Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich .Heute Morgen beschäftigen wir uns zunächst mit denTagesordnungspunkten 24 a und 24 b sowie den Zusatz-punkten 6 und 7:24 a) Beratung des Antrags der Fraktionen derCDU/CSU und SPDTschernobyl und Fukushima mahnen –Verantwortungsbewusster Umgang mitden Risiken der Atomkraft und weitereUnterstützung der durch die Reaktorka-tastrophen betroffenen MenschenDrucksache 18/8239b) Beratung der Beschlussempfehlung unddes Berichts des Ausschusses für Umwelt,Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
– zu dem Antrag der AbgeordnetenHubertus Zdebel, Andrej Hunko, KarinBinder, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKERisiko-Reaktoren abschalten – Atom-ausstieg in Europa beschleunigen– zu dem Antrag der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Annalena Baerbock,Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fu-kushima – Atomausstieg konsequentdurchsetzen– zu dem Antrag der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Annalena Baerbock,Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENAtomkraftwerk Cattenom sofort ab-schaltenDrucksachen 18/7875, 18/7656, 18/7668,18/8266ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie
zu dem Antrag der Abgeordneten
Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Dr . FranziskaBrantner, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine öffentlichen Forschungsgelder für denWiedereinstieg in atomare Technologien –6. Energieforschungsprogramm vollständig inRichtung Energiewende weiterentwickelnDrucksachen 18/5211, 18/8262ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Kai Gehring, Annalena Baerbock,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEuropaweiten Atomausstieg voranbringen –Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigenDrucksache 18/8242Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung soll dieseAussprache 60 Minuten dauern . – Dazu sehe ich keinenWiderspruch . Also können wir so verfahren .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Bundesministerin Barbara Hendricks .
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Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Die Geschichte der Atom-kraft war an ihrem Beginn eine Geschichte großer Eu-phorie . Ihre enormen Risiken wurden erst unterschätzt,dann heruntergespielt und sind erst Stück für Stück indas öffentliche Bewusstsein eingedrungen . Die Reaktor-katastrophe von Tschernobyl, an die wir in dieser Wocheerinnern, ist einer der Wendepunkte dieser Geschichte .Sie zeigt: Das Risiko der Atomkraft ist nicht nur einetheoretische Größe . Die Katastrophe ist eingetreten mitverheerenden Konsequenzen .Meine Damen und Herren, ich war vor wenigen Wo-chen in Tschernobyl . Ich habe dort den Fortschritt derArbeiten gesehen, die dazu dienen, den verunglücktenReaktor mit einer neuen Schutzhülle zu überziehen . Dasist eine ingenieurtechnische Meisterleistung, die dortvollbracht wird . Die Schutzhülle kostet ungefähr 2 Milli-arden Euro . Insgesamt 45 Länder, darunter Deutschland,beteiligen sich an diesen Kosten . Russland ist auch da-bei; das muss man, finde ich, in diesem Zusammenhangerwähnen .Gleichwohl erwartet niemand, dass diese Hülle längerals 100 Jahre hält . Die vor 30 Jahren notdürftig ange-brachte Hülle kommt an ihre Grenze; ihre Lebensdauerwurde auf 20 bis 30 Jahre geschätzt . Die jetzt neu anzu-bringende große Hülle soll, wie gesagt, etwa 100 Jahrehalten, in der Hoffnung und Erwartung, dass in dieserZeit die Menschen, die nach uns kommen, technologi-sche Kenntnisse haben, die wir jetzt noch nicht habenund die dann helfen würden, mit dem umzugehen, wasdort für immer eine Gefahr darstellt .An dieser Stelle sehen Sie, was es bedeutet, wennein großer Unfall geschieht . Die Natur hat sich die ge-sperrte Region zurückerobert . Die Menschen dürfen ineinem Umkreis von 30 Kilometern nie mehr siedeln .Gleichwohl arbeiten Menschen natürlich an diesem Re-aktor . Sie arbeiten dort zwei Wochen und sind dann zweiWochen zu Hause . In dem Ort Tschernobyl leben dieseArbeiterinnen und Arbeiter in den zwei Wochen ihrerArbeit . Etwa 150 Menschen sind in ihre HeimatstadtTschernobyl, die etwa 10 Kilometer von dem Reaktorentfernt liegt, zurückgekehrt . Diese 150 Menschen, dieeigentlich widerrechtlich dort leben, haben gesagt: Wirsind älter, wir werden sowieso sterben, wir wollen in un-serer Heimat sterben . – Das ist die Lage, mit der man esjetzt, 30 Jahre nach dem Unfall, dort zu tun hat .Die Stadt war einmal von etwa 200 000 Menschenbewohnt, und sie war damals eine sozialistische Muster-stadt: alles neu, alles modern, Kulturhäuser, Schwimm-bäder . Am 1 . Mai, also fünf Tage nach dem Unfall, sollteein großer Vergnügungspark eröffnet werden, der nunaber nie genutzt wurde . Da stehen jetzt überwucherteAutoskooter und Riesenräder . Es ist in der Tat eine totalgespenstische Atmosphäre .Die Menschen, die gerne dort gelebt haben, weil es fürjunge Familien sehr angenehm war, wurden evakuiert –eigentlich ein paar Tage zu spät –, sind mit Bussen inviele verschiedene Richtungen weggebracht worden undhaben sich nie wieder getroffen; denn sie sind in der gro-ßen Sowjetunion an verschiedenen Orten untergebrachtworden . Menschenleer und still ist heute also, was ein-mal eine Stadt war .Meine Damen und Herren, es gibt Ereignisse, diebrennen sich in unser Gedächtnis ein: die Aufnahmenaus dem Hubschrauber, die den brennenden Reaktorkernzeigen, die Strahlenmessungen am Boden und auch anLebensmitteln hier bei uns, später dann die Geschichtenvon den Feuerwehrleuten, den Kraftwerksmitarbeiternund den Soldaten, die bei dem Versuch, die Katastro-phe einzudämmen, dem Tod ins Auge sahen . Ich habeeinen Kranz an der Gedenkstätte niedergelegt . Dort wird23 Männer gedacht, die alle schon am 6 . Mai, also weni-ger als zehn Tage nach dem GAU, tot waren .Von der Reaktorruine geht bis heute eine Gefahr fürdie Menschen durchaus in ganz Europa aus . Der Sarko-phag über dem havarierten Reaktor 4, der 1986 hastigerrichtet wurde, hat seine Altersgrenze erreicht . Es wardeshalb ein wichtiger Erfolg der deutschen G-7-Präsi-dentschaft im vergangenen Jahr, dass die großen Indus-triestaaten gemeinsam mit vielen anderen Ländern dieFinanzierung für den Weiterbau der neuen Schutzhüllefest zugesagt haben . Wir werden versuchen, auch darüberhinaus zu helfen .Weite Landschaften der Ukraine, Russlands und Weiß-russlands sind bis heute belastet . Hunderttausende leidenunter den Folgen . Sie sind heimatlos, sie sind erkranktoder sie pflegen kranke Angehörige. Wir lassen dieseMenschen nicht allein . Das zeigt auch das Engagementder vielen ehrenamtlichen Gruppen aus ganz Europa, diesich den Opfern widmen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Tschernobyl gabdenjenigen recht, die schon lange vor den Gefahren derAtomkraft gewarnt hatten, in Wyhl, in Brokdorf, in Wa-ckersdorf, in Kalkar und an vielen anderen Orten . Ge-rade weil die Atomkraftgegner über lange Zeit so man-ches an Schmähungen über sich haben ergehen lassenmüssen und sogar in die Ecke von Staatsfeinden gerücktwurden, sage ich heute in diesem Hohen Haus: Die Anti-atomkraftbewegung war keine gegen den Staat gerichteteBewegung . Ganz im Gegenteil: Es waren Freunde desStaates und der Gesellschaft, weil sie nicht hinnehmenwollten, dass wir alle den Risiken einer zu gefährlichenArt der Energieerzeugung ausgesetzt sind . Ich danke die-sen Menschen heute ganz ausdrücklich; denn sie habensich um unser Land verdient gemacht .
Meine Damen und Herren, dass es bis Fukushimabrauchte, bis alle Fraktionen dieses Hauses sich hinterdem Ziel eines zügigen Ausstiegs aus der Atomener-gie versammelt haben, gehört natürlich zur Geschichtedazu . Fukushima liefert den endgültigen Beweis, dasses auch in hochindustrialisierten Ländern mit hohen Si-
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cherheitsstandards zu Ereignissen kommen kann, die zunicht mehr beherrschbaren Störfällen führen . Auch dortmussten Hunderttausende ihre Heimat verlassen . Auchdort wurden unter anderem Mitarbeiter der Firma Tepcogesundheitlichen Risiken ausgesetzt, um die Katastropheeinzudämmen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2022 wird das letz-te deutsche Atomkraftwerk abgeschaltet . Unsere Arbeitist aber noch nicht getan . Die Sicherheit der Atomkraft-werke muss bis zum letzten Betriebstag gewährleistetbleiben . In den vergangenen 30 Jahren haben Bund undLänder dafür gesorgt, dass die deutschen Atomkraftwer-ke ein hohes Sicherheitsniveau haben . Wir müssen fürdie gleiche Sicherheit sorgen, wenn wir die Meiler stillle-gen und zurückbauen; das sage ich auch im Hinblick aufdie Vorkommnisse im AKW Philippsburg . Wir werdendie Bewertung des Sachverhaltes und die Maßnahmendes Betreibers EnBW und der baden-württembergischenLandesregierung abwarten . Klar ist aber, dass sowohl derBetreiber als auch die zuständigen Landesbehörden sol-che Täuschungen nicht dulden dürfen .
Gerade die letzten Wochen zeigen, dass trotz des deut-schen Atomausstiegs Risiken bestehen bleiben . Radioak-tivität macht an Grenzen ja nicht halt . Fessenheim, dasnächst gelegene französische Atomkraftwerk, liegt, wiewir wissen, direkt am Rhein . Besondere Sorgen machenuns die belgischen Kraftwerke Tihange und Doel . Natür-lich liegt die Entscheidung für oder gegen die Nutzungder Atomenergie in der nationalen Souveränität des je-weiligen Staates . Aber ich erwarte, dass unsere Nachbarndie Sorgen der Menschen in den Grenzgebieten ernstnehmen und für ein höchstmögliches Sicherheitsniveausorgen .
Das ist auch der Grund, warum ich die belgische Regie-rung gebeten habe, die Blöcke Tihange 2 und Doel 3 biszur Klärung aller Sicherheitsfragen vom Netz zu neh-men . Ich bedauere sehr, dass dieser dringenden Bitte vonbelgischer Seite bislang nicht entsprochen wurde .Deutschland hat sich auf EU-Ebene mit Erfolg für dieFestlegung von verbindlichen Sicherheitszielen in derEuropäischen Union und für ein System wechselseitigerKontrolle starkgemacht . Wir setzen uns außerdem füreine verpflichtende grenzüberschreitende Umweltver-träglichkeitsprüfung ein, wenn unsere Nachbarn Lauf-zeiten verlängern . Wir werden uns weiterhin mit ganzerKraft für ein hohes Sicherheitsniveau in Europa undweltweit einsetzen . Wir werben dafür, dass der Ausstiegaus der Atomenergie in Europa und möglicherweise auchweltweit Schule macht .Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Atom-energie ist eine Sackgasse der technischen Entwicklung .Die Orte Tschernobyl und auch Fukushima sind dafürewige Mahnungen . In Deutschland haben wir uns auf ei-nen anderen Weg gemacht . Wir steigen um auf Energien,die Wohlstand ermöglichen, ohne Menschen und Um-welt zu gefährden . Wir stehen heute – ohne Zweifel – amBeginn des Zeitalters der erneuerbaren Energien . LassenSie uns diesen Weg entschlossen weitergehen .Herzlichen Dank .
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich
Ihnen, Frau Ministerin, gerne zu Ihrem heutigen Geburts-
tag gratulieren .
Ich verbinde damit die Erwartung, dass die heutige De-
batte zu diesem Thema in Ihrem Verantwortungsbereich
der erste Höhepunkt Ihrer heutigen Geburtstagsfeierlich-
keiten sein wird .
Mit dieser Vorlage bitte ich jetzt den Kollegen
Hubertus Zdebel an das Mikrofon,
der für die Fraktion Die Linke das Wort erhält .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Frau Hendricks, auch von meiner Seite:Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag . Ich binIhnen außerordentlich dankbar für Ihre klaren Worte, dieSie zu den Atomreaktoren in Belgien gefunden haben;darauf komme ich in meiner Rede gleich zurück . Abererst einmal Glückwunsch, auch von meiner Seite .
Tschernobyl und Fukushima sind eine Mahnung, dassder Atomausstieg nicht nur in Deutschland, sondern inEuropa und in der ganzen Welt erforderlich ist . Nur sokönnen derartige Katastrophen wirksam verhindert wer-den . Diesem Anspruch hält die Politik der Bundesre-gierung allerdings nicht stand . Die heute vorliegendenAnträge von uns Linken und von den Grünen zeigenauf, dass es vielfältige Handlungsmöglichkeiten für eineBundesregierung gibt, den Atomausstieg in Deutschlandund Europa klarer und deutlicher auf die Tagesordnungzu setzen .
Im Rahmen meiner Redezeit kann ich das nur an ei-nigen wenigen Punkten deutlich machen . Meines Erach-tens ist es nicht die Frage ob, sondern leider nur wannund wo eine Katastrophe wie in Tschernobyl und Fuku-shima passieren wird . Nicht auszuschließen ist, dass die-se nächste Katastrophe Tihange sein könnte .Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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Über Filz und Schlamperei in der belgischen Atom-aufsicht berichtet aktuell die Süddeutsche Zeitung, vorallem über einen obersten Atomaufseher, der zuvor fürden Tihange-Betreiber Electrabel gearbeitet hat . Dazukommen jede Menge ungeklärte Fragen zu den Tau-senden Rissen im Reaktordruckbehälter . Dass er einenschweren Störfall aushält, bezweifelt sogar das Bun-desumweltministerium .Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist –auch für die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik –,dass endlich die Uranfabriken in Gronau und Lingen inden Atomausstieg einbezogen werden .
Darüber findet sich in dem Antrag der Großen Koalition,der heute auch vorliegt, bezeichnenderweise kein Wort .Hier AKWs abzuschalten und sie hinter der Grenze, wiein Doel und Tihange, mit Brennstoff zu versorgen, istkeine glaubwürdige Politik .
Das ist Beihilfe zum Atomrisiko in den Nachbarstaaten,in Europa und in der Welt, und es ist ein Hinweis da-rauf, dass die Bundesregierung sich international eineTür zu einer Zukunft der Atomenergie offenhält . DieseTür muss so weit wie möglich geschlossen werden . Dasist übrigens auch ein Grund, warum wir den Atomaus-stieg gemeinsam mit vielen Anti-AKW-Initiativen undUmweltverbänden im Grundgesetz festschreiben wollen .
Tschernobyl, Fukushima? Egal . Für ihre wirtschaft-lichen Interessen halten Konzerne international an derAtomenergie ebenso fest wie Staaten, die damit auch ihremilitärischen Machtansprüche aufrechterhalten .In diesem Zusammenhang, weil es auch zu den Risi-ken der Atomkraft gehört, ein Wort zu den sogenanntenErgebnissen der Atom-Finanzkommission, KFK, in derVertreter und Vertreterinnen von CDU/CSU, SPD undGrünen dominierten und in die wir als Linke aus gutenGründen nicht berufen wurden .
Diese Atom-Finanzkommission macht den Atomkonzer-nen gerade ein fettes Geschenk: Zum Schaden der Bürge-rinnen und Bürger wird das gesetzlich festgeschriebeneVerursacherprinzip für RWE, Eon usw . durch eine ArtAblasshandel einfach außer Kraft gesetzt . Circa 41 Mil-liarden Euro sind laut Ergebnissen dieser KFK vorge-sehen, eine Summe, die von vorne bis hinten nicht aus-reichen wird . Das wissen Sie alle . Der Co-Vorsitzendeder Endlagersuchkommission, Michael Müller, hat völligzu Recht vor kurzer Zeit von Kosten in Höhe von min-destens 70 Milliarden Euro gesprochen . Wenn man dieseSumme mit den jetzt festgeschriebenen circa 40 Milli-arden Euro vergleicht, ist völlig klar, wer letztlich dieRechnung dafür zahlen muss, obwohl es im Atomgesetzganz anders geregelt ist .
Bei der Suche nach solchen und ähnlichen Deals hatdie Satiresendung heute-show vor einigen Wochen einneues Element entdeckt: Va 119 . „Va“ steht für „Verar-schium“ .
Die Atomkonzerne müssen weiter für die Kosten gera-destehen, wie es seit Jahrzehnten gesetzlich vorgeschrie-ben ist .In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerk-samkeit .
Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kanitz für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte mich ausdrücklich den Wünschen des Bun-destagspräsidenten anschließen und Ihnen, Frau Ministe-rin, im Namen meiner Fraktion herzlich zum Geburtstaggratulieren . Als kleines Geburtstagsgeschenk haben wirIhnen einen schönen Antrag der Koalitionsfraktionenmitgebracht,
der Sie auf Ihrem Weg unterstützen soll, in Europa fürhöchste Sicherheitsstandards bei den Kernkraftwerkenzu werben . Also, alles Gute für Ihre Zukunft .
Fukushima und Tschernobyl sind Synonyme für zweifolgenschwere nukleare Unglücke geworden . Mit demAntrag der Koalitionsfraktionen möchten wir einen Bei-trag dazu leisten, dass die Erinnerung an beide Katastro-phen wachgehalten wird . Wir gedenken der Opfer undtrauern mit den Angehörigen, wir verneigen uns in Dank-barkeit und Respekt vor den vielen Helfern, die unmittel-bar nach den Katastrophen beherzt eingegriffen und nochgrößeren Schaden vermieden haben . Viele von ihnen ha-ben diesen Einsatz mit ihrem Leben bezahlt . Auch wenndie Einschätzungen über die Anzahl der Folgetoten aus-einandergehen, sind wir uns, glaube ich, alle einig: Jedeseinzelne Opfer war eines zu viel .Es steht außer Frage, dass wir Japan und auch dieUkraine bei der Beseitigung der Folgen weiterhin unter-stützen . Insbesondere in der Ukraine wollen wir bei derBewältigung der medizinischen und sozialen Spätfolgenhelfen . Für den Bau des neuen Sarkophags – die Minis-terin hat es eben angesprochen –, der ab Ende 2017 dieUmgebung vor weiterer Strahlung schützen soll, steuertallein Deutschland über 300 Millionen Euro bei .Hubertus Zdebel
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Diese Unfälle mahnen uns auch weiterhin zu höchsterSorgfalt und Vorsicht im Umgang mit dieser Technolo-gie . Wir müssen alles dafür tun, dass etwas Vergleichba-res nicht wieder geschieht . Dabei gehen wir nicht von derUnfehlbarkeit des Menschen aus, sondern legen Sicher-heitssysteme so aus – das erwarten wir auch –, dass sieauf Fehler angemessen reagieren . In Deutschland leistenwir unseren Beitrag dazu, indem wir über höchste Sicher-heitsstandards verfügen, indem wir eine Forschung undeine Entwicklung auf internationalem Spitzenniveau ha-ben und indem wir einen offenen Umgang mit Fehlernpraktizieren .Seit Inbetriebnahme des ersten Reaktors in Garchingbei München im Jahr 1957 gab es keine schwerwiegen-den nuklearen Vorfälle in kerntechnischen Anlagen inDeutschland . Deswegen möchte ich einen großen Dankan die Betriebsmannschaften der deutschen Kernkraft-werke aussprechen . Auch sie haben gute Arbeit geleistet .Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden .
Rückblickend können wir ohne Schaum vor demMund feststellen, dass die Nutzung der Kernenergie ei-nen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwick-lung der Bundesrepublik geleistet hat . Wir haben in die-ser Zeit etliche Kompetenzen erworben, etwa im Betriebvon Kernkraftwerken, in der Bearbeitung von Sicher-heitskonzepten und auch in der Erkundung .Das Fachwissen dieser Betriebsmannschaften ist auchin Zukunft unabdingbar . Wir sollten heute nicht leichtfer-tig die Belegschaft in Gorleben entlassen, weil wir dannmöglicherweise in fünf Jahren, wenn wir mit der Erkun-dung beginnen, feststellen müssten, dass wir das nötigebergmännische Know-how in unserem Land nicht mehrhaben . Wir sollten hier, liebe Kolleginnen und Kollegen,weitsichtig handeln .
Gerade als Folge unseres Ausstiegs wird das Thema„Kompetenz für den sicheren Rückbau von Kernkraft-werken“ immer wichtiger . Diesen bereits vorhandenenSachverstand an den Standorten müssen wir bewahrenund sollten ihn nicht schlechtreden . Dazu müssen wir ge-rade bei jungen Menschen für das Zukunftsfeld RückbauWerbung machen . Wer sich einmal angesehen hat, wieein Ringwasserbehälter mit Diamantseilsägen zerlegtwird, die extra zu diesem Zweck von der Betriebsmann-schaft und den Ingenieuren konstruiert wurden, bekommtLust darauf, bei dieser technisch anspruchsvollen Aufga-be mitzumachen .Hierbei hat Deutschland eine Vorreiterrolle . Wir wer-den sie nur erhalten können, wenn wir weiterhin überausreichend qualifiziertes Personal verfügen. Dazu brau-chen wir auch weiterhin eine Offenheit gegenüber neuenTechnologien . Wir brauchen auch weiterhin eine For-schungslandschaft, die sich nicht an Ideologie, sondernam Einfallsreichtum zukunftsbegeisterter Menschen ori-entiert .
Wir brauchen eine Freiheit im Denken . Denn eine Ein-schränkung dieser Freiheit bedeutet, dass wir uns mögli-cher Zukunftschancen berauben .Mir scheint, dass der Gedenktag zu Tschernobyl voninteressierter Seite genutzt wird, um Ängste zu schüren .
Dabei gerät die Wahrheit häufig unter die Räder.
Anhand einiger kurzer Beispiele möchte ich das illus-trieren .Das erste Beispiel ist Gundremmingen . Die Behaup-tung ist, es hätte einen Cyberangriff auf die in Betriebbefindlichen Reaktoren gegeben. Richtig ist: Es handeltsich um einen Rechner ohne Internetzugang, der nichtmit dem Betriebs- und Sicherheitssystem der Anlage ver-bunden ist. Der eigentliche Schutz der Reaktoren findetanalog statt . Die Anlage war zu keinem Zeitpunkt gefähr-det .Das zweite Beispiel ist das Kernkraftwerk Fessen-heim . Anfang März dieses Jahres erschien ein Bericht,demzufolge einer der „dramatischsten AKW-Unfälle inWesteuropa“ vorgefallen sei .
Richtig ist: Selbst die grün-geführte Landesregierung inBaden-Württemberg hat schon 2014 bestätigt, dass derVorfall ordnungsgemäß gemeldet wurde, die richtigenMaßnahmen eingeleitet und die notwendigen Informati-onen veröffentlicht wurden . Ich stelle fest: Es war eineFalschmeldung .
Ich komme nun zum Lieblingsbeispiel der letzten Wo-chen, zum Forschungszentrum Jülich . Ein Redaktions-netzwerk meldete, Terroristen hätten Unterlagen über dasForschungszentrum Jülich gesammelt . Der Präsident desVerfassungsschutzes habe Mitglieder des Parlamentari-schen Kontrollgremiums über mögliche Anschlagspläneinformiert . Richtig ist: Weder hat der VerfassungsschutzMitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiumsüber solche Vorgänge informiert, noch hatten das Bun-des- und entsprechende Landesinnenministerium Kennt-nis über solche Vorgänge . Diese Meldung ist frei erfun-den .Sie können in Deutschland alles behaupten . Solangees um Kernkraft geht, können Sie davon ausgehen, dassjede Meldung ungeprüft übernommen und verteilt wird,
Steffen Kanitz
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sofern es sich um die Risiken der Kernkraft handelt .
Ein solches Vorgehen ist unzulässig und hat mit seriösemJournalismus nichts zu tun .
Ich will noch kurz auf ein Lieblingsthema der Oppo-sition eingehen, den Euratom-Vertrag . Auch wenn Sie esnicht gern hören: Gerade der so häufig kritisierte Eura-tom-Vertrag leistet vor allem durch die Richtlinie übereinen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheitkerntechnischer Anlagen einen wesentlichen Beitrag zuden von Ihnen geforderten höheren Sicherheitsstandardsin Europa . Ziel ist es, die nukleare Sicherheit in Europaaufrechtzuerhalten und in allen Ländern zu verbessern .Ich denke, dieses in der Richtlinie verankerte Ziel ent-spricht genau unseren Interessen .
Schon deshalb wäre es kontraproduktiv, den Eura-tom-Vertrag zu kündigen, unabhängig davon, dass wirdann auch sämtliche Mitspracherechte in internationalenGremien verlieren .Wenn wir über Sicherheit sprechen, dann gilt das nichtnur für den Betrieb von nuklearen Anlagen, sondern ins-besondere auch für die Entsorgung der radioaktiven Ab-fälle . Hier laufen derzeit zwei Prozesse, die mich hoffenlassen, dass das Jahr 2016 als das Jahr in die Geschichts-bücher eingehen wird, in dem die noch offenen Fragender Finanzierung des Kernenergieausstiegs auf der einenSeite und der Standortsuche auf der anderen Seite gelöstwurden .Die Kommission zur Überprüfung der Finanzierungdes Kernenergieausstiegs hat in dieser Woche erste Er-gebnisse zur Finanzierung der Endlagersuche vorgestellt,die man durchaus als historisch bezeichnen kann . Ichdanke allen Beteiligten und gratuliere zu dem Ergebnis,das eben genau dem Verursacherprinzip entspricht unddeutlich macht, dass wir natürlich einen Risikoaufschlagauf all die Rückstellungen, die jetzt schon gebildet wor-den sind, nehmen .
Es ist jetzt an der Endlagerkommission, den letztengroßen Meilenstein zu bewältigen . Ich bin durchaus op-timistisch, dass wir das schaffen werden . Wir tagen nunseit zwei Jahren in intensiven Gesprächen und haben aufeinem guten Weg des Vertrauens zusammengefunden .Der Grundkonsens, der uns alle einigt, war: Wir wolleneinen Neustart der Endlagersuche auf Basis der weißenLandkarte . Das bedeutet für die CDU/CSU-Fraktion,dass alle Standorte gleichbehandelt werden . Gorlebenmuss sich wie jeder andere Standort auch an den wis-senschaftlichen Kriterien messen lassen und kann nichtaufgrund von politischen Vorfestlegungen vorsorglichaus dem Verfahren genommen werden . Damit würdenwir genau die Kritik bestätigen, die im Vorhinein anGorleben geübt wurde . Wir können nicht alle Bundeslän-der für ein Verfahren der Endlagersuche öffnen und eineinziges Bundesland ausschließen . Das entspricht nichtdem Prinzip der weißen Landkarte . Das ist mit der CDU/CSU-Fraktion nicht zu machen .Vielen Dank .
Die Kollegin Kotting-Uhl erhält nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Ministerin,auch die Fraktion der Grünen gratuliert Ihnen natürlich .Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben heute als Ko-alition einen Antrag vorgelegt, der viele richtige Forde-rungen enthält, die wir weitgehend teilen, die allerdingsbei weitem nicht ausreichend sind, um dem Gedenken anTschernobyl und Fukushima auch nur im Ansatz gerechtzu werden . Deswegen werden wir uns heute enthalten .Sie fordern in diesem Antrag unter anderem eine eu-ropäische Erinnerungskultur an die Katastrophe vonTschernobyl . Ich muss sagen: Diese Erinnerungskulturwürde ich mir manchmal auch hier im Hohen Haus wün-schen .
Wenn ich Ihre Reden höre, Herr Kanitz, muss ich beialler sonstigen Wertschätzung, die wir uns durchaus ge-genseitig manchmal ausdrücken, sagen: Sie werfen unsbeständig vor, wir würden Ängste schüren und Panik ma-chen, aber Sie reden Risiken herunter . Das machen Sie,und das ist deutlich unangemessener .
In dem Antrag wird auch ein Lob für Japan ausgespro-chen in der Hinsicht, Japan habe alles richtig gemachtund umgehend reagiert . Ich muss sagen: Nein, das stimmtnicht . Ich habe mit Menschen der früheren Stadtverwal-tungen der toten Städte in der 9-Kilometer-Zone geredet .Sie haben mir erzählt, wie es danach war . Sie haben mirgesagt, dass Informationen nicht gegeben wurden, dassdie Menschen nicht wussten, was zu tun war, dass Kata-strophenpläne nicht funktionierten und es bis zu einemJahr dauerte, bis Orte, die 4 oder 5 Kilometer neben denhavarierten Reaktoren lagen, evakuiert waren . Ich willaber auf Japan gar nicht schimpfen . Ich will ehrlich sa-gen – deswegen ärgert mich auch dieses Herunterredendes Risikos so –: Jedes Land auf dieser Welt wäre bei derBewältigung eines GAUs überfordert, jedes Land .
Das Lob für unser eigenes Land kann ich auch nichtuneingeschränkt teilen . Ja, wir haben im europäischenund vor allem im weltweiten Vergleich hohe und gute Si-cherheitsstandards . Aber was ist zum Beispiel in Gund-remmingen mit der mangelhaften Nachkühlversorgung?Steffen Kanitz
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Was ist in Gundremmingen mit der mangelhaften Aus-legung der Erdbebensicherheit gerade dieser Nachkühl-systeme? Was ist mit der Häufigkeit der Precursor-Zwi-schenfälle? Was ist mit der bayerischen Atomaufsicht,die all das herunterspielt, die das genauso herunterredet,Herr Kanitz, wie Sie in Ihren Reden die Risiken herunter-reden? Was ist damit?
Was ist bezüglich der Vortäuschung von Untersuchun-gen im Hinblick auf die Instrumente, die man braucht,um die Sicherheit zu überprüfen? Ja, das wird jetzt aufge-klärt . Und: Ja, es ist nichts passiert . Aber zu Betrügereienund Schlampereien wie in Fessenheim, die zum Ausfallvon Sicherheitseinrichtungen führen, darf es nicht kom-men . Sie, Herr Kanitz, sagen: Es ist doch nichts pas-siert . – Auch die französische Atomaufsicht sagt: Es istdoch nichts passiert . – Das ist aber kein Anlass, zu sagen:Es ist alles gut . – Es geht doch nicht darum, wie es aus-geht, sondern um die Frage: Was hätte passieren können?
Die Quintessenz ist: Weder die Technik noch derMensch können bei Atomkraftwerken für hundertpro-zentige Sicherheit garantieren . Die Folgeauswirkungender Technologie Atomkraft sind, wenn etwas passiert, zumassiv und zu gravierend, als dass man die damit einher-gehenden Sicherheitsdefizite, die Mensch und Techniknotwendigerweise mit sich bringen, akzeptieren kann .
Ich komme noch auf zwei Punkte zu sprechen; vielmehr Zeit bleibt mir leider nicht . Zunächst zur For-schung . Wie ich gesehen habe, wird Herr Lengsfeld neunMinuten darüber reden .
Er wird vermutlich wieder loben, wie toll das alles istund wie notwendig internationale Forschung ist .
Ich möchte Ihnen nur eines sagen: Wir steigen hier-zulande aus der Atomkraft aus, und das mit der Begrün-dung, dass das Risiko der Bevölkerung nicht mehr zu-mutbar ist; das waren die Worte von Frau Merkel, und siewaren völlig richtig .
Aber wir erforschen mit unserem öffentlichen Geld, mitSteuergeld, Technologien, deren Anwendung den Wie-dereinstieg in atomare Technologie, ja sogar in atomareGroßtechnologie bedeuten würde . Bei der Transmutationgeht es um Stichworte wie Brüdertechnologie, Wieder-aufarbeitungsanlagen und, und, und . Solche Technologi-en erforschen wir, wie gesagt, mit unserem Geld, um siein anderen Ländern anwenden zu lassen .Gerade wird darüber entschieden, ob einer Empfeh-lung des Rates zugestimmt wird, in der steht: Wir wol-len die Ausweitung der europäischen und der deutschenNuklearindustrie in noch unerschlossene Märkte unter-stützen . – Das heißt, wir unterstützen mit unserem öffent-lichen Geld die Anwendung und Einführung einer sol-chen Technologie in Ländern, die heute vielleicht nochgar nichts damit zu tun haben, also die Anwendung einerTechnologie, von der wir aus gutem Grund alle mitei-nander gesagt haben: Das damit verbundene Risiko istunserer Bevölkerung nicht mehr zumutbar .
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,ist nicht glaubwürdig .
Das Wort erhält nun der Kollege Oliver Kaczmarek
für die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möch-te mit einem Lob an den Bundestag beginnen, weil ichglaube, es ist aller Ehren wert, dass der Deutsche Bun-destag heute zu einer guten Debattenzeit an die Katastro-phen von Tschernobyl und Fukushima erinnert . Ich weiß,das findet in den betroffenen Ländern viel Beachtung. Eswird als ein Zeichen deutscher Solidarität empfunden .Deswegen: Es ist gut, dass wir diese Debatte heute zudieser Zeit führen .
Ich möchte einen etwas anderen Akzent setzen und,wie auch die Ministerin, an die Betroffenen erinnern – andie, die schwer erkrankt sind oder deren Familienange-hörige teilweise schon verstorben sind – und den Blickvor allen Dingen auf diejenigen richten, die sich heuteum die Betroffenen kümmern: auf diejenigen, die Hilfs-transporte oder Ärztefortbildungen auf dem Land orga-nisieren, die mithelfen, Krankenhäuser zu ertüchtigen,um beispielsweise Schilddrüsenkrebserkrankungen zubekämpfen, und diejenigen, die Erholungsaufenthalte fürbislang mehr als 1 Million Kinder aus den betroffenenRegionen in Europa organisiert haben .Tschernobyl war vor 30 Jahren die größte Technikka-tastrophe in Europa; das ist klar . Aber Tschernobyl warauch die Geburtsstunde der bis dahin größten Solidari-tätsbewegung Europas . Deswegen ist diese Debatte auchSylvia Kotting-Uhl
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 201616572
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der richtige Ort, um für die Solidarität und das Engage-ment im Rahmen der Tschernobyl-Hilfe Danke zu sagen .
In diesen Wochen wird im Gedenken an Tschernobylund Fukushima Solidarität in Europa gelebt . Allein imRahmen der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zu-kunft nach Tschernobyl und Fukushima“ finden in mehrals 200 Städten in 13 Ländern Europas Veranstaltungenstatt . Die Schirmherrschaft hat dankenswerterweise wie-der der Präsident des Europäischen Parlaments, MartinSchulz, übernommen, der vorvergangene Woche, glaubeich, 200 Helfer von Tschernobyl-Initiativen auf Einla-dung von Rebecca Harms im Europäischen Parlament inBrüssel begrüßt hat .Ich glaube, die Botschaft dieser Tschernobyl-Hilfe,dieser Solidaritätsbewegung, die sich hoffentlich auchauf die Betreuung der Opfer und Betroffenen von Fuku-shima weiter ausdehnen wird, ist eine Botschaft, die weitüber die Solidaritätsbekundung allein hinausgeht; denndiese Aktivitäten symbolisieren in diesen Tagen: Europavergisst Tschernobyl und damit die Betroffenen in Bela-rus, in der Ukraine und in Teilen Russlands nicht .Europa scheint im Moment auf der Suche nach einergemeinsamen politischen Idee zu sein . Die betroffeneRegion ist eine, die von vielen politischen Widersprüchenbetroffen ist . Es gibt Krieg in der Ukraine, wirtschaftli-che Schwierigkeiten in Belarus und Einschränkungen derMeinungsfreiheit in Russland .All diese Dinge zeigen: Die Zivilgesellschaft tritt fürein Europa ein, in dem man füreinander einsteht, das dieOpfer nicht vergisst und das eine Zukunft ohne Atom-kraft hat . Deswegen ist diese Botschaft weit darüber hi-nausgehend eine Ermutigung der Zivilgesellschaft an uns,an die Politik, für ein besseres Europa und für ein Europaohne Atomkraft einzutreten . Das sollten wir beherzigen .Herzlichen Dank .
