Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich zu unserer Plenarsitzung .Wir beginnen heute mit dem Tagesordnungspunkt 17:Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Einstufung der DemokratischenVolksrepublik Algerien, des Königreichs Ma-rokko und der Tunesischen Republik als si-chere HerkunftsstaatenDrucksache 18/8039Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
Drucksache 18/8311Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor . Über den Gesetzentwurfwerden wir nach der Debatte namentlich abstimmen .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Das ist offen-sichtlich unstreitig . Dann können wir so verfahren .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demBundesinnenminister Thomas de Maizière .
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung kenntnatürlich auch die kritischen Fragen und Themen, die mitder Menschenrechtslage in Algerien, Marokko und Tu-nesien verbunden sind . In Algerien sieht das Strafgesetz-buch vor, dass Männer, die ein Mädchen unter 18 Jah-ren vergewaltigt haben, dann straffrei ausgehen können,wenn sie ihr Opfer heiraten .In Marokko müssen Aktivisten mit staatlichem Druckrechnen, wenn sie den Anspruch Marokkos auf die Re-gion Westsahara kritisieren . In Tunesien können Männerwegen homosexueller Handlungen strafrechtlich belangtwerden . Das wissen wir . Deswegen wird unser LandMenschen aus diesen Herkunftsstaaten auch dann wei-terhin Schutz gewähren, wenn ihnen ein individuellesVerfolgungsschicksal droht .
Das ist unsere Pflicht. Das ist richtig so, und dazu stehtdie Bundesregierung .So wichtig und berechtigt das Ansprechen der Proble-me ist – das werden wir sicher gleich von der Oppositi-on in der Debatte hören –, so gering allerdings sind dieErfolgsaussichten für Asylanträge von Antragstellern ausdiesen Ländern . Warum ist das so? Ein Recht auf Asylerhält man in Deutschland nicht allein dadurch, dass es ineinem Herkunftsland eine sicher kritikwürdige Rechtsla-ge gibt; es muss eine persönliche Verfolgung vorliegen .Die persönliche Verfolgung kann und muss der Antrag-steller in seinem Asylverfahren vortragen . So sieht es dasAsylrecht vor .Das Bundesverfassungsgericht stellt hohe Anforde-rungen an die Bestimmung eines Staates als sichererHerkunftsstaat . Es räumt dem Gesetzgeber jedoch einenbreiten Entscheidungs- und Beurteilungsspielraum fürdie Bestimmung eines Staates als sicherer Herkunftsstaatein . Davon hat der Gesetzgeber auch schon bei zwei afri-kanischen Staaten Gebrauch gemacht . Im Fall Ghana hatdas Verfassungsgericht diese Einstufung überprüft undbestätigt .Artikel 16 a Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz lautet:Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem sol-chen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tat-sachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß erentgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird .Gegenstand dieser Vermutung ist nicht, dass einem Aus-länder aus einem sicheren Herkunftsstaat dort keineunmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Be-handlung droht . Es wird allein vermutet, dass ein Auslän-der aus einem solchen Staat nicht politisch verfolgt wird .
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Die von der Opposition vorgetragenen und sichergleich noch zu hörenden Argumente zur Menschen-rechtslage in den Maghreb-Staaten werden und wurdenberücksichtigt . Durch die abstrakte Androhung der To-desstrafe und die abstrakte Strafbarkeit von Homosexua-lität allein ergeben sich jedoch kein Asylgrund und auchkein Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention . Dasist ein Grundprinzip unseres Asylrechts, und an diesemPrinzip werden wir auch festhalten .
Zweiter Punkt – und der ist entscheidend –: Antrag-steller aus diesen Ländern werden in der Regel nichtpolitisch verfolgt . Das belegen die Entscheidungen desBundesamts für Migration und Flüchtlinge im gesamtenJahr 2015, und das belegen auch die Entscheidungen inden ersten Monaten dieses Jahres . Seit Februar werdendie Anträge von Menschen aus diesen Staaten vorrangigbearbeitet . Die ohnehin niedrige Gesamtschutzquote hatsich noch einmal gesenkt . 2015 betrug sie noch 2,1 Pro-zent . Im ersten Quartal dieses Jahres ist sie auf 0,7 Pro-zent gefallen . Daraus kann man schließen: Es werdenauch solche Vermutungen widerlegt . Es gibt also Fälle,in denen Asyl gewährt wird . Aber über 99 Prozent derAntragsteller aus diesen Staaten wurde im Jahr 2016 keinRecht auf Asyl gewährt .Mit diesem Gesetz werden wir also den Zeitaufwandstraffen, der mit der Prüfung dieser Anträge verbundenist, und an die tatsächlichen Erfolgsaussichten anpassen .Das machen wir auch, um die Anreize zu senken, hier ei-nen erfolglosen Asylantrag zu stellen, weil man in dieserZeit vielleicht kostenlos untergebracht wird oder weil dieLeistungen hier besser sind als die Lebensbedingungenim Herkunftsland .Das Bundesamt, aber auch die Länder und die Auslän-derbehörden treffen immer wieder auf mangelnde Mit-wirkungsbereitschaft von Staatsangehörigen aus diesenStaaten . Viele Asylsuchende aus diesen Ländern lassensich mehrfach registrieren, stellen aber keinen Asylantragoder erscheinen einfach nicht zu Anhörungsterminen .Die Zahl der Registrierungen in den letzten 15 Monatenwar viermal so hoch wie die Zahl der Asylanträge . DieseDifferenz ist im Vergleich zu anderen Herkunftsstaatenganz besonders hoch .Mit den besonderen Aufnahmeeinrichtungen, die wirmit dem Asylpaket II geschaffen haben, der damit ver-bundenen Residenzpflicht und der deshalb möglichenschnelleren Rückführung beheben wir viele Mängel desbisherigen Asylverfahrens . Das ist ein weiterer wichtigerSchritt, um unser Asylsystem effizienter zu machen.Deutschland wird seiner humanitären Verantwortunggerecht, auch mit diesem Gesetz . Wer die Voraussetzun-gen für das Recht auf Asyl erfüllt, kann bleiben . Wer dieVoraussetzungen nicht erfüllt, soll unser Land wiederverlassen . So einfach ist das . Am besten kommt er garnicht erst, wenn von vornherein klar ist, dass er höchst-wahrscheinlich zurückkehren muss .Zum Helfenkönnen gehört auch, Nein sagen zu kön-nen, nämlich dort, wo keine humanitäre Hilfe gebrauchtwird .
Das ist legitim . Das zu sagen, ist fair und ehrlich .Schon die Diskussion über die Einführung des Geset-zes im Januar hat im Februar zu einem spürbaren Rück-gang bei den Neuzugängen aus diesen Ländern geführt .Waren es im Januar noch deutlich über 3 000 Neuzugän-ge, so verzeichneten wir im Februar nur noch etwa 600 .Daraus sollte man aber nicht den Schluss ziehen, dassdieses Gesetz nun nicht mehr erforderlich ist, im Gegen-teil . Umgekehrt wird ein Schuh daraus . Wir haben vieleGesetze leider – das gilt erst recht im Asylrecht – unterdem Druck der Ereignisse beschlossen . Mir wäre es lie-ber gewesen, wenn wir ohne den Druck der Ereignisse,vorbeugend und ohne politischen Streit solche gesetz-geberischen Entscheidungen treffen würden, damit derDruck der Ereignisse erst gar nicht entsteht .
Wir stehen in engem Kontakt mit den Regierungenvon Tunesien, Marokko und Algerien, um unsere Zusam-menarbeit auch beim Thema Rückführung zu verbessern .Die Staaten selbst wollen übrigens, dass ihre Länder alssichere Herkunftsländer eingestuft werden .
Sie sollten sich einmal in die Lage des Landes Tunesi-en versetzen . Ich habe in letzter Zeit Tunesien dreimalbesucht . Es handelt sich hier um eine fragile, sich ent-wickelnde Demokratie . Dann hören die dort lebendenMenschen aus Europa und insbesondere aus Deutsch-land, dass es sich bei diesem Staat um kein sicheres Her-kunftsland handelt . Das ist für viele, die für Demokratiekämpfen, eine Beleidigung ihrer Anstrengungen in derletzten Zeit .
Bei meiner Reise Ende März haben wir Vereinba-rungen über Möglichkeiten der Rückführungen erzielt .Die ersten Rückführungen sind erfolgt, und sie werdenweitergehen . Wir setzen weiter auf die Hilfsbereitschaftgegenüber verfolgten Menschen, aber eben auch auf eineBegrenzung des Zuzugs von den Menschen, die keinesSchutzes bedürfen .Wir nutzen jetzt – das ist meine abschließende Be-merkung – gemeinsam mit den Ländern, den Kommu-nen und der ganzen Bevölkerung die Gelegenheit, unsauf die Integration derer zu konzentrieren, die eine guteBleibeperspektive haben, gerade auch weil die Zahl de-rer, die kommen, zurückgegangen ist . Wir werden dieseBundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Ziele mit dem Integrationsgesetz verfolgen . Fördern undFordern werden hier die Prinzipien sein .Die Eckpunkte sind bekannt: Sprachkurse, Orien-tierungskurse, Arbeitsgelegenheiten, Arbeitsangebote,Bleibeperspektive während der Ausbildung genauso wieWohnsitzzuweisung für anerkannte Flüchtlinge, solangesie noch keine Arbeit haben, Verpflichtung zu Integrati-onsleistungen, Ermöglichung der Leiharbeit für Gedul-dete und eine Bindung des dauerhaften Aufenthalts andie bisher erbrachten Integrationsleistungen . Fördernund Fordern – beides gehört zusammen . Einen entspre-chenden Gesetzentwurf werden wir im Kabinett hoffent-lich – vermutlich – noch im Mai beschließen und dannhier baldmöglichst beraten .
Mit dem heutigen Gesetzentwurf verfolgt die Bundes-regierung einen konsequenten Kurs: Schutz für die, dieSchutz brauchen, und rasche Beendigung des Aufenthaltsin Deutschland für die, die keinen Schutz brauchen, undzwar insbesondere für diejenigen aus den sicheren Her-kunftsstaaten . Das sind klare Ansagen nach innen undnach außen .Danke schön .
Für die Fraktion Die Linke erhält die Kollegin Ulla
Jelpke das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr In-nenminister, Sie haben eigentlich am Anfang Ihrer Redeall die Argumente gebracht, warum Algerien, Marokkound Tunesien nicht als sichere Herkunftsstaaten einge-stuft werden dürfen; denn Sie haben im Grunde genom-men bestätigt, dass es in diesen Ländern erhebliche Men-schenrechtsverletzungen gibt .
Deswegen sagen wir hier auch ganz klar: Das Asylrechtdarf nicht eingeschränkt werden .
Schutzsuchende haben das volle Recht auf Asyl!
Was bedeutet es denn, wenn diese drei Staaten als sichereHerkunftsstaaten eingestuft werden? Das bedeutet, dassdie Asylsuchenden von dort aus Sicht hiesiger Behördeneinen unbegründeten Asylantrag stellen, und zwar alle .Das bedeutet, dass sie in Sonderlagern untergebrachtwerden, dass sie einer verschärften Residenzpflicht un-terliegen, dass sie von allen möglichen Integrationsmaß-nahmen, die von Anfang an nötig wären, ausgeschlossensind . Dieses Recht auf ein faires Asylverfahren, der An-spruch auf eine individuelle Beurteilung muss weiterhinvoll anerkannt werden . Wir lehnen ein Asylrecht zweiterKlasse grundsätzlich ab .
Aus den Berichten von Amnesty International unddem Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flücht-linge, UNHCR, die der Bundesregierung vorliegen, gehteindeutig hervor, wie weitgehend diese Menschenrechts-verletzungen in den Maghreb-Staaten sind . An vielenEinzelbeispielen wird das dort beschrieben . Diese Or-ganisationen lehnen es ebenfalls ab, dass wir bei diesenLändern von sicheren Herkunftsstaaten reden .In allen drei Ländern gibt es schwere Menschen-rechtsverletzungen, zum Beispiel die Verletzung vonFrauenrechten . Sie selber haben eben das Beispiel ge-nannt . Wenn eine Minderjährige vergewaltigt wird undder Vergewaltiger sie heiratet, geht er straffrei aus . Dasist doch ein Skandal . Stellen Sie sich das einmal vor!
Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit werdendort missachtet . Ich nenne weiterhin die Homosexuel-lenverfolgung . Homosexuelle müssen nach wie vor mitStrafverfolgung und Inhaftierung bis zu drei Jahren rech-nen . Nicht zu vergessen: In allen Ländern wird gefoltert .In Marokko gibt es nicht die Unschuldsvermutung . Wernicht geständig ist, kann nicht vor Gericht gestellt undverurteilt werden. Also wird häufig ein Geständnis durchFolter erzwungen, damit eine Verurteilung stattfindenkann . Auch das sind Skandale .Wer zum Beispiel die völkerrechtswidrige Besatzungin der Westsahara in Marokko kritisiert, muss damit rech-nen, inhaftiert zu werden . In Tunesien hat es mehrereFälle gegeben, wo Mitarbeiter der Sicherheitsbehördenbeispielsweise auf protestierende Arbeitslose, auf Men-schen, die für ihre Rechte eingetreten sind, geschossenhaben . Auch in anderer Form sind dort Menschenrechteverletzt worden .All das sind relevante Asylgründe . Beispielsweise derJurist Reinhard Marx, aber auch Amnesty Internationalhaben in der Anhörung sehr deutlich gemacht, dass esüberhaupt keinen Grund gibt, diese Länder als sicher ein-zustufen . Auch wenn es sich nur um wenige Fälle und umkeine Systematik handeln sollte, wie Sie sagen, ist dasschon asylrelevant, und das darf nicht dazu führen, dassman diese Länder als sicher einstuft .Die Bundesregierung, aber auch wir hier im Parla-ment haben – das hat uns das Bundesverfassungsgerichtins Stammbuch geschrieben – eine besondere Sorgfalts-pflicht, zu prüfen, ob es Menschenrechtsverletzungengibt . Hier ist nicht die Rede von Systematik . Es reicht,dass Gruppen diskriminiert oder verfolgt werden . Dis-kriminierung oder Verfolgung muss nicht die Masse derMenschen betreffen, die in diesen Ländern leben .Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Im Übrigen hat die Bundesregierung in der Begrün-dung zum Gesetzentwurf nicht dargelegt, welche Stel-lungnahmen von welchen NGOs inwiefern berücksich-tigt wurden . Zum Beispiel sagen die Kirchen, Pro Asyl,das Deutsche Institut für Menschenrechte und AmnestyInternational – deren Vertreter waren zur Sachverstän-digenanhörung eingeladen – Nein zur Einstufung dieserLänder als sichere Herkunftsstaaten .
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit .
Dass so wenige kämen – das ist Ihr Argument, das Sie
immer wieder vorbringen –, hat das Bundesverfassungs-
gericht lediglich als ein Indiz bezeichnet, aber nicht als
einen wirklichen Handlungsgrund, Staaten als sicher ein-
zustufen .
Das entscheidende Kriterium für eine solche Einstu-
fung als sicherer Herkunftsstaat – Sie stellen ja immer
wieder darauf ab, es kämen so wenige – ist vor allen Din-
gen die Lage dort in den Ländern . Entscheidend ist vor
allem, ob die Menschen dort sicher sind vor Verfolgung,
Folter und Diskriminierung . Genau das ist nicht gewähr-
leistet . Deswegen fordern wir, dass es keine weiteren
Einschnitte in das Grundrecht auf Asyl gibt .
Frau Kollegin, Sie müssen nun zum Schluss kommen .
Ja . – Zum Schluss möchte ich einfach sagen: Wer die-
se Länder als sicher einstuft, ermutigt auch ihre Regie-
rungen, weiterhin diese Menschenrechtsverletzungen zu
praktizieren . Schon deswegen muss man ganz klar sagen:
Nein, Menschenrechtsverletzungen der Art, wie sie hier
vorgetragen wurden, können von uns nicht akzeptiert
und nicht auch noch belohnt werden, indem man diese
Länder als sicher einstuft .
Ich danke Ihnen .
Burkhard Lischka ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stufenheute Tunesien, Marokko und Algerien als sichere Her-kunftsstaaten ein, und zwar nicht, Frau Jelpke, um dasAsylrecht zu schwächen, sondern um es zu stärken .
Unser Asylrecht soll all diejenigen schützen, die in ihrenHeimatländern politisch verfolgt werden oder vor Kriegund Tod fliehen. In den Ländern Tunesien, Marokko undAlgerien ist das eben nicht der Fall .Die Einwanderung aus diesen Staaten erfolgt geradenicht überwiegend als Flucht vor Krieg und politischerVerfolgung . Bei über 99 Prozent der Menschen, die vondort kommen, ist die Motivlage eine vollkommen andere,zum Beispiel der Wunsch nach einem besseren Leben .Das halte ich für menschlich verständlich; aber es isteben kein Asylgrund, und zwar nirgendwo auf der Welt .
Die wenigen, die von dort kommen, weil sie verfolgtoder diskriminiert werden, haben auch in Zukunft dieMöglichkeit, Asyl hier in Deutschland zu bekommen .Daran ändert auch die Einstufung als sichere Herkunfts-länder überhaupt nichts .
Aber für die übergroße Mehrzahl von 99 Prozent der-jenigen, die aus den Maghreb-Staaten kommen, bedeutetdiese Einstufung zügigere Verfahren . Die Ressourcen,die dadurch freigesetzt werden, kommen wiederum Men-schen zugute, die aus Heimatländern fliehen, in denen sietatsächlich, und zwar massenhaft, von Kriegshandlungenbedroht sind . Deswegen sage ich ganz deutlich – geradeauch an die Adresse der Opposition –: Wer in Deutsch-land auch in Zukunft zahlreiche politisch Verfolgte undKriegsflüchtlinge aufnehmen will, der kann danebennicht auch noch unbegrenzt Menschen aufnehmen, dieaus ganz anderen Motiven kommen .
Wer die Aufnahmebereitschaft in unserem Land, HerrBeck, für Flüchtlinge erhalten will, der sollte sie nichtüberstrapazieren .
Ich finde, Begrenzungen und klare Regeln helfen, hierAkzeptanz zu erhalten .Herr Beck, wenn wir Demokraten solche klaren Gren-zen nicht ziehen, dann überlassen wir das Feld tatsächlichden Rechtspopulisten und den Fremdenfeinden . Insofernist natürlich Politik immer auch ein Ringen um Kompro-misse zwischen dem, was vielleicht wünschenswert ist,und dem, was machbar ist . Vor diesem Hintergrund istdieser Gesetzentwurf – so meine ich – ein ausgewogener,aber eben auch ein notwendiger Kompromiss .
Ulla Jelpke
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Jetzt sollten wir uns vor allen Dingen an die Arbeitmachen, um uns um die Menschen zu kümmern, die inunserem Land sind, weil sie vor Krieg und Verfolgunggeflohen sind. Herr de Maizière, Sie haben das Integra-tionsgesetz angesprochen . Jetzt müssen wir unsere Kraftdarauf konzentrieren, dass wir aus diesen FlüchtlingenMitschüler und Arbeitskollegen machen .
Darauf sollten wir unsere Energie verwenden, Herr Beck .Recht herzlichen Dank .
Die Kollegin Amtsberg hat nun für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass dasMittel der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten mitt-lerweile nur noch innenpolitisch von Interesse ist oderauch nur noch innenpolitisch begründet wird, ist aus denRedebeiträgen der regierungstragenden Fraktionen her-vorgegangen .
Als wir damals in diesem Kontext über die Sicherheitvon Menschen auf dem Westbalkan gesprochen haben,wurde immer wieder behauptet, es gebe keine systema-tische, keine staatliche Verfolgung . Die Diskriminierun-gen von Roma seien Einzelfälle, die vor allen Dingenaus der Gesellschaft kämen, eben nicht staatlicherseitsbetrieben würden .Dazu hatte meine Fraktion damals schon eine grund-legend andere Auffassung . Aber immerhin gab es hiereine Auseinandersetzung darüber, was Mehrfachdiskri-minierung bedeutet, ob sich aus dieser auch ein Schutz-anspruch oder das Recht auf Asyl ableitet . Diese Mühemachen Sie sich jetzt bei dieser Frage gar nicht mehr,liebe Kolleginnen und Kollegen und Sie, Herr Innenmi-nister . Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf über die vie-len Menschenrechtsverletzungen und über Verfolgungen,kommen aber nicht zu dem richtigen Schluss . Kurzum,Sie erkennen, dass es diese Menschenrechtsverletzun-gen gibt, und trotzdem wollen Sie die Einstufung, weiles eben nicht um die Wahrung der Menschenrechte vorOrt geht, sondern rein um Innenpolitik . Das halten wirfür falsch .
Menschenrechte sind nicht relativierbar . Wenn Verlet-zungen der Menschenwürde erkannt werden, dann müs-sen sie eben auch bekämpft werden und dürfen nicht tot-geschwiegen werden . Herr Innenminister, eine abstrakteAndrohung der Todesstrafe, eine abstrakte Verfolgungvon Homosexuellen? Da kann man wirklich nur sagen:Abstrakt ist das vielleicht für uns hier, wenn wir von au-ßen darauf gucken, aber doch nicht für die Menschen, dievor Ort leben und in dieser Situation bestehen müssen .
Immer wieder rechtfertigen Sie diesen Gesetzentwurfdamit, dass durch ihn eine schnellere Abschiebung undeine schnellere Ablehnung gewährleistet werden sollen .Diese Argumentation ist extrem unehrlich; denn bereitsjetzt gibt es die Möglichkeit, diese Staaten zu priorisie-ren, Anträge schneller zu bearbeiten, ohne diese scharfeKlinge anzusetzen .
Genau das ist es, was wir hier an dieser Stelle kritisie-ren . Denn es hat eben den Nachteil, dass man den Regie-rungen im Maghreb damit das Gefühl vermittelt, dieseMenschenrechtsverletzungen, die vielen Defizite, die wirerkennen und sogar in der Gesetzesbegründung auffüh-ren, seien in Ordnung . Das können wir so nicht machen .So funktioniert keine Menschenrechtspolitik .
In allen drei Ländern wird die Meinungs- und Pres-sefreiheit sicherlich in einem unterschiedlichen Maße,aber in vielen Fällen in schwerwiegender und unverhält-nismäßiger Weise verletzt . In keinem der Staaten ist dieJustiz tatsächlich unabhängig . Verletzungen des Folter-verbots sind in allen drei Staaten generell und durch-gängig verbreitet . Frauen und Mädchen sind in den dreiStaaten nur unzureichend vor Vergewaltigung geschützt .Sexuelle Gewalt wird nicht ausreichend strafrechtlichverfolgt . In Algerien und Tunesien – darauf wurde schonhingewiesen – ist Vergewaltigung weiterhin nicht straf-rechtlich zu ahnden, wenn der Vergewaltiger das Opferheiratet . Diesem Umgang mit Frauen wird mit der Ein-stufung der drei Staaten als sichere Herkunftsstaaten einGütesiegel aufgedrückt . Das ist doch nicht das, was wiruns in der Vergangenheit gerade in diesem Kontext vonFrauenrechten, von Schutz von Frauen in diesen Länderngewünscht haben .
Da müssen wir doch viel schärfer hingucken und sagen:Mit diesen Menschenrechtsverletzungen können wirnicht leben, und wir verstehen es, wenn Menschen ausdiesen Ländern aus diesen Gründen fliehen.Weil in der Debatte hier immer wieder kommt, dassweiterhin sozusagen eine individuelle Prüfung möglichist, muss ich noch einmal sagen: Wenn man von derGrundvermutung ausgeht: „Es liegt keine Verfolgungvor“, dann wird es in der Praxis schwieriger – da könnenSie jeden einzelnen Menschen fragen, der davon betrof-fen ist –, die Verfolgung nachzuweisen, glaubhaft zu ma-chen . Man muss sich in die Menschen hineinversetzen,die keine Erfahrung damit haben, über ihr Schicksal, überdie Erfahrungen, die sie in ihren Ländern gemacht haben,offen zu reden, diese zur Disposition zu stellen und da-rüber zu argumentieren . Sie müssen am Ende MenschenBurkhard Lischka
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davon überzeugen, dass ihnen das tatsächlich passiert ist .Das ist die Realität, mit der wir uns auseinandersetzenwollen .Am Ende des Tages ist die Einstufung als sichere Her-kunftsstaaten mit genau diesem Vorwurf belastet, nämlichdass wir nicht genau prüfen, dass wir für diese Ländereine Vorvermutung haben und dass wir es nicht schaffen,die wenigen Fälle, in denen wirklich Verfolgung vorliegt,herauszufiltern, weil wir einen Deckel draufschieben undsagen: Da liegt eigentlich keine Verfolgung vor . – Manmuss deutlicher und intensiver prüfen und mit wenigerVorverurteilungen arbeiten . Nur so kann man diese Men-schen ausfindig machen und ihnen hier in Deutschlandhelfen .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen .
Unsere Position dazu ist klar – wir haben sie in der
Vergangenheit schon häufiger deutlich gemacht –: Wir
glauben nicht, dass sichere Herkunftsstaaten zu sicheren
Ländern werden, nur weil man sie als solche labelt . Man
muss harte Menschenrechtsarbeit vor Ort leisten, und das
ist die Aufgabe, die wir zu erledigen haben und der Sie
leider nicht gerecht werden .
Das Wort erhält nun die Kollegin Nina Warken für die
CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir debattieren heute schon zum wiederholten Mal überdas Thema „sichere Herkunftsstaaten“, und es ist immerdieselbe Kritik, die hier vorgetragen wird; die Argumen-te sind genannt . Klar ist auch, dass einige Kolleginnenund Kollegen das Konzept der sicheren Herkunftsstaa-ten grundsätzlich ablehnen; das ist auch jetzt wieder klargeworden . Ich möchte gern noch einmal die Gelegenheitnutzen, um mit den wesentlichen Vorwürfen aufzuräu-men .Erstens . Die Einstufung als sicheres Herkunftsland istkeine Maßnahme, um Schutzsuchende ungerecht zu be-handeln oder um zu verhindern, dass sie in DeutschlandSchutz suchen . Im Gegenteil: Die Einstufung als sichereHerkunftsstaaten ist vielmehr eines der wenigen Instru-mente, die wir auf nationaler Ebene haben, um gegenAsylmissbrauch und gegen illegale Migration vorzuge-hen .
Die Zahlen zeigen eindeutig, dass von den vielenMenschen, die aus den Maghreb-Staaten zu uns gekom-men sind, nur ganz wenige wirklich schutzbedürftig sind .Von den rund 2 600 Asylanträgen, über die das BAMF2015 entschieden hat, wurden nur ganze 41 positiv be-schieden . Die Gerichte bestätigen uns, dass nur in ganzwenigen Einzelfällen ein Schutzbedarf besteht . Nur in 7von über 700 Gerichtsentscheidungen wurde das BAMFkorrigiert .Doch trotz dieser geringen Anerkennungschancenkamen letztes Jahr rund 26 000 Asylsuchende aus denMaghreb-Staaten, ein Viertel davon allein im Dezember .Alles spricht dafür, dass dieser Zustrom in Wirklichkeitnichts mit Verfolgung zu tun hat .Als Gesetzgeber ist es doch unsere Aufgabe, liebeKolleginnen und Kollegen, etwas gegen eine solcheZweckentfremdung unseres Asylsystems zu tun .
Sorgen wir mit der Einstufung dafür, dass die Zahl derunbegründeten Asylanträge aus den Maghreb-Staatenzurückgeht; denn sie gehen zulasten unserer Kommu-nen und auch zulasten der Menschen, die unseren Schutzwirklich brauchen .Ich bin mir im Übrigen sicher: Viele der Migrantenaus dem Maghreb wissen auch, dass sie nicht schutzbe-dürftig sind . Viele konnten zum Beispiel nur mithilfe derPolizei dazu gebracht werden, ihren Antrag beim BAMFzu stellen und zur Anhörung zu erscheinen. Häufig wur-de auch versucht, durch Mehrfachregistrierungen anunterschiedlichen Orten das Verfahren künstlich in dieLänge zu ziehen und zusätzliche Leistungen zu erhalten .Ein solches Verhalten – da geben Sie mir sicher recht –lässt doch an der Ernsthaftigkeit dieser Asylanträge starkzweifeln und zeigt, wie notwendig die Einstufung derMaghreb-Staaten ist .
Aber klar ist auch: Für die wenigen Fälle, in denen tat-sächlich ein Schutzgrund besteht, ändert sich mit derEinstufung nichts . Diese Anträge werden auch weiterhinpositiv beschieden werden können .Zweitens, meine Damen und Herren, möchte ich miteinem Irrtum aufräumen: Von der Opposition wird immerwieder behauptet, die Einstufung als sicheres Herkunfts-land würde nichts bringen . Lassen Sie mich deshalbden Gegenbeweis antreten: Die Zahl der unbegründetenAsylanträge aus den Balkanstaaten ist nach der Einstu-fung sehr deutlich zurückgegangen . Die Maßnahmen,die wir mit dem Asylpaket II eingeführt haben wie dieWohnpflicht in einer speziellen Aufnahmeeinrichtung,ein beschleunigtes Verfahren mit zügiger Abschiebung,ein generelles Arbeitsverbot und die Möglichkeit derVerhängung von Wiedereinreisesperren, haben einedeutliche Signalwirkung . Diese brauchen wir auch fürdie Maghreb-Länder, damit hier der falsche Anreiz weg-fällt, aus rein wirtschaftlichen Gründen einen Asylantragzu stellen .
Luise Amtsberg
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Laut BAMF hat bereits die Tatsache, dass wir über die-sen Gesetzentwurf beraten, zu einem Rückgang der Neu-zugänge aus dem Maghreb geführt . Während im Januardieses Jahres noch über 3 000 Menschen kamen, warenes im April nur noch knapp 400 . Wir sehen also, dassdie Maßnahmen, die wir in der Asylpolitik ergreifen, inden Herkunftsländern sehr genau beobachtet werden . Eswäre deshalb ein großer Fehler, wenn wir bei diesem Ge-setz jetzt wanken würden .Drittens ist es mir sehr wichtig, eine Sache ganz deut-lich zu betonen: Deutschland hat sich die Einstufung alssicheres Herkunftsland bei keinem einzigen Staat leichtgemacht . Wir haben letztes Jahr bei den Balkanstaatengenau geprüft, ob die Voraussetzungen für die Einstufungvorliegen . Genauso haben wir das bei Marokko, Tunesi-en und Algerien getan . Dafür machen das Grundgesetz,das europäische Recht und die Gerichte klare Vorgaben:Der Gesetzgeber muss die Gesamtsituation im Land be-urteilen . Keine Bevölkerungsgruppe darf systematisch,generell und durchgängig unterdrückt oder verfolgt wer-den . Das haben wir getan . Die Gesamtsituation wurde inallen drei Ländern anhand mehrerer Erkenntnisquellengründlich beurteilt, darunter auch Berichte von Men-schenrechtsorganisationen wie dem UNHCR, AmnestyInternational oder Human Rights Watch .Auch in der Sachverständigenanhörung und in derAusschussberatung haben wir uns über die Lage infor-miert und diese erörtert . Das Ergebnis ist eindeutig: DieSchwelle zu einer systematischen und durchgängigenVerletzung schwerwiegender Menschenrechte wird inMarokko, Algerien und Tunesien nicht überschritten .Daran ändern auch die Einzelfälle von Verfolgung, etwawegen Homosexualität, nichts, auch wenn wir diese na-türlich kritisieren . Wir stellen mit der Einstufung – daswurde uns auch immer wieder vorgeworfen – ganz be-stimmt keinen Blankoscheck für Menschenrechtsverlet-zungen in den Maghreb-Staaten aus . In der Anhörungging es auch darum, die rechtlichen Voraussetzungenund die bei der Bewertung anzulegenden Maßstäbe zuerörtern . Diesbezüglich hat die Anhörung Folgendes er-bracht: Der Gesetzgeber hat einen Bewertungsspielraum,welche Erkenntnisquellen er für die Beurteilung heran-zieht und wie er die einzelnen Quellen gewichtet . AmEnde muss er sich ein Gesamturteil bezüglich der Um-stände im Land bilden . Es geht nicht darum, jeden Ein-zelfall zu betrachten; denn die Einstufung ist eine gesetz-liche Regelvermutung, die explizit Ausnahmen zulässtund die vom Bundesamt und auch von den Gerichten imEinzelfall widerlegt werden kann . Es geht also geradenicht um eine hundertprozentige Sicherheit, sondern umeine systematische Betrachtung .Liebe Kolleginnen und Kollegen, anhand all dieserVorgaben, haben wir sehr sorgfältig geprüft, ob die Vo-raussetzungen für die Einstufung vorliegen . Ich will auchgar nicht bestreiten, dass es in den Maghreb-Ländernnoch viele Probleme gibt, die bewältigt werden müssen .Fest steht aber: Das Asylrecht ist nicht das richtige Inst-rument, um diese Probleme anzugehen . Und selbst wennwir wollten, können wir die Probleme in diesen Länderndoch nicht mit dem deutschen Asylrecht lösen . Das istAufgabe der Außen- und Entwicklungspolitik .
Deutschland tut ja auch eine ganze Menge und hilftden Maghreb-Staaten . Allein im letzten Jahr haben wirrund 700 Millionen Euro für die Entwicklungszusam-menarbeit mit Marokko, Algerien und Tunesien bereitge-stellt . Diese Mittel wurden für die gezielte Verbesserungder Lebensbedingungen in diesen Ländern eingesetzt,unter anderem für Projekte zur Stärkung von Frauen- undMinderheitenrechten, guter Regierungsführung und derZivilgesellschaft und für die Aus- und Fortbildung vonPolizei und Justiz . Diese Maßnahmen zur Bekämpfungder Fluchtursachen müssen auf europäischer Ebene nochviel stärker gebündelt und intensiviert werden .Meine Damen und Herren, wenn eifrig kritisiert wird,ist es manchmal wichtig, die Dinge anhand der Faktennoch einmal geradezurücken . Deswegen fasse ich zu-sammen: Erstens . Die Einstufung der Maghreb-Staatenist notwendig, um falsche Anreize und die Zahl der unbe-gründeten Asylanträge aus diesen Ländern zu reduzierenund um unsere Kommunen zu entlasten . Zweitens . DieEinstufung bedeutet nicht, dass keine Asylanträge ausdiesen Ländern gestellt werden können . Drittens . Dierechtlichen Voraussetzungen für die Einstufung wurdensorgfältig geprüft und liegen vor .Lassen wir uns deshalb nicht von der Opposition mitihrer Kritik in die Irre führen, sondern stimmen dem Ge-setzentwurf mit breiter Mehrheit zu .Vielen Dank .
Andrej Hunko ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr In-nenminister! Der russische Dichter Alexander Puschkinsagte einmal:Im Prinzip bin ich ja nicht abergläubisch, aber wennwir heute Freitag den 13 . hätten, käme ich doch lie-ber ein andermal wieder .Das Gleiche habe ich heute Morgen gedacht, als ich denGesetzentwurf der Bundesregierung noch einmal gelesenhabe . Heute ist ein schwarzer Freitag für das Grundrechtauf Asyl in Deutschland .
Dieser Gesetzentwurf ist eine weitere Verstümmelungdes Asylrechts in Deutschland .
Nina Warken
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Herr de Maizière, Sie haben die Menschenrechtsver-letzungen in Algerien, Marokko und Tunesien angespro-chen, die es offensichtlich gibt . Ich frage mich: WelcheSignalwirkung geht in diesen Ländern von der Einstu-fung als sicherer Herkunftsstaat aus? Ich glaube, dassdiejenigen, die dort für die Menschenrechtsverletzungenverantwortlich sind, sagen werden: Wir sind jetzt einsicherer Herkunftsstaat . Der Druck ist sozusagen weg .Wir können noch weiter Homosexuelle zum Beispiel inGefängnissen foltern oder Anhänger der Saharauis in derWestsahara in Marokko . Das ist ein falsches Signal fürdie Länder .
Zahlreiche Organisationen – Amnesty International,das Deutsche Institut für Menschenrechte, Pro Asyl, derLesben- und Schwulenverband in Deutschland, auch diebeiden großen Kirchen – haben sehr deutlich gesagt, dasssie diesen Gesetzentwurf ablehnen . Sie legen doch soviel Wert auf die Zivilgesellschaft, auch in anderen Län-dern . Hier ignorieren Sie vollständig die Einschätzungender von mir genannten Organisationen. Ich finde dasarrogant . Ich frage die Bundesregierung: Warum hörenSie nicht auf diese Organisationen? Diese sagen klar: Sieverletzen hier Ihre Sorgfaltspflicht.
Ein Wort an die Grünen: Ich habe die Rede sehr wohlgehört . Ich teile auch die Punkte . Wir haben hier im Bun-destag die missliche Situation: 80 Prozent Regierung,20 Prozent Opposition .
Wir diskutieren hier . Es steht ohnehin alles fest . Aber imBundesrat hätten wir die Möglichkeit, mit Linken undGrünen dieses Gesetz zu stoppen,
weil die Stimmen nicht ausreichen, wenn sich die Re-gierungen, an denen Grüne und Linke beteiligt sind, amEnde enthalten, können wir das Gesetz stoppen . Ich glau-be, es wird wichtig sein, sehr genau hinzuschauen, wieder Bundesrat am Ende im Juni entscheidet . Lasst unsgemeinsam dieses Gesetz stoppen . Es ist ein unwürdigesGesetz . Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten istTeil dieses schäbigen, so genannten Asylkompromissesvon 1993 . Dieses Konzept ist ein falsches Konzept . Wirlehnen es grundsätzlich ab .Vielen Dank .
Ich erteile dem Kollegen Sebastian Hartmann für die
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Deutschland ist und bleibt ein weltoffenes Land, das wiekein anderes in Europa international geachtet wird undseine internationale Verantwortung gerade auch in Kri-senzeiten vorbildlich wahrnimmt . Daran wird auch dieEinstufung dreier Staaten als sichere Herkunftsstaatennichts ändern, meine Damen und Herren .
Reden wir nicht drum herum: Natürlich ist das Kon-zept der sicheren Herkunftsstaaten umstritten . Auch inder SPD-Fraktion haben wir darum gerungen und darü-ber diskutiert, ob man diese Einstufung vornehmen kann .Wir haben im Innenausschuss beraten . Wir haben eineAnhörung durchgeführt . Aber wir werden heute diesemGesetzentwurf zustimmen, weil wir verschiedene guteGründe dafür haben .Wichtig ist vor allen Dingen, dass man zwischen zweiGruppen unterscheiden muss . Wir wollen ein effekti-ves, ein effizientes Asylsystem – effektiv, weil wir dasAsylrecht dem zuweisen, der es wirklich verdient, der alsFlüchtling, als Asylsuchender darauf angewiesen ist, inunserem Rechtsstaat Asyl zu erhalten . Und er wird wei-terhin Asyl erhalten . Davon zu unterscheiden ist derjeni-ge, der dieses System nutzt, um ein Bleiberecht zu kons-truieren, obwohl er eigentlich ein anderes Rechtssystembräuchte, vielleicht aber auch ganz andere Gründe hat .Der wird – auch unabhängig von der Einstufung als si-cherer Herkunftsstaat – kein Bleiberecht über das Asyl-recht konstruieren können . Der Verantwortung, hier zuunterscheiden, müssen wir gemeinsam gerecht werden .Man muss auch mit einem weiteren Punkt aufräumen .Insofern sage ich – das habe ich auch in erster Lesunggesagt –: Lassen Sie uns doch von mutmaßlich sicherenHerkunftsstaaten sprechen .
Es geht nämlich um eine widerlegbare Vermutung derVerfolgungsfreiheit . Es wird nach wie vor darum ge-hen, zu belegen, dass man verfolgt ist . Das ist genau derPunkt, den wir beachten werden .Wir haben uns die Punkte, die der Bundesrat einge-bracht hat, zu eigen gemacht . Wir haben sie in der An-hörung thematisiert . Es sind bestimmte Gruppen be-nannt worden – ich benenne sie konkret: die Lesben undSchwulen –, die einer Verfolgung ausgesetzt sind . WirDeutschen sollten uns die Einstufung da nicht zu einfachmachen; denn wir selbst haben unser Strafrecht erst 1994entsprechend angepasst und sind noch lange nicht amPunkt vollständiger Gleichberechtigung angekommen,liebe Kolleginnen und Kollegen .
Andrej Hunko
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Insofern werden wir das auch nicht schematisch machen .Es ist eine widerlegbare Vermutung .Wenn wir jetzt über das Verfassungsgerichtsurteil von1996 sprechen, dann müssen wir es richtig einordnen undeinen Unterschied erkennen: Wir haben nun eine verän-derte Situation, weil wir im Oktober mit den Änderun-gen im Asylrecht eine Verfeinerung der Zusammenarbeitzwischen der Regierung auf der einen Seite und dem Par-lament auf der anderen Seite vorgenommen haben . DasSystem der sicheren Herkunftsstaaten ist nicht mehr mitder Rechtslage zu vergleichen, die bestand, bevor wir dieAsylverfahren beschleunigt haben . Denn die Liste dersicheren Herkunftsstaaten wird nun einer regelmäßigenÜberprüfung unterzogen, das erste Mal schon im Okto-ber 2017 . Die Hürde für die Aufnahme in die Liste dersicheren Herkunftsstaaten liegt viel höher als die Hürdefür die Streichung von dieser Liste; denn die Streichungist ein einfacher Schritt seitens der Regierung . Es wirdein engeres Monitoring der Menschenrechtslage geben . –Der Innenminister nickt . Das ist genau der Punkt, auf denwir gedrängt haben . Das Signal hinsichtlich der sicherenHerkunftsstaaten ist nun ein anderes; das Streichen vonder Liste ist viel schneller geschehen als die Aufnahme indie Liste . Wir können darauf stolz sein, dass wir das alsParlament durchgesetzt haben, auch dank der Anhörungund der Diskussionen im Innenausschuss .
