Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sieherzlich.Wie Sie wissen und auch miterlebt haben, ist gesternder Kollege Hans-Peter Bartels als Wehrbeauftragter desDeutschen Bundestages vereidigt worden. Er hat deshalbsein Bundestagsmandat niedergelegt. Für ihn ist die Kol-legin Dr. Karin Thissen nachgerückt, die ich im Namendes Hauses herzlich begrüßen möchte.
Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit, Frau Thissen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 bauf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Tarifeinheit
Drucksache 18/4062Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/4966b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten JuttaKrellmann, Klaus Ernst, Ulla Jelpke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKETarifautonomie stärken – Streikrecht ver-teidigen– zu dem Antrag der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Kerstin Andreae,Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSolidarität im Rahmen der Tarifpluralitätermöglichen – Tarifeinheit nicht gesetzlichregelnDrucksachen 18/4184, 18/2875, 18/4966Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung werdenwir später namentlich abstimmen, sodass sich bitte alldiejenigen, die noch nicht im Plenum sind, aber dieseAnsagen verfolgen, darauf einrichten mögen, dass diesenamentliche Abstimmung vermutlich in gut einer Stundestattfindet.Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, für dieseAussprache 60 Minuten vorzusehen. Darf ich fragen, obdarüber Einvernehmen besteht? – Das ist der Fall. Dannhaben wir das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundes-ministerin Andrea Nahles das Wort.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ein Betrieb – ein Tarifvertrag: DieserGrundsatz hat in Deutschland eine lange Tradition und,wie ich finde, eine gute.
60 Jahre lang hat unser Land von der Tarifeinheit pro-fitiert. 60 Jahre lang haben sich die Gewerkschaften voneiner Idee leiten lassen: Gemeinsam sind wir stärker alsgegeneinander. Über Jahrzehnte führte die Tarifeinheitdazu, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber ihre jeweili-gen Interessen durchsetzen und dabei doch immer auchden Ausgleich im Blick behalten konnten. Dieser Aus-gleich ist ein echter Standortvorteil für Deutschland.
Was wir seit 2010, seit der geänderten Rechtspre-chung des Bundesarbeitsgerichtes zur Tarifeinheit, be-obachten, macht vielen Menschen Sorgen. Arbeitgeberund der Deutsche Gewerkschaftsbund haben sich sofortgemeldet und die Bundesregierung direkt nach dieserGerichtsentscheidung aufgefordert, die Tarifeinheit perGesetz wiederherzustellen. Beide Seiten wollen die
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10230 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Bundesministerin Andrea Nahles
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Tarifeinheit; denn sie wissen um den Wert des sozialenFriedens in den Betrieben. Beide Seiten wollen die Ta-rifeinheit, weil sie Tarifkollisionen vermeiden wollen;denn Tarifkollisionen gefährden die Funktionsfähigkeitder Tarifautonomie.
Deswegen haben wir vereinbart, hier eine Lösung vorzu-legen.Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es, das Funktio-nieren der Tarifautonomie sicherzustellen und der So-zialpartnerschaft Raum und Regeln zu geben. Für uns istklar: Das Koalitionsrecht und das Streikrecht tasten wirnicht an.
Die Tarifparteien bleiben uneingeschränkt in der Verant-wortung „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- undWirtschaftsbedingungen“, wie es das Grundgesetz in Ar-tikel 9 festlegt.
Manchmal muss gekämpft und manchmal muss ge-streikt werden; auch wenn es am Ende immer einenKompromiss geben muss, ist dies notwendig. In der Ge-schichte der Bundesrepublik haben wir immer wiedergesehen, dass Gewerkschaften nicht nur für ihre Mitglie-der gestreikt haben, sondern auch, um gesellschaftlichenFortschritt zu erreichen.Gesellschaftlicher Fortschritt und soziale Errungen-schaften kommen eben nicht von alleine. Streiks und Ar-beitskämpfen haben wir zu verdanken, dass wir Lohn-fortzahlung im Krankheitsfall, Arbeitszeitverkürzungund Gesundheitsschutz, Weiterbildung und ganz mo-derne Ansätze zur Bewältigung der demografischen He-rausforderungen haben. Und deswegen steht das Streik-recht überhaupt nicht in Rede, um es ganz klar zu sagen.
