Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich zu unserer 200. Sitzung. Ich hoffe, dass der Ju-
biläumscharakter dieser Plenarsitzung mindestens die
Stimmung fördert, vielleicht auch die Tonlage besonders
freundlich stimmt.
Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung
darauf verständigt, während der Haushaltsberatungen,
die wir in unserer nächsten Sitzungswoche abschließend
durchführen, wie in den Haushaltswochen üblich, keine
Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und
auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Prä-
senztage sind die Tage von Montag, den 21. November
2016, bis Freitag, den 25. November 2016, festgelegt
worden. Ich vermute, dass Sie alle damit einverstanden
sind. – Ich stelle das hiermit fest. Damit ist auch der Ab-
lauf der Haushaltswoche gesichert.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
Dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes
zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an-
derer Vorschriften
Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461
Nr. 1.5, 18/10280
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit
Drucksache 18/10056
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung werden
wir nachher namentlich abstimmen. Die in der zwei-
ten Beratung am vergangenen Mittwoch beschlossenen
Änderungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
können Sie der Zusammenstellung in der Drucksa-
che 18/10280 entnehmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch, also können wir so verfah-
ren. Auf diesem Wege mache ich zumindest akustisch
den größeren Teil der Kolleginnen und Kollegen, der
noch nicht im Plenum ist, über die Lautsprecher in den
Büros vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass wir etwa
gegen 9.40 Uhr die namentliche Abstimmung durchfüh-
ren werden.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion.
Schönen guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Es ist mir eine besondere Ehre, indieser 200. Sitzung die erste Rede halten zu dürfen. Icherinnere daran, dass wir Christen heute, am 11.11., denMartinstag begehen. Da sind Teilen und Nächstenliebein unserem Kopf und in unseren Ohren, und mit diesemDuktus möchte ich gern jetzt meine Rede halten.
– In den Herzen sowieso, lieber Kollege Tino Sorge. –Ich glaube, es ist wichtig, mit diesem Duktus die dritteLesung zu einem Gesetz zu beginnen, nämlich, kurz ge-sagt, der vierten AMG-Novelle, die viele Dinge beinhal-tet, die uns in der zweiten Lesung sehr stark beschäftigthaben, aber auch Einzelregelungen für den Arzneimittel-markt und die Gesundheitspolitik insgesamt, auf die ichdann kurz eingehen möchte.Es ist wichtig, festzustellen, dass wir uns gerade fürdieses Gesetz, das die Umsetzung einer EU-Verordnungdarstellt, sehr viel Zeit genommen haben, uns intensivsteBeratungen – inhaltlich, auch zeitlich – genehmigt ha-ben; das war wichtig und richtig. Deshalb liegt uns heuteeine Beschlussempfehlung vor, über die wir namentlichabstimmen werden. Als Christin werde ich ihr guten Ge-wissens zustimmen; das sage ich gleich am Anfang.Uns ist wichtig, zu sagen, dass es ein nicht alltäglichvorkommendes Verfahren ist; denn in der Regel habenwir die zweite und dritte Lesung in einem Block. Inso-
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fern finde ich es unfair, wenn immer noch laut gesagt wird, dieses Gesetz sei nicht ordentlich beraten worden.
Ich stelle fest: Das kann von denjenigen im Parlament,die bei diesem Prozess dabei waren, niemand behaupten.
Die Regeln in diesem Gesetz umfassen unter anderemVorgaben aus der EU-Verordnung, deren Umsetzung not-wendig ist; denn wenn wir sie nicht geregelt hätten, griffesofort die EU-Verordnung durch, und das würde unserenStandards, vor allen Dingen unseren ethischen Standards,nicht entsprechen. Wir sind eines der wenigen Länder derEuropäischen Union, die dieses Recht wahrnehmen.Ich möchte Ihnen aber trotzdem in Erinnerung rufen,dass in diesem Gesetz ganz wichtige Dinge enthaltensind, zum Beispiel die Regelung des Status des Apo-thekers; das stellen wir klar. Die Änderung der Bun-des-Apothekerordnung, also im Grunde genommen derBerufsordnung, die klare Vorgaben vorsieht, ist Bestand-teil dieses Gesetzes. Das ist gerade in dieser Zeit ganzwichtig.Ich möchte auch darauf hinweisen: Wir haben mitÄnderungen an mehreren anderen Gesetzen die Teleme-dizin, die Nutzung von elektronischen Kommunikations-möglichkeiten, erlaubt und geregelt. Aber – das ist unsmit Blick auf die Zukunft wichtig – in diesem Gesetz le-gen wir unter anderem auch fest, dass die Verschreibungund die Abgabe von verschreibungspflichtigen Arznei-mitteln nur möglich sind, wenn zuvor wenigstens ein ers-ter Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden hat. Es ist unswichtig, diese Vertrauensbasis zwischen Patienten undArzt in den Mittelpunkt zu stellen. Ansonsten könnendie Möglichkeiten der modernen Kommunikation ge-nutzt werden. Ich will aber auch darauf hinweisen, dassTeleshopping und auch das Werben für Teleshopping inDeutschland nicht gewünscht, nicht erlaubt sind.Wir haben im parlamentarischen Verfahren besondersgeregelt, welche Maßnahmen im Falle von gefälschtenArzneimitteln ergriffen werden müssen – wir denkenimmer, das käme nicht vor, aber es kommt leider dochimmer wieder vor –, und sehen ein klares Rückgriffsrechtund Verfolgungsrecht vor. Auch das ist Bestandteil desGesetzes.In dem Gesetz wird noch einmal klargestellt, wie dasVerhältnis der Arbeit der Ethikkommissionen ist. Wirhaben die Bundesbehörden, und wir haben die Landes-ethikkommissionen, die in einem Stufenverfahren mit-einander in Abstimmung stehen. Wir regeln auch, dassvon den drei Ärzten, die in diesen Ethikkommissionensein müssen, mindestens einer ist, der sich mit toxikolo-gischen Dingen auskennt, und mindestens einer ist, derErfahrung in klinischer Forschung hat. Das ist deshalbwichtig, weil der Kern dieses Gesetzes ja darauf abzielt:Unter welchen Voraussetzungen sind klinische For-schungen an nicht einwilligungsfähigen Personen, diekeinen eigenen Nutzen davon haben, möglich? Einerseitswollen wir und schaffen wir jetzt ganz strenge Verfahrenund Mechanismen, unter welchen Voraussetzungen dasin Deutschland ermöglicht wird.Ich füge hinzu: Uns als Union ist es wichtig, dass auchin Deutschland für Krankheiten, die wir heute kennen,aber auch für Krankheiten, die heute in unseren Köpfennoch nicht so präsent sind, für Stadien, die sich späterentwickeln – es ist nicht nur die Demenzerkrankung, dieim späten Stadium in unterschiedlichen Formen auftritt;es sind auch andere Krankheiten –, Medikamente gefun-den werden, die für die betroffenen Menschen eine Hei-lung oder eine Leidlinderung ermöglichen.Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn Menschensagen: Ich habe Angehörige zu Hause oder Freunde, dieganz schwer erkrankt sind und die in diesen Situationender Demenz auch das Umfeld beeinflussen; sie leben ja in ihrer eigenen Welt. Viele sagen: Ich möchte, dass dafürgeforscht wird, damit die Krankheit abgewendet werdenkann, die Menschen geheilt werden oder zumindest dieSymptome behandelt werden können, damit die Krank-heit einen menschlicheren Verlauf hat. Das ist uns wich-tig.
Ich sage auch: Es ist freiwillig. Niemand muss esmachen. Selbst wenn jemand eingewilligt hat, kann erjederzeit seine Einwilligung zurückziehen. Das kann erauch, wenn er nicht mehr im vollen Bewusstsein seinesGeistes ist, wenn er in dieser nebulösen Welt lebt. Durchkörperliche Bewegung, durch Abwehrhaltung kann mangenau erkennen, was dem Menschen guttut und was ernicht will.Wir regeln, dass die betroffenen Angehörigen bzw. –
Frau Kollegin Michalk.
– sofort –
auch die Betreuer genau diesen Wunsch des erkrankten
Menschen zu respektieren haben. Deshalb ist es ein gutes
Gesetz. Wir senken nicht die Standards. Ich bitte herzlich
um Ihre Zustimmung.
Ich bitte um Verständnis, dass ich trotz der Jubiläums-sitzung nicht jedem Redner eine deutlich erweiterte Re-dezeit zubilligen kann.
Die Kollegin Wöllert ist die Erste, die dieser Hinweistrifft. Das gilt aber auch für alle nachfolgenden Redner.Bitte schön.
Maria Michalk
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Sehr geehrter Herr Präsident, ich gebe mir große
Mühe, diesen Hinweis zu beachten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf
den Zuschauertribünen! „Änderung arzneimittelrechtli-
cher und anderer Vorschriften nach Europarecht“ ist ja
ein ziemlich sperriger Titel, und kaum einer kann sich
vorstellen, worüber wir denn bei diesem Tagesordnungs-
punkt eigentlich reden. Aber es ist etwas, was uns alle
angeht. Es geht nämlich darum: Wie wird medizinischer
Fortschritt auch künftig gesichert, und wie ist er mit dem
Schutz von Menschen in Einklang zu bringen, die an Stu-
dien teilnehmen, um diesen Fortschritt zu ermöglichen?
Um nicht mehr und nicht weniger geht es heute.
Wir haben am Mittwoch 90 Minuten zu einem Aus-
schnitt aus diesem Gesetz diskutiert. Es war eine der
Sternstunden der Diskussion – so stand in einer Zei-
tung –, weil freigegeben würde, wie sich die einzelnen
Abgeordneten verhalten. Deshalb werde ich heute auf
diesen Punkt nicht mehr eingehen. In den fünf Minuten,
die mir zur Verfügung stehen, möchte ich über die vielen
anderen wichtigen Aspekte im Gesetz sprechen, die auch
heute zur Abstimmung stehen.
Klinische Prüfungen sind immer ethisch sensibel. Das
öffentliche Interesse am medizinischen Fortschritt muss
gegen die Risiken für die Menschen, die an Versuchen
oder an Forschungsreihen teilnehmen und sich freiwillig
zur Studienteilnahme bereit erklärt haben, abgewogen
werden.
Umso wichtiger ist das Vertrauen in der Bevölkerung,
dass die Gesundheit der sogenannten Probandinnen und
Probanden – so nennt man diese Teilnehmer – nicht
unnötig aufs Spiel gesetzt wird. Ein durchweg hohes
Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
zu gewährleisten, bedeutet, dass in jedem einzelnen Fall
eine unabhängige ethische Abwägung getroffen werden
muss. Das bedeutet auch, Menschen zu gewinnen, die
freiwillig und gut informiert ihre Zustimmung zur Teil-
nahme an einer Studie geben.
Jede Studie, die sich mit einer anderen doppelt, ist
ethisch hochproblematisch; denn Risiken für die Studi-
enteilnehmer und -teilnehmerinnen wären vermeidbar.
Auch aus diesem Grund ist die Forderung nach einem
umfassenden Studienregister in diesem Gesetz so wich-
tig.
Aber leider haben Pharmaunternehmen nach wie vor die
Möglichkeit, unliebsame Studienergebnisse der Öffent-
lichkeit vorzuenthalten. Das ist eine verpasste Chance.
Das ist das Gegenteil von Transparenz, die für Vertrauen
unabdingbar ist.
Auch der marketingorientierte Missbrauch von Beobach-
tungsstudien bleibt weiter möglich und kann die klini-
sche Forschung daher eher diskreditieren oder in Verruf
bringen, wie man so schön sagt. Das bringt für den ge-
samten Forschungsbereich mehr Schaden als medizini-
schen Fortschritt.
Durch das Gesetzgebungsverfahren hatten wir die
Chance, bekannte Missstände abzubauen und damit das
Vertrauen in die Forschung zu erhöhen. Die Änderungen
bei den Meldevorgaben begrüßen wir, doch leider lösen
sie das eigentliche Problem nicht.
Der Probandenschutz ist in Deutschland grundsätz-
lich gut ausgeprägt. Sicher trägt das auch dazu bei, dass
Deutschland zu den Spitzenreitern bei der Durchführung
von klinischen Studien gehört. Umso mehr müssen alle
Regelungen sehr kritisch hinterfragt werden, die das Ver-
trauen in die ethische Beurteilung beschädigen könnten.
Ohne Not werden in diesem Gesetz Schritte unternom-
men, ein gut funktionierendes System in eine problema-
tische Richtung zu verändern. Die zustimmende Empfeh-
lung der Ethikkommission hätte deshalb verbindlicher
Teil des Genehmigungsprozesses bleiben müssen.
Warum es eine Verordnungsermächtigung für die Ein-
richtung einer Bundesethikkommission geben soll, er-
schließt sich nun gar nicht. In der Gesetzesbegründung
wird ausgeführt, eine solche Kommission würde nur
gebraucht, wenn nicht genug Landesethikkommissionen
registriert sind. Warum, zum Teufel, trauen Sie auf ein-
mal den bisher hervorragend arbeitenden Landesethik-
kommissionen nicht mehr?
Sowohl die schwächere Bindung an das Votum einer
Ethikkommission als auch die Drohkulisse der Einrich-
tung einer Bundesethikkommission wird die Länder-
ethikkommissionen spürbar unter Druck setzen.
Die Regelungen, die nichtklinische Forschungen be-
treffen, sind aus unserer Sicht in Ordnung. Wir begrüßen
etwa das Verbot der Abgabe von Arzneimitteln über Te-
leshopping und die Neudefinition des Apothekerberufs.
Es lagen uns 17 Änderungsanträge der Koalition vor.
In einem Großteil davon wird die Kritik des Bundesrates
ernst genommen. Positiv hervorzuheben sind die vorge-
schriebene Zusammensetzung der Ethikkommissionen, –
Frau Kollegin.
– Vorgaben für die Meldung von Beobachtungsstudien
und die Möglichkeit, dass der Ethikkommission Aufla-
gen gemacht werden.
Frau Kollegin.
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Ich komme wirklich zum Schluss.
Aha.
Bei der Einbringung des Gesetzentwurfes sagte meine
Kollegin Kathrin Vogler: Es gibt hier noch viel Ände-
rungsbedarf. – Einiges davon wurde im Gesetzgebungs-
verfahren umgesetzt, vieles hätten wir uns noch ge-
wünscht. Das Glas ist nicht halb voll und nicht halb leer.
Deshalb empfehlen wir: Enthaltung.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Stamm-
Fibich das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Verehrte Besucher auf der Tribüne! Diese Wo-che steht voll und ganz im Zeichen des Themas „Arznei-mittel und Gesundheit“. Ich kann mich nicht erinnern,dass wir uns schon einmal in einer Woche so oft im Ple-num zusammengefunden haben.
Wir sind fleißig: Am Mittwoch haben wir über die grup-pennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigenErwachsenen debattiert. Ich denke – da gebe ich derKollegin Wöllert recht –, das war eine ordentliche undanständige Debatte. Über die vorliegenden Änderungs-anträge wurde abgestimmt. Auch ich hätte mir ein ande-res Ergebnis gewünscht; aber so ist das in der Demokra-tie, und die Debatte stand diesem Haus gut an.
Gestern folgte die erste Lesung des Arzneimittelversor-gungsstärkungsgesetzes. Heute kommen wir zu Teil drei,zur dritten Lesung des Entwurfs des Vierten Gesetzes zurÄnderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschrif-ten, kurz: AMG-Novelle. Auch ich finde diesen Begriff recht sperrig.Vieles in diesem Gesetzentwurf ist unstrittig und wirderhebliche Verbesserungen in unserer Versorgungsland-schaft mit sich bringen. Aus meiner Sicht ist die Debatteüber die gruppennützige Forschung ein gutes Beispieldafür, wie wichtig es ist, dass Fragestellungen nicht nurpolitisch angegangen werden, sondern auch möglichstfrühzeitig gesellschaftlich debattiert werden. Ich möch-te zwei Punkte aus diesem Gesetzentwurf herausgreifen,über die es sich nachzudenken lohnt.Laut einer aktuellen Umfrage können 94 Prozent derApotheker mehrmals pro Woche Medikamente nicht auf-treiben. Dann heißt es auf den Zetteln an den leeren Re-galfächern und in den Medikamentenlagern: Herstellerdefekt. Besonders davon betroffen sind die Impfstoffe.Acht sind es laut einer aktuellen Liste des Paul-Ehr-lich-Instituts mit Humanimpfstoffen, bei denen es Lie-ferengpässe gibt. Diese Liste beruht bislang auf einerfreiwilligen Meldung der Arzneimittelhersteller. DochLieferengpässe können Leben gefährden; denn Krank-heiten richten sich nicht nach der Verfügbarkeit von Arz-neimitteln auf dem Markt.Mit dieser AMG-Novelle schaffen wir nun die Rechts-grundlage für mehr Transparenz über die verfügbarenArzneimittel. Die Ständige Impfkommission und diemedizinischen Fachgesellschaften sollen künftig Hand-lungsempfehlungen zum Umgang mit Lieferengpässengeben können. Das ist richtig und wichtig; denn wernicht weiß, was fehlt, kann auch keine Schritte zur Ver-meidung von Lieferengpässen in die Wege leiten. Trans-parenz und die Veröffentlichung von Informationen sindein wichtiger Schritt, um Versorgungsengpässe künftigzu vermeiden.Bis zuletzt habe ich mich in der Debatte über diesenGesetzentwurf für die Abschaffung des Fernverschrei-bungsverbots eingesetzt. Ich bleibe dabei, dass ohneNotwendigkeit eine berufsrechtliche Regelung zur Fern-behandlung in den Gesetzentwurf aufgenommen wur-de. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass eine Abgabe vonverschreibungspflichtigen Arzneimitteln nicht erfolgen darf, wenn vor der ärztlichen Verschreibung kein direk-ter Kontakt zwischen dem Arzt und der Person, für diedas Arzneimittel verschrieben wird, stattgefunden hat.Hiervon darf in begründeten Fällen jedoch abgewichenwerden, insbesondere wenn die Person dem Arzt ausvorangegangenen Kontakten hinreichend bekannt istund es sich um eine Wiederholung oder Fortsetzung derBehandlung handelt. Dem Wortlaut des Gesetzentwurfsnach muss es zunächst einen nicht definierten begründe-ten Ausnahmefall geben. Erst dann greift die Wiederho-lung oder Fortsetzung. Aus meiner Sicht kann das im Falleiner Schmerztherapie durchaus hinderlich sein. Durchdiese Koppelung wird bereits eine leichte Dosiserhöhungausgeschlossen.Die Neuregelung in § 48 Arzneimittelgesetz weitetdamit das ärztliche Berufsrecht auf weitere Leistungser-bringer aus, nämlich auf die Apotheker. Sie werden sonicht wollend zu einer Kontrollinstanz. Liebe Kollegin-nen und Kollegen, kann der Apotheker an der Nasenspit-ze erkennen, ob ein Patient vorher beim Arzt war? Nein,das kann er nicht. Aus meiner Sicht ist die Telemedizinein wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung, Verbes-serung und Verkürzung von Versorgungswegen, geradevor dem Hintergrund des demografischen Handelns.
Erst vor knapp einem Jahr haben wir das E-Health-Ge-setz verabschiedet und uns ausdrücklich zum Potenzialdigitaler Anwendungen für die Qualität und die Wirt-schaftlichkeit der Patientenversorgung bekannt. Dies istbesonders in ländlichen Regionen von Relevanz, in de-
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nen Fahrtwege zu Ärzten und Wartezeiten zunehmend zuZugangshürden werden. Ich kann bis heute nicht verste-hen, warum dieses Verbot es ins Gesetz geschafft hat. Ichhalte dieses Verbot von Fernverschreibungen für nichtzielführend. Ansonsten, glaube ich, dass wir mit der vier-ten AMG-Novelle ein gutes Gesetz gemacht haben, dasfür viele Verbesserungen in diesem Land sorgen wird.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun die Kollegin Schulz-Asche für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich hoffe, dass Sie heute Morgenbeim Frühstück den Kommentar von Jan Heidtmann inder Süddeutschen Zeitung gelesen haben, der sich nocheinmal mit dem Thema befasst, über das wir hier amMittwoch namentlich abgestimmt haben, nämlich mitder Frage, inwieweit die Forschung mit Menschen, mitErwachsenen, die nicht mehr einwilligungsfähig sind, er-leichtert werden soll, wenn sie keinen individuellen Nut-zen mehr davon haben. Die Mehrheit dieses Hauses hatam Mittwoch ein Gesetz gebrochen: Wenn man bewährteGesetze hat, sollte man diese nicht ändern. Das ist hierleider geschehen. Ich fordere Sie weiterhin auf, dafür zusorgen, dass das derzeitige hohe Schutzniveau, das wirin Deutschland haben, erhalten bleibt. Ich bitte Sie, mitNein zu stimmen.
Nun werden einige von Ihnen sagen: Wir haben beiuns in den Bundesländern Ethikkommissionen, die sichohnehin damit befassen. Sie begutachten diese ganzenArzneimittelstudien. Sie machen eine super Arbeit. IhreKompetenzen werden durch das Gesetz noch ausgewei-tet. – Aber wenn Sie das Gesetz richtig gelesen haben,dann wissen Sie, dass die Ethikkommissionen, so wie wirsie kennen – sie leisten vorbildliche Arbeit in allen Bun-desländern –, durch dieses Gesetz entmachtet werden.
– Dann lesen Sie einmal das Gesetz. – Künftig soll dasBundesinstitut für Arzneimittel und Medizinproduktemit einer entsprechenden Begründung vom Votum einerEthikkommission abweichen
und eine Studie unabhängig von der Stellungnahme undEntscheidung einer Ethikkommission zulassen können.Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie heute mit Nein, damitdie Genehmigung einer klinischen Studie weiterhin vonder positiven bindenden Stellungnahme der zuständigeninterdisziplinären und unabhängigen Ethikkommissionabhängig bleibt.
Wir brauchen klinische Studien, damit der medizini-sche Fortschritt bei den Menschen ankommt. Aber wirbrauchen auch Vertrauen in Forschung. Das bindendeVotum von Ethikkommissionen trägt hierzu bei. DieEthikkommissionen haben für dieses Vertrauen gesorgt.
Mit diesem Gesetz zerstören Sie in mehrfacher Hinsichtdas Vertrauen in die Forschungslandschaft in Deutsch-land.
Zum Verbot von Fernbehandlungen und Fernver-schreibungen hat Frau Stamm-Fibich alles gesagt.
Die Tatsache, dass die SPD an der Stelle geklatscht hat,führt vielleicht dazu, dass Sie das Gesetz ablehnen wer-den.Ich möchte noch auf ein Thema eingehen, das Sienicht angehen, und zwar die sogenannten Anwendungs-beobachtungen. Die Bundesregierung versäumt zumwiederholten Male – sie lässt die Chance erneut verstrei-chen –, die Korruptionsanfälligkeit solcher Studien zubeheben. Solche Studien sind intransparent in Bezug aufdie beteiligten Ärztinnen und Ärzte und auf die möglicheBeeinflussung von Verschreibungsverhalten. Zuletzt hat eine gemeinsame Recherche von Correctiv, NDR, WDRund Süddeutscher Zeitung gezeigt, in welchem AusmaßPharmaunternehmen mithilfe von Anwendungsbeobach-tungen Einfluss auf Ärztinnen und Ärzte nehmen. Was ist mit der Aufklärungspflicht gegenüber den Patientin-nen und Patienten? Die Bundesregierung ist bisher nichtgewillt, diese Lücke zu schließen und Transparenz beiAnwendungsbeobachtungen zu schaffen sowie zur Ge-währleistung von Patientensicherheit beizutragen.Herr Lauterbach hat kürzlich ein Interview – es um-fasst zwei Seiten – zu den Anwendungsbeobachtungengegeben. Es trägt die Überschrift: Das ist eine Form derlegalen Korruption.
Ich frage Sie, wie Sie hier als mitregierende Fraktionheute einen Gesetzentwurf verabschieden wollen, in demSie genau dieses Thema nicht aufgreifen, in dem Sie dieKorruptionsanfälligkeit dieser Anwendungsbeobachtun-gen nicht angehen. Das ist meine Frage. Auch deswegenwerden wir mit Nein stimmen.
Meine Damen und Herren, der Arzneimittelbereich istin großer Bewegung. Wir haben es mit vielen Innovati-Martina Stamm-Fibich
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onen zu tun und stehen vor großen Herausforderungen.Umso wichtiger ist es, dass wir die Unabhängigkeit vonForschung und die Patientenrechte in den Mittelpunktstellen.
Wir sind uns der hohen Bedeutung klinischer Prüfun-gen bewusst. Das Gesetz zerstört aber Vertrauen, wo wirVertrauen brauchen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erhält Herr Lauterbach
das Wort. Machen Sie es aber bitte wirklich kurz, Herr
Lauterbach.
Weil ich erwähnt wurde, will ich zum einen darauf
hinweisen, dass ich in diesem Interview im Kölner
Stadt-Anzeiger, das angesprochen wurde, ganz konkrete
Vorschläge dazu unterbreitet habe, wie man dem Pro-
blem des Missbrauchs der Anwendungsbeobachtungen
begegnen kann. Die Legislaturperiode läuft ja noch.
Zum anderen möchte ich sagen: Das Gesetz, das wir
heute beschließen,
beschäftigt sich nicht mit dem Problem, das im Interview
angesprochen wurde.
Darin ging es nicht um dieses Problem. Es kann nicht
angehen, dass hier der Eindruck erweckt wird, als ob ich
dort das Gesetz, das wir heute auch mit meiner Stimme
beschließen werden, aufgrund von Unvollständigkeit kri-
tisiert hätte.
Okay. – Frau Kollegin Schulz-Asche noch einmal.
Bitte schön.
Sehr geehrter Kollege Lauterbach, Sie haben recht,
dass das in dem vorgelegten Gesetzentwurf tatsächlich
nicht enthalten ist. Das habe ich gerade ja auch kritisiert.
Das Arzneimittelgesetz, das heute geändert wird, ent-
hält allerdings die Regelungen zur Anwendungsbeob-
achtung, und mein Vorwurf war genau, dass Sie dieses
Thema in diesem Gesetzentwurf eben nicht aufgegriffen
haben. Deswegen werden wir mit Nein stimmen.
Ich halte das einmal als vorbildliches Beispiel für eine
Kurz-Intervention fest und empfehle das als leuchtendes
Beispiel für ähnliche Annäherungen an diese Möglich-
keit unserer Geschäftsordnung.
Jetzt hat der Kollege Erich Irlstorfer für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach gründlichen Beratungen und intensiv geführtenDebatten beschließen wir heute das Vierte Gesetz zurÄnderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschrif-ten. Darin setzen wir unter anderem den Grundstein fürdie Weiterentwicklung hochwertiger klinischer Studien.Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wirnicht nur beiläufig Anpassungen an die beiden EU-Ver-ordnungen über klinische Prüfungen mit Humanarznei-mitteln vor, sondern bringen wir auch richtungsweisendeEntscheidungen auf den Weg.An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten par-teiübergreifend noch einmal für den konstruktiven Aus-tausch danken. Ich bin der festen Überzeugung, dasswir mit den beschlossenen Regelungen zur gruppennüt-zigen Forschung einen wichtigen Schritt in RichtungForschungsförderung getan haben, ohne unsere hohenSchutzstandards, verehrte Kollegin Schulz-Asche, inDeutschland zu gefährden.
Ich bitte Sie deshalb darum: Schüren Sie weder Angstnoch Verunsicherung. Ich glaube, dass ist nicht ange-bracht.Gerade bei neurodegenerativen Erkrankungen wieDemenzen entstehen bei den Betroffenen Veränderun-gen im Verhalten und Erleben, die in späteren Stadien oftAngst, Agitation und Aggression mit sich bringen, alsoganz andere Erscheinungen als bei leichten Demenzen.Aus diesem Grund bin ich der Auffassung, meine sehrgeehrten Damen und Herren, dass eine Forschung mitausschließlich leicht Erkrankten nicht ausreicht, weil dieErgebnisse nicht auf die Behandlung im fortgeschritte-nen Stadium anwendbar sind.Wie die Redner, die am Mittwoch für den beschlosse-nen Änderungsantrag gesprochen haben, bereits klarge-stellt haben, werden auch in Zukunft nichteinwilligungs-fähige Patienten in Deutschland nicht an fremdnützigenStudien teilnehmen dürfen. Bei gruppennützigen StudienKordula Schulz-Asche
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wollen wir Patienten aber die Möglichkeit geben, in ei-nem frühen Stadium selbst zu entscheiden, ob sie zumNutzen anderer Betroffener an ihnen teilnehmen wollen.Und es bleibt dabei, dass nichteinwilligungsfähige Pati-enten zu jeder Zeit aus gruppennützigen Forschungsstu-dien aussteigen können, wenn sie ihren Unwillen kund-tun.