Eva Bulling-Schröter ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Ministerin, auch von meiner Seite herzli-chen Glückwunsch zum Geburtstag .1986, wenige Wochen nach der Reaktorkatastrophevon Tschernobyl, hat der damalige BundesinnenministerFriedrich Zimmermann, CSU, erklärt, die Bundesregie-rung sehe „keinen Anlass, ihre eigene Kernkraftpolitik zuüberprüfen“, das Restrisiko sei „theoretisch“ . Wie theo-retisch das war, haben wir 2011 gesehen, als in Japan,einem hochentwickelten Industrieland, ein mit Tscher-nobyl vergleichbarer Super-GAU stattfand, nämlich inFukushima .Heute ist noch einer unter uns, der vor 30 Jahren alsForschungsminister in Bonn war: Heinz Riesenhubervon der CDU, ein großer Befürworter und Förderer derAtomtechnologie in Deutschland . Das blieb er auch nachTschernobyl . Nach Fukushima ist aber auch er nachdenk-lich geworden, und in seiner letzten Rede zu Tschernobylhat er vor kurzem zu großer Einmütigkeit der Fraktionenaufgerufen und ein flammendes Plädoyer für die Ener-giewende gehalten, die in Deutschland gelingen müsse,damit das Ausland sehe, dass es sich daran ein Beispielnehmen könne . – So weit, so gut .Das ist gerade für unsere Nachbarn in Frankreich undin Großbritannien mit seinen unsäglichen Hinkley-Point-Plänen, aber auch für alle anderen Länder von großerBedeutung .
Was macht das Ausland? Das Ausland wundert sichgerade über Deutschland . Sie sagen: Ihr habt die Erneu-erbaren wie verrückt gefördert, bezahlbar gemacht unddaraus gelernt, und jetzt seid ihr dabei, sie auszubremsenund zu blockieren . Warum erntet ihr diese Früchte nicht?Die Bundesregierung ist mit dem EEG-Entwurf gera-de dabei, die Energiewende zu drosseln und den Ausbauregenerativer Energien zu beschneiden und auszubrem-sen . Sie hat dies bereits 2012 mit der Solarenergie und2014 mit der Bioenergie gemacht, die ihre Ausbauzieleseither bei weitem nicht mehr erreichen . Das müssen sieaber, wenn wir aus der Atomenergie aussteigen wollen .
Mit dem neuen EEG-Entwurf soll jetzt auch den Windan-lagen an Land das Leben schwer gemacht werden .Ich sage Ihnen: Dieser fatale Kurs ist nicht geeignet,um die Versprechen von Paris einzulösen und die Ener-giewende mit der Kraft voranzutreiben, die eigentlichgeboten wäre .
Ich schlage jetzt einmal vor, dass Herr Riesenhuber –leider ist er nicht da – in Sachen EEG aktiv wird undendlich einmal mit Volker Kauder, Herrn Bareiß undnoch einigen anderen Hardlinern aus der CDU, die esausbremsen wollen, redet und versucht, ihnen beizubrin-gen, was die Stunde geschlagen hat .
– Lesen Sie doch einmal Ihre eigenen Briefe, und lachenSie nicht so!
Jetzt komme ich zu Tschernobyl . Man geht heute voncirca 100 000 bis 1,3 Millionen Toten aus . Die Schätzun-gen sind unterschiedlich . Allein 20 000 der 600 000 Li-Oliver Kaczmarek
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quidatoren starben infolge des GAUs . Jetzt können wirüber Totgeburten, Säuglingssterblichkeit und Leukämiereden; das wissen Sie alles . Aber heute sind weltweit im-mer noch zehn Reaktoren nach Bauart von Tschernobylin Betrieb . Das ist doch der große Skandal . Die Folgenvon Tschernobyl sind spürbar .
In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Fleischvon Wildschweinen in Bayern zu sprechen kommen . Ei-nige Jäger sitzen ja hier .
Die zulässigen Grenzwerte im Fleisch werden teilweiseum mehr als das 16-Fache überschritten . Im Fleisch desWildschweins werden bis zu 10 000 Becquerel gemes-sen . Euer Verbraucherministerium verschweigt das na-türlich . Das darf in Bayern wieder niemand wissen . Dashalte ich für einen Skandal .
Ein Computervirus im Atomkraftwerk jedoch wird ge-rade von Ihrer Partei, die sonst immer gegen Verbrecherund Terroristen vorgehen will, relativiert .
Frau Kollegin .
Das aber soll man am besten verschweigen .
Also, denkt daran: Ihr müsst noch viel tun .
Frau Kollegin .
Wir sagen: Atomkraftwerke müssen sofort und schnell
abgeschaltet werden . Dann wird vieles besser .
Das Wort erhält nun der Kollege Florian Oßner für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Frau Kollegin Bulling-Schröter, ichbedanke mich zu Beginn meiner Rede ganz herzlich:Derartige Lobeshymnen auf CSU-Politiker seitens derLinken und auch von Ihnen ist man tatsächlich gar nichtgewohnt . Noch einmal besten Dank dafür .
Das Datum 26 . April 1986, welches sich in dieserWoche zum 30 . Mal gejährt hat, wird für immer unaus-löschlich mit dem Wort „Tschernobyl“ verbunden sein .Die Reaktorkatastrophe dort hat uns genauso wie das Un-glück am 11 . März 2011 in Fukushima drastisch vor Au-gen geführt, welche Risiken mit der friedlichen Nutzungder Kernenergie verbunden sind . Mein tiefes Mitgefühl –das haben auch schon meine Vorredner zum Ausdruckgebracht – gilt natürlich zuallererst den Hinterbliebenender Opfer und all jenen, die bis heute unter den Folgenleiden .Berücksichtigen sollte man hierbei aber auch die rund600 000 Menschen, die von der damaligen Sowjetuni-on als sogenannte Liquidatoren eingesetzt waren undihre Arbeit ohne einen besonderen Schutz bzw . ohneKenntnis über die enorme Strahlenbelastung, der sie aus-gesetzt waren, verrichtet haben . Der Umstand, dass dieKatastrophe ihren Ursprung in einer staatlich angewiese-nen Übung hatte, zeigt doch sehr deutlich, wie teilweisemenschenverachtend das System in der damaligen Sow-jetunion war .
Auch müssen wir uns immer wieder bewusst sein,dass über 300 000 Menschen in Tschernobyl und185 000 Menschen in Fukushima aufgrund dieser beidenschweren Unglücke ihre Heimat verloren haben . GroßeAnerkennung gilt bei dieser Debatte all den vielen Initia-tiven, Organisationen und Einzelpersonen, die sich in derFolge der beiden Unglücke für die Opfer von Tscherno-byl und Fukushima eingesetzt und engagiert haben unddie es heute noch mit viel Hingabe tun . Herzlichen Dankfür diese großartige Leistung .
Meine Heimat Niederbayern war noch Mitte des letztenJahrhunderts eine der ärmsten Regionen Deutschlands .Heute gilt sie als einer der attraktivsten Lebensräume Eu-ropas mit innovativen Arbeitsplätzen, Vollbeschäftigungund sehr hoher Lebensqualität .
In meinem Wahlkreis in der Region Landshut undKelheim bin ich vom Atomausstieg und möglichen Ri-siken durch die grenznahen Kernkraftwerke direkt be-troffen . 2022 – das hat die Frau Bundesministerin schongesagt – geht in Essenbach/Niederaichbach mit Isar 2 dasletzte KKW in Deutschland vom Netz . Die KraftwerkeIsar 1 und Isar 2 haben in den letzten Jahrzehnten einenmaßgeblichen Beitrag zur Versorgungssicherheit in ganzEva Bulling-Schröter
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Süddeutschland geleistet und damit auch für die starkeEntwicklung unserer Heimat .Deswegen ist es mir wichtig und ein persönliches An-liegen, im Rahmen dieser Debatte die Gelegenheit zunutzen, den vielen Beschäftigten in den deutschen Kern-kraftwerken für ihre gute und zuverlässige Arbeit für un-sere Sicherheit ein großes Lob auszusprechen . Ohne die-ses Engagement hätten wir das große Vertrauen in dieseTechnologie nicht erreicht .
Meine Damen und Herren, wie wir heute wissen,kam es aufgrund eines unzulässigen Experiments mitdem Turbinen-Generator-Satz der Kraftwerksanlagezu dem Unfall in Tschernobyl . Durch eine ganze Reihevon Bedienungsfehlern der unzureichend ausgebildetenBetriebsmannschaft – das ging bis hin zur vorsätzlichenÜberbrückung von Abschaltsignalen – kam es zu einemsehr starken Leistungsanstieg bis zum Hundertfachender Nennleistung . Erschwerend kamen natürlich nochdie ungünstigen reaktorphysikalischen und sicherheits-technischen Eigenschaften des RBMK-Reaktors, dessogenannten Tschernobyl-Typs, hinzu . Ein solcher Re-aktor wäre hierzulande nie genehmigt worden; denn dieSicherheitsphilosophie und -standards der ehemaligenSowjetunion entsprachen bei weitem nicht den schon da-mals sehr strengen deutschen Anforderungen .
Ähnliches gilt auch für den Reaktorunfall in Fuku-shima . Die unzureichende Auslegung der Anlagen ge-gen Tsunamis war hier die wesentliche Ursache für dieEreignisabläufe . Auch in Bezug auf den Fall Fukushimamuss klargestellt werden, dass ein derartiger Unfall inDeutschland kaum vorstellbar und faktisch unmöglichist; denn der Restrisikobereich ist hierzulande bereits beider Bemessung der Auslegungswerte für Kernkraftwerkegegen Einwirkungen von außen und auch bei der Geneh-migung von Anfang an klar vorgegeben: Alle Anlagensind so ausgelegt, dass sie mindestens dem 100 000stenjährlichen Erdbeben und dem 10 000sten jährlichenHochwasser – bemessen am statistischen Mittel für diejeweilige geografische Lage – standhalten.Zum Unfallablauf hat aber auch die zum Beispiel ge-genüber deutschen Kernkraftwerken geringere sicher-heitstechnische Ausstattung der japanischen Anlagenbeigetragen . So hätte zum Beispiel eine für deutscheKernkraftwerke typische Sicherheitsauslegung – dabeigeht es um Wasserstoffrekombinatoren und Systeme zurgefilterten Druckentlastung – einen Unfallablauf wie inFukushima verhindern können .
Herr Kollege Oßner, es gibt zahlreiche Wünsche, Ihre
Rede mit zusätzlichen Fragen anzureichern .
Diesen Wünschen werden wir natürlich gerecht .
Gut, aber natürlich nicht unlimitiert . Zwei würde ich
einmal zulassen, und die rufe ich vielleicht einmal der
Reihe nach auf . – Frau Kotting-Uhl, fangen Sie bitte an .
Herr Oßner, danke, dass Sie die Frage zulassen . – Sie
bezieht sich auf die von Ihnen gerade konstatierte Aus-
legung gegen Erdbeben, die bei uns in Deutschland ge-
nüge . Bei uns könne ein Erdbeben also nicht zu einem
Schadensfall führen . Ich frage Sie, ob Sie wissen, dass
die japanischen Atomkraftwerke sehr viel besser als die
deutschen gegen Erdbeben ausgelegt sind . Das ist aus ei-
nem ganz einfachen Grund so: In Japan hat man schon
immer – anders als bei uns – mit Erdbeben gerechnet, die
höher auf der Erdbebenskala angesiedelt sind . Die Atom-
kraftwerke sind dort zum Teil gegen Erdbeben der Stär-
ke 8 auf der Richterskala ausgelegt – weit weg von dem,
mit dem man bei uns rechnet und wogegen die Kraftwer-
ke bei uns ausgelegt werden .
Haben Sie – das ist meine Frage – versäumt, zu reali-
sieren, dass die Lehre aus Fukushima nicht die ist: „Hütet
euch weltweit vor hohen Tsunamis und vor Erdbeben der
Stärke 9 auf der Richterskala“, sondern dass sie lautet:
„Erkennt, dass ihr Naturgewalten nicht richtig einschät-
zen könnt und dass die sich auch verändern“?
Sehr geehrte Frau Kollegin Kotting-Uhl, erst einmalvielen Dank für die Frage . – Ich muss noch einmal einesklarstellen: Auch japanische Ingenieure sind im Nach-gang zu Fukushima gerade auch bei uns im Wahlkreis –im Atomkraftwerk Isar 2 – zu Besuch gewesen, um sichzu informieren, welche Sicherheitsvorkehrungen wir imRahmen unserer Sicherheitsabläufe – dabei ging es umsieben bis neun Stufen – getroffen haben . Ich wäre inmeiner Rede ohnehin in Kürze darauf eingegangen . Dasheißt, diese Frage passte gut .Ich denke, selbstverständlich kann man sich nicht ge-gen alle Risiken weltweit schützen .
Der größtmögliche Schutz ist aber, wie ich vorhin schongesagt habe, gegeben – wir sprechen hier über das100 000ste jährliche Erdbeben; das überlasse ich aberden Experten und Statistikern –, wenn man, wie im ge-schilderten Fall geschehen, die Risiken minimiert bzw .verschiedene hintereinander geschaltete Sicherheitsstu-fen implementiert . Wenn das der Fall ist, dann, denke ich,kann man von einem bestmöglichen Schutz in Bezug aufdie Kraftwerke sprechen .
Wie gesagt, auch die Japaner haben sich sehr eng mit unsüber die Sicherheitsvorkehrungen ausgetauscht .
Florian Oßner
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Darf jetzt die Kollegin Scheer die zweite Frage stel-
len? – Bitte .
Meine Frage geht in eine ähnliche Richtung . Ich bin,
ehrlich gesagt, etwas irritiert, wenn in einer Gedenkde-
batte – als solche kann man, denke ich, die heutige De-
batte ansehen – mit Blick darauf, was dieses Gedenken
an den schrecklichen Unfall vor 30 Jahren zwingender-
weise auch für unsere zukünftige energiewirtschaftliche
Positionierung bedeuten muss, ein entscheidender Rede-
anteil eines Koalitionspartners darauf gerichtet ist, die
Beherrschbarkeit von Atomtechnologie und den Einzel-
fallcharakter vergangener Unfälle zu suggerieren .
Daher frage ich mich, ob unser Koalitionspartner an sich
Restrisiken negiert .
Meinen Sie tatsächlich, dass die Atomtechnologie keine
Restrisiken beinhaltet?
Das frage ich mich, ehrlich gesagt, bei Ihren Ausführun-
gen, und es würde mich interessieren, ob Sie etwas dazu
zu sagen haben .
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich tue mich tatsächlich
ein Stück weit schwer, in Ihrem Redebeitrag eine Frage
zu erkennen .
Das ist auch gar nicht erforderlich, verehrter Herr Kol-
lege, weil die Möglichkeit der Wortmeldung diese Res-
triktion schon lange nicht mehr vorsieht .
Aber ich gehe natürlich sehr gerne darauf ein .Ich denke, der gesamte erste Teil hat sich einzig undallein darauf beschränkt, der Opfer – ich habe die Zahlengenannt; womöglich ist es Ihnen entgangen – und auchaller Helfer und all derer zu gedenken, die heute nochunter den Folgen leiden . Ich denke, das ist ein ganz ent-scheidender Punkt . Aus diesem Grund habe ich das auchangesprochen . In dieser Hinsicht sind wir absolut einerMeinung . Es ist sehr, sehr wichtig, dass man auch dieRisiken im Blick behält und diese, so gut es geht, be-herrschbar macht .
Die Einrichtungen zur Auslegung der Wasserstoffre-kombinatoren, von denen ich vorhin gesprochen habe,wurden bereits ab dem Jahr 1979 nach dem Three-Mile-Island-Störfall in Harrisburg, Pennsylvania, in unsereKernkraftwerke eingebaut . Das war natürlich ein wichti-ger Schritt für die Risikominimierung . Wären diese auchin Fukushima implementiert gewesen, hätte man das eineoder andere sicherlich besser in den Griff bekommenkönnen .Nicht umsonst haben sich nach dem Unfall in Fuku-shima – jetzt komme ich auf Ihre Frage zurück, FrauKotting-Uhl – die japanischen Kraftwerksbetreiber inden deutschen Kernkraftwerken – auch bei mir im Wahl-kreis – diese Systeme zeigen lassen . Anschließend wur-den die abgeschalteten Anlagen entsprechend nachgerüs-tet, was ich sehr beachtenswert finde. Dies sagt meinesErachtens sehr viel über das große Vertrauen weltweit indie hohen Sicherheitsstandards in Deutschland aus .Deshalb, meine lieben Linken und Grünen: Hören Siebitte auf, diese vorbildlichen Sicherheitsstandards stän-dig schlechtzureden und in der Bevölkerung Angst zuschüren! Auch damit macht man keine vernünftige Zu-kunftspolitik .
Trotz der hier herrschenden sehr hohen Sicherheits-standards ist der schrittweise und verkraftbare Ausstiegaus der Kernenergie – jetzt kommt etwas, das Ihnen si-cherlich sehr gut gefällt – die richtige Konsequenz . Die-sen Weg gilt es auch konsequent weiterzugehen . Dafürbedarf es eines weiteren Ausbaus der erneuerbaren Ener-gien .
Eine Schlüsselrolle werden aber auch innovative Spei-chertechnologien, zum Beispiel die Speicherung durchdie Wasserstofftechnik, einnehmen .Meine Damen und Herren, wie wir in unserem Antragabschließend festgestellt haben, stehen wir auch weiter-hin vor großen Herausforderungen, die es anzupackengilt . So wollen wir unter anderem die Fusions- und Nu-klearforschung in Deutschland zukünftig auf Sicherheits-und Entsorgungsforschung – ich betone: auf Sicherheits-forschung – fokussieren und damit zum Kompetenzerhaltin Deutschland beitragen .
Auch um schlussendlich ein Endlager für hochradi-oaktive, wärmeentwickelnde Abfallstoffe zu finden, be-darf es des aktuellsten und neuesten Standes in Wissen-schaft und Forschung . In dieser Frage sind wir uns auchin der Endlagerkommission einig .
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Vielen Dank an das Bundesumweltministerium mitder Bundesumweltministerin Barbara Hendricks an derSpitze für die Unterstützung . Auch vonseiten der CSUherzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!Des Weiteren wollen wir den Ausbau der erneuerbarenEnergien nicht nur in Deutschland, sondern auch durchKooperationen mit anderen Staaten weltweit vorantrei-ben . Dies gilt auch für unsere erworbenen Kenntnisse imBereich der nuklearen Sicherheit sowie bei der Entsor-gungsfrage . Dies ist aus meiner Sicht eine einmalige wirt-schaftspolitische Chance, unseren Kompetenzvorsprungin Deutschland zu nutzen . Aus diesem Grund bitte ich umZustimmung für den Antrag der Koalitionsfraktionen .Herzliches „Vergelts Gott“ fürs Zuhören .
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Oliver Krischer das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollegen Kanitz und Oßner, Sie haben in Ihren Reden
Risiken verharmlost und die Errungenschaften der Atom-
kraft hochgelobt .
Am 30 . Jahrestag von Tschernobyl habe ich fast das Ge-
fühl, dass nun noch eine Forderung nach Laufzeitverlän-
gerung kommt . Sie sind noch immer nicht im Nachatom-
kraftzeitalter angekommen .
Wer hier solche Reden hält, hat die Lehren aus Tscher-
nobyl und Fukushima nicht verstanden; aber das gehört
dazu .
Man muss gar nicht weit schauen und nur an die West-
grenze unserer Republik, nach Belgien gehen . Genau
zum Jahrestag von Tschernobyl hat die Regierung von
Belgien angekündigt, dass sie nun flächendeckend Jodta-
bletten verteilen lässt . Die Regierung von Belgien weiß
offensichtlich, warum sie das tut . Dort werden nämlich
Atomkraftwerke betrieben, deren Weiterbetrieb unver-
antwortlich ist . Diese Atomkraftwerke gehören genauso
abgeschaltet wie die Atomkraftwerke in Cattenom, Fes-
senheim, Beznau und Temelin .
Ich finde es richtig, dass die Städteregion Aachen mit
Unterstützung Dutzender Kommunen aus Deutschland,
Luxemburg und den Niederlanden sowie mit Unterstüt-
zung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen nun
gegen Belgien klagt . Da wird Neuland beschritten .
Frau Hendricks, bei aller gebotenen Zurückhaltung an-
lässlich Ihres Geburtstags finde ich, dass bei Ihrem En-
gagement gegen die grenznahen AKW-Standorte noch
Luft nach oben ist . Ich würde mich freuen, wenn die
Bundesregierung die Klage der Städteregion Aachen un-
terstützen würde . Das wäre das richtige Zeichen .
Wir müssen mit unseren Nachbarstaaten darüber re-
den, wie wir unsere Energiewende auch in diesen Staa-
ten umgesetzt bekommen . Es ist doch verrückt, dass
wir in den Niederlanden, in Belgien und Deutschland
massenweise Gaskraftwerke haben, deren Kapazitäten
nicht genutzt werden und die stillstehen, und gleichzeitig
Schrottreaktoren, die Risse aufweisen und deren Betrieb
auch nach Einschätzung der Bundesregierung unver-
antwortlich ist, weiterbetreiben . Es wäre doch Aufgabe
dieser Bundesregierung, in den Nachbarstaaten nach
Lösungen zu suchen, wie zumindest diese Schrottreakto-
ren abgeschaltet werden können . Da vernehme ich aber
nichts .
Das Problem dieser Bundesregierung ist, dass sie
AKWs in Deutschland abschalten – auch wenn man
manchmal bei ihren Reden daran zweifeln kann –, aber
den Atomausstieg nicht ins Ausland tragen will . Da gibt
es in Ihrem Antrag einen verräterischen Satz .
Er lautet, Deutschland könnte für die Energiewende im
Ausland werben . Nein, meine Damen und Herren von
der Großen Koalition, Deutschland muss für die Energie-
wende im Ausland werben .
Das ist die notwendige Konsequenz aus 30 Jahren
Tschernobyl und fünf Jahren Fukushima . Nur wenn Sie
das tun, ist das, was Sie hier machen, auch authentisch .
Ich danke Ihnen .
Das Wort erhält nun Marco Bülow für die SPD-Frak-
tion .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Ministerin, auch von mir herzlichen Glück-wunsch und viel Kraft für die weiteren Herausforderun-gen .Florian Oßner
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Wir sprechen heute über den 26 . April vor 30 Jahren,als ein Atomkraftwerk in die Luft geflogen ist und wirerst Tage später mitbekommen haben, was passiert ist .Ich war damals Schüler . Ich habe mich gefragt: Warummacht man so etwas? Warum sind die Erwachsenen sodumm, eine Technologie einzusetzen, die ihre Kindermaßlos gefährdet? Gibt es eigentlich keine Alternativen?Seit 30 Jahren treibt mich dieses Thema um . Auch nach30 Jahren haben wir es noch nicht geschafft, weltweitoder zumindest europaweit aus dieser Technologie aus-zusteigen .Vor fünf Jahren geschah das Gleiche in Fukushima .Meine Tochter war gerade geboren . So wird mich dasThema wahrscheinlich auch die nächsten Jahre immernoch umtreiben, und es wird dafür sorgen, dass ich michweiter dafür engagiere, dass nicht nur wir in Deutschlandaussteigen, sondern dass wir auch europaweit und welt-weit aus dieser Technologie aussteigen . Erst dann gibtes die wirkliche Sicherheit vor Atomenergie . Das solltenuns die Jahrestage lehren .
30 Jahre später stehen wir hier und debattieren . Wirhaben in Deutschland den Ausstieg beschlossen . Wir ha-ben heute einen Antrag vorgelegt, der, denke ich, deutlichmacht, dass die Mehrheit des Hauses für den Ausstieg ist .Aber auch ich muss zugeben: Herr Oßner, Ihre Rede hatmich nicht gerade ermutigt, dass wir weiter vorankom-men . Ich glaube nicht, dass in der Union komplett alle esso sehen, dass dieser Ausstieg richtig ist .Trotzdem bedanke ich mich, gerade bei Steffen Kanitz,für die sachorientierte Zusammenarbeit . Ich glaube, wirsind ein Stück weitergekommen, auch wenn wir natür-lich nicht in allen Dingen einig sind . Darum muss weiterhier gerungen werden . Das werden wir von unserer Seiteauch tun .
Es haben einige gewürdigt – der Würdigung möch-te ich mich anschließen –, dass es viele Organisationengibt, die sich dafür engagieren, nach Tschernobyl derOpfer nicht nur zu gedenken, sondern den Opfern vorallen Dingen zu helfen . Aber es ist ein bisschen so wiemit der Tafel: Eigentlich müsste man Armut und Hungerabschaffen, gerade in einem reichen Land wie Deutsch-land, und nicht Armenspeisungen durchführen . Deswe-gen möchte ich, dass sich irgendwann erübrigt, dass denOpfern einer Katastrophe geholfen werden muss; ichmöchte, dass neue Katastrophen gar nicht erst entstehen .
Eine dieser Hilfsorganisationen betreibt ein Projektmit dem schönen Namen Nadeshda; das heißt Hoff-nung . Genau sie sollten wir versprühen . Wir brauchendiese Hoffnung, und dazu brauchen wir den Umstieg .Wir brauchen die Energiewende, und dazu brauchen wirden Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien inDeutschland, dann aber auch europaweit, damit wir dieseHoffnung in die ganze Welt tragen können .
30 Jahre nach Tschernobyl und 5 Jahre nach Fukushi-ma haben wir folgende Situation: Viele denken, in Fuku-shima sei jetzt alles in Ordnung . Aber an den Jahrestagenerfährt man, dass nicht alles in Ordnung ist . So wurdeam Mittwoch bei der großen Veranstaltung der SPDdeutlich gemacht, dass immer noch jeden Tag 400 Ton-nen radioaktives Wasser austreten, die nicht aufgehal-ten werden können . Jeden Tag 400 Tonnen! Es werdenBarrieren aufgebaut, es werden Eismauern gebaut, undes werden Brunnen gebaut . Man sieht daran, dass auchein Hochtechnologieland wie Japan nach fünf Jahren dieSituation immer noch nicht in den Griff bekommt .Daran sieht man: Erstens . Menschliches Versagen istimmer möglich . Zweitens . Auch technisches Versagen istimmer möglich . Wir sind nicht in der Lage, die großenKatastrophen in den Griff zu bekommen . Das zeigt doch,dass diese Risikotechnologie keine Zukunft hat und wirdarauf verzichten müssen, weil wir sie nicht beherrschenkönnen, und zwar nirgendwo auf der Welt, auch nicht inDeutschland .
30 Jahre später sieht man, dass die Atomkraftwerke anden Grenzen Deutschlands Pannenreaktoren sind . Mansieht, dass die Aufsichtsbehörde in Belgien stark in derKritik ist . Diese Kritik geht nicht von linken „Spinnern“oder Leuten, die das schon immer gesagt haben, aus;nein, insgesamt gibt es eine heftige Diskussion in Belgi-en über die Aufsichtsbehörde, in der sich die Mitgliederselbst nicht grün sind, in der es riesigen Streit gibt undder man nicht trauen kann, dass sie genau das offenlegt,was offengelegt werden muss .
Wir dürfen uns nicht einmischen, aber wir dürfenimmer wieder darauf hinwirken – das ist sogar unserePflicht; deshalb danke ich unserer Ministerin –, dass un-sere Nachbarländer erkennen, was unsere Sorgen sind .Wir müssen dafür sorgen, dass wir in Europa einen ande-ren Weg gehen .
Ich muss dazu sagen: Es ist wichtig, dass wir immerwieder darauf dringen . So lese ich in einer aktuellenEU-Parlamentsvorlage – das steht dort wortwörtlich –:Neue Kernkraftwerke sind die entscheidende Quelle fürdie Grundlast auch in Zukunft . – Wenn ich so einen Satzlese, dann sage ich: Die Ministerin hat recht, dass sie derAntiatomkraftbewegung für ihr Engagement gedankthat . Wir brauchen diese Bewegung und die Gegner derAtomkraft aber auch in Zukunft, damit wir verhindern,dass Europa die Atomkraft weiter ausbaut .
Marco Bülow
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Wir müssen endlich aus der Atomenergie aussteigen .Das muss das Ziel sein, und dafür werden meine Fraktionund ich weiter kämpfen .
Philipp Lengsfeld ist der letzte Redner zu diesem
Tagesordnungspunkt . Er spricht für die Fraktion CDU/
CSU .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte meineRede zu diesem Thema mit einem Bekenntnis starten:Ich war tatsächlich schon immer gegen die Atomkraft .Zugegeben, meine Motivation als Jugendlicher war si-cherlich auch ein Stück weit politisch geprägt; denn ichbin in Ostberlin eher SED-kritisch aufgewachsen, und inden Jahren vor dem Mauerfall waren die Genossen vonder SED noch nicht die stringenten Atomkraftgegner, alsdie sie sich heute darstellen .
Aber da bis auf die Grünen alle Fraktionen hier im Hauseine Lernkurve durchgemacht haben, will ich da wederzu streng noch zu einseitig sein .Ich habe meine Haltung auch im Studium der Physik,während der Promotion oder in späteren Lebensabschnit-ten nicht grundlegend geändert . Dies hat natürlich auchsehr gute Gründe . Sie sind hier genannt worden . Ich wie-derhole sie: Die Atomkraft hat das Sicherheitsproblem –gar keine Frage –, wie unter anderem die Katastrophenvon Tschernobyl und Fukushima unterstrichen haben .Die Atomkraft hat das Problem der Lagerung der langle-bigen Abfälle; auch das ist erwähnt worden . Jedes Pro-blem ist für sich sehr gravierend . In der Kombination istdie Technik tatsächlich unattraktiv und nicht mehr zeit-gemäß . Das gilt für die Kernfusion übrigens nicht .Aber ich möchte hier trotzdem für mehr Augenmaßin der deutschen Debatte werben . Dazu muss ich nocheinmal einige Gedanken auf die beiden schon erwähntenKatastrophen verwenden . Natürlich muss bei einer Erin-nerung immer auch eine Analyse erfolgen .Starten wir mit Tschernobyl, der Reaktorkatastrophein der Sowjetunion . Hier erscheint mir die momentanedeutsche Erinnerung größtenteils doch recht einseitig;denn diese Katastrophe hat nicht nur die Probleme derAtomkraft verdeutlicht, sondern in genauso krasser Wei-se die Schwächen und Unmenschlichkeiten des sowjet-kommunistischen Systems aufgedeckt . Auch darauskann man etwas lernen .
Der Sowjetkommunismus hat immer seine Wissen-schaftlichkeit betont . Der gesamte Ostblock wurde durchIngenieure und durch eine ingenieursgeprägte Weltsichtdominiert . Die Natur war etwas – das kann man zum Bei-spiel in einem der schlechteren Brecht-Gedichte nachle-sen –, was sich der neue Sowjetmensch untertan macht .Die Atomkraft war die fast perfekte Energieform für die-se Art Weltsicht . Aber diese Überheblichkeit gepaart mitHerrschaftswissen, totaler Intransparenz und einer nichtgewünschten, oft aktiv unterdrückten Verantwortungs-und Fehlerkultur führte in der Nacht zum 26 . April 1986direkt in die Katastrophe . Der Unfall von Tschernobylwar nämlich die Folge eines geplanten Testexperiments –mein Kollege hat es erwähnt – am gerade einmal dreiJahre alten Reaktor .Leider hatte diese neue Generation von sowjetischengrafitmoderierten Siedewasserreaktoren inhärente De-signschwächen, die aber ein wohlgehütetes Geheimniswaren . Diese Schwächen offenbarten sich in der Phaseder Vorbereitung des Experiments . Statt aber abzubre-chen, überbrückte das Personal mehrere Sicherheitsstre-cken, um das von oben gewünschte Experiment durch-führen zu können . Trotz zunehmender, immer ernstererWarnsignale wurde der aufwendige Test nicht etwa abge-blasen, sondern letztlich gestartet, und damit wurde derReaktor direkt in die Luft gejagt .Auch in unmittelbarer Reaktion kam es zu katastro-phalen behördlichen Fehlleistungen . Es wurde versucht,die Katastrophe in der systemüblichen Art zu vertuschen .Evakuierungen fanden zu zaghaft und viel zu spät statt .Die 1 .-Mai-Parade in Kiew fand statt trotz massiver Risi-ken und Belastungen der Bevölkerung . Die Katastrophevon Tschernobyl, ihre Vor- und Nachgeschichte sind einwesentlicher Grund, warum das Sowjetsystem wenigeJahre später zerbrochen ist .
Der Unfall von Fukushima stellt sich dagegen doch et-was anders dar . Ja, auch die Katastrophe von Fukushimahat die Schwächen der Atomkraft brutal aufgedeckt – garkeine Frage –: ein sehr unwahrscheinliches Restrisiko –aber es ist nun einmal vorhanden –, nämlich die Kombi-nation von Erdbeben und Tsunami, die nicht genügendeRedundanz der Sicherung der Kühlsysteme des sehr altenReaktors und die Grundcharakteristika der Technik .Trotzdem, Frau Kollegin Kotting-Uhl, ist die Bilanzhier eine völlig andere . Der Unfall von Fukushima warein Kollateralschaden einer gigantischen Tsunamikata-strophe – das wurde hier gar nicht in dieser Deutlichkeitgesagt –, die circa 18 000 Menschen in Japan das Le-ben gekostet hat . Und: Die japanischen Behörden habenganz anders reagiert als die sowjetischen . Vielleicht hät-te man es noch besser machen können, aber sie habenkonsequent evakuiert; sie haben konsequent Jodtablettenverteilt .
Marco Bülow
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– Ja, es ist einfach so .
Ohne Fukushima in irgendeiner Weise kleinreden zuwollen: Es muss konstatiert werden, dass zumindest nachaktuellem Kenntnisstand auch fünf Jahre nach der Kata-strophe kein Todesfall auf die Verstrahlung im Zuge desUnfalls zurückzuführen ist .Warum diskutiere ich diese Punkte so ausführlich?Weil es niemandem nützt, wenn man eine Technik ein-fach nur dämonisiert und nicht auch den zwingend not-wendigen abgewogenen und umsichtigen Umgang mitjeglicher Technik mitdenkt . Es reicht nicht, immer nurauf einer Technik herumzuhacken .
Wenn es auch mancher nicht hören will: Radioaktivi-tät ist auch ein natürlicher Prozess . Gammastrahlen sindTeil des elektromagnetischen Spektrums .
Strahlenschutz und Reaktorsicherheit genügen physika-lischen Gesetzen,
die eigentlich leicht zu verstehen sind, meine lieben Kol-leginnen und Kollegen . Wir sollten deshalb weg von Pa-nikmache
und hin zu rationalen Abwägungen .
Auf Basis von diffusen, teils völlig irrationalen deut-schen Ängsten werden wir mit anderen Nationen nichtauf Augenhöhe verhandeln können .Gehen wir in diesem Licht die im Zusammenhang mitden Jahrestagen der beiden Reaktorkatastrophen disku-tierten Themen, die hier heute immer erwähnt wurden,noch einmal durch:Starten wir mit den Reaktoren unserer Nachbarn! Inden Verhandlungen mit unseren Nachbarländern mit demvöllig berechtigten Anliegen, überalterte Reaktoren ab-zuschalten, müssten wir eigentlich nicht nur appellieren,sondern zahlen . Ich sage mal: 1 Milliarde Euro, 2 Milli-arden Euro aus der jährlichen 25-Milliarden-EEG-Um-verteilung wären sicherlich sehr hilfreich und könntenbestimmte Denkprozesse stark beschleunigen . Aber diesist momentan natürlich weder politisch noch rechtlichabzubilden . Nachdenken sollten wir darüber vielleichttrotzdem .
Auch der sehr zügige massive Ausbau von Wind- undSolarenergie in diesem Land hilft nicht – Herr Krischer,da können Sie noch so sehr den Kopf schütteln –, son-dern ist eine zusätzliche Belastung auch in diesen Ver-handlungen; denn er macht unser Netz instabiler und un-sere Abhängigkeit von den Nachbarnetzen größer .
Versorgungssicherheit ist auch ein Sicherheitsthema .Ein größerer Blackout in Deutschland oder Europa
wäre keine Unbequemlichkeit, sondern eine Katastrophegrößeren Ausmaßes . Deshalb können wir zum Beispielin den Fragen der Atomverträge nicht wie der Elefant imPorzellanladen agieren .
Zuletzt zur Forschung; Frau Kotting-Uhl, Sie wartenschon darauf . Ich bin der festen Überzeugung
– Ihnen hilft das nicht, aber vielleicht anderen im Land –,
dass auch in Zukunft eine sichere, also auch versorgungs-sichere, bezahlbare und saubere Energieversorgung auseinem Mix bestehen wird . Aber selbst wenn dem nichtso wäre, selbst wenn Sie mit Ihrem 100-Prozent-Glau-ben recht hätten: Es ist keine gute Portfoliopolitik, allesauf eine Karte zu setzen – erst recht nicht in einem For-schungsportfolio .