Die Tarifautonomie ist allerdings gleichfalls nicht ir-gendetwas, sondern sie ist ein wichtiges Verfassungsgut.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusam-menhang möchte ich die Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts zitieren:Die Tarifautonomie ist darauf angelegt, die struktu-relle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmerbeim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollek-tives Handeln auszugleichen und damit ein annä-hernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhneund Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.Dieser vom Bundesverfassungsgericht klar beschrie-bene Gedanke des kollektiven Handelns wird ad absur-dum geführt, wenn die streikmächtigen Berufsgruppenihr Streikrecht nur für sich selbst einsetzen und nichtzum Wohle der gesamten Belegschaft.
Mit dem Tarifeinheitsgesetz setzen wir genau hier an.Tarifeinheit stärkt die Grundlagen gewerkschaftlicherInteressenvertretung in Deutschland. Tarifeinheit stärktdie Tarifautonomie. Mehr kann die Politik aber nicht tun.Es sind die Sozialpartner, die mit ihren Rechten ebenauch verantwortlich umgehen müssen.Und deswegen freue ich mich, dass die Tarifauseinan-dersetzung bei der Bahn nun – wenn auch spät – zumin-dest auf dem richtigen Gleis ist. Das ist genau im Sinneder Tarifeinheit, das ist der Sinn unseres Gesetzes: Wirsetzen auf Kooperation und Einigung, meine Kollegin-nen und Kollegen.
Ich möchte auf den Vorwurf eingehen, wir wolltenmit dem Gesetz zur Tarifeinheit kleine Gewerkschaftenwegräumen. Diese Behauptung hat weder Hand nochFuß. Schauen wir zum Beispiel einmal auf die GDL: DieGewerkschaft der Lokführer gibt es seit 1867.
Sie ist eine der ältesten Gewerkschaften überhaupt inDeutschland. Wer würde heute behaupten, sie habe60 Jahre Tarifeinheit nicht gut überstanden, meine liebenKolleginnen und Kollegen?
Die Tarifeinheit läuft nicht auf das Ende für kleineGewerkschaften und Berufsverbände hinaus.
Viele zeigen doch seit Jahrzehnten, wie es gut laufenkann mit der Kooperation. Was der Deutsche Beamten-bund und Verdi zusammen tun, das ist doch ein gutesBeispiel. Ihre Tarifgemeinschaft funktioniert und nutztbeiden. Das kann auf der Basis dieses Gesetzes genausoweitergehen. Sie sind gemeinsam stärker als gegeneinan-der. Das ist der entscheidende Punkt, und das hat überJahrzehnte funktioniert.
Darum vollenden wir mit dem heutigen Gesetz auchunser Vorhaben, der Tarifautonomie wieder Raum zu ge-ben und die Sozialpartnerschaft in Deutschland zu stär-ken. Mit dem Tarifpaket, mit dem Mindestlohn habenwir an diesem Ziel gebaut; mit der Tarifeinheit schließenwir diesen wichtigen Bau für diese Legislaturperiode ab.Wir halten damit Wort.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein sorg-fältig erarbeitetes, breit diskutiertes und breit getragenesGesetz vorgelegt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10231
Bundesministerin Andrea Nahles
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Es basiert auf dem Prinzip der Subsidiarität, und es fußtauf dem demokratischen Mehrheitsprinzip. Denn Vor-rang hat immer: Gewerkschaften und Arbeitgeber eini-gen sich untereinander ohne staatliches Eingreifen, aberunter Einhaltung demokratischer Regeln. Das ist derVorschlag, den wir unterbreiten. Es zeigt, dass wir Ver-trauen haben in unsere Institutionen und Traditionen, inKooperation und Kompromissfähigkeit, Koalitionsfrei-heit und Verantwortung.