Man kann das nicht mehr so schematisch betrachten .Die SPD hat sich diese Diskussion nicht leicht gemacht .Wir unterscheiden zwischen den Gruppen und legenfest, wer Asyl bekommen muss . Wir wissen angesichtsder Zahlen Folgendes – in meinem Heimatland Nord-rhein-Westfalen wurde es sehr deutlich –: Es gab über500 Fälle, in denen Menschen aus den Maghreb-Staatengar nicht versucht haben, einen Asylantrag zu stellen,die bei der Überprüfung schon gesagt haben, das sei garnicht der Punkt, den sie erreichen wollten . In diesen Fäl-len wurde sehr schnell eine Entscheidung gefällt . Es gehtum eine Beschleunigung der Asylverfahren für dieseGruppe . Denn alle Menschen in diesem Land verlassensich darauf – ich sage bewusst: alle Menschen –, dass wirein effizientes System haben, bei dem schnell klar wird,ob man Recht auf Asyl hat oder nicht . Das gilt für dieBürgerinnen und Bürger dieses Landes, aber es gilt auchfür die Flüchtlinge, die schnell eine klare Aussage überihr Bleiberecht und ihre Integrationschancen brauchen .Auch für diese Menschen beschleunigen wir das Asyl-verfahren;
um diese Menschen geht es doch auch . Es geht nicht umdie Gruppe, die dieses Recht ausnutzen will, obwohl esihnen nicht zusteht .Ein weiterer Punkt ist: Ich möchte mich ausdrücklichbei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Ent-scheidern des BAMF bedanken . Ich habe hohen Respektvor den Menschen, die die Aufgabe haben, über Schick-sale zu entscheiden . Diesen Punkt haben wir thematisiert .Wir haben gefragt: Wenn wir die Regelvermutung einfüh-ren, wie genau prüft ihr, dass keine Verfolgung vorliegt?Wie klärt ihr das mit dem Dolmetschen? Überprüft ihrdie medizinischen Angaben? Die Aussagen der Mitarbei-ter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – daskann man im Protokoll nachlesen – sind sehr eindeutig:Es wird an dieser Stelle keine Verfahrensbeschleunigunggeben, sondern eine schnellere Klärung in Gruppen, aberderjenige, der seine Gründe vorträgt, kann nach wie vorsein Schutzrecht beanspruchen .Ein Indikator in der Debatte über die Einstufung alssicherer Herkunftsstaat war die Frage: Wie hoch ist dietatsächliche Schutzquote der Menschen, die aus denMaghreb-Staaten kommen? In absoluten Zahlen: 1, 22oder auch um die 40, wenn wir uns die entschiedenenFälle im Jahr 2015 anschauen . Aber erst wenn wir wis-sen, dass die Schutzquote in absoluten Zahlen nicht sinkt,obwohl die Zahl der Einreisen deutlich zurückgegangenist, weil man nicht mehr den Umweg des Asylantrags ge-hen muss, wenn man keinen Asylgrund hat, um ein Blei-berecht in Deutschland zu konstruieren, dann haben wirein Indiz dafür, dass die Einstufung richtig war .
Derjenige, der vorher in der Einstufung war, wird es dannauch bleiben . Das werden wir im Zuge des Monitoringprüfen .Wir verlassen uns darauf, dass die Bundesregierungden Prozess anders anlegt als bei der Einstufung; dennes ist viel einfacher, von der Liste gestrichen zu werden,als in sie aufgenommen zu werden . Daran werden wir alsSPD-Fraktion dieses Verfahren messen . Denn die Ein-stufung zu einem sicheren Herkunftsstaat ist eine Ein-stufung auf Widerruf . Das ist der Unterschied bei dieserÄnderung des Asylgesetzes . Wir haben das Zug um Zuggemacht .
Natürlich standen für die SPD-Fraktion auch andereAspekte im Mittelpunkt, nämlich dass es rechtssichereVerfahren gibt, dass schnelle Entscheidungen getroffenwerden und dass denjenigen, die eine Bleibeperspektivehaben, ein schneller Zugang zu Integrationsmaßnahmengewährt wird . Deswegen sagen wir immer: Wir brau-chen ein Paket . Wir brauchen ein Integrationsgesetz,aber auch mehr Personal beim Bundesamt für Migrationund Flüchtlinge, damit mehr Entscheidungen schnell undrechtssicher getroffen werden können . Wir haben eineÜberprüfung durch unabhängige Gerichte . Deutschlandist ein Rechtsstaat – Russland ist erwähnt worden –, undwir verlassen uns darauf, dass die Entscheidungen ent-sprechend überprüft werden .
Wir haben uns die Überprüfungsquoten angesehen .Im Wesentlichen bestätigen sie die Entscheidungen desBundesamtes für Migration und Flüchtlinge . Das sprichtfür die Entscheidungsqualität . Auch das werden wir nachder Einstufung zum sicheren Herkunftsstaat weiter über-prüfen .
Sebastian Hartmann
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Unser Fokus liegt klar auf effektiven und effizientenVerfahren . Wir haben uns die Entscheidung nicht leichtgemacht, aber wir werden sie heute treffen, weil wir derfesten Überzeugung sind: Wir sorgen für eindeutige ge-setzgeberische Grundlagen . Das Zusammenspiel zwi-schen Regierung und Parlament wird weiter verfeinert .Die Listen werden überprüft und gegebenenfalls gekürzt,wenn es sein muss .In diesem ausführlichen Prozess haben wir uns dieStellungnahme des Bundesrates zu eigen gemacht; dennder Bundesrat muss dem Ganzen auch noch zustimmen .Wir haben seine Rechte besonders betont, auch als Er-gänzung zur Gegenäußerung der Bundesregierung . Wirhaben gesagt: Genau darauf wollen wir den Fokus rich-ten . Es geht darum, dass Menschen ein Recht auf Asylhaben, wenn sie seiner bedürfen .Wenn wir als SPD heute zustimmen, dann tun wir daserstens, weil die Vereinbarungen im Paket getroffen wur-den und wir das Gesamtkonzept im Blick haben .Zweitens . Wir erhalten damit ein Mittel zur Verfah-rensvereinfachung und Klärung, um den Menschen, diekein Asyl bedürfen, klar zu sagen: Ihr habt keine Chance .Ihr müsst in den Ankunftszentren verbleiben .Drittens . Zur Debatte über die sicheren Herkunfts-staaten gehört auch, festzustellen: Die Einstufung in si-chere Herkunftsstaaten ist kein Allheilmittel . Es reichtnicht aus, die Liste durch weitere Staaten zu ergänzen .Vielmehr muss eine entsprechende Diskussion in den be-troffenen Staaten geführt werden, damit die Menschenwissen, welche Chancen sie in Bezug auf das Einwan-derungs- oder Asylrecht haben oder eben nicht . Vor allenDingen – deswegen die Reise des Innenministers in dieMaghreb-Staaten – müssen die Rückführungen organi-siert werden . Wir haben damit in den jeweiligen Staateneine entsprechende Debatte ausgelöst .Viertens . Wir verlassen uns darauf, dass das Monito-ring der Bundesregierung weiter verfeinert und den vonuns zugrundegelegten Anforderungen gerecht wird .Fünftens und abschließend . Lassen Sie uns die Vorla-ge des ersten Berichts der Bundesregierung über die Ein-stufung der sicheren Herkunftsstaaten im Oktober 2017abwarten . Lassen Sie uns abwarten, ob das Instrumentso wirkt, ob die Schutzquote in absoluten Zahlen nichtsinkt, ob die Zuerkennung nach wie vor rechtssicher er-folgt und ob das Instrument zu einer Verfahrensvereinfa-chung führt .
Wir müssen an dieser Stelle auch sagen: Ja, wir habendiese Liste ergänzt; aber damit ist es auch gut, weil wirjetzt andere Dinge in den Mittelpunkt rücken müssen,und zwar die Integration und die Entwicklungszusam-menarbeit, die bereits angesprochen worden ist . Wir stel-len uns ausdrücklich dahinter, weil wir Fluchtursachenvor Ort bekämpfen müssen .Wir werden als Bund unserer Verantwortung gerecht,wenn wir das Verfahren rechtssicher ergänzen und dafürsorgen, dass auch nach der Einstufung als sichere Her-kunftsstaaten die widerlegbare Vermutung in unseremRechtsstaat im Einzelfall genutzt werden kann, sodasswir uns nicht zu scheuen brauchen, diesem Gesetzent-wurf heute zuzustimmen .Vielen Dank .
Volker Beck bekommt nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sinduns einig hier im Haus: Wir wollen schnelle Verfahren,schnelle Entscheidungen von hoher rechtsstaatlicherQualität . Aber wir wollen diese Verfahrensbeschleuni-gung nicht um den Preis falscher menschenrechtlicherSignale und schlechterer Chancen für die Asylrechtsge-währung bei wirklich Verfolgten .
Die Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten erfolgtnicht im verfassungsrechtlichen Vakuum, sondern dabeisind die Vorgaben des Grundgesetzes und des europäi-schen Rechts zu beachten . Artikel 16 a Absatz 3 Satz 1Grundgesetz sagt: Aufgrund der Rechtslage, der Rechts-anwendung und der allgemeinen politischen Verhältnissemuss in Ländern, die als sichere Herkunftsstaaten einge-stuft werden, gewährleistet sein, „daß dort weder politi-sche Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigendeBestrafung oder Behandlung stattfindet“. – Ich will Ihnenan zwei Beispielen deutlich machen, dass das für diesedrei Länder nicht gilt .Ein Beispiel ist die Westsahara, die seit Jahrzehntenvon Marokko besetzt ist . Die Vereinten Nationen sindvor Ort, um den Waffenstillstand zu überwachen . Wirhaben der Bundesregierung mehrere Beispiele für De-monstrationen in der Westsahara für die Unabhängigkeitbenannt, bei denen die Demonstranten mit brutaler Po-lizeigewalt zusammengeprügelt wurden . Wir haben dieBundesregierung gefragt, ob sie eine Demonstration seit1975 benennen kann, bei der das anders abgelaufen ist .Die Bundesregierung musste bekennen, dass es ihr nichtbekannt ist, dass eine Demonstration frei von Gewaltstattgefunden hat . Die Bundesregierung versucht, uns inSicherheit zu wiegen, indem sie sagt: Bei Saharauis istder Status der sicheren Herkunftsländer nur dann anzu-wenden, wenn sie die marokkanische Staatsangehörig-keit haben . – Das hat man auf die Frage der KolleginLuise Amtsberg geantwortet . Ja, wie kommt denn einSaharaui nach Europa? Wenn er nicht durch Mauretanienflieht, muss er durch Marokko. Dazu muss er sich denmarokkanischen Pass besorgen, und damit fällt er unterdie Regelung der sicheren Herkunftsländer . Es kann dochnicht ernsthaft angenommen werden, dass die VereintenNationen in der Westsahara präsent sind, weil es dort kei-ne politische Verfolgung, weil es dort keinen kalten Bür-Sebastian Hartmann
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gerkrieg gibt . Wir treten die Menschenrechte mit Füßen,wenn wir diesen Blankoscheck ausstellen .
Das, was auf die Betroffenen zukommt, ist keine Pe-titesse . Es geht um verkürzte Klagefristen, es geht umBeschränkungen im Verfahren, es geht darum, dass maneine Vermutung widerlegen muss, also höhere Beweis-lasten hat, und nicht nur um die Fragen Lagerzwang,Residenzpflicht und Arbeitsverbot, was integrationspo-litisch problematisch ist, weil die Leute im Zweifelsfalleben doch mehrere Monate hier bleiben . Meine Damenund Herren, überlegen Sie sich gut, was Sie an diesemPunkt tun .Zweitens . Allein ein Blick auf die Situation der Ho-mosexuellen in diesen drei Ländern würde ausreichen,um ihre Einstufung als sichere Herkunftsländer abzuleh-nen . In allen drei Ländern steht im Strafgesetzbuch expli-zit, dass gleichgeschlechtliche Handlungen unter Strafestehen . Das steht nicht nur dort so, sondern das wird auchreal angewandt .Amnesty International hat darauf hingewiesen, dassim Mai und im Juni 2015 in Oujda und Rabat fünf Män-ner unter anderem wegen unsittlichen Verhaltens undhomosexueller Handlungen zu Gefängnisstrafen vonbis zu drei Jahren verurteilt wurden . In Tunesien, demLand, das wir durch Kritik an seiner Menschenrechtslagenicht beleidigen sollen, wie der Minister meint, wurdenim Jahr 2015 mehrere Männer wegen homosexuellerHandlungen zu Haftstrafen verurteilt . Die Männer wur-den vorher gegen ihren Willen anal untersucht; das giltnach der europäischen Rechtsprechung als Folter undunmenschliche Behandlung . – Das sind keine Petitessen .Herr Minister, das sollten wir nicht kleinreden . Da solltenwir klar sagen: Das verstößt gegen die Menschenrechte,das akzeptieren wir nicht, und das unterstützen wir nicht .
Herr Kollege Beck .
Ich komme zum Schluss . – Der Europäische Gerichts-
hof hat 2013 ausdrücklich festgestellt, dass Homosexu-
alität als Verfolgungsgrund gilt, auch wenn man durch
verstecktes Leben Verfolgungshandlungen womöglich
minimieren oder abwenden kann . Man kann von Homo-
sexuellen genauso wenig wie von Christen verlangen,
dass sie ihre Identität verheimlichen . Wenn sie wegen
ihrer Identität verfolgt werden, haben sie Anspruch auf
Schutz .
Dass Sie von der Bundesregierung in Ihrer Gegenäu-
ßerung beim Thema Algerien das den Menschen nahe-
legen –
Herr Kollege Beck .
– und dass das BAMF jüngst in einem Einzelfall bei
einem Syrer mit solch einer Begründung ablehnend ent-
schieden hat, zeigt, dass wir ein Rollback beim Thema
„homosexuelle Flüchtlinge und deren Schutz“ haben .
Meine Damen und Herren von der SPD, machen Sie
keine Veranstaltung zu Aktionsplänen gegen Homopho-
bie, sondern stimmen Sie gegen diesen Gesetzentwurf .
Dann tun Sie etwas gegen Homophobie . Das wäre glaub-
würdig .
Nun erhält der Kollege Michael Frieser das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es geht in keiner Weise darum, Menschenrechts-verletzungen kleinzureden . Das Gegenteil ist der Fall .Wer ein treffsicheres, ein funktionsfähiges, ein an Men-schenrechten orientiertes Asylsystem braucht und erhal-ten möchte, der muss sich notwendigerweise darüberGedanken machen, wie er dieses Asylsystem tatsächlichdurchführbar und organisierbar hält . Deutschland musssich bei dieser Frage wirklich vor niemandem auf derWelt verstecken . Wir haben ein Asylsystem, in dem allesso gründlich, so tief und so genau aufgearbeitet wird wienirgendwo sonst in der Welt . Genau dabei soll es auchbleiben .Was wir heute machen, ist eben gerade keine Symbol-politik nach innen, sondern es ist sehr wohl ein Signal .Denn wir sagen deutlich: Hier handelt es sich nur darum,dass wir eine Regelvermutung – ein fürchterliches Wort;was bedeutet es? – zulassen . Die eingängige, absolutgefestigte Rechtsprechung sowohl des Bundesverfas-sungsgerichtes als auch des Europäischen Gerichtshofesbesagt, dass bei Ländern, in denen keine durchgängigeund keine generelle Verfolgung herrscht, durchaus dieMöglichkeit besteht, die Regelvermutung, dass es sichum sichere Herkunftsstaaten handelt, aufzustellen .Seien wir doch bitte einmal ehrlich: Die Zahlen zeigen,dass die Anerkennungsquoten gerade im Hinblick auf Al-gerien, Marokko und Tunesien von 0 Prozent bis geradeeinmal 2 Prozent reichen . Was bedeutet das? Das bedeu-tet, dass tatsächlich Prüfungen der Einzelfälle stattfinden.Dadurch wird gewährleistet, dass eine Verfolgung, wennes sie gibt, auch festgestellt wird . Eine Prüfung wirdalso definitiv auch nach der Einstufung als sicherer Her-kunftsstaat möglich sein . Das wollen wir . Das will unserVolker Beck
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Rechtsstaat . Das sind wir unserem Asylrecht nach demGrundgesetz auch schuldig . Dabei bleibt es .
Ich bin mir nicht ganz sicher, warum Sie aus derOpposition versuchen, die Öffentlichkeit darüber zutäuschen, und behaupten, dass es sich hier um eine Ab-schaffung des Asylverfahrens im Einzelfall handelt . DasGegenteil ist der Fall . Wir müssen auch einmal sehen,was die Menschen, die aus diesen Ländern kommen, zuihren Asylverfahren beitragen . In den seltensten Fällenwird überhaupt ein Verfolgungsgrund nach dem Asyl-recht vorgetragen . In den seltensten Fällen erscheinendie jeweiligen Antragsteller in der Anhörung überhaupt .Das heißt natürlich – das ist menschlich verständlich –,dass sie einen anderen Zweck für ihre Reise bzw . Fluchtnach Deutschland haben . Niemand will darüber den Stabbrechen; aber eine Frage für das Asylverfahren ist dasselbstverständlich nicht .Entscheidend war – das war mit Sicherheit nicht ganzleicht –, dass wir diese Länder in den Verhandlungen aneine Selbstverständlichkeit erinnert haben . Wir habendie Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerienan die Pflicht zur Rücknahme ihrer Bürger erinnert. Manmuss deutlich sagen, dass der Innenminister auf seinerReise etwas sehr Unangenehmes getan hat: Er hat dieLänder nämlich daran erinnert, dass es eine völkerrecht-liche Verpflichtung gibt. Letztendlich war das aber auchentscheidend und wichtig, um diesen Ländern bewusstzu machen, dass es einen Prozess in Europa, in Deutsch-land gibt, bei dem man sich auch mit der Situation derMenschenrechte in diesen Ländern genau beschäftigt .Ich sage es an dieser Stelle noch einmal deutlich, HerrInnenminister: Unseren herzlichen Dank für Ihre nichteinfache Reise in diese Länder, die Sie unternommen ha-ben, um die Menschen davon zu überzeugen, dass diesesThema entscheidend und wichtig ist .
Und da bin ich bei der außenpolitischen Komponen-te . Es ist grundfalsch, zu glauben, es betreffe nur die In-nenansicht, wenn sich die Politik mit dem Asylsystembeschäftigt . Wir haben über die Fehlanreize und die Si-gnale nach außen schon diskutiert . Aber die Reise desInnenministers in diese Länder bedeutet doch, dass wirdort einen Prozess mit anstoßen und dafür sorgen, dassohnehin unbestreitbare Menschenrechtsverletzungen imEinzelfall thematisiert werden . Hier wollen wir auch diedeutsche Öffentlichkeit nicht täuschen . Genau darumgeht es: Auch mit Blick auf unser Asylsystem wollenwir darauf hinweisen, dass wir die Entwicklung dieserLänder durchaus betrachten müssen . Unsere Hilfe undunsere Entwicklungspolitik müssen einen wesentlichenAnreiz darstellen, die Anstrengungen dieser Länder, diedurchaus vorhanden sind, zu unterstützen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht ebengerade nicht darum, diese Länder in irgendeiner Art undWeise mit einem Qualitätsstempel für eine unverbrüch-liche demokratische Entwicklung zu versehen . Es gehtnatürlich darum, unser Asylsystem funktionsfähig zuhalten . Es geht aber auch darum, durch das Zusammen-wirken der Politik aus unserem Land heraus deutlich zumachen, dass wir Fehlanreize und den Migrationsdruckreduzieren . Am Ende des Tages geht es natürlich auchdarum, dass wir helfen bzw . Hilfestellung leisten .Wir haben uns diesen Gesetzentwurf nicht leicht ge-macht . Ich glaube, auch diese Diskussion heute hat ge-zeigt, dass wir den Mitarbeitern beim BAMF und beimInnenministerium mit Blick auf die Verfahren sagen kön-nen: Es wird eine Einzelfallprüfung geben, und es wirdnach wie vor eine Qualität des Verfahrens geben . – Aberam Ende des Tages müssen wir zur Kenntnis nehmen,dass dieser Gesetzentwurf nicht nur angemessen, son-dern auch notwendig, nach den Grundsätzen des Bundes-verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofesverhältnismäßig und letztlich die einzig richtige Antwortist, um unser Asylsystem treffsicher und, ja, auch humanzu halten .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Wir kommen nun zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzeszur Einstufung der drei Länder Volksrepublik Algerien,Königreich Marokko und Tunesische Republik als siche-re Herkunftsstaaten. Der Innenausschuss empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/8311,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Druck-sache 18/8039 anzunehmen . Ich darf diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichenbitten . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenom-men .Ich weise darauf hin, dass mir zahlreiche persönlicheErklärungen zur Abstimmung vorliegen, die wir wie üb-lich dem Protokoll beifügen .1)Dritte Beratungund Schlussabstimmung . Wir stimmen nun über denGesetzentwurf namentlich ab, und ich bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätzeeinzunehmen . – Ich eröffne die Schlussabstimmung überden Gesetzentwurf .Ist ein Mitglied im Hause anwesend, das seine Stimm-karte noch nicht abgegeben hat? – Da zeigt sich doch ge-legentlich der Vorzug der Mitgliedschaft in der Fußball-mannschaft des Bundestages, dass man auch für einensolchen Schlussspurt die nötige Kondition mitbringt .Vergleichbare Fälle sind nicht erkennbar . Dann schlie-ße ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen . DasErgebnis der Abstimmung teilen wir dann später mit .2)1) Anlagen 2 bis 42) Ergebnis Seite 16876 DMichael Frieser
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Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf der Drucksache 18/8425 . Wer stimmt für diesen Ent-schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Das hat nicht gereicht, Frau Haßelmann; derEntschließungsantrag ist abgelehnt . – Die Fraktion DieLinke legt allergrößten Wert darauf, dass ihre Zustim-mung zum nicht erfolgreichen Entschließungsantrag derFraktion der Grünen im Protokoll vermerkt wird, was mitdieser Bemerkung sichergestellt ist, Frau Sitte .Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausErnst, Karin Binder, Susanna Karawanskij, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVorläufige Anwendung des CETA-Abkom-mens verweigernDrucksache 18/8391b) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Wirtschaft undEnergie zu dem Antrag der Ab-geordneten Klaus Ernst, Jan van Aken, HerbertBehrens, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEFür eine lebendige Demokratie – Fairer Han-del statt TTIP und CETADrucksachen 18/6818, 18/8128Auch für diese Aussprache sind nach einer interfrakti-onellen Vereinbarung 60 Minuten vorgesehen . – Das istunbestritten . Dann verfahren wir so .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Klaus Ernst .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Heute ist Freitag, der 13 ., und wir reden überdas Gebaren der Bundesregierung zur Inkraftsetzung vonCETA . Das passt irgendwie .CETA ist kein gutes Abkommen . Es ist ein Freihan-delsabkommen, dessen oberstes Ziel die weitere Libera-lisierung des Handels ist – Artikel 2 .1 . Es enthält eineStillstandsklausel, nach der einmal Liberalisiertes nichtmehr zurückgenommen werden kann – Artikel 2 .6 . ImÜbrigen: Es beinhaltet Sonderrechte für Unternehmendurch Schiedsgerichte . Egal ob sie privat oder öffentlichsind: Es sind Sonderrechte .
Meine Damen und Herren, wenn Sie wirklich höhereund bessere Standards wollen würden, dann würde es rei-chen, ein internationales Verbraucherschutzabkommenauf den Weg zu bringen . Aber das wollen Sie ja geradenicht .
Heute geht es allerdings um die Frage, wie Sie dasinternationale Abkommen CETA gegen den Willen derBürger – die Mehrheit ist inzwischen dagegen; das weißman – durchsetzen wollen .
Gerade jetzt ist Wirtschaftsminister Gabriel imEU-Ministerrat in Brüssel . Er will das Signal an die Öf-fentlichkeit senden, dass dieses Abkommen als gemisch-tes Abkommen bewertet wird . Was wäre die Folge? DieFolge wäre, dass auch die nationalen Parlamente demAbkommen CETA zustimmen müssten, bevor es in Kraftgesetzt wird . Es soll also der Eindruck erweckt werden,dass die nationalen Parlamente beteiligt werden, und al-les ist gut .Leider – guckt genau hin, liebe Kolleginnen und Kol-legen! – ist das alles nur Show; denn im selben Momentmacht die Bundesregierung Druck, um das AbkommenCETA möglichst schnell vorläufig anzuwenden. Wasbedeutet das? Das Abkommen soll angewendet werden,bevor die nationalen Parlamente diese Frage ausreichendberaten und abgestimmt haben . Das ist eine Aushebelungder Parlamente .
Der unerträglichen Geheimniskrämerei um diesesAbkommen, die einige von Ihnen mit Freude verteidigthaben, folgt also noch ein Schritt mehr, nämlich die Aus-schaltung der nationalen Parlamente . Das ist nicht hin-nehmbar .
Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass dieseUmgehung der nationalen Parlamente verhindert wird .Eine Inkraftsetzung von CETA darf es erst geben, wenndie nationalen Parlamente darüber beraten haben . Sonstentmachten wir uns hier selber .Ich will das erklären. Durch eine vorläufige Anwen-dung sollen die Vertragsteile, die in den Kompetenzbe-reich der EU fallen, noch vor dem Ratifizierungsprozessdurch die Mitgliedstaaten und allein durch Beschluss desMinisterrates in Kraft treten . Als Entgegenkommen darfdas Europäische Parlament davor über CETA abstim-men . Übrigens: Ein Recht darauf hat es nicht .
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Lesen Sie die entsprechenden Bestimmungen nach!Doch bisher ist äußerst umstritten, welche Bereiche inden Kompetenzbereich der Mitglieder fallen und welchenicht . Das ist vollkommen offen . Die EU sagt nach wievor: „Das ist alles unser Ding“, und die Nationalstaatenhaben eigentlich gar nichts zu melden .Auch die Bundesregierung kann dazu weiterhin keineklare Auskunft geben – und das, obwohl seit Ende Fe-bruar der endgültige Vertragstext vorliegt . Die Bundesre-gierung ist der Auffassung, dass jedenfalls die CETA-Be-stimmungen zum Investitionsschutz und zur Beseitigungvon Investitionsstreitigkeiten auch die Zuständigkeitender Mitgliedstaaten berühren . Der Juristische Dienst desRates der Europäischen Union ist wiederum gegenteili-ger Auffassung . Undurchsichtiger geht es wirklich kaum .Wir sehen: CETA ist ein äußerst kompliziertes undkomplexes Abkommen .
Ein Aufsplitten in „EU only“-Teile und gemischte Teileist weder sinnvoll noch möglich .
Auch Professor Mayer von der Universität Bielefeldschreibt in einem Gutachten, das übrigens im Auftrag desBundeswirtschaftsministeriums erstellt wurde:Wie ein Tropfen Pastis ein Glas Wasser trübt, ma-chen schon einzelne Teilaspekte eines Abkommensdas Abkommen als Ganzes von der Zustimmung derMitgliedstaaten abhängig .Ein Gutachten für das Wirtschaftsministerium . – Wennman dem folgt, ist vollkommen klar, dass die Bundes-regierung im Rat keiner vorläufigen Anwendung einessolchen Abkommens zustimmen kann .
Aber es kommt noch dicker . Die EU-Kommission, dieoffenlässt, ob CETA als Ganzes nicht doch in alleinigerEU-Zuständigkeit liegt, will diese Frage mit einem Gut-achten vom Europäischen Gerichtshof klären lassen, undzwar auf der Basis des Freihandelsabkommens mit Sin-gapur . Dieses Gutachten soll es allerdings erst nächstesJahr geben. Vorher jedoch soll über eine vorläufige An-wendung entschieden werden . Was ist das denn, meineDamen und Herren? Da merkt man doch, dass die Leutehier hinter die Fichte geführt werden . Wenn wir da mit-machen, dann muss ich wirklich sagen: Das versteht keinMensch mehr .
Dieses Abkommen – das kommt hinzu – ist bei denBürgern höchst umstritten . Es wird gerade nach der Ge-heimniskrämerei eine Mitwirkung der Parlamente er-wartet. Aber die vorläufige Anwendung schafft Fakten,bevor die nationalen Parlamente entscheiden dürfen . Waswürde passieren, wenn CETA nach einer vorläufigen In-kraftsetzung in den nationalen Abstimmungen durch-fällt? Glauben Sie, dass dann die Abkommen wiederrückholbar sind? Wenn man eine Schleuse öffnet, fließtdas Wasser durch; das bekommt man nicht mehr zurück .Genauso ist es bei einem solchen Abkommen .Meine Damen und Herren, wir erwarten eine klareHaltung der Bundesregierung, dass es keine vorläufigeAnwendung von CETA gibt . Wir erwarten, dass das deut-sche Parlament dem Minister in dieser Frage den Rückenstärkt und deshalb unserem Antrag zustimmt: Keine vor-läufige Anwendung von CETA!
Bevor der nächste Redner das Wort erhält, will ich dasvon den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittel-te Ergebnis der namentlichen Abstimmung über denEntwurf eines Gesetzes zur Einstufung der drei genann-ten Länder als sichere Herkunftsstaaten bekannt geben:abgegebene Stimmen 570 . Mit Ja haben gestimmt 424,mit Nein haben gestimmt 143, und enthalten haben sich3 Kolleginnen und Kollegen . Damit ist der Gesetzent-wurf angenommen .Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 572;davonja: 424nein: 145enthalten: 3JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerThomas BareißGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr . André BergheggerDr . Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr . Maria BöhmerNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr . Reinhard BrandlHelmut BrandtDr . Ralf BrauksiepeHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzIris EberlJutta EckenbachDr . Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr . Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr . Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr . Astrid FreudensteinKlaus Ernst
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Dr . Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr . Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr . Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannDr . Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr . Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr . Stefan HeckHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingDr . Heribert HirteChristian HirteAlexander Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr . Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr . Franz Josef JungAndreas JungXaver JungDr . Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr . Stefan KaufmannDr . Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr . Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr . Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr . Karl A . LamersDr . Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr . Silke LaunertPaul LehriederDr . Katja LeikertDr . Philipp LengsfeldDr . Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr . Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr . Claudia Lücking-MichelDr . Jan-Marco LuczakKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr . Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr . Michael MeisterDr . Angela MerkelJan MetzlerMaria MichalkDr . h .c . Hans MichelbachDr . Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerVolker MosblechElisabeth MotschmannDr . Gerd Müller
Stefan Müller
Dr . Philipp MurmannDr . Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr . Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr . Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr . Martin PätzoldUlrich PetzoldDr . Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr . Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJohannes RöringDr . Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr . Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerHeiko SchmelzleGabriele Schmidt
Ronja SchmittPatrick SchniederDr . Ole Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr . Klaus-Peter SchulzeUwe SchummerChristina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr . Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr . Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinSebastian SteinekeChristian Frhr . von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr . Sabine Sütterlin-WaackDr . Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr . Hans-Peter UhlDr . Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr . Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar Westermayer
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Peter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschOliver WittkeBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr . Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensHeinz-Joachim BarchmannDr . Katarina BarleyDoris BarnettDr . Matthias BartkeSören BartolUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr . Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertPetra CroneBernhard DaldrupDr . Daniela De RidderSabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißMichaela EngelmeierPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr . Johannes FechnerDr . Fritz FelgentreuElke FernerChristian FlisekGabriele FograscherDr . Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika GlöcknerUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornMetin HakverdiUlrich HampelSebastian Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr . Eva HöglChristina Jantz-HerrmannFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerLars KlingbeilBirgit KömpelDr . Hans-Ulrich KrügerChristine LambrechtDr . Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr . Birgit Malecha-NissenCaren MarksDr . Matthias MierschSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr . Rolf MützenichDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryDetlev PilgerSabine PoschmannFlorian PostAchim Post
Dr . Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr . Sascha RaabeDr . Simone RaatzMartin RabanusGerold ReichenbachDr . Carola ReimannPetra Rode-BosseDennis RohdeDr . Martin RosemannDr . Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Bernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr . Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr . Nina ScheerMarianne SchiederDr . Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückClaudia TausendMichael ThewsDr . Karin ThissenCarsten TrägerUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr . Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesNeinSPDUlrike BahrKlaus BarthelMarco BülowDr . Lars CastellucciDr . Karamba DiabyDr . Ute Finckh-KrämerMichael GroßRita Hagl-KehlCansel KiziltepeDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeHilde MattheisKlaus MindrupSönke RixSusann RüthrichSarah RyglewskiDagmar Schmidt
Elfi Scho-AntwerpesFrank SchwabeChristoph SträsserKerstin Tack
DIE LINKEJan van AkenDr . Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W . BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr . Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr . Gregor GysiDr . André HahnHeike HänselDr . Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph Lenkert
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Michael LeutertStefan LiebichDr . Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzCornelia MöhringNorbert Müller
Dr . Alexander S . NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr . Petra SitteKersten SteinkeDr . Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr . Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Dr . Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr . Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr . Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr . Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr . Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr . Gerhard SchickDr . Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr . Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr . Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr . Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr . Valerie WilmsEnthaltenSPDAndreas RimkusSwen Schulz
Ewald SchurerNächster Redner ist der Kollege Joachim Pfeiffer fürdie CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, manchmal besteht die Gefahr, dass man denWald vor lauter Bäumen nicht sieht . Freihandel ist seitüber 200 Jahren unbestritten eine Formel für Wachstum,eine Formel für Wohlstand, eine Formel zur Schaffungvon Arbeitsplätzen .
Die Absenkung von Zöllen führt dazu, dass es einegroße Auswahl an Produkten zu niedrigen Preisen gibtund dass der Wettbewerb intensiviert wird . Das ist ebendas Kernelement in der sozialen Marktwirtschaft . DerWettbewerb führt dazu, dass Effizienzpotenziale geho-ben werden, die dann den Menschen zum Vorteil ge-reichen . Das ist Freihandel . Diesen Erfolg leben wir inDeutschland jeden Tag . Es gibt kein Land in der Welt,das so sehr in die Globalisierung und in den weltweitenHandel eingebunden ist wie Deutschland:
nicht nur unsere leistungsfähige Industrie, sondernvor allem auch die mittelständischen Unternehmen inDeutschland .Ich komme aus der Region Stuttgart . Dort gibt es sehrviele mittelständische Unternehmen, sogenannte HiddenChampions, Weltmarktführer in bestimmten Bereichen .Ich nenne hier nur Stihl, Kärcher, Leibinger, Schnaith-mann und wie sie alle heißen . Das sind kleine Unterneh-men mit zum Teil 30, 40 oder 50 bis hin zu mehrerenHundert oder Tausend Beschäftigten . Alle diese Unter-nehmen haben heute einen Exportanteil von weit über50 Prozent bis zum Teil 90 Prozent . Das bildet die Basisfür unseren Wohlstand in diesem Land .
Da treten Sie an und sagen: Handel braucht ganz of-fensichtlich keine Regeln . Wir gestalten die Globalisie-rung nicht, oder wir überlassen sie anderen . – Das istdefinitiv nicht unsere Politik. Wir wollen die Globalisie-rung gestalten . Deshalb brauchen wir Regeln . Die Glo-balisierung braucht Regeln und muss gestaltet werden .Worum geht es? Es geht um die Absenkung von Zöl-len, und zwar auch bei CETA .
Wir haben nur noch 22 Prozent Zoll auf Baumaschi-nen, Züge und stromproduzierende Geräte und 11,5 Pro-zent auf Wein, Bier, Liköre und Schokolade . Damit spa-
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ren die EU-Exporteure selbst dann, wenn die Exportenicht ansteigen würden, 500 Millionen Euro jährlich beiExporten nach Kanada .Aber das ist keine statische Betrachtung . Schauen wiruns doch die Hunderte von Freihandelsabkommen an,die Deutschland in der Vergangenheit geschlossen hatoder die die EU abgeschlossen hat, seit die Zuständigkeitbei ihr liegt . Nehmen wir zum Beispiel das Freihandels-abkommen mit Südkorea . Damals gab es auch Befürch-tungen, insbesondere seitens der Automobilindustrie,dass die Koreaner davon vielleicht stärker profitierenwürden als wir . Was aber ist das Ergebnis dieses Abkom-mens? Die EU-Ausfuhren nach Südkorea sind insgesamtum 35 Prozent gestiegen . Bei den vollständig liberalisier-ten Gütern sind sie sogar um 46 Prozent gestiegen . DasFreihandelsabkommen zwischen der EU und Südkoreaist also ein Erfolgsrezept .Der Marktanteil der deutschen Premiummarken inSüdkorea hat sich von 25 Prozent auf 75 Prozent erhöht,und dies in den Jahren der vorläufigen Anwendung diesesAbkommens . Die Zuständigkeit liegt bei der EU, und inder Tat besteht ein Wirrwarr . Man kann sich darüber un-terhalten, ob man ihn vielleicht bereinigen sollte .Generell liegt die Zuständigkeit bei der EU . Die EUverhandelt die Freihandelsabkommen in einem Rahmen,den die nationalen Staaten – so auch wir – der EU vor-geben . Dann kommt man irgendwann zu einem Ergeb-nis, und dann wird es vom EU-Parlament genehmigt,das dafür die gleiche demokratische Legitimation hatwie wir im Deutschen Bundestag . Da diese Abkommenaber auch sogenannte gemischte Anteile enthalten, müs-sen auch die nationalen Parlamente zustimmen . Zum Teilsind aber nicht nur die nationalen Parlamente beteiligt:In Belgien stimmt zum Beispiel auch das Regionalpar-lament der 70 000 Mitglieder starken deutschsprachigenGruppe darüber ab . Man kann sich darüber unterhalten,ob dieser Prozess sinnvoll ist, weil er sich zum Teil überJahre hinzieht .
Deshalb hat es fast fünf Jahre gebraucht, bis das Ab-kommen mit Südkorea letztlich von allen 28 Mitglied-staaten ratifiziert wurde. Als Letzte haben Italien undGriechenland es im letzten Jahr ratifiziert.Jetzt haben wir das Abkommen mit Kanada, das nebender Abschaffung von Zöllen Standards einführt und ver-einheitlicht und damit insbesondere doppelte Standardsbeseitigt, was wiederum ein großer Vorteil insbesonderefür unseren Mittelstand ist .Ein großes Thema von CETA ist das Vergaberecht .Mit CETA haben EU-Unternehmen in Kanada auf allenVerwaltungsebenen – also nicht nur auf nationaler Ebe-ne, sondern auch in den Provinzen – die Möglichkeit,sich an öffentlichen Ausschreibungen zu beteiligen . Dasist bisher nicht der Fall . Auch das bedeutet Wettbewerbund neue Chancen für Unternehmen aus der Europäi-schen Union und natürlich auch umgekehrt .Und da frage ich jetzt: Wo liegen die Gefahren? Woliegen die Probleme? Ich kann überhaupt keine erkennen .Wir gestalten vielmehr gemeinsam mit anderen Partnerndie Globalisierung . Es wäre in der Tat wünschenswert,wir könnten die Globalisierung im Rahmen der WTO,der Welthandelsorganisation, multilateral gestalten .Dann kommen wir aber leider nicht in der Geschwindig-keit voran, wie wir uns das wünschen . Deshalb hat sichdie EU entschlossen – nachdem viele andere Regionenbzw . Länder dieser Welt bilaterale Abkommen geschlos-sen haben, um die Globalisierung in ihrem Sinne zu ge-stalten –, dass wir nicht abseits stehen sollten, sondernmitspielen und versuchen, unsere Standards zu Weltstan-dards zu machen, damit diese Standards dann hoffentlichwiederum in multilaterale Abkommen einfließen können.Das Gleiche gilt auch bei Fragen zu Investitionssi-cherheit und Schiedsgerichtshöfen . Das vorliegende Ab-kommen zwischen der EU und Kanada sieht zum erstenMal ein neues Verfahren bei Schiedsgerichten vor . Rich-ter entscheiden . Sie sind unabhängig, werden von denVertragsparteien ernannt und dürfen keine Nebenein-künfte haben . Auch Berufungsinstanzen sind vorgese-hen . Verhandlungen sind öffentlich . Schriftsätze werdenveröffentlicht . Es gibt vieles andere mehr, was es in derVergangenheit nicht gab . Das ist das beste Abkommen,das wir jemals hatten .Wir haben vielleicht die Chance, die Punkte, die wirgemeinsam mit Kanada erarbeitet haben, in andere Ab-kommen hineinzuverhandeln . Auch bei TTIP wird darü-ber gesprochen und verhandelt . Die Amerikaner sehendas zum Teil anders . Aber deshalb wird ja verhandelt .Wir verhandeln des Weiteren mit den ASEAN-Staaten,Japan und China . Gerade im Hinblick auf die asiati-schen Länder ist es wichtig, dass wir Investitions- undPlanungssicherheit für unseren Mittelstand, unsere Wirt-schaft, unsere Unternehmen und unsere Arbeitnehmerschaffen . Wir wollen all das, was wir im Abkommen mitKanada erreicht haben, in zukünftige Handelsabkommeneinfließen lassen.Nun müssen Sie mir einmal erklären – ich kann dasbeim besten Willen nicht erkennen –, wo hier Gefahrenfür den Verbraucherschutz und den Menschen – Sie spre-chen von Paralleljustiz – bestehen .
Freihandel, der im Rahmen der Globalisierung von unsmitgestaltet wird, ist und bleibt die beste Formel fürWachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze .
Wir stimmen deshalb gerne dafür und sind froh, dassCETA nun endlich verabschiedet werden und in Krafttreten kann .
Darf ich mit Blick auf die besondere Verantwortungdes Parlaments vielleicht eine Bitte für die weitere Dis-Dr. Joachim Pfeiffer
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kussion und die Behandlung des Themas äußern? Wirsollten mit aller möglichen Sorgfalt zwei Dinge ausei-nanderhalten, nämlich zum einen die Frage, was von sol-chen Abkommen überhaupt zu halten ist – darüber gibtes Streit; dieser ist fraglos zulässig –, und zum anderendie Frage, ob für ein ausverhandeltes Abkommen einemögliche Zustimmung der Bundesregierung zum vorläu-figen Inkraftsetzen eines Teils dieses Abkommens ohneZustimmung des Bundestages erfolgen kann und erfol-gen soll . Diese beiden Dinge hängen eng miteinanderzusammen, sind aber völlig unabhängig voneinander zuentscheiden .
Darauf bitte ich im Interesse des ganzen Hauses alle Be-teiligten jede denkbare Sorgfalt zu verwenden .
Die Kollegin Katharina Dröge ist die nächste Redne-rin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Präsident, ich möchte micherst einmal für diese klaren Worte zum parlamentari-schen Beratungsprozess und zur Verantwortung, die wirim Abstimmungsprozess haben, bedanken .
Ich finde, dass das eine sehr wichtige Aussage Ihrerseitsist . Deswegen ist es wichtig, dass wir heute auch überdie Frage der vorläufigen Anwendung dieser Abkommensprechen . Zuvor möchte ich einen Schritt zurückgehen .Ich möchte über beides sprechen, nämlich sowohl überdie Beratung des Inhalts als auch später über die Bera-tung des Verfahrens und in diesem Zusammenhang überunser parlamentarisches Selbstverständnis, also darüber,wie ernst wir das eigentlich nehmen, was wir hier im Par-lament tun .Das Abkommen mit Kanada liegt seit fast zwei Jahren,seit Sommer 2014, in englischer Sprache vor . Wir habendarüber diskutiert, wann der richtige Zeitpunkt wäre,über dieses Abkommen zu beraten . Wir als Grüne undauch die Fraktion Die Linke haben immer wieder Anträ-ge mit Kritik am Verhandlungstext in das Parlament ein-gebracht . Im Sommer letzten Jahres haben wir einen sehrausführlichen Antrag in die Beratungen eingebracht . Sieals Koalitionsfraktionen haben uns immer wieder gesagt,dass Sie über das Abkommen genauso ernsthaft beratenwollen wie wir, aber erst dann, wenn das Abkommen indeutscher Sprache vorliegt, wenn eine fundierte Bera-tung des Textes möglich ist . Dieses Argument nehme ichdurchaus ernst .Das Problem ist nur: Wir haben jetzt die Informati-on bekommen, dass der Handelsministerrat im Oktoberdieses Jahres über das Abkommen beschließen wird . DasAbkommen liegt aber immer noch nicht in deutscherSprache vor . Höchstwahrscheinlich wird das erst EndeJuni/Anfang Juli, also zu Beginn unserer parlamentari-schen Sommerpause, vorliegen . Es sind 500 Seiten Ver-tragstext und 1 500 Seiten Anhänge . Die Frage, die ichIhnen ganz ernsthaft stellen möchte, ist: Wie stellen Siesich dann ein geordnetes parlamentarisches Beratungs-verfahren, von dem Sie immer gesprochen haben, vor?
