Protokoll:
18200

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 200

  • date_rangeDatum: 11. November 2016

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:02 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 12:58 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/200 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 200. Sitzung Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Inhalt: Tagesordnungspunkt 36: Dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset- zes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461 Nr. 1.5, 18/10280, 18/10056 . . . . . . . . . . . . . . 19995 B Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 19995 D Birgit Wöllert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 19997 A Martina Stamm-Fibich (SPD) . . . . . . . . . . . . . 19998 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19999 A Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 20000 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20000 B Erich Irlstorfer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 20000 C Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 20001 C Stephan Albani (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 20002 D Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 20003 C Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20006 C Tagesordnungspunkt 37: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Nationaler Bildungsbericht – Bildung in Deutschland 2016 und Stellungnahme der Bundesregierung Drucksache 18/10100 . . . . . . . . . . . . . . . . 20004 A b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zum Anerkennungsgesetz 2016 Drucksache 18/8825 . . . . . . . . . . . . . . . . . 20004 A c) Antrag der Abgeordneten Özcan Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationaler Bildungsbericht – Bildungsinstitutionen zukunftsfest machen – Für eine gerechte und soziale Gesellschaft Drucksache 18/10248 . . . . . . . . . . . . . . . . 20004 B Xaver Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 20004 B Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . 20009 A Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . 20011 A Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20012 C Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20013 B Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20015 B Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 20016 D Cemile Giousouf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 20018 D Dr. Karamba Diaby (SPD) . . . . . . . . . . . . . 20020 B Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU). . . . . . 20021 A Tagesordnungspunkt 38: Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Petra Pau, Martina Renner, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Umsetzung der Empfehlungen des 2. Par- lamentarischen Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode zur Verbrechensserie des Nationalsozialistischen Untergrundes Drucksachen 18/6465, 18/9331 . . . . . . . . . . . 20022 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016II in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von den Ab- geordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen,  weiteren  Abgeordneten  und  der  Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufent- haltsgesetzes – Aufenthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt Drucksachen 18/2492, 18/10288 . . . . . . . . . . 20022 B Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 20022 B Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20023 B Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20024 D Uli Grötsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20025 D Thorsten Hoffmann (Dortmund) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20027 B Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 20029 A Susann Rüthrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20030 A Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20031 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 20032 B Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 20033 A Tagesordnungspunkt 39: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Ar- beitsuchende nach dem Zweiten Buch So- zialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch Drucksache 18/10211 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20034 A Anette Kramme, Parl. Staatssekretärin BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20034 B Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20035 A Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 20036 B Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 20037 C Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) . . . . . . . . . 20038 C Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 20039 B Markus Paschke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20040 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20041 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 20043 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Kerstin Griese und Dr. Eva Högl (beide SPD) zu der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arz- neimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) . . . . . . . . . . . . . . . . 20043 D Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Michaela Noll und Sabine Weiss (Wesel I) (beide CDU/CSU) zu der namentlichen Ab- stimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an- derer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) . . . . . . . . . . . . . . . . 20044 B Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zu der namentli- chen Abstimmung über den von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) . . . . . . . . . . . . . . . . 20044 D Heike Baehrens (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20044 D Alexander Funk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 20045 A Hubert Hüppe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 20045 C Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 20046 A Matern von Marschall (CDU/CSU) . . . . . . . . 20046 B Markus Paschke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20046 D Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 20047 A Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 20048 B Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 20048 D Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 20049 A Dr . Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 20049 B Anlage 5 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20049 C (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 19995 200. Sitzung Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Beginn: 9.02 Uhr
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    Markus Paschke (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20043 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Auernhammer, Artur CDU/CSU 11.11.2016 Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Barthel, Klaus SPD 11.11.2016 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Brantner, Dr. Franziska BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Bülow, Marco SPD 11.11.2016 Crone, Petra SPD 11.11.2016 De Ridder, Dr. Daniela SPD 11.11.2016 Drobinski-Weiß, Elvira SPD 11.11.2016 Fuchs, Dr. Michael CDU/CSU 11.11.2016 Gohlke, Nicole DIE LINKE 11.11.2016 Groth, Annette DIE LINKE 11.11.2016 Hajduk, Anja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Hellmich, Wolfgang SPD 11.11.2016 Hintze, Peter CDU/CSU 11.11.2016 Ilgen, Matthias SPD 11.11.2016 Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Kurth, Markus BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Liebing, Ingbert CDU/CSU 11.11.2016 Malecha-Nissen, Dr. Birgit SPD 11.11.2016 Nahles, Andrea SPD 11.11.2016 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Nissen, Ulli SPD 11.11.2016 Özdemir, Cem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Paus, Lisa BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Petzold (Havelland), Harald DIE LINKE 11.11.2016 Pitterle, Richard DIE LINKE 11.11.2016 Riesenhuber, Dr. Heinz CDU/CSU 11.11.2016 Ripsam, Iris CDU/CSU 11.11.2016 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 11.11.2016 Schmidt, Dr. Frithjof BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Schön (St. Wendel), Nadine CDU/CSU 11.11.2016 Steinbach, Erika CDU/CSU 11.11.2016 Verlinden, Dr. Julia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2016 Wawzyniak, Halina DIE LINKE 11.11.2016 Zeulner, Emmi * CDU/CSU 11.11.2016 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Kerstin Griese und Dr. Eva Högl (beide SPD) zu der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arz- neimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Ta- gesordnungspunkt 36) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 201620044 (A) (C) (B) (D) Hinter dieser Abstimmung verbirgt sich eine brisan- te ethische Frage. Der Gesetzentwurf will fremdnützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patient/innen künftig erlauben. Die Unversehrtheit dieser besonders schutzwürdigen Menschengruppe wäre mit diesem Ge- setz nicht mehr gewährleistet. Das bedauern wir sehr. Gegen diese Neuregelung richtet sich der Änderungs- antrag Schummer/Schmidt, den ich mit voller Überzeu- gung unterstützt habe. Wir möchten nicht, dass demenz- kranke Menschen, denn um diese handelt es sich in der Mehrzahl bei den „nicht einwilligungsfähigen Patient/ innen“, Proband/innen für eine Forschung werden, die für sie nicht gut ist und von der sie selbst keine Verbesse- rung haben. Hiermit würden wir einer Verzweckung von Menschen in der Forschung Tür und Tor öffnen. Wir sind besorgt, welche Entwicklung daraus folgen kann. Denn es wird auch um weitere nichteinwilligungsfähige Men- schen gehen. Wir sind der Ansicht, dass auch künftig ausschließlich einwilligungsfähige Menschen entscheiden, ob sie an kli- nischen Studien teilnehmen wollen, und dass nicht ein- willigungsfähige Menschen nur dann an Medikamenten- tests teilnehmen können, wenn sie ihnen helfen können. Ein zweiter wichtiger Grund ist für uns, dass es kei- nen Bedarf aus der Forschung gibt, hier eine Änderung vorzunehmen. Ohne Not wird eine ethische Hürde über- schritten. Dazu können wir unsere Zustimmung aus Gewissens- gründen nicht geben. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Michaela Noll und Sabine Weiss (Wesel I) (beide CDU/CSU) zu der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) Dem heute zur Beratung vorliegenden Antrag der Bundesregierung stimme ich in der vorliegenden Form zu. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: In der 2. Lesung des Gesetzentwurfs am 9. November 2016 habe ich den Änderungsantrag Drucksache 18/10233 un- terstützt. Darin heißt es: Artikel 2 Nummer 11 wird wie folgt geändert: 1. § 40b Absatz 4 Satz 2 wird wie folgt gefasst: „Eine klinische Prüfung darf an einer nicht ein- willigungsfähigen Person im Sinne des Artikel 2 Nummer 19 der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftli- che Gründe vorliegen, die erwarten lassen, dass die Teilnahme an der klinischen Prüfung einen direkten Nutzen für die betroffene Person zur Folge hat, der die Risiken und Belastungen einer Teilnahme an der klinischen Prüfung überwiegt.“ 2. In § 40b Absatz 4 Satz 3 wird das Wort „solche“ gestrichen. Dieser Änderungsantrag wurde leider überstimmt und somit nicht angenommen. Er hätte für die größtmögliche Beibehaltung der bisherigen Rechtslage in Deutschland gesorgt, nach der eine gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen ohne potenziellen individu- ellen Nutzen für die jeweiligen Studienteilnehmer aus- geschlossen ist. Die hohen Schutzstandards, die es in Deutschland diesbezüglich gegeben hat, insbesondere hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner körper- lichen Unversehrtheit, wären erhalten geblieben. Eine gruppennützige Forschung an Nichteinwilli- gungsfähigen ohne potenziellen individuellen Nutzen löst in mir erhebliche ethische und rechtliche Bedenken aus. Eine gruppennützige Forschung stellt nicht das Wohl des betroffenen Patienten, sondern das Wohl anderer in den Vordergrund. Eine solche Bereitschaft muss ein Pa- tient widerrufen können. Dafür muss er noch zu einer eigenen Willensbildung in der Lage sein. Wenn diese Vo- raussetzung nicht gegeben ist, und davon ist bei demenzi- ell Erkrankten ab einem gewissen Zeitpunkt auszugehen, darf keine Forschung stattfinden.  Hier vertrete ich eine andere Auffassung als die im vorliegenden Gesetzentwurf. Gleichwohl stimme ich diesem – wenn auch mit erheblichen Bedenken – zu, da der Änderungsantrag Drucksache 18/10236 angenom- men wurde. Dieser stellt sicher, dass eine Teilnahme an klinischen Studien gegen den aktuellen, natürlichen Wil- len eines Probanden verboten bleibt, unabhängig davon, ob dieser Wille verbal oder nonverbal geäußert wird oder ob die Person einwilligungsfähig ist. Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zu der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrecht- licher und anderer Vorschriften (Tagesordnungs- punkt 36) Heike Baehrens (SPD): Die heute zur Abstimmung stehende AMG-Novelle setzt wichtige europäische arz- neimittelrechtliche Vorschriften in nationales Recht um. Darüber hinaus werden Änderungen in der Bundes-Apo- thekerordnung, dem Arzneimittelgesetz, der Arzneimit- tel- und Wirkstoffherstellungsverordnung und weiteren Regelungswerken vorgenommen, denen ich zustimme. Gleichzeitig wird eine EU-Richtlinie zu klinischen Prüfungen in nationales Recht umgesetzt, die ich für höchst problematisch halte. Künftig soll es möglich sein, gruppennützige Forschung an volljährigen Personen vorzunehmen, die nicht in der Lage sind, Wesen, Bedeu- tung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten. Vorausgesetzt, die Betroffenen haben nach einer ärztlichen Beratung im früheren Zustand der Einwilligungsfähigkeit mittels Patientenverfügung nach § 1901a BGB einer Teilnahme Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20045 (A) (C) (B) (D) zugestimmt, können sie an Studien beteiligt werden, die ihnen keinen individuellen Nutzen bringen. Es geht hier um Forschung an besonders verletzlichen Menschen – vor allem an Demenzkranken. Bisher ist For- schung an dieser Gruppe, wenn sie nicht zumindest mit der Wahrscheinlichkeit eines individuellen Nutzens ver- bunden ist, aus ethischen Gründen grundsätzlich verbo- ten. Ich bin der Meinung, dass wir in Deutschland – nicht zuletzt vor dem Hintergrund unserer Geschichte – gut daran tun, diesen hohen Schutzstandard, insbesondere hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner körper- lichen Unversehrtheit, aufrechtzuerhalten. Auch praktisch besteht keine Notwendigkeit einer Öffnung, da es bislang keine bekannt gewordenen Fälle gibt, in denen ein Forschungsvorhaben am Fehlen einer solchen Möglichkeit der gruppennützigen Forschung ge- scheitert ist. Deswegen habe ich im parlamentarischen Beratungs- verfahren den Änderungsantrag unterstützt [Drucksa- che 18(14)0214.1], der sichergestellt hätte, das vorhan- dene Schutzniveau aufrechtzuerhalten. Leider hat dieser keine Mehrheit erhalten. Weil es also nicht möglich war, diese entscheidende Änderung im Gesetzestext zu verankern, kann ich aus ethischen Gründen dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Alexander Funk (CDU/CSU): Dem heute zur Bera- tung vorliegenden Antrag der Bundesregierung stimme ich in der vorliegenden Form zu. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: In der 2. Lesung des Gesetz- entwurfs am 9. November 2016 habe ich den Änderungs- antrag Drucksache 18/10233 unterstützt. Darin heißt es Artikel 2 Nummer 11 wird wie folgt geändert: 1. § 40b Absatz 4 Satz 2 wird wie folgt gefasst: „Eine klinische Prüfung darf an einer nicht ein- willigungsfähigen Person im Sinne des Artikel 2 Nummer 19 der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftli- che Gründe vorliegen, die erwarten lassen, dass die Teilnahme an der klinischen Prüfung einen direkten Nutzen für die betroffene Person zur Folge hat, der die Risiken und Belastungen einer Teilnahme an der klinischen Prüfung überwiegt.“ 2. In § 40b Absatz 4 Satz 3 wird das Wort „solche“ gestrichen. Dieser Änderungsantrag wurde leider überstimmt und somit nicht angenommen. Aus meiner Sicht müssen die hohen Schutzstandards, die es in Deutschland bei klinischen Studien momentan für nichteinwilligungsfähige Erwachsene gibt, insbeson- dere hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner körperlichen Unversehrtheit, dringend erhalten bleiben. Um diesen größtmöglichen Schutz zu gewähren, müs- sen klinische Prüfungen daher einen direkten Nutzen für den Betroffenen haben. Hier vertrete ich eine andere Auf- fassung als die im vorliegenden Gesetzentwurf. Dennoch stimme ich dem Gesamtgesetz zu. Hubert Hüppe (CDU/CSU): Ich stimme heute in der dritten Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschrif- ten auf Drucksache 18/8034 mit Nein, obwohl ich als Berichterstatter den während des parlamentarischen Ver- fahrens erarbeiteten Änderungen, die sich in Beschluss- empfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 18/10056 wiederfinden, zugestimmt habe. Grund meiner Ablehnung ist die Einführung von fremdnützigen klinischen Arzneimittelprüfungen an nichteinwilligungsfähigen Menschen, die ausschließlich einen Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgrup- pe, zu der die betroffene Person gehört, zur Folge ha- ben wird, nicht jedoch für den nichteinwilligungsfähigen Probanden selbst, sogenannte gruppennützige klinische Prüfungen. Diese lehne ich aus ethischen Gründen ab und bekenne mich zu dem vom Deutschen Bundestag am 31. Januar 2013 einstimmig gefassten Beschluss: „Bei Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen und an Personen in Notfallsituationen ist ein direkter in- dividueller Nutzen vorauszusetzen.“ Die erkennbare Praxisuntauglichkeit der vorgesehe- nen schriftlichen Verfügung nach ärztlicher Aufklärung wird absehbar zu der Forderung führen, die schriftliche Verfügung einschließlich der ärztlichen Aufklärung als zwingende Voraussetzung gruppennütziger klinischer Prüfungsteilnahme nichteinwilligungsfähiger Personen zu streichen. Dies ist umso naheliegender, als diese Forde- rung von als vermeintlichen Befürwortern der jetzt getrof- fenen Regelung vorgestellten Gruppen bereits während der parlamentarischen Beratungen erhoben worden ist. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psy- chotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DG- PPN) hielt in ihrer Stellungnahme zur 4. AMG-Novelle vom 28. August 2016 fest, dass die vorgesehene gesetz- liche Regelung gruppennützige Forschung an Menschen, die „nie einwilligungsfähig waren (wie bei Menschen mit geistigen Behinderungen)“, unmöglich mache, und stellte die rhetorische Frage: „Will also der deutsche Ge- setzgeber gruppennützige Forschung – anders als die ent- sprechende EU Richtlinie – wirklich so eng begrenzen?“ Das KKS-Netzwerk und der Medizinische Fakultäten- tag schrieben am 18. Mai 2016 an den Gesundheitsaus- schuss, dass sie eigentlich die schriftliche Verfügung – und damit implizit auch die damit verknüpfte ärztliche Aufklärung – ablehnen: „Auch wenn wir uns eine ge- nerelle Regelung ohne Patientenverfügung wünschen würden, so unterstützen wir den Vorschlag der Bundesre- gierung, die gruppennützige Forschung bei einer Unter- gruppe der nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen auf der Basis einer Patientenverfügung zu erlauben.“ Der als Einzelsachverständiger zur Anhörung am 16. Oktober 2016 geladene Vorsitzende des Arbeits- kreises Medizinischer Ethik-Kommissionen, Profes- sor Dr. Joerg Hasford, empfahl in seiner schriftlichen Stellungnahme, “den Artikel 31 der EU-Verordnung Nr. 536/2014 nicht mit eigener Gesetzgebung zu ergän- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 201620046 (A) (C) (B) (D) zen“, also gruppennützige Forschung gemäß Artikel 31 der EU-Verordnung an allen nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen und Kindern, einschließlich solchen mit sogenannter geistiger Behinderung, in Deutschland zu legalisieren. Daher halte ich die Befürchtung für begründet, dass die heutige begrenzte Zulassung fremdnütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen der Türöffner für die zukünftige Einbeziehung zusätzlicher besonders vulnerabler Gruppen in fremdnützige Forschung ist. Bernhard Kaster (CDU/CSU): Dem heute zur Bera- tung vorliegenden Antrag der Bundesregierung stimme ich in der vorliegenden Form zu. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: In der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs am 9. November 2016 habe ich den Än- derungsantrag Drucksache 18/10233 unterstützt. Darin heißt es: Artikel 2 Nummer 11 wird wie folgt geändert: 1. § 40b Absatz 4 Satz 2 wird wie folgt gefasst: „Eine klinische Prüfung darf an einer nicht ein- willigungsfähigen Person im Sinne des Artikel 2 Nummer 19 der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftli- che Gründe vorliegen, die erwarten lassen, dass die Teilnahme an der klinischen Prüfung einen direkten Nutzen für die betroffene Person zur Folge hat, der die Risiken und Belastungen ei- ner Teilnahme an der klinischen Prüfung über- wiegt.“ 2. In § 40b Absatz 4 Satz 3 wird das Wort „solche“ gestrichen. Dieser Änderungsantrag wurde leider überstimmt und somit nicht angenommen. Aus eigener Erfahrung weiß ich um die große Bedeutung des angemessenen Umgangs mit schwerstkranken Familienangehörigen. Mir persön- lich ist es daher ein großes Anliegen, Menschen, die auf- grund ihres Alters und oder einer schweren Erkrankung, welche ihre geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt, den größtmöglichen staatlichen Schutz zukommen zu lassen. Klinische Prüfungen müssen für mich daher einen direk- ten Nutzen für den Betroffenen haben. Hier vertrete ich eine andere Auffassung als die im vorliegenden Gesetz- entwurf. Dennoch stimme ich dem Gesamtgesetz zu. Matern von Marschall (CDU/CSU): Entsprechend dem üblichen Verfahren zeige ich Ihnen hiermit an, dass ich bei der namentlichen Abstimmung am Freitag, 11. No- vember 2016, gegen den Gesetzentwurf der Bundesregie- rung zum Vierten Gesetz zur Änderung arzneimittelrecht- licher und anderer Vorschriften stimmen werde. Dieses Abstimmungsverhalten entspricht meiner Po- sition in den vorangegangen Abstimmungen zu diesem Gesetz, bei denen ich dem Änderungsvorschlag der Uni- onskollegen Schummer et al. gefolgt bin. Ich habe bei meinen intensiven Recherchen im Vorfeld der Gesetzgebung niemanden in Klinik, Wissenschaft oder Verbänden getroffen, der gefordert oder mir schlüs- sig dargelegt hätte, dass gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten derzeit sinnvoll oder gar erforderlich ist. Im Gegenteil ist die klare Auskunft, dass solche Studien insbesondere an Alzheimer Patienten im weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium wegen der dann irreversiblen Zerstörung des Gehirnes sinnlos sind und dass vielmehr ganz andere Studien benötigt werden, um Ursachen kennenzulernen und Prävention zu verbes- sern. Allenfalls Studien an Patienten, bei denen gerade die Diagnose gestellt wurde, könnten sinnvoll sein. Die- se aber wären dann ja zu Beginn der Studien einwilli- gungsfähig. Kurzum: Ein Gesetz, welches gruppennützi- ge Forschung an nicht Einwilligungsfähigen ermöglicht, ist derzeit erkennbar nicht sinnvoll oder gar erforderlich, es öffnet aber die Tür zu einem ethisch sehr problema- tischen Verfahren: Wehrlose Menschen sollen sich für andere als Versuchspersonen zur Verfügung stellen, also ohne mit den Studien auch nur eine Erwartung an die Verbesserung ihrer eigenen Lage verbinden zu können. Das ist übrigens auch der wesentliche Unterschied zu den „klassischen“ Patientenverfügungen – Organentnah- me, Abstellen lebenserhaltender Maschinen –, die sich stets auf die eigene Person beziehen. Deshalb hatte ja der Kollege Schummer einen Änderungsantrag gestellt, der lediglich einen Punkt gegenüber der Regierungsvorlage ändert, nämlich die Entscheidung zur Teilnahme freizu- stellen, aber sie eben auf Eigennützigkeit, also auf die eigene Person zu begrenzen. Dem hätte ich, wenngleich immer noch mit erheblichen Bedenken, zustimmen kön- nen. Der jetzige Gesetzentwurf widerspricht grundsätz- lich meinen ethischen Vorstellungen, die ich aus christli- chen Werten ableite. Markus Paschke (SPD): Bisher ist eine sogenann- te gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfä- higen nach dem Arzneimittelrecht ausgeschlossen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung will dieses Verbot nun insoweit aufweichen, dass zukünftig eine Teilnahme volljähriger Nichteinwilligungsfähiger auch ohne persönlichen Nutzen zulässig ist, wenn die Betroffenen im früheren Zustand der Einwilligungsfä- higkeit mittels Patientenverfügung nach § 1901a BGB einer Teilnahme zugestimmt haben. Die Regelung wird voraussichtlich vor allem Menschen mit neurodegene- rativen, beispielsweise dementiellen Erkrankungen be- treffen. Ich lehne diesen Vorschlag klar ab. Die hohen Schutzstandards, die es in Deutschland bei klinischen Studien momentan für nichteinwilligungsfähige Er- wachsene gibt, insbesondere hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner körperlichen Unversehrtheit, müs- sen erhalten bleiben. Bereits 2013 hat sich der Bundes- tag – Drucksache 17/12183 – dazu ausgesprochen, dass in solchen Fällen das Schutzniveau für diese Personen zu erhalten ist. Von dieser Haltung darf nicht abgewichen werden. Würde und Sicherheit der Probandinnen und Probanden müssen immer im Vordergrund stehen. Dieser Grundsatz ist gefährdet, wenn Menschen an Forschung beteiligt werden, die nicht in der Lage sind, das Risi- ko und den Nutzen ihrer Teilnahme zu beurteilen, ohne selbst irgendeinen Nutzen aus der Teilnahme zu ziehen. Das Schutzniveau für diese besonders schützenswerte Patientengruppe muss in Deutschland weiterhin auf ho- hem Standard erhalten bleiben. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20047 (A) (C) (B) (D) Zudem entbehrt eine solche Öffnung jeder Notwen- digkeit. Artikel 31 Absatz 2 der hier umzusetzenden Verordnung (EU) Nr. 536/2014 erklärt nationale Verbote einer gruppennützigen Forschung an Nichteinwilligungs- fähigen ausdrücklich für zulässig. Diese EU-Verordnung erlaubt die Forschung an Nichteinwilligungsfähigen, wenn die wissenschaftlich begründete Erwartung be- steht, dass der oder die Betroffene einen direkten Nutzen aus der Prüfung hat, der die Risiken und Belastungen der Studienteilnahme überwiegt (Eigennutzen). Auch praktisch besteht keine Notwendigkeit einer Öffnung, da es bislang keine bekannt gewordenen Fälle gibt, in denen ein Forschungsvorhaben am Fehlen einer solchen Möglichkeit der gruppennützigen Forschung ge- scheitert ist. Aus den ausgeführten Gründen werde ich daher gegen den vorliegenden Gesetzentwurf stimmen. Mechthild Rawert (SPD): Es geht in den Plenarsit- zungen am 9. und 11. November 2016 um den Gesetz- entwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an- derer Vorschriften“ (18/8034), mit dem eine EU-Ver- ordnung (Nr. 536/2014) umgesetzt werden soll. In der EU-Novelle wird die rein gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen unter bestimm- ten Voraussetzungen erlaubt. Zugleich bleibt es den EU-Staaten vorbehalten, auf nationaler Ebene strengere Regeln zu beschließen. Laut Gesetzentwurf der Bundes- regierung soll die gruppennützige Forschung an nicht- einwilligungsfähigen Menschen auch in Deutschland erlaubt sein. Es liegen hierzu drei Änderungsanträge vor. Zu diesen hat am 19. Oktober 2016 eine öffentliche An- hörung des Ausschusses für Gesundheit stattgefunden. Ich stimme für den Änderungsantrag der Abgeordneten Hilde Mattheis und Sabine Dittmar. Drei Änderungsanträge zur rein gruppennützigen For- schung an nichteinwilligungsfähigen Menschen: Erstens. Über den Änderungsantrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Ulla Schmidt, Kathrin Vogler, Kordula Schulz-Asche wird zuerst namentlich abgestimmt. Er sieht vor, es bei der restriktiven Regelung in Deutsch- land zu belassen. Die unter Demenz leidenden Menschen müssten besonders geschützt werden. Aus medizinischer Sicht könnte diese Grundlagenforschung auch an ande- ren PatientInnengruppen geleistet werden könne. Zweitens. Der Änderungsantrag der Abgeordneten Hilde Mattheis und Sabine Dittmar gestattet die rein gruppennützige Forschung mit einer vorherigen Proban- dInnenverfügung mit optionaler ärztlicher Beratung und wird danach abgestimmt. Der Deutsche Bundestag soll unter anderem beschließen, dass „die betroffene Person als einwilligungsfähige volljährige Person für den Fall ihrer Einwilligungsunfähigkeit schriftlich nach ärztli- cher Aufklärung oder ausdrücklichem Aufklärungsver- zicht nach Maßgabe des Paragrafen 630e Absatz 1 bis 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches“ festlegt, „dass sie in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht un- mittelbar bevorstehende gruppennützige klinische Prü- fungen einwilligt. … Die Aufklärung umfasst sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände. Dazu ge- hören insbesondere die Aufklärung über das Wesen, die Ziele, den Nutzen, die Folgen, die Risiken und die Nach- teile klinischer Prüfungen.“ Drittens. Als Drittes wird über den Änderungsantrag Dr. Georg Nüßlein, Professor Dr. Karl Lauterbach, Maria Michalk, Hermann Gröhe, Ingrid Fischbach, Annette Widmann-Mauz, Rudolf Henke, beschlossen, der eine verpflichtende ärztliche Beratung vorsieht. Gründe meines Abstimmungsverhaltens Seit Monaten wird in der Politik und Öffentlichkeit über die Forschung an Demenz erkrankten Menschen gestritten. Im Mittelpunkt steht die Streitfrage, ob Arz- neimittelstudien – also keine an nicht mehr einwilli- gungsfähigen Erwachsenen – zum Beispiel an Demenz Erkrankten – auch dann zulässig sein sollen, wenn sie nur gruppennützig sind, den Betroffenen selbst also kei- ne Vorteile bringen. Das ist bislang in Deutschland ver- boten und soll nach dem Willen der Bundesregierung nun mit dieser gesetzlichen Änderung künftig erlaubt werden. Grundsätzlich dürfen Menschen, die nie einwil- ligungsfähig gewesen sind, zum Beispiel Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, an solchen gruppenbezo- genen Forschungen nicht beteiligt werden. Sie sind als Zielgruppe mit dieser Novelle nicht angesprochen. Jeg- licher Bezug auf experimentelle Forschungen an geistig behinderten Menschen während der Zeit des Nationalso- zialismus geht also am Inhalt der angestrebten Regelung völlig vorbei. Ich unterstütze grundsätzlich die im vorliegenden Ge- setzentwurf von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe geschaffene Möglichkeit zur Teilnahme von Men- schen an Arzneimittelstudien, wenn sie dies vorab im einwilligungsfähigen und gesunden Zustand in einer Verfügung festgelegt haben. Es handelt sich hierbei um die Erprobung von Medikamenten, nicht um invasivere Studien. Nur auf Grundlage dieser Vorabverfügung für Studien für eine optimale medikamentöse Therapie dür- fen dann Messungen von Blutdruck, Puls oder Therapie erfolgen. Invasivere Maßnahmen oder Studien würden mit dieser Regelung nicht erlaubt. Ich erkenne in der Möglichkeit für eine gruppennüt- zige Forschung an nicht mehr einwilligungsfähigen Er- wachsenen keinen „ethischen oder rechtlichen Freibrief für eine Verzwecklichung der Forschung“. Sowohl bei der optionalen als auch bei der verpflichtenden ärztlichen  Beratung – Änderungsantrag 2 bzw. 3 – trifft jeder Er- wachsene noch im gesunden Zustand diese Entscheidung als Vorausverfügung selbst. Für Arzneimittelstudien dieser Art gibt es zahlreiche Hürden: Bei der Beantragung einer Studie muss eine obligate Beratung durch öffentlich-rechtliche Ethikkom- missionen erfolgen. Die im gesunden Zustand getroffene Einwilligung zur Teilnahme an einer gruppennützigen Forschung muss schriftlich vorliegen. Es muss zum Zeit- punkt der Teilnahme eine ärztliche Aufklärung der Pa- tientInnen und der BetreuuerInnen erfolgen. Es besteht zu jeder Zeit die Möglichkeit, die Studie auch wieder abzubrechen – jede ablehnende verbale oder nonverbale Äußerung der PatientInnen und StudienteilnehmerInnen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 201620048 (A) (C) (B) (D) ist als entsprechender Wunsch zu werten. Zudem bin ich also aufgrund der für klinische Studien in Deutschland geltenden strengen Regelungen davon überzeugt, dass es einen systematischen Missbrauch kaum geben kann. Die rein gruppennützige Forschung bei Minderjähri- gen ist seit der zwölften Novellierung des Arzneimittel- gesetzes (AMG) im Jahre 2004 in Deutschland explizit zugelassen. Es ist mir nicht einsichtig, weshalb eine Re- gelung für Minderjährige erlaubt und für Erwachsene verboten sein soll. Die Entscheidung, später einmal in einem nicht mehr einwilligungsfähigen Zustand, sei es wegen einer fort- geschrittenen Demenz, sei es wegen eines schweren Ge- hirnschadens, an einer rein gruppennützigen Forschung teilzunehmen, ist für mich auch ein Ausdruck von in- dividueller Selbstbestimmung, wie ich es mit Voraus- verfügungen wie dem Organspendeausweis oder einer Vorsorgevollmacht auch mache. Eine solch freiwillige Entscheidung ist auch Ausdruck gelebter Solidarität mit von der gleichen Krankheit betroffenen Menschen. Bei PatientInnen mit schweren Erkrankungen ist die Bereit- schaft, auch ohne unmittelbaren Eigennutzen an der me- dizinischen Forschung zu ihrer Erkrankung mitzuwirken, durchaus weit verbreitet. Aktuell gibt es noch keine zufriedenstellende Medi- kation für die unterschiedlichen Phasen der dementiellen Erkrankungen. Aber auch Menschen in späteren Stadien der Demenzerkrankung sollen am medizinischen Fort- schritt teilnehmen können. Vielleicht gibt es in einigen Jahr(zehnt)en Möglichkeiten der Linderung, der Heilung. Diese Chancen auf wichtige Erkenntnisgewinne zur Be- handlung der Erkrankung Demenz möchte ich ergreifen. Deshalb stimme ich dem Änderungsantrag der Abge- ordneten Hilde Mattheis und Sabine Dittmar zu. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Am Mittwoch haben wir hier in einer sehr kontroversen Debatte quer durch alle Fraktionen über drei Änderungsanträge zu dieser hier vorliegenden Novelle des Arzneimittelgesetzes debattiert und abgestimmt. Dabei ging es um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen nichteinwilligungsfähige Erwach- sene als Versuchspersonen in klinische Arzneimittelstudi- en einbezogen werden dürfen, auch wenn sie davon indi- viduell keinen Nutzen zu erwarten haben. Ich habe hier für die Annahme eines Änderungsantrags geworben, der dies auch weiterhin verbieten und damit die bisher in Deutsch- land geltenden Gesetzeslage bestätigen sollte. Die Mehrheit des Parlaments hat sich aber dafür ent- schieden, alle drei Änderungsanträge abzulehnen und mit dem ursprünglichen Regierungsentwurf diejenige Rege- lung zu wählen, die ich absolut für die schlechtestmögli- che halte. Ehrlich gesagt, ich habe nicht damit gerechnet, dass die intensive Beratung in den Parlamentsgremien über ein so brisantes Thema an der absoluten Mehrheit des Hauses so komplett vorbeigehen kann. Deswegen kann ich das ganze Gesetz heute nur ableh- nen, auch wenn sich meine Fraktion für eine Enthaltung entschieden hat. Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass die Erwei- terung des Zugriffs der Pharmaforschung auf Menschen, die Ziel, Wesen und Tragweite eines Arzneimittelver- suchs nicht erfassen und ihren Willen nicht danach aus- richten können, unethisch und unnötig ist. Manche Debattenbeiträge der Befürworter am Mitt- woch haben mich in meiner Position eher noch bestärkt. Wenn etwa Versuche an lebenden und leidensfähigen Menschen gleichgesetzt werden mit Organspenden Verstorbener, dann sind wir nicht mehr weit entfernt von der Philosophie eines Peter Singer, der den Wert eines Menschen und sein Lebensrecht am Grad seiner Bewusstseins entwicklung festmacht und zum Beispiel postuliert, dass die Tötung eines behinderten Säuglings sehr oft gar kein Unrecht sei. Einer solchen selektiven Ethik kann ich, auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, nur schärfstens widersprechen. Dann wurde in der Debatte recht oft darauf hingewie- sen, dass ja die Ethikkommissionen schon für ausreichen- den Schutz der besonders verletzlichen Personen sorgen würden. Dabei hebelt dieser Gesetzentwurf gerade die Unabhängigkeit der Ethikkommissionen teilweise aus. Dieselbe Behörde, die auch die Arzneimittelstudien ge- nehmigt, soll künftig auch für die Registrierung der Lan- desethikkommissionen zuständig sein. Und die Voten der Ethikkommissionen sollen nicht mehr verbindlich, son- dern nur noch maßgeblich berücksichtigt werden müssen. In der Kombination erst werden diese beiden schein- bar kleinen Änderungen zu einem potenziell kritischen Einfallstor für unethische Forschung an menschlichen Versuchsobjekten. Als Gesundheitspolitikerin muss ich die Würde des Menschen und den Respekt vor seinen individuellen und sozialen Rechten viel zu oft gegen die Zumutungen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems verteidigen, das Krankheit als Rohstoff und Gesundheit als Ware behandelt und in dem der Mensch als Patien- tin oder Patient eben nur das Objekt widerstrebender Geschäftsinteressen ist. Für mich sind Menschen, ganz gleich wie schwer beeinträchtigt, erkrankt oder behindert sie sind, niemals als Objekt zu behandeln, auch nicht für einen vermeintlich guten Zweck. Deswegen stimme ich heute gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Ich stimme heute in der Dritten Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und ande- rer Vorschriften auf Drucksache 18/8034 mit Nein. Grund meiner Ablehnung ist die Einführung von fremdnützigen klinischen Arzneimittelprüfungen an nichteinwilligungsfähigen Menschen, die ausschließlich einen Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgrup- pe, zu der die betroffene Person gehört, zur Folge ha- ben wird, nicht jedoch für den nichteinwilligungsfähigen Probanden selbst, sogenannte gruppennützige klinische Prüfungen. Diese lehne ich aus ethischen Gründen ab und bekenne mich zu dem vom Deutschen Bundestag am 31. Januar 2013 einstimmig gefassten Beschluss: „Bei Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20049 (A) (C) (B) (D) und an Personen in Notfallsituationen ist ein direkter in- dividueller Nutzen vorauszusetzen.“ Die erkennbare Praxisuntauglichkeit der vorgesehe- nen schriftlichen Verfügung nach ärztlicher Aufklärung wird absehbar zu der Forderung führen, die schriftliche Verfügung einschließlich der ärztlichen Aufklärung als zwingende Voraussetzung gruppennütziger klinischer Prüfungsteilnahme nichteinwilligungsfähiger Personen zu streichen. Dies ist umso naheliegender, als diese Forde- rung von als vermeintlichen Befürwortern der jetzt getrof- fenen Regelung vorgestellten Gruppen bereits während der parlamentarischen Beratungen erhoben worden ist. Daher halte ich die Befürchtung für begründet, dass die heutige begrenzte Zulassung fremdnütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen der Türöffner für die zukünftige Einbeziehung zusätzlicher besonders vulnerab- ler Gruppen in fremdnützige Forschung ist. Katrin Werner (DIE LINKE): Der Deutsche Bun- destag stimmt heute über einen Entwurf der Bundesre- gierung eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimit- telrechtlicher und anderer Vorschriften ab. Zu diesem Gesetz wurden mehrere Gruppenänderungsanträge ein- gebracht. Bisher ist eine sogenannte gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen nach dem Arzneimittel- recht ausgeschlossen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung will dieses Verbot nun insoweit aufwei- chen, dass zukünftig eine Teilnahme volljähriger Nicht- einwilligungsfähiger auch ohne persönlichen Nutzen zulässig ist, wenn die Betroffenen im früheren Zustand der Einwilligungsfähigkeit mittels Patientenverfügung nach § 1901a BGB einer Teilnahme zugestimmt haben. Die Regelung wird voraussichtlich vor allem Menschen mit neurodegenerativen, beispielsweise dementiellen Er- krankungen betreffen. Die Würde und Sicherheit der Probandinnen und Pro- banden muss immer im Vordergrund stehen. Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen muss mit einem erwartbaren Eigennutzen verbunden sein. Ansonsten droht eine Verzweckung von Menschen. Leider hat der Ände- rungsantrag zur Erhaltung der derzeitigen hohen Schutz- standards keine Mehrheit gefunden. Daher habe ich heute gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung gestimmt. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Ich lehne die nicht fremdnützige Forschung an nicht mehr einwilli- gungsfähigen Patienten ab. Patienten müssen in der Lage sein, eine einmal gegebene Einwilligung jederzeit wieder zurückziehen zu können. Können sie dies nach dem Ver- lust ihrer Einwilligungsfähigkeit nicht und werden Ob- jekte fremdnütziger Forschung, werden sie als Mittel für Zwecke anderer benutzt. Dies ist mit der Menschwürde aus meiner Sicht nicht vereinbar. Dagegen kann auch nicht argumentiert werden, dass der Mensch sich altruistisch verhalten könne. Sosehr dies zutrifft und etwa die freiwillige Teilnahme an fremdnüt- ziger Forschung oder die Spende von Organen bei Le- benden Beispiele eines solchen altruistischen Verhaltens sind, beruhen sie auf der Möglichkeit des jederzeitigen Rücktritts. Dies ist bei nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten nicht gegeben. Darüber hinaus öffnet diese Möglichkeit der fremd- nützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen – und damit auch nicht rücktrittsfähigen – Patienten die Tür zu einem Präferenzutilitarismus, wie ihn der australische Philosoph Peter Singer vertritt. Dieser vertritt aber ein Menschenbild, das mit der Würde des Menschen in ei- nem christlichen Verständnis nicht mehr vereinbar ist und zu Recht abgelehnt wird. Anlage 5 Amtliche Mitteilung ohne Verlesung Der Bundesrat hat in seiner 950. Sitzung am 4. No- vember 2016 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zur Änderung des Kommunalinvestitions- förderungsgesetzes und zur Änderung weiterer Ge- setze – Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungs- gesetz 2016/2017 (BBVAnpG 2016/2017) – Gesetz zur weiteren Fortentwicklung der parla- mentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes – Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklä- rung des Bundesnachrichtendienstes – Zweites Gesetz zur Änderung des Berufskraftfah- rer-Qualifikations-Gesetzes – Gesetz über die elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln (Elektromagnetische-Verträg- lichkeit-Gesetz – EMVG) – Gesetz zur Änderung der Artikel 8 und 39 des Übereinkommens vom 8. November 1968 über den Straßenverkehr Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2016 Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaus- haltsordnung über die Einwilligung in eine über- planmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 671 03 – Erstattung der Kosten für Maßnahmen im Fi- schereisektor – bis zur Höhe von 8 Mio. Euro Drucksachen 18/9224, 18/9596 Nr. 1.4 Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 201620050 (A) (C) (B) (D) Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 62 Absatz 1 des Energiewirtschaftsgesetzes Energie 2015: Ein wettbewerbliches Marktdesign für die Energiewende Drucksachen 18/6432, 18/6605 Nr. 1.4 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpoli- tik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre 2015 (Rüstungsexportbericht 2015) Drucksachen 18/9160, 18/9595 Nr. 1.2 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 62 Absatz 1 des Energiewirtschaftsgesetzes Energie 2015: Ein wettbewerbliches Marktdesign für die Energiewende Drucksache 18/6432 hier: Stellungnahme der Bundesregierung Drucksachen 18/9870, 10102 Nr. 1.6 Ausschuss für Arbeit und Soziales – Unterrichtung durch die Bundesregierung Zwölfter Bericht der Bundesregierung über die Er- fahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmer- überlassungsgesetzes Drucksachen 18/673, 18/817 Nr. 4 Ausschuss für Kultur und Medien – Unterrichtung durch die Bundesregierung Weiterentwicklung der Konzeption zur Erfor- schung, Bewahrung, Präsentation und Vermittlung der Kultur und Geschichte der Deutschen im öst- lichen Europa nach § 96 des Bundesvertriebenen- gesetzes Drucksache 18/7730 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Drucksache 18/419 Nr. A.49 Ratsdokument 17392/13 Drucksache 18/419 Nr. A.50 Ratsdokument 17618/13 Drucksache 18/419 Nr. A.51 Ratsdokument 17621/13 Drucksache 18/419 Nr. A.52 Ratsdokument 17633/13 Drucksache 18/419 Nr. C.9 Ratsdokument 8065/13 Drucksache 18/419 Nr. C.10 Ratsdokument 8066/13 Drucksache 18/419 Nr. C.11 Ratsdokument 8145/11 Drucksache 18/419 Nr. C.12 Ratsdokument 8160/11 Drucksache 18/419 Nr. C.13 Ratsdokument 8163/11 Drucksache 18/1393 Nr. A.24 Ratsdokument 7838/14 Finanzausschuss Drucksache 18/9746 Nr. A.3 Ratsdokument 11583/16 Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 18/2677 Nr. A.10 Ratsdokument 12816/14 Drucksache 18/4857 Nr. A.6 Ratsdokument 7634/15 Drucksache 18/8140 Nr. A.13 EP P8_TA-PROV(2016)0064 Drucksache 18/8293 Nr. A.8 Ratsdokument 7614/16 Drucksache 18/8293 Nr. A.9 Ratsdokument 7616/16 Drucksache 18/8470 Nr. A.18 Ratsdokument 8100/16 Drucksache 18/8470 Nr. A.19 Ratsdokument 8104/16 Drucksache 18/8936 Nr. A.20 Ratsdokument 9610/16 Drucksache 18/8936 Nr. A.21 Ratsdokument 9611/16 Drucksache 18/8936 Nr. A.23 Ratsdokument 9727/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.51 Ratsdokument 10847/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.52 Ratsdokument 11120/16 Drucksache 18/9746 Nr. A.4 Ratsdokument 11772/16 Drucksache 18/10116 Nr. A.20 EP P8_TA-PROV(2016)0333 Drucksache 18/10116 Nr. A.21 Ratsdokument 12153/16 Drucksache 18/10116 Nr. A.22 Ratsdokument 12364/16 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Drucksache 18/9605 Nr. A.58 Ratsdokument 10864/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.59 Ratsdokument 11482/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.62 Ratsdokument 11522/16 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 18/9141 Nr. A.35 Ratsdokument 10209/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.67 Ratsdokument 10826/16 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 200. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 36 Arzneimittelrechtliche Vorschriften (3. Lesung) TOP 37 6. Bericht Bildung in Deutschland 2016 TOP 38, ZP 11 Große Anfrage zur Verbrechensserie des NSU TOP 39 Grundsicherung für ausländische Personen Anlagen Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820000000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich zu unserer 200. Sitzung. Ich hoffe, dass der Ju-
biläumscharakter dieser Plenarsitzung mindestens die
Stimmung fördert, vielleicht auch die Tonlage besonders
freundlich stimmt.

Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung
darauf verständigt, während der Haushaltsberatungen,
die wir in unserer nächsten Sitzungswoche abschließend
durchführen, wie in den Haushaltswochen üblich, keine
Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und
auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Prä-
senztage sind die Tage von Montag, den 21. November
2016, bis Freitag, den 25. November 2016, festgelegt
worden. Ich vermute, dass Sie alle damit einverstanden
sind. – Ich stelle das hiermit fest. Damit ist auch der Ab-
lauf der Haushaltswoche gesichert.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:

Dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes
zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an-
derer Vorschriften

Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461
Nr. 1.5, 18/10280

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


Drucksache 18/10056

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung werden
wir nachher namentlich abstimmen. Die in der zwei-
ten Beratung am vergangenen Mittwoch beschlossenen
Änderungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
können Sie der Zusammenstellung in der Drucksa-
che 18/10280 entnehmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch dazu

höre ich keinen Widerspruch, also können wir so verfah-
ren. Auf diesem Wege mache ich zumindest akustisch
den größeren Teil der Kolleginnen und Kollegen, der
noch nicht im Plenum ist, über die Lautsprecher in den
Büros vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass wir etwa
gegen 9.40 Uhr die namentliche Abstimmung durchfüh-
ren werden.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1820000100

Schönen guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolle-

ginnen und Kollegen! Es ist mir eine besondere Ehre, in
dieser 200. Sitzung die erste Rede halten zu dürfen. Ich
erinnere daran, dass wir Christen heute, am 11.11., den
Martinstag begehen. Da sind Teilen und Nächstenliebe
in unserem Kopf und in unseren Ohren, und mit diesem
Duktus möchte ich gern jetzt meine Rede halten.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Und in unseren Herzen!)


– In den Herzen sowieso, lieber Kollege Tino Sorge. –
Ich glaube, es ist wichtig, mit diesem Duktus die dritte
Lesung zu einem Gesetz zu beginnen, nämlich, kurz ge-
sagt, der vierten AMG-Novelle, die viele Dinge beinhal-
tet, die uns in der zweiten Lesung sehr stark beschäftigt
haben, aber auch Einzelregelungen für den Arzneimittel-
markt und die Gesundheitspolitik insgesamt, auf die ich
dann kurz eingehen möchte.

Es ist wichtig, festzustellen, dass wir uns gerade für
dieses Gesetz, das die Umsetzung einer EU-Verordnung
darstellt, sehr viel Zeit genommen haben, uns intensivste
Beratungen – inhaltlich, auch zeitlich – genehmigt ha-
ben; das war wichtig und richtig. Deshalb liegt uns heute
eine Beschlussempfehlung vor, über die wir namentlich
abstimmen werden. Als Christin werde ich ihr guten Ge-
wissens zustimmen; das sage ich gleich am Anfang.

Uns ist wichtig, zu sagen, dass es ein nicht alltäglich
vorkommendes Verfahren ist; denn in der Regel haben
wir die zweite und dritte Lesung in einem Block. Inso-






(A) (C)



(B) (D)


fern  finde  ich  es  unfair,  wenn  immer  noch  laut  gesagt 
wird, dieses Gesetz sei nicht ordentlich beraten worden.


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sagt das denn?)


Ich stelle fest: Das kann von denjenigen im Parlament,
die bei diesem Prozess dabei waren, niemand behaupten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Regeln in diesem Gesetz umfassen unter anderem
Vorgaben aus der EU-Verordnung, deren Umsetzung not-
wendig ist; denn wenn wir sie nicht geregelt hätten, griffe
sofort die EU-Verordnung durch, und das würde unseren
Standards, vor allen Dingen unseren ethischen Standards,
nicht entsprechen. Wir sind eines der wenigen Länder der
Europäischen Union, die dieses Recht wahrnehmen.

Ich möchte Ihnen aber trotzdem in Erinnerung rufen,
dass in diesem Gesetz ganz wichtige Dinge enthalten
sind, zum Beispiel die Regelung des Status des Apo-
thekers; das stellen wir klar. Die Änderung der Bun-
des-Apothekerordnung, also im Grunde genommen der
Berufsordnung, die klare Vorgaben vorsieht, ist Bestand-
teil dieses Gesetzes. Das ist gerade in dieser Zeit ganz
wichtig.

Ich möchte auch darauf hinweisen: Wir haben mit
Änderungen an mehreren anderen Gesetzen die Teleme-
dizin, die Nutzung von elektronischen Kommunikations-
möglichkeiten, erlaubt und geregelt. Aber – das ist uns
mit Blick auf die Zukunft wichtig – in diesem Gesetz le-
gen wir unter anderem auch fest, dass die Verschreibung
und  die Abgabe  von  verschreibungspflichtigen Arznei-
mitteln nur möglich sind, wenn zuvor wenigstens ein ers-
ter Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden hat. Es ist uns
wichtig, diese Vertrauensbasis zwischen Patienten und
Arzt in den Mittelpunkt zu stellen. Ansonsten können
die Möglichkeiten der modernen Kommunikation ge-
nutzt werden. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass
Teleshopping und auch das Werben für Teleshopping in
Deutschland nicht gewünscht, nicht erlaubt sind.

Wir haben im parlamentarischen Verfahren besonders
geregelt, welche Maßnahmen im Falle von gefälschten
Arzneimitteln ergriffen werden müssen – wir denken
immer, das käme nicht vor, aber es kommt leider doch
immer wieder vor –, und sehen ein klares Rückgriffsrecht
und Verfolgungsrecht vor. Auch das ist Bestandteil des
Gesetzes.

In dem Gesetz wird noch einmal klargestellt, wie das
Verhältnis der Arbeit der Ethikkommissionen ist. Wir
haben die Bundesbehörden, und wir haben die Landes-
ethikkommissionen, die in einem Stufenverfahren mit-
einander in Abstimmung stehen. Wir regeln auch, dass
von den drei Ärzten, die in diesen Ethikkommissionen
sein müssen, mindestens einer ist, der sich mit toxikolo-
gischen Dingen auskennt, und mindestens einer ist, der
Erfahrung in klinischer Forschung hat. Das ist deshalb
wichtig, weil der Kern dieses Gesetzes ja darauf abzielt:
Unter welchen Voraussetzungen sind klinische For-
schungen an nicht einwilligungsfähigen Personen, die
keinen eigenen Nutzen davon haben, möglich? Einerseits
wollen wir und schaffen wir jetzt ganz strenge Verfahren

und Mechanismen, unter welchen Voraussetzungen das
in Deutschland ermöglicht wird.

Ich füge hinzu: Uns als Union ist es wichtig, dass auch
in Deutschland für Krankheiten, die wir heute kennen,
aber auch für Krankheiten, die heute in unseren Köpfen
noch nicht so präsent sind, für Stadien, die sich später
entwickeln – es ist nicht nur die Demenzerkrankung, die
im späten Stadium in unterschiedlichen Formen auftritt;
es sind auch andere Krankheiten –, Medikamente gefun-
den werden, die für die betroffenen Menschen eine Hei-
lung oder eine Leidlinderung ermöglichen.

Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn Menschen
sagen: Ich habe Angehörige zu Hause oder Freunde, die
ganz schwer erkrankt sind und die in diesen Situationen
der Demenz auch das Umfeld beeinflussen; sie leben ja 
in ihrer eigenen Welt. Viele sagen: Ich möchte, dass dafür
geforscht wird, damit die Krankheit abgewendet werden
kann, die Menschen geheilt werden oder zumindest die
Symptome behandelt werden können, damit die Krank-
heit einen menschlicheren Verlauf hat. Das ist uns wich-
tig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage auch: Es ist freiwillig. Niemand muss es
machen. Selbst wenn jemand eingewilligt hat, kann er
jederzeit seine Einwilligung zurückziehen. Das kann er
auch, wenn er nicht mehr im vollen Bewusstsein seines
Geistes ist, wenn er in dieser nebulösen Welt lebt. Durch
körperliche Bewegung, durch Abwehrhaltung kann man
genau erkennen, was dem Menschen guttut und was er
nicht will.

Wir regeln, dass die betroffenen Angehörigen bzw. –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820000200

Frau Kollegin Michalk.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1820000300

– sofort –


(Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


auch die Betreuer genau diesen Wunsch des erkrankten
Menschen zu respektieren haben. Deshalb ist es ein gutes
Gesetz. Wir senken nicht die Standards. Ich bitte herzlich
um Ihre Zustimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820000400

Ich bitte um Verständnis, dass ich trotz der Jubiläums-

sitzung nicht jedem Redner eine deutlich erweiterte Re-
dezeit zubilligen kann.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Aber Frau Michalk schon!)


Die Kollegin Wöllert ist die Erste, die dieser Hinweis
trifft. Das gilt aber auch für alle nachfolgenden Redner.
Bitte schön.


(Beifall bei der LINKEN)


Maria Michalk






(A) (C)



(B) (D)



Birgit Wöllert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820000500

Sehr geehrter Herr Präsident, ich gebe mir große

Mühe, diesen Hinweis zu beachten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf
den Zuschauertribünen! „Änderung arzneimittelrechtli-
cher und anderer Vorschriften nach Europarecht“ ist ja
ein ziemlich sperriger Titel, und kaum einer kann sich
vorstellen, worüber wir denn bei diesem Tagesordnungs-
punkt eigentlich reden. Aber es ist etwas, was uns alle
angeht. Es geht nämlich darum: Wie wird medizinischer
Fortschritt auch künftig gesichert, und wie ist er mit dem
Schutz von Menschen in Einklang zu bringen, die an Stu-
dien teilnehmen, um diesen Fortschritt zu ermöglichen?
Um nicht mehr und nicht weniger geht es heute.

Wir haben am Mittwoch 90 Minuten zu einem Aus-
schnitt aus diesem Gesetz diskutiert. Es war eine der
Sternstunden der Diskussion – so stand in einer Zei-
tung –, weil freigegeben würde, wie sich die einzelnen
Abgeordneten verhalten. Deshalb werde ich heute auf
diesen Punkt nicht mehr eingehen. In den fünf Minuten,
die mir zur Verfügung stehen, möchte ich über die vielen
anderen wichtigen Aspekte im Gesetz sprechen, die auch
heute zur Abstimmung stehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])


Klinische Prüfungen sind immer ethisch sensibel. Das
öffentliche Interesse am medizinischen Fortschritt muss
gegen die Risiken für die Menschen, die an Versuchen
oder an Forschungsreihen teilnehmen und sich freiwillig
zur Studienteilnahme bereit erklärt haben, abgewogen
werden.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Dafür macht man ja dieses Gesetz!)


Umso wichtiger ist das Vertrauen in der Bevölkerung,
dass die Gesundheit der sogenannten Probandinnen und
Probanden – so nennt man diese Teilnehmer – nicht
unnötig aufs Spiel gesetzt wird. Ein durchweg hohes
Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
zu gewährleisten, bedeutet, dass in jedem einzelnen Fall
eine unabhängige ethische Abwägung getroffen werden
muss. Das bedeutet auch, Menschen zu gewinnen, die
freiwillig und gut informiert ihre Zustimmung zur Teil-
nahme an einer Studie geben.

Jede Studie, die sich mit einer anderen doppelt, ist
ethisch hochproblematisch; denn Risiken für die Studi-
enteilnehmer und -teilnehmerinnen wären vermeidbar.
Auch aus diesem Grund ist die Forderung nach einem
umfassenden Studienregister in diesem Gesetz so wich-
tig.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber leider haben Pharmaunternehmen nach wie vor die
Möglichkeit, unliebsame Studienergebnisse der Öffent-
lichkeit vorzuenthalten. Das ist eine verpasste Chance.
Das ist das Gegenteil von Transparenz, die für Vertrauen
unabdingbar ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch der marketingorientierte Missbrauch von Beobach-
tungsstudien bleibt weiter möglich und kann die klini-
sche Forschung daher eher diskreditieren oder in Verruf
bringen, wie man so schön sagt. Das bringt für den ge-
samten Forschungsbereich mehr Schaden als medizini-
schen Fortschritt.


(Beifall bei der LINKEN)


Durch das Gesetzgebungsverfahren hatten wir die
Chance, bekannte Missstände abzubauen und damit das
Vertrauen in die Forschung zu erhöhen. Die Änderungen
bei den Meldevorgaben begrüßen wir, doch leider lösen
sie das eigentliche Problem nicht.

Der Probandenschutz ist in Deutschland grundsätz-
lich gut ausgeprägt. Sicher trägt das auch dazu bei, dass
Deutschland zu den Spitzenreitern bei der Durchführung
von klinischen Studien gehört. Umso mehr müssen alle
Regelungen sehr kritisch hinterfragt werden, die das Ver-
trauen in die ethische Beurteilung beschädigen könnten.
Ohne Not werden in diesem Gesetz Schritte unternom-
men, ein gut funktionierendes System in eine problema-
tische Richtung zu verändern. Die zustimmende Empfeh-
lung der Ethikkommission hätte deshalb verbindlicher
Teil des Genehmigungsprozesses bleiben müssen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Warum es eine Verordnungsermächtigung für die Ein-
richtung einer Bundesethikkommission geben soll, er-
schließt sich nun gar nicht. In der Gesetzesbegründung
wird ausgeführt, eine solche Kommission würde nur
gebraucht, wenn nicht genug Landesethikkommissionen
registriert sind. Warum, zum Teufel, trauen Sie auf ein-
mal den bisher hervorragend arbeitenden Landesethik-
kommissionen nicht mehr?


(Beifall bei der LINKEN)


Sowohl die schwächere Bindung an das Votum einer
Ethikkommission als auch die Drohkulisse der Einrich-
tung einer Bundesethikkommission wird die Länder-
ethikkommissionen spürbar unter Druck setzen.

Die Regelungen, die nichtklinische Forschungen be-
treffen, sind aus unserer Sicht in Ordnung. Wir begrüßen
etwa das Verbot der Abgabe von Arzneimitteln über Te-
leshopping und die Neudefinition des Apothekerberufs. 

Es lagen uns 17 Änderungsanträge der Koalition vor.
In einem Großteil davon wird die Kritik des Bundesrates
ernst genommen. Positiv hervorzuheben sind die vorge-
schriebene Zusammensetzung der Ethikkommissionen, –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820000600

Frau Kollegin.


Birgit Wöllert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820000700

– Vorgaben für die Meldung von Beobachtungsstudien

und die Möglichkeit,  dass  der Ethikkommission Aufla-
gen gemacht werden.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820000800

Frau Kollegin.






(A) (C)



(B) (D)



Birgit Wöllert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820000900

Ich komme wirklich zum Schluss.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820001000

Aha.


(Heiterkeit)



Birgit Wöllert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820001100

Bei der Einbringung des Gesetzentwurfes sagte meine

Kollegin Kathrin Vogler: Es gibt hier noch viel Ände-
rungsbedarf. – Einiges davon wurde im Gesetzgebungs-
verfahren umgesetzt, vieles hätten wir uns noch ge-
wünscht. Das Glas ist nicht halb voll und nicht halb leer.
Deshalb empfehlen wir: Enthaltung.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820001200

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Stamm-

Fibich das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Martina Stamm-Fibich (SPD):
Rede ID: ID1820001300

Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und

Kollegen! Verehrte Besucher auf der Tribüne! Diese Wo-
che steht voll und ganz im Zeichen des Themas „Arznei-
mittel und Gesundheit“. Ich kann mich nicht erinnern,
dass wir uns schon einmal in einer Woche so oft im Ple-
num zusammengefunden haben.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Zum Thema Gesundheit! Sonst schon!)


Wir sind fleißig: Am Mittwoch haben wir über die grup-
pennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen
Erwachsenen debattiert. Ich denke – da gebe ich der
Kollegin Wöllert recht –, das war eine ordentliche und
anständige Debatte. Über die vorliegenden Änderungs-
anträge wurde abgestimmt. Auch ich hätte mir ein ande-
res Ergebnis gewünscht; aber so ist das in der Demokra-
tie, und die Debatte stand diesem Haus gut an.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das gilt auch in Amerika, dass das Demokratie ist!)


Gestern folgte die erste Lesung des Arzneimittelversor-
gungsstärkungsgesetzes. Heute kommen wir zu Teil drei,
zur dritten Lesung des Entwurfs des Vierten Gesetzes zur
Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschrif-
ten, kurz: AMG-Novelle. Auch ich finde diesen Begriff 
recht sperrig.

Vieles in diesem Gesetzentwurf ist unstrittig und wird
erhebliche Verbesserungen in unserer Versorgungsland-
schaft mit sich bringen. Aus meiner Sicht ist die Debatte
über die gruppennützige Forschung ein gutes Beispiel
dafür, wie wichtig es ist, dass Fragestellungen nicht nur
politisch angegangen werden, sondern auch möglichst
frühzeitig gesellschaftlich debattiert werden. Ich möch-
te zwei Punkte aus diesem Gesetzentwurf herausgreifen,
über die es sich nachzudenken lohnt.

Laut einer aktuellen Umfrage können 94 Prozent der
Apotheker mehrmals pro Woche Medikamente nicht auf-
treiben. Dann heißt es auf den Zetteln an den leeren Re-
galfächern und in den Medikamentenlagern: Hersteller
defekt. Besonders davon betroffen sind die Impfstoffe.
Acht sind es laut einer aktuellen Liste des Paul-Ehr-
lich-Instituts mit Humanimpfstoffen, bei denen es Lie-
ferengpässe gibt. Diese Liste beruht bislang auf einer
freiwilligen Meldung der Arzneimittelhersteller. Doch
Lieferengpässe können Leben gefährden; denn Krank-
heiten richten sich nicht nach der Verfügbarkeit von Arz-
neimitteln auf dem Markt.

Mit dieser AMG-Novelle schaffen wir nun die Rechts-
grundlage für mehr Transparenz über die verfügbaren
Arzneimittel. Die Ständige Impfkommission und die
medizinischen Fachgesellschaften sollen künftig Hand-
lungsempfehlungen zum Umgang mit Lieferengpässen
geben können. Das ist richtig und wichtig; denn wer
nicht weiß, was fehlt, kann auch keine Schritte zur Ver-
meidung von Lieferengpässen in die Wege leiten. Trans-
parenz und die Veröffentlichung von Informationen sind
ein wichtiger Schritt, um Versorgungsengpässe künftig
zu vermeiden.

Bis zuletzt habe ich mich in der Debatte über diesen
Gesetzentwurf für die Abschaffung des Fernverschrei-
bungsverbots eingesetzt. Ich bleibe dabei, dass ohne
Notwendigkeit eine berufsrechtliche Regelung zur Fern-
behandlung in den Gesetzentwurf aufgenommen wur-
de. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass eine Abgabe von
verschreibungspflichtigen  Arzneimitteln  nicht  erfolgen 
darf, wenn vor der ärztlichen Verschreibung kein direk-
ter Kontakt zwischen dem Arzt und der Person, für die
das Arzneimittel verschrieben wird, stattgefunden hat.
Hiervon darf in begründeten Fällen jedoch abgewichen
werden, insbesondere wenn die Person dem Arzt aus
vorangegangenen Kontakten hinreichend bekannt ist
und es sich um eine Wiederholung oder Fortsetzung der
Behandlung handelt. Dem Wortlaut des Gesetzentwurfs
nach muss es zunächst einen nicht definierten begründe-
ten Ausnahmefall geben. Erst dann greift die Wiederho-
lung oder Fortsetzung. Aus meiner Sicht kann das im Fall
einer Schmerztherapie durchaus hinderlich sein. Durch
diese Koppelung wird bereits eine leichte Dosiserhöhung
ausgeschlossen.

Die Neuregelung in § 48 Arzneimittelgesetz weitet
damit das ärztliche Berufsrecht auf weitere Leistungser-
bringer aus, nämlich auf die Apotheker. Sie werden so
nicht wollend zu einer Kontrollinstanz. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, kann der Apotheker an der Nasenspit-
ze erkennen, ob ein Patient vorher beim Arzt war? Nein,
das kann er nicht. Aus meiner Sicht ist die Telemedizin
ein wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung, Verbes-
serung und Verkürzung von Versorgungswegen, gerade
vor dem Hintergrund des demografischen Handelns.


(Beifall bei der SPD)


Erst vor knapp einem Jahr haben wir das E-Health-Ge-
setz verabschiedet und uns ausdrücklich zum Potenzial
digitaler Anwendungen für die Qualität und die Wirt-
schaftlichkeit der Patientenversorgung bekannt. Dies ist
besonders in ländlichen Regionen von Relevanz, in de-






(A) (C)



(B) (D)


nen Fahrtwege zu Ärzten und Wartezeiten zunehmend zu
Zugangshürden werden. Ich kann bis heute nicht verste-
hen, warum dieses Verbot es ins Gesetz geschafft hat. Ich
halte dieses Verbot von Fernverschreibungen für nicht
zielführend. Ansonsten, glaube ich, dass wir mit der vier-
ten AMG-Novelle ein gutes Gesetz gemacht haben, das
für viele Verbesserungen in diesem Land sorgen wird.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820001400

Das Wort hat nun die Kollegin Schulz-Asche für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ich hoffe, dass Sie heute Morgen
beim Frühstück den Kommentar von Jan Heidtmann in
der Süddeutschen Zeitung gelesen haben, der sich noch
einmal mit dem Thema befasst, über das wir hier am
Mittwoch namentlich abgestimmt haben, nämlich mit
der Frage, inwieweit die Forschung mit Menschen, mit
Erwachsenen, die nicht mehr einwilligungsfähig sind, er-
leichtert werden soll, wenn sie keinen individuellen Nut-
zen mehr davon haben. Die Mehrheit dieses Hauses hat
am Mittwoch ein Gesetz gebrochen: Wenn man bewährte
Gesetze hat, sollte man diese nicht ändern. Das ist hier
leider geschehen. Ich fordere Sie weiterhin auf, dafür zu
sorgen, dass das derzeitige hohe Schutzniveau, das wir
in Deutschland haben, erhalten bleibt. Ich bitte Sie, mit
Nein zu stimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Nun werden einige von Ihnen sagen: Wir haben bei
uns in den Bundesländern Ethikkommissionen, die sich
ohnehin damit befassen. Sie begutachten diese ganzen
Arzneimittelstudien. Sie machen eine super Arbeit. Ihre
Kompetenzen werden durch das Gesetz noch ausgewei-
tet. – Aber wenn Sie das Gesetz richtig gelesen haben,
dann wissen Sie, dass die Ethikkommissionen, so wie wir
sie kennen – sie leisten vorbildliche Arbeit in allen Bun-
desländern –, durch dieses Gesetz entmachtet werden.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Aha!)


– Dann lesen Sie einmal das Gesetz. – Künftig soll das
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
mit einer entsprechenden Begründung vom Votum einer
Ethikkommission abweichen


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist die absolute Ausnahme! Stimmt doch nicht!)


und eine Studie unabhängig von der Stellungnahme und
Entscheidung einer Ethikkommission zulassen können.
Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie heute mit Nein, damit
die Genehmigung einer klinischen Studie weiterhin von
der positiven bindenden Stellungnahme der zuständigen

interdisziplinären und unabhängigen Ethikkommission
abhängig bleibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir brauchen klinische Studien, damit der medizini-
sche Fortschritt bei den Menschen ankommt. Aber wir
brauchen auch Vertrauen in Forschung. Das bindende
Votum von Ethikkommissionen trägt hierzu bei. Die
Ethikkommissionen haben für dieses Vertrauen gesorgt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Mit diesem Gesetz zerstören Sie in mehrfacher Hinsicht
das Vertrauen in die Forschungslandschaft in Deutsch-
land.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ha! Ha!)


Zum Verbot von Fernbehandlungen und Fernver-
schreibungen hat Frau Stamm-Fibich alles gesagt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!)


Die Tatsache, dass die SPD an der Stelle geklatscht hat,
führt vielleicht dazu, dass Sie das Gesetz ablehnen wer-
den.

Ich möchte noch auf ein Thema eingehen, das Sie
nicht angehen, und zwar die sogenannten Anwendungs-
beobachtungen. Die Bundesregierung versäumt zum
wiederholten Male – sie lässt die Chance erneut verstrei-
chen –, die Korruptionsanfälligkeit solcher Studien zu
beheben. Solche Studien sind intransparent in Bezug auf
die beteiligten Ärztinnen und Ärzte und auf die mögliche
Beeinflussung von Verschreibungsverhalten. Zuletzt hat 
eine gemeinsame Recherche von Correctiv, NDR, WDR
und Süddeutscher Zeitung gezeigt, in welchem Ausmaß
Pharmaunternehmen mithilfe von Anwendungsbeobach-
tungen Einfluss  auf Ärztinnen und Ärzte  nehmen. Was 
ist mit der Aufklärungspflicht gegenüber den Patientin-
nen und Patienten? Die Bundesregierung ist bisher nicht
gewillt, diese Lücke zu schließen und Transparenz bei
Anwendungsbeobachtungen zu schaffen sowie zur Ge-
währleistung von Patientensicherheit beizutragen.

Herr Lauterbach hat kürzlich ein Interview – es um-
fasst zwei Seiten – zu den Anwendungsbeobachtungen
gegeben. Es trägt die Überschrift: Das ist eine Form der
legalen Korruption.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Herzlichen Glückwunsch! Wieder alle unter Generalverdacht gestellt!)


Ich frage Sie, wie Sie hier als mitregierende Fraktion
heute einen Gesetzentwurf verabschieden wollen, in dem
Sie genau dieses Thema nicht aufgreifen, in dem Sie die
Korruptionsanfälligkeit dieser Anwendungsbeobachtun-
gen nicht angehen. Das ist meine Frage. Auch deswegen
werden wir mit Nein stimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, der Arzneimittelbereich ist
in großer Bewegung. Wir haben es mit vielen Innovati-

Martina Stamm-Fibich






(A) (C)



(B) (D)


onen zu tun und stehen vor großen Herausforderungen.
Umso wichtiger ist es, dass wir die Unabhängigkeit von
Forschung und die Patientenrechte in den Mittelpunkt
stellen.


(Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Wir sind uns der hohen Bedeutung klinischer Prüfun-
gen bewusst. Das Gesetz zerstört aber Vertrauen, wo wir
Vertrauen brauchen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt Kurzintervention!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820001500

Zu einer Kurzintervention erhält Herr Lauterbach

das Wort. Machen Sie es aber bitte wirklich kurz, Herr
Lauterbach.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1820001600

Weil ich erwähnt wurde, will ich zum einen darauf

hinweisen, dass ich in diesem Interview im Kölner
Stadt-Anzeiger, das angesprochen wurde, ganz konkrete
Vorschläge dazu unterbreitet habe, wie man dem Pro-
blem des Missbrauchs der Anwendungsbeobachtungen
begegnen kann. Die Legislaturperiode läuft ja noch.

Zum anderen möchte ich sagen: Das Gesetz, das wir
heute beschließen,


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Hat damit gar nichts zu tun!)


beschäftigt sich nicht mit dem Problem, das im Interview
angesprochen wurde.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Das heißt, wer lesen kann, ist klar im Vorteil!)


Darin ging es nicht um dieses Problem. Es kann nicht
angehen, dass hier der Eindruck erweckt wird, als ob ich
dort das Gesetz, das wir heute auch mit meiner Stimme
beschließen werden, aufgrund von Unvollständigkeit kri-
tisiert hätte.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820001700

Okay. – Frau Kollegin Schulz-Asche noch einmal.

Bitte schön.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Kollege Lauterbach, Sie haben recht,
dass das in dem vorgelegten Gesetzentwurf tatsächlich
nicht enthalten ist. Das habe ich gerade ja auch kritisiert.