Deshalb: Finger weg von der Sicherheitsforschung!Finger weg von den kleinen Resten der Kernforschung!Und vor allem: Finger weg von der Fusionsforschung!Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Wir kommen nun zur Abstimmung über die vorlie-genden Anträge . Unter dem Tagesordnungspunkt 24 ageht es um die Abstimmung über den Antrag der Koa-litionsfraktionen auf Drucksache 18/8239 mit dem Titel„Tschernobyl und Fukushima mahnen – Verantwortungs-bewusster Umgang mit den Risiken der Atomkraft undweitere Unterstützung der durch die Reaktorkatastro-phen betroffenen Menschen“ . Wer stimmt für diesen An-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damitist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition gegendie Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung vonBündnis 90/Die Grünen angenommen .Dr. Philipp Lengsfeld
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Unter dem Punkt 24 b unserer Tagesordnung stimmenwir über die Beschlussempfehlung des Ausschusses fürUmwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit auf derDrucksache 18/8266 ab .Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Die Linke auf der Drucksache 18/7875 mit dem Titel„Risiko-Reaktoren abschalten – Atomausstieg in Europabeschleunigen“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-mit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen derKoalition gegen die Stimmen der Opposition angenom-men .Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf der Drucksache 18/7656 mit dem Titel „30 JahreTschernobyl, 5 Jahre Fukushima – Atomausstieg konse-quent durchsetzen“ . Wer stimmt der Beschlussempfeh-lung des Ausschusses zu? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Auch hier ist mit den gleichen Mehrheitendie Beschlussempfehlung angenommen .Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, hierauf der Drucksache 18/8266, empfiehlt der Ausschussdie Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 18/7668 mit dem Titel „Atom-kraftwerk Cattenom sofort abschalten“ . Wer stimmt die-ser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Mit der gleichen Mehrheit ist dieBeschlussempfehlung angenommen .Unter dem Zusatzpunkt 6 geht es um die Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Keine öffentli-chen Forschungsgelder für den Wiedereinstieg in atoma-re Technologien – 6 . Energieforschungsprogramm voll-ständig in Richtung Energiewende weiterentwickeln“ .Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 18/8262, den Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/5211 abzuleh-nen . Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist dieBeschlussempfehlung mit Mehrheit der Koalition gegendie Stimmen der Opposition angenommen .Schließlich wird unter Zusatzpunkt 7 interfraktionelldie Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/8242 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist einver-nehmlich, und damit ist die Überweisung so beschlossen .Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 25 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungWeiterentwicklung der Konzeption zur Er-forschung, Bewahrung, Präsentation undVermittlung der Kultur und Geschichte derDeutschen im östlichen Europa nach § 96 desBundesvertriebenengesetzesDrucksache 18/7730Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien
InnenausschussAuch hierzu soll nach einer interfraktionellen Verein-barung 60 Minuten debattiert werden .Wenn diejenigen, die daran in besonderer Weise be-teiligt sind, Platz genommen haben, eröffne ich die Aus-sprache . Ich erteile das Wort der Staatsministerin MonikaGrütters .
M
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht kennen Sie jadas schmale Büchlein Reisende auf einem Bein, das Her-ta Müller nach ihrer Flucht aus Rumänien vor 28 Jahrenveröffentlicht hat . Es ist ein Buch über das Gefühl desFremdseins fern der Heimat, über das Aufbrechenmüssenund das Nicht-ankommen-Können, über den Verlust desGleichgewichts, wenn man mit dem Standbein noch imfrüheren Leben steht . Reisende auf einem Bein waren dieHeimatvertriebenen und später auch die deutschstämmi-gen Aussiedler aus dem östlichen Europa. Die Pflege desKulturguts ihrer Herkunftsgebiete, im Bundesvertriebe-nengesetz festgeschrieben als eine gemeinsame staatli-che Aufgabe von Bund und Ländern, half ihnen dabei,am Ende dann doch mit beiden Beinen in der neuen Hei-mat anzukommen .Bis heute ist es ein wichtiges Anliegen, das reiche kul-turelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa zu be-wahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie es § 96des Bundesvertriebenengesetzes vorsieht . Die Mitteldafür kommen am Ende dann Archiven, Museen, For-schungsinstituten und mittlerweile vier Juniorprofessu-ren zugute . In meinem Etat hat die Förderung mit rund23,7 Millionen Euro im Jahr 2015 eine Höhe erreicht, dieauch monetär unsere sehr große Wertschätzung für dasgemeinsame kulturelle Erbe im östlichen Europa zumAusdruck bringt .
Nicht zuletzt angesichts der EU-Beitritte der östlichenNachbarstaaten – das ist ja eine Entwicklung, die sicherst im Verlauf der Anwendung dieses Paragrafen erge-ben hat – und der neuen Qualität der Zusammenarbeitgeht es nun darum, die Förderkonzeption aus dem Jahr2000 – so alt ist sie nämlich schon – im europäischenGeist weiterzuentwickeln . Darauf haben sich die Regie-rungsparteien auch im Koalitionsvertrag verständigt . Wirmöchten die Grundlage, die im demografischen WandelBestand hat und die getragen ist von unseren gewachse-nen Bindungen in Europa, neu formulieren .Dabei geht es erstens darum, den Erinnerungstransfervon einer Generation zur nächsten sicherzustellen . Das,was die Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur imAllgemeinen betrifft, bezieht sich auf das Thema Um-gang mit unseren östlichen Nachbarn und den Vertrie-benen der ersten Generation . Je weniger Zeitzeugen esPräsident Dr. Norbert Lammert
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gibt – auch aus diesem Bereich –, desto wichtiger wirdeine professionelle und zeitgemäße Bildungs- und Öf-fentlichkeitsarbeit .Es geht zweitens darum, neue Partner zu finden undneue Zielgruppen zu erschließen . Neben Vertriebenenund Flüchtlingen sind das mittlerweile ganz besondersdie Spätaussiedler, die eine starke gemeinschaftliche undgesellschaftliche Kraft geworden sind . Ihre Bedeutungsoll sich unter anderem in der Erforschung und Vermitt-lung ihrer Kultur und Geschichte auch in regionalen Mu-seen spiegeln .
Es geht drittens darum, europäische Kooperationenzu stärken . Sie wissen selbst um die Situation in vielenLändern des östlichen Europas . Wer mit Partnern vor Ortkooperieren möchte, muss Geld mitbringen . Deswegenwerden wir mehr Geld und Mittel in die Hand nehmenfür unsere bundesgeförderten Museen, die Vermittlungs-und Forschungseinrichtungen .Schließlich geht es viertens darum, die Chancen derDigitalisierung auch in diesem Bereich zu nutzen . Sie isthier wie überall wichtig . Wir wollen eine digitale Infra-struktur für die Wissenschaft und die Museen entwickeln .Guter Wille allein reicht natürlich nicht aus, um alldas umzusetzen, was wir uns im Zusammenhang mit derWeiterentwicklung von § 96 des Bundesvertriebenenge-setzes vorgenommen haben . Sie, liebe Kolleginnen undKollegen, haben mir bereits für das Jahr 2016 zusätzlicheMittel zur Erfüllung dieser Aufgaben, die zum Teil auchin diesen Politikbereich fallen, zur Verfügung gestellt .Dafür danke ich Ihnen, dem Hohen Haus, sehr . Doch wirbrauchen mehr als ein einmaliges Signal: Wir braucheneinen dauerhaften Aufwuchs, um den gesamten Förder-bereich zukunftsorientiert aufzustellen . Dafür setze ichmich natürlich auch in den fortlaufenden Haushaltsbera-tungen ein .
Ebenso – auch das ist mir wichtig – setze ich michfür die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ein .Am 1 . April – das war ja erst vor kurzem – hat die pro-movierte Historikerin Gundula Bavendamm ihr Amtals neue Direktorin angetreten . Ich bin mir sicher, dasssie als durchsetzungsstarke, erfahrene und erfolgreicheMuseumsmanagerin das Know-how mitbringt, um denweiteren Ausbau des für uns so wichtigen Ausstellungs-,Informations- und Dokumentationszentrums mit dernotwendigen Überzeugungskraft engagiert und zügigvoranzutreiben . Die Kollegin Lotze hat bei ihrer Vor-stellung gesagt: Die lässt sich die Butter nicht vom Brotnehmen . – Ich glaube, das ist in diesem Bereich und beidieser Aufgabe eine ganz wichtige Eigenschaft . Sie hatdas AlliiertenMuseum hervorragend geleitet . Deshalbfreue ich mich, dass wir sie für diese wichtige Aufgabegewinnen konnten .
Meine Hoffnung ist, meine Damen und Herren, dassuns die deutschen Erfahrungen mit Flucht und Vertrei-bung auch in besonderer Weise fähig machen zur Empa-thie mit Menschen, die heute hier bei uns in DeutschlandZuflucht suchen. Auch wenn man die Flucht aus Syrien,Irak oder Afghanistan heute aus vielerlei Gründen nichtdirekt mit der Vertreibung aus Ostpreußen, Schlesien undPommern vergleichen kann, so sind die Erfahrungen der„Reisenden auf einem Bein“, wie es Herta Müller aus-gedrückt hat, heute wie damals vielfach ähnlich . Geradedie Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe inMittel- und Osteuropa kann sehr wohl helfen, nicht nurdie Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, son-dern auch die Krisen und Konflikte, in deren AngesichtEuropa sich heute in der Welt bewähren muss .Es geht um Themen, die Deutschland und Europaheute mehr denn je beschäftigen: um Fragen des Zusam-menlebens unterschiedlicher Kulturen, um Fragen derwechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung . DieFörderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertrie-benengesetz ist damit aktueller denn je . Mit ihrer Wei-terentwicklung sorgen wir dafür, dass sie auch in Zu-kunft einen maßgeblichen Beitrag zum Zusammenhalt inDeutschland und in Europa leisten kann .Für Ihre Mitarbeit und Hilfe sind wir Ihnen dankbar .
Die Kollegin Sigrid Hupach hat nun für die Fraktion
Die Linke das Wort .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Gegenstand dieser um-fangreichen und zu prominenter Zeit angesetzten Debat-te ist ein dünnes Papier der Bundesregierung . Unter derÜberschrift: „Erinnerung bewahren – Brücken bauen –Zukunft gestalten“ wollen Sie die im Jahr 2000 verfassteKonzeption zur Kultur und Geschichte der Deutschenim östlichen Europa weiterentwickeln . Ich bin gespannt,womit Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen derKoalitionsfraktionen, diese Debatte füllen wollen . Mitdem unkonkreten Inhalt des vorliegenden Papiers kannIhnen das eigentlich nicht gelingen .Worin besteht der Fortschritt und worin die Weiterent-wicklung? Zunächst einmal fallen einige Unterschiedeauf . Im Titel ist nicht mehr nur von der „Erforschung“und „Präsentation“ deutscher Kultur und Geschich-te die Rede, sondern außerdem von „Bewahrung“ und„Vermittlung“ . Im Unterschied zur Konzeption aus demJahr 2000 tauchen Begriffe wie „transnational“, „multi-kulturell“, „multireligiös“ und „multiethnisch“ auf . Auchdie kulturelle Vielfalt hat Eingang in die Konzeption ge-funden . 2000 war das Stichwort „Vielfalt“ noch negativbelegt . Damals galt es nämlich – ich zitiere –, die „Viel-falt und Vielzahl vom Bund geförderter Einrichtungen“zu reduzieren und regional neu zu strukturieren .Auch findet sich in der Einleitung schon ein Verweisauf den historischen Kontext, in den Flucht und Vertrei-bung einzuordnen sind, nämlich das verbrecherischeNS-Regime mit seiner Expansions- und Vernichtungspo-Staatsministerin Monika Grütters
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litik . Und etwas nebensächlich, aber immerhin, wird beider Projektförderung auch die Erforschung und Vermitt-lung des jüdisch-deutschen Erbes im östlichen Europagenannt . Diese Änderungen waren längst überfällig .
Allerdings muss sich nun noch erweisen, dass das nichtnur Worthülsen und leere Versprechungen bleiben . Ange-sichts der unkonkreten Ausführungen sind hier Zweifelmehr als angebracht . Ich glaube nicht, dass das alles aus-reicht, um die Kulturförderung nach § 96 Bundesvertrie-benengesetz wirklich weiterzuentwickeln und sie an dieaktuellen Herausforderungen anzupassen .Sie wollen die Landsmannschaften und Organisatio-nen der Heimatvertriebenen wieder verstärkt einbinden
und erhoffen sich davon „zukunftsweisende Maßnah-men und Kooperationsoptionen“ . Im Jahr 2000 wolltenSie eine Professionalisierung gerade durch eine Zurück-nahme der Landsmannschaften erreichen . Nun sollendiese wieder gestärkt werden . Wenn man sich die letztenTweets von Erika Steinbach in Erinnerung ruft, so fragtman sich wirklich, was mit dem – ich zitiere aus der Kon-zeption – „fortdauernden Beitrag zu einer gelingendenIntegration, den der Bund der Vertriebenen … und seineLandesverbände leisten“, gemeint sein soll. Ich finde, dasist bloß noch zynisch .
Zweitens sind Zweifel angebracht, weil Sie in IhremPapier ein rosarotes Bild von Europa zeichnen, das so garnicht mit der aktuellen Situation übereinstimmt . Man darfdoch nicht die Augen davor verschließen, dass wir es inEuropa angesichts der aktuellen Flucht- und Migrations-bewegungen mit einer verheerenden Abschottungspolitikund mit einer erschreckenden, rückwärtsgewandten Re-nationalisierung zu tun haben . Der von Ihnen beschrie-bene Dialog seit 1953 hat ja offenbar gerade nicht dazugeführt, dass es gegenwärtig in Europa ein übergreifen-des Verständnis für das Schicksal und das Leid von Ge-flüchteten gibt – abgesehen natürlich vom solidarischenHandeln vieler Einzelner .
– Hören Sie doch weiter zu . – Das hat auch damit zu tun,dass Flucht und Vertreibung durch das Bundesvertriebe-nengesetz immer noch national thematisiert werden .Damit bin ich beim dritten Punkt: Das Bundesvertrie-benengesetz ist über 60 Jahre alt, atmet den Geist seinerEntstehungszeit und geht eben vom Nationalen aus, vonder deutschen Kultur und Geschichte . So zieht es sicheben auch durch die Kulturförderung nach § 96 . Bis aufden bereits erwähnten Spiegelstrich zum jüdisch-deut-schen Erbe unter dem Punkt „Projektförderung“ ist inder gesamten Konzeption an keiner Stelle von anderenOpfergruppen die Rede, insbesondere nicht von Sintiund Roma . Angesichts der europäischen Dimension vonFlucht und Vertreibung im Zuge des Zweiten Weltkriegesist das aber ein völlig überholter Ansatz .
Meine Fraktion hat sich bereits vor zehn Jahren in derEnquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ für einEnde dieser speziellen Kulturförderung ausgesprochen .Gemeint ist damit nicht eine Einkassierung der bereitge-stellten Mittel, sondern eine Eingliederung in die allge-meine Kulturförderung, sodass dieser Teil der deutschen,der europäischen Geschichte und Kultur als selbstver-ständlicher Teil der allgemeinen Arbeit der Institutionendefiniert werden kann.
Gerade auch in Osteuropa haben wir gut funktionie-rende Strukturen und Förderprogramme: vom DeutschenAkademischen Austauschdienst über die östlichen Part-nerschaften, das Institut für Auslandsbeziehungen unddie Goethe-Institute . Es gibt seitens des Bundes vieleverschiedene, aber leider parallel verlaufende Ansätze .Wäre es nicht klug gewesen, dies alles in einer wirkli-chen Weiterentwicklung zusammenzubringen?Warum haben Sie nach den Querelen um die StiftungFlucht, Vertreibung, Versöhnung und nach der Kritik ander Einführung des Vertriebenengedenktages nicht einewirklich zukunftsweisende Idee entwickelt? Erst rechtangesichts der globalen Herausforderungen durch aktuel-le Migrationsbewegungen wäre das mehr als angebrachtgewesen .
Ich bin überzeugt, dass in den aktuellen Bezügendas eigentliche Potenzial steckt, um auch bei denen, dienicht mehr zur Erlebnisgeneration gehören, Interesse ander Vergangenheit zu wecken und um Flucht und Ver-treibung in einem viel größeren, allgemeineren Kontextzu thematisieren, als das in der nationalen Nabelschau jegelingen kann .Die von Ihnen in der Konzeption genannten Heraus-forderungen für die Erinnerungskultur ohne Zeitzeugenund in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft sind kei-neswegs ein Spezifikum der Vertriebenen. Wenn Sie da-für wirklich zeitgemäße Ansätze suchen, dann empfehleich Ihnen, sich Rat bei den NS-Gedenkstätten zu holen .Diese haben sich von Orten des Gedenkens immer stär-ker hin zu zeitgeschichtlichen Museen entwickelt . NebenForschung und Bildung erfüllen sie auch weiterhin hu-manitäre Aufgaben und bemühen sich um den baulichenErhalt der authentischen Orte . Ich habe meine Zweifel,ob die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung mit demzukünftigen Deutschlandhaus eine vergleichbare zu-kunftsweisende Funktion zu erfüllen vermag .In der vorliegenden Konzeption wird der Stiftung eineRolle für den grenzüberschreitenden Austausch und Di-alog zugeschrieben . Vor acht Jahren ist die Stiftung ge-gründet worden, und im Ergebnis sind die Gräben bisherSigrid Hupach
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eher vertieft worden . Es hat gerade keine Versöhnungstattgefunden .Vor vier Wochen hat Frau Dr . Bavendamm ihr Amtals Direktorin angetreten . Jetzt sollte man ihr erst einmalZeit lassen, ihre Ideen zu entwickeln und vorzustellen .
Einige hoffnungsvolle Signale gab es bereits . Im In-terview mit Deutschlandradio Kultur hat sie einen grund-legenden Richtungswechsel in der Stiftung angekündigt .Sie hat in diesem Gespräch erneut klargestellt, dass siesich nicht als Dienstleisterin des Bundes der Vertriebenenversteht .Dennoch: Die bisherigen Querelen um die Stiftunghaben nicht nur etwas mit Personen zu tun, sondern siehatten vor allem auch strukturelle Ursachen – bedingtdurch den Stiftungsrat, der unserer Ansicht nach völligfalsch zusammengesetzt ist . In diesem hat der Bund derVertriebenen fast ein Drittel aller Sitze inne,
und aus dem parlamentarischen Raum ist die Oppositiongar nicht vertreten . Wir halten das nach wie vor für einfalsches Signal .
Wir hoffen sehr, dass es Frau Dr . Bavendamm gelingt,Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insbesondereaus Osteuropa zu finden, die die Stiftungsarbeit im Be-raterkreis begleiten . Aus diesem Grunde möchte ich zumSchluss an einen weiteren Vorschlag der Linken erin-nern, den wir damals in die Enquete-Kommission „Kul-tur in Deutschland“ eingebracht hatten: die Gründungvon multinationalen Stiftungen nämlich, in denen nebenBund und Ländern auch die osteuropäischen Staaten undauch die Opfergruppen als gleichberechtigte Partner ver-treten wären .
Diese Stiftungen könnten in multi- und bilateralen Pro-jekten das soziokulturelle Zusammenleben der deutsch-sprachigen Bewohner Osteuropas mit denen andererKultur und Sprache erforschen und im Kontext heutigerProbleme in Erinnerung halten. Ich finde, das ist auchheute, fast zehn Jahre später, noch ein bestechender undüberzeugender Vorschlag . Schade, dass Sie es nicht ge-wagt haben, eine wirkliche Neukonzipierung anzugehen,und sich leider vor den aktuellen Herausforderungenwegducken .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Jantz-Herrmann für
die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eingangs möchteich die Gelegenheit nutzen und herzliche Grüße und Ge-nesungswünsche an meine liebe Kollegin Hiltrud Lotzeaus unserem Haus übermitteln, die heute aus Krankheits-gründen leider nicht persönlich hier stehen kann .
Sie hat sich in den vergangenen Monaten unermüdlichfür das so wichtige Thema, über das wir heute reden, ein-gesetzt .
In weniger als zehn Jahren feiern wir den 300 . Ge-burtstag von Immanuel Kant . Sein Werk gehört zumSchwierigsten und Klügsten, was die Philosophie jemalshervorgebracht hat . Immanuel Kant hat auf Deutsch ge-schrieben . Er wurde in Königsberg geboren, dem heuti-gen Kaliningrad, einer Stadt, die einmal in Ostpreußenlag und heute zu Russland gehört . Immanuel Kant warDeutscher, aber in erster Linie war Immanuel Kant Eu-ropäer .Was hat Kant mit der Kulturförderung nach § 96 desBundesvertriebenengesetzes zu tun, über dessen Wei-terentwicklung wir heute hier debattieren? Nun, so wieImmanuel Kant und Königsberg sind auch andere Orteund Geschichten in den Regionen Osteuropas, in denenseit Jahrhunderten Deutsche leben, ein Erbe, mit demsich alle dort lebenden Völker auseinandersetzen, des-sen Geschichte zunehmend angenommen, erforscht undweiterentwickelt wird . Kant gehört ebenso dazu, wie erzu unserer deutschen Geschichte gehört . Indem wir diesegemeinsame Vergangenheit aufarbeiten und miteinanderdarüber diskutieren, schaffen wir etwas sehr Wertvolles,und zwar ein gemeinsames europäisches Identitätsbe-wusstsein . Indem wir diese einzigartigen Kulturland-schaften, in denen Deutsche jahrhundertelang gelebthaben, im Sinne ihrer früheren und heutigen Bewohnerbewahren, sie in Erinnerung rufen und das Erbe pflegenund weiterentwickeln, leisten wir einen wertvollen Bei-trag für Europa insgesamt .
Und das genau ist die Aufgabe des § 96 des Bundesver-triebenengesetzes .Verehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Förderungvon Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichenEuropa ist eine Erfolgsgeschichte . Für dieses Thema inte-ressieren sich nicht mehr nur die Betroffenen, die damalsgeflüchteten und vertriebenen Menschen, sondern derInteressentenkreis geht mittlerweile weit darüber hinaus .Schüler, Studierende, Wissenschaftler, auch Menschenohne einen familiären Vertriebenenhintergrund fragennach, interessieren sich genau für diese Geschichte, diewir zwar deutsch nennen, die aber vielmehr multikultu-rell, multiethnisch und multikonfessionell ist .Die derzeitige Fördergrundlage, die diese Erfolgs-geschichte mitbegründete, ist die sogenannte Konzepti-on 2000, die von der damaligen rot-grünen Bundesregie-Sigrid Hupach
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rung im Jahr 2000 verabschiedet wurde . Die Konzeptionsetzt auf Professionalisierung, Regionalisierung und dieÖffnung für eine europäische Ausrichtung der Förde-rung . All diese Ansätze haben sich durchaus bewährt .Die Mitarbeiter in den geförderten Museen und wissen-schaftlichen Instituten leisten eine hervorragende Arbeit .Gerade die wissenschaftliche Basis hat die Wege zu einervertrauensvollen Zusammenarbeit vieler unterschiedli-cher Partnereinrichtungen im östlichen Europa geebnet .Aber seit dem Jahr 2000, in dem wir die Förderkon-zeption geschrieben haben, hat sich einiges verändert .Europa hat sich verändert: 2004 sind alle drei baltischenStaaten, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien undUngarn, 2007 dann Rumänien und Bulgarien und 2013auch Kroatien der EU beigetreten . Die Kulturförderungnach § 96 findet damit innerhalb der EU statt. Die Erzäh-lung von deutscher Kultur und Geschichte im östlichenEuropa muss in diesen neuen europäischen Kontext ge-bettet werden . Deswegen haben wir uns im Koalitions-vertrag gemeinsam mit der Union darauf verständigt, dieFörderkonzeption des § 96 weiterzuentwickeln mit demZiel, die europäische Integration zu stärken .
Noch etwas hat sich in den mehr als 15 Jahren, die seit2000 vergangen sind, verändert: die Zielgruppen, die wirmit der Konzeption ansprechen . Ich erwähnte es bereits:Das Interesse an der Thematik weist schon lange überden Kreis der eigentlich Betroffenen hinaus . Das ist eingroßer Erfolg; denn überall in der geschichtlichen Aufar-beitung stehen wir vor der Herausforderung, dass die Er-lebnisgeneration schwindet . Von denjenigen, die Heimat-verlust und eine oftmals traumatische Flucht verarbeitenmussten, leben leider nur noch wenige .Es sind die Landsmannschaften, die durch ihre erfolg-reiche Arbeit, durch ihre Projekte viele Verbindungen inihre Heimatregionen pflegen und aufrechterhalten unddamit einen wichtigen Teil zum Erhalt und zur Bewah-rung der deutschen Kultur in den Ländern Osteuropasleisten .
Allein schon ihr Wissen, die Geschichten der Heimatund die Geschichte ihrer Flucht – all das muss uns imGedächtnis bleiben . Das, was mündlich erzählt werdenkann, muss lesbar werden und für die Zukunft bewahrtwerden . Wir müssen dafür Sorge tragen, dass dieser Teilunserer Geschichte in unseren Erinnerungskanon gehört,dass er gewürdigt und erinnert wird . Die geplante Dauer-ausstellung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnungwird dies als einen elementaren Teil aufgreifen .Es muss aber auch diejenigen geben, die sich für dieseGeschichte interessieren, ohne sie miterlebt zu haben . Esliegt daher in unser aller Interesse, dass sich auch Men-schen ohne Vertriebenenhintergrund für die deutscheKultur und Geschichte im östlichen Europa interessieren .
Die Kulturförderung muss auch diese Menschen, vor al-lem auch die jungen Menschen, ermuntern, unsere Ge-schichte zu erforschen, auf Spurensuche zu gehen undunsere Verbindungen ins östliche Europa zu stärken .Für uns ist die jetzt vorliegende Weiterentwicklungdes § 96 Bundesvertriebenengesetz tragbar, jedoch nichtunbedingt überzeugend . Die Förderkonzeption hält anden Grundzügen der gewachsenen Förderstruktur fest .Weiterhin werden sechs Museen und vier Forschungs-einrichtungen institutionell gefördert; gleichzeitig hat dieWeiterentwicklung der Förderkonzeption den Anspruch,zukunftsweisende Maßnahmen und Kooperationsoptio-nen zu entwickeln .Aber statt den Fokus zu weiten, verengt die vorliegen-de Konzeption den Blick dabei stark auf die Rolle derLandsmannschaften und den Bund der Vertriebenen . Umes nochmals deutlich zu sagen und nicht missverstandenzu werden: Die Perspektive der Vertriebenen und ihrerNachkommen bleibt weiterhin von zentraler Bedeutung .Aber unser Ziel sollte doch auch sein, das Interesse vonMenschen ohne persönlichen Vertriebenenhintergrundaufzunehmen .Es ist ein Versäumnis der vorliegenden Konzeption,dass gerade bei der Ansprache der jüngeren Generationnur das Interesse bei den Nachkommen der Erlebnisge-neration von Flucht, Vertreibung und Aussiedlung gese-hen wird und dass explizit in der Förderkonzeption nurdie Jugendorganisationen der Landsmannschaften alsjunge Interessengruppen genannt werden .
Verständlich ist der Blick zurück . Das Vergangene istzu vergewissern, aber bei der Weiterentwicklung der För-derkonzeption sollte die Zukunft im Vordergrund stehen .
Die Zielausrichtung sollte auch in Richtung Europa ge-hen . Eine richtungs- und zukunftsweisende Konzeptionmit den Worten zu beginnen: „Unter großen Opfern ha-ben bis zu 14 Millionen Deutsche als Vertriebene undFlüchtlinge ihre Heimat verlassen .“, wie im Entwurf desHauses BKM zunächst vorgeschlagen, lenkt den Blick indie Vergangenheit .Wir als SPD-Bundestagsfraktion begrüßen daher aus-drücklich, dass unsere Anmerkung aufgenommen wurde,den Grund für eine Weiterentwicklung, nämlich die ver-stärkte europäische Integration, an den Anfang zu stellenund damit das richtige Signal auszusenden .
Damit wird keinesfalls das große Leid negiert, dasinsbesondere die deutschen Vertriebenen und Flüchtlin-ge gegen und nach Ende des Zweiten Weltkriegs tragenmussten .Neben der leider starken Fokussierung auf eine be-stimmte Interessengruppe beinhaltet das Papier aber be-sonders in den Fördergrundsätzen gute Punkte, wie wirfinden. So muss die Erforschung und Vermittlung desChristina Jantz-Herrmann
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jüdisch-deutschen Erbes im östlichen Europa in die För-derkonzeption aufgenommen werden – ein längst fälligerSchritt .Auch zeitgemäße mediale Vermittlungs- und Arbeits-formen – ich nenne dabei das Stichwort „Social Media“ –sind nun Kriterien der Förderung . Wichtig für die SPDist, dass die exzellente wissenschaftliche Basis mit derWeiterentwicklung bestehen bleibt und weiter ausgebautwird . Genau das ist hierbei der Fall .Es wäre aber auch möglich gewesen, das große Po-tenzial, das in der Kulturförderung nach § 96 Bundes-vertriebenengesetz steckt, mit einer Weiterentwicklungnoch stärker auszuschöpfen, die breite Öffentlichkeit an-zusprechen und dieses interessante Themenfeld für vieleInteressierte, ob nun mit oder ohne Vertriebenenhinter-grund, zu stärken . Das Interesse ist da .Bei der handwerklich guten Förderkonzeption – –
Frau Kollegin, Sie müssen allmählich – –
Das mache ich gerne . Ich bin beim letzten Satz, Herr
Präsident .
Das tut mir leid . Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich
das andächtig abgewartet .
Bei der handwerklich guten Förderkonzeption hätten
wir uns mehr Mut seitens der BKM gewünscht .
Vielen Dank, meine Damen und Herren .
Die Kollegin Schauws erhält nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! In den letzten Monaten und Wochen haben wirviel über das Thema Flucht gesprochen und in diesemZusammenhang auch über den Stand der europäischenIntegration – gerade gestern im Plenum aufgrund unse-res grünen Antrags zum Flüchtlingsschutz und zur fairenVerantwortungsteilung in einer geeinten EuropäischenUnion .Die Flüchtlingsfrage droht die EU zu spalten . Rechts-populisten und -extremisten befinden sich fast überall aufdem Vormarsch, und die Frage, für welche gemeinsamenWerte die Europäische Union derzeit zusammensteht,wird heftig diskutiert .In diesem Kontext sprechen wir heute erneut über dieFörderung der Kulturarbeit nach § 96 Bundesvertriebe-nengesetz und seine zukünftige Weiterentwicklung . Eswäre eine gute Chance, um in der Praxis ein altes Gesetzneu aufzustellen . Sie als Bundesregierung hätten jetztdie Chance, eine moderne und zukunftsgewandte Bun-desvertriebenenarbeit zu konzipieren . Leider ist davonaber hier wenig zu spüren . Im Vorwort ist zunächst dieRede davon, Erinnerung zu bewahren, Brücken zu bau-en und Zukunft zu gestalten – hehre und wichtige Ziele .Aber wenn man dann einmal genauer schaut, wie Sie dasausfüllen, sieht man, dass es in der Neukonzeption leiderwenig Konkretes und leider noch weniger Zukunftsge-wandtes gibt .Ich fange einmal mit dem ersten Ziel an: Erinnerungbewahren . Es ist natürlich und selbstverständlich, an dasmillionenfache Leid und Schicksal von 12 MillionenVertriebenen hierzulande zu erinnern . Flucht, Gewalt undAusgrenzung und der tägliche Kampf ums Überleben, alldas gehört zu den Erfahrungen vieler deutscher Familien .Ihre Geschichten sind natürlich Teil der deutschen Erin-nerungskultur . Aber wir können nicht über ihr Schicksalsprechen, ohne dabei den historischen Kontext zu thema-tisieren, den Kontext von nationalsozialistischem Terror,Krieg und Befreiung . Dieser wichtige Grundsatz ist aberleider bei der Gründung der Stiftung Flucht, Vertreibung,Versöhnung lange verleugnet worden .
Man hatte leider den Eindruck, als solle hier vor allemein sichtbares Zeichen für die Opferrolle der Deutschenentstehen . Wir Grüne haben das immer kritisiert .
Seit März gibt es nun mit Gundula Bavendamm end-lich eine neue Direktorin nach vielen Jahren der Skan-dale, Rücktritte sowie heftiger Kritik aus dem Ausland .Es besteht nun auch nach Aussage der Bundesregierungfür zentrale erinnerungspolitische Vorhaben ein kleinerHoffnungsschimmer auf eine Besserung . Damit dieserHoffnungsschimmer nicht gleich wieder erlischt, brauchtes jetzt die schon lange angemahnte Neuzusammenset-zung des Stiftungsrates; die Kollegin hat es eben ange-sprochen .
Alle Gruppen, die von Flucht und Vertreibung betroffensind, sollten hier vertreten sein, also auch der ZentralratDeutscher Sinti und Roma und Vertreterinnen und Ver-treter von Migranten- und Flüchtlingsorganisationen .Dieser Schritt ist längst überfällig .
Dieser Schritt ist auch ein wichtiges Signal ins Aus-land . Denn ohne ernstgemeinte Veränderungen werdenkeine internationalen Mitglieder für den wissenschaftli-chen Beraterkreis zu gewinnen sein . Zu groß ist inzwi-schen das Misstrauen gegenüber der Stiftung und auchChristina Jantz-Herrmann
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gegenüber dem Handeln der Bundesregierung . Hier mussverlorengegangenes Vertrauen wiederhergestellt werden .Darum: Werden Sie hier endlich tätig!
Nicht zuletzt braucht die Stiftung vor allem einenernstgemeinten inhaltlichen Neuanfang . An die Ge-schichte der deutschen Vertriebenen kann nur im euro-päischen Kontext und in Bezug auf aktuelle Flucht undVertreibung angemessen erinnert werden . Vielverspre-chend klingt daher zunächst das Ziel, Brücken bauen zuwollen und die europäische Integration zu fördern . Aberim Schlusswort tauchen plötzlich Begriffe wie eigenekulturelle Selbstvergewisserung auf, und es ist vom „An-deren“ die Rede .Interkulturelle Zusammenarbeit und Förderung dereuropäischen Integration sieht meiner Meinung nachanders aus . Es kann bei so einer Institution doch nichtdarum gehen, dass die Deutschen zu sich selber finden,sondern darum, dass die Europäerinnen und Europäer zu-einanderfinden.
Wer wirklich einen Beitrag zur europäischen Integra-tion leisten will, muss verstärkt Kooperationen fördernund Austausch auf Augenhöhe ermöglichen . Da passiertaus meiner Sicht viel zu wenig . Er muss auch darauf auf-merksam machen, dass Europa sich schon immer durchMigration und kulturelle Vielfalt ausgezeichnet hat . Dasgilt auch für Osteuropa . Hier kann und sollte die Arbeitim Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes verstärktanknüpfen .
Ich möchte damit zum letzten Ziel der Neukonzeptionübergehen: Zukunft gestalten . Gerade jetzt, wo fast über-all in Europa Ressentiments gegenüber Migrantinnenund Migranten und Geflüchteten zunehmen und Rechts-populisten und -extremisten auf dem Vormarsch sind, istdas eine umso wichtigere Aufgabe . Hier sollte unsererAnsicht nach gemeinsam mit den Partnern in Osteuro-pa durch die Auseinandersetzung über die Ursachenund Folgen des Nationalsozialismus für gesellschaftli-che Ausgrenzung und Vertreibung sensibilisiert werden .Das kann letztlich auch dazu beitragen, das Bewusstseinfür aktuelle rechtsextreme Hetze und antidemokratischeEntwicklungen zu schärfen . Das heißt mit Blick auf dasBundesvertriebenengesetz, auch Vorschläge zu machen,wie vor allem junge Menschen zukünftig besser einbe-zogen und erreicht werden können . Hier bleiben Sie alsBundesregierung Antworten schuldig .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Tat-sache, dass in den letzten Monaten HunderttausendeMenschen neu bei uns in Deutschland angekommen sind,und angesichts der Tatsache, dass unsere Gesellschaftschon längst, spätestens seit der sogenannten Gastarbei-terzeit, vielfältiger geworden ist, stellt sich mir mit Blickauf unsere aktuelle Erinnerungspolitik in Deutschlandnicht nur die Frage, wie wir in Zusammenarbeit mit denöstlichen Partnerinnen und Partnern zu einem interkultu-rellen Erinnern kommen, sondern auch, was eine zuneh-mend vielfältiger werdende Gesellschaft für unsere offi-zielle Erinnerungskultur in Deutschland bedeutet . DennMigrantinnen und Migranten sowie Geflüchtete, die nachDeutschland kommen, bringen ihre eigenen Erfahrungenund Geschichten mit . Damit steht die bisherige Erinne-rungskultur in Deutschland vor der längst überfälligenAufgabe, aus den verschiedenen Perspektiven und Er-zählungen endlich gemeinsame Leitbilder und Geschich-ten des Erinnerns zu entwickeln .
In der öffentlichen Debatte spielen die individuellenErinnerungen und Geschichten von Migrantinnen undMigranten nach wie vor kaum eine Rolle . Die Schoah istund bleibt der zentrale Bezugspunkt der Erinnerungskul-tur in Deutschland . Hier, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, sehe ich wichtige Aufgaben und Herausforderungenfür die aktuelle und zukünftige Erinnerungspolitik . Diesegilt es jetzt anzugehen .Vielen Dank .