Ich denke, es liegt in unserer Verantwortung, jetzt ein ge-ordnetes parlamentarisches Beratungsverfahren sicher-zustellen . Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass, wenndie Bundesregierung im Handelsministerrat sowohl überden Vertragstext als auch gegebenenfalls über die vor-läufige Anwendung des Abkommens entschieden hat, da-nach noch eine parlamentarische Beratung erfolgen wird .
Sie als Regierungsfraktionen müssen, wenn Sie nochetwas an diesem Vertragstext ändern wollen oder wennSie Ihrer Bundesregierung noch etwas mit auf den Weggeben wollen, was das Abstimmungsverhalten betrifft,jetzt über das Abkommen reden . Ich muss Ihnen ganzehrlich sagen: Egal, auch wenn das Abkommen in engli-scher Sprache vorliegt, die Analyse muss jetzt erfolgen .Die Schiedsgerichte – da müssten doch auch Sie mir zu-stimmen – sind das beste Beispiel dafür, dass es notwen-dig ist, jetzt über dieses Abkommen zu reden .
Sie haben gerade hier gefeiert, dass Sie Veränderun-gen in Bezug auf die Schiedsgerichte durchgesetzt ha-ben . Wir sagen: Das reicht nicht; das ist immer noch dasalte ISDS . Ich gebe Ihnen recht, dass es hier Veränderun-gen gegeben hat . Die hat es aber nur gegeben, weil wiruns dieses Vertragswerk im Sommer 2014 angeschauthaben und kritisiert haben, was daran schlecht ist . Wirhaben Druck auf die Bundesregierung ausgeübt und ge-sagt, dass es mit uns keine Zustimmung zu solch einemAbkommen geben wird, wenn diese schlechten Regelun-gen enthalten sind . Nur durch diesen Druck ist überhauptetwas passiert . Ich frage Sie: Wann kommt der Druck vonIhnen? Wenn wir mit der Beratung warten, bis es endlicheinen deutschen Vertragstext gibt, was sollen wir dannim September 2016 noch machen? Einen Monat spätersoll das Abkommen beschlossen werden . Was sollen wirdann noch verändern?Ich gebe Ihnen ein zweites Beispiel, das zeigt, wa-rum es so wichtig ist, jetzt darüber zu beraten . Es gehtum die Regelungen zur regulatorischen Kooperation .Wir haben im letzten Sommer herausgefunden, dassim CETA-Vertragstext eine Regelung steht, wonach esGremien geben wird, die über den Vertrag entscheidenkönnen, ohne dass die Beteiligung der Parlamente si-chergestellt ist . Die Bundesregierung hat mehrfach aufPräsident Dr. Norbert Lammert
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unsere Fragen geantwortet, das stimme nicht . Sie hattees selber nicht gesehen . Irgendwann hat sie gemerkt: Oh,die Grünen haben recht . Da gibt es doch eine Formu-lierung, dass die Parlamente nicht eingebunden werdenmüssen . – Jetzt ist diese Regelung aus dem Vertragstextherausgenommen worden . Das geschah, weil wir so ge-nau hingeschaut haben .Es gibt eine ganze Reihe weiterer problematischerFormulierungen, die immer noch im Vertragstext stehen .Deswegen kann ich nur an Sie appellieren: Nehmen Siedie Arbeit, die wir miteinander machen müssen, ernst!Das Zeitfenster schließt sich . Im Herbst 2016 ist dasGanze vorbei .
Das Thema Schiedsgerichte ist weiterhin im Ver-tragstext . Sie müssen sich mit unseren Argumentenauseinandersetzen . Es stehen weiterhin intransparenteBeratungsgremien drin . Es ist weiterhin die richterlicheUnabhängigkeit nicht gesichert . Es gibt weiterhin unprä-zise Rechtsbegriffe . Es gibt weiterhin keine Begrenzungder Schadenssummen . Klagen wie die von Vattenfalloder die von Philip Morris gegen Australien oder auchdie von TransCanada gegen die USA sind mit diesemSystem der Schiedsgerichte weiterhin möglich . WennSie als SPD sagen, Sie wollten die Schiedsgerichte nicht,dann sage ich Ihnen: Jetzt ist der Zeitpunkt, um Druckauf die Bundesregierung auszuüben, um noch irgendet-was zu bewegen .
Ebenso verhält es sich mit dem Vorsorgeprinzip, derSicherung der kommunalen Daseinsvorsorge . Wir ha-ben in verschiedenen Anträgen geschrieben, dass es daProbleme in diesen Abkommen geben wird . Die europä-ischen Verbraucherschutzstandards sind eben nicht gesi-chert, ebenso nicht die kommunale Daseinsvorsorge . Imganzen Vertragstext gibt es Rechtsunklarheiten . Wann,wenn nicht jetzt, wollen wir dafür sorgen, dass sich et-was ändert? Ich kann nur an Sie appellieren: Setzen Siesich gemeinsam mit uns dafür ein, dass es ein ordent-liches parlamentarisches Beratungsverfahren gibt, dasses nicht zu einer vorläufigen Anwendung dieses Abkom-mens kommt, damit wir die Rechte, die das Parlamenthat, auch tatsächlich nutzen können .
Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Barthel für die
SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Liebe Frau Dröge, genau das
tun wir .
Zunächst einmal muss man festhalten, worüber wir
heute beraten und entscheiden . Es geht um zwei Anträge
der Linksfraktion, einen älteren mit dem Titel „Für eine
lebendige Demokratie – Fairer Handel statt TTIP und
CETA“ und einen neuen Antrag zum vorläufigen Inkraft-
treten des Abkommens . Der Antrag der Grünen zu CETA
ist zurückgezogen und heute von der Tagesordnung ab-
gesetzt worden . Das ist auch zu begrüßen, weil auch die-
ser Antrag überholt war und wir jetzt in eine neue Phase
eintreten .
Den älteren Antrag der Linken von November 2015
können wir heute problemlos ablehnen . Das macht auch
deutlich, was das Problem unserer Beratungen ist: Der
Antrag bezieht sich nämlich auf einen CETA-Text, den
es nicht mehr gibt . Er ist also überholt .
Auf die inhaltlichen Widersprüche und Probleme dieses
Antrags der Linken zu CETA habe ich hier schon in der
ersten Beratung hingewiesen .
Was die Abstimmung über diese Anträge angeht, will
ich vorsorglich noch einmal sagen – wir wissen ja, was in
den Netzwerken passiert –: Wenn wir Sozialdemokratin-
nen und Sozialdemokraten diese Anträge zu CETA heute
ablehnen bzw . überweisen, heißt das noch lange nicht,
dass wir am Ende für dieses Vertragswerk oder für TTIP
sind – davon sind wir weiter entfernt denn je –; vielmehr
sind wir jetzt in den Beratungen .
Herr Kollege Barthel, darf die Kollegin Sitte eine
Zwischenfrage stellen?
Aber sicher .
Vielleicht nur eine kurze Korrektur, Herr Kollege . Esist das Schicksal von Anträgen, dass sie irgendwann ein-gebracht werden . Dann werden sie in den Ausschüssenberaten, und dann kommen sie, mit einer Beschlussemp-fehlung versehen, wieder zurück . In der Zwischenzeitpassiert politisch natürlich etwas, unter anderem, weilsolche Anträge gestellt worden sind .
Dieser Antrag ist älteren Datums, es hat sich etwas ver-ändert, und wir schließen diese Debatte heute mit einerBeschlussempfehlung ab . Das heißt: Dieser Antrag istKatharina Dröge
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nicht veraltet . Er ist vielmehr eingebracht worden undhat Wirkung gezeigt .
Heute wird die Behandlung dieses Antrags mit der Ab-stimmung über die Beschlussempfehlung abgeschlossen .Uns reicht das aber nicht; deshalb gibt es einen zwei-ten Antrag . Die Kollegen haben gerade erläutert, warumdas nicht reicht .
Darum war es ja klug, dass wir den ersten Antrag in
die Ausschüsse überwiesen haben, was jetzt auch für den
zweiten Antrag gilt .
Wir haben damals schon gesagt: Der Antrag bezieht sich
auf einen Text, den wir nicht kennen und der sich zwi-
schenzeitlich auch noch verändert hat . Das ist genau der
Punkt .
Ihr aktueller Antrag zu CETA, den der Kollege Ernst
vorgestellt hat, ist natürlich wesentlich spannender . In
der Tat ist die Frage zu klären, wie ein vorläufig in Kraft
getretener CETA-Vertrag durch nationale Parlamente ge-
gebenenfalls rückholbar ist . Das müssen wir noch klären .
Aber eine Entscheidung über diesen Antrag kann es doch
erst geben, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
Erstens . Der Vertrag muss von der EU-Kommission
vorgelegt sein, das heißt, er muss in die Landessprache
übersetzt worden sein . Das wird voraussichtliche Ende
Juni dieses Jahres der Fall sein . Vorher wird die EU-Kom-
mission den Vertragsentwurf nicht in den Rat und nicht in
die europäischen Gremien einbringen können .
Zweitens . Der Europäische Rat muss sich mit der Fra-
ge, ob es sich um ein gemischtes oder nicht gemischtes
Abkommen handelt, befasst und dazu einen Beschluss
gefasst haben . Die Position der Bundesregierung dazu ist
bekannt .
Drittens . Der Rat muss dem Vertrag insgesamt zustim-
men oder ihn ablehnen, und dann muss er noch durch das
Europäische Parlament .
Der zweite Teil des Entscheidungsprozesses findet im
Herbst statt . Es gibt also überhaupt keinen Grund, heute
über den Antrag der Linken zu entscheiden, und deswe-
gen überweisen wir ihn .
Wir haben uns schon darauf verständigt, Kollege
Ernst, dass sich der Bundestag noch vor der Ratsbefas-
sung, noch vor der Ratsentscheidung ausführlich mit
CETA befassen wird und gegebenenfalls der Bundesre-
gierung einen Auftrag mit auf den Weg geben kann . Das
heißt für uns: Wir werden den Antrag überweisen . Dann
können wir ihn im Wirtschaftsausschuss und in anderen
Ausschüssen in Ruhe beraten, etwa in Form von An-
hörungen . Für uns geht Sorgfalt vor Schnelligkeit, und
deswegen wollen wir diesen Antrag an die Ausschüsse
überweisen . Wir wollen jetzt eben nicht Knall auf Fall
entscheiden müssen, bevor wir eine deutsche Fassung
haben, sondern das Ganze in Ruhe im Parlament beraten .
Das ist der Sinn der Übung .
Zum Inhalt nur ganz kurz noch: Einerseits sehen wir
natürlich, dass es große Fortschritte gegeben hat . Mei-
ne Kolleginnen und Kollegen werden dazu in der Fol-
ge noch etwas sagen . Aber Fakt ist doch – das hat auch
Frau Dröge zugegeben –: Im letzten halben Jahr hat diese
Bundesregierung, hat Bundeswirtschaftsminister Sigmar
Gabriel in der Substanz mehr erreicht als in den letzten
fünf Jahren, in denen verhandelt worden ist .
Frau Dröge hat gesagt, der Entwurf liege seit zwei
Jahren in Englisch vor . Ich will nur einmal daran erin-
nern, dass Frau Malmström uns damals in Brüssel zu
CETA erklärt hat – wir waren zusammen dort –: It is
done . – Aber Tatsache ist: Es ist eben nicht „done“ . Wir
müssen uns einfach einmal vorstellen, was es bedeutet
hätte, wenn es von Anfang an die Transparenz, für die wir
gesorgt haben, gegeben hätte, wenn es von Anfang an das
öffentliche Interesse gegeben hätte, wenn es von Anfang
an die qualifizierte Arbeit in den Parlamenten gegeben
hätte und wenn es von Anfang an eine Regierungsbeteili-
gung der SPD gegeben hätte, die dafür gesorgt hat, dass
sich etwas bewegt hat .
Herr Kollege Barthel, der Kollege Ernst möchte Ihnen
mit einer ganz kurzen Zwischenfrage Gelegenheit für
eine ganz kurze Erweiterung Ihrer Redezeit geben . Das
ist eine unwiderstehliche Versuchung, nicht?
Sie sagen es .
Bitte schön .
Herzlichen Dank . – Meine Frage ist wirklich ganz
einfach . Wenn es hier darum geht, zu entscheiden, ob
das Abkommen vorläufig in Kraft gesetzt werden kann –
ohne Parlament – oder nicht, ist es völlig unerheblich, ob
der Text in Chinesisch, Französisch, Russisch oder sonst-
wie vorliegt . Würden Sie mir da zustimmen?
Nein. Eine vorläufige Inkraftsetzung kann es doch nurgeben, wenn sich der Rat damit beschäftigt hat und zumBeispiel die Frage des gemischten Abkommens entschie-den ist und damit auch klar ist, wer die Zuständigkeitenhat . Wenn es nämlich kein gemischtes Abkommen seinDr. Petra Sitte
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sollte, wie die Kommission glaubt, dann wird es auch garkeine nationale Befassung geben können .
– Deswegen wird es auch keine vorläufige Zustimmunggeben,
weil die Bundesregierung ja die Auffassung vertritt, dasses ein gemischtes Abkommen ist . – Die Frage, ob einevorläufige Inkraftsetzung erfolgt, wird erst dann ent-schieden, wenn der Rat dem Vertrag insgesamt zustimmtoder eben nicht zustimmt .
– Das wird eben zu klären sein .
– Darum habe ich ja gesagt: Wir werden hier auch imRahmen der Ausschüsse, etwa in Form von Anhörungen,beraten, wie sich die Sache verhält und welche Empfeh-lungen wir der Bundesregierung dann für die Zustim-mung – gemischtes oder nicht gemischtes Verfahren,vorläufige Inkraftsetzung – mitgeben. Das ist jetzt nichtzu entscheiden . Der Eindruck, der hier erweckt wird, daswäre in den nächsten zwei, drei Wochen zu entscheiden,ist falsch . Das steht nicht an .
– Das ist in der Tat eine Grundsatzfrage; die wollen wirklären . Diese Frage können wir aber nicht heute klären .
Wir befinden uns mitten im Prozess, weil wir keine deut-sche Textfassung haben und weil wir ständig darauf hin-gewiesen haben, hier nicht über etwas entscheiden zuwollen und zu können, das uns nicht vorliegt . Das be-weisen auch Ihre Anträge dazu, die schon überholt sind,wenn sie hier in die dritte Beratung kommen .
Wir sehen aber an diesem Verlauf und an dem, waswir noch vorhaben, dass auch in der Handelspolitik De-mokratie möglich ist und dass wir auch zu entsprechen-den Verfahren der Beratung in den Parlamenten kommenkönnen . Für uns bleiben in der Tat noch viele inhaltlicheProbleme – Kollegin Dröge hat darauf hingewiesen –,zum Beispiel die rote Linie, dass Investoren eben nichtbesser zu behandeln sind als Menschen, der Positivlisten-ansatz, die Sperrklinkenklausel für Rekommunalisierungusw . Das wollen wir anhand eines deutschen Textes, derschwer genug zu verstehen sein wird, den wir in Englischaber nicht verstehen, im Detail beraten .
Wir werden der Bundesregierung auch etwas mit aufden Weg geben, was das vorläufige Inkrafttreten betrifft.Wir werden juristisch klären müssen, welche Rolle na-tionale Parlamente in diesem Prozess der Entscheidungspielen können . Das ist eine Frage, die in der Tat geklärtwerden muss .
Herr Kollege .
Darin sind wir uns einig . Deswegen wollen wir heute
nicht entscheiden, sondern erst beraten und uns mit der
Substanz beschäftigen .
Peter Beyer erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben vor-hin schon gehört, dass wir es, wenn man zurückschaut,mit einer Reihe von Anträgen zu diesem Thema zu tunhaben, die da formell entweder direkt oder indirekt mithineinspielen . Ich bin dem Kollegen Joachim Pfeifferausdrücklich dankbar, dass er noch einmal die Vorteilevon Freihandelsabkommen – auch vor dem geschichtli-chen Hintergrund, wie sich das entwickelt hat – beleuch-tet hat .
Ich glaube, das ist gerade für die Fraktion Die Linke dochganz erquicklich, weil sie das immer noch nicht verstan-den hat .
Freihandelsabkommen, meine Damen und Herren,werden zur wirtschaftlichen Verbesserung gerade auchfür die EU und für Deutschland beitragen, so eben auchCETA, wie es entworfen ist, das Handelsabkommen mitden Kanadiern . Es ist vielleicht ganz gut, das anfangsnoch einmal einzuordnen . Ich will ein paar Zahlen nen-nen, um die Dimension aufzuzeigen und klarzumachen,über was wir uns hier unterhalten: Kanada ist für die Eu-ropäische Union der zwölftwichtigste Handelspartner .2014 belief sich das Volumen des Handels mit Warenund Dienstleistungen zwischen Kanada und der Euro-päischen Union auf 32 Milliarden Euro . Deutschland istinnerhalb der EU-Mitgliedstaaten für Kanada der wich-tigste Handelspartner – mit einem Volumen im Jahr 2014von 9 Milliarden Euro; das ist der Wert der Ausfuhrenvon Waren und Dienstleistungen von Deutschland nachKanada . Bei diesen Zahlen – sie sind schon für sich ein-drücklich – sieht man: Da ist noch ganz schön Luft nachoben .Klaus Barthel
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Worum geht es bei CETA, in diesem ganz konkretenFall? Es geht um den Wegfall von Zöllen . Es geht um denAbbau der sogenannten nichttarifären Handelshemmnis-se . Es geht um den Zugang zu Märkten, zu öffentlichenAufträgen in Kanada, aber auch vice versa . Es geht umeine verstärkte Zusammenarbeit bei der Regulierung .Das sind Inhalte, die hohes Potenzial haben, die Wirt-schaftskraft zu verbessern .Schauen wir uns in den Anträgen einmal an, was dieOpposition durch die Freihandelsabkommen alles be-fürchtet . Es heißt, es sei problematisch, dass sich CETAund TTIP – das möchte ich hier ausdrücklich mit in dieDebatte einbringen – stärker als vorherige Abkommenauf Deregulierung, Liberalisierung, Wettbewerb undKostensenkung konzentrieren . Ich sehe bei diesen an-geblichen Problemen gar nichts Negatives, meine Damenund Herren; ganz im Gegenteil . Da müsste doch eigent-lich ein Jubelschrei bei all jenen durch die Herzen gehen,
die wirtschaftspolitisch und auch mit Wirtschaftsver-stand denken . Das liegt doch auf der Hand .
Das Problem liegt, glaube ich, ganz woanders, näm-lich bei den Antragstellern selbst .
Denn sie setzen die positiven Auswirkungen von Frei-handelsabkommen immer mit der Absenkung von Stan-dards gleich . Aber da machen Sie einen Denkfehler . Siehaben Freihandel nicht verstanden . Ich möchte an derStelle nicht noch einmal all das Richtige erzählen, wasinsbesondere Kollege Pfeiffer hier ausgeführt hat; es istja schon in die Debatte eingeführt worden . Deregulie-rung hat nichts mit geringeren Standards zu tun, sondernschlicht mit weniger Normen und Vorschriften des Staa-tes, mit weniger staatlichem Eingreifen . Dagegen könnenSie doch auch unter dem Stichwort „Bürokratieabbau“überhaupt nichts haben . Wollen Sie mehr Bürokratie?Nein!
Wir müssen sie abbauen . Das schafft Wirtschaftskraft .Das stärkt die Wirtschaft . Das ist gut für Arbeitsplätze .Das ist gut für die Bürger . Deswegen können wir natür-lich nicht empfehlen – das wird Sie nicht überraschen –,den Anträgen zuzustimmen .
Die Antragsteller sind vor allem immer gut imSchlechtreden . Da schwingt – das möchte ich hier auchganz persönlich betonen – immer auch ein Stück Anti-amerikanismus mit .
Auch – wie soll man das formulieren? – Antikanadismusspielt mit eine Rolle . Alles dies ist leider immer nochablesbar, zum Teil explizit, zum Teil zwischen den Zei-len . Das ist etwas, was wir sicherlich auch mit bedenkenmüssen .Wie wollen wir in Zukunft leben? Wollen wir nichtunseren Wohlstand, den relativen Wohlstand in Deutsch-land, in Europa, halten? Ich meine: Ja . Wir müssen allesdafür tun, dass wir den Lebensstandard halten und mög-lichst noch ausbauen . Das geht eben nicht, indem wir unsder immer weiter zusammenrückenden Welt verschlie-ßen, indem wir versuchen, die Globalisierung zurückzu-drehen, was schon im Ansatz ein untauglicher Versuchwäre . Wir haben es in der Hand, Globalisierung zu ge-stalten, zu regulieren . Das ist der Weg, der beschrittenwerden muss, meine Damen und Herren .
Von den vielen anderen Befürchtungen, die sich in dennach der Rechtsförmlichkeitsprüfung von CETA veröf-fentlichten Texten gar nicht mehr wiederfinden, möchteich nur zwei benennen:Umweltschutz . Es hat sich nicht bestätigt, dass Um-weltschutzstandards beeinträchtigt werden .Schiedsgerichte . Beim Aufbau der Schiedsgerichts-barkeit ist einiges erreicht worden . Es stimmt nicht, dassdas immer noch auf dem gleichen Stand ist, der zunächstin den Texten niedergeschrieben war . Da ist einiges ver-ändert worden . Zu den Verbesserungen gehören zum Bei-spiel die genaue Definition, was Investitionsrechte sind,das Prinzip „Wer verliert, der zahlt“, die Unzulässigkeitder Klagen von Briefkastenfirmen und auch die Öffent-lichkeit der Verfahren und von Dokumenten . Das sindwesentliche Fortschritte, die wir nicht negieren sollten .Was die Debatte über die Schiedsgerichte angeht,kommen noch einige wesentliche Vorschläge hinzu – dasmüssen wir auch bedenken –, die jetzt im Rahmen derVerhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischender EU und den Vereinigten Staaten von Amerika von derEU-Kommission gemacht wurden . Die EU-Kommissionwird nicht müde – sie hat es auch aktuell wieder getan –,das sogenannte „right to regulate“ für den nationalen Ge-setzgeber zu betonen . Durch Investitionsschutzklagenkönnen keine nationalen Gesetze ausgehebelt werden .Auch die Unabhängigkeit der Richter soll verbessertwerden; Richter dürfen ab ihrer Ernennung nicht mehrparallel als Gutachter oder Anwälte in anderen Investi-tionsschutzverfahren tätig sein . Eine Berufungsinstanzwird eingeführt . – Bei all diesen wesentlichen Verbes-serungen kann ich beim besten Willen nichts Negativesmehr erkennen .Deutschland geht ja auch nicht jungfräulich in In-vestitionsschutzdebatten hinein . Deutschland hat 130 –ich betone es: 130 – Investitionsschutzabkommen mitSchiedsgerichtsklauseln abgeschlossen, ist zweimal ver-klagt und kein einziges Mal verurteilt worden . Vor die-sem Hintergrund müssen wir nicht immer dann, wenn esum Schiedsgerichte geht, den Teufel an die Wand malenund den Untergang des Abendlandes einläuten . Das wirdder Sache überhaupt nicht gerecht, meine Damen undHerren .Peter Beyer
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Was die vorläufige Anwendbarkeit des CETA-Ab-kommens angeht, wurde ja schon vieles Richtiges gesagt .Es geht nur um Sachverhalte, die ausdrücklich und klarder Zuständigkeit der EU zugewiesen sind . Wir dürfendoch bei der ganzen Debatte nicht ausblenden, dass spä-testens durch den Lissaboner Vertrag das Aushandelnund der Abschluss von Handelsabkommen der EU über-tragen worden sind . Das ist geltende EU-Vertragsrechts-lage . Punkt! Das können wir nicht einfach durch solcheDebatten wegdiskutieren; das ist so . Natürlich – daraufhaben auch alle anderen Redner hingewiesen – müssenwir als Abgeordnete sehr darauf achten, dass wir im Rati-fizierungsprozess ein Wörtchen mitzureden haben, da essich bei TTIP und CETA um gemischte Abkommen han-deln wird; denn wir sind Volksvertreter im besten Sinnedes Wortes und wollen die Bürger vertreten . Wir wollenmitreden und über diejenigen Punkte, die nationale Be-lange betreffen, mitdebattieren . Es ist sinnvoll, dass dieTeile von CETA – später auch von TTIP –, die in der Tatder originären Zuständigkeit der EU zugewiesen sind,direkt anwendbar sind . Das ist gut und wichtig für dieMarktteilnehmer . Dadurch kommt dieses Abkommen un-mittelbar denjenigen zugute, für die es gemacht ist, underöffnet ihnen neue Chancen .Meine Damen und Herren, mit CETA liegt ein ambi-tioniertes Abkommen vor, das insbesondere nach demRegierungswechsel in Kanada – das dürfen wir nichtausklammern – im Rahmen der Rechtsförmlichkeitsprü-fung eine textliche Veränderung erfahren hat . Es ist einambitioniertes, es ist ein gutes Abkommen, das gut füruns alle ist: für die europäischen und auch für die deut-schen Bürgerinnen und Bürger . Aus meiner Sicht ist esabschlussreif . Deswegen werbe ich dafür, dass wir dieAnträge aus der Opposition nicht mittragen .Vielen Dank .
Alexander Ulrich erhält das Wort für die Fraktion Die
Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbin eigentlich sehr dankbar, dass Sie, Herr Lammert, hierauf etwas hingewiesen haben, was, glaube ich, bei vielender regierungstragenden Fraktionen immer noch nichtangekommen ist: Wenn wir es zulassen, dass CETA vor-läufig zur Anwendung kommt, entmachtet sich der Bun-destag selbst .
Dass der Bundestagspräsident Ihnen das vorhalten muss,ist eigentlich traurig . Aber bitte hören Sie doch einmalauf den Bundestagspräsidenten, auf Herrn Lammert .
Die heutige Debatte, die auf unserem Antrag vom No-vember des letzten Jahres basiert, ist gut; denn es gehtja nicht nur um die vorläufige Anwendung von CETA,sondern um TTIP und CETA insgesamt . Wenn die Bevöl-kerung einen weiteren Beweis braucht, dass CDU/CSUund SPD diese Verträge offensichtlich gegen die Mehr-heit der Bevölkerung durchpauken wollen, dann hat ihndie heutige Debatte erbracht . Ich glaube daher, dass eszwingend notwendig ist, auch in Deutschland Volksab-stimmungen zu wesentlichen Verträgen zuzulassen .
In anderen Ländern, etwa in den Niederlanden oder inBelgien, wird über die Verträge abgestimmt . Wenn dieAblehnung gegen TTIP und CETA in Deutschland rie-sengroß ist, die Bundesregierung diese aber mit den sietragenden Fraktionen durchpauken will, dann brauchenwir endlich auch in Deutschland eine Volksabstimmungüber solche Verträge . Wir Linke fordern das .
Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir haben imBundestag schon sehr viele Debatten zu diesem Themageführt . Immer wieder kommt der gleiche Vorwurf: Wa-rum debattieren wir darüber, wenn doch noch nichts vor-liegt? Ich sage: Diese Debatten waren richtig gut . Dasverdeutlicht auch das gute Zusammenspiel zwischen derOpposition im Bundestag und der außerparlamentari-schen Bewegung .
Mit jeder Debatte im Bundestag, mit jeder Aktion deraußerparlamentarischen Bewegung ist der Widerstandgrößer geworden . Bitte schicken Sie noch öfter HerrnPfeiffer an das Mikrofon . Dann haben wir bald hundertProzent Ablehnung in Deutschland .
Aber, Herr Barthel, so einfach machen wir es Ihnennicht . Wenn in einigen Jahren wieder einmal ein Kon-gress der SPD stattfindet und wieder eine Reinigungs-kraft Herrn Gabriel fragt, warum sie noch eine Parteiwählen soll, die den Umweltschutz abgebaut hat, die Ar-beitnehmerrechte abgebaut hat, die Sozialstandards ab-gebaut hat und das Primat der Politik weiter geschwächthat, dann kann er sich nicht mehr hinstellen und sagen:Schuld sind die Schwatten . – Übrigens: Bei dem Thema,das in dieser Woche behandelt wurde, waren die Schwat-ten nicht schuld . An der Agenda 2010, an Hartz IV wartihr alleine schuld .
Wenn das Thema wieder aufkommt, hat es HerrGabriel in der Hand, in Brüssel deutlich zu machen: Wirsind gegen CETA und TTIP, und wir sind gegen eine vor-läufige Anwendung des Abkommens. Genau das erwar-ten wir von Herrn Gabriel als Minister .
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Deshalb fordern wir hier die Bundesregierung nochmalsauf, die von der EU geplante vorläufige Anwendung vonCETA zu verhindern .
Wir lassen auch nicht zu, dass der Ball immer über Brüs-sel gespielt wird . Sie sagen – Herr Lammert, ich bingleich am Schluss –: Wir wollen das erst entscheiden,wenn wir den Auftrag bekommen . In der EU-Kommis-sion, in den Räten passiert nichts ohne deutsche Betei-ligung . Wir wissen, dass die EU-Kommission die vor-läufige Anwendung vorbereitet. Sie haben es jetzt in derHand, Nein zu sagen, statt nachher sagen zu müssen:Brüssel ist schuld . – Dieses Schwarze-Peter-Spiel mitBrüssel können Sie schon im Vorlauf verhindern . Ent-weder sagen Sie jetzt: „Wir machen da nicht mit“, oderSie sind mit schuld, wenn es zur vorläufigen Anwendungkommt .
Noch einmal: TTIP und CETA werden von SPD undCDU/CSU durchgedrückt . Wir sind dagegen .Vielen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eine Anmerkung zu Ihnen, Herr Ulrich: Siehaben Susanne Neumann angesprochen, die auf unsererWertekonferenz gewesen ist . Susanne Neumann ist derSPD beigetreten und nicht der Linkspartei, weil sie unsvertraut, die Probleme zu lösen .
Jetzt inhaltlich zu Ihrem Antrag . Der erste Punkt, denSie heute mit Ihrem Antrag vorgelegt haben, bezieht sichauf die Frage des gemischten Abkommens . Herr Ernst,Sie behaupten immer wieder in Ihren Anträgen, das seinicht eindeutig . Zahlreiche Gutachten, beantragt durchdie SPD-Bundestagsfraktion und die Bundesregierung,und der Juristische Dienst des Europäischen Rates ha-ben eindeutig bestätigt, dass es sich bei CETA um eingemischtes Abkommen handelt . Sie haben immer wiederbehauptet, dass die Kommission möglicherweise zu eineranderen Entscheidung kommt . In dem Fall, also wenn dieEU sagen sollte, dass es kein gemischtes Abkommen ist,kann der Europäische Rat die Kommission mit qualifi-zierter Mehrheit überstimmen, und er hat schon signali-siert, dass er das tun wird . Das, was Sie hier immer wie-der vorbringen, ist juristisch falsch . Es ist ein gemischtesAbkommen, und das wird im Oktober bestätigt werden .
Zweiter Punkt . Herr Präsident, Sie haben uns Abge-ordneten noch einen Hinweis gegeben . Ich bin Ihnenauch dankbar, dass Sie einen Brief an den Rechtsaus-schuss geschrieben haben . Der Rechtsausschuss hat sichmit Ihrem Anliegen zu Fragen des gemischten Abkom-mens ausführlich befasst . Ich möchte noch einmal daraufhinweisen, dass der Rechtsausschuss fraktionsübergrei-fend, also mit CDU/CSU, Grünen, SPD und Linkspar-tei – ich glaube, Sie wissen gar nicht, was sie beschlossenhaben –, deutlich gemacht hat, dass wir die Parlaments-rechte gestärkt sehen wollen und generell von gemischtenAbkommen ausgehen . Das haben die Sachverständigenauch bestätigt . Wir haben Ihnen diesen Brief zukommenlassen . Ich glaube, das waren sehr gute Beratungen, diewir fraktionsübergreifend geführt haben . Sie müssen denBrief nur auch mal lesen .
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist dievorläufige Anwendbarkeit. Die vorläufige Anwendungdes CETA-Abkommens tritt nur in Kraft, wenn sowohlder Europäische Rat als auch das Europäische Parlamentdem zustimmen .
Ich weiß, dass es im Vertrag von Lissabon dazu Unklar-heiten gibt;
man hätte sich an der einen oder anderen Stelle genau-er ausdrücken können . Aber es ist mittlerweile gewohn-heitsrechtlich anerkannt und von der EU-Kommissionbestätigt, dass ohne die Zustimmung des EuropäischenParlamentes dieses Abkommen nicht vorläufig ange-wandt wird . Das bitte ich auch einmal zur Kenntnis zunehmen .
Es ist richtig, dass hier Gewohnheitsrecht besteht . Darumwird da ohne die Kolleginnen und Kollegen im Europäi-schen Parlament nichts gehen . Sie werden sich bis Januaroder Februar Zeit für die Beratungen nehmen .Im Hinblick auf die vorläufige Anwendbarkeit willich einen Punkt für die SPD-Bundestagsfraktion ganzdeutlich machen . Es gibt im Lissabon-Vertrag im Be-reich des Investitionsschutzes Unklarheiten hinsichtlichsogenannter Direktinvestitionen auf der einen Seite, diein der Alleinzuständigkeit der EU-Kommission liegen,und Portfolioinvestitionen auf der anderen Seite, die indie Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen . Ich sage fürdie SPD-Bundestagsfraktion ganz eindeutig: Aufgrunddieser gemischten Zuständigkeiten, die ich für eindeutighalte, muss das ganze Investitionsschutzkapitel in CETAAlexander Ulrich
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von der vorläufigen Anwendbarkeit ausgenommen wer-den . Dafür werden wir uns als SPD-Bundestagsfraktioneinsetzen, weil sonst eine Bindungswirkung ausgelöstwürde, die wir an dieser Stelle – ich glaube, parteiüber-greifend – nicht wollen .
Ich will einen dritten Punkt ansprechen . Herr KollegeKlaus Ernst, Sie zitieren bei Gutachten – das machen Sieganz geschickt – immer die Überschriften . Sie nehmendie Kritik des Deutschen Richterbundes am Investiti-onsschutzgerichtshof auf Grundlage von CETA auf . Siemachen sich die Meinung des Deutschen Richterbundeszu eigen . Ich nenne einmal ein Beispiel: Der DeutscheRichterbund kritisiert, dass dort die Unabhängigkeit derRichter nicht gewährleistet ist . Die 15 öffentlich-recht-lich bestellten Richter bekommen dafür, dass sie sich inder ersten Instanz nur bereithalten, jeweils 2 000 Euromonatlich, ohne überhaupt ein Verfahren durchzuführen .Dafür, dass sie sich in der Berufungsinstanz nur bereit-halten, bekommen sie 7 000 Euro . Wenn das Gehältersind, die der Linkspartei nicht ausreichen, dann habe ichbis zum heutigen Tage etwas noch nicht mitbekommen .In diesem Sinne: Vielen Dank und allen schönePfingsten.
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Bärbel Höhn .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, diese Woche hat deutlich gemacht, wie wichtig
es ist, auch hier im Bundestag über CETA und TTIP zu
diskutieren, über die Inhalte und das Verfahren . Von da-
her: Danke an die Grünen und die Linken, dass wir die
entsprechenden Tagesordnungspunkte haben .
Herr Barthel, Sie haben gesagt, man könne erst dann
über diese Texte reden, wenn sie vorlägen, und die An-
träge, die hier vorlägen, bezögen sich auf die alten Texte .
Wir haben seit mehreren Wochen die neuen Texte von
CETA; sie liegen vor .
– Ja gut, auf Englisch . Aber es gibt ja den einen oder an-
deren, der sich den Text aus dem Englischen übersetzen
lassen kann oder Englisch kann .
Die CDU/CSU sagt immer – das regt mich langsam
auf –, dass die Standards des Verbraucherschutzes durch
diese Verträge nicht abgesenkt werden . Das untermau-
ern Sie nie mit Textpassagen . Ich möchte, dass endlich
einmal ein Befürworter dieser Handelsverträge mit mir
wirklich über Textpassagen diskutiert und nicht einfach
immer allgemein sagt: Alles ist gut .
Dann machen wir das doch einmal . Der neue Text von
CETA, der vorliegt, beinhaltet bis heute nicht einmal das
Wort „Vorsorge“ .
Ich erwarte, dass in einem Vertrag, den wir mit Kanada
abschließen, die Vorsorge inhaltlich berücksichtigt wird .
Sonst können wir die Vorsorge auch nicht inhaltlich
durchsetzen .
Der Begriff „Vorsorge“ fehlt, aber die Passagen, die
regeln, wie die Kanadier ihre gentechnisch veränderten
Produkte auf den europäischen Markt bringen können,
was über Jahrzehnte bei der WTO kritisch diskutiert wor-
den ist, stehen alle im Text . Das heißt, auf der einen Seite
ist die Tür geöffnet, um Gentechnikprodukte nach Euro-
pa zu bringen, auf der anderen Seite sehen wir hier von
der Vorsorge nichts . Das geht so nicht .
Frau Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Wiese?
Na klar . Ich habe sowieso so wenig Redezeit, deshalb
freue ich mich natürlich darüber .
Frau Kollegin Höhn, vielen Dank dafür, dass Sie dieZwischenfrage zulassen . – Sie haben gesagt, dass wir inden Text einsteigen und inhaltlich diskutieren sollten .Das Angebot will ich gerne annehmen und in diesem Zu-sammenhang eine Frage stellen .Der CETA-Vertragstext steht bei mir schon lange inzwei Leitz-Ordnern auf dem Schreibtisch; mit den An-hängen sind das gut 1 500 Seiten . Ich nehme den Textsehr interessiert auseinander und hole mir die entspre-chende Expertise .Meine konkrete Frage: In Artikel X .2 ist eindeutigfestgelegt, dass die gesamte regulatorische Kooperation,die zwischen der kanadischen Seite und der Seite der Eu-ropäischen Union angedacht ist, wenn das Abkommenletztendlich in Kraft tritt – wir müssen an dieser Stelle janoch im Konjunktiv reden –, auf einer freiwilligen Ba-sis beruht . Gleichzeitig ist in Artikel X .6 – oder X .7 –eindeutig festgelegt, dass sämtliche Beratungen und derEinigungsprozess, auf den man sich in Bezug auf dieDirk Wiese
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freiwillige Kooperation geeinigt hat, durch demokratischlegitimierte Gremien, abhängig von der EU-only-Zu-ständigkeit, der gemischten Zuständigkeit, gehen müs-sen und dass es kein Inkrafttreten durch ein irgendwiegeartetes Gremium gibt . Vielmehr müssen die Prozessedemokratisch legitimiert sein . Stimmen Sie mir zu, dassdas so im CETA-Text, der uns bis jetzt in der englischenFassung vorliegt, drinsteht?
Herr Wiese, Sie sind Jurist . Der erste Punkt ist, dass
in der neuen Fassung in Bezug auf die regulatorische
Kooperation einige Punkte gegenüber der alten Fassung
geändert worden sind . Es gibt aber immer noch Gremien,
die nicht demokratisch legitimiert sind, aber die Anhänge
mit wichtigen Details verändern können . Deshalb lehnen
wir die Passagen über die regulatorische Kooperation im
Vertrag eindeutig ab . So wollen wir das nicht .
Im Übrigen haben Sie überhaupt nichts zu den Gen-
technikkapiteln gesagt, über die ich gerade rede . Hier ist
nichts geändert worden . Bisher ist es so: Gegenüber Gen-
technikpflanzen, deren Risiko noch nicht überprüft wor-
den ist, gilt in Europa die Null-Toleranz . Das heißt, diese
Produkte dürfen in anderen Produkten nicht auftauchen .
In diesem Vertrag steht jetzt aber, dass es das gemeinsa-
me Ziel ist, diese Null-Toleranz-Regelung abzuschaffen .
Was ist das denn? Das ist doch eine Absenkung des Ver-
braucherschutzniveaus, nicht mehr und nicht weniger .
Deswegen muss das da gestrichen werden .
Es gibt im Vorgriff auf den Vertrag sogar schon jetzt
Veränderungen beim Verbraucherschutz . Letzte Woche
haben sich Kanadas Sojahersteller bei der Europäischen
Kommission beschwert, sie wollten endlich eine Zulas-
sung für ihre gentechnisch veränderten Sojaprodukte ha-
ben; denn das sei ihnen in den Verhandlungen zu CETA
zugesichert worden . Der Verbraucherschutz wird also
schon im Voraus ausgehebelt, und das geht einfach nicht .
Das dürfen wir nicht zulassen .
Wenn CETA vorläufig in Kraft tritt, dann heißt das
doch de facto, dass sich die Gentechnikunternehmen aus
den USA die Hände reiben; denn dann brauchen sie TTIP
überhaupt nicht mehr . Die Unternehmen haben nicht
nur Briefkastenfirmen, sondern sie haben richtige Toch-
tergesellschaften in Kanada und können dann über das
CETA-Abkommen all ihre Gentechnikprodukte schön
nach Europa bringen . Deshalb, meine Damen und Her-
ren, dürfen wir einer vorläufigen Inkraftsetzung, aber
auch einer Inkraftsetzung von CETA nicht zustimmen;
denn sie würde Fakten schaffen, die wir dann nicht mehr
ändern können .
Vielen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für
die CDU/CSU .
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute überdie beiden von der Linksfraktion vorgelegten Anträgezur Aussetzung des CETA-Verfahrens . Ich glaube, dassden Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion nichtbewusst ist, was es bedeutet, ein umfassendes Freihan-delsabkommen zu erarbeiten und entsprechend mitzuge-stalten .Ich verstehe die ablehnende Haltung gegenüber CETAund auch gegenüber TTIP nicht; denn letztendlich beruhtder Erfolg unserer Volkswirtschaft, vor allen Dingen derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in unseren er-folgreichen Betrieben arbeiten, darauf, dass wir umfas-senden Freihandel mit vielen Ländern betreiben . Unterdiesem Gesichtspunkt sollte man diese Vereinbarungenbewerten .
Herr Kollege Ernst, Sie waren Betriebsrat, und zwar ineinem international tätigen Unternehmen, und müsstendaher wissen, was es bedeutet, Zugang zu anderen Märk-ten zu haben .
– Ja, aber den kann man immer verbessern . Herr KollegeErnst, das kann man immer verbessern .
Die Vorteile von CETA liegen doch auf der Hand:99 Prozent der Zölle und sonstigen Barrieren werdenletztendlich abgebaut . Damit wird ein besserer Marktzu-gang für unsere Produkte geschaffen – zum Segen für un-sere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil sie da-durch dauerhaft krisenfeste Arbeitsplätze haben werden .Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken,die Sie sich doch immer als Arbeitnehmervertreter be-zeichnen, müssten doch eigentlich glühende Unterstützervon TTIP und CETA sein .