Das Arzneimittelgesetz, das heute geändert wird, ent-
hält allerdings die Regelungen zur Anwendungsbeob-
achtung, und mein Vorwurf war genau, dass Sie dieses

Thema in diesem Gesetzentwurf eben nicht aufgegriffen
haben. Deswegen werden wir mit Nein stimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820001800

Ich halte das einmal als vorbildliches Beispiel für eine

Kurz-Intervention fest und empfehle das als leuchtendes
Beispiel für ähnliche Annäherungen an diese Möglich-
keit unserer Geschäftsordnung.


(Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Jetzt hat der Kollege Erich Irlstorfer für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])



Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1820001900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach gründlichen Beratungen und intensiv geführten
Debatten beschließen wir heute das Vierte Gesetz zur
Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschrif-
ten. Darin setzen wir unter anderem den Grundstein für
die Weiterentwicklung hochwertiger klinischer Studien.
Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir
nicht nur beiläufig Anpassungen an die beiden EU-Ver-
ordnungen über klinische Prüfungen mit Humanarznei-
mitteln vor, sondern bringen wir auch richtungsweisende
Entscheidungen auf den Weg.

An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten par-
teiübergreifend noch einmal für den konstruktiven Aus-
tausch danken. Ich bin der festen Überzeugung, dass
wir mit den beschlossenen Regelungen zur gruppennüt-
zigen Forschung einen wichtigen Schritt in Richtung
Forschungsförderung getan haben, ohne unsere hohen
Schutzstandards, verehrte Kollegin Schulz-Asche, in
Deutschland zu gefährden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])


Ich bitte Sie deshalb darum: Schüren Sie weder Angst
noch Verunsicherung. Ich glaube, dass ist nicht ange-
bracht.

Gerade bei neurodegenerativen Erkrankungen wie
Demenzen entstehen bei den Betroffenen Veränderun-
gen im Verhalten und Erleben, die in späteren Stadien oft
Angst, Agitation und Aggression mit sich bringen, also
ganz andere Erscheinungen als bei leichten Demenzen.
Aus diesem Grund bin ich der Auffassung, meine sehr
geehrten Damen und Herren, dass eine Forschung mit
ausschließlich leicht Erkrankten nicht ausreicht, weil die
Ergebnisse nicht auf die Behandlung im fortgeschritte-
nen Stadium anwendbar sind.

Wie die Redner, die am Mittwoch für den beschlosse-
nen Änderungsantrag gesprochen haben, bereits klarge-
stellt haben, werden auch in Zukunft nichteinwilligungs-
fähige Patienten in Deutschland nicht an fremdnützigen
Studien teilnehmen dürfen. Bei gruppennützigen Studien

Kordula Schulz-Asche






(A) (C)



(B) (D)


wollen wir Patienten aber die Möglichkeit geben, in ei-
nem frühen Stadium selbst zu entscheiden, ob sie zum
Nutzen anderer Betroffener an ihnen teilnehmen wollen.
Und es bleibt dabei, dass nichteinwilligungsfähige Pati-
enten zu jeder Zeit aus gruppennützigen Forschungsstu-
dien aussteigen können, wenn sie ihren Unwillen kund-
tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Die Voraussetzungen, meine sehr geehrten Damen und
Herren, für eine solche Entscheidung der Betroffenen
sind ganz klar und auch streng geregelt, sodass wir hier
aus meiner Sicht weder ein ethisches noch ein praktisches
Problem haben. Deshalb vertreten wir diese Lösung.

Ein anderer Aspekt, der mir ein wichtiges Anliegen ist
und der in den vergangenen Tagen in der politischen De-
batte etwas in den Hintergrund rückte, ist der Patienten-
schutz, der durch dieses Gesetz auch weiterhin gestärkt
wird. Mit der Umsetzung der AMG-Novelle setzen wir
für die Diagnose und die Indikation bei einem Menschen
einen direkten Arzt-Patienten-Kontakt voraus. Das be-
deutet natürlich nicht, liebe Kollegen, dass wir uns Inno-
vationen und der Digitalisierung im Gesundheitswesen
verschließen wollen. Ganz im Gegenteil: Wir sehen in
der Telemedizin die Chance, den Zugang zu innovativen
Therapien und neuen Beratungsleistungen für Patienten
zu verbessern. Wir haben im E-Health-Gesetz aber einen
behutsameren Ansatz gewählt: Es sollen erst einmal die
notwendigen IT-Strukturen geschaffen werden, bevor der
Markt von Unternehmen aufgerollt wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, ich spre-
che auch in Ihrem Namen, wenn ich sage, dass die Digi-
talisierung im deutschen Gesundheitswesen hinsichtlich
Dynamik, aber auch hinsichtlich des Abbaus bürokrati-
scher Hürden noch erhebliche Ausbaupotenziale in sich
trägt. Nichtsdestotrotz bin ich der festen Überzeugung,
dass ein direkter Arzt-Patienten-Kontakt für die erste
Diagnose und medizinische Beratung eines Menschen
unabdingbar ist. Es hat seinen Grund, warum der direk-
te Arzt-Patienten-Kontakt jeher die Grundlage jeglicher
Therapieentscheidung war und auch bleiben wird.

Wir können auch nicht – ganz zu Recht – bei jeder
Gelegenheit die Stärkung der sprechenden Medizin for-
dern und dann bei so einer grundsätzlichen Frage wie der
Verschreibung von Arzneimitteln komplett auf echten
zwischenmenschlichen Kontakt und die therapeutischen
Effekte der Arzt-Patienten-Begegnung verzichten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der jetzt
gefundenen Regelung stärken wir die Sicherheit der Pa-
tienten, indem wir dem Risiko der Fehldiagnosen aus der
Ferne begegnen; denn in einer Onlinevideosprechstunde
kann der Patient zwar seine Beschwerden äußern, aber
der Arzt kann diese bisher weder überprüfen noch im-
mer mögliche Begleiterscheinungen erkennen. Wir wür-
den als Gesetzgeber Risiken für beide Seiten billigend in
Kauf nehmen, was aus meiner Sicht äußerst fragwürdig
wäre.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, am Mittwoch
haben wir über die strittigen Punkte des Gesetzentwurfes
eine Entscheidung herbeigeführt. Die übrigen Abschnit-
te der AMG-Novelle halte ich für nicht kontrovers. Sie
bringen wichtige Klarstellungen der Rechtslage. Ich bitte
Sie daher um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820002000

Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege

Edgar Franke.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1820002100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Zunächst möchte ich in Richtung von Frau Schulz-
Asche, die die Anwendungsbeobachtungen angespro-
chen hat, sagen, dass wir in diesem Haus mit dem § 299a
im StGB einen eigenen Tatbestand der Bestechlichkeit
im Gesundheitswesen geschaffen haben.


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht für die Anwendungsbeobachtungen!)


Viele Tatbestände sind in diesem Paragrafen geregelt.
Das war ein Erfolg für die Lauterkeit im Gesundheits-
wesen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das möchte ich ausdrücklich hier betonen, weil es wirk-
lich schwierig war, das auch durchzusetzen.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, werden in erster Linie Anpassungen
im Arzneimittelrecht vorgenommen. Es geht um kli-
nische Prüfungen und Humanarzneimittel. Das haben
schon mehrere gesagt, auch die Kollegin Stamm-Fibich
hat darauf hingewiesen. Ich möchte noch einmal drei As-
pekte erwähnen.

Der erste Aspekt ist ein ganz wichtiger: Arzneimit-
telsicherheit. Mit diesem Gesetz wollen und werden
wir sicherstellen, dass ein begründeter Fälschungsver-
dacht ausreicht – auch Maria Michalk hat darauf hin-
gewiesen –, um ein Arzneimittel wieder vom Markt zu
nehmen. Es ist momentan wirklich so, dass überall ge-
fälscht wird, dass gefälschte Arzneimittelpackungen in
legale Vertriebsketten kommen, nicht in erster Linie in
Deutschland, vor allen Dingen aber in Europa. In ganz
vielen Fällen haben Kriminelle sich, teilweise sogar aus
dem  Internet,  Druckvorlagen  von  Pharmafirmen  be-
schafft. Das ist ein Problem, das wir in der Praxis haben.
Denn mit bloßem Auge kann man die Fälschungen nicht
erkennen. Die WHO schätzt den Anteil der Fälschungen
auf 10 Prozent. Gerade in der Onkologie, wo Zytostati-
ka eingesetzt werden, geht es um Leben und Tod; es ist
ganz wichtig, dass wir hier handeln. Wir haben eine gute

Erich Irlstorfer






(A) (C)



(B) (D)


Regelung geschaffen, meine sehr verehrten Damen und
Herren, und sie wird auch wirksam sein. Denn der Rück-
ruf ist darin ausdrücklich geregelt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir packen ein weiteres Problem an. Wir alle wissen,
dass immer wieder darüber geklagt wird, dass nicht aus-
reichend Medikamente und gerade auch Impfstoffe zur
Verfügung stehen. Jetzt ist Herbst, und bald fängt der
Winter an. Wir schaffen insofern Transparenz, als die
Ständige Impfkommission und auch medizinische Fach-
gesellschaften künftig Handlungsempfehlungen geben
können. Das brauchen die Patienten; denn die Patienten
müssen sicher sein, dass sie im Krankheitsfall Medika-
mente bekommen; die Patienten müssen sicher sein, dass
sie mit wirksamen Impfstoffen geimpft werden. Das ist
eine wirklich gute Regelung, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, die wir in den Gesetzentwurf aufgenommen ha-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede noch ein-
mal auf einen strittigen Punkt zurückkommen: die beab-
sichtigte Zulassung gruppennütziger Forschung an nicht-
einwilligungsfähigen Menschen. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, der EU war bewusst, dass gerade wir
Deutschen aufgrund unserer Vergangenheit sehr sensibel
mit Forschung an Menschen umgehen müssen, die ihren
Willen nicht mehr eindeutig mitteilen können. Deshalb
hat sie auch den nationalen Parlamenten einen breiten
Spielraum eingeräumt. Seit dem Frühsommer haben
wir in diesem Hause im Ausschuss, aber auch öffentlich
ganz, ganz engagiert das Für und Wider diskutiert. Ich
finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Diskussionen 
nicht nur in den Anhörungen im Gesundheitsausschuss
haben gezeigt, dass wir uns ernsthaft und mit Niveau und
in der Tiefe mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben.

Wir haben vergangenen Mittwoch mehrheitlich ent-
schieden – auch das hat Frau Schulz-Asche angespro-
chen –, dass nichteinwilligungsfähige Menschen an
gruppennützigen Studien teilnehmen können, wenn sie
im gesunden Zustand, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräf-
te ihre Einwilligung zur Teilnahme erklärt haben. Dabei
setzen wir enge Grenzen, wann die Teilnahme erlaubt ist
und welche Untersuchungen im Rahmen einer solchen
Studie möglich sind.

Zunächst  schreiben wir  eine  verpflichtende  ärztliche 
Aufklärung über alle Risiken einer Studienteilnahme vor.
Dann muss auch noch eine eigenständige schriftliche
Einwilligung abgegeben werden. Man kennt zwar den
Forschungsinhalt einer künftigen Studie dann noch nicht,
aber auch die Betreuer müssen später umfassend aufge-
klärt werden, bevor sie für den Betreuten in die konkrete
klinische Prüfung einwilligen. Man hat also noch eine
Hürde eingebaut.

Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren,
das ist eine gute Regelung. Es ist auch eine ausgewogene
Regelung für die Wissenschaft. Für mich bedeutet die-
se Entscheidung, dass ich jederzeit die Möglichkeit zur

Ausübung meines Selbstbestimmungsrechtes habe, das
im Grundgesetz verankert ist. Jeder hat ja nach Artikel 2
Grundgesetz das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit. Dies ist nicht geringzuschätzen: Es ist ei-
nes der Grundrechte in unserem Grundgesetz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Martina Stamm-Fibich [SPD])


Eine Beschneidung dieses Freiheitsrechts, das ganz vor-
ne im Grundgesetz steht, muss immer – das wissen nicht
nur die Juristen – sehr gut begründet sein.

Abschließend: Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, man sollte niemandem verbieten, seine Bereitschaft
zur Teilnahme an Forschungsstudien zu erklären, die das
Schicksal künftig Betroffener lindern könnte. Deswegen
ist das ein guter und ausgewogener Gesetzentwurf, dem
man wirklich zustimmen kann.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820002200

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist

der Kollege Stephan Albani für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bitte noch einen Augenblick um Aufmerksamkeit,
bis wir dann zu den Abstimmungen über den Gesetzent-
wurf kommen. – Bitte schön, Herr Kollege Albani.


Stephan Albani (CDU):
Rede ID: ID1820002300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäs-

te auf den Tribünen! Als ich vor einigen Tagen erfuhr,
dass ich heute den letzten Redebeitrag zu dieser Debatte
leisten darf, war ich voller Sorge. Voller Sorge nicht des-
wegen, weil es immer hart ist, vor einer namentlichen
Abstimmung gegen den allgemeinen Störlärm anzure-
den. Nein, das war nicht meine Sorge. Meine Sorge war:
Über welchen Gesetzentwurf wird hier heute debattiert?

Vor Ihnen steht nicht nur ein Wissenschaftspolitiker,
der in der heutigen Gesundheitsdebatte sprechen darf,
sondern vor Ihnen steht auch – ich bekenne das – ein
Wissenschaftler, der in seinem Leben zahllose Ethikan-
träge gestellt hat. Wir haben Experimente mit Menschen
gemacht, glücklicherweise oder einfacherweise für mich
in Bereichen, wo die Patienten einwilligungsfähig waren,
nämlich im Bereich der Fehlhörigkeit. Aber das Ziel der
Wissenschaft ist am Ende, zu heilen. Wir wollen die gro-
ßen Geißeln der Menschheit überwinden. Insofern habe
ich, als ich überlegte, was ich an dieser Stelle sagen kann,
mich entschieden: Ich möchte genau auf diese Zielset-
zung eingehen.

Wir haben eine gute Debatte geführt. Wir haben am
Mittwoch ordentliche Argumente ausgetauscht. Aber es
kamen zwei Dinge vor, derentwegen ich nun konkreter
werden möchte.

Das eine war: Es wurde davon gesprochen, dass Alz-
heimer-Demenz irreversibel ist. Nach heutiger Kenntnis
ist das so. Aber vor 50 Jahren war auch Taubheit unüber-

Dr. Edgar Franke






(A) (C)



(B) (D)


windbar. Heute ist nur eine Routineoperation notwen-
dig, um Taube wieder hörend zu machen. Wir können
in Kürze Blinde wieder sehend machen. Wir wollen in
Zukunft solche Geißeln wie Tuberkulose und Kinderläh-
mung überwinden. So muss es auch das Ziel sein, Alz-
heimer-Demenz und andere neurodegenerativen Krank-
heiten zu heilen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wenn wir das tun wollen, dann brauchen wir auch die
Möglichkeit, Studien mit Patienten durchzuführen, die
zum Zeitpunkt der Studiendurchführung nicht mehr ein-
willigungsfähig sind.


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja jetzt erlaubt!)


Es hieß dann am Mittwoch – das war das andere, was
mir aufgefallen ist –, dass, wenn wir das durch das Gesetz
zulassen, Menschen zu medizinischen Versuchsobjekten
gemacht werden. Bei dieser Aussage wird im Deutschen
der passive Aspekt betont: Wir machen die Menschen zu
etwas. – Das ist unwahr. Die Patienten bzw. die Men-
schen haben zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch im
Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, die Möglichkeit,
selbst zu entscheiden, ob sie an solchen Studien teilneh-
men.

Im Prinzip gibt es zwei Zielgruppen. Die einen sagen:
Okay, ich kenne aus meinem eigenen Umfeld Menschen,
die an der gleichen Krankheit wie ich leiden. Ich selbst
bin noch in einem leichten Stadium der Erkrankung. Des-
halb möchte ich mich zur Teilnahme an einer entspre-
chenden Studie bereit erklären. – Andere sagen so wie
ich: Ich kenne Wissenschaft, ich weiß, wie sie betrieben
wird und dass ich von ihr nicht missbraucht werde. Also
bin ich dazu bereit.

Selbst dann sagen wir: Nein, das reicht nicht. Du be-
kommst noch eine medizinische Aufklärung darüber, was
mit dir geschehen kann. Du kannst Dinge ausschließen,
du kannst Dinge für Dich nicht in Anspruch nehmen, du
kannst das frei entscheiden. – Wenn danach jemand in
Kenntnis all dieser Dinge sagt: „Ich entscheide mich da-
für“, dann ist das eine Sache der Selbstbestimmung. Da-
für muss eine Probandenerklärung unterschrieben wer-
den, die genau dies beinhaltet. Die Form für diese muss
jetzt noch erarbeitet werden, damit sie diesem Anspruch
genügt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich bin der Meinung, mit der Frage der Gruppennüt-
zigkeit ist auch die Frage des Altruismus verbunden: Mir
kommt es nicht darauf an, dass es mir hilft. Für mich ist
es völlig in Ordnung, wenn es den nächsten Generatio-
nen, meinen Kinder oder anderen, hilft; dafür stelle ich
mich zur Verfügung. – Das generell ist ein Bestandteil
klinischer Studien; denn man kann im Vorhinein nie-
mals hundertprozentig sagen, dass es einem Probanden
nutzt. „Eigennützig“ bedeutet in diesem Fall, dass davon
ausgegangen wird, dass es dem Probanden nutzt. Aber
Wissenschaft und Forschung beinhalten immer auch die
Möglichkeit, dass dies danebengeht.

Diese Debatte haben wir – das möchte ich allen Betei-
ligten sagen – in weiten Teilen stilvoll und auf vernünfti-
ge Art und Weise geführt. Es waren auch geschichtliche
Repliken dabei. Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ja,
wir haben in Deutschland vor dem Hintergrund unserer
Geschichte eine besondere Verantwortung, mit diesem
Thema sensibel umzugehen. Wir haben nicht nur in der
Gegenwart,  sondern  zu  allen  Zeiten  die Verpflichtung, 
mit den Menschen, die unseres Schutzes bedürfen, ver-
antwortungsvoll umzugehen. Aber wir haben auch die
Verantwortung für die Gesundheit zukünftiger Genera-
tionen. Die nun vorliegende Regelung hilft uns explizit,
diese Verantwortung wahrzunehmen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820002400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen damit zur

Schlussabstimmung

über den von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung arzneimittelrecht-
licher und anderer Vorschriften. Wir stimmen nun über
den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
einzunehmen. – An mehreren Abstimmungsurnen fehlen
insbesondere noch Vertreter der Opposition. – Sind die
Plätze an den Urnen jetzt besetzt? – Das ist der Fall. Da-
mit eröffne ich die Abstimmung und weise darauf hin,
dass mir zahlreiche persönliche Erklärungen nach § 31
unserer Geschäftsordnung zu dieser Abstimmung vorlie-
gen, die wir, einer guten Übung folgend, dem Protokoll
beifügen.1)

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das sei-
ne Stimme nicht abgegeben hat? – Jawohl. Das sind er-
schöpfte Haushälter, die unmittelbar nach Beendigung
der Bereinigungssitzung soeben noch mit hängender
Zunge die Abstimmungsurnen erreichen. – Weitere Be-
wegungen sehe ich hier im Plenarsaal aber nicht. Ich
frage noch einmal: Ist noch jemand da, der wegen gleich-
zeitiger Staatsgespräche den Zeitpunkt verpasst, an dem
die Urnen geschlossen werden? – Dann schließe ich jetzt
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis der Abstimmung teilen wir Ihnen später mit.2)

Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksa-
che 18/10292. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit
ist der Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koa-
lition bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 c
auf:

1) Anlagen 2 bis 4
2) Ergebnis Seite 20006 C

Stephan Albani






(A) (C)



(B) (D)


a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Nationaler Bildungsbericht –
Bildung in Deutschland 2016

und Stellungnahme der Bundesregierung

Drucksache 18/10100
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht zum Anerkennungsgesetz 2016

Drucksache 18/8825
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss Digitale Agenda

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan
Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Nationaler Bildungsbericht – Bildungsinstitu-
tionen zukunftsfest machen – Für eine gerech-
te und soziale Gesellschaft

Drucksache 18/10248
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Das findet 
offenkundig Zustimmung. Also können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Xaver Jung für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Xaver Jung (CDU):
Rede ID: ID1820002500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Gute Bildung ist ein Menschenrecht und darüber hi-
naus das wichtigste Kapital unseres Landes. Sie ist eine
gesellschaftliche Notwendigkeit.


(Beifall des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Ja, da muss man klatschen. – Wir wollen jedem Kind
und jedem Erwachsenen in Deutschland die bestmögli-

chen Bildungschancen eröffnen, unabhängig von seiner
Herkunft und seinen materiellen Möglichkeiten.

Gute Bildung – das heißt für uns mehr als notwen-
dige Allgemeinbildung. Wir müssen gut auf das spätere
Berufsleben vorbereiten. Wir wollen Aufstieg durch Bil-
dung ermöglichen. Wir stehen dabei für eine Vielfalt an
Bildungsangeboten, auch beim lebenslangen Lernen.

Meine Damen und Herren, zum sechsten Mal wird
uns mit dem aktuellen Bildungsbericht eine umfassende
empirische Bestandsaufnahme des deutschen Bildungs-
wesens vorgelegt. Wir haben damit eine wertvolle Da-
tenbasis für Bund und Länder, um weiter die Qualität
des Bildungsangebotes zu verbessern. Dafür vorweg ein
herzliches Dankeschön an die Autorengruppe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke an dieser Stelle auch allen relevanten Bil-
dungsakteuren: Erziehern, Lehrerinnen, Dozenten, Pro-
fessorinnen und nicht zuletzt den Eltern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Bericht reicht von der frühkindlichen Erziehung
über den Schulbereich, die berufliche Ausbildung und die 
Hochschule bis zu den verschiedenen Formen der Wei-
terbildung im Erwachsenenalter. In diesem Jahr lautet
das Schwerpunktthema: Bildung und Migration.

Wie bereits im OECD-Bericht wird uns wieder ein po-
sitives, ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal nicht übertreiben!)


Bildungsstand und Bildungsbeteiligung sind über einen
längeren Zeitraum kontinuierlich gewachsen und haben
sich positiv entwickelt. Das ist das Ergebnis einer Viel-
zahl positiver Entwicklungen in allen Bildungsbereichen.
Das ist doch prima. Darüber können wir uns doch freuen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir Mitglieder im Bildungsausschuss sind ja da meist
von ruhiger Sachlichkeit. Aber wenn es solch positive Er-
gebnisse gibt, können wir uns auch gerne einmal freuen.

Die Bildungsausgaben des Bundes lagen 2015 gut
80 Prozent über dem Wert von 2008. Dafür haben wir
gesorgt, und darauf sind wir stolz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wir wissen: Hochwertige
Bildung beginnt in frühen Kindesjahren. Wir fördern seit
vielen Jahren die Kitas. So freut uns, dass wir 2015 ei-
nen neuen Höchststand an pädagogischen Fachkräften
verzeichnen können. Wir müssen noch an den Arbeits-
bedingungen der Fachkräfte arbeiten; da sind die Länder
dann gefordert.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr richtig! Volle Zustimmung!)


Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


Aber nicht nur der quantitative, sondern auch der qua-
litative Ausbau der Kindertagesbetreuung ist wichtig.
Hier müssen wir die Lese- und Sprachförderung weiter
ausbauen.

Wir freuen uns, dass die Bildungsbeteiligung der un-
ter Dreijährigen um weitere 3,6 Prozentpunkte auf nun-
mehr 32,9 Prozent gestiegen ist. Das ist ein guter Zwi-
schenschritt. Auch der Ausbau von Betreuungsplätzen
für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr muss
weiter vorangetrieben werden. Kinder mit Migrations-
hintergrund und Kinder aus bildungsfernen Elternhäu-
sern müssen bereits im Kindergartenalter besser geför-
dert werden. Programme wie „Kultur macht stark“ oder
„Lesestart“ der Stiftung Lesen sind hierfür ein richtiger
Ansatz.

Der Bericht bestätigt einen kontinuierlich voranschrei-
tenden Ausbau der Ganztagsangebote in allen Schular-
ten. Das freut uns. Wir sind jetzt schon bei 60 Prozent.
Das muss noch mehr werden.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, machen wir!)


Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischen Hin-
tergrund haben aufgeholt. Sie konnten ihre Lesekom-
petenzen bei PISA deutlich verbessern. Immer weniger
Jugendliche verlassen die Schule ohne Hauptschulab-
schluss. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler ohne
Hauptschulabschluss hat sich von 8 Prozent 2006 auf
5,8 Prozent in 2014 reduziert. Das sind doch alles gute
Nachrichten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Situation von Schulabgängerinnen und Schulab-
gängern bei der Ausbildungsplatzsuche hat sich ebenfalls
deutlich und kontinuierlich verbessert. 686 000 junge
Menschen nahmen 2015 eine duale oder überbetriebliche
Ausbildung auf. Der Rest Europas beneidet uns darum,
auch um unsere niedrige Jugendarbeitslosigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unser wichtiges und einzigartiges duales Ausbil-
dungssystem trägt weiterhin gute Früchte. Besonders
viele junge Menschen arbeiten nach ihrer Ausbildung di-
rekt im gelernten Beruf, meist sogar im Ausbildungsbe-
trieb selbst. In Problemfällen brauchen wir individuelle
Unterstützung. Unsere Initiative Bildungsketten bietet da
den richtigen Ansatz.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Übernahmequoten nach erfolgreichem Ausbildungs-
abschluss sind in den ostdeutschen Ländern gestiegen
und nähern sich langsam den westdeutschen Zahlen. Das
freut nicht nur die Menschen in Ostdeutschland.

2014 erhielten 41 Prozent der Absolventinnen und Ab-
solventen an allgemeinbildenden und beruflichen Schu-
len die allgemeine Hochschulreife. 2006 waren es nur
29,6 Prozent. Die Studienanfängerzahlen haben damit

erneut über den von uns geplanten Zahlen gelegen; im
Grunde keine schlechte Sache.

Der Anteil der Personen mit Hochschulzugangsberech-
tigung oder Studienabschluss ist weiter gestiegen. Im Be-
reich der Promotionen sind wir sogar spitze in Europa. –
Da kann man auch mal klatschen; das muss man sogar.


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Fraktion schläft noch!)


Gute Nachrichten gibt es auch im Bereich der Wei-
terbildung. Die Gesamtteilnahmequote ist auf 51 Prozent
im Jahr 2014 angestiegen und liegt damit über dem von
der Bundesregierung gesetzten Ziel. Auch in den Berei-
chen Migration und Integration werden Erfolge bestätigt;
dazu werden nachher meine Kollegen noch etwas sagen.

Ich könnte noch lange weitere positive Nachrichten
aufzählen. Leider lässt das die Redezeit nicht zu.

Meine Damen und Herren, nichts ist so gut, dass es
nicht noch besser werden könnte. Das gilt selbstver-
ständlich ganz besonders für unser Bildungssystem in
Deutschland – ein System, das von vielen als zu kompli-
ziert und unübersichtlich kritisiert wird, andernorts da-
gegen als ideologisch einseitig wahrgenommen wird, ein
System, das einerseits als verstaubt, andererseits aber als
zu experimentierfreudig kritisiert wird. Dennoch hält der
Bericht die vielfältigen Anstrengungen von Bund, Län-
dern und Kommunen für geeignet, das Bildungsniveau
in Deutschland weiter zu verbessern.

Den Bundesländern hat der Bericht die Aufgabe auf-
getragen, die regionalen Ungleichheiten auszugleichen
und die Erreichbarkeit von Bildungseinrichtungen für
Bildungsangebote vor allem im ländlichen Raum zu er-
möglichen. „Kurze Beine – kurze Wege“ muss hier der
Leitsatz sein.

Ebenso brauchen Kinder und Jugendliche aus Risiko-
lagen eine besondere Förderung. So ist es trotz erkenn-
barer Fortschritte leider noch nicht gelungen, den engen
Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bil-
dungserfolg nachhaltig aufzubrechen.

Die Stellungnahme des Kabinetts zum Bericht hebt
hervor, dass man folgende Handlungsfelder ausgemacht
hat: einen weiteren Ausbau und bessere Qualität in der
frühen Bildung schaffen, mehr Chancengerechtigkeit
durch bessere Bildung erreichen, Berufsausbildung stär-
ken, Übergänge verbessern, Attraktivität und Qualität des
Hochschulstudiums sichern sowie Weiterbildung stärken
und transparent gestalten.

Wir sehen: Die Regierung kennt die Herausforderun-
gen. Selbstverständlich werden wir als CDU/CSU-Frak-
tion die Regierung auf ihrem weiteren Weg gern aktiv
und konstruktiv begleiten. Auch für uns steht weiter-
hin die Qualität des Bildungsangebots im Vordergrund.
Wenn wir es jetzt noch schaffen, die regionalen Bil-
dungsungleichheiten zwischen den einzelnen Bundeslän-
dern durch vergleichbare Abschlüsse, durch vergleichba-
re Lernleistungen auszugleichen und wenn der Abschluss
in Deutschland irgendwann in allen Bundesländern von
der Qualität her gleichwertig ist, dann wird sich auch in

Xaver Jung






(A) (C)



(B) (D)


der Bevölkerung Enthusiasmus in Bezug auf unser Bil-
dungssystem zeigen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine leidenschaftliche Rede!)


Ich bin sicher, wenn wir all das, was wir geplant ha-
ben, umsetzen, dann werden wir uns auch beim nächsten
Bericht wieder so wie heute freuen dürfen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820002600


Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe,
möchte ich gern das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Bun-
desregierung zur Änderung arzneimittelrechtlicher und
anderer Vorschriften bekannt geben: abgegebene Stim-
men 542. Mit Ja haben gestimmt 357, mit Nein haben
gestimmt 164. 21 Kolleginnen und Kollegen haben sich
der Stimme enthalten. Damit ist der Gesetzentwurf an-
genommen.

Endgültiges Ergebnis

Abgegebene Stimmen: 543;
davon

ja: 358
nein: 164
enthalten: 21

Ja

CDU/CSU

Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens (Börde)

Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber

Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Rainer Hajek
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich

Mechthild Heil
Frank Heinrich (Chemnitz)

Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann


(Dortmund)

Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Ronja Kemmer
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings

Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Dr. h.c. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Antje Lezius
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Reiner Meier
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann

Xaver Jung






(A) (C)



(B) (D)


Carsten Müller

(Braunschweig)


Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Dr. Martin Pätzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Johannes Röring
Kathrin Rösel
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt (Fürth)

Gabriele Schmidt (Ühlingen)

Patrick Schnieder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze

(Weil am Rhein)

Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein

Sebastian Steineke
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Karl-Heinz Wange
Nina Warken
Dr. h.c. Albert Weiler
Marcus Weinberg (Hamburg)

Dr. Anja Weisgerber
Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese (Ehingen)

Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Gudrun Zollner

SPD

Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Ulrike Bahr
Bettina Bähr-Losse
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett

Dr. Matthias Bartke
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Dr. h.c. Edelgard Bulmahn
Jürgen Coße
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Hubertus Heil (Peine)

Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Christina Jantz-Herrmann
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Dr. Bärbel Kofler
Anette Kramme
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Susanne Mittag
Thomas Oppermann
Christian Petry

Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Bernd Rützel
Johann Saathoff
Axel Schäfer (Bochum)

Dr. Nina Scheer
Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Claudia Tausend
Dr. Karin Thissen
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer

Nein

CDU/CSU

Veronika Bellmann
Michael Brand
Thomas Dörflinger
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Matthias Hauer
Bettina Hornhues
Hubert Hüppe
Kordula Kovac
Dr. Andreas Lenz
Matern von Marschall






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
Julia Obermeier
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Josef Rief
Uwe Schummer
Dr. Patrick Sensburg
Johannes Singhammer
Peter Weiß (Emmendingen)

Klaus-Peter Willsch

SPD

Rainer Arnold
Heike Baehrens
Willi Brase
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Dr. Karamba Diaby
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr. Ute Finckh-Krämer
Dagmar Freitag
Angelika Glöckner
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Dirk Heidenblut
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Heidtrud Henn
Dr. Eva Högl
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Arno Klare
Lars Klingbeil
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Burkhard Lischka
Hiltrud Lotze
Klaus Mindrup
Bettina Müller

Detlef Müller (Chemnitz)

Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Mahmut Özdemir (Duisburg)

Markus Paschke
Jeannine Pflugradt
Achim Post (Minden)

Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
Sarah Ryglewski
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim

Schabedoth
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt (Aachen)

Matthias Schmidt (Berlin)

Dagmar Schmidt (Wetzlar)

Elfi Scho-Antwerpes
Ursula Schulte
Ewald Schurer
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Kerstin Tack
Michael Thews
Franz Thönnes
Gabi Weber
Dirk Wiese

(Wol mirstedt)

Gülistan Yüksel

DIE LINKE

Jan van Aken
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Eva Bulling-Schröter
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach

Kerstin Kassner
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Dr. Gesine Lötzsch
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Dr. Alexander S. Neu
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Volker Beck (Köln)

Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Christian Kühn (Tübingen)

Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu

Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Tabea Rößner
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer

Enthalten

CDU/CSU

Jens Koeppen
Dr. Silke Launert

SPD

Susann Rüthrich
Martina Stamm-Fibich
Brigitte Zypries

DIE LINKE

Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Christine Buchholz
Roland Claus
Klaus Ernst
Dr. Rosemarie Hein
Susanna Karawanskij
Katrin Kunert
Caren Lay
Thomas Lutze
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Frank Tempel
Birgit Wöllert
Sabine Zimmermann


(Zwickau)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Dr. Valerie Wilms

Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der
entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt .






(A) (C)



(B) (D)


Nächste Rednerin ist die Kollegin Rosemarie Hein für
die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820002700

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Gäste! Herr Jung hat eben ein Loblied
auf den Bildungsbericht und die vermeintlichen oder tat-
sächlichen Bildungsfortschritte gesungen. Ich habe den
Bericht anders gelesen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wie immer! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat mit der CDU-Brille gelesen!)


Es gibt auch in diesem Jahr sehr viel Grund zu kri-
tischem Nachfragen; der Bericht enthält auch sehr viel
Kritisches. Ich kann nur auf einige wenige Befunde ein-
gehen.

In ihrem Bericht betont die Bundesregierung, dass
sich Investitionen in die Bildung auszahlen. Das stimmt
ohne Zweifel. Sie wollten ja eigentlich 10 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung aus-
geben. In dem Bildungsbericht wird nun festgestellt, dass
Sie dieses Ziel auch 2014 nicht erreicht haben. Da feh-
len allein über 26 Milliarden Euro, die Bund und Länder
mehr hätten ausgeben müssen.


(Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Das waren die Länder!)


Das sind Bund und Länder den Menschen in diesem Lan-
de schuldig geblieben. Selbst das würde nicht ausreichen,
um  eine  auskömmliche  Bildungsfinanzierung  sicherzu-
stellen. Allein 34 Milliarden Euro fehlen für die Investiti-
onen in Schulgebäude. Das ist keine Zahl, die die Linken
irgendwie zusammengerechnet haben, sondern eine Fest-
stellung der KfW-Bankengruppe aus einer Studie vom
September dieses Jahres.

Nun ist der Schulbau zwar eine kommunale Aufga-
be, aber die Kommunen können das offensichtlich nicht
stemmen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Sie tragen ohnehin einen deutlich höheren Anteil als der
Bund  an  der  gesamten  Bildungsfinanzierung,  nämlich 
29 Milliarden Euro, während der Bund 19 Milliarden
Euro trägt. Auch das muss man einmal zur Kenntnis neh-
men.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Das hat etwas mit unserer Verfassung zu tun, Frau Kollegin!)


– Dann wollen wir sie doch einmal ändern. Auch das ist
ein Weg.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Folge ist, dass viele Schulen in unserem Land
unsaniert bleiben und – noch schlimmer – dass viele öf-
fentliche Schulen in der Fläche verschwinden. In der Not
entstehen dort Privatschulen, damit es vor Ort überhaupt
noch ein Schulangebot gibt.

Bildung aber ist eine Aufgabe der öffentlichen Da-
seinsvorsorge. Dazu gehört eine ordentliche Bildungsin-
frastruktur. Wenn Sie jetzt beschließen, sozusagen rück-
wirkend noch einmal 3,5 Milliarden Euro in den Schulbau
zu geben, dann ist das sicherlich eine schöne Sache, und
die Kommunen werden sich freuen. Aber es hilft nicht,
diesen Investitionsstau aufzulösen. Dazu brauchen wir
eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grundgesetz.