Die Voraussetzungen, meine sehr geehrten Damen undHerren, für eine solche Entscheidung der Betroffenensind ganz klar und auch streng geregelt, sodass wir hieraus meiner Sicht weder ein ethisches noch ein praktischesProblem haben. Deshalb vertreten wir diese Lösung.Ein anderer Aspekt, der mir ein wichtiges Anliegen istund der in den vergangenen Tagen in der politischen De-batte etwas in den Hintergrund rückte, ist der Patienten-schutz, der durch dieses Gesetz auch weiterhin gestärktwird. Mit der Umsetzung der AMG-Novelle setzen wirfür die Diagnose und die Indikation bei einem Menscheneinen direkten Arzt-Patienten-Kontakt voraus. Das be-deutet natürlich nicht, liebe Kollegen, dass wir uns Inno-vationen und der Digitalisierung im Gesundheitswesenverschließen wollen. Ganz im Gegenteil: Wir sehen inder Telemedizin die Chance, den Zugang zu innovativenTherapien und neuen Beratungsleistungen für Patientenzu verbessern. Wir haben im E-Health-Gesetz aber einenbehutsameren Ansatz gewählt: Es sollen erst einmal dienotwendigen IT-Strukturen geschaffen werden, bevor derMarkt von Unternehmen aufgerollt wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, ich spre-che auch in Ihrem Namen, wenn ich sage, dass die Digi-talisierung im deutschen Gesundheitswesen hinsichtlichDynamik, aber auch hinsichtlich des Abbaus bürokrati-scher Hürden noch erhebliche Ausbaupotenziale in sichträgt. Nichtsdestotrotz bin ich der festen Überzeugung,dass ein direkter Arzt-Patienten-Kontakt für die ersteDiagnose und medizinische Beratung eines Menschenunabdingbar ist. Es hat seinen Grund, warum der direk-te Arzt-Patienten-Kontakt jeher die Grundlage jeglicherTherapieentscheidung war und auch bleiben wird.Wir können auch nicht – ganz zu Recht – bei jederGelegenheit die Stärkung der sprechenden Medizin for-dern und dann bei so einer grundsätzlichen Frage wie derVerschreibung von Arzneimitteln komplett auf echtenzwischenmenschlichen Kontakt und die therapeutischenEffekte der Arzt-Patienten-Begegnung verzichten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der jetztgefundenen Regelung stärken wir die Sicherheit der Pa-tienten, indem wir dem Risiko der Fehldiagnosen aus derFerne begegnen; denn in einer Onlinevideosprechstundekann der Patient zwar seine Beschwerden äußern, aberder Arzt kann diese bisher weder überprüfen noch im-mer mögliche Begleiterscheinungen erkennen. Wir wür-den als Gesetzgeber Risiken für beide Seiten billigend inKauf nehmen, was aus meiner Sicht äußerst fragwürdigwäre.Meine sehr geehrten Damen und Herren, am Mittwochhaben wir über die strittigen Punkte des Gesetzentwurfeseine Entscheidung herbeigeführt. Die übrigen Abschnit-te der AMG-Novelle halte ich für nicht kontrovers. Siebringen wichtige Klarstellungen der Rechtslage. Ich bitteSie daher um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz.Herzlichen Dank.
Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege
Edgar Franke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Zunächst möchte ich in Richtung von Frau Schulz-Asche, die die Anwendungsbeobachtungen angespro-chen hat, sagen, dass wir in diesem Haus mit dem § 299aim StGB einen eigenen Tatbestand der Bestechlichkeitim Gesundheitswesen geschaffen haben.
Viele Tatbestände sind in diesem Paragrafen geregelt.Das war ein Erfolg für die Lauterkeit im Gesundheits-wesen.
Das möchte ich ausdrücklich hier betonen, weil es wirk-lich schwierig war, das auch durchzusetzen.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, liebe Kollegin-nen und Kollegen, werden in erster Linie Anpassungenim Arzneimittelrecht vorgenommen. Es geht um kli-nische Prüfungen und Humanarzneimittel. Das habenschon mehrere gesagt, auch die Kollegin Stamm-Fibichhat darauf hingewiesen. Ich möchte noch einmal drei As-pekte erwähnen.Der erste Aspekt ist ein ganz wichtiger: Arzneimit-telsicherheit. Mit diesem Gesetz wollen und werdenwir sicherstellen, dass ein begründeter Fälschungsver-dacht ausreicht – auch Maria Michalk hat darauf hin-gewiesen –, um ein Arzneimittel wieder vom Markt zunehmen. Es ist momentan wirklich so, dass überall ge-fälscht wird, dass gefälschte Arzneimittelpackungen inlegale Vertriebsketten kommen, nicht in erster Linie inDeutschland, vor allen Dingen aber in Europa. In ganzvielen Fällen haben Kriminelle sich, teilweise sogar ausdem Internet, Druckvorlagen von Pharmafirmen be-schafft. Das ist ein Problem, das wir in der Praxis haben.Denn mit bloßem Auge kann man die Fälschungen nichterkennen. Die WHO schätzt den Anteil der Fälschungenauf 10 Prozent. Gerade in der Onkologie, wo Zytostati-ka eingesetzt werden, geht es um Leben und Tod; es istganz wichtig, dass wir hier handeln. Wir haben eine guteErich Irlstorfer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 201620002
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Regelung geschaffen, meine sehr verehrten Damen undHerren, und sie wird auch wirksam sein. Denn der Rück-ruf ist darin ausdrücklich geregelt.
Wir packen ein weiteres Problem an. Wir alle wissen,dass immer wieder darüber geklagt wird, dass nicht aus-reichend Medikamente und gerade auch Impfstoffe zurVerfügung stehen. Jetzt ist Herbst, und bald fängt derWinter an. Wir schaffen insofern Transparenz, als dieStändige Impfkommission und auch medizinische Fach-gesellschaften künftig Handlungsempfehlungen gebenkönnen. Das brauchen die Patienten; denn die Patientenmüssen sicher sein, dass sie im Krankheitsfall Medika-mente bekommen; die Patienten müssen sicher sein, dasssie mit wirksamen Impfstoffen geimpft werden. Das isteine wirklich gute Regelung, liebe Kolleginnen und Kol-legen, die wir in den Gesetzentwurf aufgenommen ha-ben.
Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede noch ein-mal auf einen strittigen Punkt zurückkommen: die beab-sichtigte Zulassung gruppennütziger Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Menschen. Meine sehr verehrtenDamen und Herren, der EU war bewusst, dass gerade wirDeutschen aufgrund unserer Vergangenheit sehr sensibelmit Forschung an Menschen umgehen müssen, die ihrenWillen nicht mehr eindeutig mitteilen können. Deshalbhat sie auch den nationalen Parlamenten einen breitenSpielraum eingeräumt. Seit dem Frühsommer habenwir in diesem Hause im Ausschuss, aber auch öffentlichganz, ganz engagiert das Für und Wider diskutiert. Ichfinde, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Diskussionen nicht nur in den Anhörungen im Gesundheitsausschusshaben gezeigt, dass wir uns ernsthaft und mit Niveau undin der Tiefe mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben.Wir haben vergangenen Mittwoch mehrheitlich ent-schieden – auch das hat Frau Schulz-Asche angespro-chen –, dass nichteinwilligungsfähige Menschen angruppennützigen Studien teilnehmen können, wenn sieim gesunden Zustand, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräf-te ihre Einwilligung zur Teilnahme erklärt haben. Dabeisetzen wir enge Grenzen, wann die Teilnahme erlaubt istund welche Untersuchungen im Rahmen einer solchenStudie möglich sind.Zunächst schreiben wir eine verpflichtende ärztliche Aufklärung über alle Risiken einer Studienteilnahme vor.Dann muss auch noch eine eigenständige schriftlicheEinwilligung abgegeben werden. Man kennt zwar denForschungsinhalt einer künftigen Studie dann noch nicht,aber auch die Betreuer müssen später umfassend aufge-klärt werden, bevor sie für den Betreuten in die konkreteklinische Prüfung einwilligen. Man hat also noch eineHürde eingebaut.Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren,das ist eine gute Regelung. Es ist auch eine ausgewogeneRegelung für die Wissenschaft. Für mich bedeutet die-se Entscheidung, dass ich jederzeit die Möglichkeit zurAusübung meines Selbstbestimmungsrechtes habe, dasim Grundgesetz verankert ist. Jeder hat ja nach Artikel 2Grundgesetz das Recht auf die freie Entfaltung seinerPersönlichkeit. Dies ist nicht geringzuschätzen: Es ist ei-nes der Grundrechte in unserem Grundgesetz.
Eine Beschneidung dieses Freiheitsrechts, das ganz vor-ne im Grundgesetz steht, muss immer – das wissen nichtnur die Juristen – sehr gut begründet sein.Abschließend: Meine sehr verehrten Damen und Her-ren, man sollte niemandem verbieten, seine Bereitschaftzur Teilnahme an Forschungsstudien zu erklären, die dasSchicksal künftig Betroffener lindern könnte. Deswegenist das ein guter und ausgewogener Gesetzentwurf, demman wirklich zustimmen kann.Ich danke Ihnen.
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
der Kollege Stephan Albani für die CDU/CSU-Fraktion.
Ich bitte noch einen Augenblick um Aufmerksamkeit,
bis wir dann zu den Abstimmungen über den Gesetzent-
wurf kommen. – Bitte schön, Herr Kollege Albani.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäs-te auf den Tribünen! Als ich vor einigen Tagen erfuhr,dass ich heute den letzten Redebeitrag zu dieser Debatteleisten darf, war ich voller Sorge. Voller Sorge nicht des-wegen, weil es immer hart ist, vor einer namentlichenAbstimmung gegen den allgemeinen Störlärm anzure-den. Nein, das war nicht meine Sorge. Meine Sorge war:Über welchen Gesetzentwurf wird hier heute debattiert?Vor Ihnen steht nicht nur ein Wissenschaftspolitiker,der in der heutigen Gesundheitsdebatte sprechen darf,sondern vor Ihnen steht auch – ich bekenne das – einWissenschaftler, der in seinem Leben zahllose Ethikan-träge gestellt hat. Wir haben Experimente mit Menschengemacht, glücklicherweise oder einfacherweise für michin Bereichen, wo die Patienten einwilligungsfähig waren,nämlich im Bereich der Fehlhörigkeit. Aber das Ziel derWissenschaft ist am Ende, zu heilen. Wir wollen die gro-ßen Geißeln der Menschheit überwinden. Insofern habeich, als ich überlegte, was ich an dieser Stelle sagen kann,mich entschieden: Ich möchte genau auf diese Zielset-zung eingehen.Wir haben eine gute Debatte geführt. Wir haben amMittwoch ordentliche Argumente ausgetauscht. Aber eskamen zwei Dinge vor, derentwegen ich nun konkreterwerden möchte.Das eine war: Es wurde davon gesprochen, dass Alz-heimer-Demenz irreversibel ist. Nach heutiger Kenntnisist das so. Aber vor 50 Jahren war auch Taubheit unüber-Dr. Edgar Franke
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windbar. Heute ist nur eine Routineoperation notwen-dig, um Taube wieder hörend zu machen. Wir könnenin Kürze Blinde wieder sehend machen. Wir wollen inZukunft solche Geißeln wie Tuberkulose und Kinderläh-mung überwinden. So muss es auch das Ziel sein, Alz-heimer-Demenz und andere neurodegenerativen Krank-heiten zu heilen.
Wenn wir das tun wollen, dann brauchen wir auch dieMöglichkeit, Studien mit Patienten durchzuführen, diezum Zeitpunkt der Studiendurchführung nicht mehr ein-willigungsfähig sind.
Es hieß dann am Mittwoch – das war das andere, wasmir aufgefallen ist –, dass, wenn wir das durch das Gesetzzulassen, Menschen zu medizinischen Versuchsobjektengemacht werden. Bei dieser Aussage wird im Deutschender passive Aspekt betont: Wir machen die Menschen zuetwas. – Das ist unwahr. Die Patienten bzw. die Men-schen haben zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch imVollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, die Möglichkeit,selbst zu entscheiden, ob sie an solchen Studien teilneh-men.Im Prinzip gibt es zwei Zielgruppen. Die einen sagen:Okay, ich kenne aus meinem eigenen Umfeld Menschen,die an der gleichen Krankheit wie ich leiden. Ich selbstbin noch in einem leichten Stadium der Erkrankung. Des-halb möchte ich mich zur Teilnahme an einer entspre-chenden Studie bereit erklären. – Andere sagen so wieich: Ich kenne Wissenschaft, ich weiß, wie sie betriebenwird und dass ich von ihr nicht missbraucht werde. Alsobin ich dazu bereit.Selbst dann sagen wir: Nein, das reicht nicht. Du be-kommst noch eine medizinische Aufklärung darüber, wasmit dir geschehen kann. Du kannst Dinge ausschließen,du kannst Dinge für Dich nicht in Anspruch nehmen, dukannst das frei entscheiden. – Wenn danach jemand inKenntnis all dieser Dinge sagt: „Ich entscheide mich da-für“, dann ist das eine Sache der Selbstbestimmung. Da-für muss eine Probandenerklärung unterschrieben wer-den, die genau dies beinhaltet. Die Form für diese mussjetzt noch erarbeitet werden, damit sie diesem Anspruchgenügt.
Ich bin der Meinung, mit der Frage der Gruppennüt-zigkeit ist auch die Frage des Altruismus verbunden: Mirkommt es nicht darauf an, dass es mir hilft. Für mich istes völlig in Ordnung, wenn es den nächsten Generatio-nen, meinen Kinder oder anderen, hilft; dafür stelle ichmich zur Verfügung. – Das generell ist ein Bestandteilklinischer Studien; denn man kann im Vorhinein nie-mals hundertprozentig sagen, dass es einem Probandennutzt. „Eigennützig“ bedeutet in diesem Fall, dass davonausgegangen wird, dass es dem Probanden nutzt. AberWissenschaft und Forschung beinhalten immer auch dieMöglichkeit, dass dies danebengeht.Diese Debatte haben wir – das möchte ich allen Betei-ligten sagen – in weiten Teilen stilvoll und auf vernünfti-ge Art und Weise geführt. Es waren auch geschichtlicheRepliken dabei. Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ja,wir haben in Deutschland vor dem Hintergrund unsererGeschichte eine besondere Verantwortung, mit diesemThema sensibel umzugehen. Wir haben nicht nur in derGegenwart, sondern zu allen Zeiten die Verpflichtung, mit den Menschen, die unseres Schutzes bedürfen, ver-antwortungsvoll umzugehen. Aber wir haben auch dieVerantwortung für die Gesundheit zukünftiger Genera-tionen. Die nun vorliegende Regelung hilft uns explizit,diese Verantwortung wahrzunehmen.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen damit zurSchlussabstimmungüber den von der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Änderung arzneimittelrecht-licher und anderer Vorschriften. Wir stimmen nun überden Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen derCDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätzeeinzunehmen. – An mehreren Abstimmungsurnen fehleninsbesondere noch Vertreter der Opposition. – Sind diePlätze an den Urnen jetzt besetzt? – Das ist der Fall. Da-mit eröffne ich die Abstimmung und weise darauf hin,dass mir zahlreiche persönliche Erklärungen nach § 31unserer Geschäftsordnung zu dieser Abstimmung vorlie-gen, die wir, einer guten Übung folgend, dem Protokollbeifügen.1)Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das sei-ne Stimme nicht abgegeben hat? – Jawohl. Das sind er-schöpfte Haushälter, die unmittelbar nach Beendigungder Bereinigungssitzung soeben noch mit hängenderZunge die Abstimmungsurnen erreichen. – Weitere Be-wegungen sehe ich hier im Plenarsaal aber nicht. Ichfrage noch einmal: Ist noch jemand da, der wegen gleich-zeitiger Staatsgespräche den Zeitpunkt verpasst, an demdie Urnen geschlossen werden? – Dann schließe ich jetztdie Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen undSchriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-gebnis der Abstimmung teilen wir Ihnen später mit.2)Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksa-che 18/10292. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damitist der Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koa-lition bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 cauf:1) Anlagen 2 bis 42) Ergebnis Seite 20006 CStephan Albani
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a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungNationaler Bildungsbericht – Bildung in Deutschland 2016und Stellungnahme der BundesregierungDrucksache 18/10100Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medien Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht zum Anerkennungsgesetz 2016Drucksache 18/8825Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss Digitale Agendac) Beratung des Antrags der Abgeordneten ÖzcanMutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENNationaler Bildungsbericht – Bildungsinstitu-tionen zukunftsfest machen – Für eine gerech-te und soziale GesellschaftDrucksache 18/10248Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Das findet offenkundig Zustimmung. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Xaver Jung für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Gute Bildung ist ein Menschenrecht und darüber hi-naus das wichtigste Kapital unseres Landes. Sie ist einegesellschaftliche Notwendigkeit.
– Ja, da muss man klatschen. – Wir wollen jedem Kindund jedem Erwachsenen in Deutschland die bestmögli-chen Bildungschancen eröffnen, unabhängig von seinerHerkunft und seinen materiellen Möglichkeiten.Gute Bildung – das heißt für uns mehr als notwen-dige Allgemeinbildung. Wir müssen gut auf das spätereBerufsleben vorbereiten. Wir wollen Aufstieg durch Bil-dung ermöglichen. Wir stehen dabei für eine Vielfalt anBildungsangeboten, auch beim lebenslangen Lernen.Meine Damen und Herren, zum sechsten Mal wirduns mit dem aktuellen Bildungsbericht eine umfassendeempirische Bestandsaufnahme des deutschen Bildungs-wesens vorgelegt. Wir haben damit eine wertvolle Da-tenbasis für Bund und Länder, um weiter die Qualitätdes Bildungsangebotes zu verbessern. Dafür vorweg einherzliches Dankeschön an die Autorengruppe.
Ich danke an dieser Stelle auch allen relevanten Bil-dungsakteuren: Erziehern, Lehrerinnen, Dozenten, Pro-fessorinnen und nicht zuletzt den Eltern.
Der Bericht reicht von der frühkindlichen Erziehungüber den Schulbereich, die berufliche Ausbildung und die Hochschule bis zu den verschiedenen Formen der Wei-terbildung im Erwachsenenalter. In diesem Jahr lautetdas Schwerpunktthema: Bildung und Migration.Wie bereits im OECD-Bericht wird uns wieder ein po-sitives, ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt.
Bildungsstand und Bildungsbeteiligung sind über einenlängeren Zeitraum kontinuierlich gewachsen und habensich positiv entwickelt. Das ist das Ergebnis einer Viel-zahl positiver Entwicklungen in allen Bildungsbereichen.Das ist doch prima. Darüber können wir uns doch freuen.
Wir Mitglieder im Bildungsausschuss sind ja da meistvon ruhiger Sachlichkeit. Aber wenn es solch positive Er-gebnisse gibt, können wir uns auch gerne einmal freuen.Die Bildungsausgaben des Bundes lagen 2015 gut80 Prozent über dem Wert von 2008. Dafür haben wirgesorgt, und darauf sind wir stolz.
Meine Damen und Herren, wir wissen: HochwertigeBildung beginnt in frühen Kindesjahren. Wir fördern seitvielen Jahren die Kitas. So freut uns, dass wir 2015 ei-nen neuen Höchststand an pädagogischen Fachkräftenverzeichnen können. Wir müssen noch an den Arbeits-bedingungen der Fachkräfte arbeiten; da sind die Länderdann gefordert.
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Aber nicht nur der quantitative, sondern auch der qua-litative Ausbau der Kindertagesbetreuung ist wichtig.Hier müssen wir die Lese- und Sprachförderung weiterausbauen.Wir freuen uns, dass die Bildungsbeteiligung der un-ter Dreijährigen um weitere 3,6 Prozentpunkte auf nun-mehr 32,9 Prozent gestiegen ist. Das ist ein guter Zwi-schenschritt. Auch der Ausbau von Betreuungsplätzenfür Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr mussweiter vorangetrieben werden. Kinder mit Migrations-hintergrund und Kinder aus bildungsfernen Elternhäu-sern müssen bereits im Kindergartenalter besser geför-dert werden. Programme wie „Kultur macht stark“ oder„Lesestart“ der Stiftung Lesen sind hierfür ein richtigerAnsatz.Der Bericht bestätigt einen kontinuierlich voranschrei-tenden Ausbau der Ganztagsangebote in allen Schular-ten. Das freut uns. Wir sind jetzt schon bei 60 Prozent.Das muss noch mehr werden.
Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischen Hin-tergrund haben aufgeholt. Sie konnten ihre Lesekom-petenzen bei PISA deutlich verbessern. Immer wenigerJugendliche verlassen die Schule ohne Hauptschulab-schluss. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler ohneHauptschulabschluss hat sich von 8 Prozent 2006 auf5,8 Prozent in 2014 reduziert. Das sind doch alles guteNachrichten.
Die Situation von Schulabgängerinnen und Schulab-gängern bei der Ausbildungsplatzsuche hat sich ebenfallsdeutlich und kontinuierlich verbessert. 686 000 jungeMenschen nahmen 2015 eine duale oder überbetrieblicheAusbildung auf. Der Rest Europas beneidet uns darum,auch um unsere niedrige Jugendarbeitslosigkeit.
Unser wichtiges und einzigartiges duales Ausbil-dungssystem trägt weiterhin gute Früchte. Besondersviele junge Menschen arbeiten nach ihrer Ausbildung di-rekt im gelernten Beruf, meist sogar im Ausbildungsbe-trieb selbst. In Problemfällen brauchen wir individuelleUnterstützung. Unsere Initiative Bildungsketten bietet daden richtigen Ansatz.
Die Übernahmequoten nach erfolgreichem Ausbildungs-abschluss sind in den ostdeutschen Ländern gestiegenund nähern sich langsam den westdeutschen Zahlen. Dasfreut nicht nur die Menschen in Ostdeutschland.2014 erhielten 41 Prozent der Absolventinnen und Ab-solventen an allgemeinbildenden und beruflichen Schu-len die allgemeine Hochschulreife. 2006 waren es nur29,6 Prozent. Die Studienanfängerzahlen haben damiterneut über den von uns geplanten Zahlen gelegen; imGrunde keine schlechte Sache.Der Anteil der Personen mit Hochschulzugangsberech-tigung oder Studienabschluss ist weiter gestiegen. Im Be-reich der Promotionen sind wir sogar spitze in Europa. –Da kann man auch mal klatschen; das muss man sogar.
Gute Nachrichten gibt es auch im Bereich der Wei-terbildung. Die Gesamtteilnahmequote ist auf 51 Prozentim Jahr 2014 angestiegen und liegt damit über dem vonder Bundesregierung gesetzten Ziel. Auch in den Berei-chen Migration und Integration werden Erfolge bestätigt;dazu werden nachher meine Kollegen noch etwas sagen.Ich könnte noch lange weitere positive Nachrichtenaufzählen. Leider lässt das die Redezeit nicht zu.Meine Damen und Herren, nichts ist so gut, dass esnicht noch besser werden könnte. Das gilt selbstver-ständlich ganz besonders für unser Bildungssystem inDeutschland – ein System, das von vielen als zu kompli-ziert und unübersichtlich kritisiert wird, andernorts da-gegen als ideologisch einseitig wahrgenommen wird, einSystem, das einerseits als verstaubt, andererseits aber alszu experimentierfreudig kritisiert wird. Dennoch hält derBericht die vielfältigen Anstrengungen von Bund, Län-dern und Kommunen für geeignet, das Bildungsniveauin Deutschland weiter zu verbessern.Den Bundesländern hat der Bericht die Aufgabe auf-getragen, die regionalen Ungleichheiten auszugleichenund die Erreichbarkeit von Bildungseinrichtungen fürBildungsangebote vor allem im ländlichen Raum zu er-möglichen. „Kurze Beine – kurze Wege“ muss hier derLeitsatz sein.Ebenso brauchen Kinder und Jugendliche aus Risiko-lagen eine besondere Förderung. So ist es trotz erkenn-barer Fortschritte leider noch nicht gelungen, den engenZusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bil-dungserfolg nachhaltig aufzubrechen.Die Stellungnahme des Kabinetts zum Bericht hebthervor, dass man folgende Handlungsfelder ausgemachthat: einen weiteren Ausbau und bessere Qualität in derfrühen Bildung schaffen, mehr Chancengerechtigkeitdurch bessere Bildung erreichen, Berufsausbildung stär-ken, Übergänge verbessern, Attraktivität und Qualität desHochschulstudiums sichern sowie Weiterbildung stärkenund transparent gestalten.Wir sehen: Die Regierung kennt die Herausforderun-gen. Selbstverständlich werden wir als CDU/CSU-Frak-tion die Regierung auf ihrem weiteren Weg gern aktivund konstruktiv begleiten. Auch für uns steht weiter-hin die Qualität des Bildungsangebots im Vordergrund.Wenn wir es jetzt noch schaffen, die regionalen Bil-dungsungleichheiten zwischen den einzelnen Bundeslän-dern durch vergleichbare Abschlüsse, durch vergleichba-re Lernleistungen auszugleichen und wenn der Abschlussin Deutschland irgendwann in allen Bundesländern vonder Qualität her gleichwertig ist, dann wird sich auch inXaver Jung
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der Bevölkerung Enthusiasmus in Bezug auf unser Bil-dungssystem zeigen.
Ich bin sicher, wenn wir all das, was wir geplant ha-ben, umsetzen, dann werden wir uns auch beim nächstenBericht wieder so wie heute freuen dürfen.Vielen Dank.
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe,möchte ich gern das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Bun-desregierung zur Änderung arzneimittelrechtlicher undanderer Vorschriften bekannt geben: abgegebene Stim-men 542. Mit Ja haben gestimmt 357, mit Nein habengestimmt 164. 21 Kolleginnen und Kollegen haben sichder Stimme enthalten. Damit ist der Gesetzentwurf an-genommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 543;davonja: 358nein: 164enthalten: 21JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Sybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerNorbert BrackmannKlaus BrähmigDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthMarie-Luise DöttHansjörg DurzDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnRainer HajekDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingDr. Heribert HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbCharles M. HuberAnette HübingerErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr. Franz Josef JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRonja KemmerRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykMichael KretschmerDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Dr. h.c. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldPhilipp Graf LerchenfeldAntje LeziusMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierJan MetzlerMaria MichalkDr. h.c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerVolker MosblechElisabeth MotschmannXaver Jung
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Carsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannDr. Martin PätzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJohannes RöringKathrin RöselDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick SchniederBernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter Schulze
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerBernd SiebertThomas SilberhornTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinSebastian SteinekeChristian Frhr. von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblLena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKarl-Heinz WangeNina WarkenDr. h.c. Albert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberSabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Elisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlTobias ZechHeinrich ZertikGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerUlrike BahrBettina Bähr-LosseHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Matthias BartkeBärbel BasUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertDr. Karl-Heinz BrunnerDr. h.c. Edelgard BulmahnJürgen CoßePetra CroneBernhard DaldrupSabine DittmarMartin DörmannDr. h.c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseMichael GerdesMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckUli GrötschBettina HagedornRita Hagl-KehlHubertus Heil
Gustav HerzogGabriele Hiller-OhmThomas HitschlerChristina Jantz-HerrmannOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeDr. Bärbel KoflerAnette KrammeHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeGabriele Lösekrug-MöllerCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschSusanne MittagThomas OppermannChristian PetryDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMechthild RawertDr. Carola ReimannSönke RixPetra Rode-BosseRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Bernd RützelJohann SaathoffAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerCarsten Schneider
Swen Schulz
Frank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringSonja SteffenDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserClaudia TausendDr. Karin ThissenCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelBernd WestphalDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerNeinCDU/CSUVeronika BellmannMichael BrandThomas DörflingerIris EberlJutta EckenbachMatthias HauerBettina HornhuesHubert HüppeKordula KovacDr. Andreas LenzMatern von Marschall
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Dr. Michael MeisterJulia ObermeierSylvia PantelMartin PatzeltJosef RiefUwe SchummerDr. Patrick SensburgJohannes SinghammerPeter Weiß
Klaus-Peter WillschSPDRainer ArnoldHeike BaehrensWilli BraseMartin BurkertDr. Lars CastellucciDr. Karamba DiabySiegmund EhrmannMichaela EngelmeierDr. Ute Finckh-KrämerDagmar FreitagAngelika GlöcknerKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutGabriela HeinrichMarcus HeldHeidtrud HennDr. Eva HöglFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkArno KlareLars KlingbeilDaniela KolbeBirgit KömpelDr. Hans-Ulrich KrügerBurkhard LischkaHiltrud LotzeKlaus MindrupBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanMahmut Özdemir
Markus PaschkeJeannine PflugradtAchim Post
Martin RabanusStefan RebmannGerold ReichenbachDennis RohdeDr. Martin RosemannSarah RyglewskiAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothMarianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Elfi Scho-AntwerpesUrsula SchulteEwald SchurerNorbert SpinrathSvenja StadlerKerstin TackMichael ThewsFranz ThönnesGabi WeberDirk Wiese
Gülistan YükselDIE LINKEJan van AkenHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldEva Bulling-SchröterSevim DağdelenDr. Diether DehmWolfgang GehrckeDr. André HahnHeike HänselInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachKerstin KassnerJutta KrellmannSabine LeidigRalph LenkertDr. Gesine LötzschBirgit MenzCornelia MöhringDr. Alexander S. NeuDr. Kirsten TackmannAzize TankAlexander UlrichKathrin VoglerHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichHubertus ZdebelBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVolker Beck
Agnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerChristian Kühn
Renate KünastMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluOmid NouripourFriedrich OstendorffTabea RößnerCorinna RüfferElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerEnthaltenCDU/CSUJens KoeppenDr. Silke LaunertSPDSusann RüthrichMartina Stamm-FibichBrigitte ZypriesDIE LINKEDr. Dietmar BartschKarin BinderChristine BuchholzRoland ClausKlaus ErnstDr. Rosemarie HeinSusanna KarawanskijKatrin KunertCaren LayThomas LutzeDr. Petra SitteKersten SteinkeFrank TempelBirgit WöllertSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDr. Valerie WilmsAbgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste derentschuldigten Abgeordneten aufgeführt .