Auf Basis von CETA werden sich Firmen ausDeutschland und anderen EU-Ländern an Ausschreibun-gen der öffentlichen Hand in Kanada beteiligen können,was bisher nicht möglich ist . So wie in Amerika „BuyAmerican“ gilt, gilt in Kanada „Buy Canadian“ . Für unsbedeuten diese Abkommen Marktzugänge; denn dannkönnen sich unsere Firmen dort engagieren . Ich glaube,Dirk Wiese
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das muss unser Ziel sein . Wir müssen im Sinne unse-rer Exportwirtschaft arbeiten; denn 50 Prozent unsererDienstleistungen, Waren und Güter gehen in den Export .Verehrter Herr Kollege Ernst und liebe Kolleginnen undKollegen der Linken, Sie brüsten sich zwar immer damit,für die Arbeitnehmer einzutreten, in diesem Fall sind Sieletztendlich aber nicht bereit, durch die Verträge einengestaltenden Beitrag zu leisten .
Wir haben bei den Verträgen, die die EU ausgehan-delt hat, darauf geachtet – das ist mitentscheidend –, dassunsere Daseinsvorsorge, dass vor allen Dingen unserekommunalen Einrichtungen geschützt bleiben; denn dasist für uns eine wesentliche Grundlage . Dasselbe gilt fürUrheberrechte, in besonderer Weise für regionale Her-kunftsbezeichnungen; denn auch sie können ein wesent-licher Anreiz unserer Produkte sein . Das muss am Endegesichert bleiben . Ich bin davon überzeugt, dass wir miteiner positiven Einstellung mit diesem Abkommen etwasVernünftiges für die Menschen in unserem Land errei-chen .Ich habe den Eindruck, dass es ständig um Grund-sätzliches geht . Die Vertreter der Linken, aber auch vonBündnis 90/Die Grünen, die letztendlich auch Vertreterder Globalisierungskritiker sind, können sich mit solchenVereinbarungen wie TTIP oder CETA in keiner Weiseidentifizieren.
Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Ernst?
Vom Kollegen Ernst immer .
Herzlichen Dank . – Herr Kollege Straubinger, oder
Max, wir kennen uns ja doch ein bisschen
– ja, so ist die Welt; von Bayer zu Bayer –, ich will noch
einmal darauf hinweisen, dass wir jetzt auch darüber dis-
kutieren, ob man das vorläufig anwenden soll. Wärst du
mit mir der Auffassung, dass es – selbst wenn man all
das, was hier eingebracht wurde, akzeptieren würde, die
„großen Chancen“ – angesichts der großen Zweifel in
der Bevölkerung, ob es tatsächlich so wie dargestellt ist,
sinnvoll wäre, eine entsprechende Debatte im Parlament
mit einer Abstimmung über ein Ratifizierungsgesetz zu
führen, bevor man die Verträge vorläufig in Kraft setzt?
Schließlich sind sie dann nicht mehr zurückzuholen . Das
wäre doch unabhängig von der Argumentation sinnvoll .
Die zweite Frage, die ich habe: Die zusätzlichen Mög-
lichkeiten für die Exportindustrie sind dargestellt wor-
den . Ich weiß, dass die Exportindustrie, beispielsweise
die Automobilindustrie, höchst erfolgreich ist, dass wir
Exportweltmeister waren, es pro Kopf immer noch sind,
also eigentlich gar keine Probleme haben, die gelöst wer-
den müssen . In den Handelsabkommen soll aber geregelt
werden, beispielsweise bei TTIP, dass es beim Zugang
unserer Automobilindustrie zum Automobilmarkt in den
USA nur dann einen Fortschritt gibt, wenn gleichzeitig
eine Regelung gefunden wird, die zulasten unserer Bau-
ern geht . Wir beide sind aus Bayern . Dort gibt es auch
Bauern . Wie wollen wir das hinbekommen? Warum sol-
len die Bauern dafür bluten, dass wir im Bereich der Au-
tomobilindustrie noch mehr Exporte haben? Ist das nicht
ein bisschen daneben?
Lieber Kollege Ernst, wenn Sie die Debatte aufmerk-sam verfolgt hätten, dann hätten Sie gehört, wie die ver-schiedenen Vorredner die Grundlagen für eine vorläufigeInkraftsetzung dargestellt haben . Kollege Beyer und auchKollege Wiese haben sehr zutreffend dargestellt, welcheMechanismen wir auf der europäischen Ebene haben; wirhaben sie im Lissabon-Vertrag vereinbart . An diese sollteman sich halten .Natürlich kann man wieder unterschiedlicher Rechts-auffassung sein – wie immer: zwei Juristen, drei Mei-nungen; Entschuldigung gegenüber den Juristen –, aberes ist auch immer darauf zu achten, was gültiges Rechtist. Das gültige Recht erlaubt eine vorläufige Inkraftset-zung in einzelnen Bereichen . Diese sind abgegrenzt . Jetztkann man sich natürlich über die Abgrenzung trefflichstreiten . Ich bin nicht der Meinung, die Kollege Wiesevertreten hat, dass wir zumindest die Investitionsschutz-klausel ausnehmen sollten; denn das ist ein wesentlicherBestandteil . Firmen müssen sich darauf verlassen kön-nen, bei ihren Investitionen Schutz zu haben, wobei daszwischen Deutschland und Kanada vielleicht wenigerproblematisch ist . Lieber Kollege Wiese, Sie wissen viel-leicht, es gibt 28 EU-Länder, in denen es unterschiedli-che Rechtsauffassungen gibt, die wir dabei zu beachtenhaben . – Kollege Ernst, meine Antwort ist noch nichtvorbei . Sie müssen stehen bleiben; denn es kommt nochder zweite Teil der Beantwortung .
Zweiter Teil meiner Antwort . Sie versuchen jetzt na-türlich, einen Keil zwischen Industrie und Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer sowie Bäuerinnen und Bau-ern zu treiben .
– Nein . – Das ist ein völlig unstatthaftes Vorgehen, dasSie hier betreiben . Denn gleichzeitig werden die Agrar-märkte für die europäische Landwirtschaft geöffnet . Mitdiesem Abkommen wird möglich, dass wir für Milch,Käse und sonstige Produkte einen besseren Zugang nachKanada haben . Das müssen Sie in den Vordergrund stel-len, statt plakativ zu sagen, hier würde Industriepolitikgegen Landwirtschaft ausgespielt . Im Gegenteil: Hierwerden für beide Bereiche besondere Möglichkeiten desMax Straubinger
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Handelns bzw . des Austausches geschaffen, und zwareine positive Entwicklung auf beiden Seiten .
Kollege Ernst, jetzt können Sie sich setzen .Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte daraufhinweisen, dass Schiedsgerichte per se nichts Schlech-tes sind; darüber wird meistens gestritten . Ich kann auchnicht erkennen, dass die über 130 Abkommen Deutsch-lands mit anderen Ländern, in denen private Schiedsge-richte vereinbart worden sind, negative Auswirkungen inden betreffenden Ländern, ob in Deutschland oder auchin dem Land, mit dem Deutschland den Vertrag geschlos-sen hat, gehabt hätten . Deshalb ist diese plakative Verteu-felung von Schiedsgerichten in der Öffentlichkeit nichtin Ordnung, bei der Sie so ungefähr sagen: Da gibt es einschlimmes Gericht, eine völlige Neuartigkeit .Dabei ist zu beachten, dass wir auch in unseremRechtssystem danach trachten, manche Streitigkeitennicht im Gericht zu entscheiden, sondern eine freiwilligeVereinbarung zu treffen . Dies ist auch in diesem Bereichbesonders notwendig, und zwar zum Schutz der investie-renden Betriebe in vielen Ländern der Welt und in diesemFall vor allen Dingen in Kanada . Es geht darum, dassdie Investitionen vor Diskriminierung geschützt werden .Das bedeutet aber noch lange nicht, dass staatliches Han-deln beeinträchtigt wäre, wenn es neue Erfordernisse imVerbraucherschutz oder in anderen Bereichen gäbe .Frau Kollegin Höhn, Sie legen dar, dass es angeblichkeinen vorsorgenden Verbraucherschutz in den Vereinba-rungen gäbe .
– Nein, das ist nur angeblich . –Natürlich ist Verbraucherschutz vereinbart,
aber alles auf wissenschaftlicher Basis .
Man kann den Verbraucherschutz natürlich nicht nachdem „Gift des Monats“, das die Grünen erfunden haben,ausrichten . Nach solchen Kriterien kann man keinen Ver-braucherschutz betreiben . Der Verbraucherschutz mussauf wissenschaftlicher Grundlage gestaltet werden .
Das ist dann ein nachvollziehbarer Verbraucherschutz .Verbraucherschutz darf nicht im Rahmen von Kampag-nen betrieben werden, und es darf auch nicht lediglichder Schein von Verbraucherschutz erweckt werden . Da-gegen wehren wir uns, liebe Frau Kollegin .
Herr Kollege Straubinger, es gibt zwei Wünsche nach
Zwischenfragen, von der Kollegin Höhn und der Kolle-
gin Künast, wobei sich die Kollegin Höhn als Erste ge-
meldet hat . Gestatten Sie diese Zwischenfragen?
Ja, ich bin gerne dazu bereit, wobei das für die Kolle-
ginnen und Kollegen, die möglicherweise in die Pfingst-
ferien wollen, dann natürlich eine Verlängerung bedeutet .
– Nein, nein . – Aber ich bin gerne bereit, die Fragen zu-
zulassen .
Dann beginnen wir mit der Kollegin Höhn .
Herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen . – HerrStraubinger, das war eine ganz entscheidende Aussage,die Sie eben gemacht haben; es ist gut, dass hier allesprotokolliert wird . In der Gentechnikforschung ist es so,dass 80 Prozent der Gutachten indirekt oder direkt vonden Unternehmen finanziert werden, die die Gentechnik-produkte selber herstellen . Natürlich sind die Ergebnissedieser Gutachten immer pro Gentechnik . Das ist dochlogisch. Ein Unternehmen wird ja kein Gutachten finan-zieren, das zu einem Ergebnis kommt, das für die Gen-technik negativ ausfällt .Unter diesen Gesichtspunkten hatte die EU bisher im-mer Vorbehalte gegen das sogenannte wissenschaftsba-sierte Anerkennungsverfahren; denn es ist de facto einrisikobehaftetes Anerkennungsverfahren . Die Risikenwerden nämlich vor allen Dingen von den Unternehmenerforscht, die davon profitieren. Sie sagen jetzt: Genauso muss es gemacht werden; wir brauchen ein wissen-schaftsbasiertes Verfahren . – Für die Verbraucher inDeutschland bedeutet das, dass sie die negativen Aus-wirkungen von beiden Seiten erhalten: Sie bekommendie Gentechnik, und zwar so, wie die Nordamerikaner eswollen, sie haben aber nicht die Haftungsrechte, die es inAmerika gibt . Würden Ihre Vorschläge umgesetzt, würdees für die Verbraucher in Europa sogar schlimmer als fürdie Verbraucher in Amerika . Was Sie vorhaben, ist wirk-lich das Allerschlimmste, das man sich vorstellen kann,Herr Straubinger . Das geht überhaupt gar nicht .
Max Straubinger
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Frau Kollegin Höhn, Sie wissen haargenau, dass wir
die Grüne Gentechnik in Europa ablehnen . Deshalb wird
sie hier auch keinen Zutritt haben, ganz einfach . So ist es .
Jetzt kommt die Kollegin Künast mit ihrer Zwischen-
frage .
Herr Straubinger, der einzige Satz von Ihnen, den ich
gut fand, war: Sie wissen genau, dass wir die Grüne Gen-
technik ablehnen . – Vor zehn Jahren wäre Ihnen auch das
nicht über die Lippen gekommen . Bevor Sie diesen Satz
zu Papier gebracht hätten, hätte sich eher Ihr Stift verbo-
gen; aber das ist ja schon mal etwas .
Sie haben im Zusammenhang mit der Frage, welchen
Prinzipien der Verbraucherschutz folgt, von „wissen-
schaftsbasiert“ geredet . Ist Ihnen eigentlich bewusst,
dass es, was die Prinzipien betrifft, in Europa und in den
USA bzw . in Kanada eine grundsätzlich andere Herange-
hensweise gibt? Bei uns ist es das Vorsorgeprinzip, das
„precautionary principle“, das besagt: Wenn es bei ei-
nem Stoff wissenschaftlich begründete Hinweise darauf
gibt, dass er mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu
einem Schaden führt, dann lassen wir ihn im Interesse
der Sicherheit der Verbraucher, ihrer Gesundheit und der
Umwelt nicht zu und sagen: Er ist nicht verkehrsfähig .
Die Amerikaner folgen eher dem WTO-Prinzip . Sie wür-
den einen Stoff erst dann verbieten und ihn aus dem Ver-
kehr ziehen – ich überzeichne das etwas –, wenn welt-
weit alle Wissenschaftler sagen würden: Er ist gefährlich;
er löst bestimmt Krebs aus . – Das sind zwei Prinzipien,
die nicht identisch sind .
Ich frage Sie: Wie kann man Ihrer Meinung nach si-
cherstellen, dass unser Vorsorgeprinzip, mit dem wir
Alte, Junge und Babys in vielen Bereichen vor gesund-
heitlichen Gefahren schützen, im Rahmen von CETA
verankert wird, wenn es nicht einmal drinsteht und nicht
bekräftigt wird, sondern wenn sogar eher die Gefahr
droht, dass es später in der regulatorischen Kooperation
unter die Räder kommt? Ich weiß nicht, wie Sie das ma-
chen wollen . Sie reden dies einfach nur weg .
Frau Kollegin Künast, wir reden hier nichts weg . Der
vorsorgende Verbraucherschutz, der bei uns Gültigkeit
hat, findet hier tagtäglich Anwendung. Wir haben gestern
im Parlament über eine solche Frage diskutiert . Dabei
wurde auf wissenschaftlich basierter Basis vom Bun-
desministerium der Landwirtschaft dargelegt, natürlich
aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der
wissenschaftlichen Erarbeitung durch die nachgeordnete
Behörde, dass der Wirkstoff Glyphosat hier eine Zulas-
sung bekommen soll . Dies ist letztendlich auch mit durch
das Vorsorgeprinzip entstanden und nicht unter dem Ge-
sichtspunkt der Kampagnenfähigkeit einzelner Teile, die
mit eine Rolle spielen . Ich bin sehr zuversichtlich, dass
wir dies beherrschen können .
Angesichts dessen, dass auch in Amerika Verbraucher-
schutz eine Gültigkeit hat –, das werden Sie wohl nicht
bestreiten, Frau Kollegin Künast –, werden wir sicherlich
vernünftige Regelungen und ihre Umsetzung haben .
Herr Kollege Straubinger, Sie haben schon ausführ-
lich und außerordentlich freigiebig Zwischenfragen zu-
gelassen . Es gibt eine weitere vom Kollegen Barthel .
Jawohl .
Ich würde allerdings vorschlagen, dass wir nach dieser
Zwischenfrage etwas zurückhaltender sind .
Genau dies sollte meine Zwischenfrage auslösen . Kol-lege Straubinger, geben Sie mir recht, dass zu alledem,was uns hier an Zwischenfragen und an Textbausteinenzu CETA um die Ohren gehauen wird, heute kein Antragvorliegt und wir darüber eigentlich gar nicht beraten?
– Nein, der Grünenantrag steht heute gar nicht zur Ent-scheidung an, und die anderen auch nicht .
Ein zweiter Punkt ist, dass Sinn und Inhalt unsererBestrebungen ist, das Verfahren so durchzuführen, wiedie Koalition im Wirtschaftsausschuss mit vorgeschlagenhat, nämlich in Ruhe darüber zu beraten, wenn der deut-sche Text vorliegt, und genau dann all diese Problemezu wälzen, die Sie vorgetragen haben . Es führt uns jetzt
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überhaupt nicht weiter, uns links und rechts einzelne Ka-pitel von CETA um die Ohren zu hauen .
Da haben Sie, Herr Kollege Barthel, völlig recht . Die-
ses Verfahren stellt die richtige Vorgehensweise dar . Ich
habe den offensichtlichen Eindruck, dass die Kollegin-
nen und Kollegen der Opposition immer lieber vorher
diskutieren und stärker über Mutmaßungen diskutieren
als über Inhalte .
Deshalb pflichte ich Ihnen bei, dass wir das Verfahren
ganz geordnet tätigen .
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Schluss feststellen: Die deutsche Wirtschaft und die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben ein gehöriges
Interesse daran, dass wir mit internationalen Vereinba-
rungen weiterhin positiv auf die Märkte treten können .
Das gilt für viele Bereiche . Damit ermöglichen wir vor
allen Dingen, dass Arbeitsschutzstandards auch in ande-
ren Ländern angehoben werden . Es hat noch kein ein-
ziges Abkommen dazu geführt, dass Arbeitsschutzstan-
dards geschleift worden wären, wie es immer befürchtet
wird, lieber Kollege Ernst. Beste Beispiele findet man
im Handel, wenn man über den Zugang von Entwick-
lungsländern zu unseren Märkten redet . Unsere Handels-
unternehmen werden beauftragt, Vereinbarungen dahin
gehend zu schließen, dass Kinderarbeit verboten ist und
dass bessere Arbeitsschutzstandards geschaffen werden,
um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesen
Ländern zu schützen .
Wir sollten also nicht so viele Ängste in die Gesell-
schaft tragen, die in keinster Weise begründet sind .
Im Gegenteil: Letztlich können wir vielen Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern nicht nur bei uns in
Deutschland, sondern auch in anderen Ländern Hilfestel-
lungen geben und Positives bewirken .
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerk-
samkeit .
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Dr . Nina Scheer .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich denke, es ist ganz selbstverständlich, dassder Prozess des Entstehens des Vertrags nicht so ausge-staltet werden kann, dass elementare Prozessschritte wiezum Beispiel die Ratifikation von Verträgen hinterheruntergraben sind . Insofern ist es selbstredend, dass einProzess, bei dem aus einer vorläufigen Anwendung einfaktisches Untergraben des Ratifikationsprozesses folgt,von uns nicht mitgetragen wird .Jetzt stellt sich die Frage, welche Schlussfolgerungwir zum jetzigen Zeitpunkt daraus ziehen . Dirk Wiese hatschon zu Recht darauf hingewiesen, dass wir im Bereichder Schiedsgerichtsbarkeit auch auf Drängen unseresWirtschaftsministers Sigmar Gabriel in den letzten Mo-naten bereits maßgebliche Änderungen erreicht haben –und das, obwohl das noch kurz vorher für die Opposition,aber auch für Teile aus unseren Reihen allein vom for-malen Ablauf her undenkbar erschien . Man hat gesagt:Nein, das ist ausverhandelt, wir befinden uns nur schonin der Rechtsförmlichkeitsprüfung, das geht formal ei-gentlich gar nicht, und die anderen verlassen sich ja auchauf diesen Prozess . Bei genauerem Hinschauen hat manaber gesehen: Das ist nicht vertretbar, man kommt sonicht weiter, so ein Vertragsergebnis wird hinterher nichtabstimmungsfähig sein .Also musste man sich diesen Dingen natürlich wid-men . Deswegen ist auch die Auseinandersetzung mit ge-nau diesen Punkten, die wir für nicht praktizierbar halten,notwendig . Hier ist die Schiedsgerichtsbarkeit ein Ele-ment, aber nicht das einzige .Genau in diesem Prozess befinden wir uns gerade.Frau Dröge, Sie haben auch erwähnt, inwiefern dieserProzess und die Auseinandersetzung darüber hier im Par-lament, um diese Dinge zu klären, wichtig sind . Ich den-ke, gerade mit Blick auf die sehr differenzierten und sehrunterschiedlichen Positionen alleine in meiner Fraktionund beim Koalitionspartner ist zu erkennen, dass wir hiernoch große Klärungsbedarfe haben .Ich möchte jetzt auch noch einmal an der Frage an-setzen, was wir von Freihandelsabkommen überhaupterwarten .Wenn gesagt oder einfach unterstellt wird – das ist jagerade schon aufgegriffen worden –, wir würden demWissenschaftsansatz folgen und damit das Vorsorgeprin-zip quasi über Bord werfen, dann muss ich sagen: Nein,dann haben wir keine Grundlage, um zu einer Einigungzu kommen . Das gilt genauso, wenn unterstellt wird, wirwollten, dass Freihandel im Grunde genommen mit demfreien Markt gleichzusetzen ist . Nein, wir sind eigentlichschon einen Schritt weiter . Wir haben doch in den letztenMonaten erfahren, dass es sich zuspitzt . Der Kristallisati-onspunkt liegt genau darin, dass wir einerseits zwar Han-del wollen und in der globalisierten Welt auch Handelbrauchen – als Exportnation wäre das auch schwer andersvorstellbar –, andererseits aber auch Regeln benötigen .
Klaus Barthel
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Die Vereinbarungen auf Ebene der UN vom letzten Sep-tember – die UN-Nachhaltigkeitsziele – haben auch ge-zeigt, dass wir noch einen großen Bedarf haben, uns ge-meinsame Regeln zu geben .Ich finde, unser Hauptklärungsbedarf besteht darin,dass wir noch einmal herausarbeiten müssen, inwieferndie Verhandlungsmandate und die Prozesse, die in denletzten Jahren daraus entstanden sind, tatsächlich mitden teilweise sehr alten Verhandlungsaufträgen, die zur-zeit noch „in der Mache“ sind, und dem gewachsenenWunsch nach einer gerechteren Welt und fairen Handels-bedingungen kompatibel sind. Wir befinden uns im bes-ten Prozess, um genau dieses zu klären. Insofern findeich es verfehlt, jetzt das Augenmerk auf die vorläufigeAnwendung zu richten, zu einem Zeitpunkt, an dem wirnoch gar nicht wissen, was hinterher bestenfalls über-haupt vorläufig angewendet werden kann.Ich habe nur noch wenige Sekunden Redezeit undkomme zum Schluss: Herr Pfeiffer, Sie haben sich hierbemüht, ein paar Mittelständler zu zitieren, die sich dasso vorstellen, wie Sie sich das vorstellen . Ich fange erstgar nicht damit an, die Mittelständler zu nennen, die gro-ße Vorbehalte haben und die gerne fairen Handel wollenstatt den Freihandel, den Sie wollen .
Ich glaube, wenn ich die alle aufzählen würde, dann wür-den wir noch über Pfingsten hier sitzen.Vielen Dank .
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Rainer Spiering für die SPD .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute, kurz vor demPfingstfest, ist ja vielleicht ein interessanter Tag, um die-ses Thema zu debattieren .
– Das ist angekommen .Unbemerkt durch große Teile von uns selbst undder Bevölkerung ist Deutschland zu einem der größtenAgrar exporteure der Welt geworden . Das hat vielleichtdie eine oder andere Folge, die uns in Deutschland mög-licherweise nicht schmeckt . Fakt ist aber: Deutschlandist einer der größten Agrarexporteure der Welt geworden,und zwar auf der Basis unseres vorsorgenden Prinzipsund auf der Basis sehr wohlüberlegter Produkte . Einerausgesprochen intensiven und erfolgreichen Landwirt-schaft ist eine sehr intensive und gut funktionierendedeutsche Landmaschinentechnologie vorgelagert .Ja, ein Freihandelsabkommen kann Komplikationenmit sich bringen; die diskutieren wir jetzt, vielleicht auchim großen Rahmen, im Rechtsraum . Vielleicht kann manaber auch eine Umkehrung machen und unser Augen-merk im Moment darauf richten, welche Chancen die-ses Abkommen bieten kann . Vielleicht ist es auch eineChance, die Basis unserer Produktion in andere Länderzu exportieren . Frau Höhn und Frau Künast, Sie habeneben gesagt: Wir handeln nach dem Vorsorgeprinzip .Vielleicht führt das dazu, dass auch andere Länder in derLage sind, zu akzeptieren, dass wir unglaublich gute undtolle Produkte haben .Der kanadische Markt ist unter anderem sehr aufnah-mefähig für Milchprodukte .
Wir haben eine sehr intensive Milchproduktion . Wir ha-ben zurzeit mit unserer Milchproduktion intensive Pro-bleme . Deswegen stelle ich mir die Frage, ob wir nichteinmal eine Umkehrung der Ideengebung eines Freihan-delsabkommens, trotz aller Kritik, die daran geübt wird,machen können .Also, alle importierten Güter der Agrar- und Ernäh-rungswirtschaft müssen weiterhin die strengen Vorschrif-ten der EU oder Kanadas im Bereich von Gesundheit undSicherheit erfüllen . Kanada akzeptiert einen sehr umfas-senden Schutz für europäisch geschützte Ursprungsbe-zeichnungen. Es gibt also keine Verpflichtung für dieEU, Rechtsvorschriften zu ändern, um die Einfuhr vongenetisch veränderten landwirtschaftlichen Kulturpflan-zen zu kontrollieren .Jetzt erlaube ich mir einen Schlenker und sage etwaszu genveränderten Produkten . Meine sehr persönlicheMeinung dazu ist: Wissenschaft ist immer nur der Zeit-punkt des Wissens, das man hat . Gerade bei der Verände-rung von Gengut kann mir überhaupt kein Wissenschaft-ler sagen, ob diese Veränderung auf Dauer gut geht . Egalwie stark er in der Forschung ist: Das kann er mir nichtsagen . Deswegen sage ich, dass wir mit genverändertenProdukten nichts zu tun haben wollen – das ist auch dieMeinung der SPD-Fraktion –, weil Wissenschaft an ihreGrenzen kommt . Man kann es zwar Science Base nen-nen, aber da gibt es eine Grenze . Deswegen wollen wirdas nicht . Deswegen nehmen Sie uns bitte ab, dass wiralles tun und auch dafür geradestehen werden, dass dieVeränderung des Genguts nicht eintritt . Das Vertrauensollte man haben .
Jetzt, Frau Höhn, komme ich zu der Frage, die An-tragsgrundlage ist. Da gibt es etwas, was ich schade fin-de . 2009 haben wir mit den Lissabon-Verträgen einensehr wichtigen und effizienten Schritt gemacht – ob ergut war, diskutieren wir gerade –, nämlich die Handels-politik in die Hände der EU zu legen . Ich weiß nicht, obsich damals alle darüber im Klaren waren, welch weitrei-Dr. Nina Scheer
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chender Schritt das ist . Aber es ist ein ganz elementarerSchritt zur Europäisierung des gemeinsamen Marktes .Genau da grätschen wir jetzt rein .Als Antwort auf die Frage nach der Anwendung habenwir Kriterien, mit denen wir zumindest nach meinem Da-fürhalten sicherstellen, dass dieses Abkommen nicht inKraft treten kann, wenn das Europäische Parlament undder Europäische Rat das nicht wollen . Nach den gelten-den Rechtsvorschriften und danach, wie wir im Momenteuropäisches Recht umsetzen, wird die Inkraftsetzungnicht erfolgen, wenn der Europäische Rat und das Euro-päische Parlament nicht zustimmen . Meine große Bitteist – deswegen eben der Hinweis auf Pfingsten –, dasswir einmal dem Europäischen Parlament trauen und auchan die große europäische Idee glauben .Danke schön .
Vielen Dank . – Ich schließe damit die Aussprache .
Wir kommen jetzt zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/8391 . Die Fraktion Die Linke
wünscht Abstimmung in der Sache . Die Fraktionen von
CDU/CSU und SPD wünschen die Überweisung an den
Ausschuss für Wirtschaft und Energie . Nach ständiger
Übung stimmen wir zunächst über den Antrag auf Aus-
schussüberweisung ab . Ich frage deshalb: Wer stimmt für
die Überweisung an den Ausschuss? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Überweisung
mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/
Die Grünen beschlossen .
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 18 b: Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für eine lebendige
Demokratie – Fairer Handel statt TTIP und CETA“ . Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/8128, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/6818 abzulehnen . Wer für diese Be-
schlussempfehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich
Drucksache 18/8334
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
sehe ich keinen . Dann ist diese Redezeit so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und darf zu Beginn dieser
Aussprache dem Parlamentarischen Staatssekretär Enak
Ferlemann für die Bundesregierung das Wort erteilen .
E
Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die Bundesregierung legt Ihnen heute einen Gesetzent-wurf zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereichvor . Dabei geht es um ein sehr wichtiges Gesetz, auf dasviele im Eisenbahnsektor schon seit längerer Zeit warten .Die Eisenbahn ist ein faszinierendes Verkehrssystem .Aber die Eisenbahn braucht einen rechtlichen Rahmenund eine infrastrukturelle Ausstattung . Die Zukunft desEisenbahnwesens liegt nicht in den nationalen Bahnen,sondern in einem europäischen Eisenbahnraum . Ich be-tone: in einem gemeinsamen europäischen Eisenbahn-raum. Denn Zugverkehr ist dann besonders effizient,wenn er über lange Strecken geht, insbesondere was denHochgeschwindigkeitsverkehr angeht, aber auch im Gü-terverkehr . Deswegen ist Eisenbahn ein prioritäres euro-päisches Verkehrssystem .Dafür brauchen wir neben der Infrastruktur, die anvielen Stellen noch Ausbaubedarf hat, aber in Europa ineinem guten Zustand ist, vor allem einen Ordnungsrah-men . Wir brauchen transparente Regeln für den Wettbe-werb . Wir brauchen höhere Sicherheitsstandards und dieMöglichkeiten, Innovationen in das System einführen zukönnen .Dabei haben die EU-Kommission und mit ihr auch dasEuropäische Parlament seit langen Jahren einen Grund-satz: Die Effizienz des Systems erfordert die Trennungvon Netz und Betrieb . Das heißt, die Infrastruktur iststaatlich und der Betrieb durch viele verschiedene Be-treiber privat .Wir in Deutschland haben dazu eine etwas andere Po-sition .
Wir fahren ein sogenanntes integriertes System . Dasheißt, wir trennen nicht Netz und Betrieb, sondern wirfahren beides in einem integrierten Modell, was vieleVorteile bietet .
Allerdings hielt man in Europa vom ersten bis zumvierten Eisenbahnpaket an dem Grundsatz fest . Aberdurch beharrliches Wirken gerade dieser Bundesregie-rung ist es gelungen, als Ausnahme von diesem starrenGrundsatz möglich zu machen, dass auch integrierte Mo-delle aus europäischer Sicht genehmigungsfähig sind .Rainer Spiering
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Aber wenn man dies durchsetzen will, braucht man,da man es mit Monopolen zu tun hat, eine Marktdarstel-lung . Dafür braucht man eine strenge Regulierung . Wirhaben Ihnen in der vergangenen Legislaturperiode denEntwurf eines sehr strengen Regulierungsgesetzes vorge-legt, der damals nicht mehr vom Parlament beschlossenwurde . Wir haben Ihnen in dieser Legislaturperiode wie-derum einen Regulierungsgesetzentwurf vorgelegt, dereine Regulierung nach dem Standard der EU-Richtlinienausweist . Überall da, wo die EU-Richtlinie Spielraumfür nationale Gesetzgebung lässt, haben wir ihn genutzt,um das Gesetz besonders einfach, aber auch besonderstransparent und gut umsetzbar zu machen . Ich glaube, esist gut, dass die Europäer uns nicht mit einer Verordnungbeschränken, sondern eine Richtlinie erlassen haben, dieuns einen gewissen Handlungsspielraum gibt, und denhaben wir genutzt .Wir haben uns für die Entgeltregulierung entschieden .Ich glaube, es ist gut, dass wir das gemacht und Ihneneinen entsprechenden Vorschlag vorgelegt haben . Dennso wird vorab klargestellt, wer welche Trassenpreise zubezahlen hat . Damit ein Monopolist sich nicht selber dieTrassenpreise so genehmigen kann, wie er sie gerne hät-te, haben wir Ihnen, glaube ich, ein gutes System vorle-gen können, mit dem sie im Markt simuliert werden .Ein Sonderfall ist der Nahverkehr . Parallel zu denBeratungen über das Regulierungsgesetz geht es umdas Regionalisierungsgesetz . Hiermit gibt der Bund denLändern das Geld, um den Nahverkehr auf der Schienein Deutschland möglichst effektiv und effizient zu be-treiben . Dafür stellen wir ab diesem Jahr die sagenhafteSumme von 8 Milliarden Euro bis einschließlich 2031bei einer jährlichen Steigerungsrate von rund 1,8 Prozentbereit . Die Länder erwarten von uns, dass wir bei denTrassenpreissteigerungen nach Möglichkeit nicht überdiese 1,8 Prozent hinausgehen; denn dann wird die effek-tive Summe geringer .
Dem wollen wir auch Rechnung tragen . Deswegen habenwir Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie wirdiesem Länderbegehren entsprechen können . Wir wollendem Regulierer zwar Vorgaben machen . Aber diese Vor-gaben dürfen das Regulieren nicht unmöglich machen .Ich glaube, wir haben im Gesetzentwurf einen guten Wegvorgeschlagen .Natürlich muss man wissen, dass alles, was wir imNahverkehr nicht umlegen können, auf den Fernver-kehr und den Güterverkehr zusätzlich umgelegt werdenmuss . Wir haben uns aber dazu entschieden, Ihnen diesvorzuschlagen, weil wir uns mit den Ländern bei denBeratungen über das Regulierungsgesetz so verständigthaben . Es ist daher richtig, das so im Gesetzentwurf vor-zusehen . Wir werden gerade über diesen Punkt sicherlicheine breite Debatte führen: Ist die vorgeschlagene Rege-lung gut? Kann man sie so umsetzen? – Auch die Länderwerden sich an dieser Diskussion weiterhin beteiligen .Aber insgesamt kann man feststellen, dass wir für dieDiskussion eine sehr gute Grundlage geschaffen haben .Ich wünsche mir, dass das von Ihnen und den Ländern imBundesrat mitgetragen wird .Es ist wichtig, dass wir diese Regulierung bekommen;denn nur mit einer strengen Regulierung können wir dasintegrierte Modell weiterhin betreiben und es bei der Eu-ropäischen Kommission genehmigungsfähig halten . Dasist für unser Eisenbahnwesen eine zwingende Vorausset-zung . Deswegen hat dieser Gesetzentwurf die von mireingangs geschilderte Bedeutung .Ich wünsche uns gute Beratungen dieses Gesetzent-wurfs und freue mich auf kontroverse, aber letztlich ziel-führende Debatten, die dann hoffentlich zum Beschlussdieses Gesetzentwurfs führen werden .Herzlichen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Leidig für
die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Ich glaube, kein Eisenbahnregulierungsge-setz – egal wie es aussieht – löst das Grundproblem . DasGrundproblem bei der Bahn ist nicht die Trennung bzw .Nichttrennung von Netz und Betrieb, sondern die Tat-sache, dass die Deutsche Bahn AG auf Privatisierungs-kurs gesetzt wurde und darauf ausgerichtet ist, betriebs-wirtschaftlichen Gewinn zu machen . Richtig wäre, dieDeutsche Bahn am Gemeinwohl zu orientieren und dasUnternehmensziel so festzulegen, dass möglichst vieleMenschen gute Bahnanbindungen haben .
Deshalb ist es eigentlich höchste Zeit, dass Sie eine Re-form der Unternehmensform planen, anstatt an Sympto-men herumzudoktern, die nicht zu heilen sind, weder mitWettbewerbsverstärkung noch mit Anreizsystemen . DieGrundausrichtung wird schließlich bisher durch Gewinn-maximierung bestimmt .Wir haben dieses Problem in der Vergangenheit anvielen Stellen gesehen . Hervorragend zu sehen war dasbei Hartmut Mehdorn als Gallionsfigur, der die DeutscheBahn AG auf Börsenkurs getrimmt hat . Unter ihm wur-den 40 Prozent der Weichen aus dem Netz entfernt und80 Prozent der Gleisanschlüsse gekappt . Tausende Bahn-höfe wurden verrammelt, verriegelt und verkauft . Wir ha-ben Streckenstilllegungen und Kaputtsparen erlebt . DasS-Bahn-Chaos in Berlin – das ist noch gar nicht so langeher – ist entstanden, weil Werkstätten geschlossen wur-den . Das alles wurde gemacht, weil Mehdorn sparen unddie Bahn für die Börse attraktiv machen wollte . DieserKurs ist leider noch nicht zu Ende . Unter Herrn Grube,der sagt, dass es um das Brot-und-Butter-Geschäft geht,wurde die Strategie des Konzerns Deutsche Bahn AGfortgesetzt, Auslandsbeteiligungen einzukaufen .Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
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Wir haben inzwischen einen Global Player DeutscheBahn, bei dem mehr als 50 Prozent des Umsatzes nichtaus dem Eisenbahnbetrieb kommen, sondern von derStraße, vom Flugverkehr und von der Logistik, die mitder Bahn gar nichts zu tun haben . Das ist ein grundsätz-liches Problem, weil sich dann natürlich das Augenmerkdes Managements auf ganz andere Dinge richtet . Daranmüssen wir etwas ändern .Wenn Herr Grube jetzt darüber redet, dass er priva-te Investoren an der Logistiksparte beteiligen will, dannheißt das, dass private Kapitalanleger direkt mit amTisch des Deutsche-Bahn-Konzerns sitzen . Sie könnenjetzt schon davon ausgehen, dass alles, was sich aus de-ren Sicht nicht rentiert, geschlossen und kaputtgemachtwird . Es wird jetzt schon darüber geredet, dass HunderteGüterverladestationen stillgelegt werden . Ich bitte Sie:Wenn wir über die Verkehrswende reden und wenn wirmehr Güter auf der Schiene transportieren wollen, dannmüssen wir doch diese Kapazität erhalten und ausweiten .
Auch wenn es sich im Moment nicht lohnt, so ist dasdoch eine volkswirtschaftliche Perspektive und eine Fra-ge der Nachhaltigkeit . Deshalb müssen wir die DeutscheBahn ganz anders aufstellen .Ich möchte Sie einmal auf einen anderen Bereich auf-merksam machen, der auch eine große Bedeutung hatund der völlig anders organisiert ist: Das ist die Wasser-wirtschaft . Ich war vor ein paar Jahren in einem Was-serwerk und habe dort mit den Beschäftigten und auchmit dem Chef des Wasserwerks sprechen können . Ichfand ganz interessant, mit welcher Selbstverständlichkeitdiese Mitarbeiter davon ausgehen, dass es ihre Aufgabeist, möglichst viele Menschen mit gutem Trinkwasser zuversorgen, möglichst effizient für die Volkswirtschaft dieAbwasserentsorgung zu organisieren und die Wasserre-servoire zu schützen .Sie bekennen sich – das tun sie auch öffentlich; das istsehr spannend – zu einem Unternehmen in öffentlicherHand, zu ihrer gemeinwohlorientierten Verantwortung .Nix Global Player, nix Privatisierung . Sie lehnen dieIntervention der Monopolkommission, die auch immerwieder kommt, ab, weil sie sagen: Was öffentliches Gutist, muss in öffentlicher Verantwortung und am Allge-meinwohl orientiert organisiert werden .
Das heißt zum Beispiel auch, dass in der Allianz der öf-fentlichen Wasserwirtschaft 100 Prozent der Einnahmen,die aus der Wasserbewirtschaftung erzielt werden, wie-der in die Wasserbewirtschaftung hineinfließen.
– Nein . Grube hat Arriva für 2 Milliarden Euro gekauft .Das ist ein Busunternehmen, ein Global Player, der über-haupt nichts mit der Eisenbahn zu tun hat . Das ist derGrundfehler . So etwas brauchen wir nicht .
Wir haben als zweites Prinzip der öffentlichen Wasser-wirtschaft die Kooperation mit anderen Partnern . NixWettbewerb, nix Konkurrenz . Kein Ausstechen andererund dafür sorgen, dass über Trassenpreise möglichst vie-le andere zahlen müssen .Ich möchte zum Schluss noch sagen: Weder der Zu-sammenschluss der Privatbahnen noch die Träger desöffentlichen Nahverkehrs sind mit Ihrem Eisenbahnregu-lierungsgesetz einverstanden . Sie sagen: Die Grundprob-leme werden damit nicht gelöst . – Ich bitte Sie, sich nichtan diesem 480-Seiten-Machwerk abzuarbeiten, sonderneine grundlegende Neuorientierung in die Diskussion zubringen .
Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann für die
SPD-Fraktion .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Anwe-sende! Ich komme auf das Thema der heutigen Debattezurück . Das Thema ist, dass die Bundesregierung einenEntwurf für ein Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs imEisenbahnbereich eingebracht hat . Ich habe es Ihnen mit-gebracht . Ich habe vielleicht eine andere Zählung als Sie,Frau Leidig . Hier sind es 294 Seiten plus einige Anlagen,also ein sehr gewichtiges Gesetzeswerk .Wir haben heute die erste Lesung . Bei diesem kom-plexen Regelwerk wird es sicher noch einige Zeit dau-ern, bis wir uns hier zur endgültigen Verabschiedungdieses Gesetzes wiedertreffen . Wie schon vom Staatsse-kretär erwähnt, handelt es sich um die Umsetzung einerEU-Richtlinie . Für die SPD ist aber diese Regulierungim Eisenbahnbereich auch ein Teil, der sich in die Ge-samtstrategie Bahn dieser Bundesregierung einfügt, diewir im Koalitionsvertrag vereinbart haben .Wir wollen einen funktionierenden, leistungsfähigenund bezahlbaren Schienenverkehr .
Hierbei sind der Ausbau und der Erhalt des Schienennet-zes sowie dessen optimale Nutzung im Personen- undim Güterverkehr notwendige Voraussetzungen . Mit derLuFV, der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung,haben wir seit 2009 ein Steuerungsinstrument in derHand, um die Infrastrukturmittel, die wir zur Verfügungstellen, wirksam und qualitätsoffensiv einzusetzen .
Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir denVertrag erneuert, und wir stellen in den Jahren 2015 bis2019 die Rekordsumme von insgesamt 28 MilliardenEuro für den Erhalt der Schieneninfrastruktur zur Ver-fügung .Sabine Leidig
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Kollegin Lühmann, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Leidig?
Ich würde gerne zu Ende vortragen . Dann können
wir uns gerne unterhalten . Außerdem – ich habe es ja
gesagt –: Wir werden diskutieren . Das hier ist die ers-
te Lesung . Ich glaube, wir haben jede Menge Zeit – im
Ausschuss, in den Anhörungen –, darüber noch zu disku-
tieren, Frau Leidig .
Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan haben wir
eine Strategie für die nächsten Jahre vorgelegt, die mit
dem Prinzip „Erhalt vor Neubau“ und der Engpassbesei-
tigung von hochbelasteten Korridoren den Schwerpunkt
an der richtigen Stelle gesetzt hat . In dieser Legislatur-
periode haben wir zusätzlich zu den von mir eben ge-
nannten LuFV-Mitteln insgesamt 4,5 Milliarden Euro
für diese Bedarfsplanmaßnahmen, also die Mittel zum
Neubau, zur Verfügung gestellt . Neben dem Erhalt und
Ausbau der Kapazität des Schienennetzes sowie natür-
lich dem Lärmschutz, dem wir als Bundesregierung und
der sie tragenden Koalition ein besonderes Augenmerk
schenken, gehören faire Preise für die Benutzung der
Infrastruktur und ein diskriminierungsfreier Zugang für
alle Wettbewerber zum Gerüst des Ganzen .
Aber die beste Infrastruktur nutzt wenig, wenn Ver-
kehre aufgrund von Intransparenz und nicht klarer Preis-
gestaltung nicht ausreichend auf der Schiene landen .