(Beifall bei der LINKEN)


Nicht nur bei Schulen gibt es diesen Bedarf, den wir hier
decken müssen.

Das größte Problem für das deutsche Bildungssystem
ist nach wie vor die große Abhängigkeit des Bildungs-
erfolges von der sozialen Herkunft. Das ist kein neuer
Befund. Aber man gewinnt den Eindruck, die Bundesre-
gierung gewöhnt sich langsam daran. Aus der Stellung-
nahme geht hervor: Es wird analysiert, geforscht, verste-
tigt, aber viel Neues gibt es nicht.

Kinder aus einem Akademikerhaushalt haben immer
noch um ein Vielfaches bessere Chancen, zum Abitur zu
gelangen. Sie beginnen deutlich häufiger ein Hochschul-
studium und erreichen öfter den Masterabschluss. Absol-
venten mit einem Master haben bessere Beschäftigungs-
chancen in ihrem Fachgebiet als Bachelorabsolventen;
all das kann man im Bildungsbericht nachlesen. Aber es
gibt zu wenige Masterstudiengänge, um überhaupt jedem
Bachelorabsolventen den Master zu ermöglichen. Auch
hier ist die soziale Disparität, die soziale Ausgrenzung
offensichtlich.


(Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Das war ja auch nicht die Idee von Bologna!)


– Ja, das ist nicht Ihre Idee, unsere aber schon.


(Beifall bei der LINKEN)


Die soziale Ausgrenzung durchzieht alle Bildungsbe-
reiche. Besonders deutlich wird das bei der Armut von
Kindern. Eines von vier Kindern wächst unter Bedin-
gungen mindestens einer von drei Risikolagen auf. Das
heißt, die Eltern sind entweder arbeitslos, oder sie haben
einen niedrigen Bildungsabschluss, oder sie sind schlicht
und ergreifend arm. Vor allem die Zahl armer Familien
mit Kindern ist gegenüber dem Vorjahr angewachsen.
Fast 19 Prozent der Kinder unter 18 Jahren sind davon
betroffen. Meine Damen und Herren, das ist ein Ergebnis
Ihrer Niedriglohnpolitik


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und nicht ein Ergebnis schlechter Bildungspolitik.


(Beifall bei der LINKEN – Xaver Jung [CDU/ CSU]: Und ich dachte immer, die Löhne machen die Tarifvertragsparteien!)


Darunter leiden diese Familien; denn deshalb sind auch
die Bildungschancen ihrer Kinder deutlich schlechter. Es
geht eben nicht nur um Defizite  in der Bildungspolitik, 
sondern  auch  um  Defizite  in  der  Gesellschaftspolitik. 
Hier müssen wir genauso etwas ändern wie im Schul-
system.


(Beifall bei der LINKEN)


Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


Von den Menschen im Alter von 25 bis 35 Jahren ha-
ben 1,6 Millionen keinen Berufsabschluss, und die meis-
ten von ihnen werden ihn auch nicht nachholen; auch das
geht aus dem Bildungsbericht hervor. Die vorhandenen
Förderprogramme des Bundes und der Bundesagentur
für Arbeit bieten dafür offensichtlich keine Gewähr. Aber
ein grundlegendes Umdenken findet nicht statt.

Noch schwieriger ist es für junge Menschen mit
Migrationshintergrund, einen Bildungserfolg zu erzielen;
auch  das  ist  kein  neuer Befund.  Sie  erreichen  häufiger 
nur niedrige Bildungsabschlüsse, erhalten seltener ei-
nen Ausbildungsplatz und absolvieren noch seltener ein
Studium. Wenn sie aber einen Studienplatz bekommen
haben, dann erbringen sie genauso gute Leistungen und
haben genauso große Chancen, das Studium zu schaffen,
wie ihre Kommilitonen ohne Migrationshintergrund.

Nun frage ich Sie: Warum gelingt es uns eigentlich
nicht, den Menschen, die nach Deutschland zugewandert
sind, die gleichen Bildungschancen zu geben, die sie hät-
ten, wenn sie hier geboren und aufgewachsen wären oder
deutsche Eltern hätten? Es geht bei weitem nicht nur um
sprachliche Defizite,  sondern wir müssen  endlich  auch 
lernen, kulturelle Vielfalt als eine Bereicherung anzuer-
kennen und nicht Vorurteile zu kultivieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Zu den Unmöglichkeiten gehört leider auch, dass die
Regierung meines Bundeslandes Sachsen-Anhalt ei-
nen großen Teil der im vergangenen Jahr eingestellten
Sprachlehrkräfte nicht weiter beschäftigen wollte. Bis
heute ist noch nicht klar, ob sie bleiben können.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Fragen Sie mal bei Bodo Ramelow in Thüringen nach! Da ist das ganz genauso!)


Ich  finde  das  unverantwortlich;  denn  das  Erlernen  der 
deutschen Sprache ist eine längerfristige Aufgabe. Au-
ßerdem droht ein gewaltiger Unterrichtsausfall, weil
diese Lehrkräfte inzwischen auch schon im allgemeinen
Unterricht aushelfen.

Im Bildungsbereich wird man letztlich in kaum einem
Bundesland ohne Seiteneinsteiger bei den Lehrkräften
auskommen. Die Versäumnisse in der Lehramtsausbil-
dung der letzten Jahrzehnte wird man so schnell nicht be-
heben können. Deshalb muss man Möglichkeiten schaf-
fen, dass diese Lehrkräfte ihren pädagogischen Abschluss
nachholen, berufsbegleitend und im Rahmen besonderer
Programme. Insgesamt muss deutlich mehr getan wer-
den, um pädagogische Fachkräfte für alle Bildungsberei-
che auszubilden. Das gilt nach wie vor insbesondere für
Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte für Deutsch als
Zweitsprache und sozialpädagogische Fachkräfte.


(Beifall bei der LINKEN)


Man muss sie besser bezahlen und fest anstellen.

Der Bildungsbericht stellt fest, dass gerade jüngere
Fachkräfte im Kitabereich oft befristet angestellt sind;


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Was hat denn das mit dem Bund zu tun?)


das ist angesichts des wachsenden Betreuungsbedarfs
unglaublich. Wieso eigentlich?

Noch schlimmer ist die Arbeitssituation der Lehrkräf-
te in der Weiterbildung.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Wir sind hier nicht im Landesparlament! Wir sind im Deutschen Bundestag!)


Sie  sind häufig auf Honorarbasis oder  in Teilzeit  ange-
stellt. Sehr prekär ist auch ihre Bezahlung.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Wir sind hier nicht im Landtag!)


– Sie müssen sich einmal damit befassen. Dann werden
Sie merken, dass das auch eine Bundesaufgabe ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie einen Handwerker brauchen, werden Sie
feststellen: Sein Arbeitslohn beträgt um die 60 Euro die
Stunde. Lehrkräfte in der Weiterbildung werden aber
mit 14 Euro Mindestlohn abgespeist. Das ist der Stun-
denlohn, der im Schnitt für Weiterbildungsmaßnahmen
der Bundesagentur für Arbeit zu zahlen ist, und das auch
nur, wenn die Weiterbildungsträger mehr als 50 Prozent
ihrer  Maßnahmen  im  Bereich  der  beruflichen  Bildung 
anbieten. Das Innenministerium hat nun die Honorare
für Lehrkräfte in den Integrationskursen auf immerhin
35 Euro erhöht. Aber auch damit bleibt man hinter den
Erfordernissen weit zurück; denn davon müssen sie auch
alle Sozialabgaben und Arbeitgeberanteile zahlen.

Im Bildungsbericht wird festgestellt: Das monatliche
Einkommen von Haupterwerbstätigen in der Weiterbil-
dung liegt weit unter dem Durchschnittseinkommen an-
derer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-
land. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wertschätzung
von Bildungsarbeit sieht anders aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist an der Zeit, den Flickenteppich in der Weiterbil-
dung zu beenden, endlich einen Branchentarifvertrag für
die Weiterbildung auszuarbeiten


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das können Sie ja gerne machen!)


und ihn dann – das ist unsere Aufgabe – für allgemein-
verbindlich zu erklären, damit alle in der Weiterbildung
Tätigen ein gutes Einkommen haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Bildungsbericht stellt fest, dass die fünf zentralen
Herausforderungen nach wie vor bestehen: Qualitätssi-
cherung in der frühkindlichen Bildung, aber ein Quali-
tätsgesetz lehnen Sie ab; –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820002800

Frau Kollegin.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820002900

– ich bin sofort am Ende meiner Rede – Ganztags-

schulen, aber das Kooperationsverbot erlaubt uns nicht
die Finanzierung; Übergang von Schule in die berufliche 

Dr. Rosemarie Hein






(A) (C)



(B) (D)


Bildung, aber einen Rechtsanspruch auf einen Ausbil-
dungsplatz wollen Sie nicht usw. usf.

Für all das brauchen wir die gemeinsame Verantwor-
tung von Bund, Ländern und Kommunen. Für ein zu-
kunftsfestes Bildungssystem könnten wir uns überlegen,
ob man nicht ein bundesweites Bildungsrahmengesetz
schafft, in dem die sozialen und rechtlichen Bedingungen
für die Arbeit in der Bildung sowie die Rechtsansprüche
festgeschrieben sind,


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Zentralismus! Planwirtschaft!)


damit die Bildung in allen Bundesländern besser, ver-
gleichbarer und gerechter wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Gehen Sie nach Bayern! Da lernen Sie, wie es funktioniert!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820003000

Ernst Dieter Rossmann hat nun das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1820003100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Las-

sen Sie mich mit leichter Ironie sagen: Wenn Frau Hein
hier eine tiefschwarze Rede hält und Herr Jung ein Bild
eher in Rosafarben zeichnet, dann ist in der Farbenlehre
hier irgendetwas schiefgelaufen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb möchte ich mich lieber an das halten, was uns
der Nationale Bildungsbericht in differenzierter Weise
vorgibt.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen vor allen Dingen erkennen, dass Bildungs-
politik auf dem gemeinsamen Zusammenwirken von
den freien Kräften, von den Kommunen, von den Län-
dern und vom Bund beruht und dass wir etwas bewirken
können: mehr Bildung in den Krippen, bessere Qualität
in den Kindertagesstätten, mehr Ganztagsschulangebo-
te, mehr Lesekompetenz, mehr Schulabschlüsse, mehr
Möglichkeiten, im Studium anzukommen, mehr Mög-
lichkeiten, das Studium erfolgreich abzuschließen, mehr
Weiterbildung. Dieses Mehr ist doch ein gemeinsamer
Erfolg.

Wenn wir eine weitere Begeisterung im Engagement
für Bildungsveränderung wollen, dann dürfen wir die ak-
tuelle Situation nicht rosarot und auch nicht tiefschwarz
zeichnen, sondern wir müssen die Dynamik positiv her-
vorheben. Ich finde, diese Große Koalition hat mit vielen 
anderen Kräften hier Gutes dazu beigetragen. Das dürfen
wir hier gemeinsam feststellen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Darüber hinaus will ich das Augenmerk am Anfang
auf zwei Punkte richten, die uns Sozialdemokraten be-
sonders wichtig sind.

Herr Jung und Frau Hein, Sie haben den engen Zu-
sammenhang zwischen sozialer Herkunft, sozialer Lage
und Bildungschancen angesprochen, der sich zwar schon
aufzulösen beginnt, aber sich noch weiter auflösen muss. 
Dass es immer noch Risikofaktoren gibt – sie wurden
schon genannt: Arbeitslosigkeit, Armut, Bildungsferne,
Kopplung an die soziale Schicht –, kann uns nicht zufrie-
denstellen. In diesem Nationalen Bildungsbericht finden 
sich Vorschläge und Maßnahmen.

Wir setzen in der Großen Koalition an einer Schlüs-
selstelle an. Wenn zusätzlich 3,5 Milliarden Euro mobili-
siert werden sollen, um in finanzschwachen Kommunen 
Bildungsstätten, Bildungsinfrastruktur zu ertüchtigen,
dann ist das keine Kleinigkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die 4 Milliarden Euro für die Ganztagsschulen waren
auch keine Kleinigkeit. 3,5 Milliarden Euro mehr für die
Ertüchtigung von Schulen in Regionen, in denen Bil-
dungsarmut und andere Bildungsrisikofaktoren beson-
ders stark ausgeprägt sind, sind entsprechend auch ein
richtig großer Erfolg.

Damit Sie die Kronzeugenschaft für diese Leistung
nicht nur immer sozialdemokratisch verorten: Auch Ole
von Beust, ehemaliger Bürgermeister von Hamburg,
hatte erkannt, wie wichtig es ist, in Problemstadtteilen
Schulen zu Leuchttürmen zu machen, indem sie attrak-
tiver gemacht und aufgewertet werden. Sigmar Gabriel
hat jetzt noch einmal entsprechende Überlegungen in die
Regierung hineingetragen, um dafür zu sorgen, dass es
ein Gemeinschaftsprojekt werden kann.

Denn Bildungsarmut kann man dadurch ganz prak-
tisch  bekämpfen,  dass  finanzschwache Kommunen mit 
einem höheren Anteil an Bildungsarmen, an armen Kin-
dern und arbeitslosen Jugendlichen dieses nicht durch
den Zustand ihrer Schulen dokumentieren müssen. Das
ist doch eine Perspektive. Das ist doch etwas, wofür wir
gemeinsam werben.


(Beifall der Abg. Elfi Scho-Antwerpes [SPD])


Ich möchte auf einen zweiten Punkt hinweisen, an
dem wir noch mehr arbeiten müssen. Das ist das große
Thema Bildungsintegration für Migranten, für Schutz-
suchende und für Flüchtlinge. Der Nationale Bildungs-
bericht weist aus, dass wir in diesem Bereich noch viel
tun müssen und sehenden Auges auch wissen können,
was wir tun müssen. Bitte schauen Sie sich hierzu die
Seiten 201 und 202 an. Dort wird die Schlüsselstelle he-
rausgearbeitet, nämlich: Was passiert beim Einstieg in
die berufliche Bildung? In Sachen Kindertagesstätten, in 
Sachen Schule gibt es geregelte Abläufe, und wir werden
dort gute Erfolge erzielen können. Der Einstieg in die be-
rufliche Bildung ist die entscheidende Klippe; denn viele 
junge Menschen stehen aktuell ohne die Chance da, in
ein Berufsausbildungsverhältnis einzutreten.

Dr. Rosemarie Hein






(A) (C)



(B) (D)


Das Konsortium für den Nationalen Bildungsbericht
empfiehlt uns, für rund 70 000 dieser jungen Menschen 
ein- bis zweijährige berufsvorbereitende Maßnahmen zu
ermöglichen und auch für 80 000 bis 90 000 zusätzliche
Berufsbildungsplätze zu sorgen. Und wir wissen alle:
Dies wird im dualen System so schnell nicht geschehen.
Diesbezüglich enthält der Nationale Bildungsbericht
den Vorschlag, dort stärker außer- und überbetriebliche
Kapazitäten zu mobilisieren. Ich glaube auch, dass dies
richtig ist. Wir dürfen nicht geschehen lassen, dass diese
jungen Menschen keine Chance erhalten. Wir müssen an
den Stellen anknüpfen, an denen wir seitens des Bundes
mit Ländern und Sozialpartnern zusammen etwas tun
können.

Ich habe eben Ole von Beust als Vorkämpfer für das
bezeichnet, was Sigmar Gabriel jetzt durchgesetzt hat.
Ebenso erinnere ich mich daran: Roland Koch – ich muss
kein Sympathisant von ihm sein – hat schon früh gesagt
hat, dass wir die jungen Leute, wenn es denn im dualen
System nicht funktioniert, nicht ins Leere laufen lassen
dürfen, sondern ihnen etwas anbieten müssen, was die
Verbindlichkeit einer Ausbildung hat. Er hat nämlich au-
ßerbetriebliche und überbetriebliche Ausbildung gefor-
dert, als es schon einmal dieses Problem gab. Daran soll-
ten wir uns erinnern. Da sollten wir auch etwas machen.

Der Bildungsbericht weist an der Stelle aus, dass es
um eine Summe von 1,5 Milliarden Euro geht, die be-
nötigt werden, um den 70 000 jungen Menschen jetzt je-
weils Jahr für Jahr eine reale Ausbildungsperspektive zu
geben. Wir müssen zusammen darüber nachdenken, ob
es Ländern, Bund und BA möglich ist, diese Mittel für
ein Perspektivprogramm zu mobilisieren.

Wir haben einen Bericht 2006, in dem schon be-
stimmte Probleme in Bezug auf die Jugendlichen mit
Migrationshintergrund aufgezeigt wurden, und einen Be-
richt 2016, in dem insbesondere die aktuelle Flüchtlings-
situation aufgearbeitet und angesprochen wird. Aber im
Bericht 2026 darf nicht stehen, es gebe dort eine verlore-
ne Generation, weil wir uns an der Stelle nicht konzen-
triert darangemacht haben, jetzt hier Mittel aufzubringen,
um eine Perspektive für diese viele tausend jungen Leute
rechtzeitig zu schaffen.

Das Werben der Sozialdemokratie lautet: Machen wir
dies jetzt gemeinsam, und setzen wir jetzt dort ein sicht-
bares Zeichen! Wer herkommt, soll über den Einstieg in
eine duale, vollzeitschulische oder vorbereitende berufli-
che Bildung eine Chance erhalten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820003200

Herr Kollege.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1820003300

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820003400

Katja Dörner spricht nun für die Fraktion Bündnis 90/

Die Grünen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820003500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie-

be Kollegen! Lieber Herr Kollege Rossmann, auch ich
halte gar nichts von Schwarz-Rosa-Malerei, und deshalb
will ich auch gar nicht bestreiten, dass es in den letzten
Jahren in der Bildungspolitik im Zusammenspiel der
Bundesländer und der Kommunen Fortschritte gegeben
hat. Aber ich bin es eben auch total leid – ich denke,
da stimmen Sie mir auch zu –, dass wir in jedem Bil-
dungsbericht, in jeder Bildungsstudie immer wieder le-
sen müssen, dass in fast keinem anderen Industrieland
der Bildungserfolg noch immer so sehr von der sozialen
Herkunft abhängig ist wie in Deutschland. Ich finde das 
unwürdig für unser Land. Wir verschleudern die Potenzi-
ale der Kinder und Jugendlichen, und wir nehmen ihnen
Lebenschancen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich finde, das muss ein Ende haben. Da könnte und müss-
te die Bundesregierung tatsächlich mehr tun.

Es ist gut, dass die Anstrengungen der letzten Jahre
beim Kitaausbau mittlerweile Früchte tragen und dass
immer mehr Kinder aus den sogenannten bildungsfernen
Schichten und Kinder mit Migrationshintergrund früh-
kindliche Bildungseinrichtungen besuchen. Aber auch
das ist bei weitem kein Grund, die Hände in den Schoß
zu legen. Im Gegenteil: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt,
vor allem in die Qualität der Kitas zu investieren. Mei-
ne Fraktion versteht überhaupt nicht, warum wir immer
noch hier im Deutschen Bundestag auf ein Kitaqualitäts-
gesetz warten müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen aber auch alles daransetzen, die hohe
Bildungsbeteiligung, die es in den Kitas schon gibt, auf
die folgenden Bildungsetappen zu übertragen. An den
Übergängen in unserem Bildungssystem ruckelt es näm-
lich  immer  noch  ganz  gewaltig. Da  finde  ich  es  schon 
fast etwas unredlich, dass sich die Regierungsfraktionen
zwar dafür feiern, dass die Zahl ausländischer Schulab-
brecherinnen und Schulabbrecher im Vergleich zu 2006
gesunken ist, dabei aber verschweigen, dass sich diese
Zahl von 2013 auf 2014 wieder vergrößert hat. Das ist
ein Schritt vor und ein Schritt wieder zurück, und das ist
keine zukunftsweisende Bildungspolitik, liebe Kollegin-
nen, liebe Kollegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wissen genauso gut wie ich: Wo ein politischer
Wille ist, gibt es auch ein gerechtes Bildungssystem.
Diesen politischen Willen vermissen wir aber. Das bes-
te Beispiel dafür ist das Geschacher um das Kooperati-
onsverbot. Statt das Kooperationsverbot in der Bildung
beherzt aufzuheben und den Weg beispielsweise über ein
Ganztagsschulprogramm und damit für eine ganz zentra-
le wichtige Maßnahme für mehr Bildungsgerechtigkeit
freizumachen,


(Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Reden Sie doch mal mit Herrn Kretschmann darüber, und dann kommen Sie wieder!)


Dr. Ernst Dieter Rossmann






(A) (C)



(B) (D)


einigen sich die Ministerpräsidenten und Ministerpräsi-
dentinnen mit der Bundeskanzlerin auf einen müden For-
melkompromiss.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Ideologisches Geschnatter!)


Statt wenigstens diesen Formelkompromiss ernsthaft
auszufüllen, schaltet die SPD in den Wahlkampfmodus
und feiert sich für die Abschaffung des Kooperationsver-
bots,


(Zurufe von der SPD)


und die Union tut so, als sei überhaupt nichts Relevantes
beschlossen worden, und geht gleich auf den Koalitions-
partner los. Ministerin Wanka spricht noch ganz moderat
von einer Missdeutung seitens der SPD. Über die Wort-
wahl des bayerischen Kultusministers muss man sich
wirklich extrem wundern, der der SPD dann gleich – Zi-
tat – „feuchte Wunschträume“ andichtet. Liebe Kollegin-
nen, liebe Kollegen, da fehlt offensichtlich jede Ernsthaf-
tigkeit, sich mit zentralen Herausforderungen in unserem
Bildungssystem zu beschäftigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist denn mit Herrn Kretschmann? – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Der bayerische Kultusminister macht einen Superjob! Daran sollten Sie sich einmal ein Beispiel nehmen!)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Aufhebung des
Kooperationsverbots muss aus Sicht der grünen Bundes-
tagsfraktion unbedingt kommen. Bis dahin müssen wir
das nun geöffnete Fenster – da spreche ich auch ausdrü-
cklich vom Bildungs- und Teilhabepaket – nutzen. Seit
2010 gibt es dieses mühselig und untauglich gebaute
Konstrukt, mit dem der Bund versucht, seine soziale Ver-
pflichtung bei der Bildungsgerechtigkeit zu erfüllen. Wir 
wissen aber alle: Antragshürden, Unwissenheit, Sprach-
probleme und Scham verhindern, dass die Kinder das be-
kommen, was ihnen zusteht, worauf sie ein Recht haben.
Deshalb sollten wir die MPK und die Bundeskanzlerin
beim Wort nehmen und zumindest bei dieser Bundes-
aufgabe die bestehenden Hürden in Bezug auf Bildungs-
und Teilhabechancen für Kinder beseitigen. Es ist jetzt an
Ihnen, wenigstens an dieser Stelle kleine Schritte zu tun.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820003600

Das Wort hat nun die Bundesministerin Frau

Dr. Wanka.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um etwas
über die Situation der Bildung in Deutschland zu erfah-
ren, haben wir den Bildungsbericht. Ich sage, Gott sei
Dank, weil wir deshalb nämlich nicht auf Polemik ange-
wiesen sind, sondern aufgrund handfester Fakten disku-

tieren können. Nicht nur bezogen auf ein Jahr, sondern
bezogen auf den Zeitraum seit 2006, also im zeitlichen
Längsschnitt, sehen wir: Was hat sich verändert? Was hat
sich verbessert?

Da kann man – egal aus welcher Richtung man
kommt – eine Aussage nicht wegreden: Es ist so, dass
sich der Bildungsstand und die Bildungsbeteiligung in
den letzten Jahren kontinuierlich verbessert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Herr Rossmann sagte, dass es immer mehr geworden ist.
Damit muss man nicht unbedingt zufrieden sein. Aber es
ist immer mehr geworden. Das ist eine ganz klare Ten-
denz.

Ich fand nicht, dass Herr Jung eine rosarote Brille auf-
hatte; er hat nur die Fakten genannt. Da er die Fakten
so schön aufgezeigt hat, will ich nicht alles wiederholen,
sondern nur noch ein, zwei Punkte nennen.

Wir haben zum Beispiel immer mehr Kinder unter drei
Jahren – mittlerweile beträgt ihr Anteil über ein Drittel –,
die Betreuungsangebote in der Kita wahrnehmen. Wenn
wir sagen, wir wollen keine Abhängigkeit vom Hinter-
grund des Elternhauses, dann ist das genau die richtige
Stelle, um anzusetzen: Die Kinder, die zu Hause Eltern
haben, die viel mit ihnen sprechen, singen oder ihnen
etwas vorlesen, brauchen diese Angebote nicht so sehr.
Wir bieten die Angebote zwar auch für diese, aber vor
allem für diejenigen Kinder an, die das Pech haben, nicht
so ein Elternhaus zu haben. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt. Man muss am Anfang ansetzen, und das kann man
nicht mit irgendwelchen Rahmenplänen tun, sondern hier
muss man ganz konkret handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Handeln ist gut! Dann fangen Sie mal an!)


Ein weiteres Beispiel: Auch die Zahl der Kinder mit
sonderpädagogischen Bedarfen, die inklusiv beschult
werden, hat sich in den letzten Jahren erhöht. Für diese
müssen Ausbildungsplätze etc. geschaffen werden.

Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Wir sind auf
einem guten Weg. Da sind beide beteiligt, also Bund und
Länder; denn Bildung ist keine Sache, die der Bund allei-
ne verordnet, sondern Bund und Länder müssen zusam-
menarbeiten. Jeder hat seine Aufgaben. Man kann sagen:
Wir haben hier eindeutige Erfolge.

Es sollte aber keine Selbstzufriedenheit aufkommen –
das wäre wirklich nicht angemessen –, sondern man soll-
te auch sehen, dass dieser Bildungsbericht – darin liegt ja
gerade sein Wert – auf Schwächen aufmerksam macht,
dass er die Herausforderungen benennt. Wenn ich im An-
trag der Grünen lesen, dass Sie die unverzügliche Um-
setzung der Empfehlungen des Bildungsberichts fordern,
dann muss ich sagen: Falsch, es gibt überhaupt keine
Empfehlungen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sicher, es gibt Empfehlungen!)


Das ist die dezidierte Absprache. Es gibt eine Darstel-
lung des Sachverhalts. Daraus abzuleiten sind Entschei-

Katja Dörner






(A) (C)



(B) (D)


dungen, die politisch zu treffen sind, zum Beispiel in der
KMK, zum Beispiel hier im Bundestag.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb unser Antrag!)


Ich will einmal ein Beispiel nennen: Ganztagsschul-
ausbau. Der Anteil der Ganztagsschulen – es wird bi-
lanziert, wie die Situation ist – beträgt bei den Integ-
rierten Gesamtschulen 87 Prozent, bei den Schulen mit
mehreren Bildungsgängen 78 Prozent. Dann schreiben
die Autoren in ihrem Bericht: Bislang werden aber die
erweiterten Lern- und Fördermöglichkeiten von einem
Großteil dieser Schulen nicht genutzt. – Ich wiederho-
le: Sie werden von einem Großteil dieser Schulen nicht
genutzt. Das heißt, hier besteht Bedarf, und wir als Bund
machen auch etwas. Wir geben Millionen dafür aus, dass
Konzepte entwickelt werden, aber nicht an jeder Ecke
neu. Vielmehr sollen sie über die Transfereinrichtungen
oder andere Einrichtungen verbreitet werden. Die drit-
te Förderphase des Forschungsprogramms „Studie zur
Entwicklung von Ganztagsschulen“ hat in diesem Jahr
begonnen.

Der Grundtenor der Forderungen ist: Der Bund muss
mit einsteigen. Der Gedanke im Hinterkopf ist: Der Bund
muss mitfinanzieren. Das  kann man  sich  ja wünschen. 
Aber wenn man wirklich glaubt, dass ein zentrales Bil-
dungssystem, dass eine starke Stellung des Bundes das
Allheilmittel ist,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das glaubt doch keiner!)


dann sollte man sich die Situation in den Ländern an-
schauen, in denen das so organisiert ist, zum Beispiel
unter anderem in Frankreich. Dann sieht man: Das funk-
tioniert nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Das ist Ideologie!)


Es soll keiner sagen: Chancengerechtigkeit ist ein
Thema für den Rest der Legislaturperiode. Chancenge-
rechtigkeit ist ein ganz zentrales Thema. Das habe ich
vom ersten Tag an gesagt. In diesem Bereich haben wir
viel erreicht. Ich will gar nicht aufzählen, was wir alles
erreicht haben. Das ist in der Kurzzusammenfassung des
Bildungsberichts gut nachlesbar.

An den Ergebnissen des Bildungsberichts besonders
erschreckend waren für mich die hohen regionalen Un-
terschiede; denn es ist ja auch ein Stück Ungerechtigkeit,
wenn der Bildungserfolg sehr stark vom Wohnort, von
der Region abhängt. Frau Hein, Sie haben sinngemäß ge-
sagt, es gebe nur noch Privatschulen. Als ob die schlecht
sind.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das hat sie doch gar nicht gesagt! – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Nein! Die sind aus der Not entstanden!)


– Sie hat es so dargestellt, als ob alles ganz katastrophal
sei. Natürlich ist Daseinsvorsorge eine gesellschaftliche
Aufgabe, der überall nachgegangen werden muss. Aber
die Tatsache, dass gerade in den neuen Bundesländern
christliche oder andere Privatschulen entstanden sind,

zeigt doch, dass der Bedarf und auch der Wunsch danach
vorhanden sind.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist aber an der Stelle genau nicht der Fall!)


Zum Schwerpunkt Bildung und Migration. Wir, KMK
und Bund, können entscheiden, welche Sonderuntersu-
chung wir durchführen wollen. 2006 haben wir Maßnah-
men gestartet, um die Bildungsleistungen von Menschen
mit Migrationshintergrund zu verbessern. Nach zehn
Jahren haben wir die Ergebnisse evaluiert. Man sieht:
Verbesserungen sind möglich. Aber man sieht auch ganz
deutlich: Das braucht Zeit. Es geht bei der Bildungsbio-
grafie von Migrantinnen und Migranten sichtbar voran, 
aber das braucht Zeit.

Es liegen uns Zahlen vor, die wir vor zehn Jahren nicht
für möglich gehalten hätten. 90 Prozent – ich sage es noch
einmal ganz deutlich: 90 Prozent! – der drei- bis unter
sechsjährigen Kinder mit Migrationshintergrund besu-
chen eine Betreuungseinrichtung. Damit ist für Chancen-
gerechtigkeit gesorgt. Oder, Frau Hein: Vor Jahren war es
so, dass der Anteil der Jugendlichen, die einen mittleren
Abschluss schaffen, bei den deutschen Jugendlichen bei
über 50 Prozent lag, während er bei ausländischen Ju-
gendlichen bei 36 Prozent lag. Jetzt liegen diese Jugend-
lichen mit den deutschen Jugendlichen gleichauf. Wenn
hier also rhetorisch gefragt wird: „Warum schaffen wir
das nicht?“, dann kann ich nur sagen: Wir arbeiten daran,
aber die Erfolge werden sich nicht von heute auf morgen
einstellen.  Ich finde,  es motiviert  aber  immer, wenn  es 
Erfolge gibt, wenn wir sehen: Der Weg ist richtig. Dafür
und auch wenn wir sehen, wir müssen etwas ändern, ist
der Bildungsbericht ganz entscheidend.

Zu den Leistungssteigerungen bei Jugendlichen mit
Migrationshintergrund bei PISA. Sie haben aufgeholt. Es
gibt zwar immer noch eine große Diskrepanz, aber sie
haben ihre Leistungen schneller gesteigert als die Deut-
schen in der Zeit. Anhand dieser Fakten könnte man sa-
gen: Wenn das Bildungssystem gut ist, dann ist es für alle
gut, dann erledigt sich das alles von selbst. Schauen wir
nach Finnland. Alle glauben ja, dass Finnland ein super
Schulsystem hat, aber die Diskrepanz zwischen den Leis-
tungen derer mit und ohne Migrationshintergrund ist im
finnischen Schulsystem mit am größten. Das heißt, das 
Schulsystem allein kann nicht alles leisten. Deswegen
würde ich darum bitten, die Stellungnahme der Bundes-
regierung zum Bildungsbericht zu lesen. Wir haben dort
detailliert aufgelistet, was alles gemacht wird, und zwar
ressortübergreifend.

Eine Erkenntnis aus dem Bildungsbericht ist auch
ganz wichtig: Vergleicht man die Bildungsbeteiligung
von 15-jährigen Jugendlichen mit und ohne Migrati-
onshintergrund, die den gleichen sozioökonomischen
Hintergrund haben, dann stellt man fest: Sie ist in den
jeweiligen Bildungsgängen immer gleich. Das heißt, der
sozioökonomische Hintergrund ist mittlerweile entschei-
dender als der Migrationshintergrund.

Das Thema Kinder und Jugendliche mit Migrations-
hintergrund ist wichtig, und es beschäftigt uns schon
lange. Es gibt exzellente Forschung in diesem Bereich,
zum Beispiel in Osnabrück, Bielefeld, Mannheim und

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka






(A) (C)



(B) (D)


Nürnberg, die sich sehr stark mit den Nachkommen der
Arbeitsmigranten beschäftigt. Weniger beschäftigt man
sich mit denen, die im letzten Jahr gekommen sind, die in
einer ganz anderen Konstellation zu uns gekommen sind.
Wir haben hier auch wenig belastbare Ergebnisse. Wir
wissen aber, dass in zwei Jahren ein großer Schwung aus
der Schule kommt. Deswegen haben wir die Mittel für
den Bereich Migrationsforschung, der ohnehin schon gut
aufgestellt ist, sofort erhöht. Allein von 2016 bis 2019
stehen 18 Millionen Euro für diesen Bereich zur Ver-
fügung. Große Projekte laufen bereits. Wir bekommen
repräsentative, aussagekräftige Ergebnisse. Wir werden
auch die Bildungsverläufe derer, die gerade in Deutsch-
land angekommen sind, weiterverfolgen. In der nächsten
Woche veröffentlichen wir eine neue Ausschreibung mit
einem Volumen von 12 Millionen Euro, bei der es um die
Frage geht, wie wir die Herausforderungen hinsichtlich
unseres Zusammenlebens, unserer Werte, unserer Vor-
stellungen, unserer Kultur, also des gesellschaftlichen
Zusammenhalts unter den jetzt entstandenen Bedingun-
gen bewältigen können. Das sind ganz konkrete Maßnah-
men, die auch in diesem Hause registriert werden sollten.

Zum Schluss noch eine Bemerkung: Vor kurzem hat
die britische Regierung eine Untersuchung in Auftrag
gegeben. Die Chancen für junge Menschen auf der gan-
zen Welt wurden verglichen. Es wurde gefragt: Welche
Bildungschancen und -möglichkeiten haben die jungen
Menschen? Welche Jobchancen haben sie? Wie ist die
gesundheitliche Präferenz? Welche Möglichkeiten ha-
ben sie, sich politisch zu beteiligen? Wie ist es um die
Möglichkeiten für ein bürgerschaftliches Engagement
bestellt? – 183 Staaten wurden untersucht. Erster Platz:
Deutschland. Ganz so schlimm kann es also nicht sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820003700

Der Kollege Mutlu ist der nächste Redner für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820003800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man

sich den aktuellen Bildungsbericht anschaut, kann man in
der Tat einige Fortschritte im deutschen Bildungssystem
feststellen – immerhin. 15 Jahre nach dem PISA-Schock
in einem der reichsten Länder der Welt wurde das auch
Zeit. Von „Bildungsrepublik“ kann allerdings immer
noch keine Rede sein.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


Deswegen dürfen wir uns auch nicht zurücklehnen und
mit den Ergebnissen zufrieden sein, Kollege Jung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Zwischenzeitlich sind zwei allgemeine Erkenntnisse
in allen Köpfen angekommen – dabei schaue ich insbe-
sondere in die Reihen der CDU/CSU-Fraktion –, erstens,
dass Bildungsungerechtigkeit das Problem im deutschen
Bildungssystem ist, zweitens, dass unser Land fit für die 

Einwanderungsgesellschaft gemacht werden muss. Der
Schwerpunkt des Bildungsberichts – Bildung und Migra-
tion – ist auch für die aktuelle Debatte in Deutschland
von großer Bedeutung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Deshalb müssen wir die Empfehlungen der Autorin-
nen und Autoren des Berichts nicht nur ernst nehmen,
Frau Wanka, sondern wir müssen sie auch zügig umset-
zen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nur so haben wir eine Chance. Nur so können wir die
Fehler der Vergangenheit vermeiden. Gute Bildungs-
politik ist Integrationspolitik, ist Sozialpolitik, ist Wirt-
schaftspolitik. Gute und gerechte Bildung ist auch eine
Investition in die Sicherheit unseres Landes und schützt
vor  Radikalismen  unterschiedlichster  Art;  Salafismus 
und Rechtsextremismus wären da zwei Beispiele.