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Rosemarie Hein fürdie Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Herr Jung hat eben ein Lobliedauf den Bildungsbericht und die vermeintlichen oder tat-sächlichen Bildungsfortschritte gesungen. Ich habe denBericht anders gelesen.
Es gibt auch in diesem Jahr sehr viel Grund zu kri-tischem Nachfragen; der Bericht enthält auch sehr vielKritisches. Ich kann nur auf einige wenige Befunde ein-gehen.In ihrem Bericht betont die Bundesregierung, dasssich Investitionen in die Bildung auszahlen. Das stimmtohne Zweifel. Sie wollten ja eigentlich 10 Prozent desBruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung aus-geben. In dem Bildungsbericht wird nun festgestellt, dassSie dieses Ziel auch 2014 nicht erreicht haben. Da feh-len allein über 26 Milliarden Euro, die Bund und Ländermehr hätten ausgeben müssen.
Das sind Bund und Länder den Menschen in diesem Lan-de schuldig geblieben. Selbst das würde nicht ausreichen,um eine auskömmliche Bildungsfinanzierung sicherzu-stellen. Allein 34 Milliarden Euro fehlen für die Investiti-onen in Schulgebäude. Das ist keine Zahl, die die Linkenirgendwie zusammengerechnet haben, sondern eine Fest-stellung der KfW-Bankengruppe aus einer Studie vomSeptember dieses Jahres.Nun ist der Schulbau zwar eine kommunale Aufga-be, aber die Kommunen können das offensichtlich nichtstemmen.
Sie tragen ohnehin einen deutlich höheren Anteil als derBund an der gesamten Bildungsfinanzierung, nämlich 29 Milliarden Euro, während der Bund 19 MilliardenEuro trägt. Auch das muss man einmal zur Kenntnis neh-men.
– Dann wollen wir sie doch einmal ändern. Auch das istein Weg.
Die Folge ist, dass viele Schulen in unserem Landunsaniert bleiben und – noch schlimmer – dass viele öf-fentliche Schulen in der Fläche verschwinden. In der Notentstehen dort Privatschulen, damit es vor Ort überhauptnoch ein Schulangebot gibt.Bildung aber ist eine Aufgabe der öffentlichen Da-seinsvorsorge. Dazu gehört eine ordentliche Bildungsin-frastruktur. Wenn Sie jetzt beschließen, sozusagen rück-wirkend noch einmal 3,5 Milliarden Euro in den Schulbauzu geben, dann ist das sicherlich eine schöne Sache, unddie Kommunen werden sich freuen. Aber es hilft nicht,diesen Investitionsstau aufzulösen. Dazu brauchen wireine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grundgesetz.
Nicht nur bei Schulen gibt es diesen Bedarf, den wir hierdecken müssen.Das größte Problem für das deutsche Bildungssystemist nach wie vor die große Abhängigkeit des Bildungs-erfolges von der sozialen Herkunft. Das ist kein neuerBefund. Aber man gewinnt den Eindruck, die Bundesre-gierung gewöhnt sich langsam daran. Aus der Stellung-nahme geht hervor: Es wird analysiert, geforscht, verste-tigt, aber viel Neues gibt es nicht.Kinder aus einem Akademikerhaushalt haben immernoch um ein Vielfaches bessere Chancen, zum Abitur zugelangen. Sie beginnen deutlich häufiger ein Hochschul-studium und erreichen öfter den Masterabschluss. Absol-venten mit einem Master haben bessere Beschäftigungs-chancen in ihrem Fachgebiet als Bachelorabsolventen;all das kann man im Bildungsbericht nachlesen. Aber esgibt zu wenige Masterstudiengänge, um überhaupt jedemBachelorabsolventen den Master zu ermöglichen. Auchhier ist die soziale Disparität, die soziale Ausgrenzungoffensichtlich.
– Ja, das ist nicht Ihre Idee, unsere aber schon.
Die soziale Ausgrenzung durchzieht alle Bildungsbe-reiche. Besonders deutlich wird das bei der Armut vonKindern. Eines von vier Kindern wächst unter Bedin-gungen mindestens einer von drei Risikolagen auf. Dasheißt, die Eltern sind entweder arbeitslos, oder sie habeneinen niedrigen Bildungsabschluss, oder sie sind schlichtund ergreifend arm. Vor allem die Zahl armer Familienmit Kindern ist gegenüber dem Vorjahr angewachsen.Fast 19 Prozent der Kinder unter 18 Jahren sind davonbetroffen. Meine Damen und Herren, das ist ein ErgebnisIhrer Niedriglohnpolitik
und nicht ein Ergebnis schlechter Bildungspolitik.
Darunter leiden diese Familien; denn deshalb sind auchdie Bildungschancen ihrer Kinder deutlich schlechter. Esgeht eben nicht nur um Defizite in der Bildungspolitik, sondern auch um Defizite in der Gesellschaftspolitik. Hier müssen wir genauso etwas ändern wie im Schul-system.
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Von den Menschen im Alter von 25 bis 35 Jahren ha-ben 1,6 Millionen keinen Berufsabschluss, und die meis-ten von ihnen werden ihn auch nicht nachholen; auch dasgeht aus dem Bildungsbericht hervor. Die vorhandenenFörderprogramme des Bundes und der Bundesagenturfür Arbeit bieten dafür offensichtlich keine Gewähr. Aberein grundlegendes Umdenken findet nicht statt.Noch schwieriger ist es für junge Menschen mitMigrationshintergrund, einen Bildungserfolg zu erzielen;auch das ist kein neuer Befund. Sie erreichen häufiger nur niedrige Bildungsabschlüsse, erhalten seltener ei-nen Ausbildungsplatz und absolvieren noch seltener einStudium. Wenn sie aber einen Studienplatz bekommenhaben, dann erbringen sie genauso gute Leistungen undhaben genauso große Chancen, das Studium zu schaffen,wie ihre Kommilitonen ohne Migrationshintergrund.Nun frage ich Sie: Warum gelingt es uns eigentlichnicht, den Menschen, die nach Deutschland zugewandertsind, die gleichen Bildungschancen zu geben, die sie hät-ten, wenn sie hier geboren und aufgewachsen wären oderdeutsche Eltern hätten? Es geht bei weitem nicht nur umsprachliche Defizite, sondern wir müssen endlich auch lernen, kulturelle Vielfalt als eine Bereicherung anzuer-kennen und nicht Vorurteile zu kultivieren.
Zu den Unmöglichkeiten gehört leider auch, dass dieRegierung meines Bundeslandes Sachsen-Anhalt ei-nen großen Teil der im vergangenen Jahr eingestelltenSprachlehrkräfte nicht weiter beschäftigen wollte. Bisheute ist noch nicht klar, ob sie bleiben können.
Ich finde das unverantwortlich; denn das Erlernen der deutschen Sprache ist eine längerfristige Aufgabe. Au-ßerdem droht ein gewaltiger Unterrichtsausfall, weildiese Lehrkräfte inzwischen auch schon im allgemeinenUnterricht aushelfen.Im Bildungsbereich wird man letztlich in kaum einemBundesland ohne Seiteneinsteiger bei den Lehrkräftenauskommen. Die Versäumnisse in der Lehramtsausbil-dung der letzten Jahrzehnte wird man so schnell nicht be-heben können. Deshalb muss man Möglichkeiten schaf-fen, dass diese Lehrkräfte ihren pädagogischen Abschlussnachholen, berufsbegleitend und im Rahmen besondererProgramme. Insgesamt muss deutlich mehr getan wer-den, um pädagogische Fachkräfte für alle Bildungsberei-che auszubilden. Das gilt nach wie vor insbesondere fürErzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte für Deutsch alsZweitsprache und sozialpädagogische Fachkräfte.
Man muss sie besser bezahlen und fest anstellen.Der Bildungsbericht stellt fest, dass gerade jüngereFachkräfte im Kitabereich oft befristet angestellt sind;
das ist angesichts des wachsenden Betreuungsbedarfsunglaublich. Wieso eigentlich?Noch schlimmer ist die Arbeitssituation der Lehrkräf-te in der Weiterbildung.
Sie sind häufig auf Honorarbasis oder in Teilzeit ange-stellt. Sehr prekär ist auch ihre Bezahlung.
– Sie müssen sich einmal damit befassen. Dann werdenSie merken, dass das auch eine Bundesaufgabe ist.
Wenn Sie einen Handwerker brauchen, werden Siefeststellen: Sein Arbeitslohn beträgt um die 60 Euro dieStunde. Lehrkräfte in der Weiterbildung werden abermit 14 Euro Mindestlohn abgespeist. Das ist der Stun-denlohn, der im Schnitt für Weiterbildungsmaßnahmender Bundesagentur für Arbeit zu zahlen ist, und das auchnur, wenn die Weiterbildungsträger mehr als 50 Prozentihrer Maßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung anbieten. Das Innenministerium hat nun die Honorarefür Lehrkräfte in den Integrationskursen auf immerhin35 Euro erhöht. Aber auch damit bleibt man hinter denErfordernissen weit zurück; denn davon müssen sie auchalle Sozialabgaben und Arbeitgeberanteile zahlen.Im Bildungsbericht wird festgestellt: Das monatlicheEinkommen von Haupterwerbstätigen in der Weiterbil-dung liegt weit unter dem Durchschnittseinkommen an-derer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-land. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wertschätzungvon Bildungsarbeit sieht anders aus.
Es ist an der Zeit, den Flickenteppich in der Weiterbil-dung zu beenden, endlich einen Branchentarifvertrag fürdie Weiterbildung auszuarbeiten
und ihn dann – das ist unsere Aufgabe – für allgemein-verbindlich zu erklären, damit alle in der WeiterbildungTätigen ein gutes Einkommen haben.
Der Bildungsbericht stellt fest, dass die fünf zentralenHerausforderungen nach wie vor bestehen: Qualitätssi-cherung in der frühkindlichen Bildung, aber ein Quali-tätsgesetz lehnen Sie ab; –
Frau Kollegin.
– ich bin sofort am Ende meiner Rede – Ganztags-schulen, aber das Kooperationsverbot erlaubt uns nichtdie Finanzierung; Übergang von Schule in die berufliche Dr. Rosemarie Hein
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Bildung, aber einen Rechtsanspruch auf einen Ausbil-dungsplatz wollen Sie nicht usw. usf.Für all das brauchen wir die gemeinsame Verantwor-tung von Bund, Ländern und Kommunen. Für ein zu-kunftsfestes Bildungssystem könnten wir uns überlegen,ob man nicht ein bundesweites Bildungsrahmengesetzschafft, in dem die sozialen und rechtlichen Bedingungenfür die Arbeit in der Bildung sowie die Rechtsansprüchefestgeschrieben sind,
damit die Bildung in allen Bundesländern besser, ver-gleichbarer und gerechter wird.Vielen Dank.
Ernst Dieter Rossmann hat nun das Wort für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Las-sen Sie mich mit leichter Ironie sagen: Wenn Frau Heinhier eine tiefschwarze Rede hält und Herr Jung ein Bildeher in Rosafarben zeichnet, dann ist in der Farbenlehrehier irgendetwas schiefgelaufen.
Deshalb möchte ich mich lieber an das halten, was unsder Nationale Bildungsbericht in differenzierter Weisevorgibt.
Wir wollen vor allen Dingen erkennen, dass Bildungs-politik auf dem gemeinsamen Zusammenwirken vonden freien Kräften, von den Kommunen, von den Län-dern und vom Bund beruht und dass wir etwas bewirkenkönnen: mehr Bildung in den Krippen, bessere Qualitätin den Kindertagesstätten, mehr Ganztagsschulangebo-te, mehr Lesekompetenz, mehr Schulabschlüsse, mehrMöglichkeiten, im Studium anzukommen, mehr Mög-lichkeiten, das Studium erfolgreich abzuschließen, mehrWeiterbildung. Dieses Mehr ist doch ein gemeinsamerErfolg.Wenn wir eine weitere Begeisterung im Engagementfür Bildungsveränderung wollen, dann dürfen wir die ak-tuelle Situation nicht rosarot und auch nicht tiefschwarzzeichnen, sondern wir müssen die Dynamik positiv her-vorheben. Ich finde, diese Große Koalition hat mit vielen anderen Kräften hier Gutes dazu beigetragen. Das dürfenwir hier gemeinsam feststellen.
Darüber hinaus will ich das Augenmerk am Anfangauf zwei Punkte richten, die uns Sozialdemokraten be-sonders wichtig sind.Herr Jung und Frau Hein, Sie haben den engen Zu-sammenhang zwischen sozialer Herkunft, sozialer Lageund Bildungschancen angesprochen, der sich zwar schonaufzulösen beginnt, aber sich noch weiter auflösen muss. Dass es immer noch Risikofaktoren gibt – sie wurdenschon genannt: Arbeitslosigkeit, Armut, Bildungsferne,Kopplung an die soziale Schicht –, kann uns nicht zufrie-denstellen. In diesem Nationalen Bildungsbericht finden sich Vorschläge und Maßnahmen.Wir setzen in der Großen Koalition an einer Schlüs-selstelle an. Wenn zusätzlich 3,5 Milliarden Euro mobili-siert werden sollen, um in finanzschwachen Kommunen Bildungsstätten, Bildungsinfrastruktur zu ertüchtigen,dann ist das keine Kleinigkeit.
Die 4 Milliarden Euro für die Ganztagsschulen warenauch keine Kleinigkeit. 3,5 Milliarden Euro mehr für dieErtüchtigung von Schulen in Regionen, in denen Bil-dungsarmut und andere Bildungsrisikofaktoren beson-ders stark ausgeprägt sind, sind entsprechend auch einrichtig großer Erfolg.Damit Sie die Kronzeugenschaft für diese Leistungnicht nur immer sozialdemokratisch verorten: Auch Olevon Beust, ehemaliger Bürgermeister von Hamburg,hatte erkannt, wie wichtig es ist, in ProblemstadtteilenSchulen zu Leuchttürmen zu machen, indem sie attrak-tiver gemacht und aufgewertet werden. Sigmar Gabrielhat jetzt noch einmal entsprechende Überlegungen in dieRegierung hineingetragen, um dafür zu sorgen, dass esein Gemeinschaftsprojekt werden kann.Denn Bildungsarmut kann man dadurch ganz prak-tisch bekämpfen, dass finanzschwache Kommunen mit einem höheren Anteil an Bildungsarmen, an armen Kin-dern und arbeitslosen Jugendlichen dieses nicht durchden Zustand ihrer Schulen dokumentieren müssen. Dasist doch eine Perspektive. Das ist doch etwas, wofür wirgemeinsam werben.
Ich möchte auf einen zweiten Punkt hinweisen, andem wir noch mehr arbeiten müssen. Das ist das großeThema Bildungsintegration für Migranten, für Schutz-suchende und für Flüchtlinge. Der Nationale Bildungs-bericht weist aus, dass wir in diesem Bereich noch vieltun müssen und sehenden Auges auch wissen können,was wir tun müssen. Bitte schauen Sie sich hierzu dieSeiten 201 und 202 an. Dort wird die Schlüsselstelle he-rausgearbeitet, nämlich: Was passiert beim Einstieg indie berufliche Bildung? In Sachen Kindertagesstätten, in Sachen Schule gibt es geregelte Abläufe, und wir werdendort gute Erfolge erzielen können. Der Einstieg in die be-rufliche Bildung ist die entscheidende Klippe; denn viele junge Menschen stehen aktuell ohne die Chance da, inein Berufsausbildungsverhältnis einzutreten.Dr. Rosemarie Hein
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Das Konsortium für den Nationalen Bildungsberichtempfiehlt uns, für rund 70 000 dieser jungen Menschen ein- bis zweijährige berufsvorbereitende Maßnahmen zuermöglichen und auch für 80 000 bis 90 000 zusätzlicheBerufsbildungsplätze zu sorgen. Und wir wissen alle:Dies wird im dualen System so schnell nicht geschehen.Diesbezüglich enthält der Nationale Bildungsberichtden Vorschlag, dort stärker außer- und überbetrieblicheKapazitäten zu mobilisieren. Ich glaube auch, dass diesrichtig ist. Wir dürfen nicht geschehen lassen, dass diesejungen Menschen keine Chance erhalten. Wir müssen anden Stellen anknüpfen, an denen wir seitens des Bundesmit Ländern und Sozialpartnern zusammen etwas tunkönnen.Ich habe eben Ole von Beust als Vorkämpfer für dasbezeichnet, was Sigmar Gabriel jetzt durchgesetzt hat.Ebenso erinnere ich mich daran: Roland Koch – ich musskein Sympathisant von ihm sein – hat schon früh gesagthat, dass wir die jungen Leute, wenn es denn im dualenSystem nicht funktioniert, nicht ins Leere laufen lassendürfen, sondern ihnen etwas anbieten müssen, was dieVerbindlichkeit einer Ausbildung hat. Er hat nämlich au-ßerbetriebliche und überbetriebliche Ausbildung gefor-dert, als es schon einmal dieses Problem gab. Daran soll-ten wir uns erinnern. Da sollten wir auch etwas machen.Der Bildungsbericht weist an der Stelle aus, dass esum eine Summe von 1,5 Milliarden Euro geht, die be-nötigt werden, um den 70 000 jungen Menschen jetzt je-weils Jahr für Jahr eine reale Ausbildungsperspektive zugeben. Wir müssen zusammen darüber nachdenken, obes Ländern, Bund und BA möglich ist, diese Mittel fürein Perspektivprogramm zu mobilisieren.Wir haben einen Bericht 2006, in dem schon be-stimmte Probleme in Bezug auf die Jugendlichen mitMigrationshintergrund aufgezeigt wurden, und einen Be-richt 2016, in dem insbesondere die aktuelle Flüchtlings-situation aufgearbeitet und angesprochen wird. Aber imBericht 2026 darf nicht stehen, es gebe dort eine verlore-ne Generation, weil wir uns an der Stelle nicht konzen-triert darangemacht haben, jetzt hier Mittel aufzubringen,um eine Perspektive für diese viele tausend jungen Leuterechtzeitig zu schaffen.Das Werben der Sozialdemokratie lautet: Machen wirdies jetzt gemeinsam, und setzen wir jetzt dort ein sicht-bares Zeichen! Wer herkommt, soll über den Einstieg ineine duale, vollzeitschulische oder vorbereitende berufli-che Bildung eine Chance erhalten.
Herr Kollege.
Danke schön.
Katja Dörner spricht nun für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie-be Kollegen! Lieber Herr Kollege Rossmann, auch ichhalte gar nichts von Schwarz-Rosa-Malerei, und deshalbwill ich auch gar nicht bestreiten, dass es in den letztenJahren in der Bildungspolitik im Zusammenspiel derBundesländer und der Kommunen Fortschritte gegebenhat. Aber ich bin es eben auch total leid – ich denke,da stimmen Sie mir auch zu –, dass wir in jedem Bil-dungsbericht, in jeder Bildungsstudie immer wieder le-sen müssen, dass in fast keinem anderen Industrielandder Bildungserfolg noch immer so sehr von der sozialenHerkunft abhängig ist wie in Deutschland. Ich finde das unwürdig für unser Land. Wir verschleudern die Potenzi-ale der Kinder und Jugendlichen, und wir nehmen ihnenLebenschancen.
Ich finde, das muss ein Ende haben. Da könnte und müss-te die Bundesregierung tatsächlich mehr tun.Es ist gut, dass die Anstrengungen der letzten Jahrebeim Kitaausbau mittlerweile Früchte tragen und dassimmer mehr Kinder aus den sogenannten bildungsfernenSchichten und Kinder mit Migrationshintergrund früh-kindliche Bildungseinrichtungen besuchen. Aber auchdas ist bei weitem kein Grund, die Hände in den Schoßzu legen. Im Gegenteil: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt,vor allem in die Qualität der Kitas zu investieren. Mei-ne Fraktion versteht überhaupt nicht, warum wir immernoch hier im Deutschen Bundestag auf ein Kitaqualitäts-gesetz warten müssen.
Wir müssen aber auch alles daransetzen, die hoheBildungsbeteiligung, die es in den Kitas schon gibt, aufdie folgenden Bildungsetappen zu übertragen. An denÜbergängen in unserem Bildungssystem ruckelt es näm-lich immer noch ganz gewaltig. Da finde ich es schon fast etwas unredlich, dass sich die Regierungsfraktionenzwar dafür feiern, dass die Zahl ausländischer Schulab-brecherinnen und Schulabbrecher im Vergleich zu 2006gesunken ist, dabei aber verschweigen, dass sich dieseZahl von 2013 auf 2014 wieder vergrößert hat. Das istein Schritt vor und ein Schritt wieder zurück, und das istkeine zukunftsweisende Bildungspolitik, liebe Kollegin-nen, liebe Kollegen.
Sie wissen genauso gut wie ich: Wo ein politischerWille ist, gibt es auch ein gerechtes Bildungssystem.Diesen politischen Willen vermissen wir aber. Das bes-te Beispiel dafür ist das Geschacher um das Kooperati-onsverbot. Statt das Kooperationsverbot in der Bildungbeherzt aufzuheben und den Weg beispielsweise über einGanztagsschulprogramm und damit für eine ganz zentra-le wichtige Maßnahme für mehr Bildungsgerechtigkeitfreizumachen,
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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einigen sich die Ministerpräsidenten und Ministerpräsi-dentinnen mit der Bundeskanzlerin auf einen müden For-melkompromiss.
Statt wenigstens diesen Formelkompromiss ernsthaftauszufüllen, schaltet die SPD in den Wahlkampfmodusund feiert sich für die Abschaffung des Kooperationsver-bots,
und die Union tut so, als sei überhaupt nichts Relevantesbeschlossen worden, und geht gleich auf den Koalitions-partner los. Ministerin Wanka spricht noch ganz moderatvon einer Missdeutung seitens der SPD. Über die Wort-wahl des bayerischen Kultusministers muss man sichwirklich extrem wundern, der der SPD dann gleich – Zi-tat – „feuchte Wunschträume“ andichtet. Liebe Kollegin-nen, liebe Kollegen, da fehlt offensichtlich jede Ernsthaf-tigkeit, sich mit zentralen Herausforderungen in unseremBildungssystem zu beschäftigen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Aufhebung desKooperationsverbots muss aus Sicht der grünen Bundes-tagsfraktion unbedingt kommen. Bis dahin müssen wirdas nun geöffnete Fenster – da spreche ich auch ausdrü-cklich vom Bildungs- und Teilhabepaket – nutzen. Seit2010 gibt es dieses mühselig und untauglich gebauteKonstrukt, mit dem der Bund versucht, seine soziale Ver-pflichtung bei der Bildungsgerechtigkeit zu erfüllen. Wir wissen aber alle: Antragshürden, Unwissenheit, Sprach-probleme und Scham verhindern, dass die Kinder das be-kommen, was ihnen zusteht, worauf sie ein Recht haben.Deshalb sollten wir die MPK und die Bundeskanzlerinbeim Wort nehmen und zumindest bei dieser Bundes-aufgabe die bestehenden Hürden in Bezug auf Bildungs-und Teilhabechancen für Kinder beseitigen. Es ist jetzt anIhnen, wenigstens an dieser Stelle kleine Schritte zu tun.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Bundesministerin FrauDr. Wanka.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um etwasüber die Situation der Bildung in Deutschland zu erfah-ren, haben wir den Bildungsbericht. Ich sage, Gott seiDank, weil wir deshalb nämlich nicht auf Polemik ange-wiesen sind, sondern aufgrund handfester Fakten disku-tieren können. Nicht nur bezogen auf ein Jahr, sondernbezogen auf den Zeitraum seit 2006, also im zeitlichenLängsschnitt, sehen wir: Was hat sich verändert? Was hatsich verbessert?Da kann man – egal aus welcher Richtung mankommt – eine Aussage nicht wegreden: Es ist so, dasssich der Bildungsstand und die Bildungsbeteiligung inden letzten Jahren kontinuierlich verbessert haben.
Herr Rossmann sagte, dass es immer mehr geworden ist.Damit muss man nicht unbedingt zufrieden sein. Aber esist immer mehr geworden. Das ist eine ganz klare Ten-denz.Ich fand nicht, dass Herr Jung eine rosarote Brille auf-hatte; er hat nur die Fakten genannt. Da er die Faktenso schön aufgezeigt hat, will ich nicht alles wiederholen,sondern nur noch ein, zwei Punkte nennen.Wir haben zum Beispiel immer mehr Kinder unter dreiJahren – mittlerweile beträgt ihr Anteil über ein Drittel –,die Betreuungsangebote in der Kita wahrnehmen. Wennwir sagen, wir wollen keine Abhängigkeit vom Hinter-grund des Elternhauses, dann ist das genau die richtigeStelle, um anzusetzen: Die Kinder, die zu Hause Elternhaben, die viel mit ihnen sprechen, singen oder ihnenetwas vorlesen, brauchen diese Angebote nicht so sehr.Wir bieten die Angebote zwar auch für diese, aber vorallem für diejenigen Kinder an, die das Pech haben, nichtso ein Elternhaus zu haben. Das ist ein ganz wichtigerPunkt. Man muss am Anfang ansetzen, und das kann mannicht mit irgendwelchen Rahmenplänen tun, sondern hiermuss man ganz konkret handeln.
Ein weiteres Beispiel: Auch die Zahl der Kinder mitsonderpädagogischen Bedarfen, die inklusiv beschultwerden, hat sich in den letzten Jahren erhöht. Für diesemüssen Ausbildungsplätze etc. geschaffen werden.Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Wir sind aufeinem guten Weg. Da sind beide beteiligt, also Bund undLänder; denn Bildung ist keine Sache, die der Bund allei-ne verordnet, sondern Bund und Länder müssen zusam-menarbeiten. Jeder hat seine Aufgaben. Man kann sagen:Wir haben hier eindeutige Erfolge.Es sollte aber keine Selbstzufriedenheit aufkommen –das wäre wirklich nicht angemessen –, sondern man soll-te auch sehen, dass dieser Bildungsbericht – darin liegt jagerade sein Wert – auf Schwächen aufmerksam macht,dass er die Herausforderungen benennt. Wenn ich im An-trag der Grünen lesen, dass Sie die unverzügliche Um-setzung der Empfehlungen des Bildungsberichts fordern,dann muss ich sagen: Falsch, es gibt überhaupt keineEmpfehlungen.
Das ist die dezidierte Absprache. Es gibt eine Darstel-lung des Sachverhalts. Daraus abzuleiten sind Entschei-Katja Dörner
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dungen, die politisch zu treffen sind, zum Beispiel in derKMK, zum Beispiel hier im Bundestag.