Beim Schienennetz haben wir nämlich die Situation – im
Gegensatz zum Personenverkehr und Güterverkehr –,
dass der DB-Konzern über ein Monopol verfügt . In ei-
nem Monopol muss der Staat die Möglichkeit haben,
Renditen zu begrenzen . Gerade weil es ein Monopol ist,
müssen die zugrundeliegenden Preise zur Nutzung der
Infrastruktur auch transparent sein .
Es ist schon etwas seltsam, wenn sich Eisenbahnver-
kehrsunternehmen darüber beschweren, dass sie bei ei-
nem Halt an einem Bahnhof zwar ein Entgelt bezahlen
müssen, es ihnen aber nicht völlig klar ist, wofür sie ei-
gentlich bezahlen, und dass sie gegebenenfalls auch für
eine Ausstattung zahlen müssen, die entweder gar nicht
vorhanden ist oder die ihre Kunden nicht nutzen können .
Daher wollen wir mit diesem Gesetz mehr Transparenz
schaffen . Transparenz konnten wir bisher aufgrund feh-
lender gesetzlicher Grundlagen nicht vollständig schaf-
fen . Mit diesem Gesetz schaffen wir sie .
Allerdings – auch das hat diese Regierung verein-
bart – wollen wir keine Überregulierung bis ins letzte
Schräublein des Schienennetzes oder bis zum letzten Sei-
fenspender in den sanitären Anlagen bei Station und Ser-
vice, sondern wir wollen – das haben wir im Koalitions-
vertrag beschrieben – eine Regulierung mit Augenmaß .
Zentrale Themen hierbei sind die weitere Verbesse-
rung des diskriminierungsfreien Zugangs und die Opti-
mierung der Ausgestaltung der Regulierung . Auch hier
kommt der Bundesnetzagentur eine zentrale Rolle zu, die
wir stärken werden .
Die Preise für die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur
sollen künftig nicht mehr unkontrolliert steigen können,
vor allem nicht im Personennahverkehr . Die dort tätigen
Bahnen bzw . die Bestellenden ihrer Nahverkehrsleistun-
gen beklagten in der Vergangenheit die Erhöhung der
Trassenpreise, die teilweise schneller stiegen als die Mit-
tel, die den Auftraggebenden zur Verfügung standen .
Wird mit dem neuen Gesetz nun alles besser? Hat
die Bahn die Trassenpreise bislang korrekt berechnet?
Geht der Konzern effizient mit öffentlichen Geldern um?
Genehmigt er sich bei der Kalkulation zu viel Rendite?
Reichen ein Mehr an Transparenz und eine Einsetzung
aus, den Anstieg der Trassenpreise begrenzen zu kön-
nen? Was bringt diese Regulierung schließlich für die
Verbrauchenden?
Der Bundesrat hat 57 Änderungsanträge eingebracht,
da er einige der von mir aufgeworfenen Fragen im Ge-
setz nicht hinreichend beantwortet sieht . Die Bundes-
regierung hat hierzu eine Gegenäußerung gemacht und
ist dabei bereits auf einige Vorschläge des Bundesrates
eingegangen .
Eines steht allerdings auch fest: Es müssen noch eini-
ge wichtige Punkte geklärt werden, so die Frage, wie die
Trassenpreise im Nahverkehr begrenzt werden . Hier gibt
es noch unterschiedliche Auffassungen zwischen Bund
und Ländern über die Auslegung des Inhalts der schon
gestern hier debattierten Vereinbarung zu den Regiona-
lisierungsmitteln. Wer zahlt das Defizit, wenn die nach-
gewiesenen notwendigen Steigerungen der Trassenpreise
die dafür zur Verfügung stehenden Regionalisierungs-
mittel eines Bundeslandes übersteigen? Ein anderes Bun-
desland mit möglichen Überschüssen, eine Art Länder-
finanzausgleich bei den Regionalisierungsmitteln? Oder
gar der Fernverkehr, was die neue Angebotsoffensive der
Bahn in diesem Bereich schon beenden würde, ehe die
ersten Verkehre auf den neuen Strecken begonnen hät-
ten? Hier müssen wir im laufenden parlamentarischen
Verfahren Antworten und sinnvolle Regeln finden wie
auch für das Thema „Zugang zu Serviceeinrichtungen“ .
Abschließend stelle ich fest: Wir sind mit dem Gesetz-
entwurf auf einem guten Weg . Wo Wettbewerb funktio-
nieren soll, benötigen wir Regeln, und dies umso mehr,
wenn es sich wie bei der Eisenbahninfrastruktur um ein
Monopol handelt . Der Gesetzentwurf verfügt da über ei-
nen interessanten Instrumentenmix, –
Frau Kollegin Lühmann, achten Sie bitte auf die Zeit .
– um Anreiz, Transparenz und Effizienz in das deut-sche Schienennetz zu bringen . Daher freue ich mich aufspannende Beratungen .Herzlichen Dank .
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 171 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 13 . Mai 2016 16899
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Das Wort hat der Kollege Matthias Gastel für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Lustlos und deutlich verspätet hat uns
die Bundesregierung einen Entwurf für ein Eisenbahn-
regulierungsgesetz vorgelegt . Man könnte doch glatt
meinen, es ginge um etwas Nebensächliches . Dabei geht
es um wesentliche Fragen: Funktioniert der Wettbewerb
auf der Schiene, oder funktioniert er nicht? Machen wir
die Bahn so attraktiv, dass mehr Menschen mit der Bahn
fahren, anstatt das Auto oder das Flugzeug zu nutzen?
Spielt die Schiene ihr Potenzial aus, damit weniger Güter
auf der Straße transportiert werden müssen? Das sind die
entscheidenden Fragen . Daran muss sich der Gesetzent-
wurf messen lassen .
Leider trägt das, was wir von Ihnen vorgelegt bekom-
men haben, kaum zur Erreichung der eben definierten
Ziele bei . Die Bundesländer wie die Bahnbranche sind
von Ihnen enttäuscht, und das aus guten Gründen . Ihnen
fehlen nämlich sowohl die Ziele als auch die richtigen
Instrumente dafür .
Was ist denn beispielsweise mit dem Deutschlandtakt?
Dieser braucht einen verlässlichen Taktfahrplan . Aber
gemäß Ihrem Entwurf eines Eisenbahnregulierungsge-
setzes können bestimmte Züge den Takt regelrecht zer-
schießen .
Was ist mit der Möglichkeit, Trassen- und Stations-
preise auf ihre Angemessenheit überprüfen zu lassen?
Die Eisenbahnverkehrsunternehmen können das künftig
nicht mehr gerichtlich klären lassen . Ich erinnere daran,
dass die Abschaffung der Regionalfaktoren auf eine er-
folgreiche Klage von Eisenbahnverkehrsunternehmen
zurückgegangen ist . Und ob die Bundesnetzagentur
schlagkräftig genug ist, diese Aufgabe zu übernehmen
und auch entsprechende Anordnungen durchzusetzen,
kann man doch leicht bezweifeln .
Was ist mit der Entwicklung der Höhe der Trassen-
preise? Das ist der entscheidende Hebel dafür, ob auf
der Schiene mehr oder weniger Verkehr abgewickelt
wird . Sie lassen mit diesem Gesetzentwurf das Anstei-
gen der Trassen- und Stationspreise, die schon jetzt auf
einem sehr hohen Niveau sind, weiter zu und tun nichts
dagegen . Entweder führt nämlich die Begrenzung des
Anstiegs der Trassen- und Stationspreise für den Regi-
onalverkehr zu noch stärkeren Verteuerungen im Perso-
nenfernverkehr und im Güterverkehr – gerade der Schie-
nengüterverkehr ist extrem preissensibel –, oder aber die
Trassen- und Stationspreise steigen für den Regionalver-
kehr stärker als die Regionalisierungsmittel des Bundes
für die Länder . Dann müssten die Länder entweder eige-
ne Haushaltsmittel einsetzen oder Züge abbestellen . Und
das kann ja wohl nicht unser Ziel sein .
Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass die Trassen-
preise bis zu 35 Prozent der Ticketpreise im Nah- und
Fernverkehr ausmachen, also einen erheblichen Anteil
der Preise, die die Kunden nachher zu bezahlen haben,
ausmachen . Die Lösung wäre die Einführung des Grenz-
kostenprinzips . Niedrigere Preise würden zu mehr Per-
sonen- und Güterverkehr auf der Schiene führen, und
mehr Züge brächten höhere Einnahmen . Das bedeutet,
zumindest ein Teil der Einnahmeausfälle wäre damit
kompensiert . Eine Mindestlösung aber wäre eine gesetz-
liche Trassenpreisbremse, also eine Kostenbremse, von
der alle Schienenverkehre entsprechend profitieren.
Aber Sie haben kein Interesse, endlich einmal neue
Wege zu gehen . Ihr Gerede von „Stärkung der Schiene“
oder „mehr Güter auf die Schiene“ zerplatzt wie Seifen-
blasen an den Tatsachen Ihrer Politik .
Dieses Desinteresse an der Schiene zeigt sich nicht
nur am vorliegenden Entwurf eines Eisenbahnregulie-
rungsgesetzes; es zeigt sich auch bei Ihrem Entwurf des
Bundesverkehrswegeplans . Zwei Drittel aller Schienen-
projekte sind noch nicht einmal bewertet worden . Aber
schon bevor sie bewertet worden sind, wollen Sie das
entsprechende Ausbaugesetz verabschieden . Daran sieht
man mal wieder, wie wenig wichtig Ihnen die Schiene
ist . Man kann sich kaum vorstellen, dass Sie den Ent-
wurf des BVWP vorgestellt hätten, ohne dass vorher alle
Straßenprojekte bewertet worden wären . Damit hätten
Sie sich gar nicht rausgetraut . Bei der Schiene machen
Sie es . Es ist einfach nur traurig, mit ansehen zu müssen,
wie einseitig die Große Koalition auf das Auto und auf
den Lkw setzt .
Sie ziehen sich auf eine rein technokratische Um-
setzung von EU-Vorgaben zurück . Sie lassen sämtliche
Chancen für ein Wachstum auf der Schiene links liegen .
Hören Sie auf den Rat der zahlreichen Akteure in der
Bahnbranche und der Bundesländer! Sie werden nämlich
mit Ihrem Gesetzentwurf keinen Erfolg haben, und zwar
nicht deswegen, weil heute Freitag, der 13 ., ist, sondern
deswegen, weil Ihr Gesetzentwurf schlicht und ergrei-
fend nichts taugt .
Korrigieren Sie Ihren Gesetzentwurf! Stellen Sie die
Weichen für mehr Personen- und Güterverkehr auf der
Schiene!
Das Wort hat der Kollege Dirk Fischer für die CDU/CSU-Fraktion .
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 171 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 13 . Mai 201616900
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wir haben die äußeren Daten gehört: Der Gesetzentwurfwurde durch die Bundesregierung beschlossen . Auch dieGegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahmedes Bundesrats mit 57 Änderungs- bzw . Ergänzungs-wünschen liegt uns vor . Die Wünsche der Länder zeigenallerdings auch, dass diesem Gesetz eine hohe fachpo-litische Bedeutung für den Schienenbereich zukommt .Wir werden uns, Kollege Gastel, im parlamentarischenVerfahren intensiv damit auseinandersetzen . Der zentralePunkt ist ja, dass hier eine Richtlinie der EuropäischenUnion umgesetzt werden muss und wir damit auch Vor-gaben zu beachten haben .Ich glaube, dass es richtig war, dass der federführen-de Ausschuss – vorbehaltlich der Überweisung, die wirgleich zu beschließen haben werden – bereits beschlos-sen hat, eine öffentliche Anhörung durchzuführen . Dabeiwerden wir uns mit diesem Artikelgesetz, dessen Kern-bereich der Erlass eines neuen Eisenbahnregulierungsge-setzes ausmacht, auseinandersetzen . Aber wir werden na-türlich andere Materien zu bearbeiten haben; ich kommegleich darauf zurück . Damit wird ja die EU-Richtlinie,die eine Überarbeitung des ersten Eisenbahnpakets von2001 darstellt, umgesetzt . Wir sind aber schon ziemlichspät damit dran, sie in nationales Recht zu überfüh-ren . Wir müssen daher ein zügiges Beratungsverfahrendurchführen; denn die Europäische Union hat sich schongemeldet, was die Pflicht zur termingerechten Umset-zung anbelangt .Das erste Eisenbahnpaket hatte die Grundlage für dieLiberalisierung des europäischen Eisenbahnmarkts ge-legt . Damit ist schon der diskriminierungsfreie Zugangzum Netz durch die Europäische Union vorgegeben wor-den . Ich denke, dass wir doch einiges zu tun haben, dieneue Richtlinie, die die Konkretisierung der wettbewerb-lichen Regeln im europäischen Eisenbahnmarkt beinhal-tet, umzusetzen . Das ist ein weiterer wichtiger Schritt,den Wettbewerb im Schienensektor und den grenzüber-schreitenden Schienenverkehr zu stärken und Monopol-strukturen, wo es sie denn noch gibt, bei Eisenbahnenin Europa in ein wettbewerbliches Marktumfeld zu über-führen .Der Entwurf enthält also mehrere Elemente: ein neu-es Eisenbahnregulierungsgesetz, Änderungen des Bun-deseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetzes, Änderungendes Gesetzes über die Bundesnetzagentur, eine Änderungdes Personenbeförderungsgesetzes sowie die Aufhebungder Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung,der Eisenbahnhaftpflichtversicherungsverordnung undder Eisenbahnunternehmer-Berufszugangsverordnung .All das wird in das Gesetz integriert, und die bisherigeRechtsmaterie kann aufgehoben werden . Das Ganze istalso auch ein wichtiger Schritt zu einer Rechtsbereini-gung .Ich glaube, dass wir damit nicht nur das bestehendeEisenbahnrecht verbessern, sondern auch neue Grund-lagen für eine optimierte Wettbewerbsordnung schaffen .Dies ist ein Anliegen, das meine Fraktion nachhaltig un-terstützt und für wichtig hält . Denn eines ist klar: In einerWettbewerbsordnung ist der Kunde durch die Angebots-vielfalt und seine Auswahlmöglichkeiten König, in einerMonopolordnung ein armer Kerl, weil er keine Auswahl-möglichkeiten hat und bei schlechten Leistungen nicht zueinem anderen Anbieter wechseln kann .
In diesem Sinne bin ich wie Ludwig Erhard ein entschie-dener Verfechter eines marktorientierten Leistungswett-bewerbs, der Unternehmen zwingt, die Qualität von Leis-tungen zu verbessern und die Kosten zu senken .
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das können wirim Moment eigentlich an der Entwicklung unseres Un-ternehmens DB AG ablesen; denn der Anteil der privatenWettbewerber im Markt steigt .
Damit muss sich die DB AG dem Preis- und Qualitäts-druck stellen, um auch weiterhin erfolgreich sein zu kön-nen .Der Wettbewerb auf der Schiene setzt den Wettbewerbum die Schiene voraus . Dafür sind klarere Regeln fürNutzung der Eisenbahninfrastruktur notwendig . Es giltalso, den diskriminierungsfreien Zugang zur Eisenbahn-infrastruktur weiter zu verbessern, die Entgeltregulierungfür die Nutzung der Schienenwege neu auszugestaltenund die Befugnisse der Bundesnetzagentur als Aufsichts-behörde zu stärken . Ich will kurz einige Bemerkungen zudiesen drei Bereichen machen .Zugang zur Eisenbahninfrastruktur . Einen diskrimi-nierungsfreien Zugang zu Eisenbahnanlagen und Ser-viceeinrichtungen soll eben dieses neue Gesetz garantie-ren . Jedes Eisenbahnverkehrsunternehmen hat das Recht,Eisenbahnanlagen und Serviceeinrichtungen eines Infra-strukturbetreibers zu nutzen . Der Betreiber dieser Anla-gen und Einrichtungen muss seine Leistung zu angemes-senen, diskriminierungsfreien Bedingungen erbringen .Der Betreiber darf bei der Erstellung des Netzfahrplanskeinen Antrag auf Nutzung seiner Trassen unbeachtetlassen, und er muss miteinander konkurrierende Anträgeverschiedener Unternehmen durch Verhandlungen mitei-nander koordinieren . Auch ausländische Unternehmen,insoweit sie grenzüberschreitende Verkehre anbieten,müssen dieses Recht haben . Der Betreiber hat schließlichauch Kapazitätsreserven innerhalb seines erstellten Netz-fahrplans vorzuhalten, um auf vorhersehbare Anträge aufZuweisung von Schienenwegekapazität außerhalb desNetzfahrplans reagieren zu können .Darüber hinaus werden natürlich auch klarere Regelnfür die Nutzung des Schienennetzes gemacht . Eine we-sentliche Neuerung ist auch, dass bei der beabsichtigtenStilllegung von Serviceeinrichtungen als Teil der Eisen-bahninfrastruktur eine Genehmigungspflicht durch diezuständige Aufsichtsbehörde, also das Eisenbahn-Bun-
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desamt, eingeführt wird . Auch das ist ein wesentlicherPunkt .Entgeltregulierung . Auch hier – darauf ist ja schonhingewiesen worden – gibt es jetzt klarere Regeln, wiediese Entgelte festzulegen sind . Wir werden uns mit denEinzelheiten für die verschiedenen Segmente Schienen-personennahverkehr, Schienenpersonenfernverkehr undGüterverkehr noch zu befassen haben . Die Trassenent-gelte für den Schienenpersonennahverkehr unterliegenim Gesetzentwurf einer Sonderregelung, wobei in jedemeinzelnen Land der SPNV künftig als ein eigenes Markt-segment definiert werden soll. Bei der Erhöhung derTrassenpreise müssen auch die zur Verfügung stehendenMittel, insbesondere die Regionalisierungsmittel, in dieEntgeltbildung einbezogen werden .Befugnisse der Bundesnetzagentur . Ich will daraufhinweisen, dass wir über die Überwachung der Entflech-tungsvorschriften hinaus der Bundesnetzagentur aucheinen Genehmigungsvorbehalt für die Trassenentgelteübertragen haben . Wichtig ist, dass der Bundesnetzagen-tur jetzt auch im Eisenbahnbereich Beschlusskammernzugeordnet sind und damit eine Angleichung der Regu-lierung im Eisenbahnbereich an die Regulierung in denBereichen Telekommunikation, Post und Energie vorge-nommen wurde .Ich glaube, dass wir uns jetzt intensiv an die Arbeitmachen sollten, wobei wir uns auch mit den Änderungs-wünschen der Länder auseinandersetzen müssen, damitwir so schnell wie möglich ein zustimmungspflichtigesGesetz zustande bringen. Es ist auch unsere Pflicht ge-genüber Brüssel, dass wir das zügig machen .Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freuemich auf die inhaltliche Debatte im Ausschuss .
Das Wort hat der Kollege Martin Burkert für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als SPD –das steht für uns fest – wollen einen starken und leis-tungsfähigen Schienenverkehr in Deutschland . Dafürschaffen wir nun die Rahmenbedingungen, die politischnotwendig sind .
Es wurde mehrfach darauf hingewiesen: Wir habenschon einiges erreicht . Ich denke, die Leistungs- und Fi-nanzierungsvereinbarung II ist ein Vorzeigemodell fürganz Europa . Darüber hinaus war die Erhöhung der Regi-onalisierungsmittel dringend notwendig, um den Schie-nenpersonennahverkehr in Deutschland sicherzustellen .Gestern gab es hierzu im Plenum ja eine Aussprache .Heute beraten wir einen Gesetzentwurf mit dem Titel„Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbe-reich“ . Es gilt, die europäische Richtlinie aus dem Jahre2012 in deutsches Recht umzusetzen, und zwar mit demSchwerpunkt der Entgeltregulierung, das heißt Schaf-fung von Anreizen für die Betreiber der Schienenwegezur Senkung der Infrastrukturkosten und der Trassenent-gelte . Entgelte für die Nutzung der Schienenwege sol-len zukünftig durch die Bundesnetzagentur genehmigtwerden . Ziel dabei ist: mehr Fairness im Wettbewerb aufder Schiene, mehr Kostentransparenz bei der Nutzungder Schieneninfrastruktur und Schaffung eines diskri-minierungsfreien Zugangs zur Schieneninfrastruktur inDeutschland .Ich betone aber ausdrücklich, dass wir im Schie-nenverkehr eine Regulierung mit Augenmaß und keineÜberregulierung haben wollen . Mit dem vorliegendenGesetzentwurf sind wir dabei auf einem guten Weg, HerrKollege Ferlemann . Selbstverständlich müssen wir dieangesprochenen 57 Punkte, die der Kollege Fischer ge-nannt hat, mit den Bundesländern diskutieren, die ja über50 Änderungen wollen .
Meine Kollegin Lühmann hat die Knackpunkte aus Sichtunserer Fraktion bereits angesprochen . Ich möchte in An-betracht der Zeit nur noch folgende Punkte ansprechen:Zunächst zur Umsetzung der EU-Richtlinie inDeutschland: Übergeordnetes Ziel ist die Schaffung ei-nes einheitlichen europäischen Eisenbahnraumes, dasheißt, für Fahrzeuge gelten überall gleiche Vorschriftenund überall sind gleiche Signaltechniken verfügbar . Diesbegrüßen wir ausdrücklich, um das deutlich zu sagen .Wegen verspäteter Umsetzung dieser Regulierungläuft gegen uns ein Vertragsverletzungsverfahren . Ichwill aber schon darauf hinweisen, dass es ein Skandalist, dass zwar europaweit die Regulierung greift, aber ineinem Land wie Frankreich auf der Schiene überhauptnoch kein Wettbewerb existiert, während wir hier schonden Wettbewerb regulieren . Es kann nicht sein, dass dortWettbewerb überhaupt erst ab 2026 möglich ist . Ich sageder Bundesregierung: Wir müssen im Europäischen Ratdarauf drängen, dass das aufhört . Der Wettbewerb mussüberall in Europa möglich sein, liebe Kolleginnen undKollegen .
Dann will ich etwas zur Haftpflichtversicherungssum-me sagen . Im Ausschuss haben wir noch die Zugunglü-cke in Bad Aibling, in Mannheim, in Freihung in guterErinnerung . Diese geschahen alle in dieser Legislatur .Wir hatten in Italien den schlimmen Güterzugunfall inViareggio . Er kostete 75 Millionen Euro . Bei vielen Ei-senbahnunternehmen gibt es eine zu geringe Kapitalde-cke . Das heißt, im Schadensfall droht die Insolvenz, aberes droht auch eine unzumutbare Unsicherheit für Ge-schädigte wie auch für den Verursacher . In letzter Konse-quenz heißt das: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,deren Unternehmen von Insolvenz bedroht wäre, bliebenauf der Strecke, und Geschädigte könnten nicht entschä-Dirk Fischer
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 171 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 13 . Mai 201616902
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digt werden . Deshalb müssen wir hier den Vorschlagdiskutieren, ob wir eine gestaffelte Erhöhung der Haft-pflichtversicherungssumme vornehmen. Man kann sichvorstellen, dass Gefahrguttransporte anders versichertwerden müssen als normale Transporte . Ich glaube, die14 Millionen Euro, die im Gesetzentwurf stehen, reichenpauschal nicht aus . Andererseits haben sich schon Be-treiber von Museumsbahnen mit historischen Eisenbahn-fahrzeugen gemeldet und darauf hingewiesen, dass dieVersicherungssumme für sie zu hoch ist . Auch da müssenwir Regelungen finden.In § 28 des Gesetzentwurfs wird auf den Produkti-vitätsfaktor Bezug genommen . Dort steht, dass dieserFaktor, der anhand der vom Sachverständigenrat desStatistischen Bundesamtes für alle Wirtschaftsbereicheermittelten Werte bestimmt wird, bei der Entgeltbildungzugrunde gelegt wird . Das ist schwierig, weil der Fak-tor die Gesamtwirtschaft umfasst, aber nicht unbedingtfür den Eisenbahnsektor sachgerecht ist . Hier wurdevorgesehen, dass das Ministerium davon abweichenkann; darüber müssen wir reden . Es wäre aber gut, wenneine verpflichtende Einbindung von unabhängigen For-schungsinstituten mit Erfahrungen im Eisenbahnbereichvorgesehen werden könnte .Ich will zum Schluss darauf hinweisen, dass die Ma-terie sehr komplex ist . Es ist schwierig, der Bevölkerungüberhaupt zu erklären, worum es hier geht . Dieses um-fangreiche Gesetz ist kompliziert genug . Sollte es dazukommen, dass der Vermittlungsausschuss angerufenwird, dann kann ich nur empfehlen, auf die Erfahrungenaus einer Sternstunde des Parlaments zurückzugreifen:Es gab den Fall, dass im Vermittlungsausschuss, als esum das Personenbeförderungsgesetz ging, ein Ausschussmit Fachpolitikern eingesetzt wurde, dessen Arbeit amEnde dazu geführt hat, dass wir mit den Ländern ein ver-nünftiges, gutes Gesetz auf den Weg gebracht haben .
Ich will meinem Fraktionsvorsitzenden, aber auch HerrnKauder nicht zu nahe treten; aber wenn man sich mitsolch einem Gesetz befasst, wäre es gut, im Vermitt-lungsausschuss einen Fachausschuss zu bilden, weil dieMaterie wirklich umfangreich ist und in die Tiefe geht .Ich wünsche mir gute Beratungen . Ich bin überzeugt,dass wir am Ende hier im Parlament einen Gesetzentwurfverabschieden, der seinen Namen verdient .In diesem Sinne: Schöne Pfingsten!
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/8334 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung zum Deutsch-
landstipendium über die Ergebnisse der
Evaluation nach § 15 des Stipendienpro-
gramm-Gesetzes und der Begleitforschung
Drucksache 18/7890
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich habe
weder eine Aussprache hier im Plenum eröffnet noch
eine Aussprache auf der Regierungsbank . Insofern bitte
ich jetzt einfach, die notwendige Aufmerksamkeit herzu-
stellen .
– Das wird Ihnen Ihre Parlamentarische Geschäftsführe-
rin sicherlich gleich erklären, was das Problem war .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Thomas Rachel .
T
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Unser Land braucht mehr denn je junge Men-schen, die mit ihrem Fachwissen und ihren innovativenIdeen den Wandel in unserer Gesellschaft gestalten undsich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft einset-zen . Um diese Persönlichkeiten sehr frühzeitig zu unter-stützen und ihre Leistungen anzuerkennen, fördern wirdie jungen Menschen seit fünf Jahren mit dem Deutsch-landstipendium in Höhe von 300 Euro, das von Staat undPrivat zusammen finanziert wird. Allein im Jahr 2014hatten wir mehr als 22 500 junge Deutschlandstipendia-tinnen und -stipendiaten – junge Menschen, die bei ihrenBegabungen, Träumen und Projekten unterstützt werden .So wurde zum Beispiel die junge Syrerin Samaa Hijazigefördert, die an der Charité Medizin studiert und derenDeutschlandstipendium von der Stiftung Charité geför-dert wird . Sie hat Deutsch gelernt mit einem Stipendiumdes Goethe-Instituts, hat einen Medizinstudienplatz be-kommen . Über ihre Erfahrungen auf dem Weg aus demzerstörten Syrien über Amman nach Deutschland hat sieein Buch geschrieben .Warum spreche ich darüber so ausführlich? Ich finde,wir müssen uns mehr bewusst machen, wie viele Stipen-diatinnen und Stipendiaten es gibt, für die das Deutsch-Martin Burkert
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landstipendium einen ganz entscheidenden Unterschiedbei ihrer Studienfinanzierung ausmacht.
Mit einer Evaluation haben wir untersucht, ob an allenHochschulstandorten ausreichend private Mittel einge-worben werden können oder ob Ausgleichsmaßnahmenerforderlich sind . Ich denke, das ist ganz wichtig; dennalle Studierenden sollen unabhängig vom Studienstand-ort die Chance haben, ein Deutschlandstipendium zu er-halten .
Die Untersuchung hat gezeigt, dass an allen Hochschul-standorten Bedingungen herrschen, die den Hochschuleneine erfolgreiche Mittelakquise erlauben . Wir brauchenkeine gesetzliche Ausgleichsmaßnahme . Was den Erfolgeiner Hochschule verstärkt, ist ein reicher Erfahrungs-schatz im Fundraising . Hochschulen werben nämlichumso erfolgreicher Fördermittel ein, je länger sie am Sti-pendienprogramm teilnehmen .Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dieFörderung des Deutschlandstipendiums ist sozial ausge-wogen . Die Stipendiatinnen und Stipendiaten unterschei-den sich auch in Bezug auf ihre soziale Herkunft nichtvon der allgemeinen Studierendenschaft .
So beträgt der Anteil der Nichtakademikerkinder unterden Deutschlandstipendiaten wie bei den anderen Studie-renden 50 Prozent .Der Anteil von Studierenden an Fachhochschulen warbei den Deutschlandstipendiaten mit 33 Prozent ebensohoch wie der Anteil der FH-Studenten an der Studieren-denschaft insgesamt, aber er war deutlich höher als beiden Begabtenförderungswerken; da lag er bei gut 11 Pro-zent .Sogar mehr als jeder vierte Stipendiat hat eine Einwan-derungsgeschichte . Im Durchschnitt der Studierenden istdies nur jeder Fünfte . Das zeigt: Das Deutschlandstipen-dium fördert junge Menschen mit Einwanderungsge-schichte überproportional, und das ist gut so .
Die Ergebnisse der Begleitforschung unterstreichen,dass wir mit einem ganzheitlichen Verständnis unseresLeistungsbegriffs beim Deutschlandstipendium den rich-tigen Weg eingeschlagen haben; denn die Hochschulenberücksichtigen bei der Vergabe keineswegs nur dieNoten, nein, sie berücksichtigen auch ehrenamtlichesEngagement und die Überwindung von Hürden im Le-benslauf .Das Deutschlandstipendium hat darüber hinaus vielfa-che Formen freiwilligen Engagements angeregt; schauenSie sich zum Beispiel die dadurch entstandenen studen-tischen Flüchtlingsinitiativen oder die Mentoringpro-gramme der Förderer an . Viele der Förderer berichten,wie gewinnbringend für sie der frühzeitige Kontakt mitbegabten Studierenden ist . Das wird als das zweitwich-tigste Motiv angegeben hinter der Tatsache, dass sie ge-sellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen . Daswollen wir natürlich unterstützen .
Die Begabtenförderung in Deutschland ist insgesamtenorm gewachsen . Die Zahl der Deutschlandstipendiatenhat schon nach vier Jahren fast die Zahl der Stipendiatender bewährten Begabtenförderungswerke erreicht, dieteilweise über Jahrzehnte oder wie die Studienstiftungdes deutschen Volkes bereits seit 90 Jahren existieren .Insgesamt konnte die Zahl der aus Bundesmitteln ver-gebenen Stipendien für Studierende seit dem Jahr 2005bis heute, also in der Zeit, in der Angela Merkel Bun-deskanzlerin ist, mit derzeit rund 50 000 Stipendiatinnenund Stipendiaten mehr als verdreifacht werden . Das istein ganz essenzieller Beitrag zu mehr Bildungsgerechtig-keit in unserem Land .
Zugleich haben wir das BAföG kontinuierlich wei-terentwickelt . Wir heben die Bedarfssätze und Einkom-mensfreibeträge jeweils um 7 Prozent an . Der Kreis derBAföG-Empfänger wird im Jahresdurchschnitt um rund100 000 junge Menschen ausgeweitet . Seit 2005 sind dieGesamtausgaben für das BAföG auf 3,2 Milliarden Euroausgeweitet worden, also um etwa ein Drittel gewach-sen . Das ist eine Leistung mittlerweile ausschließlichdes Bundes . Insofern herzlichen Dank auch an den Deut-schen Bundestag, der dieses mit unterstützt .
Das Deutschlandstipendium hat sich zu einer wich-tigen Säule der Begabtenförderung in Deutschland ent-wickelt . Wir haben 22 500 Stipendiaten, die allein imJahr 2014 gefördert wurden . Die sozial schwächeren Stu-dierenden haben die Möglichkeit, neben der BAföG-För-derung zusätzlich das Deutschlandstipendium zu be-kommen . Das heißt, gerade die sozial Schwächerenprofitieren in doppelter Weise, denn sie profitieren vondieser Kombinationsmöglichkeit .
Mit dem Deutschlandstipendium haben wir etwas er-reicht, was uns besonders glücklich macht: Erstmals inder Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurdenin erheblichem Maße private Mittel zusätzlich zur staat-lichen Förderung, die ohnehin ausgebaut worden ist, fürdie Bildung mobilisiert . 24 Millionen Euro sind allein in2014 bei Privatleuten, Stiftungen und Einrichtungen fürdie Bildung mobilisiert worden . Das ist ein Riesenerfolg .Er trägt zu mehr Bildungsgerechtigkeit in unserem Landbei . Deshalb werden wir vonseiten der Bundesregierungdas Deutschlandstipendium als wichtigen Bestandteil derindividuellen Förderung junger Menschen auch in Zu-kunft weiter kontinuierlich ausbauen .Parl. Staatssekretär Thomas Rachel
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Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke für die Frak-
tion Die Linke .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Kolleginnen und
Kollegen! Es ist oft schade, dass die öffentliche Aufmerk-
samkeit für Bundestagsdebatten am Freitagnachmittag
eher gering ist . Heute passt die geringe Aufmerksamkeit
allerdings ganz gut zum ebenfalls sehr geringen Beitrag,
den das Deutschlandstipendium zur individuellen Studi-
enförderung leistet .
Mit nicht einmal 1 Prozent geförderten Studierenden
ist das Deutschlandstipendium das Programm, das am
stärksten an den Bedürfnissen der Studierenden vorbei-
geht . Deswegen fordert die Linke, diesen Rohrkrepierer
nach fünf Jahren Probezeit endlich wieder einzustellen .
Wie ein trotziges Kind gesteht die Bundesregierung
das Scheitern ihres Eliteprojekts nicht ein . Sie versucht
wirklich verzweifelt, die Sache schönzureden . Die Er-
klärung dafür ist einfach: Sie wollen mit dem Deutsch-
landstipendium eine neue Form der Studienfinanzierung
durchdrücken, und zwar eine Elitenförderung auf Kosten
der Breite .
Diese elitäre und unsoziale Politik ist Ihnen offenbar so
wichtig, dass Sie nicht einmal den offensichtlichen Miss-
erfolg Ihres Bildungsprojektes wahrnehmen . Ich emp-
fehle ein wenig mehr klaren Kopf und Urteilsvermögen .
Das wäre besser als so viel ideologische Verblendung .
Auch nach fünf Jahren sind die Fakten, wie sie waren:
Nicht einmal 1 Prozent der Studierenden wird mit dem
Deutschlandstipendium gefördert . Die Bundesregierung
bewegt sich noch nicht einmal mehr in Richtung der ur-
sprünglich geplanten Gefördertenquote von 8 bis 10 Pro-
zent .
Kollegin Gohlke, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Feist?
Ja, selbstverständlich .
Recht vielen Dank, Frau Kollegin . – Weil Sie das so
pointiert vorgetragen haben,
fühle ich mich jetzt doch bemüßigt, eine Zwischenfra-
ge zu stellen . Sie haben gesagt, die Zahl der über das
Deutschlandstipendium geförderten Studierenden sei
viel zu gering . Deshalb meine Frage: Was ist Ihr persön-
licher Beitrag zur Förderung eines Studenten oder einer
Studentin mit einem Deutschlandstipendium?
Meine Aussage war, dass das Deutschlandstipendiumoffensichtlich kein Instrument zur individuellen Studien-förderung ist, weil es nicht einmal 1 Prozent der Studie-renden erreicht .
Das habe ich gesagt . Ich habe nicht gesagt, dass die Zahlzu gering ist . Ich habe gesagt, es erreicht kaum Studie-rende . Das hat sich auch nach fünf Jahren Probezeit, inder Sie sich mit diesem Programm abmühen, nicht ver-ändert . Ich denke, daraus könnte man politische Schlüsseziehen .
Ich habe mich bei den Hochschulen genau kundig ge-macht . Am Mittwochabend erst war ich übrigens in Leip-zig . Die Hochschulen bezeichnen das ganze Verfahrennach wie vor als eine Belastung . Es ist eine Belastung,Stipendiengeber zu finden und die Auswahlverfahrendurchzuführen .
Und der Bundesrechnungshof kritisiert das Deutschland-stipendium immer wieder wegen ausufernder Verwal-tungskosten und der Verschwendung von Steuergeldern .Die 300 Euro, die monatlich einkommensunabhängigan wenige, an sehr wenige vergeben werden, sind nichtbedarfsdeckend . Das bedeutet, sie werden überwiegendzur Aufstockung des viel zu geringen BAföG genutzt .Deswegen sagen wir als Linke klar: Erhöhen Sie endlichdas BAföG,
und zwar so, dass Studierende damit über die Rundenkommen und gut studieren können, anstatt neue, untaug-liche Förderinstrumente einzuführen .Dazu kommt, dass das Deutschlandstipendium über-haupt nicht zur Planungssicherheit beiträgt . Denn nacheinem Jahr wird geprüft, ob die Stipendiatinnen und Sti-Parl. Staatssekretär Thomas Rachel
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 171 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 13 . Mai 2016 16905
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pendiaten immer noch förderwürdig genug sind, und dieStipendiengeber entscheiden neu, ob die Förderung über-haupt aufrechterhalten werden soll oder nicht . Auch hiersage ich: Stärken Sie lieber das BAföG
– das beinhaltet einen Rechtsanspruch auf Studienför-derung –, anstatt mit dem Deutschlandstipendium Unsi-cherheit und Willkür zu erzeugen .
Sie reden immer so gerne von den angeblich beson-ders leistungsstarken und begabten Studierenden, dieSie mit dem Stipendium zusätzlich belohnen wollen . Ichglaube, ehrlich gesagt, Sie operieren mit einem ziemlichantiquierten Begriff von Begabung und Leistung .
Der Begriff der Leistungsstärke oder der Begabung hatwirklich null Erklärungskraft . Er sagt etwas über Leis-tungsunterschiede zwischen Menschen aus, die manvielleicht beobachten kann, aber er sagt eben nichts überdie gesellschaftlichen Umstände aus, die diese Unter-schiede erst hervorbringen und beeinflussen. Genau aufdiese gesellschaftlichen Umstände müsste man aber daspolitische Augenmerk legen, zum Beispiel auf die Fra-gen: Wie dick ist der Geldbeutel der Eltern? In welchemViertel ist jemand aufgewachsen? Welche Schule wurdebesucht? Mit welchen Schwierigkeiten hatte man oderfrau zu kämpfen?
Es wundert mich auch nicht, dass der Begabungsbe-griff, so wie Sie ihn verwenden, bei denjenigen beson-ders beliebt ist, die am Ende die Zahl der Geförderteneinschränken wollen . Der Begriff soll am Ende dafür her-halten, zu rechtfertigen, warum man nicht alle gleicher-maßen gut fördert, sondern nur die wenigen, bei denenes sich lohnt . Genau das ist das Problem mit dieser Bun-desregierung . Statt sich darum zu kümmern, Bildungs-diskriminierung abzubauen, beschäftigen Sie sich mit derFörderung der wenigen, der vermeintlichen Elite, und ze-mentieren so die Spaltung der Gesellschaft .
Ihr Deutschlandstipendium hat nicht einen jungenMenschen zusätzlich an die Hochschule gebracht . Es hatnicht einem Menschen aus einer armen Familie oder auseinem nichtakademischen Elternhaus eine neue Perspek-tive eröffnet .
Das aber könnte das BAföG,
wenn die Bundesregierung es endlich wieder zu einerFörderung machen würde, die zum Leben und Studierenreicht und mit der man sich am Ende des Studiums auchnicht verschulden muss . Also erhöhen Sie endlich dieBAföG-Freibeträge und -Bedarfssätze um 10 Prozent,und schaffen Sie den Darlehensteil ab .
Der Regierung geht es ganz offenbar ums Prinzip,um das Prinzip von Auslese und Elite . Uns geht es auchums Prinzip, um die Prinzipien von Chancengleichheit,Rechtssicherheit und vom aktiven Ausgleich von Be-nachteiligungen . Treten Sie das Deutschlandstipendiumin die Tonne, und widmen Sie sich wieder einmal Projek-ten mit Zukunft .Vielen Dank .
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Marianne
Schieder das Wort .
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Ich kann das Ergebnis der Evaluation zum Deutsch-landstipendium, kurz und knapp zusammengefasst, nichtanders beschreiben als: eigentlich nichts Neues . Alle Vor-behalte gegen diese Form der Studienförderung wurdenbestätigt .
Dennoch stellt der Bericht fest, es gebe keinen Hand-lungsbedarf für den Gesetzgeber . Lieber Herr Staatsse-kretär, das sehen wir Sozialdemokratinnen und Sozialde-mokraten anders .
Gerne möchte ich an einigen Punkten festmachen, wowir die Schlussfolgerungen aus dem Bericht nicht nach-vollziehen können .So wird beispielsweise festgestellt, dass die meistenHochschulen kaum Probleme haben, die nötigen priva-ten Mittel einzuwerben, die für die Kofinanzierung desStipendiums notwendig sind . So weit, so gut . Aber wasist mit den etwa 10 Prozent der Hochschulen, die sichlaut Bericht im Jahre 2014 gar nicht an dem Programmbeteiligt haben?
Nicole Gohlke
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Steigen die noch ein, oder gibt es da auf Dauer kein In-teresse am Deutschlandstipendium? Die vorgelegtenZahlen erwecken jedenfalls nach meinem Dafürhaltennicht den Eindruck, als würde eine flächendeckende Be-teiligung aller Hochschulen kurz bevorstehen . Ich meine,dass wir darüber diskutieren müssen, ob wir es hinneh-men wollen, dass öffentliche Mittel zur Verfügung ge-stellt werden und dass junge Menschen, die eigentlichdie Voraussetzungen für dieses Deutschlandstipendiumerfüllen könnten, schon allein deswegen nicht in den Ge-nuss dieser Förderung kommen können, weil sich ihreHochschule nicht am Programm beteiligt .
Weiter heißt es im Bericht: Die Förderquote steigt . –Auch das klingt zunächst einmal ganz gut . Aber bei nä-herer Betrachtung stellt man fest, dass mit 22 500 Geför-derten im Wintersemester 2014/15 lediglich 0,84 Prozentaller Studierenden in den Genuss des Deutschlandstipen-diums kamen .Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen derUnion, ich kann mich noch erinnern, was hier gesagtworden ist, als es mit dem Deutschlandstipendium los-ging . Da hat die damalige schwarz-gelbe Regierung vonmindestens 8 Prozent der Studierenden gesprochen, diegefördert werden sollen .
Im Koalitionsvertrag haben wir immerhin erreichen kön-nen, dass die Zielquote auf 2 Prozent heruntergehandeltwurde . Aber wo sind wir gelandet? Bei nicht einmal1 Prozent der Studierenden, die in den Genuss diesesStipendiums kommen . Ein Drittel der für das Deutsch-landstipendium bereitgestellten Mittel werden nicht ein-mal abgerufen . Von ursprünglich 55 Millionen Euro, dieeingeplant waren, wurden 31 Millionen Euro ausgege-ben . Ich denke, ehrlich gesagt, Erfolgsgeschichten sehenanders aus .
Dieses Ergebnis ist weniger ein Anlass, einen positivenSchluss zu ziehen, sondern eher ein Anlass, wirklichdarüber nachzudenken, ob dieses Förderinstrument dasrichtige ist .