Das Wort erhält Christoph Bergner für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wer sich mit der Entwick-lung und Geschichte des Bundesvertriebenengesetzesbeschäftigt, wird mitbekommen, dass diese Geschichte,die über 60 Jahre umfasst, durch ständige Modernisie-rungen, Novellierungen und Anpassungen an veränderteVerhältnisse gekennzeichnet ist . Ich erinnere an die No-vellierungen, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangszusammenhingen und zu einer Neuordnung der Aussied-leraufnahme geführt haben . Ich erinnere auch an Anpas-sungen, die im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt un-serer östlichen Nachbarn geschehen sind .Dabei hat sich das Bundesvertriebenenrecht von ei-nem Recht der unmittelbaren Kriegsfolgenbewältigungimmer mehr zu einem Recht, das Beiträge zur nach-haltigen Friedenskonsolidierung leistet, gewandelt . Dievorgelegte Weiterentwicklung der Konzeption der Be-auftragten für Kultur und Medien steht in genau diesemKontext der Entwicklung: von unmittelbarer Kriegsfol-genbewältigung zu nachhaltiger Friedenskonsolidierungim Rahmen des europäischen Einigungsprozesses .
Ulle Schauws
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Neben die Verarbeitung des Kulturbruches nach Endedes Zweiten Weltkrieges durch Flucht und Vertreibung,neben die Herausforderungen, die seinerzeit geprägt wa-ren durch die Rettung unmittelbar, akut gefährdeten Kul-turgutes und die Notwendigkeit einer empathischen Er-innerungskultur für Vertriebene, neben diese Grundsätze,die nach wie vor Bedeutung haben, tritt immer mehr derBeitrag der deutschen Kultur im östlichen Europa zu ei-nem gesamteuropäisch zu verstehenden kulturellen Erbe .Dies kommt, meine Damen und Herren, in der vorliegen-den Konzeption überzeugend zum Ausdruck .
Sie verbindet die national-kulturellen Traditionen imSinne eines gemeinsamen, nationenübergreifenden eu-ropäischen Kulturverständnisses . Nirgends ist mir dasin jüngerer Zeit so deutlich geworden wie beim Besuchdes Breslauer Oberbürgermeisters, der im Unteraus-schuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik überdie Konzepte zum Programm des Kulturhauptstadtjahresberichtete . An den Ausführungen des Oberbürgermeis-ters ist klar geworden, dass die deutschen kulturellenPrägungen seiner Stadt zu einem europäischen Marken-zeichen der Gegenwart geworden sind und wie wertvollfür ihn die Kombination aus deutscher Geschichte unddeutschen Prägungen der Vergangenheit und dem euro-päischen Verständnis der Gegenwart ist .In Erwiderung auf Frau Hupach möchte ich sagen:Wer anderes als die Deutschen selbst soll denn für diePflege des deutschen Beitrages zu einem europäischenKulturprojekt Verantwortung tragen? Niemand wird er-warten, dass wir das deutsche Kulturerbe gewissermaßenin die Hand von Polen und anderen zur Betreuung geben .Dann sollten wir uns auch darüber freuen, dass ein pol-nischer Oberbürgermeister unsere Kooperation bei dergemeinsamen europäischen Kulturpflege verlangt undfordert, und dafür bietet das Konzept sehr gute Voraus-setzungen .
Ich hoffe, dass das Konzept auch dazu beitragen kann,zukünftige Herausforderungen zu bewältigen . Ich willnur ein Beispiel herausgreifen: Die Europäische Kom-mission und das Europaparlament haben 2018 zum Eu-ropäischen Kulturerbejahr ausgerufen . Unter dem Motto„Sharing Heritage“ sollen übergreifende, eine europäi-sche Kulturidentität begründende Beispiele gesucht wer-den – insbesondere in der Bautradition . Ich bin mir si-cher, dass Zeugnisse deutscher Kulturtradition im Ostenwertvolle Beiträge dazu leisten können .Als Beispiele nenne ich die Kirchenburgen in Sieben-bürgen, den Kaschauer Dom in Kosice in der Slowakeimit seinem gotischen Turm – das östlichste gotischeBauwerk in Europa –, die Jahrhunderthalle in Breslau .Ich könnte diese Aufzählung fortführen, und ich möchteappellieren, dass auf der Basis des vorgelegten Konzep-tes eine Beteiligung am Europäischen Kulturerbejahr inErwägung gezogen wird .Aber, meine Damen und Herren, die deutsche Kul-tur und Geschichte im östlichen Europa gehen überdie Grenzen der EU hinaus . Ein Anliegen ist mir hierbesonders wichtig: Wir dürfen die Kultur der russland-deutschen Kolonisten und ihr Deportations- und Vertrei-bungsschicksal nicht vergessen .
Ich bin froh, dass sich das Museum für russlanddeut-sche Kulturgeschichte im Konzept wiederfindet, und willnur darauf hinweisen, dass sich hier Begegnungsmög-lichkeiten ergeben . Dies konnte ich gerade auch in derletzten Woche bei einem Besuch in Aserbaidschan wie-der feststellen, als ich erlebte, dass dort – und zwar vonder einheimischen Bevölkerung – Helenendorf und An-nenfeld als deutsche Gründungen – die Deutschen sind1941 deportiert worden – und die Schwabendörfer in derGegend von Tiflis gepflegt werden und man zusammendie Feierlichkeiten zum 200 . Jahrestag der Ansiedlungder Deutschen im Kaukasus in den Jahren 2017 und 2018vorbereitet, den man gemeinsam begehen will .Ich erinnere in diesem Zusammenhang an ein Wort un-seres früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher,das mir sehr wertvoll geworden ist und das ich leidernur aus dem Gedächtnis zitieren kann . Auf einem Fo-rum mit kasachischen Teilnehmern sagte Hans-DietrichGenscher: In unserer Gesellschaft sollten wir Nachbarnnicht allein darüber definieren, ob wir eine gemeinsa-me Grenze haben, und wir sollten unseren Begriff vonNachbarschaft nicht nur auf eine gemeinsame Grenzebeziehen . – Unter Verweis auf die Russlanddeutschen inKasachstan, die weitgehend Nachkommen von Depor-tierten waren, sagte er weiter: Der Umstand, dass in kasa-chischen Dörfern deutsche Familien neben kasachischenFamilien gelebt haben, macht uns zu Nachbarn im Sinneeiner kulturellen Nachbarschaft .
Damit komme ich abschließend zu einem besondereninhaltlichen Ansatz für diese Konzeption und für die Ar-beit nach dem § 96 Bundesvertriebenengesetz: Wir habendie Chance, kulturelle Nachbarschaft zu gestalten . Wirsollten nicht immer wieder alte Feindbilder pflegen, diemit Blick auf das Bundesvertriebenenrecht nie richtigwaren, und den Eindruck erwecken, Frau Schauws undFrau Hupach, als würde diese Arbeit Keile in unsere eu-ropäische Nachbarschaft treiben . Stattdessen sollten wirnach Gemeinsamkeit suchen .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort hat der Kollege Matthias Schmidt für die
SPD-Fraktion .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Lie-Dr. Christoph Bergner
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be Kolleginnen und Kollegen! Aus Erinnerung erwächstVerantwortung . Diese oft hergestellte Verknüpfung hatauch heute nicht an Bedeutung verloren . Dieser kurzeSatz hat es in sich; denn er betrifft Vergangenheit, Gegen-wart und Zukunft . Der Auftrag, der damit verbunden ist,ist vielschichtig und groß, und er entwickelt sich weiter,von Generation zu Generation .Bei der Frage nach der Erinnerung geht es um die Fra-ge der Wurzeln: Wo kommen wir her? Welche Wege sindwir gegangen? Welche Spuren – man könnte auch sagen:welchen kulturellen Fußabdruck – haben wir hinterlas-sen? Diese Fragen betreffen oft Gruppen mit gleichenoder ähnlichen Erfahrungshorizonten und sind doch zu-gleich ganz und gar individuell .Die uns vorliegende Konzeption will den Auftrag aus§ 96 Bundesvertriebenengesetz, dem sogenannten Kul-turparagrafen, fortentwickeln, Erinnerung an die „deut-sche Kultur und Geschichte im östlichen Europa“ bewah-ren, eine Geschichte, die viele Jahrhunderte zurückgeht .Millionen von Deutschen haben nach dem Zweiten Welt-krieg ihre Heimat verloren . Sie mussten sich umorientie-ren und haben Leidvolles erfahren . Das dürfen und daswollen wir auch nicht vergessen .Zugleich sind wir gefordert, diesen Auftrag zur Be-wahrung und Vermittlung von Erinnerung weiterzuent-wickeln . Europa hat sich verändert, ist größer gewordenund damit auch vielfältiger . Junge Menschen – eine wich-tige Zielgruppe, Frau Kollegin Grütters, die Sie noch er-gänzen können – suchen in diesem Europa nach Identität .Hier kann und sollte Kulturförderung einen wichtigenBeitrag dazu leisten, dass junge Menschen historischeEntwicklungen nachzeichnen können .
Sie sollen verstehen, dass Geschichte viele Blickwinkeleinnimmt und auch Leidensgeschichten in sich trägt . Werseine Wurzeln kennt, kann sich im Leben besser verwirk-lichen .Im Jahr 2000 hatte die rot-grüne Bundesregierung ei-nen wichtigen Meilenstein dafür gelegt . Die Strukturender Förderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz wur-den systematisiert und fortentwickelt . Das war gut so undhat sich bewährt . Über die Berichte der Bundesregierungerfahren wir regelmäßig, dass die Museen, Forschungs-einrichtungen, die Kulturinstitute und die vielen zivilge-sellschaftlichen Akteure eine anspruchsvolle und großar-tige Arbeit leisten . Das verdient unser aller Respekt .Nun hat sich die Große Koalition die Aufgabe gege-ben, dieses Konzept mit dem Ziel verstärkter europäi-scher Integration weiter fortzuentwickeln und damit auchweiterzudenken . Damit ist die Aufforderung verbunden,Strukturen zu hinterfragen, Prozesse zu beleuchten undVeränderungen anzupacken . Was das heißen kann, dazugehen die Meinungen auch in diesem Haus durchaus aus-einander . Vieles ist diskutabel . Bewegen müssen wir unsin jedem Fall .Lassen Sie mich dazu einen Satz im Koalitionsvertragaufgreifen, der die europäische Dimension für das Hierund Heute verdeutlicht:Die Koalitionsparteien stehen zur gesellschaftlichenwie historischen Aufarbeitung von Zwangsmigrati-on, Flucht und Vertreibung .Damit stehen wir ad hoc im Zusammenhang mit deraktuellen Flüchtlingssituation . Dr . Bergner, Sie hatten dieempathische Erinnerungskultur für die Vertriebenen ge-nannt. Ich finde, wir müssen das zur Empathie für Flücht-linge weiterentwickeln . Viele Menschen kommen zu unsund bereichern unseren Kulturschatz mit eigenen kultu-rellen Fußabdrücken . Auch sie werden sich irgendwannauf die Suche nach ihrer Identität begeben und dabeiauch Fragen an uns richten . Wir müssen und wir wollensie für die europäische Geschichte und damit auch fürunsere Geschichte sensibilisieren . Diesen Blickwinkelmüssen wir einnehmen, wenn wir den Auftrag „Erinne-rung bewahren – Brücken bauen – Zukunft gestalten“ aufbreitere Füße stellen .
Lassen Sie uns – Frau Präsidentin, ich komme zumSchluss – mutig sein, damit wir am Ende das erreichen,was Europa und auch Deutschland dringend brauchen:im Bewusstsein um das Vergangene eine gute Zukunftfür alle zu gestalten .Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort hat der Kollege Klaus Brähmig für die
CDU/ CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Werte Gäste! Als die britische Königin Eli-zabeth II . aus Anlass ihres Staatsbesuches in der Bun-desrepublik Deutschland im vergangenen Jahr auf dieengen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zu Eu-ropa einging, verdeutlichte sie dies sinnbildlich an denschottischen Wurzeln eines Mannes aus Ostpreußen, ei-nes Mannes, der, genau gesagt, aus Königsberg stamm-te und mit seinem Wirken Weltgeschichte geschriebenhat: Immanuel Kant . Die Rede der Königin macht einesdeutlich: Kein Philosoph, kein Deutscher wird mit sei-nen Werken häufiger in Reden internationaler Staats- undRegierungschefs zitiert als eben Immanuel Kant, dessenGeburtstag sich im Jahr 2024 zum 300 . Male jährt .Was will ich damit sagen? Mit der heutigen Ausspra-che würdigt der Deutsche Bundestag zum wiederholtenMale in einer Kernzeitdebatte den Kulturraum, dem derOstpreuße Immanuel Kant entstammte . Es sind dies diefrüheren Ostgebiete des Deutschen Reiches und die histo-rischen Siedlungsgebiete der Deutschen in Mittelost- undSüdosteuropa . Als Kerngebiet der deutschen Geschichteund als Heimat von Millionen Deutscher und ihrer Vor-fahren zählen diese Kulturlandschaften bis heute zumUrbestand unserer Kultur . Die bis heute dort lebendenMatthias Schmidt
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Mitglieder der deutschen Minderheit sind augenfälligesBeispiel dieser langen historischen Verbindung .Für unser Land, seine Geschichte und unser nationa-les Selbstverständnis sind diese geografischen Regionenund ihre Metropolen wie Königsberg, Breslau, Danzig,Stettin oder Thorn von zentraler Bedeutung . Es warnicht zuletzt der damalige Direktor des British Museumin London, Neil MacGregor, der in seiner internationalvielbeachteten Deutschland-Ausstellung zum Jahres-wechsel 2014/2015 auf diesen bedeutenden Sachverhalthingewiesen hat .Die von der Bundesregierung nun vorgelegte Konzep-tion zur Weiterentwicklung und Pflege der Kultur undGeschichte der Deutschen im östlichen Europa ist einrichtungsweisendes Dokument; denn sie legt ein starkesBekenntnis zur essenziellen Bedeutung dieses Kulturbe-reiches ab . So wird die Kulturförderung gemäß § 96 Bun-desvertriebenengesetz zu Recht als „Beitrag zur kulturel-len Identität Deutschlands und Europas“ gekennzeichnet .Die neue Konzeption stellt die ostdeutsche Kulturarbeitwieder in einen angemessenen historischen Rahmen underkennt die bleibende Aktualität des Themas „Flucht undVertreibung“ an . Sie würdigt den Beitrag der deutschenHeimatvertriebenen und Flüchtlinge sowohl zum Wie-deraufbau nach dem Krieg als auch zur Kulturarbeit seitüber 65 Jahren . Darüber hinaus nimmt sie die deutschenMinderheiten im Ausland anerkennend in den Blick . Re-levante Akteure des Kulturbereichs, wie beispielsweisein der jüngsten Kulturpolitischen Korrespondenz kom-mentiert, stimmen dieser Bewertung zu .Die Konzeption der Bundesregierung ist mit dem Zu-satz „Erinnerung bewahren – Brücken bauen – Zukunftgestalten“ untertitelt . In diesem Zusammenhang ist esvon größter Bedeutung, dass die Konzeption auch dieRolle und das fortbestehende grenzüberschreitende En-gagement der deutschen Heimatvertriebenen würdigt, dieunter großen Verlusten ihre Heimat verlassen mussten .Auch die heutige Relevanz des Themas in der deut-schen Gesellschaft, in der „gut jeder vierte Deutscheeinen persönlichen oder familiären Bezug zu den deut-schen Flüchtlingen und Vertriebenen sieht“, bleibt nichtunerwähnt . Aus diesem Grunde ist es richtig, von einergrundlegenden qualitativen Verbesserung zu sprechen,die der Bundesregierung mit dieser Weiterentwicklungder Förderkonzeption aus dem Jahr 2000 gelungen ist .Das klare Bekenntnis, dass der Förderauftrag des § 96Bundesvertriebenengesetz nicht mit dem Erlöschen derErlebnisgeneration endet, sondern eine zukunftsweisen-de Bedeutung entfaltet, verstärkt die positive Zielrich-tung der Konzeption .
Der Kulturbereich steht in vielen Fällen aber auch vorwichtigen Weichenstellungen. Dies gilt auch in finanzi-eller Hinsicht .Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Mitglieder derdeutschen Erlebnisgeneration von Flucht und Vertrei-bung, die sich bis in die Gegenwart in zutiefst anerken-nenswerter ehrenamtlicher Weise um das Andenken andie verlorene Heimat verdient gemacht haben, möchtenihr Engagement nun in jüngere Hände legen . Hierbeimüssen wir vonseiten der Politik die notwendige Hilfe-stellung geben . Vor allem muss unter allen Umständenvermieden werden, dass durch mangelnde Sensibilität inder Gegenwart Teile des unter schwierigsten Bedingun-gen geretteten und anschließend über mehr als 70 Jahrebewahrten ostdeutschen Kulturguts verloren gehen . Ori-ginalobjekte aus dem historischen deutschen Osten sindnicht reproduzierbar . Die heute debattierte Konzeptionerkennt diese wichtige Aufgabe an .Ein hervorragendes Beispiel dafür, wie deutsches Kul-turerbe dauerhaft für die uns nachfolgenden Generatio-nen gesichert werden kann, ist die vor wenigen Wochenvertraglich vereinbarte Überführung der Bestände desMuseums Stadt Königsberg aus Duisburg in das Ostpreu-ßische Landesmuseum Lüneburg .
Auf diese Weise werden die weltweit größte Einzel-sammlung zu Immanuel Kant und bedeutende Beständezur ebenfalls aus Königsberg stammenden Malerin undBildhauerin Käthe Kollwitz zusammenhängend erhal-ten . Mittels der Sammlung des Ostpreußischen Landes-museums und der Überlieferung zur früheren Provinz-hauptstadt Königsberg wird es künftig möglich sein, dieBestände in ihrem geschichtlichen und geografischenKontext zu präsentieren . Dies ist von allergrößter Bedeu-tung . Allein die geschichtliche Tatsache, dass ImmanuelKant seine Heimatstadt und die sie umgebende Provinzzeitlebens nie verlassen hat, macht eines deutlich: Einwirkliches Verständnis Kants ohne die Berücksichtigungder ihn umgebenden und prägenden KulturlandschaftOstpreußens muss unvollständig bleiben . Diese umfas-sende Einbettung wird künftig in Lüneburg möglich sein .Ich lade übrigens alle Kollegen herzlich ein, Ostpreußeneinmal zu besuchen . Es ist immer eine Reise wert .
Es gilt nun, den Bund und das Land Niedersachsendafür zu gewinnen, mittels einer baulichen Erweiterungdes Ostpreußischen Landesmuseums um einen drittenBauabschnitt die dafür notwendigen Rahmenbedingun-gen zu schaffen . Dies ist meines Erachtens alternativlos .Wie wenige andere Themen eignen sich die Kultur undGeschichte der Deutschen im östlichen Europa für eineintensive Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nach-barn . So sollten wir beispielsweise den 300 . Geburtstagvon Immanuel Kant im Jahre 2024 nutzen, um mittels derBrückenfunktion des nördlichen Ostpreußens den kultu-rellen Dialog mit Russland im Rahmen einer Kant-De-kade zu intensivieren . Die gemeinsame Wertschätzungdes Lebens und Wirkens Kants, aber auch der deutschenGeschichte in der heutigen Oblast Kaliningrad ist einThemenfeld von größter deutsch-russischer Überein-stimmung . Diesen glücklichen Umstand dürfen wir nichtungenutzt verstreichen lassen .Hochgeschätzte Zuhörer, lassen Sie mich abschlie-ßend etwas zur Zukunft der Stiftung Flucht, Vertrei-bung, Versöhnung sagen: Mit der Wahl von Dr . Gundula Bavendamm zur neuen Direktorin und ihrem klarenBekenntnis zur Stiftungskonzeption in ihrer heute gülti-Klaus Brähmig
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gen Form hat dieses zentrale Erinnerungsvorhaben derBundesregierung eine gute Zukunft vor sich . Indem diegeplante Dauerausstellung ihren Schwerpunkt auf dieFlucht und Vertreibung der Deutschen legen wird, wirddie Einrichtung ihrem wichtigen Auftrag gerecht . Einbedeutendes Kapitel der jüngeren deutschen Geschichtewird damit in der Hauptstadt Berlin präsent bleiben .Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Der Kollege Dietmar Nietan hat für die SPD-Fraktion
das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Angesichts dieser bitteren Vergangenheit müssenwir unsere Anstrengungen für eine bessere Zukunftvereinen . Wir müssen der Opfer gedenken und da-für sorgen, dass es die letzten waren . Jede Nationhat das selbstverständliche Recht, um sie zu trau-ern, und es ist unsere gemeinsame Verpflichtung,dafür zu sorgen, dass Erinnerung und Trauer nichtmissbraucht werden, um Europa erneut zu spalten .Deshalb darf es heute keinen Raum mehr geben fürEntschädigungsansprüche, für gegenseitige Schuld-zuweisungen und für das Aufrechnen der Verbre-chen und Verluste .Die Europäer sollten alle Fälle von Umsiedlung,Flucht und Vertreibung, die sich im 20 . Jahrhundertin Europa ereignet haben, gemeinsam neu bewertenund dokumentieren …
Wir sind überzeugt davon, dass die Ergebnisse die-ses europäischen Dialoges einen wichtigen Beitragzur Vertiefung unseres gegenseitigen Verständnissesund zur Stärkung unserer Gemeinsamkeiten als Bür-ger Europas leisten werden .So lautet die gemeinsame Erklärung von Bundesprä-sident Johannes Rau und dem polnischen Staatspräsi-denten Aleksander Kwasniewski aus dem Jahr 2003 . Ichfinde, sie ist ein guter Rahmen für das, worum es in derheutigen Diskussion und bei der Weiterentwicklung undUmsetzung des § 96 Bundesvertriebenengesetz gehenmuss .Eigentlich weht dieser Geist schon im Gesetzestext .Wenn wir ihn uns genau anschauen, stellen wir fest,dass die Arbeit zur Sicherung des Kulturguts „in demBewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des ge-samten deutschen Volkes und des Auslandes“ verrichtetwerden soll . Sie merken an dieser Aufzählung im Ge-setzestext, dass es keine Priorisierung gibt, sondern alleAspekte wichtig sind . Das ist der Punkt, über den wir dis-kutieren müssen: Wie sorgen wir dafür, dass durch Mul-tiperspektivität und Pluralität sichergestellt wird, dasswir wirklich der gesamten Dimension der Erinnerunggerecht werden, und das auf eine Weise, dass sie einenBeitrag zur Gestaltung einer besseren Zukunft leistet, dienicht, wie Aleksander Kwasniewski und Johannes Raugesagt haben, zu neuen Spaltungen und Missverständnis-sen führt? Das ist die zentrale Herausforderung .Ich will noch einmal deutlich unterstreichen, wasChristina Jantz-Herrmann gesagt hat . Es geht nicht da-rum, die Leistungen der Landsmannschaften auf irgend-eine Weise zu diskreditieren oder kleinzureden . Wenn wiraber Heraushebungen, die interpretiert werden könntenals Bevorzugung einzelner Akteure, in den Mittelpunktder Weiterentwicklung stellen, dann führt das zu Miss-verständnissen und Missperzeptionen, die nicht das Eini-gende, sondern das Trennende wieder nach oben spülen .Ich glaube, der zentrale europäische Ansatz ist das rich-tige Mittel und die richtige Antwort auf den aufkommen-den Nationalismus in Europa und die Vereinnahmung derGeschichte durch nationalistische Kräfte .Ich will an dieser Stelle sagen, dass es mich mit großerSorge erfüllt, dass zurzeit der polnische Kulturministerversucht, in die eigentlich schon fertige, mit internati-onalen Partnern entwickelte Konzeption des DanzigerMuseums für den Zweiten Weltkrieg einzugreifen, weilihm die Multiperspektivität und Internationalität des An-satzes nicht gefällt und er es gerne wieder in den Kon-text eines nationalen, polnischen Erinnerns stellen will .Wenn wir uns solchen Tendenzen entgegenstellen, sindwir am glaubwürdigsten, wenn wir keinen Zweifel daranaufkommen lassen, dass unsere Weiterentwicklung derKonzeption multiperspektivisch, gleichberechtigt undplural ist sowie immer im Geiste der Versöhnung Euro-pas zu sehen ist .
Ich will an dieser Stelle deutlich sagen, dass sich vielenoch immer engagieren, damit es in diese Richtung geht .Ich glaube, dass wir mit der neuen Direktorin GundulaBavendamm eine gute Wahl getroffen haben . Ich bin derfesten Überzeugung, dass sie ihre Arbeit sehr gut machenwird .
Lassen Sie mich noch der Kollegin Hiltrud Lotze – siekann nicht anwesend sein – und Bernd Fabritius danken,der als neuer Präsident des BdV deutlich Akzente setzt,die dazu geeignet sind, nach vorne zu schauen und zuversöhnen . Bernd, dafür einen herzlichen persönlichenDank!
Ich danke auch Markus Meckel, der nicht mehr Mitglieddes Parlaments ist . Er hat mit vielen Intellektuellen, Ge-schichtswissenschaftlern und Politikern aus Mittel- undOsteuropa an diesem gemeinsamen Zeichen gearbeitet .Ich will noch einmal an seinen Aufruf aus dem Jahr 2003erinnern, in dem es deutlich heißt:Wenn es in der Mitte Europas gelingt, in der Erar-beitung einer gemeinsamen Konzeption für ein Eu-Klaus Brähmig
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ropäisches Zentrum gegen Vertreibungen und durchseine Errichtung uns gemeinsam dieser schwierigenGeschichte zu stellen, wäre dies ein wichtiges Zei-chen der Aussöhnung und des gegenseitigen Ver-ständnisses für ganz Europa .In diesem Sinne möchte ich enden mit dem Schluss-wort des Aufrufs aus dem Jahre 2003 .
Kollege Nietan, auch wenn der Dank hier im Hause
sicherlich breit getragen wird, heißt das nicht, dass Sie
die Redezeit nun verdoppeln können .
Nein, das möchte ich nicht . Deshalb möchte ich mit
folgendem Schlusssatz enden, Frau Präsidentin:
Lasst uns diese Arbeit gemeinsamer Erinnerung be-
ginnen und so miteinander an der Zukunft bauen!
Herzlichen Dank .
Das Wort hat der Kollege Dr . Bernd Fabritius für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Bundesregierung informiert heute über dieWeiterentwicklung einer Konzeption, die nicht mehr undnicht weniger leisten muss, als den vielleicht gefährdets-ten Teil unserer Kultur zu sichern, weiterzuentwickelnund in die Zukunft zu tragen . Das ist eine Reichweite,die offenbar nicht jedem in diesem Raum bewusst ist . Ichkann es nur immer wieder deutlich betonen: Sicherungder Kultur der Deutschen aus den Siedlungsgebieten imöstlichen Europa, die Pflege der immateriellen Werte, derBräuche und Traditionen sowie des vielfältigen geistigenWirkens als Teil des gesamtdeutschen kulturellen Erbesim Sinne des § 96 ist eine gesamtgesellschaftliche Auf-gabe, die uns alle angeht und der wir in einer Verantwor-tung für kommende Generationen nachkommen müssen .
Investitionen in Kulturpflege zählen mit zu den nach-haltigsten Investitionen, die ich mir vorstellen kann . Ge-rade in dem sensiblen Bereich der Kulturpflege der deut-schen Heimatvertriebenen, einer Menschengruppe, derenErlebnisgeneration uns langsam, aber sicher verlässtund in welcher wir einen Erinnerungs- und einen Iden-titätstransfer schaffen müssen, sind Investitionen undNachhaltigkeit unerlässlich . Wir dürfen diesen Bereichnicht kaputtsparen, wie das noch unter dem Vorwandeiner Professionalisierung im Naumann’schen Konzeptangelegt war und welches wir durch diese Konzeptionendlich überwinden .Die vorliegende Weiterentwicklung setzt wiederdie richtigen Zeichen . Es geht um einen partizipativenAnsatz, der allen Aspekten einer lebendigen, zukunfts-orientierten und professionellen Kulturarbeit Rechnungträgt, und es geht nicht um Heraushebung, sondern umBeseitigung eines weitestgehenden Ausschlusses, für denes keine Gründe gab . Dafür danke ich ausdrücklich derBundesregierung und der für diesen Bereich verantwort-lichen Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die diesewichtige Weichenstellung umgesetzt hat .
Ich freue mich besonders, dass die Selbstorganisati-onen der deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedlerwieder stärker eingebunden werden und deren gute Ar-beit, die – übrigens grenzüberschreitend – ausdrücklichauch in den Herkunftsgebieten, Frau Kollegin Hupach,Anerkennung erfährt, so weiter ermöglicht wird . Denngerade sie sind wichtige Partner, wenn es um den Erhaltdieses kulturellen Schatzes geht . Wir dürfen sie mit die-ser Arbeit nicht alleine lassen . Gerade deshalb gibt es§ 96 BVFG mit einem klaren, verbindlichen gesetzgebe-rischen Auftrag .Mit der Weiterentwicklung der Konzeption werdenwieder Kulturreferenten für Regionen vorgesehen, dieaus unerklärlichen Gründen vorher abgeschafft wordenwaren . Diese sind unerlässlich . Auch die Förderung eini-ger Museen wird verbessert, was ich nur begrüßen kann .Museen machen Kultur und Geschichte für jedermanngreifbar und erfahrbar und sind so wichtige Eckpfeilerder Darstellung und Vermittlung dieser Inhalte .Eines darf man nicht verkennen: Kulturarbeit und Er-innerungstransfer sind identitätsstiftend . Und vergessenwir nicht die Kultur in den Heimatgebieten . Hier habender Zweite Weltkrieg und das folgende Unwesen derkommunistischen Herrschaft ihr Übriges geleistet . Sie-benbürgen, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde als TeilRumäniens während des Kommunismus zu einer wirt-schaftlich notleidenden Region, blieb aber unglaublichreich an Kultur, an Traditionen und an Bräuchen .Hermannstadt, die wunderbare Stadt, in der ich auf-wachsen durfte, wurde um 1147 gegründet; die ersteurkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 1191 .Dort entstand damals ein überwiegend moselfränkischbasierter Dialekt, eine Ausgleichsmundart, das Sieben-bürgisch-Sächsisch . Wer versteht denn morgen noch,wenn ich sage: „Wo Kängd uch Hangd Paluckes wer-jen, do äs menj Himet Sieweberjen“? Auf Hochdeutsch:Wo Kind und Hund Paluckes würgen, ist meine HeimatSiebenbürgen . – Siebenbürgisch-Sächsisch ist eine derältesten noch erhaltenen deutschen Siedlersprachen ausdem 12 . Jahrhundert, die heute noch von etwa 200 000überwiegend in Deutschland lebenden Personen gespro-chen wird . Es wäre schön, wenn das so bliebe . Paluckes,ein einfacher, aber umso schmackhafterer Maisbrei, stehtin der zitierten Redewendung übrigens als Metapher füreine von Wohlstand und Reichtum gelöste, unbedingteLiebe zu Heimat, zu Kultur und zu Traditionen . Diesedürfen wir nicht aufgeben .Dietmar Nietan
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Das Bewusstsein dieser Identität und die Rückkopp-lung zu den Heimatgebieten macht Heimatvertriebeneund die heute in den Heimatregionen als deutsche Min-derheit lebenden Heimatverbliebenen zu wichtigen Brü-ckenbauern im Europa des 21 . Jahrhunderts . Diese Ver-bindung gilt es zu fördern und auszubauen .Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen: Daskulturelle Erbe der deutschen Heimatvertriebenen gehörtuns allen . Es darf nicht, in Kisten verpackt, in Archivenverschwinden oder totgespart werden . Es muss lebendigbleiben und unter Einbeziehung der Kultureinrichtun-gen der Heimatvertriebenen finanziell so ausgestattetund gefördert werden, dass es im grenzüberschreitendenAustausch mit unseren Partnern in Europa gesichert undzukunftsorientiert weiterentwickelt werden kann . Mit deraktuellen Konzeption leisten wir genau das .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7730 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 289 zu Petitionen
Drucksache 18/8092
In dieser Sammelübersicht sind die Eingaben betref-
fend das Arbeitslosengeld II zusammengefasst .
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Markus Paschke für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Selten haben wir als Mitglieder des Petitionsausschusseshier im Plenum des Deutschen Bundestages die Möglich-keit, so öffentlich über an uns herangetragene Petitionenzu reden . In diesen Petitionen werden ja die Probleme derBürgerinnen und Bürger aufgegriffen .Auf Antrag der Linken reden wir heute über die Peti-tion von Frau Inge Hannemann, die für die Linken Ab-geordnete in der Bürgerschaft der Hansestadt Hamburgist . In ihrer Petition fordert sie, dass alle Sanktionen undMitwirkungspflichten abgeschafft werden. Letztendlichalso möchte Frau Hannemann eine Art bedingungslosesGrundeinkommen . Aber ich sage: Geld allein genügtnicht . Das bedingungslose Grundeinkommen löst nichtdie Probleme der Menschen . Die meisten von ihnen wol-len aus der Arbeitslosigkeit heraus und am Arbeitslebenteilhaben . Auch ich meine, dass wir die Sanktionspraxisverändern müssen . Ich sage allerdings auch deutlich,dass ich Sanktionen nicht generell abschaffen will .
Wir müssen eine Balance zwischen Fordern und För-dern schaffen, mit dem Ziel, allen Menschen, die aufUnterstützung angewiesen sind, wieder eine Teilhabe amgesellschaftlichen Leben zu ermöglichen . Dafür ist Ar-beit ein wesentlicher Faktor .
Der Schwerpunkt im SGB II muss auf dem Fördern lie-gen; dann kann man auch fordern . Erziehung gehört al-lerdings nicht zu den Zielen der Grundsicherung .
Deshalb: Wer sich mutwillig verweigert, der sollte auchsanktioniert werden .
Dabei dürfen allerdings die Kosten für Wohnung undHeizung in keinem Fall gestrichen werden;
denn das Anwenden des Sozialgesetzbuches kann unddarf nicht die Gefahr von Obdachlosigkeit heraufbe-schwören .
Ich bedauere zutiefst, dass die entsprechenden Vor-schläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe nicht aufge-griffen wurden . 15 von 16 Bundesländern hatten sich fürdiese Reform ausgesprochen . Falls jemand nicht weiß,welches Bundesland sich nicht der Auffassung der ande-ren Bundesländer angeschlossen hat:
Das war Bayern .
Da die CSU Bestandteil der Großen Koalition in Berlinist, kann man daraus schließen, woran das gescheitert ist .
Auch schärfere Sanktionen für unter 25-Jährige sind –das haben uns alle Experten in einer Anhörung gesagt –Dr. Bernd Fabritius
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schädlich . Sie führen dazu, dass sich jugendliche Arbeits-lose komplett aus unserer Gesellschaft verabschieden .Statt Kooperation erfolgt Resignation . Das ist also völligkonträr zu dem, was wir wollen . Wir dürfen keinen Ju-gendlichen verlieren oder gar verloren geben . Hamburgund mittlerweile auch viele andere Kommunen beweisenmit ihren Jugendberufsagenturen,
dass man erfolgreich ist, wenn man auf Sanktionen weit-gehend verzichtet . Vertrauen und Hilfsangebote sind alsodas Mittel der Wahl .Bei Leistungen nach dem SGB II handelt es sich auchum einen Interessenausgleich, um einen Interessenaus-gleich zwischen Leistungsempfänger und Leistungs-geber . Leistungsgeber, das sind wir alle, das ist unsereGesellschaft . Ich denke, unsere Gesellschaft hat einenAnspruch darauf, dass sich jeder im Rahmen seiner Mög-lichkeiten bemüht, diese Unterstützungsnotwendigkeitzu beenden. Aber: Wir haben auch die Pflicht, diejeni-gen, die sich bemühen, zu unterstützen, egal in welchemBereich sie Unterstützung benötigen . Weil dieser Interes-senausgleich in der Petition keine Rolle spielt, lehnen wirden Änderungsantrag der Linken heute ab .Danke schön .
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping für die Frak-
tion Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich ste-he heute hier, um für ein wichtiges Petitionsanliegen zuwerben . Es geht um Freiheit, um Sanktionsfreiheit . Kurz-um: Es geht um die Abschaffung des Hartz-IV-Sankti-onssystems, die längst überfällig ist .