Ich will einmal ein Beispiel nennen: Ganztagsschul-ausbau. Der Anteil der Ganztagsschulen – es wird bi-lanziert, wie die Situation ist – beträgt bei den Integ-rierten Gesamtschulen 87 Prozent, bei den Schulen mitmehreren Bildungsgängen 78 Prozent. Dann schreibendie Autoren in ihrem Bericht: Bislang werden aber dieerweiterten Lern- und Fördermöglichkeiten von einemGroßteil dieser Schulen nicht genutzt. – Ich wiederho-le: Sie werden von einem Großteil dieser Schulen nichtgenutzt. Das heißt, hier besteht Bedarf, und wir als Bundmachen auch etwas. Wir geben Millionen dafür aus, dassKonzepte entwickelt werden, aber nicht an jeder Eckeneu. Vielmehr sollen sie über die Transfereinrichtungenoder andere Einrichtungen verbreitet werden. Die drit-te Förderphase des Forschungsprogramms „Studie zurEntwicklung von Ganztagsschulen“ hat in diesem Jahrbegonnen.Der Grundtenor der Forderungen ist: Der Bund mussmit einsteigen. Der Gedanke im Hinterkopf ist: Der Bundmuss mitfinanzieren. Das kann man sich ja wünschen. Aber wenn man wirklich glaubt, dass ein zentrales Bil-dungssystem, dass eine starke Stellung des Bundes dasAllheilmittel ist,
dann sollte man sich die Situation in den Ländern an-schauen, in denen das so organisiert ist, zum Beispielunter anderem in Frankreich. Dann sieht man: Das funk-tioniert nicht.
Es soll keiner sagen: Chancengerechtigkeit ist einThema für den Rest der Legislaturperiode. Chancenge-rechtigkeit ist ein ganz zentrales Thema. Das habe ichvom ersten Tag an gesagt. In diesem Bereich haben wirviel erreicht. Ich will gar nicht aufzählen, was wir alleserreicht haben. Das ist in der Kurzzusammenfassung desBildungsberichts gut nachlesbar.An den Ergebnissen des Bildungsberichts besonderserschreckend waren für mich die hohen regionalen Un-terschiede; denn es ist ja auch ein Stück Ungerechtigkeit,wenn der Bildungserfolg sehr stark vom Wohnort, vonder Region abhängt. Frau Hein, Sie haben sinngemäß ge-sagt, es gebe nur noch Privatschulen. Als ob die schlechtsind.
– Sie hat es so dargestellt, als ob alles ganz katastrophalsei. Natürlich ist Daseinsvorsorge eine gesellschaftlicheAufgabe, der überall nachgegangen werden muss. Aberdie Tatsache, dass gerade in den neuen Bundesländernchristliche oder andere Privatschulen entstanden sind,zeigt doch, dass der Bedarf und auch der Wunsch danachvorhanden sind.
Zum Schwerpunkt Bildung und Migration. Wir, KMKund Bund, können entscheiden, welche Sonderuntersu-chung wir durchführen wollen. 2006 haben wir Maßnah-men gestartet, um die Bildungsleistungen von Menschenmit Migrationshintergrund zu verbessern. Nach zehnJahren haben wir die Ergebnisse evaluiert. Man sieht:Verbesserungen sind möglich. Aber man sieht auch ganzdeutlich: Das braucht Zeit. Es geht bei der Bildungsbio-grafie von Migrantinnen und Migranten sichtbar voran, aber das braucht Zeit.Es liegen uns Zahlen vor, die wir vor zehn Jahren nichtfür möglich gehalten hätten. 90 Prozent – ich sage es nocheinmal ganz deutlich: 90 Prozent! – der drei- bis untersechsjährigen Kinder mit Migrationshintergrund besu-chen eine Betreuungseinrichtung. Damit ist für Chancen-gerechtigkeit gesorgt. Oder, Frau Hein: Vor Jahren war esso, dass der Anteil der Jugendlichen, die einen mittlerenAbschluss schaffen, bei den deutschen Jugendlichen beiüber 50 Prozent lag, während er bei ausländischen Ju-gendlichen bei 36 Prozent lag. Jetzt liegen diese Jugend-lichen mit den deutschen Jugendlichen gleichauf. Wennhier also rhetorisch gefragt wird: „Warum schaffen wirdas nicht?“, dann kann ich nur sagen: Wir arbeiten daran,aber die Erfolge werden sich nicht von heute auf morgeneinstellen. Ich finde, es motiviert aber immer, wenn es Erfolge gibt, wenn wir sehen: Der Weg ist richtig. Dafürund auch wenn wir sehen, wir müssen etwas ändern, istder Bildungsbericht ganz entscheidend.Zu den Leistungssteigerungen bei Jugendlichen mitMigrationshintergrund bei PISA. Sie haben aufgeholt. Esgibt zwar immer noch eine große Diskrepanz, aber siehaben ihre Leistungen schneller gesteigert als die Deut-schen in der Zeit. Anhand dieser Fakten könnte man sa-gen: Wenn das Bildungssystem gut ist, dann ist es für allegut, dann erledigt sich das alles von selbst. Schauen wirnach Finnland. Alle glauben ja, dass Finnland ein superSchulsystem hat, aber die Diskrepanz zwischen den Leis-tungen derer mit und ohne Migrationshintergrund ist imfinnischen Schulsystem mit am größten. Das heißt, das Schulsystem allein kann nicht alles leisten. Deswegenwürde ich darum bitten, die Stellungnahme der Bundes-regierung zum Bildungsbericht zu lesen. Wir haben dortdetailliert aufgelistet, was alles gemacht wird, und zwarressortübergreifend.Eine Erkenntnis aus dem Bildungsbericht ist auchganz wichtig: Vergleicht man die Bildungsbeteiligungvon 15-jährigen Jugendlichen mit und ohne Migrati-onshintergrund, die den gleichen sozioökonomischenHintergrund haben, dann stellt man fest: Sie ist in denjeweiligen Bildungsgängen immer gleich. Das heißt, dersozioökonomische Hintergrund ist mittlerweile entschei-dender als der Migrationshintergrund.Das Thema Kinder und Jugendliche mit Migrations-hintergrund ist wichtig, und es beschäftigt uns schonlange. Es gibt exzellente Forschung in diesem Bereich,zum Beispiel in Osnabrück, Bielefeld, Mannheim undBundesministerin Dr. Johanna Wanka
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Nürnberg, die sich sehr stark mit den Nachkommen derArbeitsmigranten beschäftigt. Weniger beschäftigt mansich mit denen, die im letzten Jahr gekommen sind, die ineiner ganz anderen Konstellation zu uns gekommen sind.Wir haben hier auch wenig belastbare Ergebnisse. Wirwissen aber, dass in zwei Jahren ein großer Schwung ausder Schule kommt. Deswegen haben wir die Mittel fürden Bereich Migrationsforschung, der ohnehin schon gutaufgestellt ist, sofort erhöht. Allein von 2016 bis 2019stehen 18 Millionen Euro für diesen Bereich zur Ver-fügung. Große Projekte laufen bereits. Wir bekommenrepräsentative, aussagekräftige Ergebnisse. Wir werdenauch die Bildungsverläufe derer, die gerade in Deutsch-land angekommen sind, weiterverfolgen. In der nächstenWoche veröffentlichen wir eine neue Ausschreibung miteinem Volumen von 12 Millionen Euro, bei der es um dieFrage geht, wie wir die Herausforderungen hinsichtlichunseres Zusammenlebens, unserer Werte, unserer Vor-stellungen, unserer Kultur, also des gesellschaftlichenZusammenhalts unter den jetzt entstandenen Bedingun-gen bewältigen können. Das sind ganz konkrete Maßnah-men, die auch in diesem Hause registriert werden sollten.Zum Schluss noch eine Bemerkung: Vor kurzem hatdie britische Regierung eine Untersuchung in Auftraggegeben. Die Chancen für junge Menschen auf der gan-zen Welt wurden verglichen. Es wurde gefragt: WelcheBildungschancen und -möglichkeiten haben die jungenMenschen? Welche Jobchancen haben sie? Wie ist diegesundheitliche Präferenz? Welche Möglichkeiten ha-ben sie, sich politisch zu beteiligen? Wie ist es um dieMöglichkeiten für ein bürgerschaftliches Engagementbestellt? – 183 Staaten wurden untersucht. Erster Platz:Deutschland. Ganz so schlimm kann es also nicht sein.
Der Kollege Mutlu ist der nächste Redner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn mansich den aktuellen Bildungsbericht anschaut, kann man inder Tat einige Fortschritte im deutschen Bildungssystemfeststellen – immerhin. 15 Jahre nach dem PISA-Schockin einem der reichsten Länder der Welt wurde das auchZeit. Von „Bildungsrepublik“ kann allerdings immernoch keine Rede sein.
Deswegen dürfen wir uns auch nicht zurücklehnen undmit den Ergebnissen zufrieden sein, Kollege Jung.
Zwischenzeitlich sind zwei allgemeine Erkenntnissein allen Köpfen angekommen – dabei schaue ich insbe-sondere in die Reihen der CDU/CSU-Fraktion –, erstens,dass Bildungsungerechtigkeit das Problem im deutschenBildungssystem ist, zweitens, dass unser Land fit für die Einwanderungsgesellschaft gemacht werden muss. DerSchwerpunkt des Bildungsberichts – Bildung und Migra-tion – ist auch für die aktuelle Debatte in Deutschlandvon großer Bedeutung.
Deshalb müssen wir die Empfehlungen der Autorin-nen und Autoren des Berichts nicht nur ernst nehmen,Frau Wanka, sondern wir müssen sie auch zügig umset-zen.
Nur so haben wir eine Chance. Nur so können wir dieFehler der Vergangenheit vermeiden. Gute Bildungs-politik ist Integrationspolitik, ist Sozialpolitik, ist Wirt-schaftspolitik. Gute und gerechte Bildung ist auch eineInvestition in die Sicherheit unseres Landes und schütztvor Radikalismen unterschiedlichster Art; Salafismus und Rechtsextremismus wären da zwei Beispiele.
Die Befunde des Bildungsberichts belegen, wie zahl-reiche Studien zuvor, dass das deutsche Bildungssystemimmer noch nicht in der Lage ist, alle Schülerinnen undSchüler teilhaben zu lassen und soziale Disparitäten aus-zugleichen. Wir als Grüne sagen: Das können und dürfenwir nicht länger hinnehmen.
Wir wollen eine gerechte, offene, demokratische Gesell-schaft und keine gespaltene, in der der Geldbeutel derEltern über den Bildungserfolg entscheidet. Dass das soist, das ist ein großes Problem, und das müssen wir ge-meinsam anpacken.
Segregationsentwicklungen sind auch regional sicht-bar. Auch Ministerin Wanka hat das endlich erkannt
und möchte diese Tendenzen beobachten – ich zitiere –,„damit nicht neue Ungerechtigkeit entsteht“. Beobach-ten? Mit Verlaub, Frau Ministerin, das ist keine nachhal-tige Strategie.
Warum warten, bis das Kind in den Brunnen gefallenist? Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Hand-lungsdefizit. Hier müssen Sie endlich handeln und Ihren warmen Worten Taten folgen lassen.
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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Wir müssen jetzt etwas ändern. Wir müssen jetzt handeln,damit nicht weitere Regionen in Deutschland entstehen,die Kindern und Jugendlichen kaum bis keine Chancenbieten. Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufga-be. Das sagt auch Ministerin Wanka. Ich sage: Absolutdʼaccord. Deshalb müssen wir im Interesse unserer Kin-der und Jugendlichen endlich jenseits von ideologischenGrabenkämpfen schauen,
dass es bei der Bildung in Deutschland weitergeht.Mit der Reform der Bund-Länder-Finanzierung undder Ankündigung des Digitalpakts, der noch nicht haus-halterisch unterlegt und wohl eher ein Wahlkampfge-schenk ist, sind erste Schritte getan. Aber das reicht nicht.Sie mogeln sich mit diesen Maßnahmen am Kooperati-onsverbot vorbei und belegen damit im Grunde die Ab-surdität des Verbots der Kooperation in der Bildung.
Zugleich kommt der Finanzminister um die Ecke undkündigt zusätzliche 3,5 Milliarden Euro für die Schulsa-nierung an.
Das ist absolut löblich, Kollege Rossmann, aber in An-betracht des bundesweit riesigen Sanierungsbedarfs undInvestitionsstaus in den Schulen, der bei 34 MilliardenEuro liegt, ist das kein allzu großer Wurf. Da muss mehrgeliefert werden.
Noch immer investieren wir viel zu wenig in unsereBildungseinrichtungen. Statt die Zielvorgabe – KolleginDörner hat es schon gesagt –, dass die Bildungsinvesti-tionen 10 Prozent des BIP betragen sollen, zu erreichen,stagnieren wir weiterhin bei 9,1 Prozent. Damit liegenwir im internationalen Vergleich immer noch unter demOECD-Durchschnitt. Das reicht nicht.
Deshalb sagen wir: Lassen Sie es uns gemeinsam anpa-cken und mehr in die Bildung, also in die Zukunft unse-res Landes, investieren.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Lassen Sie
uns gemeinsam eine Bildungsoffensive starten, damit
Bildungsungerechtigkeit in unserem Land endlich der
Vergangenheit angehört. Lassen Sie uns endlich gemein-
sam das Kooperationsverbot in der Bildung in Gänze
abschaffen, –
Herr Kollege Mutlu.
– damit es nicht immer wieder diese Mogelpackungen
gibt. – Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank an
die CDU/CSU-Fraktion. Hoffentlich hat sie gut zugehört
und etwas gelernt.
Mit der Frage, warum nur immer die grandiosen
Schlusssätze erst deutlich jenseits der verfügbaren Rede-
zeit im Manuskript vorgesehen werden, werde ich einmal
den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages konfron-
tieren.
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Es hat einen Grund. Es gibt einenSpruch aus unserer Jugend, der heißt: Wer hat an der Uhrgedreht? Ist es wirklich schon so spät?
Das geht uns allen hier manchmal so, und zwar fraktions-übergreifend.Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Ich glaube,dass dieser Nationale Bildungsbericht in gerade dieserZeit Anlass ist, über einen Zusammenhang zu sprechen,der uns alle bewegt, jedenfalls die demokratischen Par-teien von rechts bis links in diesem Hause. Ich meine dieTatsache, dass wir in einer Zeit leben, in der die Werteder Aufklärung, die Werte von Freiheit und Gleichheitund auch Toleranz, die Werte des 17. und 18. Jahrhun-derts wieder an Bedeutung gewinnen und uns vor allenDingen die rechtspopulistischen autoritären Erscheinun-gen in verschiedensten westlichen Demokratien ernsthaftumtreiben müssen.Es gibt zwei zentrale Sätze der Aufklärung. Der erstevon Immanuel Kant lautet: Besinne dich darauf, dich dei-nes eigenen Verstandes zu bemühen. Der zweite war vonSir Francis Bacon: Wissen ist Macht. – Erst Wissen undBildung befähigen Menschen, sich des eigenen Verstan-des zu bedienen. Deshalb ist die Förderung von Bildungund Wissenschaft für das Gelingen von freiheitlichen De-mokratien wichtig.
Özcan Mutlu
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Warum sage ich das? Die Bundeskanzlerin hat, wieich finde zu Recht, darauf hingewiesen, dass das, was wir beispielsweise im amerikanischen Wahlkampf erlebt ha-ben, nämlich dass Wahrheit und Fakten keine Rolle mehrspielen, dass Hass, Respektlosigkeit und Lügen – dieBundeskanzlerin hat es mit dem Begriff „postfaktisch“beschrieben – zum Kennzeichen der politischen Ausei-nandersetzung geworden sind. Da müssen wir gegenhal-ten mit den Werten der Aufklärung, mit Freiheit, mit To-leranz, mit Respekt und eben mit der Idee von gleichenChancen für alle. Das gilt auch für den Bildungsbereich.
Der Nationale Bildungsbericht beschreibt das sehr dif-ferenziert. Frau Ministerin Wanka, ja, es gab in vielenBereichen Fortschritte, auf die wir gemeinsam stolz sind:Die frühe und individuelle Förderung von Kindern und invielen Bereichen auch das längere gemeinsame Lernen,der neue Stellenwert frühkindlicher Förderung und Bil-dung in diesem Land, der Ausbau im Bereich der Kinder-tagesstätten und Kindergärten und – seit dem Programmvon Edelgard Bulmahn – auch die Fortschritte beim Aus-bau von Ganztagsschulen haben mit dafür gesorgt, dasswir heute, nach diesen Jahren, zu besseren Ergebnissenkommen als noch vor einigen Jahren.Aber richtig ist auch – da haben die Kollegin vonder Linkspartei, der Kollege von den Grünen und ErnstDieter Rossmann vollkommen recht; auch Sie haben eserwähnt –, dass sich soziale Ungleichheiten in diesemLand nach wie vor gerade auch im Bildungssystem kon-servieren. Wir sind bei dem Vorhaben, dies zu überwin-den, weitergekommen, aber noch nicht weit genug.Wir können das anhand der Zahlen feststellen. Nachwie vor wächst jedes vierte Kind – 25 Prozent! – untermindestens einer Risikolage auf, was zu einer – das be-scheinigt der Bildungsbericht – finanziell, sozial oder durch die Eltern begründeten Bildungsferne führt, mit derFolge, dass es deutlich schlechtere Bildungschancen unddamit auch deutlich schlechtere Chancen auf ein selbst-bestimmtes Leben hat als andere Kinder und Jugendli-che. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrundsind bei allen Fortschritten deutlich stärker davon betrof-fen. Frau Ministerin, der Expertenstreit, ob der Migra-tionshintergrund oder die sozioökonomische Schwächeder Familie die wichtigere Ursache dafür ist – natürlichsind es vor allen Dingen soziale und nicht kulturelle Ur-sachen –, ist am Ende des Tages ein akademischer Streit.Es geht um konkrete Lebenslagen.
Frau Ministerin Wanka, man muss hier auch einmalselbstkritisch feststellen, dass Ziele, die man sich selbstgesetzt hat, nicht erreicht wurden. Sie erinnern sich anden Nationalen Bildungsgipfel aus dem Jahre 2008 un-ter der schönen Überschrift „Bildungsrepublik“. Damalshat man sich das Ziel gesetzt – das ist nachlesbar –, biszum Jahre 2015 die schulischen Leistungen von Kindernund Jugendlichen mit Migrationshintergrund denen an-derer Jugendlicher gleichzustellen. Das haben wir nachwie vor nicht erreicht, was anhand der Zahl der Schul-abschlüsse, der fehlenden beruflichen Bildung und der Lebensverläufe nach wie vor festzustellen ist.Das hat etwas mit der Frage zu tun, welche Rolle Bil-dung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft hat. EineGesellschaft, in der soziale Ungleichheit nicht überwun-den wird, eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet, eineGesellschaft, die so funktioniert, wie wir das leider Got-tes in anderen Ländern in und außerhalb Europas nochschlimmer erleben, schafft das Klima für Radikalismusund Extremismus, schürt Ängste vor der Zukunft undführt zu Unzufriedenheit. Gerade in solchen Zeiten istdie Überwindung sozialer Ungleichheiten – auch im Bil-dungssystem – nach wie vor eine der vordersten Aufga-ben, der wir uns für alle Kinder und Jugendlichen in die-sem Land – egal welcher Herkunft – zu widmen haben.
Das heißt konkret: Ja, wir haben auch in dieser Koali-tion eine ganze Menge auf den Weg gebracht – Herr Kol-lege Mutlu, jetzt hören Sie einmal genau zu –, auf das wirzu Recht stolz sind, zum Beispiel die Reform des BAföG.Wir haben jetzt die Chance, noch mehr zu tun, und zwarnicht nur im Bereich der frühkindlichen Bildung, für densich vor allen Dingen Ministerin Schwesig in den letztenJahren sehr erfolgreich engagiert hat, sondern auch imBereich der schulischen Bildung, und hier geht es nichtum irgendwelche Ideologien zwischen Zentralismus undFöderalismus.Die Hauptverantwortung für die schulische Bildung indiesem Land bleibt bei den Ländern. Schulträger sind imRegelfall die Kommunen; das ist gar keine Frage.
Ich sage das hier einmal ganz explizit, Frau MinisterinWanka, weil Sie denjenigen, die sich für das Aufbrechendes Kooperationsverbotes engagieren, immer wieder un-terstellen, dass sie sich für ein Bundesschulamt einset-zen. Es geht nicht um ein Bundesschulamt. Man kann inder Bildungspolitik auch zentralistisch ganz viel falschmachen.
Das sagt über die Qualität noch gar nichts aus.Es geht auch nicht um Zentralismus oder Föderalis-mus, sondern darum, dass Bund, Länder und Kommunenan einem Strang ziehen und arbeitsteilig so etwas wieeine nationale Bildungsallianz organisieren können.
Hubertus Heil
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 201620018
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Ja, die Länder sind nach wie vor verantwortlich für dasSchulsystem und für die Inhalte. Schulträger sind dieKommunen.
Der Bund kann mit der jetzt getroffenen Vereinba-rung innerhalb der Bund-Länder-Finanzbeziehungenmithelfen, die schulische Infrastruktur gezielt und nichtauf Umwegen zu verbessern, mit der Gewissheit, dassdas Geld auch dort ankommt, wo wir es haben wollen.Dadurch können wir mithelfen, den Sanierungsstau inden Schulen aufzulösen, Schulen zu sanieren und zu mo-dernisieren – vor allen Dingen in den Kommunen, diees besonders schwer haben. Das ist ein konkreter Bei-trag dafür, Lernorte zu verbessern. Mit der Kombinationder Mittel von Bund, Ländern und Kommunen könnenwir dafür sorgen, dass die soziale Herkunft nicht zumSchicksal für die Bildungschancen in diesem Land wird,und dafür setzen wir uns ein.
Herr Mutlu, Frau Dörner, Sie haben von Missverständ-nissen geredet. Ich kann das aufklären. Der Blick in dieBund-Länder-Vereinbarung, die übrigens 16 Minister-präsidenten aller möglichen Parteien dieses Hauses unddie Bundesregierung unterschrieben haben, zeigt, dasswir 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen – das wer-den wir über einen Nachtragshaushalt tun –, um entspre-chende Möglichkeiten für Investitionen zu schaffen. Dasist allein das Geld des Bundes. Einige Bundesländer –vor allen Dingen Nordrhein-Westfalen – engagieren sichganz massiv für zusätzliche Mittel zur Schulsanierung.
In dieser Kombination müssen wir den Investitionsstauvon 34 Milliarden Euro auflösen. Wir ermöglichen, dass das Geld gezielt in den Kom-munen ankommt, indem wir das Grundgesetz ändern;auch das steht deutlich darin.
Wir nennen das das „Aufbrechen des Kooperationsver-botes“, weil es die Chance schafft, Schulen nicht nur zusanieren, sondern auch zu modernisieren und über dieseLegislaturperiode hinaus Geld des Bundes zum Beispielfür Ganztagsschulangebote zur Verfügung zu stellen. Ichbin dem Koalitionspartner ausdrücklich dankbar dafür,dass wir diesen Weg gemeinsam gehen.
Alle Ministerpräsidenten haben das unterschrieben.Herr Mutlu, wenn Sie mithelfen wollen, dass wir dasjetzt auch gut hinbekommen – Ihr Parteitag beginnt jaheute –: Reden Sie einmal mit dem baden-württembergi-schen Ministerpräsidenten Kretschmann.
Der ist der Einzige, der dazu eine Protokollerklärungabgegeben hat. Gemeinsam sind wir stark, Herr Mutlu.Ich setze auf Ihre Überzeugungskraft gegenüber dembaden-württembergischen Ministerpräsidenten auf demParteitag.
Zum Schluss: Wir brauchen angesichts dieses Natio-nalen Bildungsberichts eine nationale Bildungsallianz,um die Chancen zu nutzen, die die Digitalisierung bietet.Frau Wanka, daran müssen wir noch ein bisschen arbei-ten. Dass wir 3,5 Milliarden Euro für die Schulsanierunghaben, ist das eine; die 5 Milliarden Euro für digitale Bil-dung, die Sie angekündigt haben und die wir ausdrücklichbegrüßen, nicht nur weil in einigen Tagen der IT-Gipfelstattfindet und digitale Bildung ein zentrales Thema ist, sind das andere. Die Kombination dieser Mittel auf einerZeitschiene vom Jahr 2017 bis 2021, ungefähr 8,5 Milli-arden Euro, würde einen Riesenschritt bedeuten, mit demwir viel Geld hebeln könnten.Meine herzliche Bitte ist: Machen Sie solche Konzep-te nicht für irgendwann oder nach der Bundestagswahl.Die besten Wahlversprechen sind die, die man vor derWahl hält. Deshalb müssen wir dafür kämpfen, dass die3,5 Milliarden Euro der erste Schritt sind, dass wir zu-sätzlich Geld für Ganztagsschulangebote und digitaleBildung in diesem Land bekommen, damit auch die Di-gitalisierung der Bildung nicht zu neuen Ungleichheiten,sondern zu neuen Chancen führt. Das ist der Weg, aufden wir uns machen wollen. Alle Gutwilligen sind einge-laden, ihn mitzugehen.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Cemile
Giousouf die nächste Rednerin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Da jetzt viel gesagt worden ist, was, ich willnicht sagen: am Thema vorbeigeht, aber was ein wenigden Blick vom Bildungsbericht abgelenkt hat, möchte ichgern auf den Kern der heutigen Debatte zurückkommen
und die Reden meiner Kolleginnen und Kollegen von derOpposition, in denen sie viele Dinge kritisiert haben, diein die Zuständigkeit der Länder fallen, so deuten, dassder Bund eben seine Hausaufgaben gemacht hat.
Hubertus Heil
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20019
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Uns liegt ein guter Bericht vor. Deshalb erlauben Siemir, kurz die guten Ergebnisse und Fakten zusammen-zufassen. Die Ausgaben für Bildung, Forschung undWissenschaft sind im Jahr 2013 auf 257,4 MilliardenEuro und nach vorläufigen Berechnungen auf 265,5 Mil-liarden Euro im Jahr 2014 gestiegen. Das sind jeweils9,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.Das Ergebnis: Der Bildungsstand der Bevölkerung hatsich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Bei denAbschlussquoten an Schulen bleibt der Trend zu höherenSchulabschlüssen ungebrochen.
Im Jahr 2014 erhielten 41 Prozent der Schülerinnen undSchüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schu-len die allgemeine Hochschulreife. 2006 waren es noch29,6 Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung. Der An-teil der Schülerinnen bzw. Schüler ohne Hauptschulab-schluss hat sich von 8 Prozent in 2006 auf 5,8 Prozentin 2014 reduziert. Wir sind linker Schwarzmalerei zumTrotz auf einem sehr guten Weg,
nicht zuletzt dank der guten Arbeit unserer Ministerinund ihres Hauses.
Die Bildungsbeteiligung und der Bildungserfolg vonMenschen mit Migrationshintergrund haben sich ver-bessert. Mehr unter Dreijährige mit Einwanderungsge-schichte besuchen Betreuungsangebote.
Das ist eine Verdoppelung seit 2009 auf 22 Prozent. Dasresultiert aus der Tatsache, dass wir Dinge, die Ländersa-che sind, mit unterstützen.
Es stellt sich nur die Frage, warum Sie die positivenErgebnisse der Bundesebene nicht anerkennen. Die Bil-dungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrundim Kindergartenalter liegt 2015 sogar bei 90 Prozent. Da-rüber hinaus haben sich sowohl im Grundschul- als auchim Sekundarbereich die Kompetenzen der Schülerinnenund Schüler mit Zuwanderungsgeschichte verbessert.Die Rede unserer Ministerin hat gerade sehr deutlichgemacht, dass sich das integrationspolitische Schlüs-selministerium dieser Aufgabe nicht nur im aktuellenKontext stellt; bereits seit vielen Jahren setzt die uni-onsgeführte Bundesregierung bei der Integration aufden Bildungsbereich. Für uns ist kulturelle Vielfalt eineBereicherung. Das müssen wir uns von den Linken be-stimmt nicht erklären lassen.
Dennoch dürfen wir uns nicht auf unseren Erfolgenausruhen. Da sind wir uns auch alle einig; denn dieserBericht zeigt eben auch, dass immer noch ein Zusam-menhang von sozioökonomischem Status und schuli-scher Bildung besteht.
Ich glaube, es ist ein Unterschied – da bin ich nicht Ih-rer Meinung, Herr Kollege Heil –, ob Kinder aus einemAkademikerhaushalt stammen oder ob sie ausländischeWurzeln haben. Letztere sind benachteiligt. Die Zahlendes Berichts zeigen, dass ausländische Kinder mehr alsdoppelt so häufig die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Sie erreichen dreimal seltener die Hochschul-reife.