Das Ganze geht aber noch weiter . Der Bericht sprichtwieder von dem viel zu hohen Durchführungsaufwand,der die Hochschulen nicht gerade einlädt, sich an diesemProgramm zu beteiligen; auch darüber müssen wir alsGesetzgeber reden .Über den gesetzlichen Prüfungsauftrag hinaus wurdeeine Sozialstudie durchgeführt, um über den sozialenHintergrund der Stipendiatinnen und Stipendiaten Nähe-res zu erfahren . Im Großen und Ganzen, so das Ergebnis,entspricht das Bild der Geförderten in seiner sozialenZusammensetzung dem Bild in der Gesamtstudierenden-schaft . Der Anteil von Studierenden mit Migrationshin-tergrund ist sogar etwas höher .
Im Bericht freut man sich auch – hören Sie zu! –:Die aus dem hohen Anteil der BAföG-Empfängerunter den Stipendiatinnen und Stipendiaten abge-leitete Vermutung, dass das Programm auch sozialbenachteiligte Gruppen erreicht, hat sich bestätigt .Ich frage mich: Ist es ein Anlass zur besonderen Freu-de, dass mit einem Stipendienprogramm auch sozial be-nachteiligte Gruppen erreicht werden? Ja, ich will dochhoffen, dass es selbstverständlich ist, dass ein Stipen-dienproramm gerade auf sozial benachteiligte Gruppenabzielt .
Alles andere wäre doch skandalös . Liebe Kolleginnenund Kollegen, das ist wieder ein Punkt, an dem man überdiesen Bericht diskutieren kann .
– Ich glaube, ich habe ihn besser verstanden als Sie, weilSie das nicht wahrhaben wollen, und das wider klareFakten .
Der Bericht hebt lobend hervor, dass sich die Hoch-schulen dank dieser Stipendien besser in der Region undmit der Wirtschaft vernetzen . Die Notwendigkeit derVernetzung ist überall erkannt . Die Hochschulen sindhier sehr aktiv . Sie treiben die Vernetzung innerhalb derRegion und mit der regionalen Wirtschaft wirklich inten-siv voran . Dafür möchte ich mich auch bedanken . Aberbraucht es dazu ein Deutschlandstipendium?
Was bewirkt es denn? Der Bericht fördert in diesemZusammenhang zutage, dass 65 Prozent der eingewor-benen Mittel aus Unternehmen kommen und zwei Dritteldieser Mittel zweckgebunden vergeben werden . Verge-ben werden sie vor allen Dingen in die Bereiche der Inge-nieur- und Naturwissenschaften sowie der Mathematik .
Aber was ist mit den Geistes- und Gesellschaftswissen-schaften und mit dem Lehramt? Wollen wir, dass die Bes-Marianne Schieder
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ten gar nicht erst ein Studium in diesen Bereichen auf-nehmen, weil sie sehen, dass sie dann kaum eine Chancehaben, ein Deutschlandstipendium zu bekommen? LiebeKolleginnen und Kollegen, ich kann nicht nachvollzie-hen – auch wenn Sie sich noch so aufregen –,
wie Sie nach diesem Bericht zu der Feststellung kommenkönnen, dass es für den Gesetzgeber keinen Handlungs-bedarf gibt .
Ich meine, sogar das Gegenteil ist der Fall: Wir habenallen Anlass, wirklich intensiv darüber nachzudenken,ob die bereitgestellten Mittel nicht besser in den Begab-tenförderungswerken angelegt wären . Und: Lieber HerrStaatssekretär, Sie können mit uns natürlich immer überden Ausbau des BAföG reden .
Das BAföG ist nicht nur ein sozialdemokratisches Er-folgsprojekt, sondern auch das richtige Instrument, umjungen Menschen zu sagen: Auch wenn eure Elternhäu-ser dazu finanziell nicht in der Lage sind, es gibt ver-lässliche Rahmenbedingungen, die euch ein Studiumermöglichen .
Ich hoffe, dass wir über diesen Bericht noch einmal redenund die Zahlen gemeinsam realistisch analysieren kön-nen .Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und darfIhnen allen ein schönes Pfingstfest wünschen.
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Nach dieser großartigen Oppositi-onsrede der SPD-Kollegin
muss ich mich jetzt richtig ins Zeug legen; denn offen-sichtlich können SPD, Grüne und Linke heute gemein-sam das Deutschlandstipendium abschaffen, und daswäre gut so .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich solltehier und heute über die neue Exzellenzinitiative und überden Nachwuchspakt für 1 000 Tenure-Track-Professurendebattiert werden . Leider waren CDU/CSU und SPD zudiesen milliardenschweren Weichenstellungen für dieUniversitäten in der Republik nach wie vor nicht sprech-und debattierfähig . Also mussten sie die Debatte in dieserWoche absagen . Angemessen und souverän geht anders .
Sei es drum, diskutieren wir also zum x-ten Mal überdas Deutschlandstipendium . Das ist dereinst auf FDP-Mist gewachsen und sollte „der Einstieg in eine neue Sti-pendienkultur“ werden . Ein halbes Jahrzehnt später istklar: Da ist kein Kulturwandel . Die Bundesregierung hatalle ihre selbstgesteckten Ziele verfehlt . Das Deutsch-landstipendium ist für die wenigen, die es überhauptbekommen, natürlich eine gute Sache . Insgesamt ist esjedoch eindeutig ein Misserfolg;
denn an über 99 Prozent der bundesweit 2,7 MillionenStudierenden geht das Deutschlandstipendium vorbei .Stellen Sie sich einen dieser völlig überfüllten Hörsä-le in der Republik vor, und fragen Sie mal, welcher derStudis denn ein Deutschlandstipendium erhält . Wenn SieGlück haben, dann werden sich ein bis zwei Finger he-ben, und das kann es doch wohl nicht sein .
Das Programm ist meilenweit vom ursprünglichenZiel entfernt, 8 Prozent eines Studierendenjahrgangs zuerreichen, und es ist weit entfernt von den 2 Prozent, dieUnion und SPD bis 2017 erreichen wollen . Förderer sindMangelware . Niemand steht Schlange . Das Deutschland-stipendium ist nichts anderes als ein Ladenhüter . Dasmuss die Koalition doch endlich eingestehen .
Den Kolleginnen und Kollegen von der SPD ist dasdoch auch klar . Das hat Marianne Schieder gerade sehrdeutlich zum Ausdruck gebracht . Alle Vorbehalte werdendurch die Evaluation bestätigt, haben Sie gesagt . Dasstimmt . Swen Schulz hat beim letzten Mal als Haushältergesagt: „Dieses verfehlte Projekt ist und bleibt ein Rohr-krepierer und sollte endlich eingestellt werden .“ Glück-wunsch und Applaus, wir sind einer Meinung .
Marianne Schieder
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Die Evaluation des Deutschlandstipendiums fällt äu-ßerst durchwachsen aus . An einigen Hochschulen läuftes gut, an anderen so lala, und fast ein Drittel macht beidiesem Murks gar nicht erst mit . Diese ernüchternde Bi-lanz steht im Gegensatz zur Stellungnahme der Bundes-regierung . Da wird wider besseres Wissen der Misserfolgschöngeredet . Das ist hochschulpolitische Beratungsre-sistenz im Endstadium .
– Ich sage ja, das ist jetzt die x-te Debatte, und die Argu-mente stimmen weiterhin .Das Deutschlandstipendium hat die soziale Ungleich-heit beim Zugang zum Campus leider nicht abgemildert,sondern den Status quo zementiert . Es ist eine schlechtorganisierte Lotterie mit schlechten Gewinnchancen füralle . Besonders schlecht sind die Stipendienchancen instrukturschwachen Regionen, an kleinen und privatenHochschulen und für Leute, die Fächer studieren, die fürdie Wirtschaft wenig interessant erscheinen .
Deshalb: In der Gesamtschau ist diese Stipendienlotterieeinfach ungerecht .
Die Bundesförderung für das Deutschlandstipendiumwar schon bei der Einführung überflüssig; denn das woll-ten die Wirtschaftsverbände jahrelang allein machen .Nehmen wir sie doch endlich beim Wort . Es bedarf kei-nes extra Steuergeldes für das Deutschlandstipendium,sondern der Eigeninitiative der Wirtschaft . Das wäre einWeg .Unsere Studienfinanzierungslandschaft braucht dasDeutschlandstipendium jedenfalls nicht . Sie nehmen esals Angebotserweiterung, ich sehe darin eine Zersplitte-rung der Studienfinanzierung. Deutschland hat mit denStipendien der Begabtenförderungswerke, mit den Auf-stiegs- und Weiterbildungsstipendien ein hinlänglich dif-ferenziertes Stipendiensystem .
Das müssen wir gemeinsam weiterentwickeln, damit diesstärker zu mehr Bildungsgerechtigkeit beiträgt .
Eine Sache, die wir zügig angehen wollen, ist, mehrStipendien für Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebie-ten bereitzustellen . Im Zusammenspiel mit einer wei-teren Öffnung des BAföG würde das den Geflüchtetenhelfen, nach Unterdrückung und Flucht ins studentischeLeben durchzustarten . Das wäre ein Fortschritt .
– Ja, aber sie kriegen das BAföG zu spät . Der Zugangmuss früher erfolgen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, in die soziale Öff-nung der Hochschulen zu investieren, ist super angeleg-tes Geld . Dass Union und SPD entschieden haben, dasBAföG sechs Jahre lang nicht zu erhöhen, war eine fal-sche Entscheidung . So eine Hängepartie darf es nie wie-der geben .
Das BAföG muss entlang steigender Lebenshaltungs-kosten und Preise erhöht werden, und zwar regelmäßigund automatisch . So etwas sollte man im Gesetz fest-schreiben .
– Sie müssen es schon ertragen, dass wir Ihr Regierungs-projekt nicht „geil“ finden. Dass das Pinkwart-Gedenk-stipendium der FDP die Menschen, die studieren, unddie Hochschulen nach wie vor nicht überzeugt, zeigt dieEvaluation eindeutig .
Ich komme zum Schluss . Die Deutschlandstipendi-en in die Hände der Stifter – ohne Bundesmittel –, einStipendiensystem, das stärker auf Bildungsgerechtigkeitsetzt, und vor allem ein BAföG, das zum Leben reicht:So schaffen wir mehr Chancengerechtigkeit für alle inunserem Land; denn wir wollen das Studieren gerechterfinanzieren.
Das Wort hat die Kollegin Sybille Benning für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Es braucht nichtviel, um sinnvoll Geld auszugeben . Beim Deutschland-stipendium sind es zum Beispiel ganze 150 Euro imMonat pro Stipendium, und der Staat legt noch einmal150 Euro drauf . Mit diesen 300 Euro im Monat, die nichtzurückgezahlt werden müssen, bekommen überdurch-schnittlich engagierte Studierende unter Berücksichti-gung ihrer biografischen Daten – das wissen auch Sie –und unabhängig von ihrem sozialen Status – hören SieKai Gehring
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jetzt ruhig einmal zu! – Anerkennung für ihre Leistungund nicht zuletzt finanziellen Spielraum.
Das Deutschlandstipendium ist ein Novum für die Sti-pendienkultur in Deutschland . Erst fünf Jahre jung,
ist es nicht mehr wegzudenken . Die Hochschulen selbst –Unis, Fachhochschulen, Kunsthochschulen, Musikhoch-schulen, öffentliche und private Hochschulen – entschei-den nach ihren eigenen Kriterien, wer wen fördert . Dasgab es zuvor noch nicht .Dass das Stipendium wirkt, zeigt dieser Evaluations-bericht, über den wir heute sprechen .
– Ich glaube fast, Sie haben ihn wirklich nicht gelesen .
Jeder hat sich nur das herausgesucht, was ihm geradepasst . Wenn Sie aber das ganze Konzept hinter diesemDeutschlandstipendium verstanden hätten, dann hättenSie hier nicht die Worte benutzt, die Sie eben gewählthaben .
Das Deutschlandstipendium wirkt: Es wirkt auf dieStudierenden, die sich zusätzlich angesprochen fühlenund Kontakte zu ihren Förderern bekommen . Es wirktan den Hochschulen . Gerade auch durch den Auswahl-prozess bekommen sie einen neuen Blick auf die Studie-renden, und in den Förderern entdecken sie neue Koope-rationspartner . Es wirkt auf die Förderer, die Zugang zuihren Stipendiaten und auch zu Hochschulen erhalten . Soentstehen Netzwerke, die allen Beteiligten zugutekom-men .
Meine Damen und Herren, „Global denken, lokal han-deln“, das ist das Konzept, nachdem man zwar das großeGanze im Blick haben soll, aber bereits im eigenen Um-feld selber ansetzen kann .
Nach diesem Prinzip bilden sich in ganz DeutschlandWissensregionen . Hier arbeiten Schulen, Hochschulen,Unternehmen, Stiftungen, kommunale Einrichtungenund Forschungsinstitute an gemeinsamen Zielen .Auch in Zeiten modernster Kommunikationstechni-ken entstehen tragfähige Bindungen über persönlicheKontakte . Der hier gelebte Austausch und die damit ver-bundenen Innovationseffekte machen Wissensregionenzu einem zentralen Element . Dies dient sowohl der re-gionalen Entwicklung als auch der Bildung und Wissen-schaft .
Insbesondere MINT-Regionen machen es uns vor . Wiralle kennen welche, und wenn nicht, dann säße man hierfalsch . Viele MINT-Regionen gehen hier mit gutem Bei-spiel voran .Das Deutschlandstipendium unterstützt diese Art desNetzwerkens .
Es bringt die am Bildungsprozess Beteiligten und die da-ran Interessierten zusammen . Das ist ein ganz wichtigerAspekt .
Vernetzungsaktivitäten – wie zum Beispiel das Feiernder Stipendienvergabe, Dialogveranstaltungen, fachüber-greifende Projekte und Themenklassen an den Hochschu-len, Werksbesichtigungen, Praktika, die Betreuung vonBachelor- und Masterarbeiten sowie Mentoring- und Pa-tenschaftsprogramme der Förderer – werden zunehmendangeboten und durchgeführt . Viele Best-Practice-Bei-spiele machen da doch Lust auf mehr .
Liebe Zuhörer, die Fragen, die mich als Berichterstat-terin immer wieder beschäftigen, werden jetzt in diesemEvaluationsbericht endlich wissenschaftlich beantwortet:Haben alle Willigen die Möglichkeit, ein Stipendium zubekommen oder auch ein Stipendium zu vergeben? Gibtes regionale Differenzen? Wenn ja, welche?Dieser Evaluationsbericht zeigt: Deutschlandweit ha-ben alle Hochschulen grundsätzlich die gleichen Chan-cen zur Gewinnung von Stipendiengebern . Allerdingshaben diejenigen einen Vorteil, die bereits Erfahrungenmit öffentlich-privaten Partnerschaften und Fundraisinghaben . Ihnen gelingt es etwas leichter, privates Engage-ment für das Deutschlandstipendium zu wecken . Aberwen wundert das! Je länger man dabei ist, desto mehrErfolg hat man .
Aber jeder kann sich für ein Deutschlandstipendiumbewerben . Deswegen wird wirklich jedem eine Chancegegeben, sowohl den Hochschulen als auch den Stipen-diengebern .
– Hören Sie doch einmal zu!Um nachhaltig wirken zu können, brauchen wir Ver-trauen und Planbarkeit . Die CDU/CSU-Bundestagsfrak-Sybille Benning
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tion steht dafür und achtet seit Beginn darauf, dass durchausreichende Mittel im Haushalt die Finanzierungszu-sage des Bundes auch bei steigenden Stipendiatenzah-len gedeckt ist . Diese oppositionellen Nebelkerzen unddiese ständigen Querfeuer konnten die wirklich positiveund stetige Entwicklung nicht stoppen, nur – da hörenSie gut zu! – dass Sie damit vielen jungen Menschen dieMöglichkeit eines Deutschlandstipendiums genommenhaben, da das ständige Zweifeln und das ewige Schlecht-reden dieses Stipendiums nicht wenige Förderer abgehal-ten haben .
Das kann ich Ihnen aus so manchem Gespräch herausbestätigen .
Damit muss jetzt endlich Schluss sein . „Think positive“,wenn Sie das kennen .
Dieser Evaluationsbericht hilft, das weitere Gelingen desDeutschlandstipendiums zu organisieren .Meine Damen und Herren, ich wünsche mir für allezukünftigen Stipendiaten und Netzwerker, dass jetzt nochmehr Unternehmen, Vereine, Organisationen und Privat-personen überzeugt sind und Vertrauen in die Menschenund dieses Programm haben . 150 Euro im Monat für ei-nen Studierenden mit allen Möglichkeiten – ich kommeaus Westfalen –: Gesagt, getan! Ich habe es gemacht . Ichbin Stipendiengeber .
Sie auch? Machen Sie doch mal was!Danke schön .
Der Kollege Swen Schulz hat für die SPD-Fraktion
das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Große Ko-alition hat insbesondere bei Bildung, Wissenschaft undForschung wirklich viel hinbekommen .
Alphabetisierung, kulturelle Bildung, „Haus der kleinenForscher“, Hochschulförderung,
Nachwuchswissenschaftler, Meister-BAföG: Das sindnur einige Stichworte, natürlich nicht zu vergessen dieVerbesserung des BAföG als Kern der sozialen Bildungs-finanzierung für Schüler und Studierende.
Gemeinsam mit meiner Kollegin Hübinger habe ich hierund dort im Haushaltsausschuss behilflich sein können.
– Danke schön .Es gibt aber Themen, da kann ich – das muss ichgestehen – über den geschätzten Koalitionspartner vonCDU und CSU nur den Kopf schütteln .
Ich wundere mich wirklich, mit welcher VerbissenheitSie diesen Fehlschlag Deutschlandstipendium bejubeln .
Jedes Jahr sind die Zahlen niederschmetternd .
Jedes Jahr holen Sie sich aufs Neue eine schallende Ohr-feige ab . Anstatt einmal etwas zu ändern, stellen Sie sichimmer wieder brav hin und erwarten die nächste Schelleim nächsten Jahr . Ich verstehe das nicht, Kolleginnen undKollegen .
Es gibt gut 20 000 Stipendien . Aber es ist schon gesagtworden, was Schwarz-Gelb als Ziel ausgegeben hatte:8 Prozent der Studierenden sollten das Deutschlandsti-pendium erhalten . Das wären über 200 000 Menschen .
Eine neue Stipendienkultur sollte Einzug halten . Es gabsogar Leute, die davon träumten, das BAföG abzuschaf-fen und durch das Deutschlandstipendium zu ersetzen .
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Heute, Jahre danach, erreichen Sie weniger als 1 Prozent .
In den Koalitionsverhandlungen – die Kollegin Schiederhat es schon gesagt, und ich selber war dabei – habenwir Ihnen abgerungen, das Ziel von 8 Prozent auf 2 Pro-zent zu reduzieren . Weniger war mit Ihnen nicht mach-bar . Aber selbst von diesen 2 Prozent sind Sie meilenweitentfernt .
Regelmäßig wird das im Haushalt zur Verfügung ge-stellte Geld nicht abgerufen, obwohl wir die Mittel imHaushaltsausschuss zuletzt schon gekürzt haben . DerTitel „Deutschlandstipendium“ ist einer der fünf amschlechtesten laufenden Haushaltstitel .
Bald sind an die 100 Millionen Euro ungenutzt an denBundesfinanzminister zurückgeflossen. Was hätten wirmit 100 Millionen Euro alles Gutes tun können, Kolle-ginnen und Kollegen?
– Ich habe noch mehr Zahlen . Vielleicht regen Sie sichdann noch weiter darüber auf .
Das Ministerium hat versucht, den Mittelabfluss zusteigern, indem es den Deckel für die Einwerbung vonStipendien gelüftet hat . Trotzdem ist der Anstieg beschei-den: von 24 Millionen Euro private Stipendienmittel imJahr 2014 auf 25,1 Millionen Euro im letzten Jahr .
Das ist eine Steigerung von weniger als einem Zwanzig-stel .Dem stehen fast 6 Millionen Euro Kosten für Akqui-se, Werbung und Verwaltung gegenüber . Dabei ist nochgar nicht eingerechnet, dass die privaten Stipendiengeberihre Ausgaben steuerlich geltend machen können . Daskann wirklich nicht die schöne neue Stipendienkultursein, meine sehr verehrten Damen und Herren .
Es würde mich nicht wundern, wenn die Förderquote ak-tuell sogar rückläufig ist.Um es zusammenzufassen: Das Deutschlandstipendi-um ist ein Ladenhüter, und noch dazu ein sehr teurer .
Das ist nicht exklusiv meine Einschätzung, sondern ichteile sie mit dem Bundesrechnungshof . Oder um aktu-elle Presseberichte zu nehmen: Die taz schreibt: DasDeutschlandstipendium ist ungerecht .
– Herr Kollege, wenn Ihnen die Welt näher liegt:
Die Welt hält das Deutschlandstipendium für einen – Zi-tat – „Rohrkrepierer“ .
Ich betone: Wir achten die Stipendiengeber und natür-lich die Stipendiaten sehr . Hier soll nicht der Eindruckentstehen, dass wir deren Engagement und Leistung ge-ringschätzen . Wir sind für Begabtenförderung, aber siemuss realistisch und an den Bedarfen orientiert sein .
Nicht die Stipendiaten und die Stipendiengeber sinddas Problem . Vielmehr ist das politische Instrument desDeutschlandstipendiums falsch konstruiert .
Es ist erstens schade um das verlorene Geld, und zwei-tens wirkt das Deutschlandstipendium wie eine Bremsefür die bewährten Begabtenförderwerke .
Diese hatten gute Steigerungsraten, bis Schwarz-Gelbdas Deutschlandstipendium eingeführt hat . Seitdem stag-niert die Begabtenförderung . Das ist eine Fehlsteuerung,die wir schleunigst korrigieren müssen, Kolleginnen undKollegen .
Ich habe noch einen Hinweis, den ich bei allem Kon-flikt in dieser Sache, der auch durch die Reaktionen hierdeutlich wird, mit einem Vorschlag zur Güte verbinde .Das Ministerium hat den Deutschen Bundestag über dieSwen Schulz
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Ergebnisse der Evaluation und der Begleitforschung un-terrichtet . Aber die Untersuchungen selbst haben Sie unsnicht zugeleitet . Das wäre aber wichtig, damit wir uns eineigenes Bild im Detail machen können .
Jetzt mein Vorschlag: Wenn wir uns die vollständigenUnterlagen sorgfältig ansehen konnten, sollten wir nocheinmal darüber sprechen . Vielleicht kommen wir gewis-sermaßen auf der Zielgeraden dieser Wahlperiode nochzusammen und finden eine tragfähige Konstruktion fürdie Stipendien und die Begabtenförderung in der nächs-ten Dekade . Das wäre verdienstvoll .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächstes erhält jetzt die Kollegin
Cemile Giousouf, CDU/CSU-Fraktion, das Wort
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich muss zugeben, ich habe schon lange nicht mehr soviele ideologisch verblendete Redebeiträge von den Kol-legen der Opposition, aber auch leider vom Koalitions-partner gehört .
Zwei Punkte kann ich feststellen: Erstens hat man dasPrinzip der Begabtenförderung nicht verstanden, undzweitens haben Sie sich nicht mit den Studierenden un-terhalten . Das hat man ganz deutlich gemerkt .
Seit seiner Einführung 2011 hat sich das Deutschland-stipendium als wichtige Säule der Begabtenförderungetabliert . Im Jahr 2014 wurden 22 500 Studierende ge-fördert;
beteiligt sind rund 288 Hochschulen bzw . 90 Prozent al-ler staatlichen Hochschulen .
Das Deutschlandstipendium aktiviert Unternehmen,Stiftungen und Privatpersonen für ein finanzielles En-gagement in der Bildung . Mehr als das: Es stärkt die At-traktivität der Hochschulen und trägt zur Ausbildung vonHochqualifizierten bei.
Richtig ist auch: Trotz der Erfolge – das geben wirohne Weiteres zu – werden wir in dieser Legislaturperio-de die sehr ambitioniert gesteckten Ziele voraussichtlichnicht erreichen . Laut Koalitionsvertrag sollten 2 Prozentder Studierenden bis Ende des Jahres 2017 gefördertwerden .
2014 betrug die Förderquote 0,84 Prozent der Studieren-den . Die Tendenz geht aber deutlich nach oben .
Eine neue Stipendienkultur in Deutschland braucht einegewisse Zeit . Diese müssen Sie uns auch zugestehen .
Jetzt aufgepasst, Herr Schulz! Sie haben behauptet, esgehe überhaupt nicht voran . Die Anzahl der Stipendiatenin Deutschland hat sich dank des Deutschlandstipendi-ums schon heute verdoppelt .
Im vergangenen Jahr 2015 haben über 7 000 Studierendeallein in Nordrhein-Westfalen ein Deutschlandstipendi-um erhalten . Das entspricht einem Anstieg um 7,3 Pro-zent im Vergleich zu 2014, wie das Statistische Landes-amt in Düsseldorf jüngst mitteilte .Ich möchte noch auf drei wesentliche Ergebnisse desBerichts in aller gebotenen Kürze eingehen .An allen Hochschulstandorten sind die Bedingungengegeben, private Mittel ausreichend einzuwerben . Einallgemeiner Einfluss von Regionalfaktoren auf die För-derquote ist nicht vorhanden, entgegen den Voraussagender Kritiker . Wenn wir also sagen können, dass die 2 Pro-zent in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht er-reicht werden: Warum haben Sie dann nicht die Größe,zuzugeben, dass Sie mit all den anderen Prognosen, dieSie in den letzten Jahren aufgestellt haben, todsicher da-neben lagen?
Das Deutschlandstipendium ist von allen Stipendien-arten das mit der größten sozialen Streuung .
– Frau Kollegin, schauen Sie sich einfach einmal dieZahlen an; auch der Staatssekretär hat sie vorgetragen . –Swen Schulz
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Entgegen dem Gerede von einer reinen Eliteveranstal-tung fragt der zugrundeliegende Leistungsbegriff nichtnur nach Noten .
Vielmehr berücksichtigen wir in den Lebensläufen auchsoziale Brüche und Hindernisse, die die Bildungsbiogra-fie der jungen Menschen beeinflusst haben. So erhaltenStudierende mit Migrationshintergrund dem Bericht zu-folge überdurchschnittlich oft ein Deutschlandstipendi-um .
Wir können Sie behaupten, dass junge Menschen, die aussozial schwachen Milieus kommen, hier nicht unterstütztwerden? Die Zahlen besagen das genaue Gegenteil .
28 Prozent – mehr als jeder vierte Stipendiat – haben eineEinwanderungsgeschichte in der Familie . Im Vergleichzum Migrationsanteil an allen Studierenden schneidetdas Deutschlandstipendium sogar um 5 Prozentpunktebesser ab . Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch dasist einen Applaus wert . Das ist gelebte Anerkennungskul-tur der unionsgeführten Regierung .
Das Deutschlandstipendium wirkt sich ganz eindeu-tig förderlich auf die Netzwerke zwischen Hochschu-len, Förderern und Geförderten aus . Vor allem sind esmittelständische Unternehmen, welche die Chancen fürsich entdeckt haben . Daneben gibt es Großunternehmen,Stiftungen und Einzelpersonen, die Stipendien finanzie-ren . Frau Gohlke, Sie haben eben behauptet, nicht einemStudierenden aus sozial schwierigen Verhältnissen seigeholfen worden . Ich möchte gerne als Abgeordnete desRuhrgebiets ein Beispiel aus meiner Region nennen
und auf die Unterstützung durch einen Fußballverein ausder Ruhrregion eingehen . Bekanntlich ist morgen derletzte Bundesligaspieltag . Der FC Schalke 04 mag einedurchwachsene Saison gespielt haben . Aber die Unter-stützung dieses Traditionsvereins für das Deutschland-stipendium ist aller Ehren wert . Die Stiftung „Schalkehilft!“ unterstützt neun Studierende mit einem Deutsch-landstipendium . Der Verein weiß um die Auswirkungendes Strukturwandels, die in der Region noch immer zuspüren sind . Den Standort zu stärken und junge Men-schen mit erschwertem Zugang zur Bildung zu unterstüt-zen, liegt „Schalke hilft!“ deshalb besonders am Herzen .Wer also auf die Westfälische Hochschule geht, hat dieChance, durch den FC Schalke und das BMBF gefördertzu werden, Leistungen an der Universität und im Eh-renamt vorausgesetzt . Eine tolle Kooperation! Von denBlau-Weißen können die Roten und die Grünen definitivnoch lernen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7890 an den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen . –
Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden und freuen
sich auf die Diskussionen im Ausschuss . Die Überwei-
sung ist beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anja
Hajduk, Britta Haßelmann, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbe-
ziehungen jetzt angehen
Drucksache 18/8079
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich sehe, Sie
sind damit einverstanden . Dann ist so beschlossen .
Ich bitte Sie, jetzt relativ zügig die Plätze einzuneh-
men und die Gespräche am Rande einzustellen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Werte Kollegen! Ich zitiere gleich zu Beginn:Spätestens Ende 2019 müssen die Bund-Länder-Fi-nanzbeziehungen neu geordnet sein . Der Länder-finanzausgleich ist zu diesem Zeitpunkt neu zu re-geln . … In dieser Legislaturperiode müssen dafürdie Weichen gestellt werden .So steht es im Koalitionsvertrag dieser Legislaturpe-riode .
Das ist alles richtig . Des Weiteren wird dort gesagt,dass bis Mitte der Legislaturperiode Ergebnisse zu dennachfolgenden Themenbereichen vorliegen sollen: zumeuropäischen Fiskalvertrag, zur Schaffung von Voraus-setzungen für die Konsolidierung und dauerhafte Ein-haltung der neuen Schuldenregel in den Länderhaus-halten, zu Einnahmen- und Aufgabenverteilung undEigenverantwortung der föderalen Ebenen, zur ReformCemile Giousouf
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des Länderfinanzausgleichs, zu den Altschulden, Finan-zierungsmodalitäten und Zinslasten und zur Zukunft desSolidaritätszuschlags .Sie merken an diesem ganzen Strauß von Punkten,dass das eine große Reform ist . Das sind wichtige Auf-gaben . All diese müssen angegangen werden . Der Anlassist ziemlich klar: 2019 laufen der Länderfinanzausgleichin dem jetzt definierten Sinne und ebenso der SolidarpaktOst aus .Gemessen an dieser Aufgabenstellung – das ist sicher-lich eines der ganz großen Reformvorhaben im Koaliti-onsvertrag – müssen wir zweieinhalb Jahre später – überdie Hälfte der Legislaturperiode ist bereits verstrichen –feststellen, dass Sie vollständig gescheitert sind .
Gemessen an der Bedeutung einer so großen Reform istdas für eine Große Koalition schon ein Armutszeugnis .Nun kann man fragen: Was sind die Gründe dafür? Siehaben sich bei dem Aufsetzen dieser Reform gescheut,eine transparente Beteiligung der wichtigen Akteure si-cherzustellen . Da haben nicht Bund, Länder und Kom-munen in einer Kommission zusammengesessen, es sindkeine Parlamente befasst worden, sondern Sie haben die-se Gespräche in die Hinterzimmer verschoben . Das wareine Entscheidung der Kanzlerin, des Bundesfinanzmi-nisters und des Vizekanzlers . Dieses Verfahren ist vor dieWand gerauscht .
Das hat auch einen Grund . Wenn man im Hinter-zimmer verhandelt, das Thema intransparent hält, dannentfalten die Verabredungen auch keine Verbindlichkeit .Das ist ein Problem . Das läuft jetzt nicht unter der Rubrik„So ist die Politik; die kriegt es nicht hin“, sondern daswird Folgen haben .Nun kann man sagen: Frau Hajduk, es liegt doch jetztseit Dezember eine Einigung der Länder vor . – Das istrichtig . Seit dem 3 . Dezember gibt es einen Beschlussder Ministerpräsidenten der Länder zur Zukunft dieserReform . Dazu kann ich nur feststellen, dass diese Ei-nigung der Länder in der Folge den Charakter unseressolidarischen Miteinanders, des Miteinanders von Bund,Ländern und Gemeinden, nachhaltig verändern würde;
denn die Länder schlagen vor, dass der Länderfinanzaus-gleich, der solidarische Ausgleich untereinander, kom-plett abgeschafft werden soll .
Er soll insgesamt durch eine höhere Bundesbetei-ligung ersetzt werden . Ich sage ganz eindeutig: DieserVorschlag überzeugt mich nicht;
denn er unterhöhlt unseren Föderalismus . Da geht esnicht nur darum, ob der Bund oder die Länder mehrzahlen, sondern es geht auch darum, ob sich die Länderzutrauen, untereinander solidarisch zu sein . Das ist einwichtiger Baustein eines solidarischen Föderalismus .
Herr Brinkhaus, wenn Sie jetzt sagen: „Wir teilen die-se Kritik an dem Ländervorschlag“, dann muss ich Ihnenentgegnen: Es ist trotzdem notwendig, dass der Bundes-finanzminister jetzt die Kraft entfaltet, nicht nur eine ei-gene Kritik am Ländervorschlag vorzulegen – das hat ergetan, durchaus auch in diesem Sinne –, sondern auchuns, diesem Parlament, endlich einmal Gesetzentwürfevorzulegen, sodass wir der Lösung dieser Aufgabe einenSchritt näherkommen .
– Das ist keine Frage der Naivität; es ist eine Frage derVerantwortung .
Sie als Regierungsfraktionen tragen mit Verantwortungdafür, dass unser vornehmstes Recht, das Budgetrecht,auch durch uns beraten und geregelt wird .
Sie werden nicht leugnen, Herr Brinkhaus, dass die Zeitdafür immer knapper wird .Deswegen sage ich Ihnen: Wir müssen diese großeReform jetzt schrittweise angehen . Darüber wird es nochviele Gespräche mit den Ländern geben . Wir sollten da-bei die Altschuldenproblematik nicht vergessen . Wirsollten die Steuerverwaltung effizienter machen. In Zei-ten von Panama Papers ist das wichtig und richtig .
Außerdem sollten wir ziemlich alte Zöpfe wie Problemeder Finanzierung im Bildungsbereich abschneiden .
Ich sage Ihnen: Es ist besonders wichtig, die Sprei-zung zwischen armen und reicheren Kommunen anzu-gehen . Die positiven Ergebnisse der öffentlichen Haus-halte täuschen doch darüber hinweg, dass es Regionengibt, die nicht genügend Geld haben, ihre Infrastrukturzu finanzieren. Wenn jetzt einige Bundesländer – das giltnicht für alle – beim Aufstellen der Finanzplanungen einProblem haben, weil die Bund-Länder-Finanzbeziehun-gen ab 2019 nicht geregelt sind – es ist unklar, ob dieseLänder die Schuldenbremse am Ende dieses Jahrzehntssicher einhalten können –, dann kommt darin ebendieseVerantwortung zum Ausdruck, diese große Reform jetzterfolgreich anzugehen .Das ist kein Machtspiel zwischen Bund und Ländern,Herr Brinkhaus, sondern das ist ein Spiel mit dem Feuer .Anja Hajduk
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Es geht um das Vertrauen, dass die staatlichen Ebenenihre Aufgaben wahrnehmen können . Es geht darum, dassdie Bürgerinnen und Bürger die Sorge haben, unsere Fi-nanzverfassung trage nicht mehr .Zum Schluss sage ich Ihnen Folgendes:
Aber sehr kurz, Frau Hajduk .
Es wäre doch wirklich fatal, wenn ausgerechnet der
Finanzminister, der in dieser Legislaturperiode die
Schuldenbremse eingehalten hat, derjenige wäre, der die
Akzeptanz für ebendiese Schuldenbremse untergraben
würde, weil die Länder und Kommunen keine Aussicht
haben, sie ab 2020 einzuhalten . Insofern legen Sie uns
jetzt endlich diese Gesetzentwürfe zur Beratung vor .
Schönen Dank .
Vielen Dank . – Der Kollege Ralph Brinkhaus hat jetzt
die Gelegenheit, darauf zu antworten . Er spricht für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauHajduk, ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihrem Wort-beitrag ein bisschen mehr die Rolle der Bundesländer indiesem ganzen Spiel beleuchten . Ich glaube, wir sind unshier im Deutschen Bundestag in vielen Punkten, übrigensparteiübergreifend, sehr einig, etwa was das Budgetrechtund die finanziellen Kapazitäten des Bundes angeht.Aber das Problem ist: Wir haben 16 Ministerpräsidenten .Wir können hier so viele Gesetzentwürfe einbringen, wiewir wollen . Aber das ist eine Geschichte, die wir nur ge-meinsam zustande bringen, und darüber, wie das gelin-gen kann, gibt es unterschiedliche Auffassungen .Vielleicht noch einmal zur Erklärung: Was sind über-haupt Bund-Länder-Finanzbeziehungen? Dabei geht esum die Aufteilung der Steuergelder zwischen dem Bundauf der einen Seite und den Ländern und Kommunen aufder anderen Seite und um die Aufteilung der Steuerein-nahmen, die den Ländern zufallen, zwischen den einzel-nen Bundesländern . Das hört sich jetzt sehr einfach an .Aber das, was über die Jahrzehnte dabei herausgekom-men ist, ist ein Konstrukt, das so intransparent und kom-pliziert ist, wie ich es in der Politik eigentlich noch niegesehen habe . Wenn Sie sich dazu einmal eine Aufzeich-nung mit Strichen und Kästchen machen würden, dannwürde jedes Burda-Schnittmuster dagegen verblassen .
Das Ganze ist mit unglaublich vielen Ausnahmen undRückausnahmen gesegnet . Dieses System ist nicht nurintransparent und kompliziert, sondern es ist auch absurd .Um Ihnen dafür ein Beispiel zu nennen: Irgendjemandist einmal auf die Idee gekommen, dass es Bundeslän-der gibt, die eigentlich kein Geld haben, sich ein eigenesParlament oder eine Landesvertretung hier in Berlin zuleisten, weil sie zu klein sind . Diese Länder haben beson-ders hohe Kosten der politischen Führung im Vergleichzu ihrer Einwohnerzahl . Es ist gesagt worden: Da mussder Bund eingreifen . – Das könnte man ja bei Bundes-ländern wie Bremen verstehen – ob wir es gutheißen, isteine andere Frage . Fakt ist: Momentan bekommen 10von 16 Bundesländern diese Zuweisung, weil sie beson-ders hohe Kosten der politischen Führung haben . DieseZuweisung geschieht nach einem System, das vorsieht,dass Rheinland-Pfalz mehr Geld bekommt als das etwagleich große Sachsen . Hamburg, das noch viel kleiner ist,bekommt überhaupt nichts .Das heißt, dieses System ist hinreichend absurd undgehört dringend reformiert, und zwar nicht nur punktu-ell und minimal-invasiv, sondern grundlegend: Es musssozusagen auf einen Stock gesetzt und neu aufgebautwerden . Ich befürchte nur, dass wir mit unserer föderalenVerfassung dazu nicht mehr in der Lage sind und deswe-gen mit der ganzen Sache anders umgehen müssen .Man könnte jetzt den ganzen Nachmittag darübersprechen, aber ich fasse es einmal kurz zusammen, in-dem ich mit vier Irrtümern aufräumen, auf einen Vor-schlag eingehen, zwei Fragen stellen möchte und dannzum Schluss kommen werde .Ich fange einmal mit den vier Irrtümern an .Erster Irrtum . Es wird ja immer so getan, als wür-den die Steuerzuwächse, die wir haben – die liegen imzweistelligen Milliardenbereich pro Jahr –, ausschließ-lich beim Bund liegen . Wenn man den einen oder ande-ren Landesfinanzminister hört, denkt man immer, derHerr Schäuble hat Steuerzuwächse, und die Länder ha-ben nichts . Weit gefehlt . Von den Steuerzuwächsen, diewir haben, entfallen pro Euro ungefähr 60 Cent auf Län-der und Kommunen und 40 Cent auf den Bund .Zweiter Irrtum . Es wird immer so getan, als seien Län-der und Kommunen arm und der Bund reich . Fakt ist: DieVerschuldung beträgt ungefähr 1,3 Billionen Euro beimBund und 0,8 Billionen Euro bei den Ländern und Kom-munen . Bei der Pro-Kopf-Verschuldung sind nur Bun-desländer wie Bremen und das Saarland noch schlechterals der Bund . Es ist auch eine Wahrheit, dass wir da mitmehreren Hundert Milliarden Euro auseinanderliegen .Dritter Irrtum . Es wird ja immer so getan, als täteder Bund nichts für die Kommunen . Das ist in unseremGrundgesetz eigentlich auch so vorgesehen .
Danach darf der Bund auch gar nichts für die Kommu-nen tun, weil die Kommunen Bestandteil der Länder sindund die Länder dafür zuständig sind, dass die Kommu-nen genug Geld haben . Nichtsdestotrotz tut der Bundfür die Kommunen etwas . Wir haben die Kosten für dieGrundsicherung im Alter übernommen – das ist ein satterzweistelliger Milliardenbetrag allein in dieser Legislatur-Anja Hajduk
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periode –, wir sind stärker in die Übernahme der Kostender Unterkunft eingestiegen – das sind auch ungefähr5 Milliarden Euro –, wir sind in den ganzen Kitabereicheingestiegen – das sind ebenfalls über 5 Milliarden Euro .Wenn Sie die Fortführung der Gemeindeverkehrsfinan-zierung, die Entflechtungsmittel für den Städtebau unddie diversen Investitionspakete nehmen, dann sind wirbei weit über 15 Milliarden Euro .Dann müssen wir noch sehen, dass wir bei den Re-gionalisierungsmitteln – wir haben gestern die Debattegeführt – wohl auch noch kein Ende gefunden haben unddass da auch schon wieder Wünsche vorgetragen wer-den – der öffentliche Personennahverkehr betrifft auchdie Kommunen –, obwohl wir auch hier in dieser Legis-laturperiode schon mehr als 1 Milliarde Euro draufgelegthaben .Das heißt, wir haben ein richtig sattes Paket für Län-der und Kommunen geschnürt, wobei die Bildungsaus-gaben – BAföG und solche Sachen – noch nicht einmaldarin enthalten sind .Dazu nur zwei Bemerkungen: Erstens . Jedes Mal,wenn wir etwas machen, heißt es, wir brauchen nochmehr . Und zweitens . Danke hat auch noch niemand ge-sagt . Das heißt, wir geben von unseren eigenen Mitteln,von diesen 40 Cent von jedem Steuer-Euro – 60 Centgehen woandershin –, noch eine Menge ab, um es denLändern und Kommunen zu ermöglichen, ihren Aufga-ben nachzukommen .Meine Damen und Herren, jetzt komme ich zu demvierten Irrtum, der Bund tue nichts im Bereich der Son-deraufgabe Migration . Wenn man sich einmal anschaut,was im Bundeshaushalt an verschiedenen Stellen – vonder Fluchtursachenbekämpfung in den Herkunftsländernbis zur Finanzierung von Migration in diesem Land –aufgewandt wird, dann sind wir auch bei 16 MilliardenEuro in diesem Jahr . Das Ganze steigt bei moderat stei-genden Migrationszahlen auf 20 Milliarden Euro an .Darin sind solche Sachen enthalten wie die, dass wirfür jede Asylbewerberin und jeden Asylbewerber trenn-scharf 670 Euro pro Kopf und Monat geben . Ich hoffe,das wird auch an die Kommunen weitergereicht .Das geht noch weiter: Wenn die Asylbewerberin bzw .der Asylbewerber aus dem Asylverfahren heraus ist, be-kommt sie bzw . er Leistungen nach den Sozialgesetzbü-chern, die weitestgehend vom Bund finanziert werden –vielleicht bis auf die Kosten der Unterkunft . Wir habenim Haushaltsausschuss auch Pakete für die Bereicheunbegleitete Jugendliche, Städtebau und Kita geschnürt .Nicht zuletzt gibt der Bund auch sehr viel für Sprachför-derung und entsprechende Dinge aus .Es ist nicht kleinzureden, was da seitens der Kommu-nen gemacht wird, weil es großartig ist, mit welcher Op-ferbereitschaft diese Herausforderungen im Bereich derMigration angenommen worden sind und wie die ent-sprechenden Maßnahmen auch bezahlt worden sind undbezahlt werden . Aber es ist ein Irrtum, anzunehmen, dassder Bund nicht dabei ist .Das waren die vier Irrtümer .Jetzt kommt der eine Vorschlag: Der Vorschlag derLänder vom Dezember des letzten Jahres, auf den Sie jaauch Bezug genommen haben, ist erstens nicht sonder-lich hilfreich, weil er die Grundprobleme und Fehlanrei-ze in diesem System nicht beseitigt .