Herr Paschke, wenn Sie hier Sanktionsfreiheit fälsch-licherweise gegen das Recht auf einen guten Arbeitsplatzauszuspielen versuchen, dann muss ich noch einmal ei-nes in Erinnerung rufen: Betroffen von Hartz-IV-Sank-tionen sind nicht nur Erwerbslose, die verzweifelt nacheinem Arbeitsplatz suchen, sondern auch Aufstockende .So zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter von zweikleinen Kindern, die zwar einen 30-Stunden-Arbeitsplatzhat, aber, weil der Lohn so niedrig ist, dass sie damitnicht über die Runden kommt, Anrecht auf aufstocken-de Leistungen hat . Man ahnt, wie sich eine solche Frauim Alltag abhetzen muss . Job, Kinder und dann nochdie gesamte Ämterbürokratie zu managen, das ist wahr-lich kein Pappenstiel . Dieser Frau ist einmal ein Termindurchgerutscht, weil sie auf Arbeit gefragt war,
und sie wurde sofort sanktioniert .Allein dieses Beispiel macht deutlich: So kann esnicht weitergehen .
– Das ist ein realer Fall . Er wurde ordentlich recherchiertund nachgewiesen .
Initiiert wurde diese Massenpetition von Inge Han-nemann . Inge Hannemann folgt dieser Debatte übrigenszusammen mit dem Team von sanktionsfrei .de oben aufder Tribüne . Schön, dass ihr da seid!
Inge kennt das Jobcenter von innen als Mitarbeiterin,und sie sitzt jetzt für die Linke in der Hamburger Bürger-schaft . Sie hat mir gesagt: Aus meiner jahrelangen Erfah-rung weiß ich: Jede Sanktion wirkt kontraproduktiv, weilsie die Betroffenen in die Resignation treibt .90 000 Menschen unterstützen diese Petition. Ich fin-de, allein diesen 90 000 schulden wir, dass wir das jetztnicht einfach zur Seite schieben, sondern an diesem The-ma dranbleiben,
zumal das Ziel der Sanktionsfreiheit auch von großen Or-ganisationen unterstützt wird: Diakonie, Parität, IG Me-tall . Die Diakonie begründet ihre Positionierung übrigensdamit, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaf-fen ist und man das Ebenbild Gottes nicht sanktioniert .
Solch eine christliche Nächstenliebe überzeugt selbstmich als Konfessionslose .
Ja, wir als Linke kämpfen schon lange gegen dieHartz-IV-Sanktionen, und das aus gutem Grund; denndie Angst vor diesem Sanktionssystem führt dazu, dassMenschen in Bewerbungsgesprächen familienunfreund-liche Arbeitszeiten und niedrige Löhne akzeptieren .Dieses Sanktionssystem ist also auch ein Angriff auf dieArbeitsstandards . Es abzuschaffen, ist also sowohl imInteresse von Erwerbslosen wie auch im Interesse vonBeschäftigten, die gute Arbeit wollen .
Eine Sanktion entspricht einer Kürzung von Grund-rechten . Ich bin überzeugt: Grundrechte kürzt man nicht .Markus Paschkehttps://sanktionsfrei.de
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Auch deshalb hat die Linke im Petitionsausschuss be-antragt, „die Petition der Bundesregierung zur Berück-sichtigung zu überweisen“ . Dazu muss man wissen: Dasdeutsche Petitionsrecht kennt als intensivste Form derZustimmung keine andere Formulierung als diese . DochSPD wie CDU konnten sich im Ausschuss nicht einmaldazu durchringen, die Petition zur Berücksichtigung andie Bundesregierung zu überweisen . Hier wird es dochwieder einmal offensichtlich: Sie wollen die Bundesre-gierung nicht mit den Nöten der Erwerbslosen und Auf-stocker behelligen . Ihre Ablehnung der Petition zeigt ein-mal mehr: Sie verstehen sich weniger als Vertretung derBevölkerung, Sie verstehen sich vor allem als Vollstre-ckerin der Wünsche der Bundesregierung, und das findeich höchst peinlich .
Wenn Sie sich so aufregen: Sie haben ja die Möglich-keit, mir das Gegenteil zu beweisen . Sie können beimRechtsvereinfachungsgesetz sehr wohl noch eine Ände-rung vornehmen .
Wenn Sie die besonders scharfen Sanktionen abschaffenwollen, dann setzen Sie sich doch einmal durch, dannhauen Sie mit der Faust auf den Tisch und lassen Sie sichhier nicht ständig von Bayern vorführen .
Mit der Ablehnung der Petition wird wieder einmalmehr deutlich: Ein würdevolles Leben in diesem Lan-de steht unter Vorbehalt . Wer nicht spurt, bekommt dieExistenznotpeitsche zu spüren . Das bedeutet politischesMittelalter, und ich finde, das müssen wir überwinden.
Besonders empörend ist doch Folgendes: Selbst inner-halb der strengen Gesetzeslage werden fehlerhafte Sank-tionen verhängt . Bei 36 Prozent aller Widersprüche, bei40 Prozent aller Klagen bekommt der Kläger ganz oderteilweise recht . Das heißt also, auch bei den Sanktionengilt: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt . Deshalb ist esumso wichtiger, dass es Initiativen wie sanktionsfrei .degibt . Diese Onlineplattform möchte Menschen, die vonSanktionen bedroht sind, ermuntern, sich auch juristischzu wehren . Hut ab vor eurem Engagement!
Ich verspreche zum Abschluss: Wir als Linke werdenweiterhin unermüdlich gegen das Hartz-IV-Sanktions-system kämpfen . So wie wir beim Mindestlohn nichtnachgelassen haben, so werden wir in diesem Fall auchnicht Ruhe geben, bis das Hartz-IV-Sanktionssystem ab-geschafft und durch gute Arbeit und eine sanktionsfreieMindestsicherung ersetzt ist .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
CDU/ CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen,liebe Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Fraktion Die Linke! Auf die Initiative Ih-rer Fraktion hin beraten wir heute eine Sammelübersichtvon 103 verschiedenen Petitionen hier im Plenum desBundestages . Mich hat erstaunt, dass unsere Ausschuss-vorsitzende, Frau Steinke, hier nicht reden durfte, unddass dafür mit Katja Kipping eine ausgewiesene Arbeits-marktpolitikerin gesprochen hat .
– Stellen Sie bitte eine Frage, dann habe ich mehr Zeit,Frau Kollegin .
Lassen Sie sich gesagt sein, Frau Kipping: Nicht weram lautesten schreit, hat recht . Auch wenn Sie eine For-derung hier immer wieder und, wie vorhin, sehr volumi-nös wiederholen, wird sie davon nicht richtiger .
Sie waren, Frau Kollegin Kipping, in der Zeit Vorsit-zende des Ausschusses für Arbeit und Soziales, in derdieses Problem materiell-rechtlich im Ausschuss für Ar-beit und Soziales behandelt wurde . Im letzten Jahr warenSie bereits nicht mehr Ausschussvorsitzende, da warenSie Fraktionsvorsitzende .
– Oder stellvertretende, was weiß ich . – Auf jeden Fall:Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat am 14 . Januar2015 die jetzt hier zur Debatte stehende Petition beraten .
Katja Kippinghttps://sanktionsfrei.de
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Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat am 29 . Juni2015 eine umfangreiche Ausschussanhörung durchge-führt, auch zu dieser Petition . Dieser war die sogenannteHannemann-Petition zugrunde gelegt, über die wir jetztim Rahmen des Änderungsantrags gesondert beraten . Indieser Ausschussanhörung war auch die von Ihnen zitier-te Diakonie zugegen .Wir haben also genau dieses Problem, die Frage derSinnhaftigkeit einer Abschaffung von Sanktionen imHartz-IV-Bereich, im federführenden Ausschuss einge-hend beraten . Am 23 . September 2015 hat der Ausschussfür Arbeit und Soziales abschließend über die Petitionberaten und mitgeteilt, dass dem Anliegen nicht entspro-chen werden konnte .Was Sie jetzt über den Petitionsausschuss hier versu-chen, ist, so eine Art Superrevisionsinstanz zu schaffen .Das heißt, Sie stellen das Fachwissen des Petitionsaus-schusses im Bereich Arbeit und Soziales über das, wasder Ausschuss für Arbeit und Soziales in dieser Sacheschon entschieden hat, und das kann eigentlich so nichtrichtig sein .
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, vor dem Hinter-grund der altbekannten Forderung nach Abschaffung derSanktionsmöglichkeiten bei Hartz IV haben wir im fe-derführenden Ausschuss – ich habe auf die Daten hinge-wiesen –, aber auch schon in der öffentlichen Anhörungdes Petitionsausschuss das ganze Anliegen sehr einge-hend geprüft, und wir sind mehrheitlich zu der Auffas-sung gekommen, dass das Verfahren abgeschlossen wer-den soll . Daran wird sich auch durch die heutige Debattenichts ändern .Wir haben nicht nur in dieser Wahlperiode, sondernauch in den vergangenen Wahlperioden, in denen Sie,Frau Kipping, Vorsitzende des federführenden Ausschus-ses waren, ausführlichst darüber debattiert und werdenentsprechend handeln .
Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung?
Ja, selbstverständlich, von Frau Pothmer immer gerne .
Vielen Dank . – Herr Lehrieder, Sie haben gerade die
Anhörungen zum Thema Sanktionen angesprochen . Sie
haben darauf hingewiesen, dass die Mehrheit der Sach-
verständigen sich eindeutig positioniert hat und dass Sie
dem folgen . Haben Sie auch zur Kenntnis genommen,
dass sich die absolute Mehrheit aller Sachverständigen in
jeder Anhörung zu diesem Thema dafür ausgesprochen
hat, dass die Sondersanktionen für unter 25-Jährige in je-
der Hinsicht kontraproduktiv sind?
Wären Sie bereit, diesem Votum der Sachverständigen
auch Folge zu leisten? Ansonsten muss hier auch die Fra-
ge erörtert werden: Welchen Sinn haben Anhörungen?
Liebe Frau Kollegin Pothmer, herzlichen Dank für die
Frage . Es ist natürlich so, dass in jeder Sachverständi-
genanhörung unterschiedliche Meinungen geäußert wer-
den .
Natürlich wird der Ausschuss aus der Sachverständi-
genanhörung einen Schluss ziehen müssen . Das haben
wir damals im Ausschuss für Arbeit und Soziales getan,
und zwar mit der Begründung: „Fördern und Fordern“
betrifft nicht nur die über 25-Jährigen, sondern auch die
Heranwachsenden, die Jugendlichen, die durch Sankti-
onen zum Einhalten von Terminen angehalten werden .
Ich möchte auf Ihre Einlassung, Frau Kipping, noch
eingehen . Wenn ich beim Jobcenter einen Termin unver-
schuldet versäumt habe, dann gibt es keine Sanktionen . –
Frau Kipping hat eine Frage .
Sie lassen die Frage oder Bemerkung zu?
Ja, freilich .
Bitte schön .
Herr Lehrieder, Sie haben zu Recht darauf hingewie-sen, dass es formal, laut Gesetz nicht möglich ist . Tat-sache aber ist: Der von mir zitierte Fall ist nicht ausge-dacht, sondern von einer ehemaligen Mitarbeiterin einesJobcenters geprüft worden . Selbst Ihre Bundesregierunghat bestätigt, dass ein Teil der Widersprüche recht be-kommt, dass also falsche Sanktionen verhängt werden .
Paul Lehrieder
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Das Problem ist nur: Wenn einmal jemand sanktio-niert ist, dann muss man sich erst einmal wehren . DieBearbeitung des Widerspruchs dauert eine ganze Weile .
Das Klagen dauert eine ganze Weile . Wir reden hier überLeute, die kein finanzielles Polster haben, die womöglichgar kein Geld mehr haben, um bis zum Monatsende überdie Runden zu kommen .
Vor diesem Hintergrund können Sie es sich nicht soeinfach machen und es den Mitarbeitern in den Jobcen-tern in die Schuhe schieben, dass es deren Fehler sei;denn sie stehen unter einem enormen Einsparungsdruck .Deswegen frage ich Sie: Was gedenken Sie zu tun, damites wenigstens nicht zu falschen Sanktionen kommt?
Frau Kollegin Kipping, herzlichen Dank für die Frage .Sie gibt mir die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dassauch bei Sanktionen über Lebensmittelgutscheine dasExistenzminimum immer gewahrt wird . Das heißt, wereinen Widerspruch oder eine Klage eingereicht hat – woMenschen handeln, können auch Fehler passieren; dagebe ich Ihnen recht –, wird nicht in seinem Existenz-minimum beschnitten . Statt einer Zahlung bekommt erLebensmittelgutscheine . Das ist für eine Übergangszeitzumutbar . Das System von Hartz IV „Fördern und For-dern“ ist hier nicht unlogisch .
– Bitte?
– Ich selber habe noch keine Kürzung erhalten, Frau Kol-legin Kipping .
Über die Frage der verbesserten Einlösbarkeit von Le-bensmittelgutscheinen werden wir uns sicherlich Gedan-ken machen, wenn so etwas vorkommt . Aber das Pro-blem gibt es nicht flächendeckend.Noch einmal: Es wird deswegen niemand in seinemExistenzminimum beschnitten . Es muss niemand ver-hungern . Die Skandalisierung, die Sie als Linksparteiimmer wieder zum Hartz-IV-System vortragen, hat keineGrundlage . Eine motivierte Gruppierung, die Massenpe-titionen einreicht, reicht allein nicht aus, um die Sinnhaf-tigkeit des Systems von „Fördern und Fordern“ – bleibenSie bitte stehen, Frau Kipping, ich bin noch nicht fertig –infrage zu stellen .
Das wird durch die Lautstärke und durch Wiederholenauch nicht wahrer .Meine Damen und Herren, wir haben das ThemaALG II nicht nur im Bereich Arbeit und Soziales – dort-hin gehört es fachlich – lange gemeinsam debattiert .
– Herr Ernst, eine Frage, bitte! Sie wedeln in der letztenReihe mit den Armen . Stellen Sie mir eine Frage, dannkann ich darauf eingehen . – Auch im Petitionsausschusshaben wir die Sanktionen bei der Besprechung zahlrei-cher Eingaben bereits behandelt; ich habe darauf hinge-wiesen . So wurde die Leitakte dieser Sammelübersichtbeispielsweise im Rahmen einer öffentlichen Sitzung desPetitionsausschusses beraten – auch das habe ich bereitsgesagt –, an der auch die zuständige ParlamentarischeStaatssekretärin, Frau Kollegin Lösekrug-Möller, unddamit die Bundesregierung beteiligt war; sie hat auchausführlich Stellung bezogen . Was Sie heute fordern,ist eine erneute Überweisung der Petitionen an die Bun-desregierung, die auch nicht zu einer neuen Erkenntnisführen würde, weil wir genau diese Massenpetition deröffentlichen Anhörung zugrunde gelegt hatten .Meine Damen und Herren, zudem gab es vier Stel-lungnahmen des zuständigen Ministeriums . Auch da wardie Regierung beteiligt . Betreiben Sie bitte auch hier in-soweit keine Legendenbildung . Es handelte sich um einsogenanntes Verfahren nach § 109 der Geschäftsordnungdes Bundestages . Schließlich führen wir die heutige De-batte im Deutschen Bundestag .Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, sehr geehrte FrauAusschussvorsitzende Steinke, sehr geehrte Frau Kolle-gin Kipping, auf all diesen Diskussionsebenen des parla-mentarischen Verfahrens haben Sie diesbezüglich unsereArgumente und auch die der Bundesregierung zur Kennt-nis genommen und auch Ihre Ansichten ausführlich dar-legen dürfen . Die Tatsache, dass Sie nunmehr eine Sam-melübersicht mit über 100 Petitionen im Plenum beratenmöchten, lässt bei mir den Eindruck entstehen, dass esIhnen gar nicht darum geht, den einzelnen Petenten zuhelfen . Sie benutzen vielmehr die Petenten, um hier zumwiederholten Mal die Abschaffung der Hartz-IV-Sankti-onen auf großer Bühne zu fordern, um zu skandalisieren .Ich will Ihnen eines sagen: Ich bin in den Petitionsaus-schuss des Deutschen Bundestag gegangen, weil mir dieAnliegen der kleinen Leute wichtig waren . Es kann nichtdarum gehen, dort im Nachhinein mit großem Buhei dieSchlachten zu wiederholen, die in den Fachausschüssenbereits geschlagen wurden .Liebe Frau Kollegin Kipping, missbrauchen Sie denPetitionsausschuss nicht für die Skandalisierung irgend-Katja Kipping
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welcher Vorgänge, die längst in den Fachausschüssen be-handelt worden sind .
Ich wünsche Ihnen alles Gute . Ich freue mich auf dennächsten Antrag zur Abschaffung von Sanktionen imHartz-IV-Bereich .
Es wird von Ihnen in Kürze – das ist so sicher wie dasAmen in der Kirche – wieder ein solcher Antrag kom-men . Wir werden wieder mit großer Gründlichkeit darü-ber beraten . Ob wir zu einem anderen Ergebnis kommenwerden, kann ich Ihnen nicht versprechen, Frau Kipping .Alles Gute . Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende .
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich begrüße es ausdrücklich, dass wirheute die Petition von Inge Hannemann diskutieren .
Herr Lehrieder, wir diskutieren heute eben nicht einenAntrag im Ausschuss für Arbeit und Soziales, sonderneine Petition .
Der Petitionsausschuss sollte sich endlich etwas ernsternehmen .
Die Petition von Inge Hannemann war öffentlich starkpräsent . Zuletzt hatten 91 500 Menschen die Petitionmitgezeichnet . Bei der öffentlichen Anhörung hat nichteinmal der Europasaal ausgereicht . Die Anhörung wurdezusätzlich in einen anderen Saal übertragen . Das zeigt,das Thema Sanktionen treibt viele Menschen um .Sinn und Zweck von Petitionen ist es doch, etwas überdie Stimmung in der Bevölkerung zu erfahren, eine Ein-schätzung zu erhalten, ob Gesetze ihre Ziele erreichenund welche Probleme bestehen . Mein Verständnis beisolchen herausragenden Petitionen ist: Wir sollten dieArgumente ernst nehmen und bedenken, einfach malinnehalten und den Blickwinkel etwas weiten . Damitmeine ich nicht nur uns, den Petitionsausschuss, sondernauch die Bundesregierung . Weil diese Petition stellver-tretend für viele, viele Einzelpetitionen steht, hätte sie eswahrlich verdient, dass sich die Bundesregierung damitbeschäftigt .
Die Petition zeigt: Die Sanktionen sind umstritten .Dafür gibt es durchaus bedenkenswerte Argumente . Ha-ben Erwerbslose aufgrund von Sanktionen weniger Geld,dann kann das vielfältige Folgen haben . Es besteht dieGefahr der Obdachlosigkeit, der Mangelernährung undder Entstehung von Schulden . Vor allem führen Sanktio-nen häufig zu einem Rückzug aus dem sozialen Umfeld.Gesellschaftliche Isolation macht etwas mit den Men-schen; es entstehen Selbstzweifel, Unsicherheit, Ängste .All das ist nicht förderlich für eine Integration in den Ar-beitsmarkt . Das sollten Sie endlich einmal bedenken .
Sanktionen suggerieren auch, Arbeitslosigkeit seiselbstverschuldet . Aber was sind denn die Gründe, wa-rum Menschen lange arbeitslos bleiben? Geringe Qualifi-kation, Krankheit; manche sind nur zu alt, manche habendie falsche Nationalität, manche sind alleinerziehend .Unsere Arbeitswelt ist nicht inklusiv, sondern sehr exklu-siv . Das ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftli-ches und letztendlich auch ein politisches Problem; dennes fehlt an Unterstützung, es gibt zu wenig finanzielleMittel und somit zu wenig passende Angebote . Sanktio-nen helfen da nicht weiter . Langzeitarbeitslose brauchenvielmehr Chancen und Perspektiven .
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, wir kennen IhreHaltung, aber Sie haben doch selbst in Ihrem Koaliti-onsvertrag Handlungsbedarf ausgemacht . Warum tunSie dann nichts? Ein Beispiel: Ein Großteil der Sanktio-nen erfolgt aufgrund von Meldeversäumnissen . Da sindSanktionen zu hart, und sie verändern auch nichts; daszeigen die alljährlich hohen Zahlen . Die Frage müsstedoch vielmehr sein: Wie kann das vermieden werden?Was ist da schiefgelaufen? Vor allem ist es ein extrembürokratischer Aufwand; Inge Hannemann hat es in derAnhörung sehr deutlich belegt .
Sanktionen binden viel Zeit, viele Kräfte und letztend-lich viel zu viel Geld . Zeit und Engagement brauchen wiran anderer Stelle, und zwar bei der Beratung und Unter-stützung .
– Dazu komme ich noch, liebe Kollegin .Dann geht es noch um die verschärften Sanktionen fürdie unter 25-Jährigen; es gab eben schon eine entspre-chende Frage dazu . Sie sind nicht akzeptabel, und daswar – auch ich sage es noch einmal – auch die MeinungPaul Lehrieder
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der Expertinnen und Experten bei allen öffentlichen An-hörungen .Es gibt eine Studie aus NRW zu den Sanktionen, ausder deutlich hervorgeht: Sanktionen erhöhen nicht dieMotivation . Im Gegenteil: Junge Menschen reagieren nurmit kurzfristigen Jobs . Das ist keine nachhaltige Strate-gie . Vor allem verlieren sie auch das Vertrauen in die Job-center und sind nur noch schwer erreichbar . Besondersharte Strafen sind hier der absolut falsche Weg . NehmenSie das endlich zur Kenntnis – insbesondere die Damenund Herren der CSU –, und schaffen Sie die verschärftenSanktionen für junge Menschen ab!
Notwendig wären darüber hinaus ein Wunsch- undWahlrecht, damit die Angebote wirklich passen, Om-budsstellen, um Konflikte zu vermeiden und zu lösen,und notwendig wären vor allem Hilfe und Unterstützungauf Augenhöhe . Immerhin spricht die Bundesagentur fürArbeit immer von „Kunden“, dazu braucht es eine part-nerschaftliche Zusammenarbeit .Deshalb fordern wir, liebe Katja Mast, ein Sanktions-moratorium,
bis freie, faire Regeln etabliert sind .
Denn wir wollen eine armutsfeste Grundsicherung . Wirwollen, dass bei der Integration in den Arbeitsmarkt aufUnterstützung, Motivation und Chancen gesetzt wird .
Vor allem – ganz kurz zurück zum Anfang – wünschenwir uns einen Petitionsausschuss, der offen ist für Anre-gung und Kritik; denn nur wer die Anliegen der Men-schen kennt, macht auch gute Politik .Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser
für die CDU/CSU-Fraktion .
Mehrere Beratungen in den Ausschüssen Arbeit undSoziales und Petition, mehrere Debatten hier im Plenum,öffentliche Anhörungen im Petitionsausschuss und imAusschuss Arbeit und Soziales – Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! –, und wieder einmal debat-tieren wir heute über die Abschaffung der Sanktionen imSGB II .Sozialleistungen bedarfsunabhängig und vorausset-zungslos zu leisten, das ist im deutschen Sozialrecht nichtvorgesehen . In der Sammelübersicht 289 zu Petitionen,über die wir heute debattieren, geht es um 103 Petitionen .Sie von den Linken aber greifen in Ihrem Änderungsan-trag eine von Ihnen öffentlich platzierte Petition heraus,sie beleuchten ausschließlich die Perspektive dieser ei-nen Petentin und erklären diese für allgemeingültig .
Sie scheren somit alle Anliegen der 103 Petitionen übereinen Kamm . Aber ich frage Sie: Sind die darin geschil-derten Verläufe nicht sehr unterschiedlich und auch in-dividuell?
Lassen Sie mich aus einer anderen Petition dieserSammelübersicht berichten . In einem Schreiben teilt einPetent dem Jobcenter mit, dass er seinen Termin beimÄrztlichen Dienst nicht wahrnehmen werde, da er hierfürkeinen Anlass sehe . Gleichzeitig sagt er den Termin beimÄrztlichen Dienst selbstständig ab . Ziel dieses Untersu-chungstermins war es, die Erwerbsfähigkeit des Petentenund damit seine körperliche Leistungsfähigkeit festzu-stellen . Dieser Fall zeigt eine fehlende Mitwirkung desPetenten. Der Petent ist seiner Mitwirkungspflicht nichtnachgekommen . Aber das Mitwirken des Betroffenen istdoch wichtig, um ihm in der Beratungskette des Jobcen-ters entsprechende Angebote machen zu können .
Sie wollen doch hier nicht allen Ernstes behaupten, liebeKolleginnen und Kollegen, dass es sich bei der Mitwir-kungspflicht um eine Form von Gängelung von Men-schen im SGB-II-Bereich handelt .
Vielmehr ist es eine notwendige Maßnahme, um gemein-sam miteinander arbeiten zu können .
Auch diese Schilderung des Sachverhalts entspricht derRealität . Sie entspricht vereinzelt dem Alltag von Job-centermitarbeitern .Zur Realität gehört auch – das sollten wir einmal zurKenntnis nehmen –, dass das Bundesverfassungsgerichtsowohl 2010 als auch 2012 festgestellt hat, dass Sankti-onen weder gegen das Recht auf Gewährleistung einesmenschenwürdigen Existenzminimums noch gegen dasRecht auf körperliche Unversehrtheit verstoßen . Die Par-lamentarische Staatssekretärin Lösekrug-Möller hat diesbei der öffentlichen Anhörung im Petitionsausschuss zudiesem Thema noch einmal betont .Zur Wahrheit gehört auch – das wurde heute Morgenschon angesprochen –, dass beim SGB II das Fördernund Fordern im Vordergrund steht und nicht das Sank-tionieren .
Beate Müller-Gemmeke
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16599
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Sanktionen stehen erst am Ende einer langen Beratungs-kette .
Unser Sozialgesetz erwartet Mitwirkung, indem Ter-mine wahrgenommen und persönliche Unterlagen einge-reicht werden,
ebenso dass auf Angebote zur Weiterbildung reagiertwird und Vorschläge zur Beschäftigung angenommenwerden . Das ist eine Frage der Gerechtigkeit geradedenjenigen Menschen gegenüber, die diesen Sozialstaatdurch ihre Erwerbstätigkeit erst ermöglichen .
Beratungsangebote, Hilfen und Unterstützung könnennur in wechselseitigen Beziehungen erfolgreich sein,und die Mitarbeiter in den Jobcentern engagieren sichgroßartig . Unsere Aufgabe in der Politik ist es, Rahmen-bedingungen zu schaffen, damit erfolgreiche Arbeitsver-mittlung stattfinden kann. Wir sind dabei, Rechtsverein-fachungen und Änderungen im SGB II vorzunehmen .Den Grundsatz unserer Sozialgesetzbücher, die Mitwir-kungspflicht, werden wir nicht aufgeben. Von daher istdie Abschaffung von Sanktionen für uns kein Thema .
Das Wort hat der Kollege Udo Schiefner für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Frau Kipping, ich muss hier einmal ganz deutlich sagen:
Wer dem Mindestlohn nicht zustimmt, darf meiner Mei-
nung nach nicht mit Belehrungen oder Vorwürfen in die-
ser Debatte kommen .
Ihr Beitrag zielte mehr auf Effekthascherei ab als auf eine
sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema . Auch das
muss man an dieser Stelle deutlich sagen .
Ich möchte für meine Fraktion noch einmal betonen:
Erstens .
Kollege Schiefner, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Birkwald?
Bitte .
Herr Kollege, haben Sie herzlichen Dank, dass Sie dieZwischenfrage zulassen .Der gesetzliche Mindestlohn ist nicht eine Erfindungder SPD .
Der gesetzliche Mindestlohn wurde das erste Mal vonunserer Vorvorvorgängerpartei, der PDS, in den Deut-schen Bundestag eingebracht .
Als Zweite hat die Gewerkschaft NGG einen gesetzli-chen Mindestlohn gefordert .Drittens . Ich erinnere mich an eine Parteiveranstaltungder SPD auf Bundesebene, auf der die heutige Bundes-ministerin für Arbeit und Soziales als Juso-Vorsitzendeeinen gesetzlichen Mindestlohn forderte .
Die flammende Gegenrede dazu stammte von FranzMüntefering . Daraufhin hat sich die SPD gegen einenMindestlohn ausgesprochen .
Viertens . Es gab x-mal Antworten aus dem Bereichder Sozialdemokraten, dass ein gesetzlicher MindestlohnUnsinn sei und dass das nur die Tarifpartner klären könn-ten .
Nur aufgrund des Druckes der PDS, der Linkspartei, derWASG und der Linken gibt es überhaupt in diesem Landeinen gesetzlichen Mindestlohn .
Als Letztes möchte ich Ihnen sagen: Die Linke hatdiesem Mindestlohn nicht zustimmen können, weil ermit 8,50 Euro viel zu niedrig ist .
Heute braucht man 11,68 Euro, um nach 45 Jahren harterArbeit eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu ha-ben .
Wir Linken wollen einen Mindestlohn ohne alle Ausnah-men . Bitte: Was sagen Sie dazu?
Christel Voßbeck-Kayser
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Lieber Kollege, was ich dazu sagen würde, wärewahrscheinlich ein den Nachmittag füllendes Programm .Aber eines möchte ich doch feststellen: Ich möchte hiernicht die historische Debatte führen .
Letztlich ist entscheidend, was am Ende herauskam .
Das sind dank der Sozialdemokratie 8,50 Euro .
Wäre man Ihrem Weg gefolgt, hätte man gar nichts . Ichsage ganz deutlich: 8,50 Euro sind in der Tat wirklicheine untere Grenze . Daran werden wir noch arbeiten .Aber wir waren diejenigen, die den Mindestlohn letztlichdurchgesetzt haben . Auch das sollten Sie zur Kenntnisnehmen .
Auch den zweiten Punkt dazu möchte ich ansprechen .Dass Sie die NGG erwähnt haben, macht mich stolz alsNGG-Mitglied – damit Sie das auch einmal wissen .
Auch ich habe dort für den Mindestlohn gekämpft .
– Das spielt doch keine Rolle . Am Ende haben wir denMindestlohn . Wir haben ihn dank der SPD .
– Da können Sie noch so laut dazwischenrufen . Ihre ge-schichtliche Abhandlung war sehr interessant, aber amEnde ist entscheidend, was herauskommt, und das sind8,50 Euro .
Meine Damen und Herren, um es deutlich zu ma-chen – Kollege Paschke hat es auch schon auf den Punktgebracht –: Ja, wir müssen die Praxis der Sanktionenbeim Arbeitslosengeld II prüfen . Werden die Regelungenrichtig angewandt? Werden sie auch richtig umgesetzt?So viel zum Handlungsbedarf, den wir natürlich auch er-kennen . Aber wir sagen ganz klar: Nein, wir können undwollen Sanktionen nicht komplett abschaffen, denn siegehören zum Prinzip des Förderns und Forderns .
Ich halte auch nichts davon, auf das Mitwirken derMenschen zu verzichten .
Keine Erwartungen an die Menschen zu haben, ist keinZeichen von Respekt in diesem System, das wir für ab-solut richtig halten .
Ich halte nochmals fest – das wurde auch schon deut-lich –: Aus Sicht der SPD gibt es Grundbedürfnisse, dievon Sanktionen ausgenommen bleiben müssen . Das sinddas Wohnen, das Heizen, die medizinische Versorgungsowie ausreichendes Essen . Das versteht sich für Sozial-demokraten von selbst, meine Damen und Herren .
– Und auch für Christdemokraten, danke Herr KollegeMattfeldt .Auch wenn wir dem Anliegen der Petition nicht fol-gen, meine ich, dass wir schon stolz auf unser Petitions-recht sein können, darauf, dass wir diese Petition an soprominenter Stelle debattieren .
Denn es wird deutlich: Die Petition ging an den rich-tigen Adressaten, den Deutschen Bundestag, den Ge-setzgeber . In Petitionen geht es immer auch um die Ne-benwirkungen von Gesetzen und Verordnungen . Darumhaben wir den Handlungsbedarf bei der Überprüfung .Aber es geht auch darum, dass Petitionen genau geprüftund genau beurteilt werden, um letztlich eine Entschei-dung zu treffen .
Dies ist nur möglich durch das transparente Petitions-recht, das Artikel 17 Grundgesetz vorgibt .Sie haben eben selber den Prozess geschildert, der beidieser Petition hinter uns liegt . Am 17 . März 2015 gabes eine öffentliche Anhörung . Die Petentin hatte Gele-genheit, ihr Anliegen persönlich vorzutragen . Wir habendiskutiert mit der Petentin und Vertretern der Bundesre-gierung . Man kann nicht sagen, dass diese Petition nichtausführlich im Petitionsausschuss behandelt wurde .
Wer das sagt – das muss man ehrlich und offen deutlichmachen –, nimmt nicht wahr, dass wir ein ganz transpa-rentes Verfahren hatten . Letztlich haben wir entschieden .
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Die Entscheidung, denke ich, muss man in dieser Formrespektieren .
Ich denke, wir sollten die Bürgerinnen und Bürger er-mutigen, von ihrem Petitionsrecht Gebrauch zu machen .Denn nur so werden wir über die Nebenwirkungen vonGesetzen und Verordnungen informiert . Jeder hat dasRecht, seine Anliegen, seine Bedürfnisse, seine Anre-gungen im Rahmen des Petitionsrechts einzufordern undbeim Petitionsausschuss einzureichen . Da ist nicht ent-scheidend, wie viele Unterschriften oder Klicks im Inter-net gesammelt wurden .
Es ist auch unwichtig, ob das Anliegen gelikt wurde . JedePetition – dies möchte ich noch einmal betonen – wird imPetitionsausschuss dieses Hauses ernst genommen .
Das sollten Sie bitte schön nicht infrage stellen .Unsere Arbeit im Petitionsausschuss des DeutschenBundestages unterscheidet sich deutlich von den soge-nannten Erregungsplattformen – so nenne ich es ein-mal –, die sich in den Weiten des Internets tummeln . Dasist auch gut so . Es gibt viele private Plattformen, da stehtzwar auf der Packung Petition, es ist aber keine Petitiondrin .
Jetzt liest man in diesen Tagen auch noch, dass sie unterdem Verdacht stehen, Nutzerdaten missbraucht zu haben;das nur am Rande .Vor diesem Hintergrund – die heutige Debatte beweistim Gegensatz dazu doch wieder einmal mehr den Wertder echten Petition – kann ich Sie alle nur aufrufen, dieBürgerinnen und Bürger auf der Besuchertribüne, aberauch diejenigen, die dieser Debatte am Fernseher folgen:Nutzen Sie Ihr Petitionsrecht . Es lohnt sich .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Der Kollege Andreas Mattfeldt hat für die CDU/ CSU-
Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Bevor ich nun auf den Sachverhaltzur Abschaffung von Sanktionen für SGB-II-Empfängereingehe, lassen Sie mich erst einmal ein wenig über dieSinnhaftigkeit dieser heutigen Debatte sprechen . Sie lässtmich schon ein wenig zweifeln, ob Sie, die Linke, über-haupt daran interessiert sind – Kollege Schiefner hat eseben gesagt –, allen Petenten die gleiche Aufmerksam-keit zuzubilligen, oder ob Sie nur dort aktiv sind, wo esIhnen politisch in den Kram passt .
Aus gutem Grund war und ist es gängige Praxis, dieSammelübersichten zu Petitionen nicht im Plenum desBundestages, sondern im zuständigen Ausschuss zu be-raten . Über jede einzelne Petition hier im Plenum zu de-battieren – das muss man einfach sagen –, wäre wederinhaltlich noch organisatorisch noch zeitlich zu leisten .Dann müsste sich das Plenum des Bundestages nur nochmit Petitionen befassen .
Darum sind die Petitionen im Petitionsausschuss genaurichtig aufgehoben . Dort haben wir den Raum, um aufsachlicher Ebene auf jede Petition einzugehen .
Kommen wir einmal zu einem Beispiel in der Über-sicht . In der Petition 60 schreibt der Petent in der Begrün-dung zur Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen, dieseseien unverantwortlich gegenüber den Einzahlern . Wis-sen Sie, als Familienvater, als Haushaltspolitiker, abervor allem auch als jemand, der nicht sein ganzes Lebenim oder vom öffentlichen Dienst gelebt hat, interpretiereich es für die fleißigen Einzahler genauso, aber natürlichin eine andere Richtung .
Auch ich sage: Eine Abschaffung von Sanktionen ist un-verantwortlich und setzt genau das falsche Signal . Des-halb ist Ihre Forderung hier heute ganz deutlich abzu-lehnen .
Eine Abschaffung der Sanktionen wäre unverantwortlichgegenüber denjenigen, die jeden Tag hart arbeiten, damitdieser Sozialstaat und damit auch die Hartz-IV-Leistun-gen finanziert werden.
Im Sinne des Forderns und des Förderns wollen wirHartz-IV-Beziehern helfen, wieder eine Arbeit zu bekom-men . Die gute Lage am Arbeitsmarkt mit der geringstenZahl an Arbeitslosen seit 25 Jahren und der höchstenZahl der Beschäftigten – es sind fast 44 Millionen Men-schen – und 640 000 offenen Stellen bietet hierzu eineausgesprochen gute Ausgangslage .