(Xaver Jung [CDU/CSU]: Oder Linksextremismus!)


Die Befunde des Bildungsberichts belegen, wie zahl-
reiche Studien zuvor, dass das deutsche Bildungssystem
immer noch nicht in der Lage ist, alle Schülerinnen und
Schüler teilhaben zu lassen und soziale Disparitäten aus-
zugleichen. Wir als Grüne sagen: Das können und dürfen
wir nicht länger hinnehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen eine gerechte, offene, demokratische Gesell-
schaft und keine gespaltene, in der der Geldbeutel der
Eltern über den Bildungserfolg entscheidet. Dass das so
ist, das ist ein großes Problem, und das müssen wir ge-
meinsam anpacken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Segregationsentwicklungen sind auch regional sicht-
bar. Auch Ministerin Wanka hat das endlich erkannt


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist ungeheuerlich!)


und möchte diese Tendenzen beobachten – ich zitiere –,
„damit nicht neue Ungerechtigkeit entsteht“. Beobach-
ten? Mit Verlaub, Frau Ministerin, das ist keine nachhal-
tige Strategie.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])


Warum warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen
ist? Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Hand-
lungsdefizit. Hier müssen Sie endlich handeln und Ihren 
warmen Worten Taten folgen lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wegweisende Erkenntnisse!)


Bundesministerin Dr. Johanna Wanka






(A) (C)



(B) (D)


Wir müssen jetzt etwas ändern. Wir müssen jetzt handeln,
damit nicht weitere Regionen in Deutschland entstehen,
die Kindern und Jugendlichen kaum bis keine Chancen
bieten. Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufga-
be. Das sagt auch Ministerin Wanka. Ich sage: Absolut
dʼaccord. Deshalb müssen wir im Interesse unserer Kin-
der und Jugendlichen endlich jenseits von ideologischen
Grabenkämpfen schauen,


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


dass es bei der Bildung in Deutschland weitergeht.

Mit der Reform der Bund-Länder-Finanzierung und
der Ankündigung des Digitalpakts, der noch nicht haus-
halterisch unterlegt und wohl eher ein Wahlkampfge-
schenk ist, sind erste Schritte getan. Aber das reicht nicht.
Sie mogeln sich mit diesen Maßnahmen am Kooperati-
onsverbot vorbei und belegen damit im Grunde die Ab-
surdität des Verbots der Kooperation in der Bildung.


(Zuruf des Abg. Tankred Schipanski [CDU/ CSU])


Zugleich kommt der Finanzminister um die Ecke und
kündigt zusätzliche 3,5 Milliarden Euro für die Schulsa-
nierung an.


(René Röspel [SPD]: Ist doch gut! – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Freut euch doch!)


Das ist absolut löblich, Kollege Rossmann, aber in An-
betracht des bundesweit riesigen Sanierungsbedarfs und
Investitionsstaus in den Schulen, der bei 34 Milliarden
Euro liegt, ist das kein allzu großer Wurf. Da muss mehr
geliefert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Na, ja!)


Noch immer investieren wir viel zu wenig in unsere
Bildungseinrichtungen. Statt die Zielvorgabe – Kollegin
Dörner hat es schon gesagt –, dass die Bildungsinvesti-
tionen 10 Prozent des BIP betragen sollen, zu erreichen,
stagnieren wir weiterhin bei 9,1 Prozent. Damit liegen
wir im internationalen Vergleich immer noch unter dem
OECD-Durchschnitt. Das reicht nicht.


(Zuruf des Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/ CSU])


Deshalb sagen wir: Lassen Sie es uns gemeinsam anpa-
cken und mehr in die Bildung, also in die Zukunft unse-
res Landes, investieren.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820003900

Herr Kollege.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820004000

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Lassen Sie

uns gemeinsam eine Bildungsoffensive starten, damit
Bildungsungerechtigkeit in unserem Land endlich der
Vergangenheit angehört. Lassen Sie uns endlich gemein-
sam das Kooperationsverbot in der Bildung in Gänze
abschaffen, –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820004100

Herr Kollege Mutlu.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820004200

– damit es nicht immer wieder diese Mogelpackungen

gibt. – Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank an
die CDU/CSU-Fraktion. Hoffentlich hat sie gut zugehört
und etwas gelernt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Man weiß vorher schon, was kommt! Da muss man nicht zuhören!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820004300

Mit der Frage, warum nur immer die grandiosen

Schlusssätze erst deutlich jenseits der verfügbaren Rede-
zeit im Manuskript vorgesehen werden, werde ich einmal
den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages konfron-
tieren.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Regierungsfraktionen machen es vor!)


Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1820004400

Herr Präsident! Es hat einen Grund. Es gibt einen

Spruch aus unserer Jugend, der heißt: Wer hat an der Uhr
gedreht? Ist es wirklich schon so spät?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das geht uns allen hier manchmal so, und zwar fraktions-
übergreifend.

Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Ich glaube,
dass dieser Nationale Bildungsbericht in gerade dieser
Zeit Anlass ist, über einen Zusammenhang zu sprechen,
der uns alle bewegt, jedenfalls die demokratischen Par-
teien von rechts bis links in diesem Hause. Ich meine die
Tatsache, dass wir in einer Zeit leben, in der die Werte
der Aufklärung, die Werte von Freiheit und Gleichheit
und auch Toleranz, die Werte des 17. und 18. Jahrhun-
derts wieder an Bedeutung gewinnen und uns vor allen
Dingen die rechtspopulistischen autoritären Erscheinun-
gen in verschiedensten westlichen Demokratien ernsthaft
umtreiben müssen.

Es gibt zwei zentrale Sätze der Aufklärung. Der erste
von Immanuel Kant lautet: Besinne dich darauf, dich dei-
nes eigenen Verstandes zu bemühen. Der zweite war von
Sir Francis Bacon: Wissen ist Macht. – Erst Wissen und
Bildung befähigen Menschen, sich des eigenen Verstan-
des zu bedienen. Deshalb ist die Förderung von Bildung
und Wissenschaft für das Gelingen von freiheitlichen De-
mokratien wichtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Özcan Mutlu






(A) (C)



(B) (D)


Warum sage ich das? Die Bundeskanzlerin hat, wie
ich finde zu Recht, darauf hingewiesen, dass das, was wir 
beispielsweise im amerikanischen Wahlkampf erlebt ha-
ben, nämlich dass Wahrheit und Fakten keine Rolle mehr
spielen, dass Hass, Respektlosigkeit und Lügen – die
Bundeskanzlerin hat es mit dem Begriff „postfaktisch“
beschrieben – zum Kennzeichen der politischen Ausei-
nandersetzung geworden sind. Da müssen wir gegenhal-
ten mit den Werten der Aufklärung, mit Freiheit, mit To-
leranz, mit Respekt und eben mit der Idee von gleichen
Chancen für alle. Das gilt auch für den Bildungsbereich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Der Nationale Bildungsbericht beschreibt das sehr dif-
ferenziert. Frau Ministerin Wanka, ja, es gab in vielen
Bereichen Fortschritte, auf die wir gemeinsam stolz sind:
Die frühe und individuelle Förderung von Kindern und in
vielen Bereichen auch das längere gemeinsame Lernen,
der neue Stellenwert frühkindlicher Förderung und Bil-
dung in diesem Land, der Ausbau im Bereich der Kinder-
tagesstätten und Kindergärten und – seit dem Programm
von Edelgard Bulmahn – auch die Fortschritte beim Aus-
bau von Ganztagsschulen haben mit dafür gesorgt, dass
wir heute, nach diesen Jahren, zu besseren Ergebnissen
kommen als noch vor einigen Jahren.

Aber richtig ist auch – da haben die Kollegin von
der Linkspartei, der Kollege von den Grünen und Ernst
Dieter Rossmann vollkommen recht; auch Sie haben es
erwähnt –, dass sich soziale Ungleichheiten in diesem
Land nach wie vor gerade auch im Bildungssystem kon-
servieren. Wir sind bei dem Vorhaben, dies zu überwin-
den, weitergekommen, aber noch nicht weit genug.

Wir können das anhand der Zahlen feststellen. Nach
wie vor wächst jedes vierte Kind – 25 Prozent! – unter
mindestens einer Risikolage auf, was zu einer – das be-
scheinigt  der  Bildungsbericht  –  finanziell,  sozial  oder 
durch die Eltern begründeten Bildungsferne führt, mit der
Folge, dass es deutlich schlechtere Bildungschancen und
damit auch deutlich schlechtere Chancen auf ein selbst-
bestimmtes Leben hat als andere Kinder und Jugendli-
che. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund
sind bei allen Fortschritten deutlich stärker davon betrof-
fen. Frau Ministerin, der Expertenstreit, ob der Migra-
tionshintergrund oder die sozioökonomische Schwäche
der Familie die wichtigere Ursache dafür ist – natürlich
sind es vor allen Dingen soziale und nicht kulturelle Ur-
sachen –, ist am Ende des Tages ein akademischer Streit.
Es geht um konkrete Lebenslagen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Frau Ministerin Wanka, man muss hier auch einmal
selbstkritisch feststellen, dass Ziele, die man sich selbst
gesetzt hat, nicht erreicht wurden. Sie erinnern sich an
den Nationalen Bildungsgipfel aus dem Jahre 2008 un-
ter der schönen Überschrift „Bildungsrepublik“. Damals
hat man sich das Ziel gesetzt – das ist nachlesbar –, bis
zum Jahre 2015 die schulischen Leistungen von Kindern
und Jugendlichen mit Migrationshintergrund denen an-
derer Jugendlicher gleichzustellen. Das haben wir nach
wie vor nicht erreicht, was anhand der Zahl der Schul-

abschlüsse,  der  fehlenden  beruflichen  Bildung  und  der 
Lebensverläufe nach wie vor festzustellen ist.

Das hat etwas mit der Frage zu tun, welche Rolle Bil-
dung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft hat. Eine
Gesellschaft, in der soziale Ungleichheit nicht überwun-
den wird, eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet, eine
Gesellschaft, die so funktioniert, wie wir das leider Got-
tes in anderen Ländern in und außerhalb Europas noch
schlimmer erleben, schafft das Klima für Radikalismus
und Extremismus, schürt Ängste vor der Zukunft und
führt zu Unzufriedenheit. Gerade in solchen Zeiten ist
die Überwindung sozialer Ungleichheiten – auch im Bil-
dungssystem – nach wie vor eine der vordersten Aufga-
ben, der wir uns für alle Kinder und Jugendlichen in die-
sem Land – egal welcher Herkunft – zu widmen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da klatscht die CDU/CSU nicht einmal! Peinlich!)


Das heißt konkret: Ja, wir haben auch in dieser Koali-
tion eine ganze Menge auf den Weg gebracht – Herr Kol-
lege Mutlu, jetzt hören Sie einmal genau zu –, auf das wir
zu Recht stolz sind, zum Beispiel die Reform des BAföG.
Wir haben jetzt die Chance, noch mehr zu tun, und zwar
nicht nur im Bereich der frühkindlichen Bildung, für den
sich vor allen Dingen Ministerin Schwesig in den letzten
Jahren sehr erfolgreich engagiert hat, sondern auch im
Bereich der schulischen Bildung, und hier geht es nicht
um irgendwelche Ideologien zwischen Zentralismus und
Föderalismus.

Die Hauptverantwortung für die schulische Bildung in
diesem Land bleibt bei den Ländern. Schulträger sind im
Regelfall die Kommunen; das ist gar keine Frage.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage das hier einmal ganz explizit, Frau Ministerin
Wanka, weil Sie denjenigen, die sich für das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes engagieren, immer wieder un-
terstellen, dass sie sich für ein Bundesschulamt einset-
zen. Es geht nicht um ein Bundesschulamt. Man kann in
der Bildungspolitik auch zentralistisch ganz viel falsch
machen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Das sagt über die Qualität noch gar nichts aus.

Es geht auch nicht um Zentralismus oder Föderalis-
mus, sondern darum, dass Bund, Länder und Kommunen
an einem Strang ziehen und arbeitsteilig so etwas wie
eine nationale Bildungsallianz organisieren können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hubertus Heil (Peine)







(A) (C)



(B) (D)


Ja, die Länder sind nach wie vor verantwortlich für das
Schulsystem und für die Inhalte. Schulträger sind die
Kommunen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das soll auch so bleiben!)


Der Bund kann mit der jetzt getroffenen Vereinba-
rung innerhalb der Bund-Länder-Finanzbeziehungen
mithelfen, die schulische Infrastruktur gezielt und nicht
auf Umwegen zu verbessern, mit der Gewissheit, dass
das Geld auch dort ankommt, wo wir es haben wollen.
Dadurch können wir mithelfen, den Sanierungsstau in
den Schulen aufzulösen, Schulen zu sanieren und zu mo-
dernisieren – vor allen Dingen in den Kommunen, die
es besonders schwer haben. Das ist ein konkreter Bei-
trag dafür, Lernorte zu verbessern. Mit der Kombination
der Mittel von Bund, Ländern und Kommunen können
wir dafür sorgen, dass die soziale Herkunft nicht zum
Schicksal für die Bildungschancen in diesem Land wird,
und dafür setzen wir uns ein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Mutlu, Frau Dörner, Sie haben von Missverständ-
nissen geredet. Ich kann das aufklären. Der Blick in die
Bund-Länder-Vereinbarung, die übrigens 16 Minister-
präsidenten aller möglichen Parteien dieses Hauses und
die Bundesregierung unterschrieben haben, zeigt, dass
wir 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen – das wer-
den wir über einen Nachtragshaushalt tun –, um entspre-
chende Möglichkeiten für Investitionen zu schaffen. Das
ist allein das Geld des Bundes. Einige Bundesländer –
vor allen Dingen Nordrhein-Westfalen – engagieren sich
ganz massiv für zusätzliche Mittel zur Schulsanierung.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rot-Grün-regiert!)


In dieser Kombination müssen wir den Investitionsstau
von 34 Milliarden Euro auflösen. 

Wir ermöglichen, dass das Geld gezielt in den Kom-
munen ankommt, indem wir das Grundgesetz ändern;
auch das steht deutlich darin.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Wir nennen das das „Aufbrechen des Kooperationsver-
botes“, weil es die Chance schafft, Schulen nicht nur zu
sanieren, sondern auch zu modernisieren und über diese
Legislaturperiode hinaus Geld des Bundes zum Beispiel
für Ganztagsschulangebote zur Verfügung zu stellen. Ich
bin dem Koalitionspartner ausdrücklich dankbar dafür,
dass wir diesen Weg gemeinsam gehen.


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: So ist es!)


Alle Ministerpräsidenten haben das unterschrieben.

Herr Mutlu, wenn Sie mithelfen wollen, dass wir das
jetzt auch gut hinbekommen – Ihr Parteitag beginnt ja
heute –: Reden Sie einmal mit dem baden-württembergi-
schen Ministerpräsidenten Kretschmann.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir gerne!)


Der ist der Einzige, der dazu eine Protokollerklärung
abgegeben hat. Gemeinsam sind wir stark, Herr Mutlu.
Ich setze auf Ihre Überzeugungskraft gegenüber dem
baden-württembergischen Ministerpräsidenten auf dem
Parteitag.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Schluss: Wir brauchen angesichts dieses Natio-
nalen Bildungsberichts eine nationale Bildungsallianz,
um die Chancen zu nutzen, die die Digitalisierung bietet.
Frau Wanka, daran müssen wir noch ein bisschen arbei-
ten. Dass wir 3,5 Milliarden Euro für die Schulsanierung
haben, ist das eine; die 5 Milliarden Euro für digitale Bil-
dung, die Sie angekündigt haben und die wir ausdrücklich
begrüßen, nicht nur weil in einigen Tagen der IT-Gipfel
stattfindet und digitale Bildung ein zentrales Thema ist, 
sind das andere. Die Kombination dieser Mittel auf einer
Zeitschiene vom Jahr 2017 bis 2021, ungefähr 8,5 Milli-
arden Euro, würde einen Riesenschritt bedeuten, mit dem
wir viel Geld hebeln könnten.

Meine herzliche Bitte ist: Machen Sie solche Konzep-
te nicht für irgendwann oder nach der Bundestagswahl.
Die besten Wahlversprechen sind die, die man vor der
Wahl hält. Deshalb müssen wir dafür kämpfen, dass die
3,5 Milliarden Euro der erste Schritt sind, dass wir zu-
sätzlich Geld für Ganztagsschulangebote und digitale
Bildung in diesem Land bekommen, damit auch die Di-
gitalisierung der Bildung nicht zu neuen Ungleichheiten,
sondern zu neuen Chancen führt. Das ist der Weg, auf
den wir uns machen wollen. Alle Gutwilligen sind einge-
laden, ihn mitzugehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820004500

Für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Cemile

Giousouf die nächste Rednerin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. René Röspel [SPD])



Cemile Giousouf (CDU):
Rede ID: ID1820004600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Da jetzt viel gesagt worden ist, was, ich will
nicht sagen: am Thema vorbeigeht, aber was ein wenig
den Blick vom Bildungsbericht abgelenkt hat, möchte ich
gern auf den Kern der heutigen Debatte zurückkommen


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zunächst mal den Bericht lesen!)


und die Reden meiner Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, in denen sie viele Dinge kritisiert haben, die
in die Zuständigkeit der Länder fallen, so deuten, dass
der Bund eben seine Hausaufgaben gemacht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Übererfüllt! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt Herr Jung dazu?)


Hubertus Heil (Peine)







(A) (C)



(B) (D)


Uns liegt ein guter Bericht vor. Deshalb erlauben Sie
mir, kurz die guten Ergebnisse und Fakten zusammen-
zufassen. Die Ausgaben für Bildung, Forschung und
Wissenschaft sind im Jahr 2013 auf 257,4 Milliarden
Euro und nach vorläufigen Berechnungen auf 265,5 Mil-
liarden Euro im Jahr 2014 gestiegen. Das sind jeweils
9,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Das Ergebnis: Der Bildungsstand der Bevölkerung hat
sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Bei den
Abschlussquoten an Schulen bleibt der Trend zu höheren
Schulabschlüssen ungebrochen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt gar nicht!)


Im Jahr 2014 erhielten 41 Prozent der Schülerinnen und
Schüler  an  allgemeinbildenden  und  beruflichen  Schu-
len die allgemeine Hochschulreife. 2006 waren es noch
29,6 Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung. Der An-
teil der Schülerinnen bzw. Schüler ohne Hauptschulab-
schluss hat sich von 8 Prozent in 2006 auf 5,8 Prozent
in 2014 reduziert. Wir sind linker Schwarzmalerei zum
Trotz auf einem sehr guten Weg,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollten die Zahl halbieren! – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist auch Ländersache!)


nicht zuletzt dank der guten Arbeit unserer Ministerin
und ihres Hauses.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Bildungsbeteiligung und der Bildungserfolg von
Menschen mit Migrationshintergrund haben sich ver-
bessert. Mehr unter Dreijährige mit Einwanderungsge-
schichte besuchen Betreuungsangebote.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Ländersache!)


Das ist eine Verdoppelung seit 2009 auf 22 Prozent. Das
resultiert aus der Tatsache, dass wir Dinge, die Ländersa-
che sind, mit unterstützen.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Sie nennen nur die positiven Ergebnisse, die Ihnen gefallen! – Zuruf des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es stellt sich nur die Frage, warum Sie die positiven
Ergebnisse der Bundesebene nicht anerkennen. Die Bil-
dungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund
im Kindergartenalter liegt 2015 sogar bei 90 Prozent. Da-
rüber hinaus haben sich sowohl im Grundschul- als auch
im Sekundarbereich die Kompetenzen der Schülerinnen
und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte verbessert.

Die Rede unserer Ministerin hat gerade sehr deutlich
gemacht, dass sich das integrationspolitische Schlüs-
selministerium dieser Aufgabe nicht nur im aktuellen
Kontext stellt; bereits seit vielen Jahren setzt die uni-
onsgeführte Bundesregierung bei der Integration auf
den Bildungsbereich. Für uns ist kulturelle Vielfalt eine

Bereicherung. Das müssen wir uns von den Linken be-
stimmt nicht erklären lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Ich denke schon!)


Dennoch dürfen wir uns nicht auf unseren Erfolgen
ausruhen. Da sind wir uns auch alle einig; denn dieser
Bericht zeigt eben auch, dass immer noch ein Zusam-
menhang von sozioökonomischem Status und schuli-
scher Bildung besteht.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ach was!)


Ich glaube, es ist ein Unterschied – da bin ich nicht Ih-
rer Meinung, Herr Kollege Heil –, ob Kinder aus einem
Akademikerhaushalt stammen oder ob sie ausländische
Wurzeln haben. Letztere sind benachteiligt. Die Zahlen
des Berichts zeigen, dass ausländische Kinder mehr als
doppelt so häufig die Schule ohne Hauptschulabschluss 
verlassen. Sie erreichen dreimal seltener die Hochschul-
reife.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber es geht um konkrete Lebenslagen!)


Bei den Drei- bis Fünfjährigen haben insbesondere
Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Schulabschluss
sowie mit nichtdeutscher Muttersprache Sprachförder-
bedarf. Der Anteil liegt bei jeweils 39 Prozent. Auch in
der Berufsausbildung ist die Abbruchquote 50 Prozent
höher als die der Deutschen. Bei der dualen Ausbildung
liegt der Anteil der Lehrlinge mit Migrationshintergrund
mittlerweile bei 24 Prozent. Hier gibt es laut dem Bericht
aber starke regionale Unterschiede. Ministerin Wanka ist
darauf eingegangen.

Durch die starke Zuwanderung im vergangenen Jahr
steht das deutsche Bildungssystem nach Ansicht der
Forscher vor zusätzlichen Herausforderungen. Für die
Integration der im Jahr 2015 Zugewanderten fallen der
Studie zufolge jährlich zusätzliche Kosten von 2,2 bis
3 Milliarden Euro an. Aber diese Ausgaben werden sich
lohnen. Auch wenn dies nicht kurzfristig der Fall sein
sollte, so zeigt sich doch immer wieder in der Bildungs-
politik: Wir müssen langfristig investieren. Wir werden
sehen – auch das sagen die Forscher; auch wenn es bei
ihnen unterschiedliche Einschätzungen gibt –, dass sich
eine nachhaltige Bildungspolitik natürlich auch bei den-
jenigen, die neu zu uns kommen und Asyl suchen, mittel-
und langfristig auszahlen wird.

Wir müssen die Weichen stellen. Hier müssen wir an-
setzen und weiter daran arbeiten.

Auf dem Weg dorthin – das möchte ich noch einmal
betonen – haben wir viel geschafft. Als Berichterstatte-
rin für die Begabtenförderung bin ich hier in besonderer
Weise involviert. Die Begabtenförderwerke und Stiftun-
gen machen es sich mehr und mehr zur Aufgabe, auch
jungen Erwachsenen aus weniger gut betuchten Familien
die Möglichkeit eines Stipendiums zu geben. Jeder hat
in Deutschland die Möglichkeit, ungeachtet seines sozi-
alökonomischen Status eine qualitativ hochwertige Aus-
bildung zu erhalten.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hier widersprechen Sie sich aber!)


Cemile Giousouf






(A) (C)



(B) (D)


Nehmen wir exemplarisch das BMBF-Förderpro-
gramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“. Wir
werden bald im Hohen Hause einen Antrag zur kulturel-
len Bildung für Geflüchtete diskutieren. Derzeit profitie-
ren von dem Programm 300 000 bildungsbenachteiligte
Kinder und Jugendliche. Eine Zwischenbegutachtung
des Programms ergab, dass 92 Prozent der Bündnisse
Kinder und Jugendliche erreichen, die ansonsten nicht an
Angeboten der kulturellen Bildung teilgenommen hätten.

Das BMBF hat nunmehr auch zusätzliche Angebote
für junge Flüchtlinge im Programm. So können junge
Menschen beispielsweise auch in meinem Wahlkreis im
Emil Schumacher Museum in Hagen die Kraft der Kunst
und Bilder kennenlernen. Kinder und Jugendliche wer-
den in Workshops aktiv an kulturelle Bildung herange-
führt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Besser als das Betreuungsgeld!)


Von 2013 bis 2017 stellt der Bund insgesamt bis zu
230 Millionen Euro für das Programm bereit. On top
werden im Rahmen von „Kultur macht stark Plus“ Maß-
nahmen der kulturellen Bildung für geflüchtete junge Er-
wachsene bis einschließlich 26 Jahre angeboten.

Zum Ende meiner Rede möchte ich noch einmal auf
das Instrument des Anerkennungsgesetzes hinweisen.
Auch da bin ich gemeinsam mit meinem Kollegen Diaby
dabei, die Bedingungen und Möglichkeiten des Anerken-
nungsgesetzes weiter auszuschöpfen. Die Anerkennung
von Abschlüssen ist ein wichtiges Instrument, um Men-
schen das Ankommen in unserem Land zu erleichtern.

Wir haben – das möchte ich abschließend sagen –
bisher deutlich gemacht, dass Deutschland jedem diese
Chancen geben will. Wir werden trotz aller polarisieren-
den, populistischen und auch politischen Entwicklun-
gen weiter daran arbeiten. Wir können eine Gesellschaft
schaffen, in der es eben nicht zählt, ob man aus einem
Akademikerhaushalt kommt oder nicht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820004700

Der Kollege Dr. Karamba Diaby spricht jetzt für die

SPD.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Michaela Noll [CDU/CSU])



Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1820004800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Die Ergebnisse des Bildungsberichts
zeigen, dass wir weiterhin vor großen Herausforderun-
gen stehen. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstren-
gung für Bildung. Wir brauchen eine nationale Bildungs-
allianz.


(Beifall bei der SPD)


Denn Bildung ist die Voraussetzung dafür, dass Men-
schen später gute Arbeit finden und an der Gesellschaft 

teilhaben. Wir wissen: Investitionen in Bildung lohnen
sich für jeden Einzelnen und für unsere Gesellschaft.


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Investitionen in Bildung verbessern die Chancen auf
Teilhabe der Menschen an der Gesellschaft, und Inves-
titionen in Bildung stärken den sozialen Zusammenhalt.

Ich verdeutliche das anhand von vier Maßnahmen:

Erstens. Es beginnt damit, dass wir die Schulen sa-
nieren müssen. Sigmar Gabriel hat es gut auf den Punkt
gebracht: Die Schulen müssen die Kathedralen unserer
Städte und Gemeinden werden. Sie müssen lebenswerte
und lebensnahe Lernorte sein. Dafür stellen wir ab 2017
rund 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung.

Zweitens. An einigen Schulen gibt es soziale Proble-
me. Diese müssen wir in den Griff bekommen. Der Bund
muss die Länder und Kommunen hier unterstützen. Das
Ziel muss sein: Keine Schule ohne Schulsozialarbeiter!


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Drittens. Wir müssen die berufliche Bildung stärken; 
denn sie hat eine enorm wichtige Bedeutung für die Teil-
habe der Menschen. Sie ist der Schlüssel zur persönli-
chen Entwicklung, und sie ist die Voraussetzung, um in
einer digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt zu
bestehen. Die Schüler müssen sich in den Berufsschulen
wohlfühlen. Die Schulen brauchen eine bessere Ausstat-
tung. Und die Berufsschullehrer müssen bei ihrer wichti-
gen Arbeit besser unterstützt werden.


(Beifall bei der SPD)


Unsere Forderung lautet: Kein Schüler darf künftig ohne
einen Abschluss unsere Schulen und Berufsschulen ver-
lassen.


(Beifall bei der SPD)


Viertens. Auch für die Integration ist gute Bildungspo-
litik ein zentraler Baustein. Die Anerkennung der beruf-
lichen Qualifikationen ist von großer Bedeutung für die 
Teilhabe an der Gesellschaft. Wir haben diese Bedeutung
erkannt. Aber auch hier gibt es Verbesserungsmöglich-
keiten. Das zeigt der Bericht zum Anerkennungsgesetz.
Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierung
künftig die Kosten für die Verfahren finanziell unterstüt-
zen wird. Dafür stehen 5 Millionen Euro im Haushalt be-
reit. Das finden wir sehr gut. 


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es ist aber auch kein Geheimnis, dass die SPD mehr
will. Wir müssen die Menschen unterstützen, die keine
Leistungen nach SGB II oder SGB III beziehen. Wenn
das Anerkennungsverfahren dazu führt, dass man sein
Essen oder seine Miete nicht bezahlen kann, werden
die Menschen das Anerkennungsgesetz leider nicht nut-
zen. Wir wissen also, was zu tun ist. Im nächsten Schritt
müssen wir auch die Lebenshaltungskosten unterstützen,
zum Beispiel durch ein Stipendium oder ein Darlehen.

Cemile Giousouf






(A) (C)



(B) (D)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass alle
Menschen an der Gesellschaft teilhaben. Investitionen in
Bildung sind dafür der Schlüssel.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820004900

Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der

Kollege Dr. Wolfgang Stefinger für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich nicht wieder eine Märchenstunde!)



Dr. Wolfgang Stefinger (CSU):
Rede ID: ID1820005000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir verfügen über ein qualitativ hochwertiges
Bildungssystem sowie über gute Aus- und Weiterbil-
dungsmöglichkeiten. Das bescheinigt uns der Nationale
Bildungsbericht. Es ist ein Bildungssystem, um das uns
viele beneiden. Es ist ein Bildungssystem, das Deutsch-
land zu einem attraktiven Standort macht. Wir alle wis-
sen: Eine gute Bildung ist eine unabdingbare Vorausset-
zung für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg,
aber auch für gelungene Integration. Dass wir eine solche
Erfolgsgeschichte schreiben können, verdanken wir vor
allem drei Dingen: erstens umfangreichen Investitionen
in Bildung und Forschung, zweitens einer Vielzahl von
Programmen, Maßnahmen und Initiativen und drittens
den vielen Menschen, die sich im Bildungsbereich enga-
gieren. Vielen Dank dafür!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Es wurde an dieser Stelle schon mehrfach gesagt:
Noch nie wurde hierzulande so viel in Bildung und damit
in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes investiert wie
heute. In den letzten elf Jahren haben sich die Ausgaben
des Bildungs- und Forschungsministeriums mehr als ver-
doppelt. Für das nächste Jahr sind im Bundeshaushalt
über 17,5 Milliarden Euro veranschlagt, also noch einmal
über 1 Milliarde Euro mehr als im laufenden Jahr.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte den Haushältern danken, die bis heute früh
um drei Uhr den neuen Haushalt festgezurrt haben, über
den wir in der nächsten Sitzungswoche beraten dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch im diesjährigen OECD-Bericht schneidet
Deutschland gut ab. Als eine seiner großen Stärken gilt
die berufliche Bildung, die maßgeblich zum wirtschaft-
lichen Erfolg beiträgt und vielfältige Aufstiegschancen
ermöglicht. In kaum einem anderen Land gehen so vie-
le junge Menschen zur Schule, machen eine Ausbildung
oder haben einen Job. Kein anderes europäisches Land

hat eine so geringe Jugendarbeitslosigkeit wie Deutsch-
land.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. René Röspel [SPD])


Ich finde, das alles kann sich wahrlich sehen lassen und 
zeigt: Wir sind auf einem erfolgreichen Kurs. Natürlich
dürfen wir uns nicht ausruhen, und das tut von uns auch
keiner. Die Herausforderungen für unser Bildungswesen
sind komplexer und vielschichtiger geworden, vor allem
seit letztem Jahr, als mehrere Hunderttausend Menschen
aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind.
Diese Herausforderungen gelten natürlich auch für die
berufliche Ausbildung;  denn  immer  weniger  Jugendli-
che beginnen eine duale Berufsausbildung. Nach wie vor
bleiben viele Lehrstellen unbesetzt. Viele Ausbildungs-
betriebe klagen über Lehrlingsmangel. Zugleich suchen
viele junge Menschen nach einer Ausbildungsmöglich-
keit. Sie fragen sich, wie das zusammenpasst? Demogra-
fische Faktoren und mitunter ausgeprägte regionale und 
berufsspezifische Unterschiede spielen dabei eine wich-
tige Rolle.

Dies alles kann weitreichende Folgen für unsere Wirt-
schaft und die Gesellschaft mit sich bringen. Ohne eine
ausreichende  Anzahl  bestens  qualifizierter  Fachkräfte 
geht es nicht. Was wir daher brauchen, ist eine Ausgewo-
genheit von akademischer und beruflicher Bildung. Das 
Leben beginnt nicht erst mit dem Abitur.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen Ingenieure und Ärzte, aber eben auch
Handwerker und Mittelständler. Ich möchte noch auf
immer wieder  geäußerte Begrifflichkeiten  eingehen,  an 
denen ich mich massiv störe. Ein solcher Begriff ist zum
Beispiel der des Bildungsabsteigers oder des Bildungs-
verlierers. Warum ist ein Kind, das aus einem Akademi-
kerhaushalt  kommt  und  eine  berufliche  Lehre  machen 
möchte, ein Bildungsabsteiger?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das kann nicht so weitergehen.

Auch deswegen sind wir gefordert, das Image der
beruflichen Ausbildung nicht schlechtzureden; bei jeder 
Auslandsreise wird man darauf angesprochen. Ich darf
darauf hinweisen: Nicht umsonst wollen viele andere
Länder von uns lernen, wie die duale Ausbildung funk-
tioniert. Denn sie wissen: Deutschland kann Berufsaus-
bildung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in
den letzten Jahren auch viel für die Durchlässigkeit der
beruflichen Ausbildung getan und tun dies weiterhin. Ich 
möchte nur ganz kurz an die Allianz für Aus- und Wei-
terbildung erinnern, an die Studiengänge für Handwerks-
meister, die in Zusammenarbeit mit den Handwerkskam-
mern entstanden sind, oder auch an die Novelle zum
Meister- bzw. Aufstiegs-BAföG.

Ich habe die Herausforderungen durch die Digitalisie-
rung erwähnt. Wir stärken mit einem Sonderprogramm
zur Digitalisierung die überbetrieblichen Bildungsstät-
ten. Wir haben das Programm „Digitale Medien in der

Dr. Karamba Diaby






(A) (C)



(B) (D)


beruflichen Bildung“ fortgeführt; um nur einige Beispie-
le aus diesem Bereich zu nennen.

Sie sehen, wir haben die Herausforderungen im Blick.
Wir kennen unsere Stärken, und wir dürfen darauf auch
stolz sein. In diesem Sinne lassen Sie uns weiterarbeiten
und dieses Land noch besser machen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820005100

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/10100, 18/8825 und 18/10248
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. – Widerspruch sehe ich keinen. Deshalb sind
die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 sowie den Zu-
satzpunkt 11 auf:

38. Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Petra Pau,
Martina Renner, Jan Korte, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKE

Umsetzung der Empfehlungen des 2. Parla-
mentarischen Untersuchungsausschusses der
17. Wahlperiode zur Verbrechensserie des Na-
tionalsozialistischen Untergrundes

Drucksachen 18/6465, 18/9331

ZP 11 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Ulla  Jelpke,  Jan Korte,  Sevim Dağdelen, 
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Auf-
enthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt

Drucksache 18/2492

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


Drucksache 18/10288

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Widerspruch
sehe ich keinen. Dann ist das somit beschlossen.