Bei den Drei- bis Fünfjährigen haben insbesondereKinder aus Elternhäusern mit niedrigem Schulabschlusssowie mit nichtdeutscher Muttersprache Sprachförder-bedarf. Der Anteil liegt bei jeweils 39 Prozent. Auch inder Berufsausbildung ist die Abbruchquote 50 Prozenthöher als die der Deutschen. Bei der dualen Ausbildungliegt der Anteil der Lehrlinge mit Migrationshintergrundmittlerweile bei 24 Prozent. Hier gibt es laut dem Berichtaber starke regionale Unterschiede. Ministerin Wanka istdarauf eingegangen.Durch die starke Zuwanderung im vergangenen Jahrsteht das deutsche Bildungssystem nach Ansicht derForscher vor zusätzlichen Herausforderungen. Für dieIntegration der im Jahr 2015 Zugewanderten fallen derStudie zufolge jährlich zusätzliche Kosten von 2,2 bis3 Milliarden Euro an. Aber diese Ausgaben werden sichlohnen. Auch wenn dies nicht kurzfristig der Fall seinsollte, so zeigt sich doch immer wieder in der Bildungs-politik: Wir müssen langfristig investieren. Wir werdensehen – auch das sagen die Forscher; auch wenn es beiihnen unterschiedliche Einschätzungen gibt –, dass sicheine nachhaltige Bildungspolitik natürlich auch bei den-jenigen, die neu zu uns kommen und Asyl suchen, mittel-und langfristig auszahlen wird.Wir müssen die Weichen stellen. Hier müssen wir an-setzen und weiter daran arbeiten.Auf dem Weg dorthin – das möchte ich noch einmalbetonen – haben wir viel geschafft. Als Berichterstatte-rin für die Begabtenförderung bin ich hier in besondererWeise involviert. Die Begabtenförderwerke und Stiftun-gen machen es sich mehr und mehr zur Aufgabe, auchjungen Erwachsenen aus weniger gut betuchten Familiendie Möglichkeit eines Stipendiums zu geben. Jeder hatin Deutschland die Möglichkeit, ungeachtet seines sozi-alökonomischen Status eine qualitativ hochwertige Aus-bildung zu erhalten.
Cemile Giousouf
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Nehmen wir exemplarisch das BMBF-Förderpro-gramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“. Wirwerden bald im Hohen Hause einen Antrag zur kulturel-len Bildung für Geflüchtete diskutieren. Derzeit profitie-ren von dem Programm 300 000 bildungsbenachteiligteKinder und Jugendliche. Eine Zwischenbegutachtungdes Programms ergab, dass 92 Prozent der BündnisseKinder und Jugendliche erreichen, die ansonsten nicht anAngeboten der kulturellen Bildung teilgenommen hätten.Das BMBF hat nunmehr auch zusätzliche Angebotefür junge Flüchtlinge im Programm. So können jungeMenschen beispielsweise auch in meinem Wahlkreis imEmil Schumacher Museum in Hagen die Kraft der Kunstund Bilder kennenlernen. Kinder und Jugendliche wer-den in Workshops aktiv an kulturelle Bildung herange-führt.
Von 2013 bis 2017 stellt der Bund insgesamt bis zu230 Millionen Euro für das Programm bereit. On topwerden im Rahmen von „Kultur macht stark Plus“ Maß-nahmen der kulturellen Bildung für geflüchtete junge Er-wachsene bis einschließlich 26 Jahre angeboten.Zum Ende meiner Rede möchte ich noch einmal aufdas Instrument des Anerkennungsgesetzes hinweisen.Auch da bin ich gemeinsam mit meinem Kollegen Diabydabei, die Bedingungen und Möglichkeiten des Anerken-nungsgesetzes weiter auszuschöpfen. Die Anerkennungvon Abschlüssen ist ein wichtiges Instrument, um Men-schen das Ankommen in unserem Land zu erleichtern.Wir haben – das möchte ich abschließend sagen –bisher deutlich gemacht, dass Deutschland jedem dieseChancen geben will. Wir werden trotz aller polarisieren-den, populistischen und auch politischen Entwicklun-gen weiter daran arbeiten. Wir können eine Gesellschaftschaffen, in der es eben nicht zählt, ob man aus einemAkademikerhaushalt kommt oder nicht.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Karamba Diaby spricht jetzt für die
SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Die Ergebnisse des Bildungsberichtszeigen, dass wir weiterhin vor großen Herausforderun-gen stehen. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstren-gung für Bildung. Wir brauchen eine nationale Bildungs-allianz.
Denn Bildung ist die Voraussetzung dafür, dass Men-schen später gute Arbeit finden und an der Gesellschaft teilhaben. Wir wissen: Investitionen in Bildung lohnensich für jeden Einzelnen und für unsere Gesellschaft.
Investitionen in Bildung verbessern die Chancen aufTeilhabe der Menschen an der Gesellschaft, und Inves-titionen in Bildung stärken den sozialen Zusammenhalt.Ich verdeutliche das anhand von vier Maßnahmen:Erstens. Es beginnt damit, dass wir die Schulen sa-nieren müssen. Sigmar Gabriel hat es gut auf den Punktgebracht: Die Schulen müssen die Kathedralen unsererStädte und Gemeinden werden. Sie müssen lebenswerteund lebensnahe Lernorte sein. Dafür stellen wir ab 2017rund 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung.Zweitens. An einigen Schulen gibt es soziale Proble-me. Diese müssen wir in den Griff bekommen. Der Bundmuss die Länder und Kommunen hier unterstützen. DasZiel muss sein: Keine Schule ohne Schulsozialarbeiter!
Drittens. Wir müssen die berufliche Bildung stärken; denn sie hat eine enorm wichtige Bedeutung für die Teil-habe der Menschen. Sie ist der Schlüssel zur persönli-chen Entwicklung, und sie ist die Voraussetzung, um ineiner digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt zubestehen. Die Schüler müssen sich in den Berufsschulenwohlfühlen. Die Schulen brauchen eine bessere Ausstat-tung. Und die Berufsschullehrer müssen bei ihrer wichti-gen Arbeit besser unterstützt werden.
Unsere Forderung lautet: Kein Schüler darf künftig ohneeinen Abschluss unsere Schulen und Berufsschulen ver-lassen.
Viertens. Auch für die Integration ist gute Bildungspo-litik ein zentraler Baustein. Die Anerkennung der beruf-lichen Qualifikationen ist von großer Bedeutung für die Teilhabe an der Gesellschaft. Wir haben diese Bedeutungerkannt. Aber auch hier gibt es Verbesserungsmöglich-keiten. Das zeigt der Bericht zum Anerkennungsgesetz.Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierungkünftig die Kosten für die Verfahren finanziell unterstüt-zen wird. Dafür stehen 5 Millionen Euro im Haushalt be-reit. Das finden wir sehr gut.
Es ist aber auch kein Geheimnis, dass die SPD mehrwill. Wir müssen die Menschen unterstützen, die keineLeistungen nach SGB II oder SGB III beziehen. Wenndas Anerkennungsverfahren dazu führt, dass man seinEssen oder seine Miete nicht bezahlen kann, werdendie Menschen das Anerkennungsgesetz leider nicht nut-zen. Wir wissen also, was zu tun ist. Im nächsten Schrittmüssen wir auch die Lebenshaltungskosten unterstützen,zum Beispiel durch ein Stipendium oder ein Darlehen.Cemile Giousouf
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass alleMenschen an der Gesellschaft teilhaben. Investitionen inBildung sind dafür der Schlüssel.Danke schön.
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dr. Wolfgang Stefinger für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir verfügen über ein qualitativ hochwertigesBildungssystem sowie über gute Aus- und Weiterbil-dungsmöglichkeiten. Das bescheinigt uns der NationaleBildungsbericht. Es ist ein Bildungssystem, um das unsviele beneiden. Es ist ein Bildungssystem, das Deutsch-land zu einem attraktiven Standort macht. Wir alle wis-sen: Eine gute Bildung ist eine unabdingbare Vorausset-zung für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg,aber auch für gelungene Integration. Dass wir eine solcheErfolgsgeschichte schreiben können, verdanken wir vorallem drei Dingen: erstens umfangreichen Investitionenin Bildung und Forschung, zweitens einer Vielzahl vonProgrammen, Maßnahmen und Initiativen und drittensden vielen Menschen, die sich im Bildungsbereich enga-gieren. Vielen Dank dafür!
Es wurde an dieser Stelle schon mehrfach gesagt:Noch nie wurde hierzulande so viel in Bildung und damitin die Zukunftsfähigkeit unseres Landes investiert wieheute. In den letzten elf Jahren haben sich die Ausgabendes Bildungs- und Forschungsministeriums mehr als ver-doppelt. Für das nächste Jahr sind im Bundeshaushaltüber 17,5 Milliarden Euro veranschlagt, also noch einmalüber 1 Milliarde Euro mehr als im laufenden Jahr.
Ich möchte den Haushältern danken, die bis heute frühum drei Uhr den neuen Haushalt festgezurrt haben, überden wir in der nächsten Sitzungswoche beraten dürfen.
Auch im diesjährigen OECD-Bericht schneidetDeutschland gut ab. Als eine seiner großen Stärken giltdie berufliche Bildung, die maßgeblich zum wirtschaft-lichen Erfolg beiträgt und vielfältige Aufstiegschancenermöglicht. In kaum einem anderen Land gehen so vie-le junge Menschen zur Schule, machen eine Ausbildungoder haben einen Job. Kein anderes europäisches Landhat eine so geringe Jugendarbeitslosigkeit wie Deutsch-land.
Ich finde, das alles kann sich wahrlich sehen lassen und zeigt: Wir sind auf einem erfolgreichen Kurs. Natürlichdürfen wir uns nicht ausruhen, und das tut von uns auchkeiner. Die Herausforderungen für unser Bildungswesensind komplexer und vielschichtiger geworden, vor allemseit letztem Jahr, als mehrere Hunderttausend Menschenaus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind.Diese Herausforderungen gelten natürlich auch für dieberufliche Ausbildung; denn immer weniger Jugendli-che beginnen eine duale Berufsausbildung. Nach wie vorbleiben viele Lehrstellen unbesetzt. Viele Ausbildungs-betriebe klagen über Lehrlingsmangel. Zugleich suchenviele junge Menschen nach einer Ausbildungsmöglich-keit. Sie fragen sich, wie das zusammenpasst? Demogra-fische Faktoren und mitunter ausgeprägte regionale und berufsspezifische Unterschiede spielen dabei eine wich-tige Rolle.Dies alles kann weitreichende Folgen für unsere Wirt-schaft und die Gesellschaft mit sich bringen. Ohne eineausreichende Anzahl bestens qualifizierter Fachkräfte geht es nicht. Was wir daher brauchen, ist eine Ausgewo-genheit von akademischer und beruflicher Bildung. Das Leben beginnt nicht erst mit dem Abitur.
Wir brauchen Ingenieure und Ärzte, aber eben auchHandwerker und Mittelständler. Ich möchte noch aufimmer wieder geäußerte Begrifflichkeiten eingehen, an denen ich mich massiv störe. Ein solcher Begriff ist zumBeispiel der des Bildungsabsteigers oder des Bildungs-verlierers. Warum ist ein Kind, das aus einem Akademi-kerhaushalt kommt und eine berufliche Lehre machen möchte, ein Bildungsabsteiger?
Das kann nicht so weitergehen.Auch deswegen sind wir gefordert, das Image derberuflichen Ausbildung nicht schlechtzureden; bei jeder Auslandsreise wird man darauf angesprochen. Ich darfdarauf hinweisen: Nicht umsonst wollen viele andereLänder von uns lernen, wie die duale Ausbildung funk-tioniert. Denn sie wissen: Deutschland kann Berufsaus-bildung.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben inden letzten Jahren auch viel für die Durchlässigkeit derberuflichen Ausbildung getan und tun dies weiterhin. Ich möchte nur ganz kurz an die Allianz für Aus- und Wei-terbildung erinnern, an die Studiengänge für Handwerks-meister, die in Zusammenarbeit mit den Handwerkskam-mern entstanden sind, oder auch an die Novelle zumMeister- bzw. Aufstiegs-BAföG.Ich habe die Herausforderungen durch die Digitalisie-rung erwähnt. Wir stärken mit einem Sonderprogrammzur Digitalisierung die überbetrieblichen Bildungsstät-ten. Wir haben das Programm „Digitale Medien in derDr. Karamba Diaby
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 201620022
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beruflichen Bildung“ fortgeführt; um nur einige Beispie-le aus diesem Bereich zu nennen.Sie sehen, wir haben die Herausforderungen im Blick.Wir kennen unsere Stärken, und wir dürfen darauf auchstolz sein. In diesem Sinne lassen Sie uns weiterarbeitenund dieses Land noch besser machen.Danke schön.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/10100, 18/8825 und 18/10248
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. – Widerspruch sehe ich keinen. Deshalb sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 sowie den Zu-
satzpunkt 11 auf:
38. Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Petra Pau,
Martina Renner, Jan Korte, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKE
Umsetzung der Empfehlungen des 2. Parla-
mentarischen Untersuchungsausschusses der
17. Wahlperiode zur Verbrechensserie des Na-
tionalsozialistischen Untergrundes
Drucksachen 18/6465, 18/9331
ZP 11 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Auf-
enthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt
Drucksache 18/2492
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 18/10288
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Widerspruch
sehe ich keinen. Dann ist das somit beschlossen.
Ich eröffne damit die Aussprache und erteile als erster
Rednerin das Wort der Kollegin Petra Pau für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Kürzel NSU steht für Nationalsozialistischer Unter-grund, mithin für eine bislang beispiellose rechte Terror-serie und ein tödliches Staatsversagen. Das alles wurdevor fünf Jahren offenbar.Ebenso zum fünften Mal jährt sich demnächst dasVersprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel nachbedingungsloser Aufklärung. Doch davon kann bisherkeine Rede sein. Es wird geschwiegen, geleugnet undvertuscht – auf Landes- und Bundesebene.Beim Verfassungsschutz werden Belege geschreddert,wird also Recht gebeugt. Die Justiz hält, wie im Fall„Lothar Lingen“, die schützende Hand darüber. Damitwird die Bundeskanzlerin in den Meineid getrieben. Wasnoch schlimmer ist: Die Betroffenen werden ein weiteresMal verhöhnt. Das ist eine Schande!
Der erste NSU-Untersuchungsausschuss hat im Sep-tember 2013 fraktionsübergreifend einen Bericht mit47 Schlussfolgerungen vorgelegt. Darin ging es umrechtliche und strukturelle, auch um mentale Änderun-gen in den Sicherheitsbehörden. Alle diese 47 Vorschlägewurden vom Bundestag einstimmig, einmütig bestätigt.Nun wollte die Linke wissen, was davon umgesetztwurde. Die Antwort der Bundesregierung liegt vor. Sieist auch für alle, die uns im Netz folgen, nachlesbar.Ich konzentriere mich jetzt auf drei Aspekte, diedurchaus strittig sind.Erstens. Ob Kriminalämter oder Justizbehörden –fast niemand wollte oder konnte erkennen, dass dieNSU-Morde rassistisch motiviert waren. Auch deshalbgibt es die Forderung nach dem Mentalitätswechsel. Nunkann man Mentalitäten schlecht messen. Aber allein einBlick nach Sachsen zeigt, wie viel noch zu tun bleibt.Naziaufmärsche werden goutiert, Gegenkundgebungendagegen düpiert – und das alles von Amts wegen –, undPolitiker beschwichtigen. Konsequenzen sehen andersaus.
Im Untersuchungsausschuss waren wir uneins, ob wires mit institutionellem Rassismus zu tun haben, also auchin Behörden. Die Linke meint Ja, CDU/CSU und Teileder SPD meinen Nein. Wir sollten dies nicht als Mehr-heitsentscheidung abhaken, sondern vom Deutschen In-stitut für Menschenrechte untersuchen lassen. Die Linkehat dafür Mittel bei den finalen Haushaltsberatungen be-antragt. Ich hoffe auf die Zustimmung aller Fraktionenund Kolleginnen und Kollegen.Zweitens. Im Zentrum des Staatsversagens agiertendie Ämter für Verfassungsschutz. Damit wäre ich beimzweiten großen Dissens.CDU/CSU und SPD haben 2016 ein neues Gesetzfür das Bundesamt für Verfassungsschutz beschlossen.Es erhält dadurch mehr Geld, mehr Personal und mehrKompetenzen.Zugleich wurde die schmierige V-Mann-Praxis, alsodie Kumpanei mit Nazis, legalisiert. Die Linke bleibt da-bei: Die Ämter für Verfassungsschutz sind als Geheim-dienste aufzulösen. Die V-Mann-Praxis ist sofort zu be-enden.
Dr. Wolfgang Stefinger
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20023
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Drittens. Wir waren uns einig, dass Initiativen zur Op-ferberatung, für Demokratie und Toleranz umfangreicherunterstützt werden müssen. Die Bundesmittel dafür wur-den inzwischen erheblich aufgestockt. Das ist gut so. DieLinke hat dem zugestimmt.Gleichwohl erfahre ich auf meinen Wegen über dasLand zu häufig, dass von den zusätzlichen Millionen bei den Initiativen kaum etwas ankommt. Hier mussdie Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern drin-gend prüfen, woran es liegt, dass die Mittel, die wir hiereinmütig beschlossen haben, nicht ankommen. Dennentscheidend ist letztlich nicht das, was vorne hineinge-steckt wird, sondern das, was hinten herauskommt – unddies umso mehr, da niemand garantieren kann, dass nichtlängst neue Nazizellen raubend und mordend unterwegssind, allemal da das rassistisch aufgeheizte Klima von ih-nen als regelrechter Auftrag gedeutet werden könnte, wiedamals beim NSU.Danke.
Der Kollege Armin Schuster spricht als Nächster für
die CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 4. November –nicht lange her –: fünfter Jahrestag des Auffliegens der NSU-Mordserie. Das ist ein guter Termin für diese De-batte, drei Jahre nach dem Abschlussbericht, den der ers-te NSU-Untersuchungsausschuss erarbeitet hat, und gutdrei Jahre nachdem wir uns hier in aller Form persönlichbei den Angehörigen der Opfer entschuldigt haben. Wirhaben im September 2013 zwei Versprechen abgegeben,nämlich erstens, alles zu unternehmen, damit sich dasnicht wiederholt, und zweitens, alles zu unternehmen,um diese Serie aufzuklären.
Das erste Versprechen mündete in 47 Empfehlungendes NSU-Untersuchungsausschusses für Exekutive, Le-gislative und Judikative. Alle hatten ihr Päckchen zu tra-gen. Heute ziehen wir Bilanz.Das zweite Versprechen, alles zu tun, um aufzuklären:Das sehen Sie in München vor Gericht. Das sehen Sie inzwölf NSU-Untersuchungsausschüssen von Ländern undim Bund. Sie sehen es an der akribischen intensiven Ar-beit des Bundeskriminalamts, des Bundesamts für Ver-fassungsschutz und vieler Ländersicherheitsbehörden.Meine Damen und Herren, diametral anders als Sie,Frau Pau, halte ich das, was wir seit Ende 2011 in diesemLand tun, um das alles zu klären, für historisch beina-he einmalig. Ich hätte mir gewünscht, dass wir so kon-sequent auch nach der RAF-Mordserie oder nach demOktoberfest-Attentat gehandelt hätten; da wäre das viel-leicht auch notwendig gewesen.Was wir in Sachen NSU-Aufklärung tun, ist ein ganzschlechter Anlass, Frau Pau, um uns selbst zu beschimp-fen. Sie haben sich ja gerade eben selbst beschimpft. Dashalte ich nicht für angemessen. Es ist über Parteigren-zen hinweg, gerade im Untersuchungsausschuss, in denUntersuchungsausschüssen, alles unternommen worden.Warum? Wir haben alle regiert, Sie auch. Wir waren allebetroffen, nicht nur der Verfassungsschutz. Ich sage esIhnen ganz offen: Es ist ein Ausdruck von Feigheit, wennwir hier mit dem Finger auf den Verfassungsschutz zei-gen und selbst nie in einem Innenausschuss eines deut-schen Parlaments die Mordserie als Tagesordnungspunktaufgerufen haben. Wer selbst so viel Grund hat, über sichnachzudenken, sollte nicht mit dem Finger andauernd aufandere zeigen.
Ich habe damals, im September 2013, von einem kom-pletten Systemversagen gesprochen: der Justiz, der Exe-kutive, aber auch der Legislative. Deswegen finde ich die Schuldzuweisungen ein bisschen billig, meine Damenund Herren.
Lassen Sie uns mal über die 47 Empfehlungen spre-chen! Wir haben in diesem Haus 47 Empfehlungen ver-abschiedet. Ich kenne keinen anderen Politikbereich, indem man in einem solchen Fall nach drei Jahren sagenkann: Beinahe alles abgeräumt, meine Damen und Her-ren. – Ein Mammutreformprogramm haben wir gemacht.
Wie Frau Pau kann auch ich nicht alles aufzählen. Ichbräuchte 90 Minuten Redezeit, um zu erklären, was wiralles getan haben. Sie haben auch nur 3 Punkte von 47herauspicken können.
Meine Damen und Herren, das ist auch ein Stück Er-folg: konsequente Umsetzung. Ich nenne es eine staatli-che Entschuldigung. Wir haben uns bei den Angehörigender Opfer persönlich entschuldigt. Es gibt aber auch einestaatliche Entschuldigung, weil wir wahrmachen, waswir versprochen haben: mit der Einrichtung von Abwehr-zentren gegen rechts, mit der Rechtsextremismusdatei,mit anderen polizeilichen Informations- und Analysesys-temen, mit der Verfassungsschutzreform.Die Abschaffung von V-Leuten, Frau Pau: Nicht malRamelow setzt das um.
Seien Sie ehrlich: Er ist als großer Tiger gestartet undlandet jetzt als Bettvorleger. Ich bin froh darüber, dassSie das Amt für Verfassungsschutz nicht aufgelöst haben.Ich bin auch froh darüber, dass die Thüringer erkennen,Petra Pau
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dass es V-Leute braucht. Das war ein Vorschlag zur Un-zeit.
Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand draußenversteht, dass Sie das Amt jetzt, zur Hochzeit des Terro-rismus, auflösen wollen.
Bundesjustizminister Maas hat ein umfangreichesJustizreformpaket verabschiedet. Wir haben hier letzteSitzungswoche die Reform des Parlamentarischen Kont-rollgremiums verabschiedet. Das Parlamentarische Kon-trollgremium schon wieder zu reformieren, war nichtleicht. Aber es war eine Kernforderung des Empfeh-lungskatalogs des NSU-Untersuchungsausschusses ausder letzten Legislaturperiode. Meine Damen und Herren,so schlimm all das, was passiert ist, war – wir sind in derLage, zu sagen: Wir haben enorm viel geleistet. Deswe-gen ist mein Befund ein völlig anderer als der der Linken.
Jetzt gehe ich auf die Frage ein: Was bringt eigent-lich der NSU-Untersuchungsausschuss dieser Legisla-turperiode? Meine Damen und Herren, es geht um dieEhre der Opfer. Es geht um Schmerz, Wut und Trauervon Angehörigen, und es geht um die Frage der Haltungunseres Staates. Solange wir nicht wissen, warum dieseMenschen zu Opfern wurden, solange wir nicht genauwissen, ob es genau diese drei Täter waren, solange wirnicht genau wissen, wer wirklich geholfen hat, ist es eineFrage der Haltung, niemals aufzugeben, diese Fragen be-antworten zu wollen.
Mit einem kleinen Augenzwinkern richte ich michjetzt an die Mitarbeiter vom Bundeskriminalamt, vomGeneralbundesanwalt, vom Bundesamt für Verfas-sungsschutz und vieler Länderbehörden. Ja, wir Unter-suchungsausschussmitglieder sind manchmal verdammtmüde. Es ist hart, vor allen Dingen donnerstagabends;das gebe ich zu. Auch ich habe dann Selbstzweifel. Aberich glaube, wir tun das Richtige. Wir werden uns nichtwie bei der RAF in 10 oder 15 Jahren davon überraschenlassen, dass plötzlich noch drei dieser Täter in der Ge-gend herumlaufen und ein paar Raubüberfälle begangenwerden. Das wird uns nicht passieren.Der Auftrag, den wir uns gegeben haben, ist nicht,das x-te Behördenversagen zu identifizieren. Nein, wir wollen jede Chance nutzen, dass eine der spektakulärstenund schlimmsten Mordserien der deutschen Nachkriegs-geschichte nicht unaufgeklärt bleibt.Noch ein Augenzwinkern. Wir wissen nicht, wie vieleNachermittlungen wir durch unsere Arbeit im Untersu-chungsausschuss auslösen. Aber wir ahnen es. Allein dieTatsache, dass es Nachermittlungen gibt, ist ein Erfolg,ebenso die Tatsache, dass wir mit etlichen Theorien, teil-weise auch Verschwörungstheorien, aufräumen können.Auch ich hatte Theorien, die sich zerbröselt haben. Undes ist wichtig, dass sie sich zerbröseln. Es ist wichtig,dass wir auf den Kern der Sache kommen.Meine Damen und Herren, Wolfgang Wieland, derFraktionssprecher der Grünen in der letzten Legislatur-periode, sagte – ich gebe ihn sinngemäß wieder –: Wirhaben uns alle Mühe gegeben, herauszufinden, ob die Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind sind. –Sein Befund war: Sie sind nicht auf dem rechten Augeblind, aber in einem gehörigen Maße betriebsblind, ja.Frau Dr. Högl, die hier sitzt, sagte damals, es sei ein Ver-sagen mit strukturellen Ursachen gewesen; Rechtsextre-mismus sei als Gefahr nicht gesehen worden. Aber dieSPD-Fraktion und auch wir, die Union, haben nicht denBefund erhoben: Hier gibt es institutionellen Rassismus.
Das ist ein ganz schlimmer Vorwurf, der von den Grünenund Linken leider immer wieder erhoben wird.Meine Damen und Herren, in diesen Zeiten brauchtes Politiker in Regierungen und Parlamenten, die Ver-antwortung vor Gesinnung stellen. Verantwortung vorGesinnung heißt, Frau Pau, dass Sie sich hier am Red-nerpult genauso verhalten wie im Ausschuss. Warum Siehier teilweise anders sprechen, weiß ich nicht.
Ich weiß auch nicht, welche Kundschaft Sie bedienenmüssen. Aber die kooperative und konstruktive Zusam-menarbeit im Ausschuss gefällt mir sehr gut. Es passtaber nicht zu dem, wie Sie hier reden.
Zum Abschluss. Meine Damen und Herren, ein wahr-scheinlich in diesem Haus einmaliger Reform- und Auf-klärungsmarathon im Bereich Rechtsextremismus undRechtsterrorismus erfordert Ausdauer und Geduld. Diesesollten wir bewahren. Ich glaube, dass das angesichts desLeids, das die Menschen, die Opfer wurden, erfahren ha-ben, nicht zu viel verlangt ist.Ich danke Ihnen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt
die Kollegin Irene Mihalic.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie-be Kollegen! Liebe Bundesregierung! Wenn man IhreAntwort auf die Große Anfrage der Linken liest, dannwird schon sehr deutlich, was für Sie die Aufarbeitungdes NSU-Terrors in der Praxis bedeutet. Herr Schusterhat sie ein „Mammutreformprogramm“ genannt. Ich nen-Armin Schuster
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ne sie ganz viel Kosmetik, ganz viel Bestandspflege, wie beim Bundesverfassungsschutzgesetz, ganz viel Augen-wischerei, und mein Eindruck ist ein wenig „Haken dranund fertig“.
Das sage ich bei aller fraktionsübergreifenden Einigkeit,die ich im Untersuchungsausschuss erlebe.Aber wir sehen das ganz anders. Für uns ist das Endeder Aufarbeitung dieser beispiellosen Terrorserie nochlange nicht in Sicht. Wir sehen ja auch aktuell, wie ge-fährlich eine solche Haken-dran-Mentalität heutzutageist. Allein in diesem Jahr gab es 832 Angriffe auf Flücht-lingsunterkünfte, und die Zahl der rechten Gewaltdeliktehat sich gegenüber dem Jahr 2015 bereits heute mehr alsverdoppelt. Da ist es schon ein heftiger Kontrast, wenndie Bundesregierung in ihrer Einschätzung aktuell nur20 Gefährder im rechten Spektrum ausmacht. Liebe Kol-leginnen und Kollegen, diese Zahl zerschellt doch kra-chend an der Realität.