Und dieses Burda-Schnittmuster wird auch nicht wesent-lich unkomplizierter . Das ist das erste Manko .Das zweite Manko ist, dass dieser Vorschlag der Län-der nur funktioniert, wenn der Bund zusätzlich zu dem,was ich Ihnen eben noch einmal erläutert habe, über9,5 Milliarden Euro auf den Tisch legt . Dabei glaube ichsogar, dass der Betrag mittlerweile noch ein bisschen hö-her ist .Das ist ein tolles Demokratieverständnis, wenn sich16 Ministerpräsidenten zusammensetzen und sagen:„Wir haben eine Lösung für unser Problem, kostet zwarirgendwie 9,5 Milliarden Euro, aber das zahlen wir nichtselbst, sondern das kann dann der Bund bezahlen“, undsich dann darüber beschweren, dass hier im DeutschenBundestag gesagt wird: Na ja, ist schwierig, wenn solchein Vertrag zulasten Dritter abgeschlossen wird, bei demwir nicht mitreden können .
– Ich habe nicht mehr viel vorzutragen . Ich ziehe dasdurch . Sie können gleich eine Kurzintervention ma-chen . – In der Budgetverantwortung müssen wir als Bun-destag dagegenhalten .Im Übrigen wissen wir auch eines, meine Damen undHerren: Wenn dieser Vorschlag hier im Deutschen Bun-destag eins zu eins abgesegnet worden wäre: Die Tintedes Bundespräsidenten darunter wäre noch nicht trockengewesen, es wären weitere Forderungen gekommen zuden Kosten der Unterkunft, zu Investitionen, zur Inte-gration und – das haben Sie auch gesagt – zur Bildung .Es würde nämlich gesagt werden: Jetzt heben wir dasKooperationsverbot im Bereich Bildung auf, damit derBund auch die Schulen bezahlen kann . – Bei den Uni-versitäten haben wir ja schon etwas gemacht; da ist derSündenfall bereits erfolgt . – Das zu dem Vorschlag .Jetzt kommen die zwei Fragen, die ich mir stelle . Dieerste Frage lautet – Sie haben sie auch schon angespro-chen –: Wie sieht es denn eigentlich mit dem föderalenSelbstverständnis in diesem Land aus? Wie sieht es mitdem Anspruch auf Eigenstaatlichkeit aus, wenn erstensbei allen zusätzlichen Problemen immer der Bund geru-fen wird und die eigene finanzielle Verantwortung nichtwahrgenommen wird und wenn zweitens der brüderlicheFinanzausgleich zwischen den Bundesländern komplettaufgehoben wird und es zu einem väterlichen Finanzaus-gleich kommt, in dem nur noch der Bund dafür zuständigist? – Das ist das erste Problem .Das zweite Problem, das mich beschäftigt, ist eines,das ich als Haushälter habe . Wenn ich mir anschaue,welche Lasten wir uns momentan für den Bundeshaus-halt aufbürden – innere Sicherheit, äußere Sicherheit,Ralph Brinkhaus
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Migration, Euro-Rettung, viel Geld für Kommunen undLänder, was ich gerade schon erzählt habe – und waswir jetzt noch zusätzlich draufsetzen – aufgrund derdemografischen Entwicklung werden wir im nächstenJahrzehnt erhebliche Belastungen in den Sozialversiche-rungssystemen haben, teilweise selbst verursacht durchdie Beschlüsse zur Mütterrente und zur Rente mit 63 undsolche Dinge –, dann frage ich mich wirklich: WelcherGestaltungsspielraum ist denn für die Haushälter, diein zehn Jahren in diesem Saal hier sitzen, noch vorhan-den? Können sie überhaupt noch irgendetwas Eigenesmachen, oder sind sie so gefesselt – auch durch wiederansteigende Zinsen für unsere Schulden und durch allesandere, was ich Ihnen eben erzählt habe –, dass sie imPrinzip nur noch als Notar hier sitzen und abnicken kön-nen? Sie werden sagen müssen: Eigene Projekte – wirhatten gerade eine Debatte über Bildung – können wirgar nicht auf den Weg bringen .
Herr Kollege Brinkhaus, ich muss Sie unterbrechen .
Gestatten Sie dazu eine Zwischenfrage der Kollegin
Hajduk?
Ich habe jetzt noch 43 Sekunden .
Die haben Sie auch weiterhin . Sie haben jetzt die
Chance, die Redezeit zu verlängern .
Gut, dann machen wir jetzt noch eine Zwischenfrage .
Frau Hajduk .
Die Zeit wird angehalten .
Ja natürlich, immer . Wir wollen auf den Rest Ihrer
Rede nicht verzichten .
Vielen Dank, Herr Kollege Brinkhaus . – Wir sind uns
einig: Das ist eine komplexe Thematik . Wir sind uns ei-
nig: Sie ist auch extrem umstritten . – Ich habe Ihnen sehr
wohl zugehört, aber ich habe in Ihrer Rede nicht gehört,
ob Sie es nicht richtig finden, dass wir demnächst trotz-
dem diese Reform anpacken und zu einer Lösung kom-
men müssen . Wenn Sie mir nur immer erklären, warum
das alles nicht geklappt hat und warum das nicht geht,
dann landen wir am Ende in der Problematik, dass wir
für Bund, Länder und Kommunen – die Finanzierungs-
situation ist teilweise sehr unterschiedlich – keine ver-
lässliche Perspektive haben . Verstehe ich Sie richtig, dass
Sie sagen wollen: „Wir kriegen das nicht hin, und dann
legen wir die Hände in den Schoß“? Das kann es doch
nicht sein!
Zweitens würde ich Sie bitten, zur Kenntnis zu neh-
men – die Mehrbelastung des Bundes, die die Länder sich
wünschen, ist natürlich keine Selbstverständlichkeit –,
dass die Reaktion des Bundesfinanzministeriums auf den
Ländervorschlag mittlerweile doch fast eine Annäherung
bedeutet, nämlich den fiskalischen Rahmen, wenn auch
nicht in den Strukturen, den Ländern zuzugestehen? Das
kann also nicht das Hauptproblem sein .
Zu dem zweiten Teil: Ich bin Mitglied des Parlamentsund nicht Vertreter des Bundesfinanzministeriums.Zu dem ersten Teil: Ich hatte am Anfang der Rede pä-dagogisch sehr wertvoll erläutert: vier Irrtümer, ein Vor-schlag, zwei Fragen und eine Schlussfolgerung . WartenSie einfach die Schlussfolgerung ab; dann kommt auchder Vorschlag zu der ganzen Sache .
Bei dieser Schlussfolgerung bin ich mittlerweile; die Zeitläuft ja auch ab .Um das einmal zusammenzufassen: Die Erwartungs-haltung der Länder in diesem ganzen Prozess lässt sichwie folgt beschreiben: Der Bund zahlt für alles, es wirdspitz abgerechnet, und es darf nichts kontrolliert wer-den . – Das ist eine Sache, die so nicht funktioniert . Dem-entsprechend brauchen wir ein faires Miteinander, indem wir die Sache neu aufsetzen und auch einmal ganzrigoros gucken:
Wer hat denn welche Aufgaben zu erfüllen? Wie ist dieFinanzausstattung für diese Aufgaben?Das funktioniert nicht, indem ich irgendwo invasiveingreife und beispielsweise Folgendes mache: Weileinem Bundesland in diesem Ländervorschlag irgend-wo noch 30 Millionen Euro fehlen, denke ich mir eineBundesergänzungszuweisung dafür aus, dass es da keineBundesforschungseinrichtung gibt .
Das funktioniert nicht .
Wir haben unsere Vorschläge vorgelegt . Meine verblie-bene Redezeit ist jetzt bei minus sieben Sekunden,
Ralph Brinkhaus
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aber wir können gerne eine zweite Debatte eröffnen, da-mit ich Ihnen das entsprechend erläutern kann . Ihr Vor-schlag ist mir allerdings aus Ihren Ausführungen auchnicht deutlich geworden . Es gibt keinen großen grünenKnopf, auf den ich drücken kann, um das Problem ein-fach zu lösen . Eines kann ich Ihnen aber sagen – Sie ha-ben ja beklagt, dass die Transparenz fehlt –: Sie glaubendoch wohl nicht, dass eine gemeinsame parlamentarischeArbeitsgruppe aus Grünen, Linken und Koalitionsfrakti-onen dazu führt, dass die Ministerpräsidenten hinterhersagen: Ja, das ist es; das machen wir jetzt . – Insofern istdie ganze Sache etwas komplizierter .Danke schön .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Dr . Axel Troost,
Fraktion Die Linke, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Brinkhaus hat sozusagen alles in einen Topf ge-worfen und alle Zahlungen, die es vom Bund für die Län-der oder für die Kommunen gibt, mit einbezogen .
Wir reden im engeren Sinne über den Länderfinanzaus-gleich . Das ist sozusagen nur ein kleines Teilstückchendavon . Ich beschäftige mich mit dieser Frage seit 33 Jah-ren . Im Gegensatz zu allen anderen haben wir als Linke2013 eine Kommission eingesetzt, haben einen sehr kon-kreten Vorschlag gemacht, ein 61-seitiges Konzept erar-beitet, haben eine Kurzfassung davon erstellt, die manhier auch einsehen kann . Darin sagen wir nicht: „DerBund soll alles bezahlen“, sondern wir machen ganz kon-krete Vorschläge . Diese sollte man sich erst einmal an-schauen, bevor man uns in irgendeiner Form diffamiert .
– Ja, ja .Worum geht es aber? Es ist völlig richtig: Man hättewirklich eine Föderalismuskommission III gebraucht . Ichwar Mitglied der Föderalismuskommission II und weiß,dass da viel und auch grundsätzlich diskutiert wurde .Aber man ist eben auch zu einem Ergebnis gekommen,
und zwar unter Beteiligung der Kommunen und der Par-lamente . Das, was nun aktuell passiert ist, war wirklichKindergarten . Man hat erst einmal die Länder unterein-ander verhandeln lassen . Die waren sich natürlich nichteinig . Aber dann ist man im Dezember zu einer Einigunggekommen . Diese Einigung enthält für meine Begriffe –da würde ich Frau Hajduk überhaupt nicht zustimmen –ja durchaus viele sehr vernünftige Elemente:
Auch wir wollen, dass die kommunalen Steuereinnah-men auf die Finanzsituation der Länder angerechnetwerden, wenn auch zu 100 statt zu 75 Prozent . Nach wievor bleibt es bei einem Ausgleich zwischen den Ländern .Das war ja auch nicht so klar .
Es gibt jetzt ein Konzept für Bremen und das Saarland,damit diese Länder nicht insolvent gehen . Es gibt die Idee,die ich für richtig halte, gemeinsame Staatsanleihen vonBund und Ländern aufzulegen . Ich halte auch den gefun-denen Kompromiss auf der Basis des nordrhein-westfä-lischen Vorschlages, den Länderfinanzausgleich mit derFrage des Umsatzsteuervorwegausgleiches zu verbinden,nicht für falsch . Das ist ja in sich ein Finanzausgleich,weil die Ergebnisse praktisch die gleichen sind .
– Doch, man kann das ja in der Tabelle vergleichen . –Insofern finde ich den Vorschlag gar nicht so verkehrt.Es mag einzelne Punkte geben – darüber habe ich jaauch mit Herrn Meister schon diskutiert –, die nicht ganzschlüssig sind; aber das sind kleinere Punkte im Ver-gleich zum Ganzen .Wir kritisieren nach wie vor, dass dieses Konzeptstrukturblind ist . In unserem Konzept haben wir immerwieder gefordert: Länder mit besonders hoher Arbeits-losigkeit und Armut müssten eigentlich mehr Geld be-kommen, weil die Höhe der Leistungen, die von ihnenzu zahlen sind, bundeseinheitlich geregelt ist und sieaufgrund dieser Ausgaben natürlich entsprechende finan-zielle Belastungen haben und ihnen das Geld für andereAusgaben fehlt .Aber wie schon gesagt: Ich glaube, dass das vorgeleg-te Konzept der Länder im Prinzip gar nicht so schlechtwar . Der Bund hat es aber drei Monate liegen lassen undist dann mit einem Vorschlag angetreten, mit dem er –das muss man ganz eindeutig sagen – das Ganze funda-mental abgeblockt hat . Es geht ja nicht um die 9 Milli-arden Euro, die der Ländervorschlag nennt, sondern esgeht um 1,4 Milliarden Euro mehr, als der Bund sowiesoangeboten hatte . Die Differenz ist gar nicht so groß,
und möglicherweise hätte man über diese Differenz so-gar noch diskutieren können .
Aber im Vorschlag des Bundes kommt völlig system-fremd auf einmal vor: Wenn ihr eine Einigung habenwollt, müssen wir eine Bundesfernstraßen-AG machen .
Ralph Brinkhaus
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Die Länder sollten sozusagen von der Hoheit, die sie imAugenblick im Straßenbau haben, im Auftrage des Bun-des ihre Kompetenzen abgeben .
Das hat mit Länderfinanzausgleich überhaupt nichts zutun .
Nächster Vorschlag: Länder, die strukturschwach undsteuerschwach sind, sollen die Möglichkeit erhalten, So-zialleistungszahlungen im Bereich Behinderte und Kin-der einzusparen, also von bundeseinheitlicher Gesetzge-bung abweichen zu dürfen . Das ist aus unserer Sicht einSkandal,
der zu einem Senkungswettlauf im Bereich der Sozi-alleistungen führen kann . Deswegen sind wir der An-sicht – im Augenblick sieht es so aus –, dass der Bundentweder kein Interesse an einer vernünftigen Einigunghat oder aber hofft, in einer Riesenerpressungsaktion beiden berühmten Kaminrunden der Ministerpräsidentinnenund Ministerpräsidenten – ohne Finanzminister und Ver-kehrsminister – den großen Coup zu machen .
Das kann aber nicht zu einem Ergebnis führen, das dannfür 20 oder mindestens für 10, 15 Jahre Bestand hat . In-sofern kann ich Sie nur auffordern: Entweder macht manden Prozess noch einmal transparent, oder man mussganz anders aufeinander zugehen . Ich freue mich, dasswir gestern in der Obleuterunde besprochen haben, dasswir uns das Thema im Finanzausschuss noch einmal vor-nehmen und dann intensiver diskutieren können . Aber esist fünf vor zwölf bei einem ganz wichtigen Thema .Danke schön .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kol-
lege Carsten Schneider das Wort .
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, als Herr Troostgerade sagte, dass er sich seit 33 Jahren intensiv mit derLektüre des Länderfinanzausgleichs auseinandersetzt,
habe ich gedacht: Literarisch ist das Ganze nicht so un-terhaltsam .Wenn man sich den Bund-Länder-Finanzausgleich,den solidarischen Ausgleich zwischen den Ländern, an-schaut, den wir laut Grundgesetz haben, und auch dieRegelung, die wir jetzt seit 2005 bis 2019 mit dem So-lidarpakt II haben, dann stellt man fest: Das hat sich inDeutschland bewährt . Das solidarische Ausgleichssys-tem zwischen finanzstarken und finanzschwachen Län-dern hat sich bewährt . Es hat diesem Land gutgetan .
Es ist eine Grundvoraussetzung, dass es einen Ausgleichzwischen finanzschwächeren und finanzstärkeren Län-dern gibt . Wir haben Länder, deren Finanzschwächezum großen Teil durch die Geschichte bedingt ist; hierdenke ich an die ostdeutschen Länder . Nirgendwo inOstdeutschland sind große Konzernzentralen . Dement-sprechend sind die Körperschaftsteuereinnahmen nichtin dem Maße vorhanden . Der Ausgleich ist notwendig,damit die Gemeinden, beispielsweise bei mir in Thürin-gen, aber auch die Länder die sozialen Dienstleistungenerbringen können – wie auch in Teilen Bayerns, Hessensoder Baden-Württembergs –; in den finanzschwachenLändern gibt es niedrigere Standards in der Besoldungvon Polizisten und Lehrern und auch bei anderen Ange-boten . Das wird in etwa so bleiben; denn es geht hiernicht um eine Nivellierung . Im Kern brauchen wir alsverbindendes Element in Deutschland einen funktionie-renden Finanzausgleich zwischen Starken und Schwa-chen im Grundgesetz und in der Realität .Liebe Kolleginnen und Kollegen, von daher ist es ausmeiner Sicht ganz klar, dass das Verfahren, auf das sichdie Ministerpräsidenten geeinigt haben, total transparentist . Sie haben das alles zitiert . Die Regelungen sind vor-handen . Nicht im Hinterzimmer, sondern in der Öffent-lichkeit wird das ausgetragen, wie heute hier im Bundes-tag . Auch wir als SPD-Fraktion haben uns oft genug dazugeäußert . Uns passt diese Einigung aus verschiedenenGründen nicht .
Ich will darauf zu sprechen kommen . Die Gründe sindsehr im Konsens mit dem, was Herr Kollege Brinkhausund auch Sie, Frau Kollegin Hajduk, gesagt haben . Wennwir den Ausgleich zwischen der unterschiedlichen Fi-nanzkraft der Länder haben wollen, dann ist es zwin-gend, dass sich das auch in der wirtschaftlichen Dynamikabbildet . Das erkennt man schon, wenn man einen Blickauf die Forschungseinrichtungen wirft . Wo Forschung ist,ist auch wirtschaftliche Entwicklung . Schauen wir unsdie Landkarte an: In Baden-Württemberg und in Bayerngibt es viele Forschungseinrichtungen und damit auch fi-nanzstarke Unternehmen . Manche gibt es auch in Hessenund in Hamburg . Wir haben schwächere Regionen undwelche, die im Durchschnitt liegen . Zu den Schwäche-ren gehören die ostdeutschen Länder, aber auch einigewestdeutsche Flächenländer . Diese brauchen besondereUnterstützung .Der Vorschlag, den die Länder gemacht haben, siehteine Einigung zulasten Dritter vor . Der Dritte ist hier derBund . Deswegen sind wir als Gesetzgeber gefordert, unsdazu zu verhalten – das tun wir heute in dieser Debatte;das haben wir auch vorher schon getan – und einen eige-Dr. Axel Troost
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nen Vorschlag zu unterbreiten . Den will ich Ihnen auchnennen; denn wir sind hier nicht im luftleeren Raum . DieEntsolidarisierung geht mit dem Vorschlag der Ländereinher . Herr Troost, hier sind wir unterschiedlicher Auf-fassung . Es hat mich sehr gewundert, dass Sie jetzt gesagthaben, Sie fänden die Einigung der Ministerpräsidentengut . Es ist das Gegenteil eines solidarischen Ausgleichs,
weil die finanzstarken Länder überproportional von denSteuermehreinnahmen und der Finanzkraft profitierenwürden . Es würde dort mehr Geld verbleiben, und dieUnterschiede zwischen den Ländern würden größer wer-den .
Damit der Ausgleich dann aber trotzdem noch irgendwiestattfinden könnte, müsste der Bund das Ganze bezahlen.Dann stößt der Bund aber irgendwann an die Grenze sei-ner Leistungsfähigkeit .Kollege Brinkhaus hat vorhin darauf hingewiesen, wieviel Unterstützung wir in dieser Legislaturperiode schongeleistet haben, insbesondere für Länder und Kommu-nen . Das hat es in keiner Legislaturperiode zuvor in die-sem Ausmaß gegeben . Man stellt sich schon die Frage,wo wir hier eigentlich noch Bundespolitik machen . Wirbrauchen die Handlungsfähigkeit des Bundes, damit erfür die finanzschwachen Länder da sein kann. Deswegenbraucht es auch einen solidarischen Ausgleich .An dieser ganz entscheidenden Stelle, bei der Entso-lidarisierung der Länder und dem Mehrbehalt bei den fi-nanzstarken Ländern – letztendlich wird die Klage vonBayern und Hessen ja geführt, weil sie meinen, dass ihrEigenbehalt bei Steuermehreinnahmen zu gering ist –,geht diese Einigung fehl . Sie geht zulasten des Bundes,weil in einem ersten Schritt, ab 2020, gut 10 MilliardenEuro zusätzlich vom Bund verlangt werden, ohne dassdie Frage der Gegenfinanzierung thematisiert wird. Die-ser Betrag soll dynamisch aufwachsen .
Herr Kollege Schneider, wenn Sie jetzt irgendwann
einmal einen Punkt machen würden, dann könnte ich Sie
fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Troost
gestatten .
Aber gern .
Bitte schön, Herr Kollege Troost .
– Er darf trotzdem fragen, wenn er noch Wissensdrang
hat .
Es ist weniger Wissensdrang, sondern eher Aufklä-
rungsdrang . – Zunächst ist es so, dass Ihre sozialde-
mokratische Finanzministerin aus Erfurt mit diesem
Vorschlag schon sehr zufrieden war – so, wie auch die
Vertreter aus meinem Land Brandenburg sehr zufrieden
waren . Insofern kann er nicht ganz so schlecht und unge-
recht gewesen sein .
– Ja, doch, sonst hätten sie sich natürlich nicht damit ein-
verstanden erklärt . Das ist doch logisch . –
Für meine Begriffe unterliegen Sie hier einem Irrtum .
Man hat sich auf den Vorschlag des Landes Nord-
rhein-Westfalen zum Umsatzsteuervorabausgleich ein-
gelassen . Wenn man dann aber den normalen Bund-Län-
der-Finanzausgleich draufsetzte, hieße das natürlich,
dass die Leistungen von Bayern und Baden-Württem-
berg 1,5 bis 2 Milliarden Euro höher ausgewiesen wür-
den . Ich habe meinen Leuten im Osten gesagt: Das ist
unverantwortlich . Denn egal, was man da 2019 über eine
Excel-Tabelle ausrechnen würde – ab 2020 oder 2022
wüsste keiner mehr davon . Dann wird gesagt: Das kann
doch nicht sein, dass so viel Geld aus unseren Haushal-
ten in den Osten fließt. – Deswegen hat man das in einer
Stufe miteinander verrechnet .
Wenn Sie sich die Unterschiede gegenüber dem an-
schauen, was es vorher in der Geschichte des Bund-Län-
der-Finanzausgleichs schon einmal gab, und betrachten,
inwiefern es Zuwächse in den einzelnen Bundesländern
gibt, dann stellen Sie fest, dass es im Ergebnis praktisch
mit dem anderen Verfahren identisch ist . Das heißt, der
zusätzliche Betrag, die 1,4 Milliarden Euro, kommt nicht
durch den Ausgleichsmechanismus zustande, sondern
resultiert aus anderen Forderungen . Darüber kann man
möglicherweise reden .
Herr Kollege Troost, ich bin mir nicht sicher, was dieFrage war .
– Nein, das nehme ich nicht zur Kenntnis, sondern demwiderspreche ich .Erstens . Was die Einigung der Länder und die Ein-schätzung einzelner Vertreter der Länder betrifft – in denLändern sind ja alle Farben dabei, auch Grüne und dieLinkspartei, und sie haben diesem Vorschlag im Endef-fekt zugestimmt –, halte ich für die SPD-Bundestagsfrak-tion fest, dass wir in der Einigung keine FortentwicklungCarsten Schneider
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und Stabilisierung des solidarischen Ausgleichssystemserkennen, sondern eine Entsolidarisierung zulasten desBundes .
Ich will es gerne noch einmal sagen: Der entscheiden-de Punkt ist nicht die Festsumme von knapp 10 Milliar-den Euro – 8,5 oder 9,6 Milliarden Euro –, sondern dieDynamik des Ausgleichs . Wir haben bisher einen mehroder weniger progressiv ansteigenden Ausgleichstarif .Dadurch, dass die Umsatzsteuerfestbeträge – bisher wa-ren sie fest – dynamisiert würden, wäre der Länderanteilzulasten des Bundes größer . Der Eigenbehalt der Länder,insbesondere der finanzstarken, würde durch die Linea-risierung des Ausgleichstarifs – zwischen „linear“ und„progressiv“ gibt es einen großen Unterschied – festge-schrieben, und vor dem Hintergrund der Belastung – ichglaube, sie haben sich auf 63 oder 67 Prozent geeinigt –gibt es ein geringeres Ausgleichsvolumen . Dementspre-chend ist es eine Entsolidarisierung gegenüber dem be-stehenden, jetzigen System .Jetzt komme ich zu Frau Hajduk . Die letzten 39 Se-kunden nutze ich, um zu sagen: Wir haben auf Grundlagedes Grundgesetzes und der Verfassungsrechtsprechungein ausgeurteiltes System, das sich bewährt hat . Es istnur befristet, bis 2019 . Es spricht aber, wenn man keinenbesseren Vorschlag hat, nichts dagegen, den bestehendenFinanzausgleich zu entfristen und ihn mit der bisherigenSystematik weiterzuführen, kombiniert mit einer Initiati-ve des Bundes, um den besonderen Finanzbedarf in denextrem finanzschwachen Ländern – Saarland, Bremen,ein Teil der ostdeutschen Länder – zu decken . Das wirdnotwendig sein, dazu sind wir auch bereit .Dass der Bund gar nichts zusätzlich gibt, das wirdnicht gehen . Aber dass wir quasi 10 Milliarden Euro aufden Tisch legen und dynamisch wachsende Ausgabenübernehmen, um die Ungleichheit zwischen den Ländernauszugleichen, das wird nicht gehen . Das wäre das Endeder Bundespolitik . Dann sind wir nur noch Notare imBundestag und haben keinen eigenen Gestaltungsspiel-raum mehr . Das wollen wir als Sozialdemokraten nicht .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion erhält
jetzt der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Grünen wollen mit ihrem Antrag eineintensivere parlamentarische Debatte über eine Neuord-nung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen anstoßen .Dem stimme ich absolut zu . Ich weiß, dass laut unsererVerfassung auch die Mitglieder des Bundesrates an denparlamentarischen Debatten teilnehmen können, aber ichstelle hier nur eine konzentrierte Einigkeit in der Abwe-senheit fest .
In der Tat würde ich eine frühere Einbindung desBundestages sehr begrüßen; da sind wir uns, glaube ich,alle einig . Allerdings möchte ich nicht erleben, dass wirwieder nur an Kommissionen verwiesen werden – einebesonders hohe, elitäre Form des Zeitvertreibs –, derenArbeit ohne Ergebnisse bleibt und wir keine Vorschlä-ge haben, die im parlamentarischen Verfahren umgesetztwerden könnten .Die Grünen müssen allerdings schon aufklären, wel-che Rolle sie dem Föderalismus in dieser Frage beimes-sen wollen . Sie wollen auf der einen Seite, wie wir alle,dafür sorgen, dass der Bund nicht zu sehr in Anspruchgenommen wird, aber gleichzeitig wollen sie an ande-rer Stelle das Kooperationsverbot aufheben; KollegeBrinkhaus hat das Notwendige dazu gesagt . Sie wollenauch an anderer Stelle mehr Zentralisierung . Das wollenwir aber nicht . Man kann nicht auf der einen Seite für denFöderalismus sein, aber auf der anderen Seite, nur weil esgerade passt, dagegen sein .
– Ja, darauf komme ich noch zurück .Worin ich Ihnen zustimme – das ist keine Frage –: Wiralle müssen darauf Wert legen, dass die Länderhaushaltekonsolidiert werden, damit die Länder in der Lage sind,die Schuldenbremse einzuhalten . Aber hier liegt die Ver-antwortung in erster Linie bei den Ländern selbst .
Konsolidierung bedeutet, dass auch in den Ländernund Kommunen eine sehr verantwortungsbewussteHaushaltspolitik betrieben wird . Man darf sich nicht nurauf den Bund verlassen . Die Verantwortung liegt in be-sonderer Weise bei den jeweiligen Landesregierungen .Wir wissen, dass wir solidarisch sein müssen, dass wirunterstützen müssen, beispielsweise die Länder, die sichaus eigener Kraft nicht helfen können wie Bremen unddas Saarland . Auch hier gibt es vernünftige Vorschläge,wie geholfen werden kann, aber die Hilfe muss befristetund konditioniert sein und die Einhaltung der Konditio-nen eng überwacht werden .Es geht darum, dass die Länder in Zukunft ein höheresMaß an Eigenverantwortung wahrnehmen müssen . Wirschlagen vor, hier den Spielraum zu erweitern . Bundes-minister Schäuble hat in diesem Zusammenhang einensehr guten Vorschlag gemacht: Bei sozialen Leistungensoll beispielsweise eine Öffnungsklausel gelten, die esden Ländern ermöglicht, von den Vorgaben des Bundesin gewisser Weise abzuweichen .Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Länder dieMöglichkeiten wahrnehmen, eigene Finanzkraftverstär-kungen zu erzielen, beispielsweise durch eine Verbesse-rung bei den wirtschaftlichen Aktivitäten . Es gibt auchCarsten Schneider
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die Diskussion über Zuschläge bei bestimmten Steuernusw .; das will ich jetzt aber nicht vertiefen . Jedenfallsmüssen wir erreichen, dass die richtigen Anreize gesetztwerden .Damit bin ich beim nächsten Thema – es ist auchschon angesprochen worden –: Das derzeitige Finanz-ausgleichssystem bietet keine Anreize, weder für dieGeberländer noch für die Nehmerländer . Die Geberlän-der werden von dem Schicksal ereilt, dass sie fast jedenEuro, der zusätzlich in die Kasse kommt, in den Länder-finanzausgleich geben müssen; die Nehmerländer sind inder Weise negativ betroffen, dass Eigenanstrengungensozusagen nicht belohnt werden, weil dann weniger Fi-nanzausgleichsleistungen in ihre Kassen fließen.Hier müssen wir das Gleichgewicht, die Balance wie-derherstellen . Es kann nicht sein, dass bald ein einzigesBundesland allein – ich trage heute eine weißblaue Kra-watte, weil ich aus Bayern komme –,
mehr als die Hälfte des Länderfinanzausgleichs leistet.Bayern wird in diesem Jahr vermutlich 5,45 MilliardenEuro leisten . Wir müssen die Dinge wieder ins Gleich-gewicht, ins Lot bringen . Leistung muss sich wiederlohnen, und zwar für beide Seiten, für die Geberländer,aber auch für die Nehmerländer . Das heißt, es müssen dierichtigen Anreize geschaffen werden . Das heißt auf deranderen Seite aber nicht, dass wir nicht solidarisch seinwollen . Es bleibt dann immer noch genug übrig, was dieGeberländer für die Nehmerländer leisten müssen . Aberwir müssen die notwendigen Veränderungen vornehmen .Manches muss wieder auf die Füße gestellt werden .Wir wollen, dass die föderalen Strukturen nicht be-schädigt werden . Dafür brauchen wir die Länder; auchsie müssen ihren Beitrag leisten . Wir wollen aber auchnicht, dass der Föderalismus von der Bundesseite her inGefahr gerät . Vorhin ist das Stichwort „Steuerverwal-tung“ genannt worden . Das Stichwort „Bundesauftrags-verwaltung“ ist auch schon in die Diskussion eingeführtworden . Ich habe nicht den Eindruck, dass zentrale Ver-waltungen – ich nenne als Beispiele das Eisenbahn-Bun-desamt und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung – inder Summe leistungsfähiger sind als föderal strukturierteVerwaltungen . Ich lege sehr viel Wert darauf, dass wirdas so sehen .Wir brauchen mehr und nicht weniger Eigenverant-wortung im Bereich des Bund-Länder-Finanzausgleichs .Wir brauchen mehr Anreize für eigene Leistungen . Wirwollen den Föderalismus nicht durch die Hintertür ab-schaffen . Wir sollten aber auch darauf achten – wir sindan der jetzigen Situation ja nicht ganz unschuldig; Kolle-ge Brinkhaus hat das angesprochen –, dass wir nicht im-mer wieder neue Mischfinanzierungen und ähnliche Din-ge einführen . Wir müssen darauf achten, dass in Zukunftjede Ebene wieder stärker ihrer eigenen Verantwortunggerecht wird, auch ihrer Finanzverantwortung, und mannicht, wenn es bequemer ist, nach dem Bund zu rufen,nach dem Bund ruft . Unser Ziel muss ein transparentes,ein solidarisches, ein faires und ein anreizorientiertesSystem sein, das ein gesundes finanzielles Fundament füreinen funktionierenden Föderalismus in unserem Landdarstellt .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Letzter Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt ist jetzt der Kollege Johannes Kahrs,
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Man fragt sich, warum wir gerade jetzt dieseDebatte führen .
Die Grünen haben diese Debatte angemeldet . Das liegt,glaube ich, daran, dass Mitte Juni Gespräche stattfindenwerden, bei denen es zu einer Einigung kommen wirdoder auch nicht . Deswegen ist der Zeitpunkt für dieseDebatte relativ geschickt gewählt .Wenn man sich die Reden hier angehört hat, hat man,glaube ich, festgestellt, dass sich die Opposition mit kei-nem eigenen Vorschlag vorgewagt hat . Man hat hier undda etwas abgewogen, man hat erst das eine ein bisschenkritisiert und dann das andere; aber man hat nicht genaugesagt, was der Bund genau tun soll . Das ist für die Op-position natürlich auch schwierig, weil die Grünen unddie Linke in einigen Ländern inzwischen mitregieren unddie Interessen überall unterschiedlich sind .Genauso ist das natürlich bei dem einen oder anderenKollegen . Der Kollege Barthl Kalb, den ich sehr schätze,kann ja schon, wenn er redet, seine Herkunft nicht ver-leugnen .
Er hat natürlich auch die bayerischen Interessen gleichmit eingebracht und sie ganz elegant in dieses Systemeingefädelt . Neben ihm sitzt Kollege Rehberg aus Meck-lenburg-Vorpommern . Auch er hat das bemerkt und ge-schmunzelt .
So merkt man, dass wir hier zwar alle Bundespolitikersind, aber natürlich alle eine Heimat haben und landes-politische Interessen eine Rolle spielen . Deswegen ist esauch nicht ganz einfach, hier unvoreingenommen überdie Interessen des Bundes zu reden; denn wir alle habennatürlich durchaus auch regionale Interessen .Interessant – diese kleine Anmerkung sei mir gestat-tet – war das Plädoyer des Kollegen Barthl Kalb gegeneine Bundesautobahngesellschaft . Daraufhin hat sichBundesverkehrsminister Dobrindt, der aus dem gleichenBartholomäus Kalb
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Bundesland kommt, in die hinteren Reihen der Unionverzogen, damit man den Konflikt nicht gleich sieht.Denn der eine, der Bundesminister, möchte die Gründungeiner Bundesautobahngesellschaft, und der andere – aucher kommt aus Bayern – stellt sich als Haushälter hin undsagt: Gibt es nicht! – Man merkt, dass das alles streng aufder Sachebene behandelt wird .
Man merkt, dass hier jeder seine eigene Herkunft, aberauch seine eigene Fachlichkeit nicht verleugnen kann .Die Differenzen, die man hier im Deutschen Bundes-tag bemerkt, hat man natürlich auch zwischen den Län-dern und dem Bund . Das muss man eingestehen, wennman ehrlich ist . Natürlich ist es so, dass sich die Länder,wenn sie sich einigen, in der Regel nicht zu ihren Lasteneinigen . Das habe ich in den letzten Jahren im DeutschenBundestag noch nicht erlebt; das hat nie stattgefunden .Der Bund hingegen ist auch nicht als der große Samariterbekannt, der nur gibt und schenkt .
– Kollege Brinkhaus, ich glaube Ihnen vieles, aber sowirken Sie nicht . – In der Vergangenheit hat der Bundseine Interessen am Ende auch relativ hart durchgesetzt .Oder wollen Sie mir sagen, dass BundesfinanzministerSchäuble ein elendiges Weichei ist und nicht in der Lageist, Interessen zu verteidigen, von den Länderministernüber den Löffel balbiert wird und als Finanzminister eineFehlbesetzung ist? Kollege Brinkhaus, das würde ich Ih-nen nicht abnehmen .
Sie würden es auch nicht sagen . Aber das wäre natürlichdie Konsequenz, wenn wir dem Bund vorwerfen würden,dass er hier ständig wider seine eigenen Interessen han-delt .Nachdem wir nun festgestellt haben, dass es Interes-sen der Länder gibt – Kollege Dobrindt unterhält sichgerade darüber – und dass es Interessen des Bundes gibt,muss man sie natürlich alle irgendwann vereinen . Dasssich hier heute niemand mit tapferen Vorschlägen, wiedas aussehen soll, vorgewagt hat, liegt einfach daran,dass wir alle noch nicht genau wissen, wie diese Eini-gung aussieht . Wir kritisieren natürlich, dass Bund undLänder ohne das Parlament verhandeln .
Da sind wir uns alle einig; denn wir sind ja das Parla-ment . Im Ergebnis werden wir aber auch hier darüberabstimmen müssen .Ich glaube, das Wesentliche ist, dass hier alles mit al-lem zusammenhängt . Das ist eine alte Haushälterwahr-heit . Die Frage, wie das mit dem Soli weitergeht, ist garnicht zu beantworten, ohne die Frage zu beantworten,wie die Bund-Länder-Finanzbeziehungen laufen . DieFrage, ob es einmal eine Finanztransaktionsteuer gebenwird, hat durchaus auch etwas damit zu tun, wie die fi-nanzielle Lage des Bundes aussieht . Die Frage, wie wirdie Unterbringung und Integration von Flüchtlingen fi-nanzieren, hat – man kann es kaum glauben – auch etwasmit den Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu tun .Wenn wir uns anschauen, was noch alles damit zu tunhat – ich möchte jetzt gar nicht über das Thema Verkehrreden; das wurde in den letzten Tagen häufig genug ge-macht –, dann sollten wir einfach feststellen: Wir habenunterschiedliche Interessen . Wir werden die Interessendes Bundes mit vertreten . Aber natürlich wird es Kom-promisse geben . Wir alle glauben nicht, dass die Länderauf ihre Interessen verzichten. Ich halte Bundesfinanz-minister Wolfgang Schäuble für einen unerschrockenenKämpfer im Interesse der Sache des Bundes . Im Gegen-satz zu Herrn Brinkhaus halte ich ihn nicht für ein Weich-ei .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Damit sind wir am Ende dieses Tages-
ordnungspunktes angekommen .
Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, dass die
Vorlage auf Drucksache 18/8079 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Herbert Behrens, Dr . Anton Hofreiter,
Dr . Sahra Wagenknecht, Dr . Dietmar Bartsch,
Stephan Kühn und weiterer Abgeord-
neter
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Drucksache 18/8273
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-
nung
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Seit Bekanntwerden des Abgasskandals am 22 . Septem-ber letzten Jahres durch die Veröffentlichung der EPAsind sieben Monate vergangen . Inzwischen liegt uns einUntersuchungsbericht aus dem Kraftfahrt-Bundesamtvor . Er hat mit einer Legende aufgeräumt, die vorher indiesem Saal, in den Ausschüssen und auch in der Öffent-Johannes Kahrs
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lichkeit immer wieder verbreitet worden ist, nämlich mitder Legende, dass der Abgasskandal ein Problem vonVW ist und von ein paar wild gewordenen kriminellenIngenieuren ausgelöst worden ist . Der Untersuchungsbe-richt, den Herr Dobrindt vorgelegt hat, so defizitär, wieer ist – dazu komme ich gleich noch –, sagt aber einesklar und deutlich: Es handelt sich um ein flächendecken-des Problem der Automobilindustrie . Ich sage auch ganzdeutlich: nicht nur der deutschen, sondern der gesamtenAutomobilindustrie .Wir haben nun gelernt, warum die Autos auf demPapier immer sauberer werden und die Grenzwerte an-geblich einhalten, tatsächlich aber in den Städten dieStickoxidwerte immer weiter steigen, jedenfalls nichtsinken, Deutschland mit einem Vertragsverletzungsver-fahren konfrontiert ist, Klagen und Gerichtsurteile dro-hen und – man kann es nicht oft genug sagen – jedes Jahr10 000 Menschen durch Verkehrsemissionen sterben .Das sind doppelt so viele wie Unfalltote . Es sollte jedeAnstrengung der Politik wert sein, auch nur einen dieserToten zu vermeiden .
Meine Damen und Herren, ich habe – da kann ich fürmeine Fraktion und, ich glaube, auch für die Fraktionder Linken sprechen – nach den letzten sieben Monatenmeine Zweifel, dass diese Bundesregierung hier wirklichalle Anstrengungen unternimmt . Das möchte ich in allerDeutlichkeit sagen .
Wir beantragen heute die Einsetzung eines Untersu-chungsausschusses, unter anderem deshalb, weil wirwissen möchten, warum uns Wissenschaftler, Journa-listen und Studien seit Jahren immer wieder auf diesesProblem hinweisen, die Öffentlichkeit davon weiß, inZeitschriften darüber berichtet wird, aber das zuständigeVerkehrsministerium und die nachgeordneten Behördenüberhaupt nicht reagiert haben .
Meine Damen und Herren, wie kann es sein, dassstaatliche Institutionen die massenhaften Hinweise aufdas Manipulieren, Frisieren, Betrügen und Schummelnignorieren? Dafür gibt es bis heute keine Erklärung . Dasmuss aufgeklärt werden .
Es muss auch aufgeklärt werden – das sage ich hierganz bewusst –, ob diese staatlichen Stellen am Endenicht sogar mitgeholfen haben, ob sie Mittäter waren, obes hier eine Kumpanei gab,
ob Institutionen der Autoindustrie geholfen haben, obganz gezielt Maßnahmen ergriffen wurden, wie zumBeispiel die Nichtumsetzung von EU-Vorschriften, umSanktionen zu vermeiden . Das muss, wie gesagt, aufge-klärt werden .