Ich eröffne damit die Aussprache und erteile als erster
Rednerin das Wort der Kollegin Petra Pau für die Frak-
tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820005200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Kürzel NSU steht für Nationalsozialistischer Unter-
grund, mithin für eine bislang beispiellose rechte Terror-
serie und ein tödliches Staatsversagen. Das alles wurde
vor fünf Jahren offenbar.

Ebenso zum fünften Mal jährt sich demnächst das
Versprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach

bedingungsloser Aufklärung. Doch davon kann bisher
keine Rede sein. Es wird geschwiegen, geleugnet und
vertuscht – auf Landes- und Bundesebene.

Beim Verfassungsschutz werden Belege geschreddert,
wird also Recht gebeugt. Die Justiz hält, wie im Fall
„Lothar Lingen“, die schützende Hand darüber. Damit
wird die Bundeskanzlerin in den Meineid getrieben. Was
noch schlimmer ist: Die Betroffenen werden ein weiteres
Mal verhöhnt. Das ist eine Schande!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])


Der erste NSU-Untersuchungsausschuss hat im Sep-
tember 2013 fraktionsübergreifend einen Bericht mit
47 Schlussfolgerungen vorgelegt. Darin ging es um
rechtliche und strukturelle, auch um mentale Änderun-
gen in den Sicherheitsbehörden. Alle diese 47 Vorschläge
wurden vom Bundestag einstimmig, einmütig bestätigt.

Nun wollte die Linke wissen, was davon umgesetzt
wurde. Die Antwort der Bundesregierung liegt vor. Sie
ist auch für alle, die uns im Netz folgen, nachlesbar.

Ich konzentriere mich jetzt auf drei Aspekte, die
durchaus strittig sind.

Erstens. Ob Kriminalämter oder Justizbehörden –
fast niemand wollte oder konnte erkennen, dass die
NSU-Morde rassistisch motiviert waren. Auch deshalb
gibt es die Forderung nach dem Mentalitätswechsel. Nun
kann man Mentalitäten schlecht messen. Aber allein ein
Blick nach Sachsen zeigt, wie viel noch zu tun bleibt.
Naziaufmärsche werden goutiert, Gegenkundgebungen
dagegen düpiert – und das alles von Amts wegen –, und
Politiker beschwichtigen. Konsequenzen sehen anders
aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Untersuchungsausschuss waren wir uneins, ob wir
es mit institutionellem Rassismus zu tun haben, also auch
in Behörden. Die Linke meint Ja, CDU/CSU und Teile
der SPD meinen Nein. Wir sollten dies nicht als Mehr-
heitsentscheidung abhaken, sondern vom Deutschen In-
stitut für Menschenrechte untersuchen lassen. Die Linke
hat dafür Mittel bei den finalen Haushaltsberatungen be-
antragt. Ich hoffe auf die Zustimmung aller Fraktionen
und Kolleginnen und Kollegen.

Zweitens. Im Zentrum des Staatsversagens agierten
die Ämter für Verfassungsschutz. Damit wäre ich beim
zweiten großen Dissens.

CDU/CSU und SPD haben 2016 ein neues Gesetz
für das Bundesamt für Verfassungsschutz beschlossen.
Es erhält dadurch mehr Geld, mehr Personal und mehr
Kompetenzen.

Zugleich wurde die schmierige V-Mann-Praxis, also
die Kumpanei mit Nazis, legalisiert. Die Linke bleibt da-
bei: Die Ämter für Verfassungsschutz sind als Geheim-
dienste aufzulösen. Die V-Mann-Praxis ist sofort zu be-
enden.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Wolfgang Stefinger






(A) (C)



(B) (D)


Drittens. Wir waren uns einig, dass Initiativen zur Op-
ferberatung, für Demokratie und Toleranz umfangreicher
unterstützt werden müssen. Die Bundesmittel dafür wur-
den inzwischen erheblich aufgestockt. Das ist gut so. Die
Linke hat dem zugestimmt.

Gleichwohl erfahre ich auf meinen Wegen über das
Land  zu  häufig,  dass  von  den  zusätzlichen  Millionen 
bei den Initiativen kaum etwas ankommt. Hier muss
die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern drin-
gend prüfen, woran es liegt, dass die Mittel, die wir hier
einmütig beschlossen haben, nicht ankommen. Denn
entscheidend ist letztlich nicht das, was vorne hineinge-
steckt wird, sondern das, was hinten herauskommt – und
dies umso mehr, da niemand garantieren kann, dass nicht
längst neue Nazizellen raubend und mordend unterwegs
sind, allemal da das rassistisch aufgeheizte Klima von ih-
nen als regelrechter Auftrag gedeutet werden könnte, wie
damals beim NSU.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820005300

Der Kollege Armin Schuster spricht als Nächster für

die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Susann Rüthrich [SPD])



Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1820005400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 4. November –
nicht  lange her –:  fünfter Jahrestag des Auffliegens der 
NSU-Mordserie. Das ist ein guter Termin für diese De-
batte, drei Jahre nach dem Abschlussbericht, den der ers-
te NSU-Untersuchungsausschuss erarbeitet hat, und gut
drei Jahre nachdem wir uns hier in aller Form persönlich
bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt haben. Wir
haben im September 2013 zwei Versprechen abgegeben,
nämlich erstens, alles zu unternehmen, damit sich das
nicht wiederholt, und zweitens, alles zu unternehmen,
um diese Serie aufzuklären.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das erste Versprechen mündete in 47 Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses für Exekutive, Le-
gislative und Judikative. Alle hatten ihr Päckchen zu tra-
gen. Heute ziehen wir Bilanz.

Das zweite Versprechen, alles zu tun, um aufzuklären:
Das sehen Sie in München vor Gericht. Das sehen Sie in
zwölf NSU-Untersuchungsausschüssen von Ländern und
im Bund. Sie sehen es an der akribischen intensiven Ar-
beit des Bundeskriminalamts, des Bundesamts für Ver-
fassungsschutz und vieler Ländersicherheitsbehörden.

Meine Damen und Herren, diametral anders als Sie,
Frau Pau, halte ich das, was wir seit Ende 2011 in diesem
Land tun, um das alles zu klären, für historisch beina-
he einmalig. Ich hätte mir gewünscht, dass wir so kon-

sequent auch nach der RAF-Mordserie oder nach dem
Oktoberfest-Attentat gehandelt hätten; da wäre das viel-
leicht auch notwendig gewesen.

Was wir in Sachen NSU-Aufklärung tun, ist ein ganz
schlechter Anlass, Frau Pau, um uns selbst zu beschimp-
fen. Sie haben sich ja gerade eben selbst beschimpft. Das
halte ich nicht für angemessen. Es ist über Parteigren-
zen hinweg, gerade im Untersuchungsausschuss, in den
Untersuchungsausschüssen, alles unternommen worden.
Warum? Wir haben alle regiert, Sie auch. Wir waren alle
betroffen, nicht nur der Verfassungsschutz. Ich sage es
Ihnen ganz offen: Es ist ein Ausdruck von Feigheit, wenn
wir hier mit dem Finger auf den Verfassungsschutz zei-
gen und selbst nie in einem Innenausschuss eines deut-
schen Parlaments die Mordserie als Tagesordnungspunkt
aufgerufen haben. Wer selbst so viel Grund hat, über sich
nachzudenken, sollte nicht mit dem Finger andauernd auf
andere zeigen.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Zur Sache! Was läuft denn hier?)


Ich habe damals, im September 2013, von einem kom-
pletten Systemversagen gesprochen: der Justiz, der Exe-
kutive, aber auch der Legislative. Deswegen finde ich die 
Schuldzuweisungen ein bisschen billig, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Karin Binder [DIE LINKE]: Es geht nicht um Schuldzuweisung, sondern um das Erkennen von Fehlern!)


Lassen Sie uns mal über die 47 Empfehlungen spre-
chen! Wir haben in diesem Haus 47 Empfehlungen ver-
abschiedet. Ich kenne keinen anderen Politikbereich, in
dem man in einem solchen Fall nach drei Jahren sagen
kann: Beinahe alles abgeräumt, meine Damen und Her-
ren. – Ein Mammutreformprogramm haben wir gemacht.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was denn?)


Wie Frau Pau kann auch ich nicht alles aufzählen. Ich
bräuchte 90 Minuten Redezeit, um zu erklären, was wir
alles getan haben. Sie haben auch nur 3 Punkte von 47
herauspicken können.


(Zuruf der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren, das ist auch ein Stück Er-
folg: konsequente Umsetzung. Ich nenne es eine staatli-
che Entschuldigung. Wir haben uns bei den Angehörigen
der Opfer persönlich entschuldigt. Es gibt aber auch eine
staatliche Entschuldigung, weil wir wahrmachen, was
wir versprochen haben: mit der Einrichtung von Abwehr-
zentren gegen rechts, mit der Rechtsextremismusdatei,
mit anderen polizeilichen Informations- und Analysesys-
temen, mit der Verfassungsschutzreform.

Die Abschaffung von V-Leuten, Frau Pau: Nicht mal
Ramelow setzt das um.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Oberlehrer spielen!)


Seien Sie ehrlich: Er ist als großer Tiger gestartet und
landet jetzt als Bettvorleger. Ich bin froh darüber, dass
Sie das Amt für Verfassungsschutz nicht aufgelöst haben.
Ich bin auch froh darüber, dass die Thüringer erkennen,

Petra Pau






(A) (C)



(B) (D)


dass es V-Leute braucht. Das war ein Vorschlag zur Un-
zeit.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: V-Leute unter den Rechtsextremen sind in Thüringen abgeschaltet!)


Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand draußen
versteht, dass Sie das Amt jetzt, zur Hochzeit des Terro-
rismus, auflösen wollen.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Ein bisschen mehr Sachkenntnis vielleicht!)


Bundesjustizminister Maas hat ein umfangreiches
Justizreformpaket verabschiedet. Wir haben hier letzte
Sitzungswoche die Reform des Parlamentarischen Kont-
rollgremiums verabschiedet. Das Parlamentarische Kon-
trollgremium schon wieder zu reformieren, war nicht
leicht. Aber es war eine Kernforderung des Empfeh-
lungskatalogs des NSU-Untersuchungsausschusses aus
der letzten Legislaturperiode. Meine Damen und Herren,
so schlimm all das, was passiert ist, war – wir sind in der
Lage, zu sagen: Wir haben enorm viel geleistet. Deswe-
gen ist mein Befund ein völlig anderer als der der Linken.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Keine Sachkenntnis, aber irgendwas erzählen!)


Jetzt gehe ich auf die Frage ein: Was bringt eigent-
lich der NSU-Untersuchungsausschuss dieser Legisla-
turperiode? Meine Damen und Herren, es geht um die
Ehre der Opfer. Es geht um Schmerz, Wut und Trauer
von Angehörigen, und es geht um die Frage der Haltung
unseres Staates. Solange wir nicht wissen, warum diese
Menschen zu Opfern wurden, solange wir nicht genau
wissen, ob es genau diese drei Täter waren, solange wir
nicht genau wissen, wer wirklich geholfen hat, ist es eine
Frage der Haltung, niemals aufzugeben, diese Fragen be-
antworten zu wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit einem kleinen Augenzwinkern richte ich mich
jetzt an die Mitarbeiter vom Bundeskriminalamt, vom
Generalbundesanwalt, vom Bundesamt für Verfas-
sungsschutz und vieler Länderbehörden. Ja, wir Unter-
suchungsausschussmitglieder sind manchmal verdammt
müde. Es ist hart, vor allen Dingen donnerstagabends;
das gebe ich zu. Auch ich habe dann Selbstzweifel. Aber
ich glaube, wir tun das Richtige. Wir werden uns nicht
wie bei der RAF in 10 oder 15 Jahren davon überraschen
lassen, dass plötzlich noch drei dieser Täter in der Ge-
gend herumlaufen und ein paar Raubüberfälle begangen
werden. Das wird uns nicht passieren.

Der Auftrag, den wir uns gegeben haben, ist nicht,
das  x-te Behördenversagen  zu  identifizieren. Nein, wir 
wollen jede Chance nutzen, dass eine der spektakulärsten
und schlimmsten Mordserien der deutschen Nachkriegs-
geschichte nicht unaufgeklärt bleibt.

Noch ein Augenzwinkern. Wir wissen nicht, wie viele
Nachermittlungen wir durch unsere Arbeit im Untersu-
chungsausschuss auslösen. Aber wir ahnen es. Allein die
Tatsache, dass es Nachermittlungen gibt, ist ein Erfolg,

ebenso die Tatsache, dass wir mit etlichen Theorien, teil-
weise auch Verschwörungstheorien, aufräumen können.
Auch ich hatte Theorien, die sich zerbröselt haben. Und
es ist wichtig, dass sie sich zerbröseln. Es ist wichtig,
dass wir auf den Kern der Sache kommen.

Meine Damen und Herren, Wolfgang Wieland, der
Fraktionssprecher der Grünen in der letzten Legislatur-
periode, sagte – ich gebe ihn sinngemäß wieder –: Wir
haben  uns  alle Mühe  gegeben,  herauszufinden,  ob  die 
Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind sind. –
Sein Befund war: Sie sind nicht auf dem rechten Auge
blind, aber in einem gehörigen Maße betriebsblind, ja.
Frau Dr. Högl, die hier sitzt, sagte damals, es sei ein Ver-
sagen mit strukturellen Ursachen gewesen; Rechtsextre-
mismus sei als Gefahr nicht gesehen worden. Aber die
SPD-Fraktion und auch wir, die Union, haben nicht den
Befund erhoben: Hier gibt es institutionellen Rassismus.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Doch, das haben wir immer gesagt!)


Das ist ein ganz schlimmer Vorwurf, der von den Grünen
und Linken leider immer wieder erhoben wird.

Meine Damen und Herren, in diesen Zeiten braucht
es Politiker in Regierungen und Parlamenten, die Ver-
antwortung vor Gesinnung stellen. Verantwortung vor
Gesinnung heißt, Frau Pau, dass Sie sich hier am Red-
nerpult genauso verhalten wie im Ausschuss. Warum Sie
hier teilweise anders sprechen, weiß ich nicht.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Macht sie nicht! Macht sie definitiv nicht!)


Ich weiß auch nicht, welche Kundschaft Sie bedienen
müssen. Aber die kooperative und konstruktive Zusam-
menarbeit im Ausschuss gefällt mir sehr gut. Es passt
aber nicht zu dem, wie Sie hier reden.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kann reden, wie sie will!)


Zum Abschluss. Meine Damen und Herren, ein wahr-
scheinlich in diesem Haus einmaliger Reform- und Auf-
klärungsmarathon im Bereich Rechtsextremismus und
Rechtsterrorismus erfordert Ausdauer und Geduld. Diese
sollten wir bewahren. Ich glaube, dass das angesichts des
Leids, das die Menschen, die Opfer wurden, erfahren ha-
ben, nicht zu viel verlangt ist.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820005500

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt

die Kollegin Irene Mihalic.


Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820005600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie-

be Kollegen! Liebe Bundesregierung! Wenn man Ihre
Antwort auf die Große Anfrage der Linken liest, dann
wird schon sehr deutlich, was für Sie die Aufarbeitung
des NSU-Terrors in der Praxis bedeutet. Herr Schuster
hat sie ein „Mammutreformprogramm“ genannt. Ich nen-

Armin Schuster (Weil am Rhein)







(A) (C)



(B) (D)


ne sie ganz viel Kosmetik, ganz viel Bestandspflege, wie 
beim Bundesverfassungsschutzgesetz, ganz viel Augen-
wischerei, und mein Eindruck ist ein wenig „Haken dran
und fertig“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das sage ich bei aller fraktionsübergreifenden Einigkeit,
die ich im Untersuchungsausschuss erlebe.

Aber wir sehen das ganz anders. Für uns ist das Ende
der Aufarbeitung dieser beispiellosen Terrorserie noch
lange nicht in Sicht. Wir sehen ja auch aktuell, wie ge-
fährlich eine solche Haken-dran-Mentalität heutzutage
ist. Allein in diesem Jahr gab es 832 Angriffe auf Flücht-
lingsunterkünfte, und die Zahl der rechten Gewaltdelikte
hat sich gegenüber dem Jahr 2015 bereits heute mehr als
verdoppelt. Da ist es schon ein heftiger Kontrast, wenn
die Bundesregierung in ihrer Einschätzung aktuell nur
20 Gefährder im rechten Spektrum ausmacht. Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, diese Zahl zerschellt doch kra-
chend an der Realität.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Dass der analytische Blick an den Tatsachen hart vor-
beigeht, hat auch etwas damit zu tun, dass das Bundesamt
für Verfassungsschutz bei der Aufklärung des NSU-Ter-
rors weiter mauert. Gesetzlich wird das Eigenleben des
Verfassungsschutzes sogar noch gefördert. So können
immer noch schwerstkriminelle Neonazis als V-Leute
angeworben werden und mit staatlicher Unterstützung
rechnen. Wie gefährlich das sein kann, sehen wir bei
unserer Untersuchungsausschussarbeit laufend. Deshalb
kann ich Ihnen sagen: Ich vertraue diesen sogenannten
Vertrauensleuten nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Aber was Regierung und Parlament zu dieser Praxis
sagen, zählt laut Gesetz leider überhaupt nicht. Am Ende
entscheidet der Verfassungsschutzpräsident im Allein-
gang. Aber das kann doch kein Zustand sein, an dem wir
ernsthaft festhalten wollen, liebe Kolleginnen und Kol-
legen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir brauchen die Novelle der Novelle des Bundesver-
fassungsschutzgesetzes. Erst gestern hat eine ehemalige
Leiterin einer Verfassungsschutzbehörde im Untersu-
chungsausschuss treffend gesagt: So kann es nicht wei-
tergehen. – Auflösen und neu starten, das wäre das, was 
man mit dem Verfassungsschutz machen müsste.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen wir doch immer!)


In der Antwort auf die Große Anfrage kann man auch
etwas über Reformbemühungen lesen. Ich will einen
Satz zitieren:

Einen wesentlichen Beitrag zur Transparenz des
Verfassungsschutzes stellen die zahlreichen öffent-

lichen Ausführungen der Amtsleitung des Bundes-
amtes für Verfassungsschutz in Medien, bei Diskus-
sionsveranstaltungen und Vorträgen dar.

Ja, das stimmt. Im Fernsehen und in überregionalen
Interviews  ist  Herr  Maaßen  ein  häufig  gesehener  Ge-
sprächspartner. Im Innenausschuss des Bundestages hat
er sich dagegen schon lange nicht mehr blicken lassen.
Ich ahne auch, warum. Schließlich sagt er ja selbst, dass
wir hier im Parlament nur die Arbeit seiner Behörde er-
schweren würden. Ja was ist das denn für eine Haltung,
liebe Kolleginnen und Kollegen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Herr Schuster, Sie haben völlig recht: Das, was wir
tun – mit zwölf Untersuchungsausschüssen, die gearbei-
tet haben, ihre Arbeit abgeschlossen haben oder heute
noch an diesem Thema dran sind –, ist in der Tat histo-
risch. Aber angesichts dieser Haltung des Behördenleiters
einer Verfassungsschutzbehörde ist es doch kein Wunder,
dass wir in dieser Logik bei der Aufklärung der Rolle des
Verfassungsschutzes keinen Schritt weiterkommen.

Die Bundeskanzlerin hat vor fast fünf Jahren rück-
haltlose Aufklärung versprochen. Heute, am fünften
Jahrestag des vorsätzlichen Aktenschredderns, erwarte
ich endlich ein unmissverständliches Wort der Kanzle-
rin an den Verfassungsschutz, diese Blockadehaltung
endlich aufzugeben und die Aufklärung nicht weiter zu
blockieren. Wir jedenfalls machen dieses Spiel auf Zeit
nicht mit. Auch wenn die x-te Akte verspätet, gar nicht,
geschwärzt, durcheinander oder nur teilweise geliefert
wird oder wichtige Zeugen krank oder im Urlaub sind:
Es dauert so lange, wie es dauert. Nicht abhaken, sondern
vollständig aufklären und verändern – das muss das Ziel
sein.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820005700

Nächster Redner ist der Kollege Uli Grötsch für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Uli Grötsch (SPD):
Rede ID: ID1820005800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

19 Monate intensive Aufklärungsarbeit, 107 vernom-
mene Zeugen und Sachverständige in fast 350 Stunden
Sitzungszeit, rund 12 000 als Beweismittel beigezoge-
ne Akten: Für all das und noch viel mehr steht der erste
NSU-Untersuchungsausschuss, den der Bundestag im
Januar 2012 eingesetzt hat, für eine in der Geschichte des
Parlaments wohl einmalige Art der Aufklärung und der
Arbeitsweise. Und doch, Herr Schuster, der Ausschuss
hat damals deutlich gemacht, dass es sich auch um insti-

Irene Mihalic






(A) (C)



(B) (D)


tutionellen Rassismus handelte und nicht nur um Ermitt-
lungspannen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU]: Mit abweichenden Voten!)


Der Untersuchungsausschuss wurde als Erster in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgrund
eines gemeinsam formulierten Antrags aller Fraktionen –
einstimmig – mit dem einen Ziel eingesetzt, eine lücken-
lose, gründliche und vollständige Aufklärung staatlichen
Versagens bei einer der schwersten Verbrechensserien zu
erreichen, die dieses Land je gesehen hat – eine Verbre-
chensserie, die uns alle angeht und deren Aufarbeitung
andauert, bis heute. Denn die Taten, die die Opfer und
ihre Angehörigen unfassbares Leid haben erfahren las-
sen, waren ein Anschlag auf uns alle, auf uns, für die es
selbstverständlich ist, dass Deutschland ein weltoffenes
und vielfältiges Land ist und bleibt.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Untersuchungsausschuss steht nicht nur für
den umfassenden Aufklärungswillen, sondern auch für
47 Handlungsempfehlungen. Diese 47 Empfehlungen
sind die Botschaft über die rund 1 300 Seiten Abschluss-
bericht hinaus. Eine derartige Verharmlosung der Gefahr
aus dem rechtsextremen Lager und das multiple Versa-
gen von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, Politik, von
Medien und Gesellschaft dürfen sich niemals wiederho-
len, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Clemens Binninger [CDU/CSU])


Wo stehen wir heute, gut fünf Jahre nachdem sich
die rechtsextreme Terrorgruppe NSU selbst enttarnt
hat? Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir uns insbe-
sondere für eine bessere Schulung und Sensibilisierung
von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Sicherheits-
behörden eingesetzt. Wir haben die notwendige Reform
des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Gang gesetzt
sowie klarere und strengere Regeln für die Anwerbung
und Führung von V-Personen und die Ausweitung der
parlamentarischen Kontrolle erreicht. Dabei war es uns
auch wichtig, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger
in funktionierende Sicherheitsbehörden wiederherzustel-
len.

Außerdem haben wir zentrale Vorgaben mit Blick auf
den Einsatz von Vertrauenspersonen in den Sicherheits-
behörden aufgegriffen. Klare gesetzliche Regelungen
haben wir nun nicht nur hinsichtlich der Bezeichnung
menschlicher Quellen. Wir haben diese darüber hinaus
auch mit Blick auf deren Auswahl, Führung und deren
Befugnisse. Mit dem Gemeinsamen Extremismus- und
Terrorismusabwehrzentrum etwa haben wir eine wichti-
ge Plattform für den Informationsaustausch geschaffen.
Innerhalb des Verfassungsschutzverbundes bilden die
Inbetriebnahme eines runderneuerten nachrichtendienst-
lichen Informationssystems und dessen kontinuierli-

che Weiterentwicklung einen wichtigen Schritt, um die
Analyse- und Koordinierungsfähigkeit der Verfassungs-
schutzbehörden fortlaufend zu verbessern.

Darüber hinaus haben wir durch das Gesetz zur Ver-
besserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus ne-
ben dem Aufbau der Rechtsextremismusdatei auch die
Verarbeitung von Texten in NADIS-Verbunddateien
durch Einbezug des Bereichs rechtsextremistischer Be-
strebungen erleichtert. Diese Ergänzung hat die Auswer-
tungs- und Analysefähigkeit in diesem Bereich deutlich
verbessert.

Aber all diese gesetzgeberischen und technischen
Maßnahmen können eines nicht ersetzen: Der vielbe-
schworene Mentalitätswechsel, die Sensibilität für Ras-
sismus und Menschenverachtung, ist und bleibt der zen-
trale Hebel dafür, dass alle Menschen in Deutschland
wieder mehr Vertrauen in ausnahmslos alle Sicherheits-
behörden in Deutschland haben. Ich spüre das Bemühen
der Sicherheitsbehörden bei meiner täglichen Arbeit im
Bundestag. Aber ich möchte an dieser Stelle schon auch
sagen, dass ich es für utopisch halte, in Behörden mit
Tausenden von Mitarbeitern keine schwarzen Schafe zu
haben. Aber auch wenn es wie eine Utopie klingt: Das
muss das Ziel sein. Diejenigen, die sich in den Sicher-
heitsbehörden dafür einsetzen, die sich mit uns auf den
Weg dahin gemacht haben, verdienen jede Unterstützung
von uns.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Auch wenn durch die Umsetzung der Empfehlungen
des ersten NSU-Untersuchungsausschusses ein umfas-
sender Reformprozess bei Polizei, Verfassungsschutz
und Justiz im Bund und in den Ländern angestoßen wor-
den ist, will ich an dieser Stelle gar nicht abstreiten, dass
wir uns keinesfalls darauf ausruhen dürfen. Wir haben
vielmehr noch ein gutes Stück der Wegstrecke vor uns.
Dass wir noch lange nicht am Ende unserer Reformbe-
strebungen angekommen sind, wird uns immer wieder
in den Zeugenvernehmungen des zweiten NSU-Unter-
suchungsausschusses vor Augen geführt. Wir merken
seit geraumer Zeit beinahe jeden Tag beim Lesen der
Zeitung, dass diese Notwendigkeit weiterhin besteht:
Ein rechtsgesinnter „Reichsbürger“ erschießt einen Poli-
zisten; ein katholischer Bischof bekommt Todesdrohun-
gen, weil er einen muslimischen Bundespräsidenten für
vertretbar hält; 832 Angriffe gegen Flüchtlingsheime in
Deutschland in den ersten zehn Monaten des Jahres 2016
zählt das Bundeskriminalamt – nur drei vermeintliche
Höhepunkte der menschen- und demokratiefeindlichen
Zeit, in der wir offenbar leben.

Weil bereits latent vorhandene rechtsextreme Einstel-
lungen ein erhebliches Risiko für das friedliche Zusam-
menleben in unserer Gesellschaft darstellen, haben wir
uns als SPD-Bundestagsfraktion im Zusammenhang mit
den Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsaus-
schusses vehement dafür eingesetzt, die Zivilgesellschaft
zu stärken und die Präventionsarbeit endlich zu verste-
tigen


(Beifall bei der SPD)


Uli Grötsch






(A) (C)



(B) (D)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder mit den
47 Handlungsempfehlungen des ersten Bundestagsunter-
suchungsausschusses zu den Taten des selbsternannten
Nationalsozialistischen Untergrunds noch mit unserer
aktuellen Befassung im Nachfolgeausschuss kann diese
Arbeit jemals abgeschlossen sein. Sie muss für uns alle
eine Daueraufgabe sein. Ich darf in diesem Zusammen-
hang an die Worte der Bundeskanzlerin erinnern, die im
Rahmen der Trauerfeier für die NSU-Opfer und deren
Angehörige im Februar 2012 Folgendes sagte:

Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkei-
ten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit
sich so etwas nie wiederholen kann.

Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir
uns messen lassen. Dies sind wir nach wie vor dem gan-
zen Land schuldig, aber vor allem jenen, die meiner Mei-
nung nach aktuell zu sehr im Hintergrund stehen, nämlich
den Ermordeten Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru,
Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut,
Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik,
Halit Yozgat, der getöteten Polizeibeamtin Michèle
Kiesewetter, dem schwerverletzten Kollegen, allen An-
gehörigen der Opfer sowie den bei den Sprengstoffan-
schlägen in Köln zum Teil schwer verletzten Menschen.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820005900

Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Hoffmann

für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thorsten Hoffmann (CDU):
Rede ID: ID1820006000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Pau, Frau Mihalic, einige Sachen sehe ich wirklich
komplett anders als Sie. – Das nur am Anfang.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ja jetzt neun Minuten!)


Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in der
Dortmunder Nordstadt heimtückisch ermordet. Zu dieser
Zeit – jetzt werde ich mal persönlich – verrichtete ich als
Polizeibeamter meinen Dienst in dieser Stadt. Und wer
sich dort ein wenig auskennt, der weiß, dass der Tatort,
der Kiosk der Kubasiks, auf der Mallinckrodtstraße liegt
und diese Gegend als eher schwierig zu beurteilen ist.

In die Ermittlungen zum Mord an Mehmet Kubasik
war ich nicht eingebunden. Aber ich kannte und kenne
alle Ermittler aus der damaligen Mordkommission. Je-
der von ihnen war mit ganzem Herzen dabei und hat ver-
sucht, diese schreckliche Tat aufzuklären, um den oder
die Täter zu ermitteln oder dingfest zu machen.

Als am 14. Juni 2000 Michael Berger, ein Neonazi aus
Dortmund, auf der Flucht einen Kollegen erschoss, war
ich im Dienst. Mit meinem damaligen Partner und vielen
anderen Kolleginnen und Kollegen verfolgten wir Berger
durch Dortmund, Waltrop und einige andere Städte des

Ruhrgebiets. Im Bereich von Waltrop erschoss er zwei
weitere Kollegen. Dann nahm er sich in einem Waldstück
selbst das Leben.

An dieser Stelle möchte ich an meine Kollegen
Thomas Goretzky, Yvonne Hachtkemper und Matthias
Larisch von Woitowitz erinnern. Sie haben sich für un-
sere Sicherheit eingesetzt. Sie verloren im Dienst ihr Le-
ben. Es wurde ihnen von einem Wahnsinnigen genom-
men.

Ich möchte auch noch einmal an Mehmet Kubasik er-
innern, dessen Familie bis heute nicht weiß, warum diese
irren Neonazis gerade den Ehemann, Vater und Freund
Mehmet Kubasik ermordet haben. In beiden Fällen war
das Opfer keine gezielt ausgesuchte Person. Berger
kannte die Polizisten nicht. Mundlos und Böhnhardt,
von denen wir heute wissen, dass sie Mehmet Kubasik
erschossen, kannten ihn nicht.

Meine Damen und Herren, die Arbeit des ersten
NSU-Untersuchungsausschusses war unheimlich wich-
tig. Es waren viele Fragen offen; daran besteht gar kein
Zweifel. Das dürfen wir nicht verschweigen, und das
machen wir ja auch nicht. Wir sind es den Hinterblie-
benen und der Bevölkerung schuldig, die Geschehnisse
lückenlos aufzuklären; denn ich und wir alle – davon bin
ich überzeugt – möchten, dass die Familien und Angehö-
rigen  der Opfer  des NSU-Terrors Ruhe finden,  endlich 
Ruhe finden.  Ich möchte,  dass  sie wissen,  dass wir  als 
Staat und Gesellschaft alles tun, um diese grausamen
Taten aufzuklären. Ich möchte, dass sie wissen, dass in
Deutschland jedes Leben gleich viel wert ist, sei es das
eines Polizisten oder das eines türkischen Kioskbesitzers.


(Beifall im ganzen Hause)


Meine Damen und Herren, ich sage das hier auch des-
halb so deutlich, weil unser Staat und seine Institutio-
nen nicht fremdenfeindlich und nicht rechtsradikal sind.
Wenn hier jemand meint, er könne die Taten des NSU
missbrauchen, um fragwürdige politische Ansichten zu
verbreiten, so erteilen wir ihm hier gemeinsam eine Ab-
sage.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer macht denn das?)


Wer dem Staat pauschal und vielleicht auch aus poli-
tischen Erwägungen heraus ohne jeden Nachweis ab-
spricht, sich ernsthaft um die Aufklärung bemüht zu ha-
ben, spielt den Extremisten in die Karten. – Sie ziehen
sich den Schuh ja möglicherweise an; ich weiß es nicht.
Das haben Sie gerade gemacht.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann zitieren Sie mal! Wir fragen doch nur, wer das macht!)


Auch der NSU wollte den Staat treffen. Die Taten
richten sich nicht nur gegen die Opfer, gegen Ausländer
in Deutschland und Mitbürger mit Migrationsgeschich-
te, sondern auch ausdrücklich gegen unseren Staat. Der
Mord an Michèle Kiesewetter, der versuchte Mord an
dem Polizisten Martin Arnold, meine drei von Michael
Berger ermordeten Kollegen, das waren gezielte Mor-

Uli Grötsch






(A) (C)



(B) (D)


de und keine Kollateralschäden. Die Terroristen hassen
den Staat. Sie hassen, dass unser Staat jedem die gleiche
Heimat gibt. Sie hassen, dass unserem Staat Ethnien und
Glaubensrichtungen gleich sind. Sie hassen, dass unser
Staat und seine Institutionen alle seine Bürger schützt
und allen Freiheiten gewährt.

Meine Damen und Herren, es ist wahr, dass unser
Staat durch den NSU eine herbe Niederlage erlitten hat.
Durch die Ergebnisse des ersten NSU-Untersuchungs-
ausschusses wurden Schwachstellen erkannt, weil wir
einvernehmlich und gut zusammengearbeitet haben, und
das machen wir jetzt auch im zweiten NSU-Untersu-
chungsausschuss. Größtenteils wurden diese Schwach-
stellen behoben. Wenige Lücken müssen wir noch schlie-
ßen, und da sind wir dran.

Die tatsächlich gemachten Fehler bei den Ermittlun-
gen im NSU-Fall dürfen aber nicht dazu führen, dass
wir denken, dass ganze Polizeibehörden, Staatsanwalt-
schaften, Gerichte, Verfassungsschutzämter und sonstige
staatliche Institutionen über Jahrzehnte hinweg schlecht
gearbeitet  haben.  Das  ist  definitiv  nicht  richtig.  Das 
stimmt einfach nicht.

Wir haben in Deutschland eine hervorragende Auf-
klärungsquote, wenn es zum Beispiel um Kapitaldelikte
geht. Wir haben einen Verfassungsschutz, der auf recht-
licher Grundlage immer wieder detailliert über die Ge-
fahren von rechts und links und auch aus dem religiös
motivierten Extremismus berichtet. Wir sind doch jetzt
qualitativ an einer ganz anderen Stelle.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Gerade auch das Bundesamt für Verfassungsschutz
hat in den letzten Wochen und Monaten sehr gute Erfol-
ge vorzuweisen. Denken wir nur an die Zerschlagung des
IS-Anwerbernetzes um Abu Walaa. Diese Erfolge sind
eben auf diese veränderten Arbeitsweisen, die Verbesse-
rungen in der Informationsstruktur und auf die sensibili-
sierte Arbeitsweise zurückzuführen.

Um dies leisten zu können – das zeigt doch die Ant-
wort der Bundesregierung ganz klar –, brauchen wir auch
und vor allem mehr Personal. Die Maßnahmen, die im
Rahmen des personell Möglichen und im Rahmen des
Zuständigkeitsbereichs der Bundesregierung vollstän-
dig umgesetzt werden, verbessern die Arbeit der Ermitt-
lungsbehörden weiter. Warum ist das wichtig? Zum ei-
nen dürfen wir von unseren ausgebildeten Beamten im
Einsatz nicht erwarten, dass sie die tägliche Arbeit wie
zuvor leisten und zusätzlich noch zahlreiche Lehrgänge
und Fortbildungen machen, wenn wir nicht durch zusätz-
liches Personal Zeit dafür schaffen.

Richtig und wichtig ist, dass dieses Personal ausdrü-
cklich bei Menschen mit Migrationshintergrund gesucht
wird. Dass die Bundespolizei in die Zukunft denkt – das
macht sie übrigens innovativ –, zeigt sich daran, dass sie
bei der Anwerbung von Nachwuchs verstärkt das Poten-
zial der sozialen Medien nutzen wird.

Zum anderen braucht es allerdings Zeit, bis sich Ver-
änderungen durchsetzen. Wir können nicht erwarten und
verlangen, dass sich alles von heute auf morgen ändert.