Dies war nicht immer so . Ich gebe ja zu, dass es 2005bei über 5 Millionen Arbeitslosen weitaus schwierigerUdo Schiefner
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war, nach Verlust des Jobs wieder in der Arbeitswelt Fußzu fassen .
Heute sieht das zum Glück anders aus, dank kluger Poli-tik und auch dank der Einführung der Hartz-IV-Gesetze,die wir, die Union, immer mitgetragen haben . Sie vonden Grünen haben sie übrigens mit eingeführt; davonwollen Sie heute anscheinend nichts mehr wissen .
Heutzutage fällt es auch bei geringerer Qualifikation er-heblich leichter, einen Job zu finden, als 2005. Als Unter-nehmer in der Lebensmittelbranche weiß ich, wovon ichhier spreche .Meine Damen und Herren, der Steuerzahler inves-tiert erheblich, um gerade von Langzeitarbeitslosigkeitbetroffenen Menschen mit Weiter- und Fortbildungs-maßnahmen zu helfen . Dies geschieht natürlich in derErwartung, dass diese Maßnahmen dazu beitragen, dassder von Arbeitslosigkeit Betroffene – man darf übrigenssagen: auch mit eigener Anstrengung – wieder einen Jobfindet.Ihr Vorschlag, keine Sanktionen auszusprechen, wennzum Beispiel vereinbarte Termine beim Jobcenter igno-riert, Weiterbildungsmaßnahmen grundlos abgebrochenoder Vorstellungstermine nicht wahrgenommen werden,würde bedeuten, dass wir die Hälfte des Prinzips „För-dern und Fordern“ einfach streichen . Das Fordern, daszumindest bei den meisten Menschen auch notwendigist – das gilt übrigens auch für mich ganz persönlich –,fände dann nicht mehr statt . Wenn Sie die Sanktionen ab-schaffen, fordern Sie die Menschen nicht mehr . Das be-deutet für mich, Sie geben diese Menschen de facto auf .
Wir von der Union geben keinen Menschen auf, auch undgerade, weil wir wissen, dass es Lebenssituationen gibt,die nicht einfach sind .
Meine Damen und Herren, ich kann und will den flei-ßigen Mitarbeitern in unserem Unternehmen nicht erklä-ren, warum sie jeden Tag pünktlich zur Arbeit erscheinenmüssen, während ein Hartz-IV-Empfänger, wenn es nachIhnen ginge, ohne jede Gegenleistung bedingungs- undsanktionslos jeden Monat sein Geld bekommen soll .
Ich weiß, Sie wollen das nicht hören – einige, gera-de die Mitglieder des Petitionsausschusses, wissen, dassich Mitglied im Club der deutlichen Aussprache bin;daher müssen Sie das ertragen –: Ja, ich habe es in un-serem Unternehmen leider nicht nur einmal erlebt, dasses eben auch Langzeitarbeitslose gibt, denen man eineechte Chance auf dem Arbeitsmarkt bzw . eine Chance,in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, geben möchte, die-se aber häufig nicht einmal zum Vorstellungsgesprächerscheinen oder schon nach ein oder zwei Tagen – bitteverzeihen Sie meine Ausdrucksweise – einfach ab und ankeinen Bock mehr haben, zu arbeiten .
Natürlich – das weiß ich – ist das nicht die Mehrheit . Abergerade für diese schwierigen Fälle brauchen wir Sankti-onen, übrigens auch – diese Menschen vergessen Sie inIhrer Argumentation immer –, um uns vor diejenigen zustellen, die ernsthaft daran interessiert sind, wieder einenJob zu finden. Das ist zum Glück die große Mehrheit.
Kollege Mattfeldt, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Müller-Gemmeke?
Aber selbstverständlich .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Vielen Dank, dassich eine Frage stellen darf .Nachdem ich Ihrer Rede eine Weile zugehört habe,habe ich immer mehr den Eindruck, dass Sie indirekt,zwischen den Zeilen, permanent den Eindruck erweckenwollen, als wenn die Sanktionen notwendig wären, weilLangzeitarbeitslose in der Regel einfach nicht arbeitenwollen .
– Das schwingt für mich die ganze Zeit mit .
Daher möchte ich nachfragen, ob das wirklich Ihre Hal-tung und Ihre Meinung ist .
Zum Zweiten möchte ich fragen, ob Sie wirklich mei-nen, dass die Strukturen momentan so ausgestaltet sind,dass Langzeitarbeitslose tatsächlich passende Angebote,Chancen bekommen und dass ihnen Perspektiven eröff-net werden . Denn trotz guter Konjunktur – Sie haben dasausgeführt – ist es definitiv so, dass sich die Langzeitar-beitslosigkeit verfestigt hat . Da muss man sich die Struk-Andreas Mattfeldt
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turen und die Mittel doch einmal anschauen und überle-gen, wie so etwas passieren kann .
Liebe Frau Müller-Gemmeke, vielleicht haben Sie
nicht richtig zugehört .
Sie interpretieren meine Worte so, wie Sie es gerne hät-
ten . Die Lebenswirklichkeit sieht eben anders aus, als
Sie sie darstellen . Gerade wir von der Union stellen sehr
viel Geld für Weiterbildungsmaßnahmen bereit, um die
Langzeitarbeitslosen, bei denen es manches Mal wirklich
Vermittlungshemmnisse gibt, so zu qualifizieren, dass sie
eine Arbeit bzw . eine Beschäftigung aufnehmen können .
Frau Müller-Gemmeke, wir wissen aber, dass der
Mensch so ist, wie er ist . Der Mensch braucht das ein
oder andere Mal – gerade wenn er seit vielen Jahren be-
schäftigungslos ist – auch einen gewissen Druck, damit
er Termine wahrnimmt, zu Vorstellungsgesprächen er-
scheint und diese Maßnahmen aufnimmt, und ich darf
Ihnen sagen: Wenn die Gesellschaft bereit ist, dem je-
weiligen in Not befindlichen Menschen Mittel für einen
vorübergehenden Zeitraum zu geben, dann ist es doch
nun wirklich nicht zu viel verlangt, dass dieser Mensch
dann auch etwas zurückgibt .
Wenn hier jemand etwas missverstehen will, dann ver-
steht er das Prinzip „Leistung – Gegenleistung“ nicht .
– Nun bin ich dran, Frau Müller-Gemmeke . Wir sollten
hier kein Zwiegespräch führen . Ich glaube, das wäre
nicht im Sinne des Plenums .
Frau Müller-Gemmeke, ich komme aus der Wirtschaft
und weiß sehr wohl, dass es heute Stellen gibt, die eben
nicht für jeden Langzeitarbeitslosen geeignet sind . Wir
können aber doch nicht die Augen davor verschließen,
dass wir in Deutschland 640 000 unbesetzte Stellen ha-
ben, und das sind nicht nur hochqualifizierte Stellen.
Diese Stellen können auch Langzeitarbeitslosen angebo-
ten und von ihnen in Anspruch genommen werden .
Meine Damen und Herren, vielleicht sollten wir
jetzt auch einmal die Fakten betrachten . Gerade bei den
Ausführungen der Grünen und der Linken hat man den
Eindruck, als würde in Deutschland permanent sanktio-
niert werden . Das ist eben nicht Fall . Im Gegenteil: Wir
müssen uns manchmal fragen, ob wir hier nicht sogar zu
großzügig sind .
Sie wissen ganz genau, dass eben nicht immer beim
ersten Versäumnis, sondern in fast allen Fällen erst nach
der dritten Ermahnung sanktioniert wird .
Lediglich 3 Prozent der SGB-II-Empfänger wurden 2015
sanktioniert . Allein hieran sehen Sie, dass diese Motiva-
tionshilfe sehr zurückhaltend eingesetzt wird .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken und – das
muss ich jetzt auch sagen – der Grünen, es bleibt wohl
dabei, dass wir von der Union uns um die Langzeitar-
beitslosen, die enorme Anstrengungen unternehmen, um
wieder einen Job zu finden, und um diejenigen kümmern,
die diese sozialen Errungenschaften mit harter Arbeit fi-
nanzieren, während Sie ausschließlich die Interessen der-
jenigen vertreten, die einfach keinerlei Anstrengungen
unternehmen wollen, um wieder einen Job zu bekommen .
Deshalb sind die Vorschläge, Sanktionen abzuschaffen,
abzulehnen .
Danke schön .
Ich schließe die Aussprache .
Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich Ihnen
zur Kenntnis: Mir liegen sieben persönliche schriftliche
Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor .
Entsprechend unseren Regeln nehmen wir sie zu Proto-
koll .1)
Ich gebe das Wort an die Kollegin Kerstin Kassner
zu einer persönlichen Erklärung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Ich sage es vorweg: Ich werde dagegen-stimmen, dass diese Petition damit erledigt ist . Ich wer-1) Anlage 2Beate Müller-Gemmeke
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de dafür stimmen, dass sie zur Berücksichtigung an dieBundesregierung, an das Bundesministerium für Arbeitund Soziales, überwiesen wird,
weil ich denke, dass hier noch viel getan werden muss .Gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung kann ich dasmit ein paar Worten begründen:Ich bin 2013 sehr bewusst in den Petitionsausschussgegangen . Ich denke, eine Politik macht nur Sinn, wennwir sie ganz nah an den Sorgen, Problemen und Hinwei-sen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ausrich-ten . Die Petitionen, die auf unseren Tisch kommen, sindwirklich ein Seismograf für das, was die Menschen emp-finden.
Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Ich spre-che keiner meiner Kolleginnen und keinem meiner Kol-legen im Petitionsausschuss – das gilt für alle, die dortsind – ihren Arbeitswillen, ein wirkliches Herangehenund echtes Abarbeiten und ihr Kümmern ab, wenn es umdie Anliegen der Petenten geht .
– Alle, die dort sind .Allerdings muss ich eins sagen: Es gibt Unterschiede .An dieser Petition wird der Unterschied sehr deutlich .Immer dann, wenn man sich von seinen Überzeugungen,seinen Erfahrungen verabschiedet und sich zum verlän-gerten Arm der Bundesregierung macht, dann wird zwei-felhaft, ob es wirklich die Aufgabe eines Parlamentes ist,so zu handeln .
Es ist unser Anspruch als Mitglied dieses Bundestages,die Sorgen, Probleme und Nöte der Menschen in unseremLand tatsächlich aufzunehmen, uns darum zu kümmernund ihre Forderungen in Gesetze zu gießen . Das müssenwir unserem Gewissen und unseren Wählern gegenüberverantworten. Diese Pflicht haben wir.Der Umgang mit dieser Petition macht mich wirklichwütend . Mehr als 90 000 Unterstützer für eine Petitionhaben wir in unserem Petitionsausschuss nicht oft .
Es ist wirklich sehr deutlich zum Ausdruck gebracht wor-den, welche Sorgen die Menschen haben und wie wenigdie Sanktionen an den Bedingungen für die Menschentatsächlich ändern .
– Natürlich geht das . Ich erkläre, warum ich so stimmenwerde .
Die Sanktionen werden die Situation nicht ändern . Eswird weiter viele Langzeitarbeitslose geben . Die Bedin-gungen, unter denen die Menschen zu leben haben, wer-den dadurch schwieriger .
Und deshalb?
Ich möchte, dass die Petition an die Bundesregierung
überwiesen wird .
Ich sage noch einmal ganz deutlich, dass die Bundesre-
gierung mit dieser Petition nicht unbedingt gezwungen
ist, den Ansatz vollständig umzusetzen .
Vielmehr muss sie sich mit dem berechtigten Anliegen
auseinandersetzen .
Ich finde, das ist das, was wir von der Regierung verlan-
gen müssen .
Deshalb – das sage ich ganz deutlich – habe ich den An-
trag gestellt, dass wir der Bundesregierung diese Petition
überweisen,
damit sie in der Lage ist, sich mit diesem, wie ich finde,
berechtigten Anliegen auseinanderzusetzen .
Deshalb stimmen Sie wie ab?
Ich sage es ganz deutlich:
Wir haben hier im Plenum immer das letzte Wort zu allenPetitionen . Meist wird die Abstimmung in einem forma-lisierten Verfahren durchgeführt . Aber angesichts dieserKerstin Kassner
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Petition mit 90 000 Unterstützern ist es an dieser Stellewichtig, dass wir alle uns dazu positionieren .
Sie haben jetzt die Möglichkeit, Ihre Haltung zu dieserPetition zu ändern . Deshalb möchte ich an Sie alle appel-lieren, sich an die Erkenntnisse aus den Anhörungen zuerinnern,
dass nämlich die Sanktionen gerade für junge Menschenwirklich kontraproduktiv sind .
Daher sollten Sie sich noch einmal überlegen, an diesemGesetz tatsächlich Änderungen vorzunehmen, die diesenForderungen Genüge tun .
Ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie mir zugehörthaben .
Ich denke, es ist ein sehr wichtiges Anliegen
und eine sehr gute Möglichkeit, sich mit dem, was Men-schen bewegt, auseinanderzusetzen .Vielen Dank .
Damit alle wissen, auf welcher Geschäftsgrundlage
wir verhandeln: Nach § 31 unserer Geschäftsordnung ist
es möglich, am Ende der Aussprache vor der abschlie-
ßenden Abstimmung eine mündliche Erklärung, die nicht
länger als fünf Minuten dauern darf,
oder eine kurze schriftliche Erklärung abzugeben . Genau
das ist hier geschehen . Die fünf Minuten waren nicht aus-
geschöpft .
– Eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten . – Das dis-
kutieren wir nicht hier im Plenum .
Wenn es Beschwernisse gibt, haben wir verabredet, diese
an einem anderen Ort zu behandeln, so wie das auch ges-
tern geschehen ist .
Ansonsten: Zumindest ich persönlich habe gehört, wie
die Kollegin abstimmen will . Alles andere werden wir
dann an anderer Stelle klären .
Wir kommen zur Abstimmung über die Sammel-
übersicht 289 . Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8236 vor . Über
diesen stimmen wir zuerst ab . Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt .
Damit kommen wir zur Abstimmung über die Sam-
melübersicht 289 auf Drucksache 18/8092 . Wer stimmt
für die Sammelübersicht? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Sammelübersicht 289 ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung der Vorschriften zur Vergabe von We-
genutzungsrechten zur leitungsgebundenen
Energieversorgung
Drucksache 18/8184
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Sobald die notwendigen Umgruppierungen in den
Fraktionen abgeschlossen sind, können wir fortfahren .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Johann Saathoff für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Proo-ten is een Saak, man Doen is een Ding“ hätte ich jetztgesagt, wenn ich meine Muttersprache benutzt hätte .Das kann man wörtlich fast nicht übersetzen . Man kannes aber sinnbildlich mit den Worten „Reden ist Silber,und Handeln ist Gold“ übersetzen . Und handeln wollenwir jetzt . Wir sind in der ersten Lesung zur Reform des§ 46 EnWG . Und es ist gut, dass wir in der ersten Lesungdazu sind .Am 3 . Februar hat es einen Kabinettsbeschluss dazugegeben . Ich denke, wir können an dieser Stelle schon zuBeginn der parlamentarischen Verhandlungen miteinan-der konstatieren, dass dieser Gesetzentwurf ein EntwurfKerstin Kassner
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ist, der den Kommunen entgegenkommt und ihnen auchhilft .Worum geht es in diesem Gesetzentwurf? Es geht umdie Vergabe von Konzessionen, also um die Betriebser-laubnis von Strom- und Gasnetzen . Und diese Betriebser-laubnis ist verfassungsgemäß den Gemeinden – ich beto-ne das ausdrücklich – und nicht nur den Kommunen – dasist ein Unterschied – überlassen .Wichtig ist aus meiner Sicht, dass es mit diesem Ge-setzentwurf erstmalig auch einen richtig fairen Interes-senausgleich zwischen Alt- und Neukonzessionären gibtund dass die Gemeinden in der Rechtssicherheit massivgestärkt werden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht in diesemGesetzentwurf um den Kaufpreis für die Netze . LangeZeit war unklar, wie hoch der Kaufpreis tatsächlich seinwürde . Jetzt ist der objektive Ertragswert festgelegt wor-den . Das ist gut so, und das erzeugt ein ganzes StückRechtssicherheit und Klarheit für die Kommunen . Esgeht darum, dass man, wenn man die Vergabe der Netzeabgewickelt hat, nicht noch jahrelang in Rechtsunsicher-heiten sein muss, sondern dass die Rückobliegenheitendes Altkonzessionärs begrenzt werden . Die Verfahrenwerden deutlich kürzer . Das begrüßen wir ausdrücklich .Wir hätten gerne noch zusätzlich aufgenommen, dassder Streitwert tatsächlich in der Höhe auf 100 000 Eurobegrenzt wird, sodass es auch in dieser Beziehung keinDamoklesschwert für die Gemeinden gibt .Wir begrüßen ausdrücklich, dass es einen Auskunfts-anspruch der Gemeinden gibt . Das heißt, die Gemeindenkönnen künftig entscheiden, in welchem Verfahren siemitbieten wollen . Früher mussten sie raten .Ausdrücklich zu begrüßen ist auch, dass im Gesetz-entwurf festgelegt ist, dass die Pflicht zur Fortzahlungder Konzessionsabgabe über das eine Jahr hinaus – sowar es bisher geregelt – unbegrenzt weiterbesteht, sodassniemand in zeitliche Not gerät und aus dieser zeitlichenNot heraus vielleicht eine Entscheidung treffen muss, dieer später einmal bereut .Es gibt aber auch Diskussionsbedarf, insbesondere beiden Kriterien . Ich will aber von vornherein sagen, dassmir als ehemaliger Bürgermeister – man könnte auch sa-gen: Altbürgermeister – ganz wichtig ist, dass die Ange-legenheiten der örtlichen Gemeinschaft künftig Berück-sichtigung finden können. Das ist ganz, ganz wichtig;denn die Bedingungen sind nicht überall in Deutschlandgleich . Diese Berücksichtigung der Angelegenheiten derörtlichen Gemeinschaft war für die Gemeinden ein ganzwichtiges Thema, und diese wird stattfinden.Ich glaube, dass wir keinen Bedarf haben, noch einmalbesondere Kriterien herauszustellen . Ich habe ein biss-chen Sorge, dass, wenn wir in § 46 EnWG die KriterienVersorgungssicherheit und Kosteneffizienz noch einmalextra aufführen, obwohl sie in § 1 des EnWG schonenthalten sind, der eine oder andere Jurist auf die Ideekommen könnte, dass diese Kriterien wichtiger seien alsandere Kriterien, weil sie zweimal genannt werden . Mirgeht es darum, dass die Kriterien aus § 1 EnWG gleichhäufig genannt werden und mit gleichem Gewicht gelten.
Ich freue mich über konstruktive Beratungen mitei-nander. Aber ich finde, dass wir auch zügig beraten soll-ten . Denn wir brauchen jetzt endlich nach langer ZeitRechtssicherheit für die Kommunen .
Ich habe anfangs gesagt: Reden ist Silber, Handeln istGold . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie unsden Kommunen beweisen, dass wir das ernst meinen,und lassen Sie uns dafür sorgen, dass dieser Gesetzent-wurf zügig Recht und Gesetz wird .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ja, lange hat es gedauert . Es gab ja, wie ich denke, eineVerschleppung dieses wichtigen Themas der Vergabeder Verteilnetze bei Strom und Gas . Wir als Linke habendazu schon vor langer Zeit einen Antrag eingebracht .Bereits der Koalitionsvertrag enthält das Versprechen,bei Neuvergabe der Verteilnetze die Rechtssicherheit zuverbessern; denn die Regelung im Energiewirtschafts-gesetz hierzu ist mehrdeutig und liefert die Kommuneneinem großen Prozessrisiko aus; Sie haben es kurz ange-sprochen, Kollege Saathoff .Viele Vergaben sind jetzt leider schon gelaufen – auchso kann man Probleme lösen – und oft zuungunsten derKommunen entschieden worden . Es ist ja ein offenesGeheimnis, dass bei diesem Thema die CDU ein Pro-blem mit ihren eigenen Bürgermeistern hat, allen vorandem CDU-Bürgermeister von Titisee-Neustadt, Armin Hinterseh, der derzeit vor dem Bundesverfassungsge-richt klagt . Ich wünsche ihm alles Gute und viel Erfolg .
Er will es sich einfach nicht gefallen lassen, dass seineKommune das Verteilnetz nicht an sich selbst vergebendarf . CDU-Kollege Bareiß aus dem benachbarten Wahl-kreis – er wohnt nämlich sozusagen direkt nebenan – hatganz deutlich gesagt, dass für ihn nicht die kommuna-len Interessen im Mittelpunkt stehen, sondern angeblichdie Kunden . Hört! Hört! Ich sehe da aber keinen Wider-spruch,
Johann Saathoff
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sondern eher besondere Interessen gewisser Herren undein Misstrauen gegenüber den Kommunen. Das finde ichschade, denn – das kann ich nur noch einmal sagen – hierwerden die Interessen der Kommunen ignoriert . Wir hal-ten das für falsch und für ignorant .
Auch die Chefin des baden-württembergischen Städ-tetags und Mitglied des Bundesvorstands der CDU – sieist also nicht irgendjemand – kritisiert ganz massiv IhrVorgehen . Wir kritisieren das auch . Deswegen haben wirim Bundestag Anträge dazu eingebracht und das The-ma immer wieder angesprochen . Wir lehnen es ab, dassKommunen heute gezwungen sind, die Konzession ihresVerteilnetzes ohne Berücksichtigung kommunaler Be-lange auszuschreiben und zu vergeben .
Seitdem sind ja bereits etliche Konzessionen neu ver-geben worden – auf einer gesetzlichen Grundlage, dieüberaus unklar und schwierig ist . Der Regelungsbedarfan dieser Stelle ist himmelschreiend . Aber Sie sitzen dasThema aus . Ich halte das für peinlich und schlimm; daszeigt nur, dass Sie von der CDU/CSU gerade nicht an derSeite der Kommunen stehen .
Bürgerenergie, regionale Wertschöpfung, Ökostadt-werke, Stärkung der Kommunen, Regionalisierung derEnergieversorgung – all das ist für Sie von der Unionanscheinend kein Thema . Denn der Besitz des Verteilnet-zes ist eine wichtige Voraussetzung für Kommunen, dieeine eigenständige Energieversorgung, zum Beispiel einÖkostadtwerk, entwickeln wollen . Aber diese Entwick-lung wollen Sie offensichtlich nicht . Das sehen wir aucham EEG-Entwurf, mit dem Sie die dezentrale Energie-wende torpedieren und durch Ausschreibungspflicht zen-tralistische Tendenzen unterstützen . Zwischen 2007 und2014 sind 85 Prozent der rund 1 400 Verteilnetze an denalten Konzessionär vergeben worden . Hier sind Chancenfür eine dezentrale Energiewende vertan worden, weil inBerlin nicht gehandelt wurde – vertan für weitere 20 Jah-re! Man muss wissen: Die Konzessionen laufen 20 Jahre .Vorher kann man sie nicht kündigen .In dem Gesetzentwurf sprechen Sie sich ausdrück-lich gegen Inhousevergaben aus, wofür wir, Die Linke,uns entschieden einsetzen . Wir sind dafür von Ihnenvon der Union ja immer gegeißelt worden – mit demalten Vorwurf, wir wollten Staatswirtschaft und lehntenWettbewerb ab . Wir sagen: Das ist Unsinn und blankerHohn gegenüber den Kommunen . Inhousevergaben gibtes in den Niederlanden, und zwar sehr erfolgreich; siesind vollständig durch das Europarecht gedeckt . Ja, unddort – jetzt erschrecken Sie vielleicht – gibt es sogar einPrivatisierungsverbot für Verteilnetze, das 2013 als euro-parechtskonform vom Europäischen Gerichtshof bestä-tigt wurde .
Wir, die Linke, finden innovative Ökostadtwerke gut –dafür gibt es viele Beispiele; da gibt es wirklich tolleSachen – so wie das im hessischen Wolfhagen . Dort hatman sogar einen Teil des Stadtwerks in eine Bürgerener-giegenossenschaft ausgelagert, die wiederum Anteile amStadtwerk besitzt . Das ist eine Form von Bürgerbeteili-gung, und Bürgerbeteiligung wollen viele Menschen . Esgibt eine ganze Reihe von Politikern, die in ihren Wahl-kreisen ständig über Bürgerbeteiligung reden . Wenn esaber in Berlin wirklich ernst wird, dann stimmen siedagegen . Ich sage: Wir brauchen eine solche Bürgerbe-teiligung . Auch im Sinne der Klimabeschlüsse sind Bür-gerenergie und örtliche Netze eine ganz wichtige Sache .Das vorliegende Gesetz verhindert leider die Vergabe andie Kommunen . Deshalb sagen wir Nein .
Der Kollege Ingbert Liebing hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Auf den ersten Blick mag es so anmuten,dass wir nur über einen einzelnen Paragrafen des Ener-giewirtschaftsgesetzes sprechen, eine Kleinigkeit . Aberes ist ein Paragraf mit großer Bedeutung für die Energie-wirtschaft, für die Verteilnetzbetreiber und eben auch fürdie Kommunen als Konzessionär, die die Konzessionenfür die Leitungsnetze vergeben . Hier hat es in der Ver-gangenheit große Rechtsunsicherheiten gegeben . Es gabviele Prozesse, die die Vergabe der Konzessionen in dieLänge gezogen und für Unsicherheit gesorgt haben, so-dass Investitionen in das Netz auf der Strecke gebliebensind . Dieser Zustand ist unbefriedigend gewesen . Wirwollen das nun mit dem vorliegenden Gesetz ändern .Der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung nun vor-legt und den wir als Koalition durch die parlamentari-schen Beratungen bringen wollen, ist gut . Aber selbstver-ständlich gilt: Auch ein guter Gesetzentwurf kann nochverbessert werden . Kollege Saathoff hat schon auf einigeDiskussionspunkte hingewiesen, mit denen wir uns inden parlamentarischen Ausschussberatungen noch befas-sen werden . Aber ich bin sicher: Wir sind mit diesem Ge-setzentwurf schon auf einem guten Weg, liebe Freunde .
Unser oberstes Ziel bei diesem Gesetz ist, mehrRechtssicherheit zu schaffen . Es geht eben nicht umdie Punkte, die Sie in den Vordergrund gestellt haben,Frau Bulling-Schröter, es geht nicht um Schlagworte wieRekommunalisierung . Aber wenn wir Rechtssicherheitdurch entsprechende Regelungen schaffen, handeln wirauch im Interesse der Kommunen . Hier mehr Rechtssi-cherheit zu schaffen, dient doch allen Beteiligten . Dasgilt für die Alt- und Neukonzessionäre genauso wie fürdie Kommunen, die das Konzessionsverfahren zu regelnhaben . Deswegen leistet mehr Rechtssicherheit auch ei-nen Beitrag zur Stärkung der kommunalen Selbstverwal-tung vor Ort und hilft den Kommunen, die schwierigenRechtssituationen und Rechtsstreitigkeiten der Vergan-Eva Bulling-Schröter
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genheit zu überwinden . Auch das dient den Kommunen,meine Damen und Herren .
Wir reden hier über die Verteilnetze . Gerade die Ver-teilnetze sind wichtig für den Erfolg der Energiewende;denn über 90 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Ener-gien wird in die Verteilnetze eingespeist . Deswegen brau-chen wir auch Investitionen in die Verteilnetze . Investiti-onen erreichen wir nur dann, wenn wir Rechtssicherheithaben . Auch das ist ein wichtiges Argument dafür, dasswir mehr für Rechtssicherheit tun .Dabei bekennen wir uns zum Wettbewerb, FrauBulling-Schröter . Da sind wir in der Tat inhaltlich ande-rer Auffassung . Es geht nicht um Inhousevergabe, son-dern wir wollen den Wettbewerb . Aber wir wollen ihnrechtssicher gestalten . Das ist im Übrigen auch in der Fa-milie der kommunalen Unternehmen unstrittig . Ich darfaus einer Stellungnahme des Verbandes kommunaler Un-ternehmen zitieren, in der es ausdrücklich heißt:Der Wettbewerb um Strom- und Gasnetzkonzessi-onen, der seit den 90er-Jahren im EnWG verankertist, hat sich in den letzten Jahren als wichtiges Ele-ment der Förderung des Wettbewerbs auf den Ener-giemärkten … etabliert .Als „wichtiges Element“ – das ist eine positive Würdi-gung des Wettbewerbs . Daran halten wir fest .
Dem widerspricht eine Inhousevergabe . Wir setzen aufden Wettbewerb .
Wettbewerb braucht aber rechtssichere Spielregeln, unddie schaffen wir mit diesem Gesetzentwurf . Es sind fünfAspekte, die ich aus meiner Sicht kurz skizzieren und be-gründen möchte .Das wichtigste Anliegen ist, dass wir beim Netzkauf-preis Klarheit schaffen . Auch Kollege Saathoff hat schonpositiv gewürdigt, dass mit dem Vorschlag des objek-tivierten Ertragswerts der Streit beendet wird, ob nundas Ertragswertverfahren oder das Sachwertverfahrengewählt wird . Dieser Streit kann nicht mehr vor Gerichtausgetragen werden . Wir schaffen hier Klarheit .Wir schaffen Klarheit für die Kommunen, welcheAuskunftsrechte sie bekommen . Denn wie sollen Kom-munen vernünftig ausschreiben, wenn sie nicht über alleInformationen vom Altkonzessionär verfügen, die siebrauchen? Auch das regeln wir .Die zeitlich gestaffelte Rügeobliegenheit ist wichtig;denn es kann nicht sein, dass zwei Jahre nach Abschlusseines Verfahrens noch der Rechtsweg beschritten werdenkann . Wir setzen eine enge Frist von wenigen Wochen,innerhalb der eine Vergabe gerügt werden kann . Danachgilt eine Entscheidung . Auch das schafft Rechtssicher-heit .Das gilt auch für die Vorschrift, dass die Konzessions-abgabe zwingend fortzuzahlen ist, sodass ein Klagewegnicht davon befreit, die Konzessionsabgabe zu leisten .Auch dies liegt im Interesse der Kommunen und schafftebenfalls Rechtssicherheit .Der letzte und fünfte Punkt ist für mich auch im Inte-resse der Kommunen sehr wichtig, weil wir neben denKriterien, die § 1 Energiewirtschaftsgesetz als Vergabe-kriterien aufgibt, auch festlegen, dass örtliche Belangeein Kriterium sein können . Damit bekommen die Kom-munen mehr Gestaltungsmöglichkeiten in die Hand . Dasist gut, das stärkt die Kommunen, und es zeigt, dass das,was Sie hier beschrieben haben, es sei ein Gesetzentwurfgegen die Interessen der Kommunen, mit der Wirklich-keit des Gesetzestexts nichts, aber auch gar nichts zu tunhat . Wir geben hiermit den Kommunen mehr Möglich-keiten in die Hand, ihre örtlichen Belange mit einzube-ziehen .
Kollege Liebing, gestatten Sie eine Bemerkung oder
Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?
Ja .
Danke schön, Kollege Liebing . – Ich habe hier dieZeitung Kontext:Wochenzeitung, bestimmt kein linkesPropagandablatt . In einem Artikel geht es genau um die-se Kommunalverfassungsbeschwerde, die der Bürger-meister von Titisee – Sie kennen den Fall sicher – ein-gereicht hat . Zu dem grundgesetzlich verbrieften Rechtauf Selbstbestimmung, um das es vor dem Verfassungs-gericht geht, schreibt diese Zeitung:… „weil das Thema fast alle Städte und Gemeindenbetrifft“, so das geschäftsführende Vorstandsmit-glied Gudrun Heute-Bluhm auf Kontext-Anfrage .Die ehemalige Oberbürgermeisterin von Lörrach– sie ist Mitglied des Präsidiums des CDU-Vorstandes,also nicht irgendjemand –führt die Kritik an der herrschenden Rechtsprechungweiter aus: „Es ist für uns nicht nachvollziehbar,weshalb es der Kommune nicht möglich sein soll,parallel in einem Verfahren nach einem Konzessio-när oder nach einem Kooperationspartner zu suchenund die jeweiligen Angebote gegeneinander abzu-wägen .“ Stattdessen seien die Kommunen heutegezwungen, die Konzession ohne Berücksichtigungkommunaler Belange auszuschreiben und zu verge-ben . Erst dann dürfe sich die Kommune überlegen,ob sie sich eine Kooperation mit dem Neu-Konzes-sionär vorstellen könne .Das ist doch eine deutliche Kritik von Vertretern IhrerPartei . Dabei geht es doch um genau das, was ich ange-sprochen habe . Dennoch sagen Sie, dergleichen gebe esIngbert Liebing
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überhaupt nicht . Das ist ein Widerspruch . Ich versteheSie jetzt gar nicht .
Frau Kollegin Bulling-Schröter, Sie haben doch vor-
gelesen, was Frau Gudrun Heute-Bluhm, die ich gut
kenne und sehr schätze, gesagt hat . Sie hat den jetzigen
Zustand kritisiert . Das, was sie kritisiert hat, wollen wir
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern .
Wir tragen der Kritik doch Rechnung . Frau Heute-Bluhm
hat den aktuellen Zustand kritisiert . Es geht darum, dass
wir die Verhältnisse, die wir heute haben, mit der Ver-
abschiedung unseres Gesetzentwurfs ändern . Damit wird
auch dem Anliegen von Frau Heute-Bluhm Rechnung
getragen .
Ich bin überzeugt: Wir sind mit diesem Gesetzent-
wurf zum Leitungsrecht bei der Erreichung des Ziels ei-
ner rechtssicheren Konzessionsvergabe auf einem guten
Weg . Wir werden sehen, ob wir noch bessere, rechtssi-
chere Formulierungen finden. Sie sind immer das Ergeb-
nis intensiver Beratungen im Ausschuss . Ich bin sicher:
Am Ende werden wir zu einem guten Ergebnis kommen .
Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Um es vorab noch einmal klar zu sagen: Der Betrieb vonStrom- und Gasverteilnetzen ist Teil kommunaler Da-seinsvorsorge .
Für uns ist klar: Die Kommunen und niemand anders sol-len entscheiden, wer die Netze betreibt .
Das einmal vorausgeschickt .Ich habe, ehrlich gesagt, überhaupt kein Verständnisdafür, dass Sie in § 46 dieser Novelle zum Energiewirt-schaftsgesetz, die ja in einem SPD-geführten Ministe-rium ausgearbeitet worden ist, nicht verankern, dass eseine Inhousevergabe an eine Kommune geben kann . Inallen anderen Bereichen und auch im europäischen Aus-land ist das üblich . Warum nicht hier? Das entzieht sichmeiner Kenntnis . Das ist der erste große politische Man-gel dieses Gesetzentwurfes .Der Kollege Liebing hat bei der Wiedergabe der Stel-lungnahme natürlich genau an der Stelle aufgehört, vor-zulesen, an der der VKU die Möglichkeit zur Inhousever-gabe fordert . Eine solche Vergabe wäre unbürokratischmachbar . Sie würde das Verfahren vereinfachen; da-mit würde das klar und deutlich geregelt . Wir haben inDeutschland 900 Verteilnetzbetreiber, die überwiegendin kommunaler Hand sind . Diese beweisen jeden Tag,dass die Kommunen gut und vernünftig Netze betreibenkönnen . Warum soll man angesichts dessen keine In-housevergabe möglich machen? Das verstehe ich nicht .