Es muss vor allen Dingen aufgeklärt werden: Was sindeigentlich die Konsequenzen aus diesem Abgasskandal?Wir wissen jetzt – nach Monaten des Drucks, nach Mo-naten öffentlicher Debatten –: Was vorher immer abge-stritten worden ist, ist ein massenhaftes Phänomen . Aberwas die Konsequenz aus diesem Abgasskandal ist, dazuhören wir gar nichts . Auf deutschen Straßen fahren Mil-lionen Autos . Wir hören: 630 000 werden zurückgerufen,und VW ändert irgendetwas an der Software . Aber ob dieEmissionen zurückgehen und ob auch die Fahrzeuge, diejeden Tag neu verkauft werden, den Anforderungen ent-sprechen, das wissen wir nicht . Dazu hört man nichts,dazu war nichts zu lesen . Dazu gab es von dieser Bun-desregierung nichts, und, meine Damen und Herren, dasmuss aufgeklärt werden .
Wie nötig das Ganze ist, zeigen die Veröffentlichun-gen des gestrigen Tages . Wir haben gehört: Es gibt mas-sive Vorwürfe gegen Opel, gegen das Modell Zafira.Diese Vorwürfe sind keineswegs neu . Sie werden vonder Deutschen Umwelthilfe, von Journalisten, von Wis-senschaftlern, von Ingenieuren, die nachgemessen ha-ben, immer wieder vorgetragen . Doch die Reaktion derBundesregierung auf diese Enthüllungen ist gleich null .Ich habe gestern gehört, man werde das prüfen . Ja, mei-ne Damen und Herren, das ist ja genauso, als wenn dieFeuerwehr zum brennenden Haus kommt, bei dem dieFlammen aus dem Dach schlagen, und sagt: Wir werdenerst einmal die Nachbarn fragen, ob es wirklich brennt .Es ist klar: Hier läuft etwas falsch . Ich erwarte vondieser Bundesregierung, dass gehandelt wird, und weilnicht gehandelt wird, müssen wir uns damit auseinander-setzen, was die Konsequenzen sind .
Zum Schluss muss eines klar sein: Wir haben es hiermit einem organisierten Staatsversagen zu tun; denn die-se Abgasmanipulationen und dieses Frisieren, Schum-meln und Betrügen waren nur möglich, weil der Staatnicht hingeguckt hat, weil er weggeguckt hat, weil ermöglicherweise sogar mitgeholfen hat . Wir müssen klä-ren, wie es dazu kommen konnte, dass bis heute die Ent-hüllungen nicht durch das Kraftfahrt-Bundesamt, nichtdurch das Verkehrsministerium erfolgen, sondern vonder amerikanischen Umweltbehörde, von Journalisten,von Wissenschaftlern, von Ingenieuren kommen . Dassind wir der deutschen Automobilindustrie, das sind wirden Menschen in unserem Land schuldig .
Sie müssen jetzt zum Schluss kommen .Oliver Krischer
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Eine Automobilindustrie, die die saubersten Autos der
Welt produzieren soll, muss auch ordentlich kontrolliert
werden . Dass es anders nicht geht, haben die letzten sie-
ben Monate mit diesem Vertrauensverlust gezeigt .
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren .
Als Nächstes spricht der Kollege Ulrich Lange, CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Krischer, mal ganz ruhig, ganz sachteund in aller Sachlichkeit: Wir diskutieren gerade über dieEinsetzung eines Untersuchungsausschusses . Da sollteman nicht am Beginn des Verfahrens mit irgendwelchenUnterstellungen oder Vorverurteilungen arbeiten
oder über organisiertes Staatsversagen reden, sondernman sollte genau das, worum es Ihnen ja angeblich geht,ernst nehmen und ruhig, sachlich und lückenlos aufklä-ren . Ich glaube, wenn wir uns darauf verständigen kön-nen, dann würden auch Sie der Sache einen Dienst er-weisen; denn das, was Sie jetzt gerade wieder gebotenhaben, war leider ein Beispiel der Unsachlichkeit .
Ich glaube auch, dass wir uns alle einig sind, dass be-wusste Manipulationen an Fahrzeugen und an Abgaswer-ten zu verurteilen sind, dass wir uns alle einig sind, dasswir lückenlos aufklären wollen und müssen und dass wirschon vieles aufgeklärt haben und dass die Verantwortli-chen zur Rechenschaft gezogen werden müssen . Das istein ganz normales rechtsstaatliches Verhalten, und, lieberKollege Krischer, dafür zeichnen sich dieser Staat unddieses Parlament im Zweifel immer noch aus .
Und genau mit dieser Aufklärung hat unser Bundes-minister Alexander Dobrindt begonnen, als die erstenVorwürfe gegen VW kamen . Er hat zur sachlichen, lü-ckenlosen und gründlichen Aufklärung eine Unter-suchungskommission eingesetzt . Wenn man sich denBericht und die Anzahl der überprüften Fahrzeuge, Fahr-zeugtypen usw . anschaut, dann sieht man, dass diese Un-tersuchungskommission die Sache nicht nur ein bisschenoberflächlich abgehandelt hat, lieber Kollege, wie Siebehauptet haben, sondern in einer gewissen Tiefe unterdie Lupe genommen hat . Es hat ja auch schon erste Kon-sequenzen gegeben .Nachdem wir auch ansonsten immer der Meinungsind, dass solche Dinge sachlich und gründlich gemachtwerden müssen, ist Ihr Vorwurf, dass das ein paar Tageoder Wochen gedauert hat, so wohl nicht aufrechtzu-erhalten. Als Stichworte nenne ich nur: verpflichtendeRückrufe, Überprüfungen durch das KBA, Thermofens-ter, technische und juristische Beurteilung .
– Lieber Kollege Hofreiter, genau diese Aufregung nütztjetzt doch nichts . Bleiben Sie am Ende einer solchen De-batte vor Pfingsten doch einfach einmal ruhig! LassenSie den Geist schon ein bisschen auf sich wirken! Dannwerden wir das in aller Ruhe hinbekommen .
Wir setzen weiter auf diese Maßnahmen und auf das,was wir schon begonnen haben .
– Das ist eben eine Unterstellung, lieber KollegeHofreiter .
– Noch einmal: Wenn man etwas aufklären will, dann be-ginnt man nicht mit Unterstellungen, sondern dann wirdman das mit aller Akribie auch tun .
Sie sollten den heutigen Tag und die heutige Debatte, inder es lediglich um die Überweisung eines Antrags zurEinsetzung eines Untersuchungsausschusses geht, nichtwieder zum Klamauk verkommen lassen . Das wäre scha-de und der Sache einfach nicht angemessen .
Es muss natürlich geklärt werden, was verboten istund mit welchen Abschalteinrichtungen man zulässiger-weise gearbeitet hat . Ich weise auch noch einmal daraufhin, dass das KBA bereits angewiesen ist, sogenannteDopingtests durchzuführen .
– Wir werden darüber sprechen . Wir haben dann alleZeit, das im Detail zu klären, wenn Sie damit nicht ein-
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verstanden sind . – Ferner ist zu nennen: Aufbau staatli-cher Prüfstände beim KBA .
Daneben haben wir natürlich die Frage, was europarecht-lich getan worden ist und noch zu tun ist, und es gehtselbstverständlich auch um die Aussagekraft von Emis-sionstests .
Alle, die wir hier sitzen, wissen ja – vorausgesetzt,wir entfernen uns jetzt vom Schaufenster –, über welcheTatbestände wir uns im Detail unterhalten wollen undwerden .Durch den Untersuchungsausschuss, dessen Einset-zung ich aufgrund der guten Arbeit der Untersuchungs-kommission nicht zwingend nachvollziehen kann, be-steht die Chance, Vertrauen zurückzugewinnen, das dieAutomobilindustrie – nicht wir, lieber Kollege Krischer –verloren hat .
Wir konstruieren Autos nicht . Wie jeder andere Bürgerauch kaufen wir die Autos und verlassen wir uns darauf,dass diese Autos bester Qualität sind .
Wir werden diesen Untersuchungsausschuss nutzen, umdieses Vertrauen „aufzuklären“ und wieder zu stärken .
Die erste Herkulesarbeit wurde mit dem Bericht be-reits erledigt . Schauen Sie sich noch einmal – ich habe esschon gesagt – die Vielzahl der untersuchten Fahrzeugean .Wir als Parlament müssen uns aber auch über einesim Klaren sein, wenn wir nach Konsequenzen und nachRechenschaft rufen: Es ist nicht Sache des Parlamentsund eines Untersuchungsausschusses, die Verantwortli-chen letztlich strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen .
– Ich sage das hier ja nur, und zwar ganz direkt, weildie eine oder andere Sache nicht von ungefähr kommt .Wenn Sie in die Presse schauen, dann sehen Sie, dassmanchmal einiges vermengt wird . Da müssen wir schonganz klar sagen: Wir haben volles Vertrauen in unserenRechtsstaat, in die Arbeit der Staatsanwaltschaft und derVerfolgungsbehörden . Auch diese sind dann gefordert .All diese Dinge können wir, wenn der Untersuchungs-ausschuss eingesetzt werden sollte, neben den vielleichtauch aufkommenden Fragen zur Rolle der Landesregie-rung in Niedersachsen, lieber Kollege Krischer, disku-tieren . Ich denke, wir sollten diesen Ausschuss – ihn zufordern, ist das gute Recht der Opposition – nutzen, umsachlich aufzuklären . Ich kann Sie im Hinblick auf IhreRede von vorhin nur bitten – ich sage es ganz offen: ichfordere Sie nicht auf, sondern ich bitte Sie, Herr Kolle-ge Krischer –: Missbrauchen Sie demokratische Rechtenicht zum Klamauk! Machen wir unsere sachliche Ar-beit!Danke schön .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt der Kollege Herbert
Behrens, Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben es mit zweierlei Abschalteinrichtungen zu tun:zum einen mit der speziellen Hardware und Software, wiesie bei Automobilfirmen eingesetzt worden sind, um denAusstoß von Schadstoffen zu manipulieren . Das hat dazugeführt, dass Millionen Fahrzeuge viel mehr Stickoxideausgestoßen haben als erlaubt . Stickoxide haben – daswissen wir – schwere gesundheitliche Schäden zur Fol-ge . Insofern ist das keine Kleinigkeit . Darum müssen wirgründlich und rückhaltlos aufklären, und zwar hier undjetzt .
Zum anderen geht es um eine Abschalteinrichtungganz anderer Art, nämlich die offensichtliche Abschal-tung im Hause des Ministers Dobrindt . Was passierte,wenn man Fragen nach dem Abgasskandal stellte? DasMinisterium schaltete ab, produzierte erst einmal Verne-belungsschwaden und ließ nichts weiter von sich hören .Erst dann, als nicht nur VW, sondern auch andere Auto-mobilhersteller in den Fokus gerieten und sich heraus-stellte, dass auch sie betrogen und falsche Abgaswerteangegeben haben, wurde das Ministerium ein bisschenaktiver . Es setzte eine Untersuchungskommission ein,die dann allerdings zwei Monate lang die Emissionenbei den Fahrzeugen nachmessen ließ, aber fünf Monatebrauchte, um diese Messungen auszuwerten .Das ist eine ganz offenkundige Schieflage, die nichtdazu geführt hat, beispielsweise die jüngsten Skandale,die in den letzten Tagen bekannt geworden sind, zu ver-meiden . Das ist echtes Versagen des zuständigen Minis-teriums . Das ist nicht zu tolerieren .
Schließlich geht es um die Gesundheit der Menschenhier im Land . Es geht um Hunderttausende ArbeitsplätzeUlrich Lange
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in der Automobilindustrie, die von den Konzernspitzendurch jahrelange Manipulationen aufs Spiel gesetzt wor-den sind . Hier ist Vertrauen zerstört worden, das ebennicht mit Geheimniskrämerei zurückgewonnen werdenkann . Darum müssen wir tätig werden .Ich will im Bild des Abgasskandals bleiben . Mit derInformationspolitik des Ministeriums wurden Grenzwer-te weit überschritten, und zwar die Grenzwerte des poli-tisch Erträglichen . Die Opposition hat gar keine andereWahl, als das schärfste Schwert zu ziehen und einen Un-tersuchungsausschuss zu beantragen .Wir akzeptieren den Umgang mit dem Abgasskandalso in keiner Weise . Nicht nur, dass im Hause Dobrindtdas Fragerecht des Parlaments beschnitten wurde – daskennt man schon ein bisschen länger –: Das Ministeriumhat es auch nie für nötig gehalten, auf Umweltverbändeund Verkehrsklubs rechtzeitig zuzugehen . Diese habenschon vor vielen Jahren und Monaten festgestellt: Esgibt überhöhte Abgaswerte . Das Ministerium soll sichdarum kümmern . – Die Deutsche Umwelthilfe und derADAC haben Daten aus eigenen Messungen vorgelegt .Null Interesse beim Ministerium! Dort zieht man es vor,die Automobilindustrie, das heißt die Verursacher diesesSkandals, zu hofieren, ihnen Geschenke in Form einerE-Auto-Prämie zu machen und eine zahnlose Untersu-chungskommission einzusetzen .Jetzt geht es darum, dass wir die Betrügereien nichtzulassen; sie müssen jetzt beendet werden . Sie müssenschonungslos aufgeklärt werden, und darum brauchenwir diesen Untersuchungsausschuss .
Wenn wir über den Abgasskandal reden und einenUntersuchungsausschuss fordern, dann geht es nicht nurum die Skandale in der Vergangenheit . Sie haben es allemitbekommen: Gestern und heute haben der WDR, derSpiegel und die Deutsche Umwelthilfe Untersuchungs-ergebnisse zu weiteren Fahrzeugen vorgelegt . Sie habenfestgestellt: Die Abgaswerte stimmen nicht . Es ist offen-bar auch bei zwei Dieselfahrzeugen von Opel eine Mo-torsoftware eingesetzt worden, die genau das bewirkt,was bei VW-Fahrzeugen passiert ist .
Der Opel Zafira war von der Untersuchungskommis-sion des Verkehrsministeriums in Gruppe II eingestuftworden . Man hat erhöhte Werte festgestellt . Aber Grup-pe II besagt nicht, dass man schadstoffbeeinflussendeSoftware festgestellt hat . Vielmehr geht es hier nur umüberhöhte Werte . Man hat aber gesagt: Es hat keine Ab-schalteinrichtung festgestellt werden können . – Doch ge-rade das haben heute der Spiegel, der WDR und die DUHbelegt: Gleich mehrere Abschalteinrichtungen wurdendort identifiziert.Bei den gefundenen Einrichtungen geht es nicht nurum das häufig von Herrn Dobrindt erwähnte Thermofens-ter, das es übrigens nicht gibt – das ist ein Kunstbegriffaus der Automobilindustrie –, sondern darum, dass beibestimmten Drehzahlen und bei entsprechendem Luft-druck die Abgasbehandlung einfach abgeschaltet wird .Es stellt sich also die Frage: Hat das Verkehrsministe-rium wirklich alles darangesetzt, Abschalteinrichtungenzu erkennen? Warum wurden keine Schritte unternom-men, den Betrug zulasten der Verbraucher, des Klimasund der Umwelt zu beenden?Auch den Abgeordneten der Koalitionsfraktionenmuss zumindest jetzt klar werden: Es bedarf eines Un-tersuchungsausschusses, der schonungslos alles auf denTisch packt, was wir bislang nicht erkennen konnten .Darum muss dieser Untersuchungsausschuss heute be-schlossen werden .
Wir haben es gemeinsam in der Hand, dass sich in Zu-kunft Autokäuferinnen und -käufer darauf verlassen kön-nen, dass die Hersteller ihnen die richtigen Angaben zuVerbrauch und Abgaswerten vorlegen, wenn sie sich einAuto kaufen . Der Untersuchungsausschuss muss klar-machen: In Zukunft haben Abgasbetrüger keine Chancemehr, sich zulasten der Gesundheit und des Klimas zubereichern .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Kirsten Lühmann .
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Anwesende! „Nichtsist trügerischer als eine offenkundige Tatsache .“ WirFreunde der Figur Sherlock Holmes kennen dieses Zitatnatürlich . Die offenkundige Tatsache, über die wir heutereden, ist, um einen Titel des Stern zu zitieren, der „großeSprit-Schwindel“ . Aber das wussten wir seit Jahren . DieMediathek weist dazu auf Artikel von 2003 bis 2014 hin .Klar war aber auch immer – ich zitiere –: „Ob der ermit-telte Verbrauchswert vom Kunden in der Fahrpraxis er-zielt werden kann, scheint eher zweitrangig .“ Zitatende .Dank des Untersuchungsberichtes des MinistersDobrindt und seines Hauses liegt auch das Trügerischedieser offenkundigen Tatsache auf dem Tisch . Nebendem Einsatz von Betrugsoftware nutzen viele Fahrzeug-herstellenden Regelungslücken in der EU-Richtlinie aus,die Thermofenster, wie wir sie genannt haben .Denn zu der Frage, was dem Motor schadet oder wasnoch akzeptabler Verschleiß ist, gehen die Meinungenstark auseinander, und die Richtlinie regelt das nicht . Sieregelt auch nicht, was man tun kann, wenn man der Mei-nung ist, das schadet dem Motor . Kann man bei Tempera-Herbert Behrens
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 171 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 13 . Mai 201616928
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turen, bei Drehzahlen oder Geschwindigkeiten abschal-ten? Das ist nicht geregelt .
Es ist unsere Art, mit trügerischen Tatsachen umzuge-hen, indem wir schnell und umfassend ermitteln, was tat-sächlich passiert ist, differenziert bewerten und dann ent-sprechende Änderungen auf den Weg bringen, und zwarsowohl national als auch auf europäischer Ebene . Das istder richtige Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Mit Blick auf das heutige Datum muss ich befürchten,dass das Ziel der Antragstellenden nicht ist, zügig die nö-tigen Gesetze anzustoßen . Sie bringen heute den Antragauf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ein . Erwird arbeiten und vermutlich im Sommer nächsten Jah-res seinen Abschlussbericht vorlegen . Damit ist die Um-setzung eventueller Ergebnisse nicht mehr möglich, weilwir im Herbst nächsten Jahres Bundestagswahlen haben;das wissen Sie ganz genau .
Über den Inhalt des vorliegenden Antrags wird es im1 . Ausschuss sicherlich eine umfassende Debatte geben .Das ist dringend nötig; denn Sie fragen in Ihrem Antragunter anderem, ob es im angedachten Untersuchungs-zeitraum ab 2007 für die Bundesregierung Hinweise aufAbweichungen zwischen Herstellerangaben und Real-betriebsmessungen gegeben hat . Liebe Kolleginnen undKollegen, mit einem Blick in die Presse, die ich eben zi-tiert habe, hätten Sie das selber feststellen können .
Denn es gibt nicht nur den eben von mir angeführtenStern-Artikel von November 2007 . Ich zitiere jetzt ein-mal aus einem Auto Bild-Artikel von 2004 . Das heißt,noch eine Bundesregierung weiter zurück wusste davonund hat nach Ihrer Lesart nichts getan . In dieser Bun-desregierung gab es meines Wissens auch einige grüneMinister und Ministerinnen . In der Auto Bild vom 1 . Juli2004 heißt es:Das hat jeder schon erlebt: Der Verbrauch des Au-tos stimmt nicht mit der Werksangabe überein . KeinWunder . Die Werksangabe wird unter Laborbedin-gungen erfahren .Also, wir sowie diese, die letzte und die vorletzte Regie-rung wussten es schon immer .
Die Frage, vor der wir nun stehen, lautet: Was sollen wirtun?In einem weiteren Punkt Ihres Antrags fragen Sie nachden Abschalteinrichtungen . Im Untersuchungsbericht desBMVI wird zu den normalen Betriebsbedingungen undder Zulässigkeit von Abschalteinrichtungen ausgeführt:Deshalb wäre es bereits zum Zeitpunkt des Inkraft-tretens der Verordnung . . . angezeigt gewesen, dassder europäische Gesetzgeber das Tatbestandsmerk-mal der „normalen Betriebsbedingung“ präzisiert . . .,um auf diese Weise eine auch für die Genehmi-gungsbehörde, in Deutschland das KBA, handhab-bare Anwendung der Norm zu ermöglichen .
Das heißt, es ist kein nationales Problem . Nicht nur wirwollten das nicht . Vielmehr handelt es sich um ein eu-ropäisches Problem . Damit ist Ihre Frage schon beant-wortet . Ja, wir brauchen eine Klarstellung in Brüssel .Wir werden sie jetzt in die Wege leiten und nicht erst imSommer 2017 .
Wir haben hier schon einiges angerissen und gefor-dert . Zum Beispiel hat mein Kollege Arno Klare gefor-dert, staatliche Prüfstände einzurichten und die Quell-codes offenzulegen . Der Minister hat vieles zugesagt .Einiges befindet sich bereits in der Umsetzung. Dabeigibt es noch viele weitere Bausteine, über die wir nundiskutieren müssen, sei es die Wiedereinführung derEndrohrmessung bei der Abgasuntersuchung oder dieFortführung einer echten Energiewende im Verkehr .
Unser großes Ziel muss doch eine solche Energiewen-de sein, um mittel- und langfristig CO2-Emissionen undSchadstoffe maßgeblich zu reduzieren . Diese Regierungarbeitet mit konkreten Maßnahmen darauf hin . Das istder richtige Weg .
Dafür benötigen wir keinen Untersuchungsausschuss .Ich persönlich werde mich trotz dessen, was ich ebengesagt habe, gerne an einem solchen Untersuchungsaus-schuss beteiligen und mich konstruktiv in die Debatteneinbringen .
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Ich hoffe nur, dass auch die Antragstellenden ebensokonstruktiv mitarbeiten und diesen Ausschuss nicht alspolitische Bühne nutzen, sondern als ein Gremium, dasuns möglicherweise Erkenntnisgewinne für die Arbeitder nächsten Bundesregierung geben kann . Darauf wirddiese Bundesregierung jedoch nicht warten .
Wir werden die erforderlichen Veränderungen sofort inAngriff nehmen . Das erwarten die Menschen von uns .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Oliver Wittke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Lassen Sie mich mit einer Vorbemerkung beginnen . Herr
Krischer, es ist nicht in Ordnung, dass Sie heute zum
wiederholten Mal zwei völlig unterschiedliche Sachver-
halte miteinander vermischen und versuchen, einen Ge-
samtzusammenhang herzustellen . Sie haben heute zum
wiederholten Mal vor diesem Hohen Haus die kriminelle
Energie, die im VW-Konzern dazu geführt hat, dass in
betrügerischer Absicht Software eingesetzt wurde,
um Ergebnisse zu verändern, in einen Topf geworfen mit
dem Ausnutzen von Regelungslücken, wie die Kolle-
gin Lühmann das gerade dargestellt hat . Das ist schlicht
unseriös . Es gehört sich nicht, dass kriminelle Machen-
schaften mit einem anderen Sachverhalt vermischt wer-
den .
Damit haben Sie schon offenbart, worum es Ihnen ei-
gentlich geht . Es geht Ihnen nicht um Aufklärung, son-
dern am Ende darum, eine ganze Branche in Misskredit
zu bringen .
Es geht Ihnen darum, einen Feldzug gegen das Automo-
bil fortzusetzen . Es geht Ihnen eben nicht um Aufklärung,
um eine Verbesserung der Situation . Diese politische Ab-
sicht ist heute hier noch einmal offenbar geworden .
Ich will sagen, dass wir in der Tat vollstes Vertrauen in
die Arbeit des Bundesverkehrsministeriums und des Bun-
desverkehrsministers, aber auch in die Arbeit der nachge-
ordneten Behörden haben . Dieses Vertrauen gründet sich
auf den bisherigen Umgang mit dieser Angelegenheit,
die in einem Untersuchungsausschuss in den nächsten
Monaten näher beleuchtet werden soll . Bundesminister
Dobrindt hat besonnen, angemessen, konsequent und zü-
gig reagiert, genau so, wie wir das erwartet haben .
Er ist nicht in Panikmache verfallen, hat nicht, wie Sie
das machen, skandalisiert,
sondern hat in der richtigen Reihenfolge zunächst auf-
geklärt, dann bewertet und anschließend Konsequenzen
gezogen . So geht seriöse Politik . Das unterscheidet ihn
von Ihnen .
Unmittelbar nach Bekanntwerden, Frau Kollegin
Künast, ist eine Untersuchungskommission eingesetzt
worden, die insgesamt 53-mal getagt hat . Die Ergebnisse
sind nach wenigen Monaten präsentiert worden, im Übri-
gen anders als zu Ihrer Zeit als Bundesumweltministerin,
als Sie auf den ADAC-Artikel nicht reagiert haben .
Darum freuen wir uns auch, Sie wahrscheinlich im Unter-
suchungsausschuss begrüßen zu dürfen; denn Sie waren
damals mit in der Regierung, als das vorgetragen wurde,
was Ihre Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion of-
fenbar zum Gegenstand des Untersuchungsausschusses
machen wollen .
Herr Kollege Wittke, ich muss Sie fragen: Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krischer?
Nein, Frau Präsidentin, ich möchte gerne im Zusam-
menhang vortragen .
Gut, danke .
Das Kraftfahrt-Bundesamt ist angewiesen worden, allerelevanten Fahrzeuge der Euro-5- und Euro-6-Klasse aufunzulässige Abschalteinrichtungen zu untersuchen . DasErgebnis ist Ihnen allen bekannt . Kein anderer HerstellerKirsten Lühmann
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hat in betrügerischer Absicht Software manipuliert, sowie es im VW-Konzern vorgekommen ist .
Das ist ein Fakt, an dem Sie nicht vorbeikommen, auchwenn es Ihnen nicht schmeckt . Es ist ein Fakt .Aber es ist auch richtig: Es sind sogenannte Thermo-fenster genutzt und weit ausgelegt worden, sodass alserste Konsequenz aus den Untersuchungen insgesamt630 000 Fahrzeuge deutscher Hersteller, nämlich vonAudi, von Opel, von Porsche, von Mercedes und vonVW, zurückgerufen und neu eingestellt werden . Damitwird dieser breite Ermessensspielraum künftig deutlicheingeengt . Somit kommen wir real zu einer Verbesserungder Situation . Auch das können Sie doch nicht leugnen .Hier geht es nicht um zukünftige Fahrzeuge, sondern umdie Fahrzeuge, die heute schon im Verkehr sind . Für diewird es in den nächsten Wochen und Monaten eine Ver-besserung der Abgassituation geben .Wichtig ist: Es geht nicht nur um die 630 000 Fahr-zeuge deutscher Hersteller . Auch ausländische Herstellerhaben ihre Bereitschaft angekündigt, genauso zu verfah-ren; denn nicht nur deutsche Hersteller sind betroffen,sondern ganz genauso französische, italienische und an-dere Hersteller, nur dass die Zulassungsbehörden nicht inDeutschland sitzen, weshalb nicht direkt Einfluss genom-men werden kann . Das heißt, wir werden am Ende beiweit über 1 Million Autos als Konsequenz aus dem Han-deln des Bundesverkehrsministers zu einer deutlichenVerbesserung kommen . Dafür, Herr Dobrindt, möchtenwir an dieser Stelle herzlich Danke sagen . Das ist eineerste messbare Konsequenz aus diesem Skandal .
Ich will aber auch darauf hinweisen, dass dieser Un-tersuchungsausschuss nicht alle Probleme wird beseiti-gen können; diesen Eindruck sollten wir nicht erwecken .Es wird weiterhin strafrechtliche Untersuchungen gebenmüssen . Nicht umsonst ermittelt die Staatsanwaltschaftderzeit gegen 17 Mitarbeiter im weiteren Umfeld desVW-Konzerns . Da gehört das auch hin; denn wer gegenRecht verstößt, muss in einem Rechtsstaat von der Jus-tiz, von den Strafverfolgungsbehörden belangt werden .Das kann nicht Aufgabe eines Untersuchungsausschus-ses sein . Darum ist es gut, dass die Justiz tätig gewordenist . Darum ist es gut, dass wir auch da in den nächstenMonaten wichtige Ergebnisse bekommen werden, die si-cherlich zu weiteren Konsequenzen führen werden .Aber es wird auch auf europäischer Ebene Handlungs-bedarf geben; das hat die bisherige Debatte gezeigt . Wirsind froh darüber, dass das Bundesverkehrsministeriumund Minister Dobrindt angekündigt haben, bei der Eu-ropäischen Union solle darauf gedrängt werden, dasskünftig strengere Maßstäbe gelten, dass es strengere Un-tersuchungen gibt, und zwar nicht nur bei der Typenzu-lassung, sondern auch im weiteren Verfahren, also auchdann, wenn Autos zur Abgassonderuntersuchung zumTÜV oder zu anderen Untersuchungsorganisationenmüssen, um diese Fahrzeuge ebenfalls sauberer zu be-kommen . Auch das wird eine ganz wichtige Aufgabe inden nächsten Monaten sein, die aber eben auf europäi-scher Ebene angegangen wird .Für uns ist im Zusammenhang mit dem VW-Skandaleines besonders wichtig: Es wurde nicht nur schnell,konsequent und zielgerichtet gearbeitet, sondern es wur-de vor allem für die Verbraucher kostenneutral das Ver-trauen wiederhergestellt, was zwingend notwendig ist .
Denn Tatsache ist: Es werden in Deutschland nach wievor erstklassige Autos gebaut . Wir werden nicht zulas-sen, dass Sie eine ganze Branche in Verruf bringen . Da-rum war es so wichtig, jetzt zu handeln und die Folgendes VW-Skandals nicht zulasten des Verbrauchers zu re-geln .
Wir möchten, dass weiterhin deutsche Ingenieure indeutschen Automobilfirmen gute Autos bauen.
Bei all den Debatten, die wir in den kommenden Wo-chen und Monaten führen werden, dürfen wir eines nichtvergessen: Das, was bisher an Umwelterrungenschaftenim Bereich der Automobilindustrie geleistet worden ist,kam zu einem ganz maßgeblichen Teil aus deutschenAutomobilunternehmen, war von deutschen Ingenieurenentwickelt . Wenn hier jetzt so getan wird, als seien dasalles Verbrecher, wenn hier jetzt so getan wird, als seiendas die größten Luftverpester, wenn hier jetzt so getanwird, als sei das eine Industrie von gestern, dann will ichIhnen ausdrücklich widersprechen: Wir haben größtesVertrauen in die deutsche Automobilindustrie . Wir sindsicher, dass unsere Ingenieure auch künftig einen Bei-trag dazu leisten werden, dass Automobile nicht nur inDeutschland, sondern weltweit immer sauberer werdenund damit einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dassdie Luft in unseren Städten besser wird . Was Sie gesagthaben, Herr Krischer, dass in den letzten 20 Jahren dieLuft immer schlechter geworden ist, ist falsch . Das Ge-genteil ist der Fall: Die Luft ist deutlich besser geworden .
Eine letzte Bemerkung, die mir ganz besonders wich-tig ist: Wir werden nicht zulassen, dass Sie diesen Unter-suchungsausschuss zu einem Tribunal gegen eine ganzeBranche, die für Deutschland von immenser Bedeutungund Wichtigkeit ist, umfunktionieren .
Wir sind an Aufklärung interessiert, aber nicht am politi-schen Kampf gegen die Automobilindustrie in Deutsch-land . Darum freuen wir uns auf die Diskussion in denkommenden Monaten .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Oliver Wittke
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Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Oliver Krischer
um eine Kurzintervention gebeten . Bitte schön .
Herr Wittke, da Sie meine Zwischenfrage nicht zuge-
lassen haben, möchte ich an dieser Stelle ein paar Dinge
klarstellen .
Dass Automobilunternehmen die Abgasreinigungs-
einrichtung bei 10, 17 oder 20 Grad abstellen – man kann
darüber streiten, ob das rechtlich zulässig ist oder nicht –,
ist in der Sache eine Katastrophe . Wie kann es denn sein,
dass Fahrzeuge in Deutschland unterwegs sind, die den
größten Teil des Jahres keine in Betrieb befindliche Ab-
gasreinigungseinrichtung haben? Auch Sie sollten dafür
kämpfen, dass sich das ändert .
Herr Wittke, es ist nicht in Ordnung, an dieser Stel-
le bloß auf die EU-Kommission zu verweisen . Schauen
Sie in die EG-Verordnung 715/2007 . Da steht klipp und
klar, dass eine Abgasreinigungseinrichtung bei allen auf
dem Gebiet der EU regelmäßig anzutreffenden Umge-
bungstemperaturen und -bedingungen zu funktionie-
ren hat . Das ist eindeutig, und 10 Grad, 17 Grad oder
20 Grad sind Temperaturen, die in der EU nun einmal
regelmäßig anzutreffen sind . Ich würde gern einmal wis-
sen – von der Bundesregierung, vom Verkehrsministeri-
um –, auf welche Rechtsgutachter, auf welche Personen
man sich stützt, wenn man sagt: Das ist nicht eindeutig
geklärt . Das ist legal . – Die Juristen, die ich kenne, der
Wissenschaftliche Dienst des Bundestages und viele an-
dere sagen nämlich klar: Das ist illegal . – Insofern sagen
wir: Diese Manipulationen sind genauso illegal wie die
bei VW .
Herr Wittke, Sie haben gesagt, es sei zügig gearbeitet
worden . Das ist nun wirklich ein Witz . Herr Staatssekre-
tär Barthle, der hier sitzt, hat im November 2015 genau
von dem Platz aus geantwortet: Die Messungen sind ab-
geschlossen . – Das war im November 2015 . Der Bericht
ist im April 2016 vorgelegt worden . Was, in Herrgottsna-
men, ist in der ganzen Zeit passiert? Das ist kein zügiges
Arbeiten . Ich kann daraus nur schließen: Das sollte ent-
weder ausgesessen oder verschleppt werden . Am Ende
musste man das mit der Automobilindustrie noch klein-
reden, damit der Bericht nicht so gefährlich wird . Das
hat nichts mit zügigem und konsequentem Aufklären zu
tun, Herr Wittke . Das können Sie an der Stelle so nicht
behaupten .
Herr Kollege Wittke .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Kollege
Krischer, erstens ist völlig klar: Wenn Abschalteinrich-
tungen bei Temperaturen von 20 Grad einsetzen, dann ist
das nicht in Ordnung, aber es ist auch nicht illegal, wie
Sie gesagt haben .
Wenn illegal gehandelt worden wäre, müsste längst die
Staatsanwaltschaft tätig werden . Sie ist aber nicht tätig
geworden .
Das zeigt doch, dass dieses Verhalten nicht mit dem von
VW vergleichbar ist . Sie vermischen hier wieder zwei
Zusammenhänge, die nichts, aber auch gar nichts mitei-
nander zu tun haben .
Herr Krischer, jetzt hat überwiegend der Kollege
Wittke das Wort .
Zweitens . Wir sind froh darüber, dass wir nicht ersteinen Untersuchungsausschuss und dessen Ergebnisseabwarten müssen, bis gehandelt wird . Dass beispielswei-se 630 000 Fahrzeuge deutscher Hersteller und eine imMoment noch nicht bekannte Zahl von Fahrzeugen aus-ländischer Hersteller zurückgerufen werden, um diesenMissstand, den wir gemeinsam bemängeln, abzustellen,ist ein Verdienst dieses Bundesverkehrsministers . Dasmüssen Sie dann auch einmal zur Kenntnis nehmen undakzeptieren .
Dazu sind Sie aber nicht bereit, weil Sie hier nur einepolitische Philippika reiten und eben nicht an politischerAufklärung interessiert sind .
Drittens . Natürlich werden wir auch auf europäischerEbene neue Regelungen brauchen; denn ich möchtenicht, dass Typenzulassungen, die in Malta geschehen,dafür sorgen, dass beispielsweise Partikelfilter auf dendeutschen Markt kommen und deutsche Hersteller, dieerstklassige Qualität liefern, aber teurer sind, verdrängenund so dazu beitragen, dass die Reinigungswirkung vonAbgasreinigungsanlagen eben nicht mehr gegeben ist .
Das kriegen wir nur hin, wenn wir auf europäischerEbene tätig werden . Darum ist es falsch, wenn Sie sagen,wir brauchten nicht auf europäischer Ebene zu handeln,
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sondern müssten hier handeln . Nein, wir müssen beidestun . Wir müssen hier handeln, wie wir das in den vergan-genen Tagen bereits mit großem Erfolg getan haben, undauf der anderen Seite Sorge dafür tragen, dass die Re-geln in Europa so gesetzt werden, dass nicht in anderenLändern andere Standards gelten, die dafür sorgen, dassunsere Städte verpestet werden . Wenn das das gemeinsa-me Ziel ist, werden wir schnell übereinkommen, werdenwir zu guten Regelungen kommen . Aber mit Schaum vordem Mund, so wie Sie hier eine Philippika – ich sage dasnoch einmal – gegen die Automobilindustrie im Allge-meinen reiten,
werden Sie dieses Ziel nicht erreichen .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Arno Klare,
SPD-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzterRedner kurz vor dem Pfingstfest muss ich ja jetzt irgend-etwas Versöhnliches sagen .
Ich werde mich bemühen .Die Grundfrage, die ich mir stellen möchte, ist: Wel-ches Erkenntnisinteresse hat ein solcher Untersuchungs-ausschuss? Da gibt es erst einmal das durchaus verständ-liche investigative Interesse – das ist in diesen zig Fragenim Antrag aufgelistet –: Wer hat was wann von wem ge-wusst oder warum nicht? Und warum hat man nicht ge-handelt? – Das kann ich nachvollziehen . Am Ende ist dasaber zu wenig . Das füllt vielleicht die Munitionsdepotsfür den nächsten Wahlkampf mit irgendwelchen, wie ichhoffe, Rohrkrepierern . Aber das ist nicht das, was ein Un-tersuchungsausschuss aus meiner Sicht leisten muss . EinUntersuchungsausschuss muss sich konstruktiv die Fragestellen: Was muss man eigentlich tun, damit so etwas niewieder passiert?
– Doch, das müssen wir tun . – Die Bürgerinnen und Bür-ger, die die Fahrzeuge in dem guten Glauben kaufen,dass diese Fahrzeuge den Umweltstandards entsprechen,die sie sich wünschen und mit denen sie im Katalog an-geboten werden, müssen sicher sein können, dass demauch so ist . Das heißt, das Ganze muss den Verbrauche-rinnen und Verbrauchern dienen und nicht dazu, dass IhreMunitionsdepots gefüllt werden .
Meines Erachtens geht es zum Beispiel um den Aus-rollkoeffizienten. Das ist jetzt hoch technisch: Da wirdauf 140 Stundenkilometer beschleunigt und das Fahrzeugdann im Leerlauf ausrollen gelassen . So wird der cw-Wert gemessen, der Rollwiderstand des Fahrzeugs . Dassind Basiswerte auf dem Prüfstand, die nachher bei derTypgenehmigung als entscheidende Faktoren eingehen .Das machen die Unternehmen, die Automobilhersteller,bisher selbst . Man muss sich die Frage stellen, ob das sobleiben kann . Dazu möchte ich gern ein paar Leute hö-ren, die mir erklären, wie man das anders machen kann,sodass diese Aufgabe woandershin, zu unabhängigen Or-ganisationen verlagert wird .
Das ist ein ganz wichtiger Punkt .Es gibt, von den Unternehmen selbst durchgeführt, die„Conformity of Production“-Prüfung . Das heißt, es wirdein beliebiges Fahrzeug aus der Produktion genommenund überprüft, ob es mit den bei der Typgenehmigungfestgelegten Parametern übereinstimmt . Auch das ma-chen die Unternehmen selbst . Das könnte und sollte manwahrscheinlich ebenfalls von unabhängigen Prüfern ma-chen lassen . Dabei würden wahrscheinlich keine anderenWerte herauskommen; aber es würde sehr viel Vertrauenschaffen, wenn diese Prüfungen unabhängig wären .Was ich hier schon einmal gefordert habe – wohlge-merkt: als Erster; darauf lege ich auch Wert –, war, dassder Quellcode der Software offengelegt wird . Dem istdas Ministerium gefolgt, logischerweise, nicht, weil iches gefordert habe, sondern weil es einfach eine logischeKonsequenz ist . Es geht aber noch weiter . Wir wissen,dass Software in der Zukunft nicht mehr bei einemWerkstattbesuch aufgespielt wird, sondern dass das überdie Luft gehen wird. Dann muss auch die Biografie derEntwicklung dieser Software offen sein . Das heißt, manmuss sozusagen an jedem Punkt diese Software überprü-fen können und Einblick haben, und zwar von unabhän-gigen Dritten, entweder vom KBA selber oder von vomKBA beauftragten Unternehmen, die das können .Noch etwas zur Endrohrmessung; Frau Lühmann hates gerade angesprochen . Ich habe hier schon mehrfachgesagt, dass das wichtig und notwendig ist . Es gibt fürBenzinfahrzeuge die Möglichkeit, über den chemischrepräsentativen Indikator CO, also Kohlenmonoxid, be-stimmte Aussagen zu treffen . Wenn der Wert gut ist, sinddie anderen Werte auch gut . Das ist ein Zusammenhang,den man auf dem Prüfstand bei größeren Messungenfestgestellt hat . Für Dieselfahrzeuge gibt es einen sol-chen Indikatorwert bisher nicht . Aus dem, was gemessenwird, dem Abgastrübungswert, dem sogenannten k-Wert,ergibt sich nicht automatisch, wie der Stickoxidwert ist .Das heißt, man muss einen Auftrag erteilen – Frankreichhat das gemacht –, einen solchen Test zu entwickeln . Dasmüsste getan werden, um einen Indikatorwert zu haben,der bei der einfachen Endrohrprüfung eine Rolle spielt .
– Dann kann man auch auf NOx schließen .Was man übrigens sofort machen könnte, wäre, denk-Wert, der derzeit bei 1,7 liegt, auf 0,2 zu reduzieren .Bei 95 Prozent der geprüften Fahrzeuge liegt der WertOliver Wittke
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 171 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 13 . Mai 2016 16933
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bei 0,01, also weit darunter . TÜV und DEKRA haben ineiner großangelegten Studie nachgewiesen, dass 25 Pro-zent der Schadstoffemissionen von Dieselfahrzeugeneingespart werden könnten, wenn man diesen Wert auf0,2 setzte, was wir dürften und national auch sofort um-setzen könnten. Dann würden diejenigen herausgefischt,die schlechter sind, die irgendwelche Rußpartikelfilterausgebaut haben oder deren Katalysatoren nichts mehrtaugen usw . Das können wir sofort tun .Eine letzte Bemerkung . Frau Künast – jetzt ist sieleider schon weg – war seinerzeit nicht Umweltminis-terin – Herr Wittke, da haben Sie sich geirrt –, sondernAgrarministerin . Als sie in dieser Funktion das erste Maldie Grüne Woche besucht hat, war sie nicht in der Lage,eine Kuh von einem Bullen zu unterscheiden . Das standganz groß in der Zeitung .
Das ist wahrscheinlich relativ bezeichnend .Ob das jetzt versöhnlich war, wage ich zu bezweifeln .Aber ich hoffe, wir werden dann im Ausschuss sachlichund vertieft in dem Sinne, wie ich es gerade gesagt habe,diskutieren können .Danke .
Vielen Dank . – Ich schließe die Aussprache .
Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, dass die
Vorlage auf Drucksache 18/8273 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 1 . Juni 2016, 13 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen ein schönes Pfingstfest und hof-
fentlich ein bisschen Ruhe . Die Sitzung ist geschlossen .