in der nächsten Legislaturperiode nachholen kann,
wenn man gegenüber der Sache konstruktiv eingestellt
ist .
Herr Kollege Kippels, Sie haben die Gelegenheit, zu
erwidern .
Ich will zusammenfassend sagen: In der Tat, da ist
noch erheblicher Gesamtnachjustierungsbedarf . Er be-
darf aber sicherlich auch eines ideologisch anderen An-
laufs .
Das sehen wir jedenfalls so . Deshalb: Die nächste Wahl-
periode gibt alle Möglichkeiten, mit diesem Thema ver-
antwortungsvoll umzugehen .
Herzlichen Dank .
Damit schließe ich die Aussprache .Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frakti-on Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Einwurf einesCannabiskontrollgesetzes . Der Ausschuss für GesundheitDr. Georg Kippels
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empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/12476, den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/4204 abzu-lehnen . Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da-mit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt . Da-mit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitereBeratung .Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnungangelangt .Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf Mittwoch, den 21 . Juni 2017, 13 Uhr, ein .Ich wünsche Ihnen allen ein frohes Pfingstfest. DieSitzung ist geschlossen .