Sie sagen nun, Sie wollen mehr Rechtssicherheit fürden Fall schaffen – das steht in Ihrem Koalitionsver-trag –, dass der Konzessionär gewechselt werden soll .Das ist bitter nötig; das ist vollkommen klar . Man mussan dieser Stelle aber vielleicht auch ein Wort darüber ver-lieren, wer eigentlich dafür verantwortlich ist, dass wirdiese Rechtsunsicherheit haben . Verantwortlich dafür istSchwarz-Gelb . Ich glaube, Herr Pfeiffer, Herr Liebing,auch Sie waren schon dabei, als Schwarz-Gelb 2010genau diesen § 46 des Energiewirtschaftsgesetzes, vondem die heutige Rechtsunsicherheit ausgeht, geschaffenhat . Die Union ist dafür verantwortlich; sie hat das Gan-ze sehenden Auges herbeigeführt . Ich kann mich gut anSachverständigenanhörungen erinnern, in denen all dasbeschrieben worden ist, was Sie jetzt hier beklagt haben .Dass wir dieses Problem haben, liegt in der Verantwor-tung der vorigen Bundesregierung, in der die Union nuneinmal die zentrale Verantwortung trug . Das zu sagen,gehört an dieser Stelle auch dazu, meine Damen und Her-ren .Jetzt einmal ganz offen gesprochen: Zweieinhalb Jah-re ist Ihre Koalition alt . Nun endlich bekommen wir die-sen Gesetzentwurf vorgelegt . Ich meine, er ist ein wich-tiger Schritt; er ist aber kein epochales Werk . Am Endegeht es eigentlich nur um zwei Paragrafen . Durch dievon Ihnen angestrebte Problemlösung verbessern Sie inder Tat ein paar Dinge; das muss man Ihnen zugestehen .Endlich wird es, wie Sie ja schon sagten, eine Regelunghinsichtlich des Kaufpreises geben . Hier den Ertragswertzugrunde zu legen, das ist richtig .Aber die eigentliche Problematik, auf deren Basis dieKonzessionsverträge angegriffen werden – ich meine dieBezugnahme auf § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes unddie unbestimmten Rechtsbegriffe – und die die Vielzahlsich widersprechender Gerichtsurteile auslöst, lösen Sieüberhaupt nicht . Das alles lassen Sie so, wie es ist . Siemachen es sogar noch komplizierter . Sie führen weite-re Begriffe ein wie „netzwirtschaftliche Anforderungen“oder „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ –ich habe nichts gegen die Berücksichtigung von Ange-legenheiten der örtlichen Gemeinschaft –, die zu Rechts-unsicherheit führen werden . Das wird wieder juristischeAuseinandersetzungen zwischen den verschiedenenWettbewerbern um das Netz nach sich ziehen .Insofern löst dieser Gesetzentwurf nicht die eigentli-che Problematik . Das können Sie auch in den zahlreichenStellungnahmen nachlesen, die Sie ebenso wie ich be-kommen haben . Ihr Gesetzentwurf wird an dieser Stelleden Anforderungen an mehr Rechtssicherheit nicht ge-recht . Er ist am Ende weiterhin, wenn § 46 so bleibt, wievon Ihnen jetzt geplant, ein Beschäftigungsprogramm fürEva Bulling-Schröter
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Anwälte und Gerichte . Das haben Kommunen und Netz-betreiber an dieser Stelle nicht verdient .
Man kann ja fragen – Herr Beckmeyer spricht gleichnoch; das BMWi und die dort arbeitenden Menschen sindja nicht dumm; die wissen, was sie tun; denen ist das allesklar; die verfolgen auch die Debatten; die kennen die Ge-richtsurteile –: Warum gibt es diese Unklarheit? Warumwird in dem Entwurf, der uns jetzt hier vorliegt, dieseUnsicherheit produziert? Ich glaube, dahinter steckt einbisschen System –
das ist genau der Grund, weshalb die Union schon 2010diese Rechtsunsicherheit sehenden Auges geschaffenhat –: Man will verhindern, dass Stadt- und Gemeinderäteihren bisherigen Konzessionär – in aller Regel RWE, Eonoder EnBW – wechseln, also zu einem anderen Anbietergehen oder ein eigenes kommunales Stadtwerk gründen .Es geht am Ende darum: Es soll den Konzernen nichtdas Geschäft weggenommen werden . Das kann man ambesten dadurch erreichen, dass man Rechtsunsicherheitschafft, sodass vor jeder Entscheidung in einer Ratssit-zung gesagt wird: Macht das nicht mit einem anderenNetzbetreiber, denn dann lauft ihr in Rechtsunsicherheithinein!
Somit werden viele Netzübernahmen überhaupt nicht inAngriff genommen . Das, glaube ich, steckt am Ende da-hinter .Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen ganz klar:Dieser Gesetzentwurf ist kommunalfeindlich, er läuftden Zielen einer dezentralen Energiewende zuwider, under dient am Ende den Interessen der Konzerne, die der-zeit die großen Netzbetreiber sind .Wir treten gern für mehr Rechtssicherheit ein . Wirhaben dazu Vorschläge gemacht; die Linken haben dazuVorschläge gemacht; darauf kann man sich gern ver-ständigen . Aber dieser Gesetzentwurf löst die Problemenicht, und das hören Sie auch allerorten aus der kommu-nalen Familie . Das können Sie auch nicht schönreden, in-dem Sie diese Probleme an der Stelle einfach ignorieren .Ich danke Ihnen .
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Uwe
Beckmeyer .
U
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Frau Bulling-Schröter, Herr Krischer, jeder bas-telt sich seine Wahrheit selber,
wenn er ins Gesetz schaut; jedenfalls habe ich den Ein-druck .Es steht etwas klar sozusagen als Überschrift darü-ber: Rekommunalisierung der Energieversorgungsnet-ze . – Das ist etwas, über das wir lange debattiert haben,das auch im Bundesrat beraten worden ist . Merkwürdi-gerweise hat uns der Bundesrat gerade in dieser Fragerecht gegeben . Er unterstützt ausdrücklich diese Positi-onierung .
Ich will an dieser Stelle sagen: Rekommunalisierungohne wettbewerbliches Verfahren schließt das Gesetzaus . Rekommunalisierung ja, aber bitte mit wettbewerb-lichem Verfahren! Das ist der Unterschied . Wir gebennicht einfach etwas preis . Nach 20 Jahren ist es vielleichtganz klug, einmal über die Netze, den Zustand der Net-ze, die Qualität der Netze zu sprechen und sich Klarheitdarüber zu verschaffen, was das bedeutet . Also, es gehtum einen fairen Wettbewerb bei der Vergabe der Ener-gieversorgungsnetze, die wir nicht durch Gerichte klärenlassen wollen .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will nochetwas zum Inhalt ausführen:Streitigkeiten um den Netzkaufpreis wollen wir ver-meiden . Dazu wird klargestellt, dass sich der Preis nachden Erlösen zu bemessen hat, die mit dem Netz zu erzie-len sind .Wenn Fehler im Vergabeverfahren frühzeitig geltendgemacht werden, ist das okay . Wer sich aber nicht recht-zeitig rührt, kann das Verfahren nicht mehr angreifen .So wird das gesamte Vergabeverfahren aus unserer Sichtdeutlich robuster .Ebenfalls wird klar geregelt, welche Daten der aktuel-le Netzbetreiber an die Gemeinde herausgeben muss . Sowird Transparenz geschaffen, was einen fairen Wettbe-werb um die Energieversorgungsnetze unterstützt .Der Entwurf enthält weiterhin die Klarstellung, dassbei der Auswahl des künftigen Netzbetreibers auch dieAngelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft Berück-sichtigung finden dürfen.
Oliver Krischer
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Das, denke ich, stärkt die kommunalen Interessen, diebeim Betrieb der örtlichen Verteilnetze von besondererWichtigkeit sind .
Netzwirtschaftliche Belange, meine sehr geehrten Da-men und Herren, Versorgungssicherheit und Kostenef-fizienz dürfen dem jedoch nicht entgegenstehen. Diesschafft einen sachgerechten Ausgleich zwischen den In-teressen der Allgemeinheit und den Belangen der jeweili-gen Gemeinde . Ich glaube, dafür müssen wir letztendlichsorgen . Und das tun wir auch, indem wir auch weiterhindaran festhalten, dass bei schwebenden Verhandlungender Gemeinde die Konzessionsabgabe nicht vorenthaltenwerden darf, damit sie nicht finanziell ausgehungert wird.Meine Damen und Herren, was die Inhousevergabeangeht, sage ich noch einmal ganz klar: Ohne wettbe-werbliches Verfahren geht es nicht . Das ist auch mehr-heitlich die Haltung der Länder . Ich glaube, es ist wichtig,dass wir dafür sorgen, dass die notwendige Qualität imNetz auch tatsächlich erreicht wird . In diesem Punkt er-hält die Bundesregierung auch Unterstützung vom Bun-desrat, der entsprechende Anträge im Plenum abgelehnthat . Hier ist besonders zu bedenken, welche enormen He-rausforderungen die Energiewende für den Betrieb derStromnetze mit sich bringt . Millionen dezentraler Erzeu-gungsanlagen sind sicher und auch kosteneffizient in dasSystem zu integrieren .Insofern, meine sehr geehrten Damen und Herren, istes uns wichtig, dass mit dieser Gesetzesnovelle die sowichtige energiewirtschaftliche Praxis auch tatsächlichgeübt wird . Daher bitte ich um zügige Beratung .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort hat die Kollegin Barbara Lanzinger für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Vielleicht noch einmal zusam-menfassend: Heute haben wir die erste Beratung diesesGesetzentwurfs . Die Formulierung im Titel „Vergabevon Wegenutzungsrechten zur leitungsgebundenen Ener-gieversorgung“ klingt ein bisschen kompliziert . Das hörtsich schwieriger an, als es ist . Insgesamt ist es aber sehrwichtig . Kurzum geht es – das als Wiederholung – umdie Rechte zur Nutzung der Gas- und Stromverteilnetze .Warum behandeln wir das Thema? Die Verteilnet-ze sind zum Beispiel auch jene Stromleitungen, die aufregionaler und kommunaler bzw . gemeindlicher Ebe-ne – Herr Saathoff hat ja schon betont, dass hier die ge-meindliche Ebene in den Vordergrund zu stellen ist – denStrom bis hin zum einzelnen Verbraucher transportieren .In den Verteilnetzen findet die Energiewende statt. Siesind von zentraler Bedeutung . Die Wegenutzungsrechtesind – auch das ist schon erwähnt worden – spätestensalle 20 Jahre in einem wettbewerblichen Verfahren neuzu vergeben .In den letzten Jahren hat es in der Tat eine Vielzahlgerichtlicher Auseinandersetzungen gegeben . Auch dasführt zu Verzögerungen im Netzausbau, der dringend be-nötigt wird . Aus diesem Grund brauchen wir – ich betonees noch einmal – Rechtssicherheit . Diese zu schaffen, ha-ben wir auch im Koalitionsvertrag festgelegt . Das setzenwir jetzt um . Dies dient der Energiewende und den Kom-munen bzw . Gemeinden und auch dem Allgemeinwohl .Im Großen und Ganzen sind die Inhalte des Gesetzent-wurfs positiv zu bewerten . Die Vorschriften zur Vergabevon Wegenutzungsrechten werden konkretisiert . Die Pla-nungssicherheit beim Netzübergang für die beteiligtenUnternehmen und Gemeinden wird damit verbessert, undes wird mehr Rechtssicherheit gewährleistet . Auf einigePunkte will ich noch einmal konkret eingehen .In § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes ist unser grund-legendes Ziel festgelegt, nämlich „eine möglichst siche-re, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente undumweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung derAllgemeinheit mit Elektrizität und Gas“ . Das ist auch derZweck des heute zu beratenden Gesetzes . Um dieses Zielzu erreichen, werden die Wegenutzungsrechte in einemwettbewerblichen Verfahren alle 20 Jahre vergeben . Dasist kein Selbstzweck .Die Kommunen besitzen bei den Wegenutzungsrech-ten ein fast natürliches Monopol . Sie haben dabei einedurchaus marktbeherrschende Stellung . Der Wettbewerbum die Wegenutzungsrechte erfolgt somit nicht unbe-dingt im freien Markt . Die Laufzeitbegrenzung verhin-dert, dass das Verteilnetz vor diesem Hintergrund erstarrt .Ansonsten bestünde die Gefahr ineffektiver Ewigkeits-rechte . Eine durchaus mögliche Folge: steigende Nut-zungsentgelte und somit höhere Strompreise . Das wärezum Nachteil von Verbrauchern, Gewerbe und Industrie .Auch der Wettbewerb um die Wegenutzung dient demWohl des Endverbrauchers . Nur durch ein transparentesund diskriminierungsfreies Auswahlverfahren kann dergeeignetste Netzbetreiber gefunden werden .In diesem Zusammenhang wird immer wieder derPunkt Rekommunalisierung aufgebracht, kombiniertmit der Forderung nach einer Inhousevergabe, das heißtDirektvergaben an kommunale Unternehmen ohne einwettbewerbliches Auswahlverfahren . Das lehnen wir ab .Wir wollen den Wettbewerb .Lassen Sie mich betonen: An Rekommunalisierunghabe ich nichts auszusetzen, wir alle nicht . Ganz im Ge-genteil: Die kommunalen Akteure, Bürgerinnen und Bür-ger sind in die Energiewende einzubeziehen . Das schafftAkzeptanz . Bereits heute können wir einen Trend zurRekommunalisierung erkennen . Seit 2005 wurden mehrals 200 Konzessionen von kommunalen Unternehmenübernommen . Aber auch nur dann, wenn dem ein wett-Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer
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bewerbliches Verfahren vorausgegangen ist, ist es auchrichtig . Nur so wird der geeignete Netzbetreiber gefun-den .Von Kommune zu Kommune gibt es unterschiedli-che Rahmenbedingungen . Keine Kommune ist gleich .Die Entscheidung zur Übernahme von Netzen ist immereine Einzelfallentscheidung . Deshalb muss die Kommu-ne auch im Wettbewerb mit anderen prüfen, ob sie einNetz übernehmen kann, ob sie dazu geeignet ist, ob siedas Know-how hat . Das kann der Fall sein – vielleicht inder Regel –, ist es aber nicht immer automatisch . Des-halb dürfen wir nicht vergessen: Bei einer Übernahmevon Wegenutzungsrechten und Netzen besteht neben denhohen Kaufkosten in der Regel auch erheblicher Investi-tionsbedarf in die Energienetze .Es ist wichtig, dass Kommunen am Wettbewerb teil-nehmen und die Auswahl anhand wettbewerblicher Kri-terien auf Grundlage der in § 1 genannten Ziele erfolgt .Wettbewerb hat hier eine durchaus heilsame Wirkung .Letztendlich soll nicht die Kommune von der Ausschrei-bung profitieren, sondern der Kunde. Der Endverbrau-cher soll von dieser Ausschreibung profitieren. Darumgeht es . Deshalb ist eine ausschließliche Inhousevergabeeinfach nicht richtig .
Das heißt jedoch nicht, dass Kommunen keinen Ge-staltungsspielraum mehr erhalten sollen . Ganz im Ge-genteil – Kollege Liebing hat es erwähnt –: Um die kom-munalen Interessen zu stärken, ist es bedeutend, dass dieörtlichen Rahmenbedingungen in den AuswahlkriterienBeachtung finden können. Genau das sieht der Gesetz-entwurf vor . Entscheidungsspielraum bei der Formulie-rung und bei der Gewichtung der Auswahlkriterien wirdgewährleistet . Das ist ein absolut richtiger Schritt .Lassen Sie mich zum Schluss kommen . Die Verteilnet-ze sind ein essenzieller Baustein im Rahmen der Energie-wende . Die Kommunen sind ein ganz zentraler Akteur .Wir wollen auch weiterhin eine gute Energieversorgungfür die Allgemeinheit – sicher, preisgünstig, verbraucher-freundlich, effizient und umweltverträglich – mit einemzunehmenden Anteil an erneuerbaren Energien . Dafürmüssen wir auf allen Ebenen zusammenarbeiten . Auchdahin gehend werden wir den vorliegenden Gesetzent-wurf durchaus auf Herz und Nieren überprüfen . Ich freuemich schon auf die weiteren Beratungen zu diesem Ge-setzentwurf .Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächster Redner in dieser Debatte
hat Bernhard Daldrup von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir wissen alle: Die Kommunen sind Motor bei derEnergiewende, sie sind Multiplikator . Sie sind es nichtalleine, aber sie sind es ganz maßgeblich . Das weiß auchdas Bundeswirtschaftsministerium, das deshalb einenEntwurf vorgelegt hat, der – das ist jenseits der Kritik,glaube ich, im Detail unbestritten – ein maßgeblicherFortschritt gegenüber dem Status quo ist .Ich will an dieser Stelle sagen, dass es eine entspre-chende Unterstützung – das hat auch der Staatssekretärgesagt – seitens des Bundesrates gibt, dass es positiveReaktionen der kommunalen Spitzenverbände gibt, dasses positive Reaktionen des VKU gibt, zwar nicht in je-dem Punkt, aber die große Linie wird begrüßt . Das kannnicht als Indiz dafür genommen werden, dass wir etwasKommunalfeindliches machen würden . Das zu behaup-ten, ist einfach nur Unsinn .
Es geht um Rechtssicherheit, um Informationen, umBewertungsfragen – das alles ist hier schon angesprochenworden – und um einen Konfliktpunkt, der die Rechte derkommunalen Selbstverwaltung betrifft . Wenn man überdie kommunale Selbstverwaltung redet und sich dabeiauf das Grundgesetz bezieht – in Artikel 28 wird Bezuggenommen auf „alle Angelegenheiten der örtlichen Ge-meinschaft“ –, dann kann man, Herr Krischer, nicht mehrvon einem unbestimmten Rechtsbegriff reden . Es mussim Rahmen eines solchen Gesetzgebungsverfahrens zu-lässig sein, sich auf das Grundgesetz zu beziehen .
Wir haben es aber nicht mit einem einfachen Themazu tun; ich weiß das . Es gibt viele Abstimmungen dazu .Aber unbestritten ist, dass der verbesserte Auskunftsan-spruch der Kommunen ein Fortschritt ist . Positiv ist diezeitliche Staffelung bei der Möglichkeit, Rügen auszu-sprechen . Gut ist auch die Klarheit über die Fortzahlungder Konzessionsabgabe . Gut ist, dass es Klarheit über dieBestimmung eines angemessenen Netzkaufpreises imRahmen des objektivierten Ertragswertverfahrens gibt .All das ist positiv . Dann zu sagen, dieser Entwurf seikommunalfeindlich, ist nur noch Oppositionsrhetorik –das muss man doch schlicht und ergreifend sagen .
Ich will gar nicht bestreiten, dass uns das Thema derInhousevergabe vielleicht ein bisschen trennt . Ich wür-de mir auch ein bisschen mehr wünschen . Ich weiß aberauch: Viele Stadtwerke scheuen einen solchen Wett-bewerb überhaupt nicht; denn sie sind gut – besser je-denfalls, als manche glauben . Trotzdem: Ich habe eingewisses Verständnis dafür, dass man den Wind desWettbewerbes einziehen lassen will; anderes wäre mirlieber . Aber darüber können wir noch einmal reden .Das BMWi hat viele Erwartungen der Kommunen er-füllt . Dafür herzlichen Dank! Ich hoffe, dass wir im Lau-fe der Beratungen eine stärkere Verankerung der kommu-nalen Selbstverwaltung erreichen werden .Es ist richtig: Die netzwirtschaftlichen Anforderun-gen – darüber ist eben gesprochen worden –, insbesonde-Barbara Lanzinger
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re Versorgungssicherheit und Kosteneffizienz, sind schonTeil kommunalpolitischer Entscheidungen . Sie stehenaber nicht über anderen Fragen der kommunalen Selbst-verwaltung; es gibt keine solche Hierarchie . Deswegenwäre es aus unserer Sicht durchaus überlegenswert, obwir uns nicht im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrensauf die Anregung des Bundesrates verständigen könnten,die Zielhierarchie herauszunehmen .
– Ja, ist doch nicht schlecht! Ich mache öfter mal guteVorschläge . Hören Sie einfach zu .
– Er hat zugehört .Ich will es für Sie, Herr Krischer, vielleicht sogar einbisschen deutlicher machen; denn Sie sollen wissen, dassich da gar keinen Konflikt sehe. Der Hinweis in der Be-gründung, man bilde das Urteil des Bundesgerichtshofesab, stimmt . Er stimmt aber nur deswegen, weil der Vor-rang der kommunalen Selbstverwaltung im entsprechen-den Paragrafen nicht entsprechend normiert ist .
Wenn das erfolgen würde, wäre es ein Stück weit einfa-cher . Wir werden darüber diskutieren; so ist das im Ge-setzgebungsverfahren üblich .Ich glaube aber, zunächst einmal feststellen zu kön-nen – auch mit Ihrer freundlichen Unterstützung –: Esgibt einen guten Gesetzentwurf, der endlich den Statusquo deutlich verbessert, unter dem die Kommunen ge-litten haben .
Dafür sehr herzlichen Dank an das Ministerium . Wirwerden eine schöne Beratung haben . Sie sind herzlicheingeladen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Damit, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, schließe ich diese Debatte .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/8184 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Valerie Wilms, Matthias Gastel, Stephan
Kühn , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Bundesverkehrswegeplan zum Bundes-
netzplan weiterentwickeln
Drucksache 18/8083
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Das ist dann so beschlossen .
Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze einge-
nommen haben, kann ich die Debatte eröffnen .
Ich eröffne die Debatte . Als erste Rednerin hat
Dr . Valerie Wilms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen das Wort .
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Jetzt kommen wir beim letz-ten Tagesordnungspunkt zu einem ganz wichtigen The-ma: Bundesverkehrswegeplan . Deutschland hat eines derdichtesten und komplexesten Verkehrsnetze der Welt; ichglaube, darüber sind wir uns alle einig . Für unseren Ver-kehrsminister ist das Ganze offensichtlich zu komplex .Denn anders ist nicht zu erklären, warum er sich beimBundesverkehrswegeplan mal wieder so heillos verzet-telt hat .Eine der wichtigsten Aufgaben des Verkehrsministersin dieser Wahlperiode ist es, einen umfassenden Plan zurlangfristigen Entwicklung der Verkehrswege vorzulegen .
Mit fast zweijähriger Verspätung, Kollegin Lühmann,haben wir jetzt mal so etwas wie einen Entwurf bekom-men, der aufschrecken lässt .
Der Plan ist unvollständig und nicht bezahlbar . Wenn derEntwurf so bleibt, wie er jetzt ist, können zentrale Aufga-ben nicht erfüllt werden .
Damit können weder die Verkehrsprobleme der Zukunftgelöst werden noch ein wirksamer Beitrag zum Klima-schutz geleistet werden . Klimaschutz: Fehlanzeige! Aberdas ist bei dem Abgasminister sowieso kein Wunder .
Die meiste Energie scheint der Minister in seine per-sönliche PR-Strategie zu stecken . Deswegen müssen wirhier klarstellen, dass die meisten Versprechen nichts an-deres als Augenwischerei sind . Es ist schlicht unwahr,Bernhard Daldrup
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dass die Projekte finanzierbar sind. Vielleicht nehmenSie einmal den Taschenrechner, werte Kolleginnen undKollegen, Herr Staatssekretär, und rechnen nach .Erstens . Es fehlt über die Hälfte der geplanten Schie-nenprojekte; denn es wurde nicht einmal geschafft, diesezu prüfen . Sie wissen auch noch nicht, bis wann Sie dieseprüfen wollen . Zweitens . Die Hälfte aller Straßenneu-bauten soll erst nach Ablauf des Planes, also nach 2030,umgesetzt werden . Sie haben uns in Wirklichkeit alsogleich den übernächsten Bundesverkehrswegeplan mitvorgelegt . Drittens . Es fehlt jede Berücksichtigung vonKostensteigerungen . Viertens . Es fehlt selbst bei den Be-rechnungen des Ministers mindestens 1 Milliarde Eurojährlich .Aber die Bezahlbarkeit ist bei weitem nicht das ein-zige Problem . Der Bundesrechnungshof, den wir alle sosehr lieben,
hat nachgewiesen, dass die Berechnungen nicht nach-vollziehbar sind . Zack, damit kracht Ihr ganzes Gebäudezusammen . Aber auch damit ist es noch nicht genug . DasUmweltbundesamt bescheinigt, dass elf der zwölf Zie-le aus dem eigenen Umweltbericht des Ministeriums fürVerkehr und digitale Infrastruktur – vielleicht ein biss-chen mehr Digitales als echter Verkehr – nicht erreichtwerden .
Selbst die Kabinettskollegin, Bundesumweltministe-rin Hendricks, distanziert sich vom Vorschlag des HerrnDobrindt .
Der Minister bekommt sein Papier von allen Seiten linksund rechts schön um die Ohren gehauen . So etwas pas-siert, werte Kolleginnen und Kollegen, wenn die PRwichtiger ist als der Inhalt .
So etwas passiert, wenn ein Minister im Grunde ein Ge-neralsekretär geblieben ist . Wäre er es doch tatsächlichgeblieben!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss sich dasalles auf der Zunge zergehen lassen: Seit fast fünf Jah-ren werden Gutachter, Ministerien und Verwaltungenbeschäftigt, ohne dass etwas Brauchbares dabei heraus-kommt . Das liegt nicht daran, dass dort schlechte Ar-beit gemacht wird, mitnichten . Es liegt daran, dass derFisch – wie heißt es so schön? – vom Kopf her stinkt . Esfehlen bei Herrn Dobrindt Willen oder Fähigkeit, Zielezu formulieren . Das beste Navigationsgerät führt nir-gends hin, wenn kein Ziel eingegeben wird .
Der Bundesverkehrswegeplan könnte tatsächlich et-was erreichen, wenn man ihn richtig anpacken würde .Aber Fehlanzeige! Deswegen muss das Vorhandene min-destens zu einem Bundesnetzplan aller Verkehrswegeweiterentwickelt werden . Das heißt, einzelne Projektedürfen nicht mehr isoliert betrachtet werden, sondern eskommt auf das Zusammenwirken aller Verkehrsmittel an .Dazu brauchen wir klare Vorgaben, wie die Klimaschutz-ziele von Paris erreicht werden können . Bisher geht esnur aufwärts mit den CO2-Emissionen im Verkehr . Dazumüssen wir ein Vorrangnetz in einem Netzplan definie-ren, das Deutschland intelligent in Europa einbindet .Ein vernünftiger Netzplan muss endlich auch Prioritätensetzen . Es braucht den Mut, die Projekte in eine echteRangfolge ohne lokale Rücksichtnahme zu bringen . Esist doch völlig klar, dass manches wichtiger ist .Die jetzigen groben Kategorien sind Augenwischerei .Sie bedeuten eben nicht, dass der sogenannte „Vordring-liche Bedarf zur Engpassbeseitigung“ zuerst realisiertwerden muss . Hier wird sich um eine klare Aussage ge-drückt, und zwar aus einem einzigen Grund: Es soll nachwie vor möglich sein, Wahlkreise zu beglücken .
Es kommt vielen Wahlkreisabgeordneten dieser Koaliti-on nämlich nicht darauf an, Verkehrsprobleme zu lösen .
– Schreien Sie ruhig laut, Herr Herzog, Sie erreichen so-wieso nichts .
Viel wichtiger ist Ihnen, weiterhin jedes Jahr MillionenEuro nach Hause in eine Ortsumfahrung zu lenken . Sogeht es nicht .
Es ist beschämend, wie wenig der Minister hinbe-kommt . Für so etwas gab es auf Spiegel Online einenbezeichnenden Begriff – ich zitiere –: „Achtung, Luscheam Steuer“ . Aber noch ist der Bundesverkehrswegeplannur ein Entwurf . Noch ist es möglich, daraus wirklichetwas Brauchbares zu machen, wenn das Ganze grund-sätzlich überarbeitet und zu einem Netzplan weiterent-wickelt wird .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen einSystem von vernetzten Verkehrswegen statt ein Sammel-surium an lokalen Wünschen . Menschen und Wirtschaftwollen nicht mehr mit platten Parolen hinters Licht ge-führt werden . Wir müssen weg von der Wünsch-dir-was-Politik, aber dazu braucht es Mut . Wir brauchen Mut inder Politik und keine Luschen .Dr. Valerie Wilms
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Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Patrick
Schnieder von der CDU/CSU das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich glaube, ich muss erst noch einmal klarstellen, worum
es hier geht: Wir reden über den Bundesverkehrswege-
plan 2030 . Das, was Sie hier gerade präsentiert haben,
war ein Zerrbild der Wirklichkeit . Das hatte mit dem,
worüber wir reden, überhaupt nichts zu tun .
Deshalb müssen wir noch einmal darüber reden, was hier
Thema ist .
Der vorliegende Entwurf des Bundesverkehrswege-
plans 2030 bedeutet Vorfahrt für Mobilität, ist eine Ant-
wort auf die Herausforderungen,
die die Verkehre stellen . Wir müssen Antworten darauf
geben, was wir in der Verkehrspolitik machen wollen .
Was Sie hier vorgestellt haben, ist ein Konzept, wie Mo-
bilität nicht aussehen soll . Das sind überhaupt keine Ant-
worten auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen .
Deshalb kann ich nur feststellen: Dieser Entwurf des
Bundesverkehrswegeplans, über den wir reden, verwirk-
licht genau die Ziele, die wir uns vorher gesetzt haben .
Wir bekommen von fast allen Seiten, mit Ausnahme von
Ihnen, Zustimmung zu dem, was vorgelegt worden ist,
weil genau diese Ziele verwirklicht werden .
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Aber bitte, gerne .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Vielen Dank, Kollege
Schnieder, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . Sie sa-
gen: Dieser Bundesverkehrswegeplan gibt Antworten auf
die Frage, wie wir unsere Ziele erreichen können . Ihnen
sind sicherlich die Klimaziele, die im Rahmen des Pariser
Abkommens unterschrieben worden sind, bekannt . Auch
aus den internen Beratungen der Bundesregierung wird
Ihnen bekannt sein, welchen Beitrag der Verkehrssektor
dazu leisten soll . An welchen Stellen dieses Entwurfs des
Bundesverkehrswegeplans 2030 sehen Sie Ansätze, die
darauf hoffen lassen, dass man diese Ziele im Verkehrs-
sektor zumindest ansatzweise erreichen kann?
Wenn man in den Entwurf schaut, insbesondere in den
anhängenden Bericht, kann man deutlich sehen, dass wir
auch CO2-Minderungsziele erreichen .
Deshalb verstehe ich nicht, worüber Sie hier reden . Das
hat jedenfalls nichts mit dem zu tun, worüber Sie geredet
haben . Das ist in der Tat richtig .
Eines muss man zu den CO2-Minderungszielen an-
merken: Der Verkehrssektor kann zwar einen großen
Beitrag leisten, aber es ist eine Illusion, zu glauben, dass
wir das alles über einen Bundesverkehrswegeplan regeln
und erreichen können . Was wir darüber erreichen kön-
nen, das wollen wir auch angehen . Sie können mir nicht
erzählen, dass wir viel für die Umwelt tun würden, wenn
wir Staustrecken bestehen lassen, wenn wir Engpässe
nicht beseitigen, wenn wir nicht in die Infrastruktur in-
vestieren .
Mit diesem Bundesverkehrswegeplan leisten wir auch
zur Erreichung dieser Ziele einen großen Beitrag .
Sie haben in Ihrer Antragsbegründung – das gilt auch
für das, was Frau Dr . Wilms gerade ausgeführt hat – auf
skurrile Art und Weise durchblicken lassen, wie Sie auf
diesen Plan schauen . Das war ja in großen Teilen eine
Selbstanklage . So liest sich auch Ihr Antrag .
Das, was Sie beschreiben und kritisieren, ist im Grunde
Ihr Werk . Den Bundesverkehrswegeplan 2003 haben Sie
ja mitgeschrieben; er trägt Ihre Handschrift . Das, was Sie
jetzt kritisieren, haben Sie selbst mit verbockt . Wir geben
jetzt Antworten auf die Herausforderungen, die entstan-
den sind .
Und Ihr einziger Lösungsvorschlag, den Sie im Antrag
formulieren, ist: Stopp, wir machen jetzt gar nicht wei-
ter . – Das kann nun wirklich nicht die Antwort auf die
Herausforderungen sein, vor denen wir stehen .
Herr Kollege Schnieder, es gibt den Wunsch nach ei-ner zweiten Zwischenfrage .Dr. Valerie Wilms
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 201616616
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Bitte sehr .
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischen-
frage zulassen . – Ich bin ein bisschen erstaunt, dass Sie
behaupten, dass wir gar nichts mehr machen wollen . Ich
zitiere aus unserem Antrag:
3 . bis zum Beschluss eines zum Bundesnetzplan
weiterentwickelten Bundesverkehrswegeplans kei-
ne weiteren Neubauprojekte zu beginnen, um den
Handlungsspielraum nicht weiter einzuschränken . . .
Das ist etwas ganz anderes, als gar nichts Neues mehr
machen zu wollen .
Wir sind dagegen, dass ständig etwas anfinanziert
wird, dass irgendeiner von Ihnen mit der großen Geld-
schütte durch das Land läuft und irgendwo eine Brücke
hinsetzt, die man nachher nicht weiter anschließen kann .
Können Sie bestätigen, dass es angesichts dieser Tatsa-
chen völlig unmöglich ist, Ihre Versprechungen im Bun-
desverkehrswegeplan einzuhalten? Sie schaffen es näm-
lich gar nicht, das tatsächlich durchzufinanzieren.
Liebe Frau Kollegin Dr . Wilms, das ist Ihre Behaup-tung, aber sie hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun . Dennes ist anders als im Bundesverkehrswegeplan 2003 . Wirhaben hier keine reine Wunschliste .
Wir wollen nicht „Wunsch und Wolke“ hineinschreiben,sondern wir haben eine realistische Vorstellung davonniedergeschrieben, was wir bis 2030 umsetzen können .Deshalb gilt die Aussage: Was dort im VordringlichenBedarf erscheint, wird auch realistisch umgesetzt werdenkönnen .
Wir wollen Mobilität ermöglichen, Sie scheinen dasGegenteil zu wollen . Deshalb bin ich froh, dass es hierandere Mehrheiten gibt, die dann einen solchen Plandurchsetzen werden .
Erster Punkt . Es ist sicherlich eine der Grundvoraus-setzungen für diesen Bundesverkehrswegeplan, dass wireine realistische Perspektive in den Blick nehmen unddass hier klare Finanzierungsperspektiven aufgezeigtwerden . Wir werden einen Plan vorlegen, der nicht voll-kommen überzeichnet ist .
– Ja .
– Der ist nicht überzeichnet . Da haben Sie schon etwasanderes vorgelegt .
Zweiter Punkt . Wir orientieren uns ganz klar am Prin-zip „Erhalt vor Neubau“ . Auch das bestreiten Sie . Dakann ich nur sagen: Ziehen Sie den Vergleich . Für Erhaltwerden wir etwa 70 Prozent der verfügbaren Projektmit-tel aufwenden . Im alten Bundesverkehrswegeplan warenes nur 56 Prozent . Das ist ein deutlicher Zuwachs .Wir treffen – dritter Punkt – klare Prioritäten . Das giltschon für die Betrachtung der verschiedenen Verkehrs-träger . Auf die Straße wird knapp die Hälfte der Mittelentfallen, auf Bahn und Wasserstraßen die andere Hälfte .Auch das ist eine deutliche Veränderung bzw . Verschie-bung gegenüber dem alten Plan und entspricht den For-derungen und Zielsetzungen, die wir uns vorher gegebenhaben .Das betrifft aber auch die Priorisierung der Maßnah-men innerhalb der einzelnen Verkehrsträger . Auch da ha-ben Sie vorhin Dinge erzählt, die mit der Wirklichkeitnichts zu tun haben . In Hauptachsen werden 75 Prozentder Mittel investiert . Ich weiß nicht, wie man daraufkommen kann, dass wir nur in Ortsumgehungen oder inregionale Verkehre investieren würden . Das Gegenteil istder Fall; ich will das hier festhalten . Es gibt eine klarePrioritätensetzung bei den Projekten .
Vierter Punkt . Engpassbeseitigung ist das nächsteStichwort . Allein 1 700 Straßenkilometer – Ausbau, Er-haltung – und 700 Schienenkilometer werden zur Eng-passbeseitigung ertüchtigt . Auch da muss ich fragen: Inwelcher Welt leben Sie, wenn Sie nicht erkennen, dassdas zur Engpassbeseitigung gehört? Das ist ein Schwer-punkt in diesem Bundesverkehrswegeplan .Fünfter Punkt – dieser zieht sich auch durch Ihren An-trag –: Wir machen zum ersten Mal eine Öffentlichkeits-beteiligung . Ich kann nicht verstehen, dass Sie in Abredestellen, dass wir in transparenter Weise unter Beteiligungder Bürgerinnen und Bürger diesen Plan vorlegen .
– Ja, sechs Wochen lang . Das ist doch keine Frage derQualität, ob ich sechs Jahre oder sechs Wochen dafürvorsehe . Denn wer Interesse an einem Projekt hat, wird
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sich in sechs Wochen dazu äußern und seine Meinungvorbringen können .
– Viele sind jedenfalls in der Lage, das zu tun . Wenn Siedas nicht schaffen, müssen Sie nicht andere dafür in Haf-tung nehmen .
Wenn ich das gesamte Werk betrachte, muss ich sa-gen: Alle Ziele, die wir uns gesetzt haben, werden wirdamit erreichen . Bei aller Feinjustierung, die wir nochvornehmen müssen, gilt: Die großen Linien stimmen .Ich würde Ihnen wünschen, dass Sie irgendwann in derWirklichkeit ankommen .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Sabine
Leidig von der Linken das Wort .
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Der Regierungsentwurf für den Bundesver-
kehrswegeplan 2030 zielt auf mehr Verkehr und Straßen
ab . Er ist umwelt- und klimaschädlich und geht an den
Mobilitätsbedürfnissen der Bevölkerung vorbei . Deshalb
sagen wir: Er muss vom Tisch .
Die Linke fordert einen ganz anderen, einen demokra-
tischen Bundesmobilitätsplan . Wir brauchen einen völlig
anderen Ansatz . Die Kommunen brauchen Spielraum für
eine Verkehrswende, die von den Leuten schon begonnen
wird . Die Bahn muss endlich in der Fläche ausgebaut und
nicht weiter abgebaut werden .