Dass der analytische Blick an den Tatsachen hart vor-beigeht, hat auch etwas damit zu tun, dass das Bundesamtfür Verfassungsschutz bei der Aufklärung des NSU-Ter-rors weiter mauert. Gesetzlich wird das Eigenleben desVerfassungsschutzes sogar noch gefördert. So könnenimmer noch schwerstkriminelle Neonazis als V-Leuteangeworben werden und mit staatlicher Unterstützungrechnen. Wie gefährlich das sein kann, sehen wir beiunserer Untersuchungsausschussarbeit laufend. Deshalbkann ich Ihnen sagen: Ich vertraue diesen sogenanntenVertrauensleuten nicht.
Aber was Regierung und Parlament zu dieser Praxissagen, zählt laut Gesetz leider überhaupt nicht. Am Endeentscheidet der Verfassungsschutzpräsident im Allein-gang. Aber das kann doch kein Zustand sein, an dem wirernsthaft festhalten wollen, liebe Kolleginnen und Kol-legen.
Wir brauchen die Novelle der Novelle des Bundesver-fassungsschutzgesetzes. Erst gestern hat eine ehemaligeLeiterin einer Verfassungsschutzbehörde im Untersu-chungsausschuss treffend gesagt: So kann es nicht wei-tergehen. – Auflösen und neu starten, das wäre das, was man mit dem Verfassungsschutz machen müsste.
In der Antwort auf die Große Anfrage kann man auchetwas über Reformbemühungen lesen. Ich will einenSatz zitieren:Einen wesentlichen Beitrag zur Transparenz desVerfassungsschutzes stellen die zahlreichen öffent-lichen Ausführungen der Amtsleitung des Bundes-amtes für Verfassungsschutz in Medien, bei Diskus-sionsveranstaltungen und Vorträgen dar.Ja, das stimmt. Im Fernsehen und in überregionalenInterviews ist Herr Maaßen ein häufig gesehener Ge-sprächspartner. Im Innenausschuss des Bundestages hater sich dagegen schon lange nicht mehr blicken lassen.Ich ahne auch, warum. Schließlich sagt er ja selbst, dasswir hier im Parlament nur die Arbeit seiner Behörde er-schweren würden. Ja was ist das denn für eine Haltung,liebe Kolleginnen und Kollegen?
Herr Schuster, Sie haben völlig recht: Das, was wirtun – mit zwölf Untersuchungsausschüssen, die gearbei-tet haben, ihre Arbeit abgeschlossen haben oder heutenoch an diesem Thema dran sind –, ist in der Tat histo-risch. Aber angesichts dieser Haltung des Behördenleiterseiner Verfassungsschutzbehörde ist es doch kein Wunder,dass wir in dieser Logik bei der Aufklärung der Rolle desVerfassungsschutzes keinen Schritt weiterkommen.Die Bundeskanzlerin hat vor fast fünf Jahren rück-haltlose Aufklärung versprochen. Heute, am fünftenJahrestag des vorsätzlichen Aktenschredderns, erwarteich endlich ein unmissverständliches Wort der Kanzle-rin an den Verfassungsschutz, diese Blockadehaltungendlich aufzugeben und die Aufklärung nicht weiter zublockieren. Wir jedenfalls machen dieses Spiel auf Zeitnicht mit. Auch wenn die x-te Akte verspätet, gar nicht,geschwärzt, durcheinander oder nur teilweise geliefertwird oder wichtige Zeugen krank oder im Urlaub sind:Es dauert so lange, wie es dauert. Nicht abhaken, sondernvollständig aufklären und verändern – das muss das Zielsein.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Uli Grötsch für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!19 Monate intensive Aufklärungsarbeit, 107 vernom-mene Zeugen und Sachverständige in fast 350 StundenSitzungszeit, rund 12 000 als Beweismittel beigezoge-ne Akten: Für all das und noch viel mehr steht der ersteNSU-Untersuchungsausschuss, den der Bundestag imJanuar 2012 eingesetzt hat, für eine in der Geschichte desParlaments wohl einmalige Art der Aufklärung und derArbeitsweise. Und doch, Herr Schuster, der Ausschusshat damals deutlich gemacht, dass es sich auch um insti-Irene Mihalic
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tutionellen Rassismus handelte und nicht nur um Ermitt-lungspannen.
Der Untersuchungsausschuss wurde als Erster in derGeschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgrundeines gemeinsam formulierten Antrags aller Fraktionen –einstimmig – mit dem einen Ziel eingesetzt, eine lücken-lose, gründliche und vollständige Aufklärung staatlichenVersagens bei einer der schwersten Verbrechensserien zuerreichen, die dieses Land je gesehen hat – eine Verbre-chensserie, die uns alle angeht und deren Aufarbeitungandauert, bis heute. Denn die Taten, die die Opfer undihre Angehörigen unfassbares Leid haben erfahren las-sen, waren ein Anschlag auf uns alle, auf uns, für die esselbstverständlich ist, dass Deutschland ein weltoffenesund vielfältiges Land ist und bleibt.
Dieser Untersuchungsausschuss steht nicht nur fürden umfassenden Aufklärungswillen, sondern auch für47 Handlungsempfehlungen. Diese 47 Empfehlungensind die Botschaft über die rund 1 300 Seiten Abschluss-bericht hinaus. Eine derartige Verharmlosung der Gefahraus dem rechtsextremen Lager und das multiple Versa-gen von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, Politik, vonMedien und Gesellschaft dürfen sich niemals wiederho-len, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wo stehen wir heute, gut fünf Jahre nachdem sichdie rechtsextreme Terrorgruppe NSU selbst enttarnthat? Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir uns insbe-sondere für eine bessere Schulung und Sensibilisierungvon Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Sicherheits-behörden eingesetzt. Wir haben die notwendige Reformdes Bundesamtes für Verfassungsschutz in Gang gesetztsowie klarere und strengere Regeln für die Anwerbungund Führung von V-Personen und die Ausweitung derparlamentarischen Kontrolle erreicht. Dabei war es unsauch wichtig, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürgerin funktionierende Sicherheitsbehörden wiederherzustel-len.Außerdem haben wir zentrale Vorgaben mit Blick aufden Einsatz von Vertrauenspersonen in den Sicherheits-behörden aufgegriffen. Klare gesetzliche Regelungenhaben wir nun nicht nur hinsichtlich der Bezeichnungmenschlicher Quellen. Wir haben diese darüber hinausauch mit Blick auf deren Auswahl, Führung und derenBefugnisse. Mit dem Gemeinsamen Extremismus- undTerrorismusabwehrzentrum etwa haben wir eine wichti-ge Plattform für den Informationsaustausch geschaffen.Innerhalb des Verfassungsschutzverbundes bilden dieInbetriebnahme eines runderneuerten nachrichtendienst-lichen Informationssystems und dessen kontinuierli-che Weiterentwicklung einen wichtigen Schritt, um dieAnalyse- und Koordinierungsfähigkeit der Verfassungs-schutzbehörden fortlaufend zu verbessern.Darüber hinaus haben wir durch das Gesetz zur Ver-besserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus ne-ben dem Aufbau der Rechtsextremismusdatei auch dieVerarbeitung von Texten in NADIS-Verbunddateiendurch Einbezug des Bereichs rechtsextremistischer Be-strebungen erleichtert. Diese Ergänzung hat die Auswer-tungs- und Analysefähigkeit in diesem Bereich deutlichverbessert.Aber all diese gesetzgeberischen und technischenMaßnahmen können eines nicht ersetzen: Der vielbe-schworene Mentalitätswechsel, die Sensibilität für Ras-sismus und Menschenverachtung, ist und bleibt der zen-trale Hebel dafür, dass alle Menschen in Deutschlandwieder mehr Vertrauen in ausnahmslos alle Sicherheits-behörden in Deutschland haben. Ich spüre das Bemühender Sicherheitsbehörden bei meiner täglichen Arbeit imBundestag. Aber ich möchte an dieser Stelle schon auchsagen, dass ich es für utopisch halte, in Behörden mitTausenden von Mitarbeitern keine schwarzen Schafe zuhaben. Aber auch wenn es wie eine Utopie klingt: Dasmuss das Ziel sein. Diejenigen, die sich in den Sicher-heitsbehörden dafür einsetzen, die sich mit uns auf denWeg dahin gemacht haben, verdienen jede Unterstützungvon uns.
Auch wenn durch die Umsetzung der Empfehlungendes ersten NSU-Untersuchungsausschusses ein umfas-sender Reformprozess bei Polizei, Verfassungsschutzund Justiz im Bund und in den Ländern angestoßen wor-den ist, will ich an dieser Stelle gar nicht abstreiten, dasswir uns keinesfalls darauf ausruhen dürfen. Wir habenvielmehr noch ein gutes Stück der Wegstrecke vor uns.Dass wir noch lange nicht am Ende unserer Reformbe-strebungen angekommen sind, wird uns immer wiederin den Zeugenvernehmungen des zweiten NSU-Unter-suchungsausschusses vor Augen geführt. Wir merkenseit geraumer Zeit beinahe jeden Tag beim Lesen derZeitung, dass diese Notwendigkeit weiterhin besteht:Ein rechtsgesinnter „Reichsbürger“ erschießt einen Poli-zisten; ein katholischer Bischof bekommt Todesdrohun-gen, weil er einen muslimischen Bundespräsidenten fürvertretbar hält; 832 Angriffe gegen Flüchtlingsheime inDeutschland in den ersten zehn Monaten des Jahres 2016zählt das Bundeskriminalamt – nur drei vermeintlicheHöhepunkte der menschen- und demokratiefeindlichenZeit, in der wir offenbar leben.Weil bereits latent vorhandene rechtsextreme Einstel-lungen ein erhebliches Risiko für das friedliche Zusam-menleben in unserer Gesellschaft darstellen, haben wiruns als SPD-Bundestagsfraktion im Zusammenhang mitden Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsaus-schusses vehement dafür eingesetzt, die Zivilgesellschaftzu stärken und die Präventionsarbeit endlich zu verste-tigen
Uli Grötsch
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder mit den47 Handlungsempfehlungen des ersten Bundestagsunter-suchungsausschusses zu den Taten des selbsternanntenNationalsozialistischen Untergrunds noch mit unsereraktuellen Befassung im Nachfolgeausschuss kann dieseArbeit jemals abgeschlossen sein. Sie muss für uns alleeine Daueraufgabe sein. Ich darf in diesem Zusammen-hang an die Worte der Bundeskanzlerin erinnern, die imRahmen der Trauerfeier für die NSU-Opfer und derenAngehörige im Februar 2012 Folgendes sagte:Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkei-ten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damitsich so etwas nie wiederholen kann.Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wiruns messen lassen. Dies sind wir nach wie vor dem gan-zen Land schuldig, aber vor allem jenen, die meiner Mei-nung nach aktuell zu sehr im Hintergrund stehen, nämlichden Ermordeten Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru,Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik,Halit Yozgat, der getöteten Polizeibeamtin MichèleKiesewetter, dem schwerverletzten Kollegen, allen An-gehörigen der Opfer sowie den bei den Sprengstoffan-schlägen in Köln zum Teil schwer verletzten Menschen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Hoffmann
für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Pau, Frau Mihalic, einige Sachen sehe ich wirklichkomplett anders als Sie. – Das nur am Anfang.
Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in derDortmunder Nordstadt heimtückisch ermordet. Zu dieserZeit – jetzt werde ich mal persönlich – verrichtete ich alsPolizeibeamter meinen Dienst in dieser Stadt. Und wersich dort ein wenig auskennt, der weiß, dass der Tatort,der Kiosk der Kubasiks, auf der Mallinckrodtstraße liegtund diese Gegend als eher schwierig zu beurteilen ist.In die Ermittlungen zum Mord an Mehmet Kubasikwar ich nicht eingebunden. Aber ich kannte und kennealle Ermittler aus der damaligen Mordkommission. Je-der von ihnen war mit ganzem Herzen dabei und hat ver-sucht, diese schreckliche Tat aufzuklären, um den oderdie Täter zu ermitteln oder dingfest zu machen.Als am 14. Juni 2000 Michael Berger, ein Neonazi ausDortmund, auf der Flucht einen Kollegen erschoss, warich im Dienst. Mit meinem damaligen Partner und vielenanderen Kolleginnen und Kollegen verfolgten wir Bergerdurch Dortmund, Waltrop und einige andere Städte desRuhrgebiets. Im Bereich von Waltrop erschoss er zweiweitere Kollegen. Dann nahm er sich in einem Waldstückselbst das Leben.An dieser Stelle möchte ich an meine KollegenThomas Goretzky, Yvonne Hachtkemper und MatthiasLarisch von Woitowitz erinnern. Sie haben sich für un-sere Sicherheit eingesetzt. Sie verloren im Dienst ihr Le-ben. Es wurde ihnen von einem Wahnsinnigen genom-men.Ich möchte auch noch einmal an Mehmet Kubasik er-innern, dessen Familie bis heute nicht weiß, warum dieseirren Neonazis gerade den Ehemann, Vater und FreundMehmet Kubasik ermordet haben. In beiden Fällen wardas Opfer keine gezielt ausgesuchte Person. Bergerkannte die Polizisten nicht. Mundlos und Böhnhardt,von denen wir heute wissen, dass sie Mehmet Kubasikerschossen, kannten ihn nicht.Meine Damen und Herren, die Arbeit des erstenNSU-Untersuchungsausschusses war unheimlich wich-tig. Es waren viele Fragen offen; daran besteht gar keinZweifel. Das dürfen wir nicht verschweigen, und dasmachen wir ja auch nicht. Wir sind es den Hinterblie-benen und der Bevölkerung schuldig, die Geschehnisselückenlos aufzuklären; denn ich und wir alle – davon binich überzeugt – möchten, dass die Familien und Angehö-rigen der Opfer des NSU-Terrors Ruhe finden, endlich Ruhe finden. Ich möchte, dass sie wissen, dass wir als Staat und Gesellschaft alles tun, um diese grausamenTaten aufzuklären. Ich möchte, dass sie wissen, dass inDeutschland jedes Leben gleich viel wert ist, sei es daseines Polizisten oder das eines türkischen Kioskbesitzers.
Meine Damen und Herren, ich sage das hier auch des-halb so deutlich, weil unser Staat und seine Institutio-nen nicht fremdenfeindlich und nicht rechtsradikal sind.Wenn hier jemand meint, er könne die Taten des NSUmissbrauchen, um fragwürdige politische Ansichten zuverbreiten, so erteilen wir ihm hier gemeinsam eine Ab-sage.
Wer dem Staat pauschal und vielleicht auch aus poli-tischen Erwägungen heraus ohne jeden Nachweis ab-spricht, sich ernsthaft um die Aufklärung bemüht zu ha-ben, spielt den Extremisten in die Karten. – Sie ziehensich den Schuh ja möglicherweise an; ich weiß es nicht.Das haben Sie gerade gemacht.
Auch der NSU wollte den Staat treffen. Die Tatenrichten sich nicht nur gegen die Opfer, gegen Ausländerin Deutschland und Mitbürger mit Migrationsgeschich-te, sondern auch ausdrücklich gegen unseren Staat. DerMord an Michèle Kiesewetter, der versuchte Mord andem Polizisten Martin Arnold, meine drei von MichaelBerger ermordeten Kollegen, das waren gezielte Mor-Uli Grötsch
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de und keine Kollateralschäden. Die Terroristen hassenden Staat. Sie hassen, dass unser Staat jedem die gleicheHeimat gibt. Sie hassen, dass unserem Staat Ethnien undGlaubensrichtungen gleich sind. Sie hassen, dass unserStaat und seine Institutionen alle seine Bürger schütztund allen Freiheiten gewährt.Meine Damen und Herren, es ist wahr, dass unserStaat durch den NSU eine herbe Niederlage erlitten hat.Durch die Ergebnisse des ersten NSU-Untersuchungs-ausschusses wurden Schwachstellen erkannt, weil wireinvernehmlich und gut zusammengearbeitet haben, unddas machen wir jetzt auch im zweiten NSU-Untersu-chungsausschuss. Größtenteils wurden diese Schwach-stellen behoben. Wenige Lücken müssen wir noch schlie-ßen, und da sind wir dran.Die tatsächlich gemachten Fehler bei den Ermittlun-gen im NSU-Fall dürfen aber nicht dazu führen, dasswir denken, dass ganze Polizeibehörden, Staatsanwalt-schaften, Gerichte, Verfassungsschutzämter und sonstigestaatliche Institutionen über Jahrzehnte hinweg schlechtgearbeitet haben. Das ist definitiv nicht richtig. Das stimmt einfach nicht.Wir haben in Deutschland eine hervorragende Auf-klärungsquote, wenn es zum Beispiel um Kapitaldeliktegeht. Wir haben einen Verfassungsschutz, der auf recht-licher Grundlage immer wieder detailliert über die Ge-fahren von rechts und links und auch aus dem religiösmotivierten Extremismus berichtet. Wir sind doch jetztqualitativ an einer ganz anderen Stelle.
Gerade auch das Bundesamt für Verfassungsschutzhat in den letzten Wochen und Monaten sehr gute Erfol-ge vorzuweisen. Denken wir nur an die Zerschlagung desIS-Anwerbernetzes um Abu Walaa. Diese Erfolge sindeben auf diese veränderten Arbeitsweisen, die Verbesse-rungen in der Informationsstruktur und auf die sensibili-sierte Arbeitsweise zurückzuführen.Um dies leisten zu können – das zeigt doch die Ant-wort der Bundesregierung ganz klar –, brauchen wir auchund vor allem mehr Personal. Die Maßnahmen, die imRahmen des personell Möglichen und im Rahmen desZuständigkeitsbereichs der Bundesregierung vollstän-dig umgesetzt werden, verbessern die Arbeit der Ermitt-lungsbehörden weiter. Warum ist das wichtig? Zum ei-nen dürfen wir von unseren ausgebildeten Beamten imEinsatz nicht erwarten, dass sie die tägliche Arbeit wiezuvor leisten und zusätzlich noch zahlreiche Lehrgängeund Fortbildungen machen, wenn wir nicht durch zusätz-liches Personal Zeit dafür schaffen.Richtig und wichtig ist, dass dieses Personal ausdrü-cklich bei Menschen mit Migrationshintergrund gesuchtwird. Dass die Bundespolizei in die Zukunft denkt – dasmacht sie übrigens innovativ –, zeigt sich daran, dass siebei der Anwerbung von Nachwuchs verstärkt das Poten-zial der sozialen Medien nutzen wird.Zum anderen braucht es allerdings Zeit, bis sich Ver-änderungen durchsetzen. Wir können nicht erwarten undverlangen, dass sich alles von heute auf morgen ändert.Es braucht Zeit, bis sich Änderungen durchsetzen, bis siein Fleisch und Blut übergehen. Veränderungen müssenim Übrigen auch verarbeitet werden. Glauben Sie mir,ich weiß, wovon ich rede; schließlich habe ich selbst ein-mal dort gearbeitet.Wir können aber nicht beim Thema Personal stehen-bleiben, das dürfen wir auch nicht. Zur Verbesserung derStruktur haben wir mit dem Gemeinsamen Extremis-mus- und Terrorismusabwehrzentrum gegen Rechtsex-tremismus und Rechtsterrorismus ein hervorragendesInstrument zur Früherkennung von politisch motivier-ten Straftaten geschaffen. Mit dieser Einrichtung sindwir am Puls der Zeit; denn es ist nicht einfach nur eineneue Behörde, sondern es ist eine dauerhafte Kooperati-onsplattform von Bund und Ländern. Sie vereinfacht dieoft schwierigen und länderübergreifenden Ermittlungen.Denn wie in anderen Kriminalitätsbereichen gilt auchhier: Der Rechtsextremismus macht nicht vor Länder-grenzen halt.Die Einrichtung des Polizeilichen Informations- undAnalyseverbundes PIAV war deshalb notwendig. Es istgut, dass bis 2020 ein ambitionierter Ausbau von PIAVangedacht ist. Zugleich wird dadurch in den kommendenJahren auch der Informationsfluss weiter verbessert. Zei-ten und Ressourcen werden dadurch deutlich eingespart.Mit all diesen Maßnahmen wollen wir die Zusammen-arbeit der Polizeien der Länder, der Bundespolizei, desBKA und der Geheimdienste noch weiter verbessern.Dies ist der einzig richtige Weg, den größtmöglichenSchutz vor Verbrechen und insbesondere vor Hasskrimi-nalität zu gewähren.Ich komme zum Gesetzentwurf der Linken. Ich sagees von vornherein: Wir können ihm nicht zustimmen.
– Das haben Sie sich gedacht; das habe ich mir wiederumgedacht. – Wir können ihm nicht zustimmen, weil wirOpfer von Gewalttaten nicht belohnen wollen, sondernwir wollen die Straftaten im Vorfeld verhindern. Das istfür uns der richtige Ansatz. Dazu haben wir die richtigenMaßnahmen eingeleitet. Deswegen haben wir im Bun-deskriminalamt die „Task Force Gewaltdelikte“ und dieClearingstelle „Straftaten gegen Asylunterkünfte“ einge-richtet. Das ist der richtige Weg. Man braucht nicht ein-mal böse von Menschen zu denken, wenn man erwartet,dass diese versuchen würden, das von Ihnen angedachteGesetz zu missbrauchen. Deshalb müssen wir Ihren Ge-setzentwurf ablehnen.Ich bin der Überzeugung, dass wir in der Umsetzungder Empfehlungen des ersten Untersuchungsausschusseswirklich weit gekommen sind. Die Bundesregierung hathier ihre Aufgaben gemacht. Deshalb möchte ich an die-ser Stelle – das ging fast unter – herzlichen Dank sagenan alle ermittelnden Behörden, die uns tatkräftig bei derVerbrechensaufklärung unterstützen. Herzlichen Dankdafür an dieser Stelle.
Thorsten Hoffmann
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Ich möchte noch kurz auf die Länder zu sprechenkommen. Auch diese sind auf dem richtigen Weg. Ichbin zuversichtlich, dass auch hier zeitnah alle möglichenVerbesserungen umgesetzt werden. Wir sind nämlichnur im Verbund stark. Und wir leben – das darf man andieser Stelle ruhig einmal sagen – in einem der sichers-ten Länder der Welt. Wenn man bedenkt, dass in Caliin Kolumbien rund 1 600 Morde passieren und in ganzDeutschland mit knapp 81 Millionen Einwohnern – inAnführungszeichen; jeder ist zu viel – nur 282 Mordepassieren, dann zeigt das die Dimension. Wir wohnen ineinem der sichersten Länder der Welt. Darauf können wirstolz sein, und das dürfen wir ruhig auch mal sagen.Herzlichen Dank.
Der Kollege Frank Tempel spricht jetzt für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Seit gut anderthalb Jahren sitze ich im zweiten
Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU.
Im Abschlussbericht des ersten Untersuchungsausschus-
ses wurden Empfehlungen ausgesprochen, verfestigte
Einstellungen und Kurzsichtigkeit gegenüber rechtsex-
tremen und rassistischen Gewalttätern bei Polizei und
Gerichten zurückzudrängen.
Rechtlich wurde auch einiges gemacht. Es wurden
„rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschen-
verachtende“ Beweggründe und Ziele von Gewalttaten
ausdrücklich in den Katalog der Strafzumessungsumstän-
de aufgenommen. Diese sollen von Staatsanwaltschaft
und Gericht strafverschärfend berücksichtigt werden.
Doch was, Herr Schuster, sind solche Empfehlungen
wert, wenn es keinen Mentalitätswechsel bei den staat-
lichen Strukturen gibt? Empfehlungen alleine reichen
eben nicht;
Petra Pau hat das in ihrer Rede bereits angesprochen.
Als Kriminalbeamter aus Thüringen schaue ich natür-
lich ganz besonders auf die Polizei. Ich erinnere mich mit
Unbehagen an ein konkretes Beispiel aus dem jetzigen
Untersuchungsausschuss. Ich wohne nun einmal in der
Nähe von Zwickau, also der Stadt, in der das Mordtrio so
viele Jahre, völlig unbehelligt von den staatlichen Struk-
turen, untertauchen konnte, und ich weiß als Beobach-
ter von einer ausgeprägten rechtsextremen Szene, von
Nazikonzerten, von einem rechten Hooliganmilieu. Wir
durften eigentlich erwarten, dass bei verantwortungs-
voller Problemanalyse ganz besonders der zuständige
Dienststellenleiter der Kriminalpolizei diesen Schwer-
punkt kennt und beachtet. Mein Erstaunen war vor we-
nigen Monaten im Untersuchungsausschuss jedoch sehr
groß, als ich feststellen musste, wie gering das Wissen
des Zwickauer Kripochefs zur rechten Szene ist. Ich er-
innere an seine Antwort: Wir haben keine Schwerpunkt-
lage rechts.
Dieses Desinteresse findet sich nicht nur in der Polizei
von Zwickau, und es ist schon gar nicht ein rein poli-
zeiliches Problem; wir finden es auch beim Verfassungs-
schutz und bei der Justiz immer wieder.
Ich muss es leider sagen: Viele Polizeibeamte, nicht
alle, aber viele Polizeibeamte in den verschiedensten Be-
reichen, mit denen ich gerade in den letzten Wochen per-
sönlich gesprochen habe, sehen nach wie vor in Flücht-
lingen in erster Linie erst einmal potenzielle Straftäter,
nicht Opfer.
– Das ist tatsächlich so. In ganz vielen persönlichen Ge-
sprächen war das immer wieder die Antwort.
Von Rechtsextremisten werden augenscheinlich in
erster Linie Linke, die Zivilgesellschaft und Menschen
mit Migrationshintergrund bedroht. Viele Bürger, auch
Polizeibeamte, fühlen sich davon selbst nicht betroffen.
Sie haben keinen Blick dafür. Ich unterstelle da nicht ein-
mal bösen Willen. Verzerrte Wahrnehmung kennen wir
aus der Psychologie; wir wenden das hier nur nicht an.
Wenn wirklich Vorurteile und verzerrte Wahrnehmun-
gen bei der Polizei abgebaut werden sollen, dann reichen
Empfehlungen nicht, dann liegt sehr viel Arbeit vor uns.
Ein parlamentarischer Polizeibeauftragter könnte, neben-
bei bemerkt, als Frühwarnsystem gegen solche Entwick-
lungen durchaus wirksam sein. Einseitige Wahrnehmung
entsteht nun einmal durch subjektive Wahrnehmungen
im Dienstalltag. Dem muss entgegengewirkt werden, um
wiederkehrende Schieflagen bei der Einschätzung rechts-
extremer Straftaten zu beseitigen.
Es ist falsch, wenn Innenminister de Maizière auf die
Aufforderung der Gewerkschaft der Polizei nach mehr
politischer Bildung in der Bundespolizei antwortet, po-
litische Bildung sei Privatpflicht der Beamten und nicht
von der Polizei zu leisten. Hier ist der Dienstherr gefragt,
meine Damen und Herren, und damit auch wir.
Danke schön.
Als Nächstes spricht die Kollegin Susann Rüthrich fürdie SPD.
Thorsten Hoffmann
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die rechtsextreme Terrorgruppe NSU hat zehnMenschen umgebracht, mit Bomben Menschen verletztund Banken überfallen. Davon wissen wir jetzt genau seitfünf Jahren.Aber sind das alte Geschichten? Na ja, eher nicht. Esgab über 800 Angriffe allein in diesem Jahr. Es wird imMoment Anklage gegen eine mutmaßliche Terrorgruppeaus Freital erhoben, die rassistische Überfälle umgesetzt,politische Gegner angegriffen, Angst verbreitet hat. Mit-glieder der Gruppe Oldschool Society sind angeklagt.Sie haben Angriffe auf Kirchen, Kindergärten und Ein-richtungen für Menschen mit Behinderungen geplant.Diese Angriffe wollten sie Musliminnen und Muslimenund politischen Gegnern in die Schuhe schieben, um ei-nen Krieg in Deutschland anzustacheln. Diese Gruppenkonnten Gott sei Dank daran gehindert werden, Men-schen zu töten. Ist das ein Beleg dafür, dass wir aus denFehlern im Zusammenhang mit dem NSU gelernt haben?Reagieren unsere Behörden schneller? Ich will es hoffen.Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt beimir ein flaues Gefühl. Wie würden wir reagieren, wenn diese Taten nicht von rechten Menschenfeinden geplantworden wären, sondern etwa von Islamisten? Wie wür-den wir reagieren, wären Kirchen oder Kindergärten vondenen bedroht worden, wären Bomben in Freital vom ISgelegt worden, wären in diesem Jahr 800 weiße Deut-sche aus Hass angegriffen worden? Meine Vermutungist: Dieses Land würde kopfstehen, und zwar völlig zuRecht. Das wäre in Politik und Medien das Topthema.Wir würden es als das erkennen und benennen, was esist: als Terror.