Es braucht Zeit, bis sich Änderungen durchsetzen, bis sie
in Fleisch und Blut übergehen. Veränderungen müssen
im Übrigen auch verarbeitet werden. Glauben Sie mir,
ich weiß, wovon ich rede; schließlich habe ich selbst ein-
mal dort gearbeitet.

Wir können aber nicht beim Thema Personal stehen-
bleiben, das dürfen wir auch nicht. Zur Verbesserung der
Struktur haben wir mit dem Gemeinsamen Extremis-
mus- und Terrorismusabwehrzentrum gegen Rechtsex-
tremismus und Rechtsterrorismus ein hervorragendes
Instrument zur Früherkennung von politisch motivier-
ten Straftaten geschaffen. Mit dieser Einrichtung sind
wir am Puls der Zeit; denn es ist nicht einfach nur eine
neue Behörde, sondern es ist eine dauerhafte Kooperati-
onsplattform von Bund und Ländern. Sie vereinfacht die
oft schwierigen und länderübergreifenden Ermittlungen.
Denn wie in anderen Kriminalitätsbereichen gilt auch
hier: Der Rechtsextremismus macht nicht vor Länder-
grenzen halt.

Die Einrichtung des Polizeilichen Informations- und
Analyseverbundes PIAV war deshalb notwendig. Es ist
gut, dass bis 2020 ein ambitionierter Ausbau von PIAV
angedacht ist. Zugleich wird dadurch in den kommenden
Jahren auch der Informationsfluss weiter verbessert. Zei-
ten und Ressourcen werden dadurch deutlich eingespart.

Mit all diesen Maßnahmen wollen wir die Zusammen-
arbeit der Polizeien der Länder, der Bundespolizei, des
BKA und der Geheimdienste noch weiter verbessern.
Dies ist der einzig richtige Weg, den größtmöglichen
Schutz vor Verbrechen und insbesondere vor Hasskrimi-
nalität zu gewähren.

Ich komme zum Gesetzentwurf der Linken. Ich sage
es von vornherein: Wir können ihm nicht zustimmen.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Das ist ja eine Überraschung!)


– Das haben Sie sich gedacht; das habe ich mir wiederum
gedacht. – Wir können ihm nicht zustimmen, weil wir
Opfer von Gewalttaten nicht belohnen wollen, sondern
wir wollen die Straftaten im Vorfeld verhindern. Das ist
für uns der richtige Ansatz. Dazu haben wir die richtigen
Maßnahmen eingeleitet. Deswegen haben wir im Bun-
deskriminalamt die „Task Force Gewaltdelikte“ und die
Clearingstelle „Straftaten gegen Asylunterkünfte“ einge-
richtet. Das ist der richtige Weg. Man braucht nicht ein-
mal böse von Menschen zu denken, wenn man erwartet,
dass diese versuchen würden, das von Ihnen angedachte
Gesetz zu missbrauchen. Deshalb müssen wir Ihren Ge-
setzentwurf ablehnen.

Ich bin der Überzeugung, dass wir in der Umsetzung
der Empfehlungen des ersten Untersuchungsausschusses
wirklich weit gekommen sind. Die Bundesregierung hat
hier ihre Aufgaben gemacht. Deshalb möchte ich an die-
ser Stelle – das ging fast unter – herzlichen Dank sagen
an alle ermittelnden Behörden, die uns tatkräftig bei der
Verbrechensaufklärung unterstützen. Herzlichen Dank
dafür an dieser Stelle.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Thorsten Hoffmann (Dortmund)







(A) (C)



(B) (D)


Ich möchte noch kurz auf die Länder zu sprechen
kommen. Auch diese sind auf dem richtigen Weg. Ich
bin zuversichtlich, dass auch hier zeitnah alle möglichen
Verbesserungen umgesetzt werden. Wir sind nämlich
nur im Verbund stark. Und wir leben – das darf man an
dieser Stelle ruhig einmal sagen – in einem der sichers-
ten Länder der Welt. Wenn man bedenkt, dass in Cali
in Kolumbien rund 1 600 Morde passieren und in ganz
Deutschland mit knapp 81 Millionen Einwohnern – in
Anführungszeichen; jeder ist zu viel – nur 282 Morde
passieren, dann zeigt das die Dimension. Wir wohnen in
einem der sichersten Länder der Welt. Darauf können wir
stolz sein, und das dürfen wir ruhig auch mal sagen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820006100

Der Kollege Frank Tempel spricht jetzt für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820006200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und

Herren! Seit gut anderthalb Jahren sitze ich im zweiten
Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU.
Im Abschlussbericht des ersten Untersuchungsausschus-
ses wurden Empfehlungen ausgesprochen, verfestigte
Einstellungen und Kurzsichtigkeit gegenüber rechtsex-
tremen und rassistischen Gewalttätern bei Polizei und
Gerichten zurückzudrängen.

Rechtlich wurde auch einiges gemacht. Es wurden
„rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschen-
verachtende“ Beweggründe und Ziele von Gewalttaten
ausdrücklich in den Katalog der Strafzumessungsumstän-
de aufgenommen. Diese sollen von Staatsanwaltschaft
und Gericht strafverschärfend berücksichtigt werden.


(Beifall der Abg. Susann Rüthrich [SPD])


Doch was, Herr Schuster, sind solche Empfehlungen
wert, wenn es keinen Mentalitätswechsel bei den staat-
lichen Strukturen gibt? Empfehlungen alleine reichen
eben nicht;


(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Petra Pau hat das in ihrer Rede bereits angesprochen.

Als Kriminalbeamter aus Thüringen schaue ich natür-
lich ganz besonders auf die Polizei. Ich erinnere mich mit
Unbehagen an ein konkretes Beispiel aus dem jetzigen
Untersuchungsausschuss. Ich wohne nun einmal in der
Nähe von Zwickau, also der Stadt, in der das Mordtrio so
viele Jahre, völlig unbehelligt von den staatlichen Struk-
turen, untertauchen konnte, und ich weiß als Beobach-
ter von einer ausgeprägten rechtsextremen Szene, von
Nazikonzerten, von einem rechten Hooliganmilieu. Wir
durften eigentlich erwarten, dass bei verantwortungs-
voller Problemanalyse ganz besonders der zuständige
Dienststellenleiter der Kriminalpolizei diesen Schwer-
punkt kennt und beachtet. Mein Erstaunen war vor we-

nigen Monaten im Untersuchungsausschuss jedoch sehr
groß, als ich feststellen musste, wie gering das Wissen
des Zwickauer Kripochefs zur rechten Szene ist. Ich er-
innere an seine Antwort: Wir haben keine Schwerpunkt-
lage rechts.

Dieses Desinteresse findet sich nicht nur in der Polizei 
von Zwickau, und es ist schon gar nicht ein rein poli-
zeiliches Problem; wir finden es auch beim Verfassungs-
schutz und bei der Justiz immer wieder.

Ich muss es leider sagen: Viele Polizeibeamte, nicht
alle, aber viele Polizeibeamte in den verschiedensten Be-
reichen, mit denen ich gerade in den letzten Wochen per-
sönlich gesprochen habe, sehen nach wie vor in Flücht-
lingen in erster Linie erst einmal potenzielle Straftäter,
nicht Opfer.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Na, na, na! Das glauben Sie doch selber nicht! – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Belegen Sie das mal!)


– Das ist tatsächlich so. In ganz vielen persönlichen Ge-
sprächen war das immer wieder die Antwort.

Von Rechtsextremisten werden augenscheinlich in
erster Linie Linke, die Zivilgesellschaft und Menschen
mit Migrationshintergrund bedroht. Viele Bürger, auch
Polizeibeamte, fühlen sich davon selbst nicht betroffen.
Sie haben keinen Blick dafür. Ich unterstelle da nicht ein-
mal bösen Willen. Verzerrte Wahrnehmung kennen wir
aus der Psychologie; wir wenden das hier nur nicht an.


(Zuruf des Abg. Clemens Binninger [CDU/ CSU])


Wenn wirklich Vorurteile und verzerrte Wahrnehmun-
gen bei der Polizei abgebaut werden sollen, dann reichen
Empfehlungen nicht, dann liegt sehr viel Arbeit vor uns.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein parlamentarischer Polizeibeauftragter könnte, neben-
bei bemerkt, als Frühwarnsystem gegen solche Entwick-
lungen durchaus wirksam sein. Einseitige Wahrnehmung
entsteht nun einmal durch subjektive Wahrnehmungen
im Dienstalltag. Dem muss entgegengewirkt werden, um
wiederkehrende Schieflagen bei der Einschätzung rechts-
extremer Straftaten zu beseitigen.

Es ist falsch, wenn Innenminister de Maizière auf die
Aufforderung der Gewerkschaft der Polizei nach mehr
politischer Bildung in der Bundespolizei antwortet, po-
litische Bildung sei Privatpflicht der Beamten und nicht 
von der Polizei zu leisten. Hier ist der Dienstherr gefragt,
meine Damen und Herren, und damit auch wir.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820006300

Als Nächstes spricht die Kollegin Susann Rüthrich für

die SPD.


(Beifall bei der SPD)


Thorsten Hoffmann (Dortmund)







(A) (C)



(B) (D)



Susann Rüthrich (SPD):
Rede ID: ID1820006400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die rechtsextreme Terrorgruppe NSU hat zehn
Menschen umgebracht, mit Bomben Menschen verletzt
und Banken überfallen. Davon wissen wir jetzt genau seit
fünf Jahren.

Aber sind das alte Geschichten? Na ja, eher nicht. Es
gab über 800 Angriffe allein in diesem Jahr. Es wird im
Moment Anklage gegen eine mutmaßliche Terrorgruppe
aus Freital erhoben, die rassistische Überfälle umgesetzt,
politische Gegner angegriffen, Angst verbreitet hat. Mit-
glieder der Gruppe Oldschool Society sind angeklagt.
Sie haben Angriffe auf Kirchen, Kindergärten und Ein-
richtungen für Menschen mit Behinderungen geplant.
Diese Angriffe wollten sie Musliminnen und Muslimen
und politischen Gegnern in die Schuhe schieben, um ei-
nen Krieg in Deutschland anzustacheln. Diese Gruppen
konnten Gott sei Dank daran gehindert werden, Men-
schen zu töten. Ist das ein Beleg dafür, dass wir aus den
Fehlern im Zusammenhang mit dem NSU gelernt haben?
Reagieren unsere Behörden schneller? Ich will es hoffen.

Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt bei
mir ein flaues Gefühl. Wie würden wir reagieren, wenn 
diese Taten nicht von rechten Menschenfeinden geplant
worden wären, sondern etwa von Islamisten? Wie wür-
den wir reagieren, wären Kirchen oder Kindergärten von
denen bedroht worden, wären Bomben in Freital vom IS
gelegt worden, wären in diesem Jahr 800 weiße Deut-
sche aus Hass angegriffen worden? Meine Vermutung
ist: Dieses Land würde kopfstehen, und zwar völlig zu
Recht. Das wäre in Politik und Medien das Topthema.
Wir würden es als das erkennen und benennen, was es
ist: als Terror.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieser rechte Terror sendet eine Botschaft an die eh
schon oft an den Rand gedrängten Gruppen: Ihr seid hier
nicht sicher. Geht! – Aber wir fühlen uns viel zu oft nicht
angegriffen, sondern das sind Menschen, die zu viele von
uns für „andere“ halten. Genau das ist das Problem.

Die Taten des NSU können wir nicht rückgängig ma-
chen. Wir können die Toten nicht lebendig machen, ge-
nauso wenig wie die vielen anderen Opfer rechtsextremer
Gewalt. Was wir aber den Opfern, den Angehörigen und
Freunden schuldig sind, ist, aus den Taten zu lernen. Wir
mögen seit der Selbstenttarnung des NSU aufmerksamer
geworden sein und vieles verändert haben, wir mögen
auch vieles aufgeklärt haben: Aber haben wir bereits ge-
nug getan? Ich denke: nein.

Ich nenne zwei Bereiche, in denen ich noch Hand-
lungsbedarf sehe. Zum einen sehe ich ihn bei der Stär-
kung der Zivilgesellschaft; dies ist eine der Handlungs-
empfehlungen. Denn was den NSU zu einer solchen
Tragödie gemacht hat, ist aus meiner Sicht, dass nicht
nur die Behörden versagt haben, sondern wir alle. Die
dafür nötige Haltung, um es zu erkennen, ist zu ändern.
Dies fördern viele Vereine, viele Initiativen, viele Or-
ganisationen mit seit Jahren wirksamer Aufklärung und
Bildung quer durch die Republik. Betroffene rechter

Gewalt können sich an Opferberatungen wenden. Damit
wurden unverzichtbare Strukturen geschaffen, um nach
einem Angriff handlungsfähig zu sein. Zum Glück wird
der Wert all dieses Engagements zunehmend verstanden
und anerkannt. Wir sagen dafür Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Demokratieförderprogramme gehören deswegen auch
für uns mittlerweile zum Repertoire, um gegen men-
schenverachtende Gewalt vorzugehen. Das ist selbstver-
ständlich. Wir werden die Mittel allein für das Programm
„Demokratie leben!“ in diesem Jahr von 50 Millionen
Euro auf 100 Millionen Euro verdoppeln. Damit ist eine
wesentliche Forderung aus dem NSU-Abschlussbericht
erfüllt. Das ist auch nötig; denn wir wissen mittlerwei-
le, was funktionieren kann. Vieles ist vor Ort entstanden.
Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass das, was in Kom-
mune A funktioniert, auch in die Gemeinde B übertragen
werden kann, und zwar ohne dass Kommune A aus der
Förderung fällt, weil kein Geld mehr da ist. Außerdem
sind die Bedrohungen der Demokratie vielfältig, und
neue Phänomene entstehen. Darauf müssen wir reagie-
ren können, und zwar nicht auf Kosten des Bewährten.

Viele der Träger klagen seit Jahren darüber, dass eine
Daueraufgabe in zeitlich begrenzte Projekte gepresst
werden muss. Beratungsarbeit, Bildungsarbeit, Demo-
kratieentwicklung, Radikalisierungsprävention – das
alles ist Beziehungsarbeit. Vertrauen zwischen den Men-
schen und zwischen den Gruppen muss wachsen können.
Daueraufgaben müssen daher dauerhaft gefördert wer-
den.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der nächste Schritt muss also noch in dieser Le-
gislaturperiode eine gesetzliche Lösung sein: ein De-
mokratiefördergesetz. Das haben wir einstimmig im
NSU-Abschlussbericht bestätigt, und das steht auch im
Koalitionsvertrag. Also machen wir das jetzt bitte auch.

Ein weiterer Punkt wurde am Fall NSU deutlich, und
er ist bis heute problematisch. Es geht mir um die Op-
fer und Betroffenen von rassistischer Gewalt nach einem
Angriff. Viele Punkte im Abschlussbericht beziehen sich
auf einen angemesseneren Umgang mit den Opfern und
Hinterbliebenen. Eines aber bleibt offen – das wurde im
Gesetzentwurf der Linksfraktion erwähnt –: die Frage,
ob die Menschen, die angegriffen wurden, oder die Hin-
terbliebenen, wenn es denn zum Strafprozess kommt,
überhaupt noch in unserem Land sind, überhaupt noch
hierbleiben dürfen. Es geht also um die Frage, ob ein
Heilen der oftmals auch unsichtbaren Wunden überhaupt
möglich ist, wenn die Bleibeperspektive unsicher ist. Das
ist tatsächlich ein Problem. Zum Teil wird die Bleibeper-
spektive genau durch den Angriff erst genommen. Wenn
etwa eine eigenständige Existenzgrundlage Vorausset-
zung für ein Bleiberecht ist und genau diese durch den
Angriff zerstört wurde, dann drängen wir Opfer leider
wieder an den Rand. Wie oft geschieht das, ohne dass






(A) (C)



(B) (D)


eine so engagierte Ombudsfrau wie Frau John im Fall der
NSU-Hinterbliebenen darauf hinweisen kann?

Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene
rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt macht
in einem Papier, das mich gestern erreicht hat, auf ge-
nau diese Frage der Bleibeperspektive aufmerksam. All-
zu oft sind diejenigen, die in einem Strafprozess gegen
einen rassistisch motivierten Täter aussagen könnten,
zum Zeitpunkt des Prozesses bereits zur „freiwilligen“
Ausreise bewegt oder abgeschoben worden. Die strafpro-
zessualen Rechte der Betroffenen können so nicht mehr
verwirklicht werden. Die Verurteilung des Täters wird
massiv beeinträchtigt.

Ich weiß nicht, ob dieses Problem über das Aufent-
haltsrecht zu lösen ist, wie Sie es vorschlagen. Straf-
rechtliche Probleme über das Aufenthaltsrecht zu lösen,
erscheint mir zumindest fragwürdig. Man kann die Situ-
ation aber auch nicht so belassen, wie sie ist. Es geht da-
rum, Schlagkraft durch die so oft erwähnte ganze Härte
des Rechtsstaates gegen die Täter zu entfalten. Deswe-
gen brauchen wir mindestens eine Regelung, die Opfern
rechter Gewalt zusichert, dass sie während des laufenden
Strafverfahrens hierbleiben können. Es muss das klare
Signal an Täter und potenzielle Täter geben: Ihr erreicht
euer Ziel nicht! Eure Gewalt wird bestraft!


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn bereits
viel erreicht wurde, haben wir noch viel zu tun. Immer
noch werden Menschen wie ich am Bahnhof so gut wie
nie kontrolliert, Menschen mit dunklem Bart oder Kopf-
tuch  aber  schon  eher.  Dieses  Racial  Profiling  ist  nicht 
in Ordnung. Immer noch wird bei Hakenkreuzschmie-
rereien, zum Beispiel bei einem Angriff auf ein Bürger-
büro, nach einem Beleg für eine rechtsmotivierte Straftat
gesucht, als wenn nicht die Tat an sich das Bekenntnis
wäre. Immer noch werden Menschen, die angegriffen
wurden, im Anschluss gefragt, wie sie die Nazis denn
provoziert hätten, worauf sie sie angegriffen haben. Teil-
weise werden Jugendliche, die sich zum Zwecke der Ge-
walt zusammentun, auch als eventorientierte Jugendliche
bezeichnet.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Abenteuerlust“, wie wir gestern gehört haben!)


Nein, es ist nicht erst dann jemand wirklich rechts,
wenn er den Staat angreift. Nazis und Rassisten grei-
fen Menschen an. Deren Würde ist durch Artikel 1 des
Grundgesetzes geschützt. Da sie geschützt ist, müssen
wir jeden einzelnen Menschen gleich schützen.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820006500

Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Sie ist gut! Sie kann noch ein bisschen!)



Susann Rüthrich (SPD):
Rede ID: ID1820006600


Solange sich nicht alle Menschen durch Gesetze und
Strukturen gleich geschützt fühlen, müssen wir weiter
vermuten, dass es institutionellen Rassismus gibt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, denen, die ich ges-
tern im Untersuchungsausschuss gesehen habe, muss ich
nicht erklären, warum ich das so betone: Unsere Aufgabe
ist es, nicht nur staatliche Institutionen zu schützen, son-
dern Menschen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820006700


Als Nächste spricht die Kollegin Monika Lazar für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820006800


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU sind noch
immer viele Fragen unbeantwortet. Wurde seitdem genü-
gend dafür getan, um rechten Terror künftig zu verhin-
dern? Was hat sich seitdem in den Behörden und unserer
Gesellschaft verändert?

Positiv ist, dass die Sensibilität für rechte Gewalt an
vielen Stellen gewachsen ist. Die mediale Berichterstat-
tung über Rassismus und Gewalt erfolgt kontinuierlicher
als noch vor einigen Jahren. Strukturen gegen rechts
werden solider gefördert, auch wenn im Detail weiterhin
Luft nach oben ist. Dennoch ist die Gefahr nicht gebannt.
Im Gegenteil: Die aktuellen Entwicklungen geben An-
lass zur Sorge.

2015 stieg die Zahl rechter Gewalttaten laut BKA um
mehr als 44 Prozent auf 1 485 Fälle. Die Dunkelziffer ist
höher, wie Erhebungen aus der Zivilgesellschaft belegen.
Neonazis schlagen immer brutaler zu. Bis Anfang Okto-
ber dieses Jahres gab es bereits elf versuchte Tötungs-
delikte und damit vier mehr als im gesamten Jahr 2015.
Mehrere  Delikte  richteten  sich  gegen  Geflüchtete  und 
Migranten, die zu den Hauptzielen rechter Attacken ge-
hören.

Die Brutalisierung und Häufung rassistischer Gewalt
kommt aus einer Gesellschaft heraus, in der die Abwer-
tung bestimmter Menschengruppen zunehmend salon-
fähig erscheint. Im Juni wurden mit der aktuellen „Mit-
te“-Studie wieder alarmierende Ergebnisse präsentiert.
Demnach hat eine deutliche Radikalisierung stattgefun-
den, vor allem in Bezug auf Asylsuchende, Muslime
sowie Sinti und Roma. Ein zentraler Befund der Studie
ist die enthemmte Gewalt in den zu Rechtsextremismus
neigenden Milieus. Diese haben in AfD und Pegida eine
politische Heimat gefunden, sodass sie massiver und or-
ganisierter auftreten können.

Susann Rüthrich






(A) (C)



(B) (D)


Wenn rechter Terror künftig verhindert werden soll,
müssen rechtsstaatliche Möglichkeiten konsequent aus-
geschöpft werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ebenso brauchen wir wirksame Maßnahmen zum Schutz
der Menschengruppen, die besonders von Abwertung
betroffen sind. Ein strukturierter Dialog zwischen staat-
lichen Behörden und zivilgesellschaftlichen Initiativen
zur Bekämpfung von Rassismus und Gewalt gehört zu
den Maßnahmen, die die Bundesregierung fördern sollte.
Aber es gehört auch unsere gesamte Gesellschaft in den
Blick. Rassistischer Hass und Gewalt gehen uns alle an,
nicht nur die direkt davon Betroffenen.

Die diesjährige Friedenspreisträgerin des Deutschen
Buchhandels Carolin Emcke sagte darüber in ihrer Dan-
kesrede – ich zitiere –:

Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht
nur diejenigen, die er sich zum Opfer sucht, sondern
alle, die in einer offenen, demokratischen Gesell-
schaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen,
Reinen, Völkischen verengt die Welt. … Es versieht
die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziatio-
nen und die anderen mit abwertenden.

Wer in einer so engen Gesellschaft nicht leben will, muss
aktiv gegensteuern.

Um Taten wie die des NSU zu verhindern, muss viel
getan werden; aber es genügen nicht Überwachung und
Repression. Notwendig sind außerdem die Stärkung der
zivilgesellschaftlichen Kräfte, die eindeutige Distanzie-
rung von rechtspopulistischen Diskursen sowie eine le-
bensnahe Vermittlung unserer demokratischen Werte und
politischer Bildung.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820006900

Ich möchte auch Dankeschön für die vorbildliche Ein-

haltung der Redezeit sagen.

Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1820007000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU
haben wir heute eine gute Gelegenheit, über die Aufar-
beitung und die Konsequenzen dieser Mordserie zu spre-
chen. Die Kernfrage ist, ob der Rechtsstaat, dem wir in
diesem Lande den Begriff „wehrhafter Rechtsstaat“ zu-
billigen, sich als wehrhaft und lernend erwiesen hat. Die
Frage ist also: Haben wir das Versprechen dieses Staates,
zur Aufklärung beizutragen, eingehalten oder nicht?

Der Ausgangspunkt ist die Fassungslosigkeit und das
Entsetzen des Staates, aber auch der Zivilgesellschaft
über diese beispiellose Mordserie. Die Aufklärung hat
zwei wichtige Komponenten: Wir müssen und sollen
wissen, was passiert ist, nicht im Sinne einer historisch
richtigen Geschichtsschreibung, sondern wir sind es den
Opfern und ihren Angehörigen schuldig, dass sie wissen,
warum sie Opfer geworden sind und was die Beweggrün-
de für diese Taten waren. Aber der Staat hat auch zu ler-
nen, damit er zukünftig Gefahren besser erkennen kann
und durch diese Erkenntnis der Gefahren neue Mordse-
rien möglicherweise verhindern kann. Das ist unser Auf-
trag.

Wo stehen wir heute? Wir haben einen Blick auf die
gesamtstaatliche Aufklärungsarbeit zu werfen. In Mün-
chen geht der NSU-Prozess mittlerweile über 300 Ver-
handlungstage. Insgesamt zwölf Parlamentarische Un-
tersuchungsausschüsse in sieben Ländern und zwei im
Bund haben zur Aufklärung beigetragen. Ich will heute
aber auch nicht verschweigen, dass es eine große gesell-
schaftliche Beschäftigung mit dem Thema NSU gibt: im
Bereich Kunst und Kultur, durch Filme und Theaterstü-
cke, aber auch durch das Engagement der Bürgergesell-
schaft. Auch das sollten wir an dieser Stelle würdigen.
Bürger des ganzen Landes fragen sich, wie das passieren
konnte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben uns die Frage zu stellen, wie weit wir ge-
kommen sind. Der Blick geht dabei zunächst auf die
Empfehlungen des ersten Untersuchungsausschusses des
Deutschen Bundestages. Dieser hat insgesamt 47 Emp-
fehlungen abgegeben. Die Empfehlungen sind breit ge-
fächert. Sie betreffen Fragen der Sensibilisierung der Be-
hörden für rassistische und rechtsextremistische Gewalt.
Es geht um Fragen des Datenaustausches, um stärkere
Befugnisse und, ja, auch um die Änderung unseres Straf-
rechts. Wir haben heute festzustellen – darauf kann dieser
Bundestag stolz sein –, dass praktisch alle Empfehlungen
umgesetzt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD])


Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, wie wir
zu der tatsächlichen Aufklärung stehen. Ja, es sind noch
Fragen offen. Wir haben bislang nicht auf alle Vorkomm-
nisse Antworten gefunden, die uns zufriedenstellen. Aber
möglicherweise müssen wir auch akzeptieren – selbst
wenn wir es nicht akzeptieren wollen, weil wir innerlich
dagegen sind –, dass vielleicht manche Fragen ungeklärt
bleiben werden, weil es nicht mehr menschenmöglich
ist, sie aufzuklären. Trotzdem kann ich heute sagen: Was
dieser Staat an Aufklärung geleistet hat, das ist historisch
und beispiellos. Diese Aufklärung beweist eine starke in-
nere Kraft unseres Staates, daraus zu lernen und es für
die Zukunft besser zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir benötigen auch weiterhin eine wehrhafte Demo-
kratie und einen starken Rechtsstaat; denn die Feinde un-
serer Verfassung und eines friedlichen Zusammenlebens,

Monika Lazar






(A) (C)



(B) (D)


die Feinde desjenigen, der anders aussieht oder eine ande-
re Herkunft hat, und die, die nicht akzeptieren möchten,
wie wir leben, werden sicherlich nicht ruhen. Deswegen
muss dieser Staat konsequent gegen Verfassungsfeinde
jeglicher Couleur vorgehen: gegen Rechtsextremisten,
Linksextremisten und gegen den islamistischen Terror.
Dafür brauchen wir die entsprechenden Handlungsmög-
lichkeiten des Staates.

Wir brauchen weiterhin einen starken Verfassungs-
schutz, und wir brauchen auch V-Leute in einem rich-
tigen rechtlichen Rahmen, damit wir erkennen können,
was passiert. Wer V-Leute abschaffen möchte und den
Verfassungsschutz schwächt, der wird am Ende des Ta-
ges auch dieses Land und seine Wehrhaftigkeit schwä-
chen. Das können wir nicht zulassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820007100

Herr Kollege Dr. Ullrich, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Tempel?


Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1820007200

Bitte.


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820007300

Herr Dr. Volker Ullrich, vorhin hat der Kollege

Schuster gesagt, dass die Kollegin Pau hier teilweise an-
ders spricht als im Untersuchungsausschuss. Bei Ihnen
habe ich den Eindruck, dass Sie da komplett durchschla-
fen. Das gilt für die Sitzung des Untersuchungsausschus-
ses gestern genauso wie für die ganze Historie.

Sie verteidigen den Einsatz von V-Leuten gerade in
diesem Bereich. Gerade die VP-Führer des Verfassungs-
schutzes tun sich durchweg schwer, V-Leute überhaupt
als Extremisten einzuschätzen. Da kommt etwa als De-
finition, dass V-Leute, wenn sie mit den staatlichen Be-
hörden zusammenarbeiten, gar keine Extremisten sein
können. Es wird von „guten Jungs“ gesprochen, die
vielleicht etwas abenteuerlustig oder hibbelig sind. Wir
sehen aber im Gegensatz dazu, dass dort mit Menschen
gearbeitet wurde, die ganze Paletten von Straftaten be-
gangen haben und Gewalttäter waren, im Waffenhandel
tätig waren oder im Bereich gewalttätiger politisch moti-
vierter Straftaten aktiv waren. Das sind gerade die Leute,
von denen Sie eben hervorgehoben haben, wie wichtig
sie für das Sicherheitssystem sind. Wir vernehmen diese
Leute im Untersuchungsausschuss, und Sie bekommen
dort dieselben Antworten wie wir. Das sind die Leute,
die uns eine Gefahrenanalyse geben sollen und die die
rechtsextremen Strukturen aufklären und in ihrer Gefähr-
lichkeit einschätzen sollen.

Wenn Sie genauso wie wir die Antworten von diesen
Personen und von den Beamten des Verfassungsschutzes
im Untersuchungsausschuss hören, wie können Sie dann
ernsthaft den Einsatz der V-Leute und dieses System
rechtfertigen?


(Beifall bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Natürlich! Das muss er rechtfertigen! Das ist ja schlimm genug, dass Thürin gen das abschafft, für die Sicherheit der Thüringerinnen und Thüringer! Unmöglich, was Sie da machen!)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1820007400


Herr Kollege Tempel, es ist gar keine Frage, dass im
Umfeld der Terrorzelle NSU zahlreiche V-Leute und
auch ihre V-Leute-Führung schwere Fehler gemacht ha-
ben. Diese schweren Fehler hat der erste Untersuchungs-
ausschuss aufgedeckt. Bei diesen Verfehlungen sind wir
im zweiten Untersuchungsausschuss auch nicht stehen
geblieben. Aber das Versagen Einzelner und fehlerhafte
Zusammenarbeit zwischen Behörden können nicht da-
rüber hinwegtäuschen, dass wir insgesamt zur Aufrecht-
erhaltung der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie dieses
Instrument brauchen. V-Leute sind kein Selbstzweck.
Vielmehr brauchen wir sie, damit wir Einblick in gefähr-
liche Strukturen haben, in den rechtsterroristischen und
den linksterroristischen Bereich, aber auch in den Be-
reich des islamistischen Terrors. Ohne V-Leute wären wir
weniger wehrhaft. Deswegen hat der Bundestag, Herr
Kollege Tempel, im letzten Jahr mit großer Mehrheit
eine Reform des Bundesamtes für Verfassungsschutz be-
schlossen und hat als Konsequenz aus dieser Mordserie
und den Untersuchungsausschüssen wesentlich stärkere
Restriktionen für V-Leute erlassen. Diese Beschränkun-
gen funktionieren in der Praxis.


(Beifall bei der CDU/CSU – Frank Tempel [DIE LINKE]: Tino Brandt wird in Thüringen nicht mehr finanziert vom Staat, von der  CDU! Die CDU hat Tino Brandt bezahlt! – Gegenruf des Abg. Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: Nein, das müssen Sie sich anhören, Herr Tempel!)


Nicht nur der Staat ist gefragt, sich für unsere freiheit-
lich-demokratische Grundordnung einzusetzen. Vielmehr
ist jeder gefragt, an einem aktiven Eintreten für die Werte
unseres Grundgesetzes, die körperliche Unversehrtheit,
die Würde des Menschen und die Freiheit des Einzelnen
teilzunehmen. Wir müssen außerdem in Bezug auf die
Sprache sensibel sein. Kritik ist erlaubt. Meinungsfrei-
heit ist ein hohes Gut. Wir müssen aber verhindern, dass
die Verrohung der Sprache in der Gesellschaft weiter um
sich greift. Wir haben die Verpflichtung, uns dem entge-
genzustellen.  Wir  haben  eine  Verpflichtung  gegenüber 
den Opfern und ihren Angehörigen.

Abschließend möchte ich zum Ausdruck bringen, dass
wir uns, obwohl die unternommene Aufarbeitung noch
nicht zu Ende ist, auf einem guten Weg befinden. Ich bit-
te diejenigen, die sich mit diesem Thema befassen, und
die Angehörigen der Opfer, uns abzunehmen, dass unsere
Haltung zu Aufklärung und Aufarbeitung als das gewer-
tet werden kann, was sie ist, nämlich ein wichtiger Bei-
trag, um unsere Verfassungsordnung, die Freiheit und die
Würde des Menschen noch stärker zu machen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Volker Ullrich






(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820007500

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Aufenthaltsrecht für
Opfer  rechter Gewalt. Der  Innenausschuss empfiehlt  in 
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10288,
den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 18/2492 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zustimmen
wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ab-
gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung von Ansprüchen ausländischer Personen
in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und
in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch So-
zialgesetzbuch

Drucksache 18/10211
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch
wird dagegen nicht erhoben. Dann ist das beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin für die Bundesregierung der Parlamentarischen
Staatssekretärin Anette Kramme das Wort.


(Beifall bei der SPD)


A
Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1820007600


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir leben in besorgniserregenden Zeiten. Po-
litiker mit nationalistischen Parolen erhalten Zulauf, und
Institutionen wie die Europäische Union, die für Völker-
verständigung und für internationale Kooperation stehen,
sind schwer unter Beschuss geraten. Deshalb gilt jetzt
mehr als jemals zuvor: Wir dürfen uns nicht aus Europa
zurückziehen. Wir dürfen nicht zurückfallen in Abschot-
tung und Kleinstaaterei; denn der Rückzug auf das Natio-
nale befördert Europa- und Ausländerfeindlichkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie jetzt Ihren Gesetzentwurf zurück? Das finde ich aber gut!)


Genau das wird uns fälschlicherweise vorgeworfen im
Zusammenhang mit den Regelungen zu Sozialleistungen
für Bürgerinnen und Bürger aus anderen EU-Staaten, die
wir heute debattieren. Aber gerade das tun wir nicht, lie-
be Kollegen und Kolleginnen. Im Gegenteil: Wir setzen
auf Europa. Wir wollen, dass wir gemeinsam in Euro-
pa zu Problemlösungen kommen, die für alle tragen. Es
geht uns um die Stärkung der europäischen Idee. Dieses
Ziel erreichen wir aber nur, indem wir die Akzeptanz der
Arbeitnehmerfreizügigkeit als eine der fundamentalen
Grundlagen der Europäischen Union schützen, und dazu
dient die Klarstellung des Zusammenhangs von Arbeit-
nehmerfreizügigkeit einerseits und Ansprüchen auf Sozi-
alleistungen andererseits.

Ich will hier noch einmal betonen: Durch das geplan-
te Gesetz bekräftigen wir die Intention des europäischen
Gesetzgebers. Er stellt nämlich einen unmittelbaren Zu-
sammenhang zwischen Arbeitnehmerfreizügigkeit und
Sozialleistungsansprüchen her. Die Kehrseite ist – darum
geht es hier –, dass klar sein muss, dass Personen, die
kein Freizügigkeitsrecht und kein Aufenthaltsrecht auf-
grund der Freizügigkeitsrichtlinie haben, diese Ansprü-
che gegenüber dem deutschen Sozialstaat nicht haben.
Gleichzeitig verlieren wir aber nicht aus dem Blick, wa-
rum Menschen aus anderen EU-Staaten nach Deutsch-
land kommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frieden und Wohl-
stand sollte Europa bringen. Vor allen Dingen im Süden
des Kontinents, aber nicht nur dort sehen wir, dass das
Wohlstandsversprechen Europas brüchig geworden ist.
Dieses Problem müssen wir angehen, gemeinsam in Eu-
ropa. Dafür brauchen wir Handlungsfähigkeit, und zwar
dort, wo die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag be-
troffen sind.