Es muss auch eine ernsthafte Ausrichtung an den
Klimazielen stattfinden. Ich weiß gar nicht, ob Sie sich
dessen bewusst sind: Bis zum Jahr 2050 dürfen wir fast
überhaupt kein CO2 mehr ausstoßen . Wir verbrauchen
heute ungefähr 5 000 Liter Öl pro Person . Wenn wir
ernsthaft herangehen würden, das zu ändern, um sozusa-
gen schrittweise dem Ziel näher zu kommen, müssten wir
zu einer Reduktion auf ein Zehntel dieser Zahl kommen:
nicht mehr 5 000 Liter, sondern nur noch 500 Liter . Dann
hätten wir eine Chance, diese Klimaschutzziele ohne ei-
nen richtig katastrophischen Knall zu erreichen . Davon
sind Sie himmelweit entfernt . Dazu haben Sie überhaupt
keinen Plan .
Die Präsidentin des Umweltbundesamtes, Frau
Krautzberger, sagt:
Der Entwurf des Bundesverkehrswegeplanes . . . ver-
fehlt elf der zwölf im eigenen Umweltbericht ge-
setzten Ziele .
Und:
Durch den zu starken Fokus auf die Straße zemen-
tiert der Entwurf weitgehend die nicht nachhaltige
Verkehrspolitik der vergangenen Jahre .
Ich füge hinzu: Dafür geben Sie 264 Milliarden Euro aus .
Sie machen nichts, um diese ambitionierten Ziele, die Sie
sich vertraglich selbst gegeben haben, zu erreichen . Das
halte ich für absolut unverantwortlich .
Ich will an einem Beispiel ausführen, warum ich der
Meinung bin, dass das Geld, das da ausgegeben wird,
viel stärker in die kommunale Bestimmung gegeben
werden muss . Eines der Autobahnprojekte, die in diesem
Verkehrswegeplan stehen, ist die A 100 in Berlin: 6,9 Ki-
lometer mitten durch dichtbewohntes Stadtgebiet für
sage und schreibe 1 Milliarde Euro . Das ist das teuerste
und dümmste Straßenbauprojekt, das man sich überhaupt
vorstellen kann .
Auf der offiziellen Seite des Berliner Senats schreiben
die Verantwortlichen zum Thema Verkehr: Wussten Sie,
dass der Kfz-Verkehr seit etwa dem Jahr 2000 kontinu-
ierlich abnimmt, obwohl die Bevölkerung in Berlin seit
fünf Jahren wächst?
Wussten Sie, dass rund die Hälfte der Haushalte in Berlin
überhaupt kein eigenes Auto hat? Wussten Sie, dass die
Fahrgastzahlen im öffentlichen Nahverkehr in Berlin in
den letzten Jahren deutlich angestiegen sind?
Wussten Sie, dass es mehr als doppelt so viele Fahrräder
wie Pkw pro 1 000 Einwohner in Berlin gibt?
Frau Kollegin Leidig, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Gerne .
Bitte .
Frau Leidig, danke, dass Sie die Zwischenfrage ge-statten . – Sie zählen viele Punkte auf, die aus Ihrer Sichtsicherlich sachlich begründet sind . Haben Sie auch, weilSie gerade die A 100 in Berlin ansprechen, den Umstandzur Kenntnis genommen, dass gerade bei diesem ProjektPatrick Schnieder
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viele Bürger, viele Institutionen die Möglichkeit genutzthaben, in das entsprechende System genau die sachlichenBegründungen, die Sie hier aufzählen, einzugeben, umdamit das Projekt noch einmal neu zu bewerten? Es gehtdarum, ob die A 100 wirklich um diesen Bestandteil ver-längert werden soll oder nicht . Es geht ja um den letztenAbschnitt, den Sie hier beschreiben . Es geht nicht um dieganze A 100 .
Genau .
Von daher denke ich, dass die Bürger und die kom-
munale Ebene doch exzellent beteiligt sind, wenn es um
genau diese Abschnitte geht . Man konnte sachliche Be-
gründungen für den Senat oder für das Bundesministeri-
um geben . Sind Sie da nicht meiner Meinung?
Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass es völlig berechtigt
ist, dass die Bürgerinnen und Bürger dort alle ihre Ein-
wände einbringen . Es gibt eine seit Jahrzehnten arbeiten-
de Bürgerinitiative, die wirklich hervorragendes Material
erarbeitet hat, das zeigt, warum dieser Weiterbau der Au-
tobahn für die Stadt und für alle völliger Unsinn ist .
Das Entscheidende ist aber – das ist, glaube ich, auch
in Berlin der Knackpunkt –, dass sich die Verantwortli-
chen entschieden haben, dieses Projekt zu verwirklichen,
weil die 1 Milliarde Euro, wenn sie es nicht verwirkli-
chen würden, nicht in den Straßenbau in Berlin, sondern
in den Straßenbau in einem anderen Bundesland fließen
würde . Wirklich notwendig wäre – das ist unser Plädo-
yer –, dass über das Geld in den Kommunen entschie-
den wird, dass also die Kommunen, die Regionen oder
die Ballungszentren entscheiden: Mit dieser 1 Milliarde
Euro bauen wir bessere und mehr Fahrradwege, damit
reparieren wir unsere kaputten Straßen, sodass die Fahr-
radfahrer nicht dauernd hinfallen, und damit bauen wir
unser öffentliches Nahverkehrssystem aus . – Das wäre
notwendig .
Ich sage Ihnen Folgendes: Die Baudezernentin von
Bremerhaven hat neulich an einem Gespräch mit einigen
Mitgliedern des Verkehrsausschusses teilgenommen .
– Na ja, okay . Wenn Sie sie als beantwortet ansehen, ist
das okay . Aber ich führe das noch aus .
Es ist so gedacht, dass man auf eine Frage antwortet;
das ist völlig richtig . Ich glaube, das ist jetzt geklärt .
Es ist in Ordnung; das betrifft sowieso das Thema,
über das ich sprechen möchte . – Wir haben in dem Ge-
spräch mit Vertretern des Deutschen Städtetages ein paar
wirklich spannende Dinge erfahren . Die Baudezernentin
von Bremerhaven sagte: Ich brauche Geld für den Rück-
bau von Straßen . Unsere Infrastruktur ist auf berufstätige
Männer, die Auto fahren, ausgelegt . Davon gibt es immer
weniger; es ist weniger als ein Drittel der Bevölkerung .
Ich brauche in unserer Stadt etwas ganz anderes . Dafür
habe ich überhaupt kein Geld . – Die Stadtbaurätin von
München sagte: Wir wollen Regionalentwicklung ma-
chen . Das Ballungszentrum quillt über . Wir haben au-
ßerhalb von München Kasernengelände . Wenn man sie
erschließen will, damit dort Wohnen und Arbeiten mög-
lich ist, braucht man eine Bahnanbindung . – Das sind die
wirklichen Herausforderungen und die Themen, die be-
arbeitet werden müssen .
Sie sagen einfach: Das ist Sache der Kommunen, der
Länder usw . – Aber so ist es eben nicht . Der Bund legt die
Maßstäbe fest und gibt die Marschrichtung vor . Solange
Sie daran festhalten, dass das Geld entweder für Straßen
verbaut wird oder gar nicht, geben Sie den Menschen vor
Ort nicht die Möglichkeit, die Verkehrswende in ihrem
Sinne zu gestalten und ihre Mobilitätsbedürfnisse zu be-
friedigen . Das ist aber genau das, was passieren muss:
Wir brauchen eine Demokratisierung bei der Mittelver-
wendung im Zusammenhang mit der Infrastrukturent-
wicklung auch beim Verkehr .
Ich möchte noch einen Satz zum Antrag der Grünen
sagen . Sie wollen den Bundesverkehrswegeplan weiter-
entwickeln . Ich bin ein bisschen traurig, dass Sie sich so
sehr auf die innere Logik dieses Verkehrswachstumspro-
gramms, das uns hier vorgelegt wird, einlassen .
Sie sagen im Grunde: Wir können das besser machen . –
Ich will nicht sagen, dass jede einzelne Ihrer Forderun-
gen unvernünftig ist . Es gibt sicherlich einige Ansätze,
die auch wir für richtig halten. Aber ich finde, das klingt
sehr nach Reparaturbetrieb und nicht nach einer wirkli-
chen Alternative .
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen .
Ich habe doch noch eine Minute .Stefan Zierke
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Minus, Entschuldigung! Sie haben schon eine Minute
überzogen .
Oh, dann komme ich zum Schluss; pardon .
Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass wir in unse-
rem Antrag fordern, diesen Plan zurückzuziehen und ein
wirklich alternatives Mobilitätskonzept vorzulegen, das
das Verkehrswachstum beendet, den Verkehr zielgerich-
tet von den Straßen auf Schienen verlagert –
Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte wirklich zum
Schluss!
– und Mobilität im Einklang mit Klimaschutzzielen
ermöglicht .
Danke .
Als nächster Redner hat Martin Burkert von der
SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Entwurfdes Bundesverkehrswegeplans liegt seit März diesesJahres vor . Er ist eine gute Vorlage – das will ich aus-drücklich sagen – im Hinblick auf die langfristige Pla-nung und Prioritätensetzung im Bereich des deutschenVerkehrsnetzes . Wir reden über ein Gesamtvolumen von264,5 Milliarden Euro . Dass diese Investitionen wichtig,richtig und notwendig sind, wird darin ausdrücklich ge-schildert . Ich will deshalb darauf hinweisen, Frau Wilms,dass die gesamte Verkehrsbranche diesen Entwurf desBundesverkehrswegeplans positiv bewertet .
Es gibt hier fast keine negativen Stimmen, und das istauch zu Recht so .Wir haben wichtige Neuerungen verankert . Im Fokusstehen dabei die überregionalen Verkehrsprojekte, die aufdas Gesamtverkehrsnetz wirken . Daneben haben wir dennotwendigen Schwerpunkt „Erhalt vor Neu- und Aus-bau“ gesetzt . 69 Prozent der gesamten Gelder sind fürden Erhalt vorgesehen . Zum Vergleich: Im Bundesver-kehrswegeplan 2003 waren dies 56 Prozent . Außerdemhaben wir die grundsätzliche Festlegung getroffen, dasses beim Aus- und Neubau um viel befahrene Verkehrs-wege, Lückenschlüsse und Engpassbeseitigung geht .Für uns als Sozialdemokraten, als SPD, war es darüberhinaus besonders wichtig, dass wir in den Koalitionsver-handlungen eine sechswöchige Öffentlichkeitsbeteili-gung durchgesetzt haben . Bis zum 2 . Mai 2016 könnenSie sich unter www .bvwp .de noch beteiligen . Ich rufedazu auf . Diese Bürgerbeteiligung ist ein sinnvolles In-strument .Ich sage Ihnen deshalb: Den Antrag und die Kritik derGrünen teile ich nicht .
Wir haben im neuen Bundesverkehrswegeplan41,3 Prozent der Mittel für die Schiene, 49,4 Prozent fürdie Straße und 9,3 Prozent für die Wasserstraßen vorge-sehen .Aus meiner Sicht müssen wir auch ein besonderesAugenmerk auf die Infrastruktur für den Schienengüter-verkehr richten . Wenn man sich die Verkehrsprognosenanschaut, dann stellt man fest, dass für den Schienengü-terverkehr bis 2030 eine Zunahme von sage und schreibe42,9 Prozent prognostiziert wird . Mehr Güterkapazitätenauf der Schiene sind also dringend notwendig . Danebenmüssen die Straßeninfrastruktur entlastet und die Klima-schutzziele – darin sind wir uns einig – erreicht werden .Ich sage: Das geht nur mit einer Stärkung der Schiene .Deswegen verbietet es sich übrigens auch, dass man beider DB Cargo einen Schrumpfkurs forciert . Auch darü-ber wird zu reden sein .
Einen Kritikpunkt muss ich hier aber anbringen: Beidem Abschnitt über die Schienenprojekte im Bundesver-kehrswegeplan, lieber Herr Staatssekretär,
könnte man schon den Eindruck gewinnen, dass er einwenig oberflächlich bearbeitet wurde.
Ich will dazu ein Beispiel aus Bayern nennen, nämlichVDE 8 – Hochgeschwindigkeitstrasse München–Ber-lin –, das letzte Verkehrsprojekt Deutschen Einheit, dasnoch nicht umgesetzt ist . Warum hier Teilstrecken deswichtigen Schienenprojekts zwischen Nürnberg und Er-furt aus dem Bezugsfall genommen und neu berechnetwerden sollen, ist nicht erklärbar . Es geht faktisch umden Güterzugtunnel in Fürth und die Ausbaustrecke inBamberg . Einzelabschnitte bleiben im Bezugsfall, ande-re sollen neu berechnet werden . Hier sehe ich einen drin-genden parlamentarischen Handlungsbedarf .http://www.bvwp.de
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Ein anderes auffälliges Beispiel: Dass die sogenannteMottgers-Spange im Entwurf des Bundesverkehrswege-planes noch aufgeführt wird, muss aus bayerischer Sichtebenfalls grundlegend hinterfragt werden, haben sichdoch zumindest alle Verantwortlichen aus Bayern hierdafür ausgesprochen, dass diese Variante nicht mehr wei-terverfolgt werden sollte .Wir sind auf den Dialog und auf das Moratorium, dasin Hessen stattfinden wird, sowie die dortigen Antwortengespannt . Mir ist das alles bekannt . Aus bayerischer Sichtsage ich: „Ein totgerittenes Pferd braucht man auch nichtmehr zu satteln“, um das einmal deutlich zum Ausdruckzu bringen .
Ein Ausbau zwischen Frankfurt und Fulda wäre an dieserStelle sicherlich sinnvoller .Ein Wort noch ans Ministerium, lieber Herr Staatsse-kretär .
Der fortschreitende Rückbau von Personal in der Eisen-bahnabteilung im BMVI ist meiner Meinung nach einsichtbar falsches Signal . Gegenüber der Deutschen BahnAG muss das Verkehrsministerium auch in Bezug auf dieBearbeitungsstärke Koch und nicht Kellner sein . Der Be-weis kann ja noch angetreten werden, aber das muss manhier auch einmal sagen .Als bayerischer Verkehrspolitiker möchte ich ab-schließend ganz allgemein die Perspektive des Freistaatsansprechen:Wir begrüßen es, dass vieles umgesetzt wird . Dasist gut für die Menschen vor Ort . Eine Steigerung derPkw-Zahlen in ganz Deutschland um 10 Prozent bedeu-tet für das Transitland Bayern 30 Prozent mehr Verkehr .Deswegen sind die Projekte zu Recht entsprechend be-nannt . 365 Projekte für die Straße und 220 Ortsumgehun-gen wurden angemeldet, leider keine Priorisierung; dashätten wir uns gewünscht, Kollege Lange . Aber ich binüberzeugt, wir werden da einiges zurechtrücken können .Ich glaube, wenn sich vor Ort über die Parteigrenzenhinweg alle einig sind, dass Projekte zurückgestuft oderganz aus dem Plan herausgenommen werden, dann soll-ten wir das auch tun, um dann Geld für wichtige Projektezur Verfügung zu haben . Ich bin überzeugt: Wir werdennoch in diesem Jahr einen guten Bundesverkehrswege-plan beschließen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Thomas
Jarzombek von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirhaben heute einiges dazu gehört, wie sich die Grünenvorstellen, eine Bundesverkehrswegeplanung durchzu-führen . Ich kann Ihnen sagen: Die Menschen in diesemLand sind froh, dass die Grünen gerade nicht die Bundes-verkehrswegeplanung bis 2030 machen .
Sie reden so viel vom Fahrradverkehr und Ähnlichem .Bei der letzten Wahlwerbesendung im Fernsehen sahich einen Ministerpräsidenten der Grünen, der mit einerS-Klasse durchs Land gefahren ist .
Offensichtlich wurde hier bei Ihnen schon ein gewisserModifikations- und Anpassungsbedarf befriedigt.Ich kann etwas Positives zu Ihrem Antrag sagen: Erenthält eine wirklich ehrliche Analyse der Verkehrspoli-tik aus der rot-grünen Regierungszeit . Sie schreiben, diebisherige Bundesverkehrswegeplanung stehe „in einemeklatanten Missverhältnis zu vorhandenen Haushalts-mitteln“ . – Das stimmt . Ich weiß gar nicht mehr, ob es Bodewig, Stolpe oder Klimmt war:
Es war jedenfalls ein Verkehrsminister der rot-grünenRegierung, der den letzten Bundesverkehrswegeplan imJahr 2003 aufgestellt hat .
Die Erfindung dieses Ministers bestand in der Pla-nungsreserve; das kann man auch heute noch nachlesen .Sie gewährleistet ein zusätzlich umsetzbares Bau-potenzial, das dann aktiviert werden kann, wenn esbei anderen Vorhaben zu Verzögerungen bei der Re-alisierung kommt .So hat er das damals gesagt .Meine Damen und Herren, diese Planungsreserve hatdazu geführt, dass manche Investitionsrahmenpläne drei-fach überzeichnet gewesen sind . Jetzt wollen Sie dochnicht allen Ernstes uns den Vorwurf machen, dass wirimmer noch dabei sind, eine unglaubliche Bugwelle vonteilweise Fantasieprojekten, die Sie in die Welt gesetzthaben, abzubauen .
Insofern, glaube ich, sollten Sie eher ein Lob für unshaben, dass die Finanzierung bei diesen Projekten jetztrealistisch ist .
Martin Burkert
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– Den harten Schnitt, liebe Frau Kollegin Wilms, fordernSie in Ihrem Antrag .
Aber daran sieht man, dass die Wahrnehmung der Wirk-lichkeit mit jedem Oppositionsjahr weiter abnimmt .
Sie wissen doch, wie der Bundesverkehrswegeplan auf-gestellt wird . Dafür sind jahrelange Berechnungen, Gut-achten, Planungen, Bürgerbeteiligungen, Beteiligungs-verfahrens in den Ländern und alles Mögliche gemachtworden . Wenn Sie heute fordern, alles wieder auf nullzu stellen, dann haben wir auf Jahre eine Zeit völligerUnsicherheit und ohne Planungsstrategie .Da Sie fragen, was diesem Plan zugrunde liegt, erkläreich das vielleicht noch einmal . Das könnte man nachle-sen . Man hätte auch heute Morgen um 7 .30 Uhr zum Ter-min mit der DB gehen können . Sie waren doch auch da,Herr Krischer . Da wurden doch die nationalen Korridore,die Sie fordern, recht klar erklärt .
– Ach, der Kollege Krischer war um 7 .30 Uhr noch nichtda . Das nehme ich zur Kenntnis, das ist kein Problem .Der Kollege Gastel wird Ihnen sicherlich berichtet ha-ben, was die Strategien sind .Sie konnten die nationalen Korridore, die heute Mor-gen vorgestellt wurden, doch sehr gut sehen . Dass diesemit den europäischen TEN-Korridoren korrespondieren,ist sinnvoll . Genauso sinnvoll ist, dass ein Ausbau des740-Meter-Netzes geplant ist, damit auch längere Güter-züge überall durch Deutschland fahren können, und dasses die Knotenpunkt- und Engpassbeseitigung gibt .Ich lese Ihnen das mal vor: Bei der Schiene ist esso, dass Engpässe auf einer Länge von 700 Kilometernabgebaut werden . Damit werden 11 400 Stunden ansonst jährlich zu erwartender Wartezeit abgebaut . Dasentspricht schon einmal 11 Prozent der zu erwartendenZugverspätungen . Über 1 Milliarde Pkw-Kilometer und780 000 Lkw-Fahrten pro Jahr werden damit vermieden .Das ist Engpassbeseitigung, weil wir uns ganz gezielt aufdie Knoten fokussieren .Das ist auch bei der Straße der Fall . Deshalb gibt esauch die neue Kategorie: Vordringlicher Bedarf – Eng-passbeseitigung . Das liegt daran, dass der Kern diesesBundesverkehrswegeplans die Beseitigung von Engpäs-sen ist .Eine weiterer Kernaussage lautet: Erhalt vor Neu-bau . Ich vergleiche einfach einmal: In dem letzten vonIhnen aufgestellten Bundesverkehrswegeplan 2003 wardie Quote nahezu fifty-fifty. Wir sind jetzt bei 69 ProzentErhalt und 31 Prozent Neubau . Insoweit ist das eine ver-nünftige und nachhaltige Politik . Es ist eine Politik, diewirklich vor Ort hilft .
Da Sie immer noch auf dem Rechnungshof und demNKV herumreiten: Ich habe einmal im BWL-Studiumgehört, dass man Kosten nicht berechnen kann, weil alleGemeinkosten am Ende doch sehr willkürlich sind . Ichglaube auch, dass in der gesamten NKV-Rechnung eineganze Reihe willkürlicher Komponenten enthalten sind .Wenn der Rechnungshof sich immer wieder darauf fo-kussiert und sagt, dass eine Schleuse unwirtschaftlich sei,weil er sie nur als Schleuse betrachtet und nicht sieht,dass sie einen Engpass für den gesamten Binnenwas-serweg, der an ihr dranhängt, darstellt, dann ist das, findeich, eine sehr willkürliche Kostenbetrachtung .
Deshalb klingt Rechnungshof immer fast so wie TÜV;aber in Wahrheit liegen hier schwere systematische Feh-ler vor . Darüber müssen wir, glaube ich, noch einmal re-den .Der Bundesverkehrswegeplan hat jetzt ein Gesamt-volumen von 264 Milliarden Euro . Dieses Volumen istzum ersten Mal ein realistisches . Damit werden wir inDeutschland viele gute Projekte realisieren können –auch diejenigen, die mir selber am Herzen liegen undwofür ich mich einsetze, nämlich beispielsweise für dasfünfte und sechste Gleis zwischen Duisburg und Düssel-dorf, den bestmöglichen Lärmschutz beim Rhein-Ruhr-Express und den Regionalhalt in Benrath .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Gustav Herzog
von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bei den gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischenGrünen und der Union musste ich etwas schmunzeln .Die Grünen haben beim Bundesverkehrswegeplan mit-gewirkt, und kurz danach war die Union in der Regie-rungsverantwortung . Wir müssen also sehen, dass wiralle für den heutigen Zustand die Verantwortung tragen .Deswegen ist etwas mehr Zurückhaltung in dieser Fragegeboten . Und so schlecht war das ja auch wirklich nicht .Vor wenigen Tagen hat mir Staatssekretär Ferlemanneine Liste darüber zugeschickt, was denn aus dem letz-ten Bundesverkehrswegeplan im Bereich Fernstraße er-ledigt worden ist . Danach liegen wir für das Jahr 2014bei 70 Prozent . Wenn man jetzt das hineinrechnet, wasdamals als Planungsreserve angenommen worden ist,dann kann man sagen, dass wir insgesamt gute Arbeit imBereich Neu- und Ausbau geleistet haben . Ich gebe allenThomas Jarzombek
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recht, die sagen, wir hätten mehr im Bereich des Erhaltstun müssen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen ver-langen, dass wir den Bundesverkehrswegeplan weiter-entwickeln . Deswegen lohnt sich der Blick zurück aufdas Jahr 2003 . Hat es denn eine Weiterentwicklung zudiesem Entwurf gegeben? Ja, es hat sie, was das Verfah-ren angeht, gegeben . Noch niemals war das Verfahren sotransparent und mit so viel Bürgerbeteiligung versehen .
Frau Kollegin Wilms, es wurde bewusst ein erster Ar-beitsentwurf erstellt . Die Regierung sagt: Wir nehmenden Sachverstand der Bürgerinnen und Bürger bzw . aller,die sich beteiligen wollen, um aus einem guten Plan ei-nen besseren zu machen . Und das Sahnehäubchen setzenwir als Parlament dann darauf .
Ich komme zu den Inhalten, die dieser Plan enthält .Ich glaube, die Opposition war richtig erschrocken, alsder Bundesverkehrsminister den Plan im Ausschuss vor-legte; denn alle ihre Erwartungen – die darauf hinauslie-fen, wir würden jetzt nur noch Straßen bauen und keinenErhalt mehr vornehmen; also all das, was Sie sich so anKritik vorgenommen haben – haben sich nicht erfüllt .Diese Kritik können Sie doch einpacken .
Sie ist einfach nicht gerechtfertigt, weil das, was imKoalitionsvertrag festgelegt worden ist und was wir am25 . März letzten Jahres gemeinsam im Deutschen Bun-destag beschlossen haben, vollzogen worden ist: Erhaltvor Neubau, eine ausgewogene Verteilung auf die Ver-kehrsträger und Beseitigung von Engpässen .
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Leidig zu?
Aber immer doch, gerne .
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen . – Also, wir
sind gar nicht erschrocken, weil wir es gar nicht anders
erwartet haben . Ich möchte Ihnen aber schon ganz ernst-
haft, Kollege Herzog, eine Frage stellen . Es gibt die Vor-
stellung, dass wir in 34 Jahren – um mehr Zeit geht es
nicht; es ist wahrscheinlich so, dass wir es noch erleben
können – mit null Öl- und CO2-Emissionen auskommen
sollen . Können Sie sich vorstellen, wie das mit der Infra-
struktur realisiert werden soll, auf die Sie jetzt zusteuern?
Das interessiert mich einfach. Ich finde es auch schwer
vorstellbar, aber meine Wahrnehmung ist, dass die Men-
schen vor Ort eine viel größere Vorstellungskraft haben
und vieles davon schon realisieren .
Es gibt praktisch gegen alle großen Autobahnausbau-
und -neubauprojekte seit Jahren Bürgerinitiativen .
Ich möchte gerne wissen:
Welche konkrete Vorstellung haben Sie davon, wie dieser
Umbau stattfinden soll?
Frau Kollegin Leidig, ich glaube, Sie machen einengrundlegenden Denkfehler, weil Sie der Auffassung sind,die Straße, die Schiene oder die Wasserstraße produzie-ren CO2 oder NOx .
Das ist nicht der Fall .
Es sind die Verkehrsmittel, die darauf bewegt werden .Jetzt erläutere ich Ihnen meine Version: Auf der Was-serstraße werden die Schiffe mit Wasserstoff- und Brenn-stoffzelle fahren . Wir werden den Schienenverkehr, obNahverkehr, Fernverkehr oder Güterverkehr, bis 2050 zu100 Prozent mit grünem Strom versorgen, und es wirdauch weiterhin der Individualverkehr mit dem Pkw statt-finden. Mit der Elektromobilität werden wir dafür sorgen,dass kein CO2-Ausstoß erfolgt . Aber weiterhin wird dieStraße, ob Bundesstraße oder kommunale Straße, not-wendig sein . Das werden wir in 2050 haben: CO2-freierVerkehr auf Straße, Schiene und Wasserstraße .
Ich war gerade bei der Frage der Kollegin Wilms nacheinem Vorrangnetz . Frau Kollegin Wilms, wenn Sie sichdie Arbeit machen, das nachzulesen, was wir im Bun-desverkehrswegeplan zur Engpassbeseitigung skizzierthaben, zum Beispiel bei TEN-Projekten und den Was-serstraßen der Kategorie A, dann stellen Sie eine großeÜbereinstimmung fest . Das, was Sie als Vorrangnetzwünschen, ist bereits im Plan abgebildet .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe ein anderesProblem . Wir haben einen Plan . Wir haben Geld . Aberwir suchen die Ressource, um das alles in den nächstenJahren umzusetzen . Wir haben heute Morgen die Vertre-ter der DB AG gezielt gefragt, wie sie das alles umsetzenGustav Herzog
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(D)
wollen . Wir wissen aus der Wasserstraßen- und Schiff-fahrtsverwaltung, dass dringend Personal für Planungund Bau benötigt wird . Wir wissen auch, dass die Länderhäufig nicht in der Lage sind, all das umzusetzen, waswir für notwendig halten . Von daher sollten wir in Zu-kunft das Augenmerk verstärkt darauf richten, wie wir alldas Gute, das wir im Deutschen Bundestag beschließenwerden, dann auch dem Bürger und der Bürgerin zur Ver-fügung stellen können .Der Entwurf des Bundesverkehrswegeplans ist positivbewertet worden . Der nordrhein-westfälische Verkehrs-minister hat ihn als größtes Antistauprogramm für seinLand bezeichnet .
Bei Bayern tue ich mich etwas schwer, Kollege Burkert,weil ich nicht genau weiß: Wer ist wofür oder gegen et-was, und zwar parteiübergreifend? Aber die anderen, diesich mit Verkehrspolitik beschäftigen, finden es gut. Ichnehme es als ein positives Signal, dass es auch seitensderjenigen, die immer darauf achten, ob die Ahrensbur-ger Liste und die Düsseldorfer Liste berücksichtigt wor-den sind, eine große Übereinstimmung gibt . Da habenwir unsere Hausaufgaben gemacht .Weil alle Parteien bis auf die Linke am 13 . März indrei Ländern in Regierungsverantwortung hineinmanö-vriert wurden, halte ich fest: Auch in den Koalitionsver-trägen in den drei Ländern findet der Bundesverkehrswe-geplan mit geringen Abweichungen Zustimmung .Ich will mich noch in drei Punkten mit den Kritikernauseinandersetzen .Erstens, der Klimaschutz . Frau Kollegin Leidig, esgeht um den Bundesverkehrswegeplan, nicht um denKlimaschutzplan der Bundesrepublik .
Es findet aber in diesem Plan eine sehr sorgfältige Abwä-gung statt, welche Auswirkung welcher Investitionsan-teil bei den verschiedenen Verkehrsträgern hat . Eine Er-höhung der Investitionen auf 62 Prozent bei der Schienewürde lediglich zu einer Einsparung von 1 Million Ton-nen von 190 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2030 führen .Der gesellschaftliche Anspruch der Leichtigkeit und Si-cherheit des Verkehrs überwiegt hier eindeutig .Den zweiten Punkt – Thema Klimaschutz – habeich schon genannt: Wir müssen darauf setzen, dass dieVerkehrsmittel, die genutzt werden, CO2-frei unterwegssind .Was den Flächenverbrauch angeht, habe ich einenBlick in die große Liste des Umweltbundesamtes gewor-fen . Damit werden wir uns insgesamt noch sehr sorgfältigauseinandersetzen . Zum Lückenschluss der A 1 zwischenNordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind drei Pro-jekte vorgesehen, darunter eines über eine Strecke von10 Kilometern und eines über 6 Kilometer . Zwei dieserProjekte sollen umgesetzt werden; eines wurde vomUBA gestrichen . Das ist nicht logisch . Deswegen müssenwir uns noch einmal damit befassen . Es kann jedenfallsnicht allein um den Flächenverbrauch gehen .Abschließend will ich noch etwas zur Verlagerungs-perspektive sagen . Wir geben deutlich mehr Geld fürSchiene und Wasserstraße aus, als diese an Verkehrsleis-tungen erbringen . Frau Kollegin Leidig, im Übrigen stelltder Bund den Ländern 8 Milliarden Euro an Regionali-sierungsmitteln für den Schienenpersonennahverkehr zurVerfügung . Das ist mehr, als wir für die Straße ausgeben .
Das ist mehr, als wir für die Schiene ausgeben . Das istmehr, als wir für den Fernverkehr ausgeben . Das ist mehr,als wir für die Wasserstraße ausgeben . Ihre Behauptung,der Bund komme seiner Verantwortung für den kommu-nalen Verkehr nicht nach, geht völlig an der Wirklichkeitvorbei .Ich freue mich auf die weiteren Beratungen .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Ulrich Lange von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ja, er liegt endlich da .
Natürlich freuen wir uns über den ersten Entwurf einesBundesverkehrswegeplans .
Wir haben überwiegend große Zustimmung erfahren .Liebe Kollegin Leidig, Sie haben schon eine sehr selek-tive Wahrnehmung,
wenn Sie sich nur mit Bürgerinitiativen, die dagegensind, auseinandersetzen . Wir sprechen genauso gern mitBürgerinitiativen, die dafür sind, weil wir auch einmalfür etwas sein wollen und sein können .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, es istwirklich müßig, aber das Spiel läuft immer gleich: FürSie ist Doppelzüngigkeit typisch, wenn es um das Ver-Gustav Herzog
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 201616624
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hältnis zwischen Berlin und den Ländern geht . Sie ver-halten sich immer gleich .
Hier in Berlin sagen Sie, man könne mit diesem Bundes-verkehrswegeplan überhaupt nichts anfangen . Ich darfzwei Ihrer Länderkollegen zitieren . Der VerkehrssenatorJoachim Lohse aus dem Stadtstaat Bremen sagt – FrauKollegin Leidig, vielleicht hören auch Sie zu, da Sie sichüber diesen Stadtstaat geäußert haben –: „Aus BremerSicht ist der neue Bundesverkehrswegeplan ein vollerErfolg .“
Aus Baden-Württemberg hören wir von Winnie Hermann,dem Minister der Spatenstiche in den letzten Wochen undMonaten – das hat ihm richtig gut gefallen; bei jedemSpatenstich wollte er gleich einen neuen Spaten für dennächsten Stich haben –, zum neuen Bundesverkehrswe-geplan: „Es bleiben da nur wenige Wünsche offen .“
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ein biss-chen mehr innere Stringenz täte Ihnen wirklich gut .
Wir haben einen durchfinanzierten Bundesverkehrs-wegeplan .
Wir haben für einen Investitionshochlauf gesorgt . Wirhaben die Wende hin zu mehr finanziellen Mitteln für dieVerkehrsinfrastruktur und alle Verkehrsträger geschafft .Das ist eine große Leistung der Großen Koalition .
Wir haben die Beseitigung des Engpasses beim vor-dringlichen Bedarf priorisiert . Aber wir haben mit un-serem Beschluss auch klar festgelegt: Es gibt zunächsteinen vordringlichen Bedarf und dann einen weiterenBedarf .
Wir bewegen uns also in zwei Blöcken mit klaren Aussa-gen . Wir haben zudem Netzzusammenhänge berücksich-tigt .
Schauen Sie sich den Bundesverkehrswegeplan docheinmal genau an . Lesen bildet!Wir haben die Umweltverträglichkeit im Rahmen derStrategischen Umweltprüfung überprüft . Da wir hier ei-nen Bundesverkehrswegeplan vorlegen, kann ich man-che Kritik nicht ganz nachvollziehen .
Für uns gilt noch immer, dass die verkehrlichen Belangeund die Umweltbelange gegeneinander abzuwägen sindund dass an der einen oder anderen Stelle die verkehrli-chen Belange überwiegen müssen .
Denn am Ende gilt immer noch: Mensch vor Maus .
Das, was Sie wollen, wäre ein sofortiger Stopp Ihreseigenen Gesetzes . Nein, das machen wir nicht; denn wirsind gesetzestreu . Das gilt für uns Parlamentarier ebensowie für die Bundesregierung . Wir werden das, was be-schlossen wurde, umsetzen . Das geschah damals nichtmit unserer Mehrheit; aber wir arbeiten gemeinsam daranseit vielen Jahren, und zwar in den unterschiedlich stenKonstellationen, übrigens auch ganz intensiv mit denGrünen in den Ländern, wenn es um die Umsetzung eini-ger Projekte geht, die auch sie nicht stoppen . OrientierenSie sich bitte auch hier an der Realität .141,6 Milliarden Euro für den Erhalt zeigen auchdie neue Qualität des Bundesverkehrswegeplans . DemGrundsatz „Erhalt vor Neubau“ wurde weiß Gott Rech-nung getragen . Liebe Kollegin Wilms, weil Sie es vonmir auch heute Nachmittag unbedingt noch einmal hörenwollen: Ja, zum Glück haben wir Ortsumfahrungen; dennes gibt viele gute und wichtige Ortsumfahrungen .
Sie sind wichtig zur Entlastung der Menschen . Ortsum-fahrungen sind nicht grundsätzlich negativ . Viele Orts-umfahrungen sind einfach verkehrlich gut .
Wir haben mit dem Entwurf des Bundesverkehrs-wegeplans etwas Positives auf den Weg gebracht . Jetztist eines gefordert: Auch die Länder müssen mitziehen;denn der Bund allein kann es nicht . Nur, eines geht inZukunft nicht mehr: der Fingerzeig auf den Bund, weilnicht gebaut werden kann, ganz egal aus welchem Landund von welcher Regierung er kommt . Wir haben einenVerkehrswegeplan in Arbeit, der bald fertig ist, und wirhaben einen Finanzierungshochlauf . Liebe Länder, jetztseid ihr dran, zu planen und Baurecht zu schaffen . Ihrkönnt nicht mehr mit dem Finger auf den Bund zeigen .In diesem Sinne: Packen wir es an .Danke schön .
Ulrich Lange
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16625
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Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-
mit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8083 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . – Ich sehe dazu kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tags auf Mittwoch, den 11 . Mai 2016, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein
schönes, erholsames Wochenende . Bis bald .