Dieser rechte Terror sendet eine Botschaft an die ehschon oft an den Rand gedrängten Gruppen: Ihr seid hiernicht sicher. Geht! – Aber wir fühlen uns viel zu oft nichtangegriffen, sondern das sind Menschen, die zu viele vonuns für „andere“ halten. Genau das ist das Problem.Die Taten des NSU können wir nicht rückgängig ma-chen. Wir können die Toten nicht lebendig machen, ge-nauso wenig wie die vielen anderen Opfer rechtsextremerGewalt. Was wir aber den Opfern, den Angehörigen undFreunden schuldig sind, ist, aus den Taten zu lernen. Wirmögen seit der Selbstenttarnung des NSU aufmerksamergeworden sein und vieles verändert haben, wir mögenauch vieles aufgeklärt haben: Aber haben wir bereits ge-nug getan? Ich denke: nein.Ich nenne zwei Bereiche, in denen ich noch Hand-lungsbedarf sehe. Zum einen sehe ich ihn bei der Stär-kung der Zivilgesellschaft; dies ist eine der Handlungs-empfehlungen. Denn was den NSU zu einer solchenTragödie gemacht hat, ist aus meiner Sicht, dass nichtnur die Behörden versagt haben, sondern wir alle. Diedafür nötige Haltung, um es zu erkennen, ist zu ändern.Dies fördern viele Vereine, viele Initiativen, viele Or-ganisationen mit seit Jahren wirksamer Aufklärung undBildung quer durch die Republik. Betroffene rechterGewalt können sich an Opferberatungen wenden. Damitwurden unverzichtbare Strukturen geschaffen, um nacheinem Angriff handlungsfähig zu sein. Zum Glück wirdder Wert all dieses Engagements zunehmend verstandenund anerkannt. Wir sagen dafür Danke.
Demokratieförderprogramme gehören deswegen auchfür uns mittlerweile zum Repertoire, um gegen men-schenverachtende Gewalt vorzugehen. Das ist selbstver-ständlich. Wir werden die Mittel allein für das Programm„Demokratie leben!“ in diesem Jahr von 50 MillionenEuro auf 100 Millionen Euro verdoppeln. Damit ist einewesentliche Forderung aus dem NSU-Abschlussberichterfüllt. Das ist auch nötig; denn wir wissen mittlerwei-le, was funktionieren kann. Vieles ist vor Ort entstanden.Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass das, was in Kom-mune A funktioniert, auch in die Gemeinde B übertragenwerden kann, und zwar ohne dass Kommune A aus derFörderung fällt, weil kein Geld mehr da ist. Außerdemsind die Bedrohungen der Demokratie vielfältig, undneue Phänomene entstehen. Darauf müssen wir reagie-ren können, und zwar nicht auf Kosten des Bewährten.Viele der Träger klagen seit Jahren darüber, dass eineDaueraufgabe in zeitlich begrenzte Projekte gepresstwerden muss. Beratungsarbeit, Bildungsarbeit, Demo-kratieentwicklung, Radikalisierungsprävention – dasalles ist Beziehungsarbeit. Vertrauen zwischen den Men-schen und zwischen den Gruppen muss wachsen können.Daueraufgaben müssen daher dauerhaft gefördert wer-den.
Der nächste Schritt muss also noch in dieser Le-gislaturperiode eine gesetzliche Lösung sein: ein De-mokratiefördergesetz. Das haben wir einstimmig imNSU-Abschlussbericht bestätigt, und das steht auch imKoalitionsvertrag. Also machen wir das jetzt bitte auch.Ein weiterer Punkt wurde am Fall NSU deutlich, under ist bis heute problematisch. Es geht mir um die Op-fer und Betroffenen von rassistischer Gewalt nach einemAngriff. Viele Punkte im Abschlussbericht beziehen sichauf einen angemesseneren Umgang mit den Opfern undHinterbliebenen. Eines aber bleibt offen – das wurde imGesetzentwurf der Linksfraktion erwähnt –: die Frage,ob die Menschen, die angegriffen wurden, oder die Hin-terbliebenen, wenn es denn zum Strafprozess kommt,überhaupt noch in unserem Land sind, überhaupt nochhierbleiben dürfen. Es geht also um die Frage, ob einHeilen der oftmals auch unsichtbaren Wunden überhauptmöglich ist, wenn die Bleibeperspektive unsicher ist. Dasist tatsächlich ein Problem. Zum Teil wird die Bleibeper-spektive genau durch den Angriff erst genommen. Wennetwa eine eigenständige Existenzgrundlage Vorausset-zung für ein Bleiberecht ist und genau diese durch denAngriff zerstört wurde, dann drängen wir Opfer leiderwieder an den Rand. Wie oft geschieht das, ohne dass
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eine so engagierte Ombudsfrau wie Frau John im Fall derNSU-Hinterbliebenen darauf hinweisen kann?Der Verband der Beratungsstellen für Betroffenerechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt machtin einem Papier, das mich gestern erreicht hat, auf ge-nau diese Frage der Bleibeperspektive aufmerksam. All-zu oft sind diejenigen, die in einem Strafprozess gegeneinen rassistisch motivierten Täter aussagen könnten,zum Zeitpunkt des Prozesses bereits zur „freiwilligen“Ausreise bewegt oder abgeschoben worden. Die strafpro-zessualen Rechte der Betroffenen können so nicht mehrverwirklicht werden. Die Verurteilung des Täters wirdmassiv beeinträchtigt.Ich weiß nicht, ob dieses Problem über das Aufent-haltsrecht zu lösen ist, wie Sie es vorschlagen. Straf-rechtliche Probleme über das Aufenthaltsrecht zu lösen,erscheint mir zumindest fragwürdig. Man kann die Situ-ation aber auch nicht so belassen, wie sie ist. Es geht da-rum, Schlagkraft durch die so oft erwähnte ganze Härtedes Rechtsstaates gegen die Täter zu entfalten. Deswe-gen brauchen wir mindestens eine Regelung, die Opfernrechter Gewalt zusichert, dass sie während des laufendenStrafverfahrens hierbleiben können. Es muss das klareSignal an Täter und potenzielle Täter geben: Ihr erreichteuer Ziel nicht! Eure Gewalt wird bestraft!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn bereitsviel erreicht wurde, haben wir noch viel zu tun. Immernoch werden Menschen wie ich am Bahnhof so gut wienie kontrolliert, Menschen mit dunklem Bart oder Kopf-tuch aber schon eher. Dieses Racial Profiling ist nicht in Ordnung. Immer noch wird bei Hakenkreuzschmie-rereien, zum Beispiel bei einem Angriff auf ein Bürger-büro, nach einem Beleg für eine rechtsmotivierte Straftatgesucht, als wenn nicht die Tat an sich das Bekenntniswäre. Immer noch werden Menschen, die angegriffenwurden, im Anschluss gefragt, wie sie die Nazis dennprovoziert hätten, worauf sie sie angegriffen haben. Teil-weise werden Jugendliche, die sich zum Zwecke der Ge-walt zusammentun, auch als eventorientierte Jugendlichebezeichnet.
Nein, es ist nicht erst dann jemand wirklich rechts,wenn er den Staat angreift. Nazis und Rassisten grei-fen Menschen an. Deren Würde ist durch Artikel 1 desGrundgesetzes geschützt. Da sie geschützt ist, müssenwir jeden einzelnen Menschen gleich schützen.
Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit.
Solange sich nicht alle Menschen durch Gesetze und
Strukturen gleich geschützt fühlen, müssen wir weiter
vermuten, dass es institutionellen Rassismus gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, denen, die ich ges-
tern im Untersuchungsausschuss gesehen habe, muss ich
nicht erklären, warum ich das so betone: Unsere Aufgabe
ist es, nicht nur staatliche Institutionen zu schützen, son-
dern Menschen.
Vielen Dank.
Als Nächste spricht die Kollegin Monika Lazar für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU sind nochimmer viele Fragen unbeantwortet. Wurde seitdem genü-gend dafür getan, um rechten Terror künftig zu verhin-dern? Was hat sich seitdem in den Behörden und unsererGesellschaft verändert?Positiv ist, dass die Sensibilität für rechte Gewalt anvielen Stellen gewachsen ist. Die mediale Berichterstat-tung über Rassismus und Gewalt erfolgt kontinuierlicherals noch vor einigen Jahren. Strukturen gegen rechtswerden solider gefördert, auch wenn im Detail weiterhinLuft nach oben ist. Dennoch ist die Gefahr nicht gebannt.Im Gegenteil: Die aktuellen Entwicklungen geben An-lass zur Sorge.2015 stieg die Zahl rechter Gewalttaten laut BKA ummehr als 44 Prozent auf 1 485 Fälle. Die Dunkelziffer isthöher, wie Erhebungen aus der Zivilgesellschaft belegen.Neonazis schlagen immer brutaler zu. Bis Anfang Okto-ber dieses Jahres gab es bereits elf versuchte Tötungs-delikte und damit vier mehr als im gesamten Jahr 2015.Mehrere Delikte richteten sich gegen Geflüchtete und Migranten, die zu den Hauptzielen rechter Attacken ge-hören.Die Brutalisierung und Häufung rassistischer Gewaltkommt aus einer Gesellschaft heraus, in der die Abwer-tung bestimmter Menschengruppen zunehmend salon-fähig erscheint. Im Juni wurden mit der aktuellen „Mit-te“-Studie wieder alarmierende Ergebnisse präsentiert.Demnach hat eine deutliche Radikalisierung stattgefun-den, vor allem in Bezug auf Asylsuchende, Muslimesowie Sinti und Roma. Ein zentraler Befund der Studieist die enthemmte Gewalt in den zu Rechtsextremismusneigenden Milieus. Diese haben in AfD und Pegida einepolitische Heimat gefunden, sodass sie massiver und or-ganisierter auftreten können.Susann Rüthrich
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Wenn rechter Terror künftig verhindert werden soll,müssen rechtsstaatliche Möglichkeiten konsequent aus-geschöpft werden.
Ebenso brauchen wir wirksame Maßnahmen zum Schutzder Menschengruppen, die besonders von Abwertungbetroffen sind. Ein strukturierter Dialog zwischen staat-lichen Behörden und zivilgesellschaftlichen Initiativenzur Bekämpfung von Rassismus und Gewalt gehört zuden Maßnahmen, die die Bundesregierung fördern sollte.Aber es gehört auch unsere gesamte Gesellschaft in denBlick. Rassistischer Hass und Gewalt gehen uns alle an,nicht nur die direkt davon Betroffenen.Die diesjährige Friedenspreisträgerin des DeutschenBuchhandels Carolin Emcke sagte darüber in ihrer Dan-kesrede – ich zitiere –:Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nichtnur diejenigen, die er sich zum Opfer sucht, sondernalle, die in einer offenen, demokratischen Gesell-schaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen,Reinen, Völkischen verengt die Welt. … Es versiehtdie einen mit wertvollen Etiketten und Assoziatio-nen und die anderen mit abwertenden.Wer in einer so engen Gesellschaft nicht leben will, mussaktiv gegensteuern.Um Taten wie die des NSU zu verhindern, muss vielgetan werden; aber es genügen nicht Überwachung undRepression. Notwendig sind außerdem die Stärkung derzivilgesellschaftlichen Kräfte, die eindeutige Distanzie-rung von rechtspopulistischen Diskursen sowie eine le-bensnahe Vermittlung unserer demokratischen Werte undpolitischer Bildung.Danke.
Ich möchte auch Dankeschön für die vorbildliche Ein-
haltung der Redezeit sagen.
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSUhaben wir heute eine gute Gelegenheit, über die Aufar-beitung und die Konsequenzen dieser Mordserie zu spre-chen. Die Kernfrage ist, ob der Rechtsstaat, dem wir indiesem Lande den Begriff „wehrhafter Rechtsstaat“ zu-billigen, sich als wehrhaft und lernend erwiesen hat. DieFrage ist also: Haben wir das Versprechen dieses Staates,zur Aufklärung beizutragen, eingehalten oder nicht?Der Ausgangspunkt ist die Fassungslosigkeit und dasEntsetzen des Staates, aber auch der Zivilgesellschaftüber diese beispiellose Mordserie. Die Aufklärung hatzwei wichtige Komponenten: Wir müssen und sollenwissen, was passiert ist, nicht im Sinne einer historischrichtigen Geschichtsschreibung, sondern wir sind es denOpfern und ihren Angehörigen schuldig, dass sie wissen,warum sie Opfer geworden sind und was die Beweggrün-de für diese Taten waren. Aber der Staat hat auch zu ler-nen, damit er zukünftig Gefahren besser erkennen kannund durch diese Erkenntnis der Gefahren neue Mordse-rien möglicherweise verhindern kann. Das ist unser Auf-trag.Wo stehen wir heute? Wir haben einen Blick auf diegesamtstaatliche Aufklärungsarbeit zu werfen. In Mün-chen geht der NSU-Prozess mittlerweile über 300 Ver-handlungstage. Insgesamt zwölf Parlamentarische Un-tersuchungsausschüsse in sieben Ländern und zwei imBund haben zur Aufklärung beigetragen. Ich will heuteaber auch nicht verschweigen, dass es eine große gesell-schaftliche Beschäftigung mit dem Thema NSU gibt: imBereich Kunst und Kultur, durch Filme und Theaterstü-cke, aber auch durch das Engagement der Bürgergesell-schaft. Auch das sollten wir an dieser Stelle würdigen.Bürger des ganzen Landes fragen sich, wie das passierenkonnte.
Wir haben uns die Frage zu stellen, wie weit wir ge-kommen sind. Der Blick geht dabei zunächst auf dieEmpfehlungen des ersten Untersuchungsausschusses desDeutschen Bundestages. Dieser hat insgesamt 47 Emp-fehlungen abgegeben. Die Empfehlungen sind breit ge-fächert. Sie betreffen Fragen der Sensibilisierung der Be-hörden für rassistische und rechtsextremistische Gewalt.Es geht um Fragen des Datenaustausches, um stärkereBefugnisse und, ja, auch um die Änderung unseres Straf-rechts. Wir haben heute festzustellen – darauf kann dieserBundestag stolz sein –, dass praktisch alle Empfehlungenumgesetzt sind.
Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, wie wirzu der tatsächlichen Aufklärung stehen. Ja, es sind nochFragen offen. Wir haben bislang nicht auf alle Vorkomm-nisse Antworten gefunden, die uns zufriedenstellen. Abermöglicherweise müssen wir auch akzeptieren – selbstwenn wir es nicht akzeptieren wollen, weil wir innerlichdagegen sind –, dass vielleicht manche Fragen ungeklärtbleiben werden, weil es nicht mehr menschenmöglichist, sie aufzuklären. Trotzdem kann ich heute sagen: Wasdieser Staat an Aufklärung geleistet hat, das ist historischund beispiellos. Diese Aufklärung beweist eine starke in-nere Kraft unseres Staates, daraus zu lernen und es fürdie Zukunft besser zu machen.
Wir benötigen auch weiterhin eine wehrhafte Demo-kratie und einen starken Rechtsstaat; denn die Feinde un-serer Verfassung und eines friedlichen Zusammenlebens,Monika Lazar
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die Feinde desjenigen, der anders aussieht oder eine ande-re Herkunft hat, und die, die nicht akzeptieren möchten,wie wir leben, werden sicherlich nicht ruhen. Deswegenmuss dieser Staat konsequent gegen Verfassungsfeindejeglicher Couleur vorgehen: gegen Rechtsextremisten,Linksextremisten und gegen den islamistischen Terror.Dafür brauchen wir die entsprechenden Handlungsmög-lichkeiten des Staates.Wir brauchen weiterhin einen starken Verfassungs-schutz, und wir brauchen auch V-Leute in einem rich-tigen rechtlichen Rahmen, damit wir erkennen können,was passiert. Wer V-Leute abschaffen möchte und denVerfassungsschutz schwächt, der wird am Ende des Ta-ges auch dieses Land und seine Wehrhaftigkeit schwä-chen. Das können wir nicht zulassen.
Herr Kollege Dr. Ullrich, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Tempel?
Bitte.
Herr Dr. Volker Ullrich, vorhin hat der Kollege
Schuster gesagt, dass die Kollegin Pau hier teilweise an-
ders spricht als im Untersuchungsausschuss. Bei Ihnen
habe ich den Eindruck, dass Sie da komplett durchschla-
fen. Das gilt für die Sitzung des Untersuchungsausschus-
ses gestern genauso wie für die ganze Historie.
Sie verteidigen den Einsatz von V-Leuten gerade in
diesem Bereich. Gerade die VP-Führer des Verfassungs-
schutzes tun sich durchweg schwer, V-Leute überhaupt
als Extremisten einzuschätzen. Da kommt etwa als De-
finition, dass V-Leute, wenn sie mit den staatlichen Be-
hörden zusammenarbeiten, gar keine Extremisten sein
können. Es wird von „guten Jungs“ gesprochen, die
vielleicht etwas abenteuerlustig oder hibbelig sind. Wir
sehen aber im Gegensatz dazu, dass dort mit Menschen
gearbeitet wurde, die ganze Paletten von Straftaten be-
gangen haben und Gewalttäter waren, im Waffenhandel
tätig waren oder im Bereich gewalttätiger politisch moti-
vierter Straftaten aktiv waren. Das sind gerade die Leute,
von denen Sie eben hervorgehoben haben, wie wichtig
sie für das Sicherheitssystem sind. Wir vernehmen diese
Leute im Untersuchungsausschuss, und Sie bekommen
dort dieselben Antworten wie wir. Das sind die Leute,
die uns eine Gefahrenanalyse geben sollen und die die
rechtsextremen Strukturen aufklären und in ihrer Gefähr-
lichkeit einschätzen sollen.
Wenn Sie genauso wie wir die Antworten von diesen
Personen und von den Beamten des Verfassungsschutzes
im Untersuchungsausschuss hören, wie können Sie dann
ernsthaft den Einsatz der V-Leute und dieses System
rechtfertigen?
Herr Kollege Tempel, es ist gar keine Frage, dass imUmfeld der Terrorzelle NSU zahlreiche V-Leute undauch ihre V-Leute-Führung schwere Fehler gemacht ha-ben. Diese schweren Fehler hat der erste Untersuchungs-ausschuss aufgedeckt. Bei diesen Verfehlungen sind wirim zweiten Untersuchungsausschuss auch nicht stehengeblieben. Aber das Versagen Einzelner und fehlerhafteZusammenarbeit zwischen Behörden können nicht da-rüber hinwegtäuschen, dass wir insgesamt zur Aufrecht-erhaltung der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie diesesInstrument brauchen. V-Leute sind kein Selbstzweck.Vielmehr brauchen wir sie, damit wir Einblick in gefähr-liche Strukturen haben, in den rechtsterroristischen undden linksterroristischen Bereich, aber auch in den Be-reich des islamistischen Terrors. Ohne V-Leute wären wirweniger wehrhaft. Deswegen hat der Bundestag, HerrKollege Tempel, im letzten Jahr mit großer Mehrheiteine Reform des Bundesamtes für Verfassungsschutz be-schlossen und hat als Konsequenz aus dieser Mordserieund den Untersuchungsausschüssen wesentlich stärkereRestriktionen für V-Leute erlassen. Diese Beschränkun-gen funktionieren in der Praxis.
Nicht nur der Staat ist gefragt, sich für unsere freiheit-lich-demokratische Grundordnung einzusetzen. Vielmehrist jeder gefragt, an einem aktiven Eintreten für die Werteunseres Grundgesetzes, die körperliche Unversehrtheit,die Würde des Menschen und die Freiheit des Einzelnenteilzunehmen. Wir müssen außerdem in Bezug auf dieSprache sensibel sein. Kritik ist erlaubt. Meinungsfrei-heit ist ein hohes Gut. Wir müssen aber verhindern, dassdie Verrohung der Sprache in der Gesellschaft weiter umsich greift. Wir haben die Verpflichtung, uns dem entge-genzustellen. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen.Abschließend möchte ich zum Ausdruck bringen, dasswir uns, obwohl die unternommene Aufarbeitung nochnicht zu Ende ist, auf einem guten Weg befinden. Ich bit-te diejenigen, die sich mit diesem Thema befassen, unddie Angehörigen der Opfer, uns abzunehmen, dass unsereHaltung zu Aufklärung und Aufarbeitung als das gewer-tet werden kann, was sie ist, nämlich ein wichtiger Bei-trag, um unsere Verfassungsordnung, die Freiheit und dieWürde des Menschen noch stärker zu machen.Vielen Dank.
Dr. Volker Ullrich
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Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Aufenthaltsrecht für
Opfer rechter Gewalt. Der Innenausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10288,
den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 18/2492 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zustimmen
wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ab-
gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung von Ansprüchen ausländischer Personen
in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und
in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch So-
zialgesetzbuch
Drucksache 18/10211
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch
wird dagegen nicht erhoben. Dann ist das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin für die Bundesregierung der Parlamentarischen
Staatssekretärin Anette Kramme das Wort.
A
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir leben in besorgniserregenden Zeiten. Po-litiker mit nationalistischen Parolen erhalten Zulauf, undInstitutionen wie die Europäische Union, die für Völker-verständigung und für internationale Kooperation stehen,sind schwer unter Beschuss geraten. Deshalb gilt jetztmehr als jemals zuvor: Wir dürfen uns nicht aus Europazurückziehen. Wir dürfen nicht zurückfallen in Abschot-tung und Kleinstaaterei; denn der Rückzug auf das Natio-nale befördert Europa- und Ausländerfeindlichkeit.
Genau das wird uns fälschlicherweise vorgeworfen imZusammenhang mit den Regelungen zu Sozialleistungenfür Bürgerinnen und Bürger aus anderen EU-Staaten, diewir heute debattieren. Aber gerade das tun wir nicht, lie-be Kollegen und Kolleginnen. Im Gegenteil: Wir setzenauf Europa. Wir wollen, dass wir gemeinsam in Euro-pa zu Problemlösungen kommen, die für alle tragen. Esgeht uns um die Stärkung der europäischen Idee. DiesesZiel erreichen wir aber nur, indem wir die Akzeptanz derArbeitnehmerfreizügigkeit als eine der fundamentalenGrundlagen der Europäischen Union schützen, und dazudient die Klarstellung des Zusammenhangs von Arbeit-nehmerfreizügigkeit einerseits und Ansprüchen auf Sozi-alleistungen andererseits.Ich will hier noch einmal betonen: Durch das geplan-te Gesetz bekräftigen wir die Intention des europäischenGesetzgebers. Er stellt nämlich einen unmittelbaren Zu-sammenhang zwischen Arbeitnehmerfreizügigkeit undSozialleistungsansprüchen her. Die Kehrseite ist – darumgeht es hier –, dass klar sein muss, dass Personen, diekein Freizügigkeitsrecht und kein Aufenthaltsrecht auf-grund der Freizügigkeitsrichtlinie haben, diese Ansprü-che gegenüber dem deutschen Sozialstaat nicht haben.Gleichzeitig verlieren wir aber nicht aus dem Blick, wa-rum Menschen aus anderen EU-Staaten nach Deutsch-land kommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frieden und Wohl-stand sollte Europa bringen. Vor allen Dingen im Südendes Kontinents, aber nicht nur dort sehen wir, dass dasWohlstandsversprechen Europas brüchig geworden ist.Dieses Problem müssen wir angehen, gemeinsam in Eu-ropa. Dafür brauchen wir Handlungsfähigkeit, und zwardort, wo die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag be-troffen sind.Wir müssen zum einen glaubhaft und erfahrbar ma-chen, dass sich die Gemeinschaft als soziale Wertege-meinschaft versteht und nicht als bloße Wirtschaftsge-meinschaft.
Von der Politik der vergangenen Jahre haben eben nichtalle Menschen in Europa profitiert. Die Verbesserung so-zialer Standards stand ebenfalls nicht oben auf der Prio-ritätenliste. Die schwierige soziale Lage in einigen Mit-gliedstaaten verschärft die Armutsmigration innerhalbEuropas, und diese greift die Solidaritätsbereitschaft derZielländer an. Dem steuern wir mit unserem Gesetzent-wurf entgegen, indem wir klarstellen: Wer kommt, umhier zu arbeiten, genießt selbstverständlich die Arbeit-nehmerfreizügigkeit in Europa, mit den daraus folgendenAnsprüchen an Sozialversicherung und Sozialstaat. Werdagegen nur kommt, um hier höhere Sozialleistungen alsin einem anderen Staat zu erhalten, der hat keinen An-spruch darauf; denn die Antwort auf soziale Problemein Europa kann nicht mehr Armutsmigration sein. Dafürdürfen wir keine Anreize setzen. Das Ziel muss doch eineAnpassung der sozialen Mindeststandards nach obensein. Für den Aufbau einer europäischen Säule sozialerRechte, die ihren Namen verdient, lohnt es sich, zu strei-
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ten. Ich lade alle Kritiker ein, ihre Energie in den aktuel-len Diskussionsprozess einzubringen.
Ich bin überzeugt: Unsere Regelung dient dem sozi-alen Fortschritt in Europa. Zugleich gibt sie den Kom-munen Klarheit und Rechtssicherheit, und sie stärkt dieAkzeptanz für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn das Bundessozialgericht urteilt, dassEU-Bürgerinnen und -Bürger Anspruch auf Sozialleis-tungen haben, dann geht die Bundesregierung nicht etwadaran, dieses höchstrichterliche Urteil umzusetzen. Nein,Sie machen sich das ganz einfach: Sie verändern dieRechtslage. Ich frage Sie: Mit welchem Ziel? Doch ganzausdrücklich mit dem Ziel, dass EU-Bürgerinnen und-Bürger Deutschland wieder verlassen, wenn sie hier infinanzielle Nöte geraten. Ich sage Ihnen: Das ist unsozial.
Das heißt, das Grundrecht auf ein menschenwürdigesExistenzminimum wird geopfert. Frau Nahles macht denSeehofer und denkt, so bekommt sie die Wählerinnenund Wähler wieder zurück.
Ich sage Ihnen: Das funktioniert nicht.
Vor einigen Jahren hatte das Bundesverfassungsge-richt zum Asylbewerberleistungsgesetz zu urteilen.
– Hören Sie mir doch zu! Dann können Sie vielleichtnoch etwas lernen. – Damals sprach der Verfassungsrich-ter Ferdinand Kirchhof die denkwürdigen Worte an dieBundesregierung:Das Motto, ein bisschen hungern, dann gehen dieschon, könne es doch wohl nicht sein.Aber genau diesem Motto folgen Sie in dem vorliegen-den Gesetzentwurf ein weiteres Mal. Unsozialer geht eswirklich nicht, meine Damen und Herren!
Wahrscheinlich müssen wir ein weiteres Mal damitrechnen, dass das Gesetz, das Sie jetzt entworfen haben,vor dem Bundesverfassungsgericht oder sogar vor demEuropäischen Gerichtshof landet. Das ist schon beschä-mend genug. Schlimmer noch ist aber das Signal, das Siemit diesem Gesetz aussenden. Sie hauen damit genau indie Kerbe der Brexit-Befürworter in Großbritannien. Siebestätigen das Vorurteil, dass angeblich Hunderttausen-de nach Deutschland kommen wollen, um hier Sozial-leistungen abzukassieren. Sie bestätigen die verbreiteteWahrnehmung, dass die europäische Einigung im Inte-resse der Unternehmen vorangetrieben wird. Aber wennes um die kleinen Leute geht, die sich dort auf die Su-che nach Arbeit machen wollen, wo es wirtschaftlich gutläuft, dann ist Schluss mit der europäischen Idee. Dannzählen auf einmal wieder nationale Interessen.Die Brexit-Befürworter in Großbritannien haben ih-ren Solidaritätsschein für Europa verbrannt. Mit diesemGesetz gießen Sie Benzin in das gleiche Feuer. Das darfdoch wohl nicht wahr sein.
Wachen Sie endlich auf! Stellen Sie sich den sozialenVerpflichtungen, die ein zukunftsfähiges Europa mit sich bringt!Das menschenwürdige Existenzminimum ist imGrundgesetz festgeschrieben.