Wir müssen zum einen glaubhaft und erfahrbar ma-
chen, dass sich die Gemeinschaft als soziale Wertege-
meinschaft versteht und nicht als bloße Wirtschaftsge-
meinschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Von der Politik der vergangenen Jahre haben eben nicht
alle Menschen in Europa profitiert. Die Verbesserung so-
zialer Standards stand ebenfalls nicht oben auf der Prio-
ritätenliste. Die schwierige soziale Lage in einigen Mit-
gliedstaaten verschärft die Armutsmigration innerhalb
Europas, und diese greift die Solidaritätsbereitschaft der
Zielländer an. Dem steuern wir mit unserem Gesetzent-
wurf entgegen, indem wir klarstellen: Wer kommt, um
hier zu arbeiten, genießt selbstverständlich die Arbeit-
nehmerfreizügigkeit in Europa, mit den daraus folgenden
Ansprüchen an Sozialversicherung und Sozialstaat. Wer
dagegen nur kommt, um hier höhere Sozialleistungen als
in einem anderen Staat zu erhalten, der hat keinen An-
spruch darauf; denn die Antwort auf soziale Probleme
in Europa kann nicht mehr Armutsmigration sein. Dafür
dürfen wir keine Anreize setzen. Das Ziel muss doch eine
Anpassung der sozialen Mindeststandards nach oben
sein. Für den Aufbau einer europäischen Säule sozialer
Rechte, die ihren Namen verdient, lohnt es sich, zu strei-






(A) (C)



(B) (D)


ten. Ich lade alle Kritiker ein, ihre Energie in den aktuel-
len Diskussionsprozess einzubringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bin überzeugt: Unsere Regelung dient dem sozi-
alen Fortschritt in Europa. Zugleich gibt sie den Kom-
munen Klarheit und Rechtssicherheit, und sie stärkt die
Akzeptanz für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820007700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine

Zimmermann, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820007800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn das Bundessozialgericht urteilt, dass
EU-Bürgerinnen und -Bürger Anspruch auf Sozialleis-
tungen haben, dann geht die Bundesregierung nicht etwa
daran, dieses höchstrichterliche Urteil umzusetzen. Nein,
Sie machen sich das ganz einfach: Sie verändern die
Rechtslage. Ich frage Sie: Mit welchem Ziel? Doch ganz
ausdrücklich mit dem Ziel, dass EU-Bürgerinnen und
-Bürger Deutschland wieder verlassen, wenn sie hier in
finanzielle Nöte geraten. Ich sage Ihnen: Das ist unsozial.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das heißt, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges
Existenzminimum wird geopfert. Frau Nahles macht den
Seehofer und denkt, so bekommt sie die Wählerinnen
und Wähler wieder zurück.


(Widerspruch bei der SPD)


Ich sage Ihnen: Das funktioniert nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Vor einigen Jahren hatte das Bundesverfassungsge-
richt zum Asylbewerberleistungsgesetz zu urteilen.


(Katja Mast [SPD]: Peinlich!)


– Hören Sie mir doch zu! Dann können Sie vielleicht
noch etwas lernen. – Damals sprach der Verfassungsrich-
ter Ferdinand Kirchhof die denkwürdigen Worte an die
Bundesregierung:

Das Motto, ein bisschen hungern, dann gehen die
schon, könne es doch wohl nicht sein.

Aber genau diesem Motto folgen Sie in dem vorliegen-
den Gesetzentwurf ein weiteres Mal. Unsozialer geht es
wirklich nicht, meine Damen und Herren!


(Beifall bei der LINKEN)


Wahrscheinlich müssen wir ein weiteres Mal damit
rechnen, dass das Gesetz, das Sie jetzt entworfen haben,
vor dem Bundesverfassungsgericht oder sogar vor dem
Europäischen Gerichtshof landet. Das ist schon beschä-

mend genug. Schlimmer noch ist aber das Signal, das Sie
mit diesem Gesetz aussenden. Sie hauen damit genau in
die Kerbe der Brexit-Befürworter in Großbritannien. Sie
bestätigen das Vorurteil, dass angeblich Hunderttausen-
de nach Deutschland kommen wollen, um hier Sozial-
leistungen abzukassieren. Sie bestätigen die verbreitete
Wahrnehmung, dass die europäische Einigung im Inte-
resse der Unternehmen vorangetrieben wird. Aber wenn
es um die kleinen Leute geht, die sich dort auf die Su-
che nach Arbeit machen wollen, wo es wirtschaftlich gut
läuft, dann ist Schluss mit der europäischen Idee. Dann
zählen auf einmal wieder nationale Interessen.

Die Brexit-Befürworter in Großbritannien haben ih-
ren Solidaritätsschein für Europa verbrannt. Mit diesem
Gesetz gießen Sie Benzin in das gleiche Feuer. Das darf
doch wohl nicht wahr sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wachen Sie endlich auf! Stellen Sie sich den sozialen
Verpflichtungen, die ein zukunftsfähiges Europa mit sich 
bringt!

Das menschenwürdige Existenzminimum ist im
Grundgesetz festgeschrieben.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Aber nicht für die ganze Welt!)


– Ich bin ja auch noch gar nicht fertig. – Es gilt für deut-
sche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und ebenso für
ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die hier in
Deutschland leben. Darüber sind wir alle uns doch wohl
einig.

Mit Ihrem Gesetz schließen Sie Tausende von EU-Bür-
gerinnen und -Bürgern von jeder öffentlichen Hilfe aus.
Diese EU-Bürger leben bereits hier. Sie leben hier, weil
sie in ihren Heimatländern keine Perspektive für sich und
ihre Familien sehen. Diese Menschen werden aber auch
nicht einfach abreisen, wie Sie es wollen. Wo sollen sie
denn auch hin? Wenn Sie den Menschen alle Möglich-
keiten und Perspektiven rauben, verrohen sie irgendwann
und resignieren. Ich weiß nicht, ob Sie es merken: In die-
sem Klima sind wir schon längst angekommen. Auch die
Folgen spüren wir. Wir spüren sie immer mehr und tag-
täglich. Ich frage Sie: Können Sie das noch länger ver-
antworten?


(Beifall bei der LINKEN)


Die Kommunen haben zu Recht darauf hingewiesen,
welche Kosten durch das BSG-Urteil auf sie zukämen.
Viele Kommunen stehen finanziell bereits mit dem Rü-
cken an der Wand. Das ist ein Problem, das wir alle ken-
nen. Die Linke fordert: Die Gemeinden müssen endlich
wieder genug Mittel an die Hand bekommen, damit sie
ihren Aufgaben wieder nachkommen können.


(Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Deswegen kriegen die auch eine Menge Geld vom Bund!)


Sie wissen doch, wie in diesen Bereichen gekürzt wird.

Mit Ihrem Gesetzentwurf nehmen Sie den Auslän-
derfeinden und den Rechtspopulisten nicht den Wind

Parl. Staatssekretärin Anette Kramme






(A) (C)



(B) (D)


aus den Segeln, sondern, im Gegenteil, verschärfen die
Schlagseite des europäischen Einigungsprozesses. Wa-
chen Sie endlich auf, ändern Sie den Kompass, oder Sie
fahren uns in einen Sturm hinein, in dem wir am Ende
alle als Schiffbrüchige enden werden.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820007900

Frau Kollegin Zimmermann, –


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820008000

Meine Damen und Herren, sozial geht anders.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820008100

– gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen

Weiler, bevor Ihre Redezeit zu Ende ist?


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820008200

Er kann ja auch eine Kurzintervention machen.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820008300

Sie gestatten also keine Zwischenfrage.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820008400

Nein. Ich bin jetzt fertig.


(Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich will Ihnen nur noch einmal sagen: Sozial geht an-
ders, und sozial geht nur mit der Linken.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Das wird immer kindischer!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820008500

Dann kommen wir zum Kollegen Dr. Martin Pätzold,

der als nächster Redner für die CDU/CSU spricht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Martin Pätzold (CDU):
Rede ID: ID1820008600

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die bisherige Debatte hat deutlich gemacht,
dass es am Ende um die Frage geht, wie wir die soziale
Waage in Europa gestalten, wie wir sie ausbalancieren.

Zur Freizügigkeit ist erst einmal festzustellen, dass sie
eine große europäische Errungenschaft ist.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Es sind 4 Millionen EU-Ausländer, die sich in der Bun-
desrepublik Deutschland aufhalten.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sollte man nicht aufs Spiel setzen!)


Von diesen sind 1,68 Millionen sozialversicherungs-
pflichtig beschäftigt. Sie  leisten mit  ihrer Erwerbstätig-

keit einen wichtigen, einen ganz entscheidenden Beitrag
zur wirtschaftlichen Dynamik, zur Entwicklung in unse-
rem Land.


(Beifall des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD])


– Vielen Dank an die SPD! – Sie leisten damit einen
Beitrag dazu, dass wir in der Bundesrepublik Deutsch-
land heute eine Rekordbeschäftigung haben. In meinem
Bundesland Berlin sind insgesamt 73 000 EU-Ausländer
sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie werden vor 
allen Dingen im Bereich der Kreativwirtschaft, in den
Start-ups gebraucht und leisten hier ihren Beitrag zur
wirtschaftlichen Entwicklung.

Es gibt aber noch eine andere Seite. Das ist der Grund,
warum wir dieses Gesetz in der Form heute hier diskutie-
ren. Auch die Staatssekretärin hat sehr deutlich gemacht,
was die Beweggründe sind. Wir diskutieren es deswe-
gen, weil es auch 440 000 EU-Ausländer gibt, die über
Hartz IV, über aufstockenden Leistungen, Sozialleistun-
gen in der Bundesrepublik Deutschland beziehen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aufstockende Leistungen, das heißt: Sie arbeiten!)


Es sind 46 000 Personen in meinem Bundesland Berlin.
Daran sieht man, dass dieses Thema vor allen Dingen in
Ballungsgebieten eine große und bedeutende Rolle spielt.

Laut meiner Kollegin Jutta Eckenbach aus Essen,
mit der ich mich zu diesem Thema auch intensiv ausge-
tauscht habe, gibt es auch dort Herausforderungen für die
Kommunen, die wir gemeinsam gestalten und meistern
müssen. Das, was von Ihnen, Frau Zimmermann, ange-
sprochen wurde, dass wir die Kommunen entlasten müs-
sen, das machen wir mit diesem Gesetz.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau! Das tun wir!)


Ein Viertel der Kosten, die da anfallen, werden bisher
von den Kommunen getragen, und die werden in Zukunft
nicht mehr anfallen. Ich sage Ihnen: Sie haben es richtig
angesprochen. Wir setzen es auch um.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD])


In Berlin erleben wir, dass es in einigen Bezirken,
etwa in Neukölln oder Friedrichshain-Kreuzberg, zu ei-
ner Ballung kommt, wodurch sich Probleme herausbil-
den, die – das wurde von der Staatssekretärin angespro-
chen – durchaus denen Raum geben, denen wir keinen
Raum geben wollen. Deswegen müssen wir handeln, und
wir handeln an dieser Stelle auch sehr sachlich und sehr
abgewogen. Wir werden noch im Laufe dieser Debatte,
in einer Anhörung im Ausschuss und in der weiteren par-
lamentarischen Befassung herausarbeiten können, wen
es an dieser Stelle betrifft und für welche Personen es
keine Änderungen gibt.

Wir sind auch deswegen zum Handeln gezwungen,
weil es diese beiden bekannten großen Fälle Alimano-
vic und Dano gibt, in denen der Europäische Gerichtshof
festgestellt hat, dass es richtig ist, von SGB-II-Leistun-

Sabine Zimmermann (Zwickau)







(A) (C)



(B) (D)


gen auszuschließen, dass es aber über einen verfestigten
Aufenthalt dazu kommen kann und nach sechs Monaten
muss, dass die Kommunen unterstützen müssen, um das
Existenzminimum zu finanzieren.

Deswegen regeln wir mit diesem Gesetzentwurf, dass
Personen, die nur zur Arbeitssuche nach Deutschland
kommen, in den ersten fünf Jahren von Sozialleistungen
nach dem SGB II oder SGB XII ausgeschlossen werden.
Das ist eine sehr vernünftige und abgewogene Entschei-
dung, auch wenn man bedenkt, dass wir für diejenigen,
die schon da sind oder die mit großen Hoffnungen zu uns
kommen, einmalige Überbrückungsleistungen festset-
zen.

Diese sehr soziale Gesetzgebung hat das Ziel, für den-
jenigen kurzfristig, nämlich innerhalb von vier Wochen
und einmalig innerhalb von zwei Jahren, die Deckung
der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesund-
heitspflege, die Deckung der Bedarfe für Unterkunft und 
Heizung sowie die Kosten für die notwendigen Arztbe-
handlungen zu übernehmen. Das Wichtigste ist, diesen
Menschen ein Darlehen zu geben, wenn es darum geht,
in ihre Heimat zurückzugehen und sich wieder eine Per-
spektive aufzubauen. Ich glaube, dass der Gesetzentwurf,
den wir machen, sehr sozial und abgewogen ist. Es ist
richtig, dass wir bestimmte Gruppen nicht einbeziehen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das alles müssen aber die Kommunen bezahlen!)


Ich habe den Zwischenruf aus der Grünenfraktion von
vorhin über die aufstockenden Leistungen vernommen.
Wir ändern – das ist vollkommen richtig – an dieser Stel-
le nichts, weil es eben darum geht, dass Personen, die als
Arbeitnehmer aus Europa, aus der Europäischen Union,
vielleicht mit Familie, hierherkommen und arbeiten, wei-
terhin eine Unterstützung bekommen, wenn die Bezah-
lung im Beruf nicht auskömmlich ist.

Worüber wir reden müssen – das sehen wir dezidiert
anders als der Koalitionspartner, da gibt es inhaltlich
durchaus andere Auffassungen –, ist die Frage: Wie geht
man mit Selbstständigen um? Ich spreche von Selbststän-
digen, die aus Griechenland, Spanien oder Italien nach
Deutschland kommen, hier aufstockende Leistungen be-
antragen und deren Gewinnabsicht nicht immer so klar
ist.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstständige arbeiten auch!)


Die Frage ist: Gibt es in diesem Sinne eine Selbstständig-
keit? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir noch
viel stärker die Unterstützung der Behörden und auch die
Möglichkeit, zu überprüfen, ob eine Selbstständigkeit
mit dem Ziel einer Gewinnabsicht vorliegt.

Abschließend die Frage: Warum machen wir diesen
Gesetzentwurf? Erstens. Wir wollen unser Sozialsys-
tem vor Missbrauch schützen. Zweitens. Wir stellen
fest und klar – dabei geht es um Rechtssicherheit –, wer
anspruchsberechtigt ist und wer vor allen Dingen nicht
anspruchsberechtigt ist. Drittens. Es gilt dann nach fünf
Jahren der Grundsatz „Fordern und Fördern“. Ich glaube,

das ist eine richtige und gute Ableitung aus diesem Ge-
setzesvorschlag.

Wir freuen uns auf die Debatte und leisten damit un-
seren Beitrag dafür, dass Europa, so wie es die Staatsse-
kretärin gesagt hat, sozialer wird und die Regeln klarer
werden. Wir lassen nicht zu, dass Populisten die Ober-
hand gewinnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Zahlen dürfen hier nicht genannt werden!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820008700

Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bünd-

nis 90/Die Grünen, spricht als Nächster.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
soziales Europa ist dringender denn je notwendig. Der
Zusammenhalt zwischen den Ländern und den Men-
schen in Europa ist gefährdet. Nach der Wahl in Amerika
in dieser Woche ist es vielleicht noch wichtiger, die euro-
päische Einheit zu stärken und das soziale Europa stark
zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es ist wichtig, dass das nicht nur in Sonntagsreden
und in Gastbeiträgen passiert, sondern dass dem auch Ta-
ten folgen. Es ist schon ziemlich scheinheilig, dass die
Ministerin an dem Tag, an dem dieser Gesetzentwurf im
Bundeskabinett beschlossen wurde, einen Gastbeitrag
für die FAZ geschrieben hat, in dem sie für einen stärke-
ren sozialen Zusammenhalt in Europa plädiert hat; denn
dieser Gesetzentwurf ist das genaue Gegenteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Er setzt europapolitisch ein völlig falsches Signal. Er ist
sozialpolitisch verfehlt, und er erschwert die notwendige
Integration vor Ort. Ausbaden vor Ort müssen das letzt-
endlich die Kommunen. Deswegen ist Ihr Vorschlag für
die Kommunen nur eine Scheinlösung.

Einig sind wir uns darin, dass es Handlungsbedarf
gibt. Es gibt das Urteil des Bundessozialgerichts. Es stellt
auch keine gute Lösung dar, weil es keine Rechtsklarheit
schafft. Dafür sind wir als Gesetzgeber verantwortlich.
Es ist auch keine Lösung, zu sagen: Die Menschen sollen,
um ihr Existenzminimum zu sichern, was ein Grundrecht
ist – da hat die Kollegin Zimmermann völlig recht –, So-
zialhilfe beziehen können. Sozialhilfe ist keine Leistung
für erwerbsfähige Menschen, und sie muss komplett von
den Kommunen bezahlt werden. Das ist keine gute Lö-
sung, da besteht Handlungsbedarf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es besteht aus einem zweiten Grund Handlungsbe-
darf, nämlich aufgrund der sozialen Situation vor Ort.

Dr. Martin Pätzold






(A) (C)



(B) (D)


Mein Wahlkreis ist Offenbach. Offenbach ist die Stadt
mit dem höchsten Anteil an Bulgaren und Rumänen
in ganz Deutschland. Man kann bei mir vor Ort sehen,
welche Folgen es hat, wenn Menschen keine soziale
Absicherung haben. Von irgendetwas müssen sie leben.
Sonst leben sie in teilweise unwürdigen Verhältnissen. In
Frankfurt gibt es ein Zeltcamp, in dem fast slumartige
Zustände herrschen. In Offenbach müssen manche Men-
schen in Schrottimmobilien wohnen; andere suchen auf
anderen Wegen nach Geld, durch illegale Tätigkeiten wie
Schwarzarbeit oder schlimmere Aktivitäten. Wir brau-
chen soziale Unterstützung, um den Menschen zu hel-
fen, integriert zu werden. Sie dürfen nicht ausgegrenzt
werden, sondern müssen möglichst schnell Teil dieser
Gesellschaft werden und eine echte Chance auf dem Ar-
beitsmarkt bekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE])


Unser Vorschlag, unsere Alternative ist: Weil wir dafür
sorgen müssen, dass die Menschen eine Chance auf dem
Arbeitsmarkt bekommen, sollten sie Leistungen nach
dem Sozialgesetzbuch II, vulgo Hartz IV, bekommen.
Denn dann hätten sie eine Unterstützung, was Sozialleis-
tungen, finanzielle Leistungen und Arbeitsmarktintegra-
tionsleistungen angeht. Wir sagen: Nach drei Monaten
soll es die Möglichkeit geben, Hartz IV zu beantragen.
Wenn die Betroffenen wirklich nach Arbeit suchen und
eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, dann müssen
sie unterstützt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir sagen auch, dass in Einzelfällen – aber nur in
Einzelfällen –, wenn nachgewiesen wird, dass die Men-
schen gar nicht nach Arbeit suchen oder dass sie trotz
aller Bemühungen der Jobcenter keine Chance auf dem
Arbeitsmarkt haben, die Leistung wieder entfallen kann,
weil dann auch das Recht auf Freizügigkeit entfällt. Aber
dies soll im Einzelfall entschieden werden und nicht eine
pauschale Diskriminierung darstellen, wie Sie sie in Ih-
rem Gesetzentwurf vorsehen; auch das ist uns wichtig.

Natürlich muss man auf EU-Ebene endlich dafür sor-
gen, dass die Menschen nicht aus finanzieller Not zu uns 
kommen. Auch da – die Staatssekretärin hat das eben
zwar erwähnt – fehlen noch Aktivitäten auf bundespoliti-
scher Ebene. Es gibt noch keine Stellungnahme der Bun-
desregierung zur Säule sozialer Rechte. Hier müssen wir
aber ansetzen. Wir müssen eine Mindesteinkommens-
richtlinie haben, damit es überall angemessene Grund-
sicherungssysteme gibt und die Menschen überall in
Europa vor Armut geschützt werden. Wir brauchen auch
Mindeststandards bei den sozialen Sicherungssystemen,
um  zu  verhindern,  dass Menschen  aus  finanzieller Not 
auswandern und ihr Land verlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn die Menschen aber zu uns kommen, dann müs-
sen wir sie unterstützen – und zwar besser als bisher –
und den pauschalen Ausschluss, den es jetzt im SGB II
gibt, abschaffen. Wir brauchen eine bessere soziale Absi-

cherung der Freizügigkeit. Wir brauchen mehr und nicht
weniger soziales Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Und das ausschließlich in Deutschland, oder wie?)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820008800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt

für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dagmar Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820008900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frei-
zügigkeit innerhalb der EU ist zunächst einmal daran ge-
bunden, dass man seinen Lebensunterhalt selbstständig
bestreiten kann und möchte, und das ist auch richtig so.


(Beifall bei der SPD)


Sozialleistungen erhält dann, wer Rechte aus Arbeit und
aufgrund von Sozialbeiträgen erworben hat. Ich glau-
be, so  ist das Gerechtigkeitsempfinden der allermeisten 
Menschen. Jeder und jede, egal aus welchem EU-Land,
der oder die in einem anderen Land arbeitet, sich für
längere Zeit dort niederlässt und dort seinen oder ihren
Beitrag leistet, muss die gleichen sozialen Rechte haben.
Die Arbeitsnehmerfreizügigkeit ist eine der größten Er-
rungenschaften der EU.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Martin Pätzold [CDU/CSU])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer noch – ob-
wohl die Sensibilität für soziale Fragen in der EU zu-
nimmt – ist das Wohlstandsgefälle sehr groß. Immer
noch sind in verschiedenen Ländern die nationalen sozi-
alen Sicherungssysteme unzureichend. Immer noch wer-
den Minderheitenrechte, zum Beispiel die der Sinti und
Roma, nicht geachtet und vonseiten der EU mit zu wenig
Nachdruck durchgesetzt. Das führt zu Wanderungsbewe-
gungen, nicht nur aufgrund von Arbeit und Arbeitssuche.

Der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschus-
ses „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der In-
anspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch
Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ – ein schöner Ti-
tel – stellte fest: Die Zuwanderung aus anderen EU-Staa-
ten nach Deutschland hat zugenommen. Der sogenann-
te Sozialmissbrauch ist aber gering. Ganz überwiegend
profitieren wir von der Zuwanderung, müssen aber auch 
mit den sozialen Problemen und Spannungen umgehen,
wie sie in einigen Städten Deutschlands entstanden sind.
Wir haben damals die Unterstützung für diese Städte ver-
stärkt. Das war auch gut so; denn Integration ist die beste
Antwort auf Zuwanderung.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katharina Landgraf [CDU/CSU] – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu gehört auch die soziale Siche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn rung, sonst funktioniert das nicht mit der Integration!)





(A) (C)


(B) (D)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns mit 
dem Gesetzentwurf in einem Spannungsverhältnis zwi-
schen dem Recht auf Existenzsicherung für jeden Men-
schen, der sich in Deutschland aufhält, und der Kontrolle
darüber, wer sich aus welchem Grund rechtmäßig oder
nicht rechtmäßig bei uns aufhält. Ich bin dem Ministe-
rium dankbar dafür, dass es gerade nach den verschie-
denen Urteilen zu dieser Frage mit diesem Gesetz eine
Klarstellung herbeiführen möchte.

Dennoch bleiben für uns einige Fragen offen: Wie ge-
nau und mit welchem Verfahren unterscheide ich Wande-
rung zur Arbeitssuche oder Wanderung allein zur Inan-
spruchnahme von Sozialleistungen?


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Wie gehen wir mit Härtefällen um? Was passiert zum
Beispiel, wenn sich eine Frau von ihrem Mann trennt
oder trennen muss, aber beide noch keine fünf Jahre in
Deutschland waren? Was ist zukünftig der Status ihrer
Kinder, die hier in die Schule gehen oder eine Ausbil-
dung machen? In welchem Verhältnis steht das Gesetz
zur EU-Verordnung zu Wanderarbeitern? Wie wirken
sich Unterbrechungen des Aufenthalts auf die Fünfjah-
resfrist aus?

Es sind also noch einige Fragen offen, die wir im
Gesetzgebungsprozess zu beantworten haben. Ich freue
mich auf eine gute und konstruktive Debatte.

Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katharina Landgraf [CDU/CSU])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820009000

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Stephan

Stracke.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1820009100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Deutschland hat sich für viele Menschen zum Sehn-
suchtsort entwickelt; außerhalb der Europäischen Union,
aber auch innerhalb der EU. Seit der Wirtschaftskrise
kommen immer mehr EU-Ausländer zu uns und bleiben
hier in Deutschland.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nennt man Arbeitnehmerfreizügigkeit!)


Waren es 2010 über 87 000, so sind es seit 2013 jedes Jahr
knapp 300 000, im letzten Jahr sogar fast 400 000 Men-
schen. Diese europäische Zuwanderung hat sicherlich
Gründe: die Strahlkraft Deutschlands. Wir sind ein
weltoffenes Land, uns geht es gut, die Wirtschaft brummt
und der Wohlstand steigt. Weil das so ist, können wir uns
hier in Deutschland ein höheres Sicherungsniveau leis-
ten als viele andere Staaten in Europa. Das löst natürlich
auch einen Sogeffekt aus. Diesen wollen wir nicht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren – ich zitie-
re –: „Wirbel um Sozialhilfe für EU-Bürger“ und „Seid
umarmt, ihr Rumänen!“ Das waren einige Reaktionen
der Presse nach dem Urteil des Bundessozialgerichts
Anfang Dezember 2015. Die Rechtsprechung des Bun-
dessozialgerichts ist abenteuerlich. Sie besagt, dass jeder
EU-Ausländer sich Sozialleistungen ersitzen kann, er
muss bloß sechs Monate hier in Deutschland sein.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Grundgesetz! Das ist das deutsche Grundgesetz!)


Dieses sozialpolitische Ergebnis der Rechtsprechung
ist nicht hinnehmbar. Deswegen korrigieren wir es. Es ist
auch nicht mit dem Grundgesetz kollidierend. Wir tun es
deshalb, weil wir unsere Kommunen vor ungerechtfertig-
ten Mehrbelastungen schützen wollen. Darüber bestand
auch recht schnell Einigkeit innerhalb der Koalition.
Dass es am Ende fast ein Jahr gedauert hat und es vor
der Kabinettsbefassung noch einmal zur Diskussion zwi-
schen dem Bundesarbeitsministerium und dem Bundes-
innenministerium gekommen ist, zeigt, dass es zwischen
Union und SPD durchaus noch Unterschiede gibt, mit
welcher Intensität Armutszuwanderung in die sozialen
Sicherungssysteme wirksam begrenzt werden soll.

Die Haltung der CSU-Landesgruppe und der Union
war eindeutig. Wir setzen alles daran, die Einwanderung
in unsere Sozialsysteme zu verhindern. Jeder Missbrauch
in diesem Bereich gefährdet die Akzeptanz der Freizü-
gigkeit. Es ist vor allem auch eine Frage der Gerechtig-
keit gegenüber unseren Bürgern; denn sie sind es, die mit
ihrer Arbeitsleistung einen Beitrag für unsere Sozialsys-
teme leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb gilt für uns der Grundsatz: Nur diejenigen
sollen in den Genuss von Sozialleistungen kommen, die
hier leben, arbeiten und Beiträge zahlen. Wer jedoch zu
uns kommt und hier nie gearbeitet hat, aber dennoch So-
zialleistungen begehrt, für den soll es ein klares Stopp-
schild geben: existenzsichernde Leistungen ja, aber nicht
unsere Leistungen, nicht auf unserem Niveau, sondern
die des Heimatlandes.

Das ist das Signal, das wir mit diesem Gesetz in die
Herkunftsländer aussenden: Armutsmigration nach
Deutschland lohnt sich nicht. Gleichzeitig senden wir ein
klares Signal an unsere Bürgerinnen und Bürger: Zuwan-
derung in unsere Sozialsysteme wollen wir nicht. Denn
unsere Bürger sind es, die mit ihrer Arbeitsleistung unse-
re Sozialsysteme im Wesentlichen tragen.

Wir haben in der Vergangenheit in diesen Bereichen
schon viel erreicht: befristete Wiedereinreisesperren,
stärkere Bekämpfung von Schwarzarbeit und Schein-
selbstständigkeit und die Verhinderung des Doppelbezu-
ges von Kindergeld – alles Maßnahmen, die wir als CSU
eingefordert, durchgesetzt und umgesetzt haben. Wir
werden ja häufig für unsere klare Sprache gescholten, für 
pointierte Zuspitzungen,


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie stärken damit die AfD! Das wissen Sie schon, oder?)


Dagmar Schmidt (Wetzlar)







(A) (C)



(B) (D)


beispielsweise in Wildbad Kreuth. Aber letztlich kommt
es bei der Bekämpfung der Armutszuwanderung auch
immer auf klare Worte an.

Am Ende zählt vor allem das Ergebnis. Wir sind er-
folgreich, im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger.
Die Maßnahmen, die wir in der Vergangenheit in der
Großen Koalition umgesetzt haben, sind richtig, und
auch der vorliegende Gesetzentwurf ist richtig und drin-
gend erforderlich, um die Rechtsprechung des Bundesso-
zialgerichts in diesen Fällen zu korrigieren.

Was ist nun vorgesehen? Zum einen werden die beste-
henden Leistungsausschlüsse eindeutig geregelt. Damit
werden dem Erfindungsspielraum Kassels entsprechende 
Grenzen gesetzt. Für die von den Leistungsausschlüssen
betroffenen Personen gibt es Überbrückungsleistungen,
also sehr wohl Leistungen,


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die die Kommunen bezahlen müssen! Warum bezahlt das nicht der Bund? Warum bezahlen das die Kommunen?)


bis hin zur Ausreise, zur Übernahme der angemessenen
Kosten der Rückreise in das Heimatland. Die damit ver-
bundene Botschaft ist auch klar: Den Weg nach Deutsch-
land, allein um hier Sozialhilfe zu kassieren, kann man
sich von vornherein sparen. Erst nach fünf Jahren ge-
wöhnlichen Aufenthalts ohne wesentliche Unterbre-
chung wird ein Leistungsanspruch gewährt,


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovon leben die Leute in den fünf Jahren? Kommen Sie mal nach Offenbach! Da können Sie sehen, was die Leute machen, wenn sie keine Sozialleistungen kriegen!)


unabhängig davon, ob sich die Betroffenen rechtmäßig
oder unrechtmäßig aufgehalten haben.

Das war am Ende letztlich auch der kitzelige Punkt
zwischen Union und SPD. Wir wollten allein auf einen
rechtmäßigen Aufenthalt abstellen. Das ist auch sinnvoll.
Der Gesetzentwurf stellt nun auf den tatsächlichen Auf-
enthalt ab und differenziert nicht mehr zwischen recht-
mäßigem und unrechtmäßigem Aufenthalt. Allerdings
werden Zeiten, in denen sich Personen nicht rechtmäßig
in Deutschland aufhalten, weil sie ausreisepflichtig sind, 
nicht auf den Fünfjahreszeitraum angerechnet. Am Ende
kann man sagen: Warum einfach, wenn es auch kompli-
ziert geht?

Der gefundene Kompromiss mag eine Einigung er-
leichtert haben; rechtssystematisch ist es dennoch nicht
der beste Weg. Bedauerlich ist auch, dass durch den Ge-
setzentwurf die bisherige Systemabgrenzung zwischen
SGB II und SGB XII aufgehoben wird. Im Hinblick auf
Überbrückungsleistungen bedeutet dies einen nicht uner-
heblichen bürokratischen Mehraufwand für Sozialämter
und Jobcenter. Das wäre vermeidbar gewesen.

Trotz dieser Schwächen stimmt die Zielrichtung des
Gesetzentwurfs. Wir schließen mit dem Gesetzentwurf
die durch das Bundessozialgericht geschaffenen erhebli-

chen Lücken im nationalen Recht. Die Kommunen wer-
den von Mehrbelastungen verschont. Und was natürlich
auch schön ist: Ein zentrales Anliegen der CSU-Landes-
gruppe wird umgesetzt.

Herzliches Dankeschön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820009200

Zum Abschluss der Aussprache spricht der Kollege

Markus Paschke für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Markus Paschke (SPD):
Rede ID: ID1820009300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An-
spruch auf Leistungen nach dem SGB II und Unterstüt-
zung bei der Arbeitsuche erhalten diejenigen, die ihren
Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik haben. Grund-
sätzlich sind da auch alle Europäer gleichzubehandeln.
Das ist richtig, und das ist auch gut so.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann muss man es halt auch so machen!)


Keinen Anspruch haben jedoch Ausländerinnen und Aus-
länder, die sich nur zur Arbeitsuche hier aufhalten.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber dafür ist doch die Grundsicherung für Arbeitsuchende da! „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ heißt das!)


Auch das ist richtig, denn deren Lebensmittelpunkt liegt
bisher nicht in Deutschland.

Nun hat das Bundessozialgericht den Betroffenen
in mehreren Fällen Anspruch auf Sozialhilfe nach dem
SGB XII zugestanden. Das Ziel dieses Ausschlusses im
SGB II war jedoch nicht, die Betreffenden in die Sozi-
alhilfe zu drängen; denn da gehören sie auch nicht hin.

Die Freizügigkeit innerhalb Europas ist an zwei Vo-
raussetzungen gebunden. Es lohnt sich, das einmal wie-
der nachzulesen. Das sind nämlich erstens eine beste-
hende Krankenversicherung und zweitens ausreichend
Mittel für den Lebensunterhalt. Bisher war der Anspruch
auf Leistung nach dem SGB II dauerhaft ausgeschlos-
sen, wenn jemand nicht gearbeitet hat. Wir haben jetzt
Rechtssicherheit. Nach fünf Jahren gilt Deutschland als
Lebensmittelpunkt. Damit es in Europa keine Migration
in die Sozialsysteme gibt, brauchen wir verbindliche eu-
ropäische Mindeststandards in der sozialen Sicherung,
Mindeststandards, die allen Bürgerinnen und Bürgern
Europas an dem Ort ihres Lebensmittelpunktes das
sozio einer Bundesethikkommission kulturelle Existenz-
minimum sichert.

Es muss außerdem sichergestellt sein, dass alle Euro-
päer – egal, ob aus Portugal, Rumänien, Finnland oder
Luxemburg, und egal, welcher Volksgruppe sie angehö-

Stephan Stracke






(A) (C)



(B) (D)


ren – die gleichen Chancen auf Bildung, Gesundheitsver-
sorgung und Zugang zum Arbeitsmarkt haben.


(Beifall bei der SPD)


Für mich ist deshalb klar: Wir brauchen eine europäische
soziale Sicherung.

Beim vorliegenden Gesetzentwurf sind für mich noch
einige Fragen offen, die sich auf Situationen beziehen,
die Härtefälle für die Betroffenen bedeuten können. Es
kann gute Gründe geben, warum man, auch wenn man
seinen Lebensmittelpunkt inzwischen hier hat, das Land
zwischendurch für eine gewisse Zeit verlassen muss,
zum Beispiel weil es gilt, Familienangehörige zu pflegen 
oder andere Probleme zu lösen, die ein bisschen länger
dauern und wofür man durchaus seine Wohnung hier auf-
gibt. Solche Unterbrechungen sind bisher nicht berück-
sichtigt. Auch kann es eine Härte bedeuten, wenn zum
Beispiel eine Ehe – aus welchen Gründen auch immer –
zerbricht und nur ein Partner Arbeit hat.

Zusammenfassend kann man, glaube ich, sagen: Der
Grundsatz in dem Gesetzentwurf ist okay. Über Details
und offene Fragen müssen wir dann noch reden.

Danke schön. Ich wünsche, bevor es der Präsident tut,
allen ein schönes Wochenende.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820009400

Das ist sehr fürsorglich gegenüber den Kolleginnen

und Kollegen und dem Präsidenten.

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/10211 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere
Vorschläge sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Wir sind damit zugleich am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung und am Schluss der 200. Sitzung dieser
Legislaturperiode.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages, die 201., auf Dienstag, den 22. November 2016,
10 Uhr, ein. Kommen Sie alle gesund wieder.

Die Sitzung ist geschlossen.