– Ich bin ja auch noch gar nicht fertig. – Es gilt für deut-sche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und ebenso fürausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die hier inDeutschland leben. Darüber sind wir alle uns doch wohleinig.Mit Ihrem Gesetz schließen Sie Tausende von EU-Bür-gerinnen und -Bürgern von jeder öffentlichen Hilfe aus.Diese EU-Bürger leben bereits hier. Sie leben hier, weilsie in ihren Heimatländern keine Perspektive für sich undihre Familien sehen. Diese Menschen werden aber auchnicht einfach abreisen, wie Sie es wollen. Wo sollen siedenn auch hin? Wenn Sie den Menschen alle Möglich-keiten und Perspektiven rauben, verrohen sie irgendwannund resignieren. Ich weiß nicht, ob Sie es merken: In die-sem Klima sind wir schon längst angekommen. Auch dieFolgen spüren wir. Wir spüren sie immer mehr und tag-täglich. Ich frage Sie: Können Sie das noch länger ver-antworten?
Die Kommunen haben zu Recht darauf hingewiesen,welche Kosten durch das BSG-Urteil auf sie zukämen.Viele Kommunen stehen finanziell bereits mit dem Rü-cken an der Wand. Das ist ein Problem, das wir alle ken-nen. Die Linke fordert: Die Gemeinden müssen endlichwieder genug Mittel an die Hand bekommen, damit sieihren Aufgaben wieder nachkommen können.
Sie wissen doch, wie in diesen Bereichen gekürzt wird.Mit Ihrem Gesetzentwurf nehmen Sie den Auslän-derfeinden und den Rechtspopulisten nicht den WindParl. Staatssekretärin Anette Kramme
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aus den Segeln, sondern, im Gegenteil, verschärfen dieSchlagseite des europäischen Einigungsprozesses. Wa-chen Sie endlich auf, ändern Sie den Kompass, oder Siefahren uns in einen Sturm hinein, in dem wir am Endealle als Schiffbrüchige enden werden.
Frau Kollegin Zimmermann, –
Meine Damen und Herren, sozial geht anders.
– gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Weiler, bevor Ihre Redezeit zu Ende ist?
Er kann ja auch eine Kurzintervention machen.
Sie gestatten also keine Zwischenfrage.
Nein. Ich bin jetzt fertig.
Ich will Ihnen nur noch einmal sagen: Sozial geht an-
ders, und sozial geht nur mit der Linken.
Danke.
Dann kommen wir zum Kollegen Dr. Martin Pätzold,
der als nächster Redner für die CDU/CSU spricht.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Die bisherige Debatte hat deutlich gemacht,dass es am Ende um die Frage geht, wie wir die sozialeWaage in Europa gestalten, wie wir sie ausbalancieren.Zur Freizügigkeit ist erst einmal festzustellen, dass sieeine große europäische Errungenschaft ist.
Es sind 4 Millionen EU-Ausländer, die sich in der Bun-desrepublik Deutschland aufhalten.
Von diesen sind 1,68 Millionen sozialversicherungs-pflichtig beschäftigt. Sie leisten mit ihrer Erwerbstätig-keit einen wichtigen, einen ganz entscheidenden Beitragzur wirtschaftlichen Dynamik, zur Entwicklung in unse-rem Land.
– Vielen Dank an die SPD! – Sie leisten damit einenBeitrag dazu, dass wir in der Bundesrepublik Deutsch-land heute eine Rekordbeschäftigung haben. In meinemBundesland Berlin sind insgesamt 73 000 EU-Ausländersozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie werden vor allen Dingen im Bereich der Kreativwirtschaft, in denStart-ups gebraucht und leisten hier ihren Beitrag zurwirtschaftlichen Entwicklung.Es gibt aber noch eine andere Seite. Das ist der Grund,warum wir dieses Gesetz in der Form heute hier diskutie-ren. Auch die Staatssekretärin hat sehr deutlich gemacht,was die Beweggründe sind. Wir diskutieren es deswe-gen, weil es auch 440 000 EU-Ausländer gibt, die überHartz IV, über aufstockenden Leistungen, Sozialleistun-gen in der Bundesrepublik Deutschland beziehen.
Es sind 46 000 Personen in meinem Bundesland Berlin.Daran sieht man, dass dieses Thema vor allen Dingen inBallungsgebieten eine große und bedeutende Rolle spielt.Laut meiner Kollegin Jutta Eckenbach aus Essen,mit der ich mich zu diesem Thema auch intensiv ausge-tauscht habe, gibt es auch dort Herausforderungen für dieKommunen, die wir gemeinsam gestalten und meisternmüssen. Das, was von Ihnen, Frau Zimmermann, ange-sprochen wurde, dass wir die Kommunen entlasten müs-sen, das machen wir mit diesem Gesetz.
Ein Viertel der Kosten, die da anfallen, werden bishervon den Kommunen getragen, und die werden in Zukunftnicht mehr anfallen. Ich sage Ihnen: Sie haben es richtigangesprochen. Wir setzen es auch um.
In Berlin erleben wir, dass es in einigen Bezirken,etwa in Neukölln oder Friedrichshain-Kreuzberg, zu ei-ner Ballung kommt, wodurch sich Probleme herausbil-den, die – das wurde von der Staatssekretärin angespro-chen – durchaus denen Raum geben, denen wir keinenRaum geben wollen. Deswegen müssen wir handeln, undwir handeln an dieser Stelle auch sehr sachlich und sehrabgewogen. Wir werden noch im Laufe dieser Debatte,in einer Anhörung im Ausschuss und in der weiteren par-lamentarischen Befassung herausarbeiten können, wenes an dieser Stelle betrifft und für welche Personen eskeine Änderungen gibt.Wir sind auch deswegen zum Handeln gezwungen,weil es diese beiden bekannten großen Fälle Alimano-vic und Dano gibt, in denen der Europäische Gerichtshoffestgestellt hat, dass es richtig ist, von SGB-II-Leistun-Sabine Zimmermann
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gen auszuschließen, dass es aber über einen verfestigtenAufenthalt dazu kommen kann und nach sechs Monatenmuss, dass die Kommunen unterstützen müssen, um dasExistenzminimum zu finanzieren.Deswegen regeln wir mit diesem Gesetzentwurf, dassPersonen, die nur zur Arbeitssuche nach Deutschlandkommen, in den ersten fünf Jahren von Sozialleistungennach dem SGB II oder SGB XII ausgeschlossen werden.Das ist eine sehr vernünftige und abgewogene Entschei-dung, auch wenn man bedenkt, dass wir für diejenigen,die schon da sind oder die mit großen Hoffnungen zu unskommen, einmalige Überbrückungsleistungen festset-zen.Diese sehr soziale Gesetzgebung hat das Ziel, für den-jenigen kurzfristig, nämlich innerhalb von vier Wochenund einmalig innerhalb von zwei Jahren, die Deckungder Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesund-heitspflege, die Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung sowie die Kosten für die notwendigen Arztbe-handlungen zu übernehmen. Das Wichtigste ist, diesenMenschen ein Darlehen zu geben, wenn es darum geht,in ihre Heimat zurückzugehen und sich wieder eine Per-spektive aufzubauen. Ich glaube, dass der Gesetzentwurf,den wir machen, sehr sozial und abgewogen ist. Es istrichtig, dass wir bestimmte Gruppen nicht einbeziehen.
Ich habe den Zwischenruf aus der Grünenfraktion vonvorhin über die aufstockenden Leistungen vernommen.Wir ändern – das ist vollkommen richtig – an dieser Stel-le nichts, weil es eben darum geht, dass Personen, die alsArbeitnehmer aus Europa, aus der Europäischen Union,vielleicht mit Familie, hierherkommen und arbeiten, wei-terhin eine Unterstützung bekommen, wenn die Bezah-lung im Beruf nicht auskömmlich ist.Worüber wir reden müssen – das sehen wir dezidiertanders als der Koalitionspartner, da gibt es inhaltlichdurchaus andere Auffassungen –, ist die Frage: Wie gehtman mit Selbstständigen um? Ich spreche von Selbststän-digen, die aus Griechenland, Spanien oder Italien nachDeutschland kommen, hier aufstockende Leistungen be-antragen und deren Gewinnabsicht nicht immer so klarist.
Die Frage ist: Gibt es in diesem Sinne eine Selbstständig-keit? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir nochviel stärker die Unterstützung der Behörden und auch dieMöglichkeit, zu überprüfen, ob eine Selbstständigkeitmit dem Ziel einer Gewinnabsicht vorliegt.Abschließend die Frage: Warum machen wir diesenGesetzentwurf? Erstens. Wir wollen unser Sozialsys-tem vor Missbrauch schützen. Zweitens. Wir stellenfest und klar – dabei geht es um Rechtssicherheit –, weranspruchsberechtigt ist und wer vor allen Dingen nichtanspruchsberechtigt ist. Drittens. Es gilt dann nach fünfJahren der Grundsatz „Fordern und Fördern“. Ich glaube,das ist eine richtige und gute Ableitung aus diesem Ge-setzesvorschlag.Wir freuen uns auf die Debatte und leisten damit un-seren Beitrag dafür, dass Europa, so wie es die Staatsse-kretärin gesagt hat, sozialer wird und die Regeln klarerwerden. Wir lassen nicht zu, dass Populisten die Ober-hand gewinnen.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bünd-nis 90/Die Grünen, spricht als Nächster.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einsoziales Europa ist dringender denn je notwendig. DerZusammenhalt zwischen den Ländern und den Men-schen in Europa ist gefährdet. Nach der Wahl in Amerikain dieser Woche ist es vielleicht noch wichtiger, die euro-päische Einheit zu stärken und das soziale Europa starkzu machen.
Es ist wichtig, dass das nicht nur in Sonntagsredenund in Gastbeiträgen passiert, sondern dass dem auch Ta-ten folgen. Es ist schon ziemlich scheinheilig, dass dieMinisterin an dem Tag, an dem dieser Gesetzentwurf imBundeskabinett beschlossen wurde, einen Gastbeitragfür die FAZ geschrieben hat, in dem sie für einen stärke-ren sozialen Zusammenhalt in Europa plädiert hat; denndieser Gesetzentwurf ist das genaue Gegenteil.
Er setzt europapolitisch ein völlig falsches Signal. Er istsozialpolitisch verfehlt, und er erschwert die notwendigeIntegration vor Ort. Ausbaden vor Ort müssen das letzt-endlich die Kommunen. Deswegen ist Ihr Vorschlag fürdie Kommunen nur eine Scheinlösung.Einig sind wir uns darin, dass es Handlungsbedarfgibt. Es gibt das Urteil des Bundessozialgerichts. Es stelltauch keine gute Lösung dar, weil es keine Rechtsklarheitschafft. Dafür sind wir als Gesetzgeber verantwortlich.Es ist auch keine Lösung, zu sagen: Die Menschen sollen,um ihr Existenzminimum zu sichern, was ein Grundrechtist – da hat die Kollegin Zimmermann völlig recht –, So-zialhilfe beziehen können. Sozialhilfe ist keine Leistungfür erwerbsfähige Menschen, und sie muss komplett vonden Kommunen bezahlt werden. Das ist keine gute Lö-sung, da besteht Handlungsbedarf.
Es besteht aus einem zweiten Grund Handlungsbe-darf, nämlich aufgrund der sozialen Situation vor Ort.Dr. Martin Pätzold
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Mein Wahlkreis ist Offenbach. Offenbach ist die Stadtmit dem höchsten Anteil an Bulgaren und Rumänenin ganz Deutschland. Man kann bei mir vor Ort sehen,welche Folgen es hat, wenn Menschen keine sozialeAbsicherung haben. Von irgendetwas müssen sie leben.Sonst leben sie in teilweise unwürdigen Verhältnissen. InFrankfurt gibt es ein Zeltcamp, in dem fast slumartigeZustände herrschen. In Offenbach müssen manche Men-schen in Schrottimmobilien wohnen; andere suchen aufanderen Wegen nach Geld, durch illegale Tätigkeiten wieSchwarzarbeit oder schlimmere Aktivitäten. Wir brau-chen soziale Unterstützung, um den Menschen zu hel-fen, integriert zu werden. Sie dürfen nicht ausgegrenztwerden, sondern müssen möglichst schnell Teil dieserGesellschaft werden und eine echte Chance auf dem Ar-beitsmarkt bekommen.
Unser Vorschlag, unsere Alternative ist: Weil wir dafürsorgen müssen, dass die Menschen eine Chance auf demArbeitsmarkt bekommen, sollten sie Leistungen nachdem Sozialgesetzbuch II, vulgo Hartz IV, bekommen.Denn dann hätten sie eine Unterstützung, was Sozialleis-tungen, finanzielle Leistungen und Arbeitsmarktintegra-tionsleistungen angeht. Wir sagen: Nach drei Monatensoll es die Möglichkeit geben, Hartz IV zu beantragen.Wenn die Betroffenen wirklich nach Arbeit suchen undeine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, dann müssensie unterstützt werden.
Wir sagen auch, dass in Einzelfällen – aber nur inEinzelfällen –, wenn nachgewiesen wird, dass die Men-schen gar nicht nach Arbeit suchen oder dass sie trotzaller Bemühungen der Jobcenter keine Chance auf demArbeitsmarkt haben, die Leistung wieder entfallen kann,weil dann auch das Recht auf Freizügigkeit entfällt. Aberdies soll im Einzelfall entschieden werden und nicht einepauschale Diskriminierung darstellen, wie Sie sie in Ih-rem Gesetzentwurf vorsehen; auch das ist uns wichtig.Natürlich muss man auf EU-Ebene endlich dafür sor-gen, dass die Menschen nicht aus finanzieller Not zu uns kommen. Auch da – die Staatssekretärin hat das ebenzwar erwähnt – fehlen noch Aktivitäten auf bundespoliti-scher Ebene. Es gibt noch keine Stellungnahme der Bun-desregierung zur Säule sozialer Rechte. Hier müssen wiraber ansetzen. Wir müssen eine Mindesteinkommens-richtlinie haben, damit es überall angemessene Grund-sicherungssysteme gibt und die Menschen überall inEuropa vor Armut geschützt werden. Wir brauchen auchMindeststandards bei den sozialen Sicherungssystemen,um zu verhindern, dass Menschen aus finanzieller Not auswandern und ihr Land verlassen.
Wenn die Menschen aber zu uns kommen, dann müs-sen wir sie unterstützen – und zwar besser als bisher –und den pauschalen Ausschluss, den es jetzt im SGB IIgibt, abschaffen. Wir brauchen eine bessere soziale Absi-cherung der Freizügigkeit. Wir brauchen mehr und nichtweniger soziales Europa.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt
für die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frei-zügigkeit innerhalb der EU ist zunächst einmal daran ge-bunden, dass man seinen Lebensunterhalt selbstständigbestreiten kann und möchte, und das ist auch richtig so.
Sozialleistungen erhält dann, wer Rechte aus Arbeit undaufgrund von Sozialbeiträgen erworben hat. Ich glau-be, so ist das Gerechtigkeitsempfinden der allermeisten Menschen. Jeder und jede, egal aus welchem EU-Land,der oder die in einem anderen Land arbeitet, sich fürlängere Zeit dort niederlässt und dort seinen oder ihrenBeitrag leistet, muss die gleichen sozialen Rechte haben.Die Arbeitsnehmerfreizügigkeit ist eine der größten Er-rungenschaften der EU.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer noch – ob-wohl die Sensibilität für soziale Fragen in der EU zu-nimmt – ist das Wohlstandsgefälle sehr groß. Immernoch sind in verschiedenen Ländern die nationalen sozi-alen Sicherungssysteme unzureichend. Immer noch wer-den Minderheitenrechte, zum Beispiel die der Sinti undRoma, nicht geachtet und vonseiten der EU mit zu wenigNachdruck durchgesetzt. Das führt zu Wanderungsbewe-gungen, nicht nur aufgrund von Arbeit und Arbeitssuche.Der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschus-ses „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der In-anspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durchAngehörige der EU-Mitgliedstaaten“ – ein schöner Ti-tel – stellte fest: Die Zuwanderung aus anderen EU-Staa-ten nach Deutschland hat zugenommen. Der sogenann-te Sozialmissbrauch ist aber gering. Ganz überwiegendprofitieren wir von der Zuwanderung, müssen aber auch mit den sozialen Problemen und Spannungen umgehen,wie sie in einigen Städten Deutschlands entstanden sind.Wir haben damals die Unterstützung für diese Städte ver-stärkt. Das war auch gut so; denn Integration ist die besteAntwort auf Zuwanderung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20039
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns mit dem Gesetzentwurf in einem Spannungsverhältnis zwi-schen dem Recht auf Existenzsicherung für jeden Men-schen, der sich in Deutschland aufhält, und der Kontrolledarüber, wer sich aus welchem Grund rechtmäßig odernicht rechtmäßig bei uns aufhält. Ich bin dem Ministe-rium dankbar dafür, dass es gerade nach den verschie-denen Urteilen zu dieser Frage mit diesem Gesetz eineKlarstellung herbeiführen möchte.Dennoch bleiben für uns einige Fragen offen: Wie ge-nau und mit welchem Verfahren unterscheide ich Wande-rung zur Arbeitssuche oder Wanderung allein zur Inan-spruchnahme von Sozialleistungen?
Wie gehen wir mit Härtefällen um? Was passiert zumBeispiel, wenn sich eine Frau von ihrem Mann trenntoder trennen muss, aber beide noch keine fünf Jahre inDeutschland waren? Was ist zukünftig der Status ihrerKinder, die hier in die Schule gehen oder eine Ausbil-dung machen? In welchem Verhältnis steht das Gesetzzur EU-Verordnung zu Wanderarbeitern? Wie wirkensich Unterbrechungen des Aufenthalts auf die Fünfjah-resfrist aus?Es sind also noch einige Fragen offen, die wir imGesetzgebungsprozess zu beantworten haben. Ich freuemich auf eine gute und konstruktive Debatte.Glück auf!
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Stephan
Stracke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Deutschland hat sich für viele Menschen zum Sehn-suchtsort entwickelt; außerhalb der Europäischen Union,aber auch innerhalb der EU. Seit der Wirtschaftskrisekommen immer mehr EU-Ausländer zu uns und bleibenhier in Deutschland.
Waren es 2010 über 87 000, so sind es seit 2013 jedes Jahrknapp 300 000, im letzten Jahr sogar fast 400 000 Men-schen. Diese europäische Zuwanderung hat sicherlichGründe: die Strahlkraft Deutschlands. Wir sind einweltoffenes Land, uns geht es gut, die Wirtschaft brummtund der Wohlstand steigt. Weil das so ist, können wir unshier in Deutschland ein höheres Sicherungsniveau leis-ten als viele andere Staaten in Europa. Das löst natürlichauch einen Sogeffekt aus. Diesen wollen wir nicht.Meine sehr verehrten Damen und Herren – ich zitie-re –: „Wirbel um Sozialhilfe für EU-Bürger“ und „Seidumarmt, ihr Rumänen!“ Das waren einige Reaktionender Presse nach dem Urteil des BundessozialgerichtsAnfang Dezember 2015. Die Rechtsprechung des Bun-dessozialgerichts ist abenteuerlich. Sie besagt, dass jederEU-Ausländer sich Sozialleistungen ersitzen kann, ermuss bloß sechs Monate hier in Deutschland sein.
Dieses sozialpolitische Ergebnis der Rechtsprechungist nicht hinnehmbar. Deswegen korrigieren wir es. Es istauch nicht mit dem Grundgesetz kollidierend. Wir tun esdeshalb, weil wir unsere Kommunen vor ungerechtfertig-ten Mehrbelastungen schützen wollen. Darüber bestandauch recht schnell Einigkeit innerhalb der Koalition.Dass es am Ende fast ein Jahr gedauert hat und es vorder Kabinettsbefassung noch einmal zur Diskussion zwi-schen dem Bundesarbeitsministerium und dem Bundes-innenministerium gekommen ist, zeigt, dass es zwischenUnion und SPD durchaus noch Unterschiede gibt, mitwelcher Intensität Armutszuwanderung in die sozialenSicherungssysteme wirksam begrenzt werden soll.Die Haltung der CSU-Landesgruppe und der Unionwar eindeutig. Wir setzen alles daran, die Einwanderungin unsere Sozialsysteme zu verhindern. Jeder Missbrauchin diesem Bereich gefährdet die Akzeptanz der Freizü-gigkeit. Es ist vor allem auch eine Frage der Gerechtig-keit gegenüber unseren Bürgern; denn sie sind es, die mitihrer Arbeitsleistung einen Beitrag für unsere Sozialsys-teme leisten.
Deshalb gilt für uns der Grundsatz: Nur diejenigensollen in den Genuss von Sozialleistungen kommen, diehier leben, arbeiten und Beiträge zahlen. Wer jedoch zuuns kommt und hier nie gearbeitet hat, aber dennoch So-zialleistungen begehrt, für den soll es ein klares Stopp-schild geben: existenzsichernde Leistungen ja, aber nichtunsere Leistungen, nicht auf unserem Niveau, sonderndie des Heimatlandes.Das ist das Signal, das wir mit diesem Gesetz in dieHerkunftsländer aussenden: Armutsmigration nachDeutschland lohnt sich nicht. Gleichzeitig senden wir einklares Signal an unsere Bürgerinnen und Bürger: Zuwan-derung in unsere Sozialsysteme wollen wir nicht. Dennunsere Bürger sind es, die mit ihrer Arbeitsleistung unse-re Sozialsysteme im Wesentlichen tragen.Wir haben in der Vergangenheit in diesen Bereichenschon viel erreicht: befristete Wiedereinreisesperren,stärkere Bekämpfung von Schwarzarbeit und Schein-selbstständigkeit und die Verhinderung des Doppelbezu-ges von Kindergeld – alles Maßnahmen, die wir als CSUeingefordert, durchgesetzt und umgesetzt haben. Wirwerden ja häufig für unsere klare Sprache gescholten, für pointierte Zuspitzungen,
Dagmar Schmidt
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beispielsweise in Wildbad Kreuth. Aber letztlich kommtes bei der Bekämpfung der Armutszuwanderung auchimmer auf klare Worte an.Am Ende zählt vor allem das Ergebnis. Wir sind er-folgreich, im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger.Die Maßnahmen, die wir in der Vergangenheit in derGroßen Koalition umgesetzt haben, sind richtig, undauch der vorliegende Gesetzentwurf ist richtig und drin-gend erforderlich, um die Rechtsprechung des Bundesso-zialgerichts in diesen Fällen zu korrigieren.Was ist nun vorgesehen? Zum einen werden die beste-henden Leistungsausschlüsse eindeutig geregelt. Damitwerden dem Erfindungsspielraum Kassels entsprechende Grenzen gesetzt. Für die von den Leistungsausschlüssenbetroffenen Personen gibt es Überbrückungsleistungen,also sehr wohl Leistungen,
bis hin zur Ausreise, zur Übernahme der angemessenenKosten der Rückreise in das Heimatland. Die damit ver-bundene Botschaft ist auch klar: Den Weg nach Deutsch-land, allein um hier Sozialhilfe zu kassieren, kann mansich von vornherein sparen. Erst nach fünf Jahren ge-wöhnlichen Aufenthalts ohne wesentliche Unterbre-chung wird ein Leistungsanspruch gewährt,
unabhängig davon, ob sich die Betroffenen rechtmäßigoder unrechtmäßig aufgehalten haben.Das war am Ende letztlich auch der kitzelige Punktzwischen Union und SPD. Wir wollten allein auf einenrechtmäßigen Aufenthalt abstellen. Das ist auch sinnvoll.Der Gesetzentwurf stellt nun auf den tatsächlichen Auf-enthalt ab und differenziert nicht mehr zwischen recht-mäßigem und unrechtmäßigem Aufenthalt. Allerdingswerden Zeiten, in denen sich Personen nicht rechtmäßigin Deutschland aufhalten, weil sie ausreisepflichtig sind, nicht auf den Fünfjahreszeitraum angerechnet. Am Endekann man sagen: Warum einfach, wenn es auch kompli-ziert geht?Der gefundene Kompromiss mag eine Einigung er-leichtert haben; rechtssystematisch ist es dennoch nichtder beste Weg. Bedauerlich ist auch, dass durch den Ge-setzentwurf die bisherige Systemabgrenzung zwischenSGB II und SGB XII aufgehoben wird. Im Hinblick aufÜberbrückungsleistungen bedeutet dies einen nicht uner-heblichen bürokratischen Mehraufwand für Sozialämterund Jobcenter. Das wäre vermeidbar gewesen.Trotz dieser Schwächen stimmt die Zielrichtung desGesetzentwurfs. Wir schließen mit dem Gesetzentwurfdie durch das Bundessozialgericht geschaffenen erhebli-chen Lücken im nationalen Recht. Die Kommunen wer-den von Mehrbelastungen verschont. Und was natürlichauch schön ist: Ein zentrales Anliegen der CSU-Landes-gruppe wird umgesetzt.Herzliches Dankeschön.
Zum Abschluss der Aussprache spricht der Kollege
Markus Paschke für die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An-spruch auf Leistungen nach dem SGB II und Unterstüt-zung bei der Arbeitsuche erhalten diejenigen, die ihrenLebensmittelpunkt in der Bundesrepublik haben. Grund-sätzlich sind da auch alle Europäer gleichzubehandeln.Das ist richtig, und das ist auch gut so.
Keinen Anspruch haben jedoch Ausländerinnen und Aus-länder, die sich nur zur Arbeitsuche hier aufhalten.
Auch das ist richtig, denn deren Lebensmittelpunkt liegtbisher nicht in Deutschland.Nun hat das Bundessozialgericht den Betroffenenin mehreren Fällen Anspruch auf Sozialhilfe nach demSGB XII zugestanden. Das Ziel dieses Ausschlusses imSGB II war jedoch nicht, die Betreffenden in die Sozi-alhilfe zu drängen; denn da gehören sie auch nicht hin.Die Freizügigkeit innerhalb Europas ist an zwei Vo-raussetzungen gebunden. Es lohnt sich, das einmal wie-der nachzulesen. Das sind nämlich erstens eine beste-hende Krankenversicherung und zweitens ausreichendMittel für den Lebensunterhalt. Bisher war der Anspruchauf Leistung nach dem SGB II dauerhaft ausgeschlos-sen, wenn jemand nicht gearbeitet hat. Wir haben jetztRechtssicherheit. Nach fünf Jahren gilt Deutschland alsLebensmittelpunkt. Damit es in Europa keine Migrationin die Sozialsysteme gibt, brauchen wir verbindliche eu-ropäische Mindeststandards in der sozialen Sicherung,Mindeststandards, die allen Bürgerinnen und BürgernEuropas an dem Ort ihres Lebensmittelpunktes dassozio einer Bundesethikkommission kulturelle Existenz-minimum sichert.Es muss außerdem sichergestellt sein, dass alle Euro-päer – egal, ob aus Portugal, Rumänien, Finnland oderLuxemburg, und egal, welcher Volksgruppe sie angehö-Stephan Stracke
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20041
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ren – die gleichen Chancen auf Bildung, Gesundheitsver-sorgung und Zugang zum Arbeitsmarkt haben.
Für mich ist deshalb klar: Wir brauchen eine europäischesoziale Sicherung.Beim vorliegenden Gesetzentwurf sind für mich nocheinige Fragen offen, die sich auf Situationen beziehen,die Härtefälle für die Betroffenen bedeuten können. Eskann gute Gründe geben, warum man, auch wenn manseinen Lebensmittelpunkt inzwischen hier hat, das Landzwischendurch für eine gewisse Zeit verlassen muss,zum Beispiel weil es gilt, Familienangehörige zu pflegen oder andere Probleme zu lösen, die ein bisschen längerdauern und wofür man durchaus seine Wohnung hier auf-gibt. Solche Unterbrechungen sind bisher nicht berück-sichtigt. Auch kann es eine Härte bedeuten, wenn zumBeispiel eine Ehe – aus welchen Gründen auch immer –zerbricht und nur ein Partner Arbeit hat.Zusammenfassend kann man, glaube ich, sagen: DerGrundsatz in dem Gesetzentwurf ist okay. Über Detailsund offene Fragen müssen wir dann noch reden.Danke schön. Ich wünsche, bevor es der Präsident tut,allen ein schönes Wochenende.
Das ist sehr fürsorglich gegenüber den Kolleginnen
und Kollegen und dem Präsidenten.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/10211 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere
Vorschläge sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir sind damit zugleich am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung und am Schluss der 200. Sitzung dieser
Legislaturperiode.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages, die 201., auf Dienstag, den 22. November 2016,
10 Uhr, ein. Kommen Sie alle gesund wieder.
Die Sitzung ist geschlossen.