Darum geht es.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke erhält nun der Kollege
Klaus Ernst das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Ministerin, ich habe den Eindruck, Sie ha-ben eben Tante Nahles’ Märchenstunde eingeläutet.Schon der Titel Ihres Gesetzentwurfs ist purer Etiketten-schwindel.
Es geht Ihnen nicht darum, dass in einem Betrieb nurnoch ein Tarifvertrag gilt, also um die Tarifeinheit. WennSie das wirklich wollten, dann müssten Sie die Regelun-gen bei der Leiharbeit und bei den Werkverträgen än-dern.
Sie müssten den Betriebsräten mehr Rechte geben, wennBetriebe verlagert und Tarifverträge ausgehebelt werden.Sie müssten die Verbände an die Kandare nehmen, diekeine Tarifbindung wollen. Aber das, was Sie hier ma-chen, das ist ein Skandal!
Alles bleibt, wie es ist. Sie ändern überhaupt nichts!Es kümmert Sie nicht, dass die Menschen ohne Tarifver-träge arbeiten. Das ist eine Täuschung der Öffentlich-keit, meine Damen und Herren.
Wenn Sie alles das, was ich eben angesprochen habe,wirklich wollen, dann sorgen Sie endlich für entspre-chende Regelungen. Machen Sie Ihre Hausaufgaben,Frau Nahles!
– Ja, Sie regen sich auf, aber diskutieren Sie das lieber inIhren eigenen Reihen.Was will das Gesetz wirklich? Das Gesetz sieht eineEinschränkung des Streikrechts kleiner Gewerkschaftenvor. Das ist es, was Sie hier vorlegen, Frau Nahles! Ichmöchte den Kollegen Detlef Hensche zitieren, den frü-heren Vorsitzenden der IG Medien:Das Gesetz zielt nach Inhalt und Begründung un-übersehbar auf die Aktivität streikfähiger undstreikbereiter Berufsverbände. Sie sollen rechtlichdiszipliniert und ruhiggestellt, ja um ihre Existenz-berechtigung gebracht werden.Das ist es, was Sie vorlegen, und nichts anderes, FrauNahles.
Sie sind natürlich nicht so dumm, im offenen Kampfeinfach das Streikrecht einzuschränken; das ist dochklar. Sie machen es anders. Sie sagen: Der Tarifvertrageiner kleinen Gewerkschaft gilt nicht, wenn eine größereGewerkschaft einen Tarifvertrag abgeschlossen hat.Streiks wären dann aber unzulässig, weil ein Streik nurdann rechtlich zulässig ist, wenn er der Erzielung einesTarifvertrags gilt. Da die kleinere Gewerkschaft aberkeinen Tarifvertrag abschließen kann, ist der Streik auto-matisch unzulässig. Das ist der Trick, mit dem Sie dieÖffentlichkeit täuschen, Frau Nahles. Genau so ist es!
Ihre Regierung gibt das inzwischen sogar zu. Ichmöchte Ihre Staatssekretärin zitieren – es war sehr erhel-lend, was Frau Kramme gesagt hat –:Die Prüfung eines Streiks durch ein Gericht kannergeben, dass dieser unverhältnismäßig sein kann,soweit ein Tarifvertrag erzwungen werden soll, des-sen Inhalte evident nicht zur Anwendung kommen.So in der Süddeutschen Zeitung. – Damit schränken Siedas Streikrecht ein, und das weiß auch jeder.
Mich ärgert ganz besonders, dass die Sozialdemokra-ten dies wissen. Einige von Ihnen sind Gewerkschafter,die ich seit 20, 30 Jahren kenne.
Ich weiß doch, wie ihr diskutiert habt. Ich kann nichtverstehen, dass die SPD da mitmacht. Mein Gott, das istein Trauerspiel, was die SPD in dieser Republik abzieht.Ein Trauerspiel!
Dabei wäre die Sache ganz einfach.
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Herr Kollege Ernst, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Ja, selbstverständlich.
Das ist ja ganz hervorragend.
Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp?
Bitte schön, Frau Kollegin Stamm-Fibich.
Herzlichen Dank, dass Sie mir die Zwischenfrage er-
lauben, bevor es ganz emotional wird. – Wie ich an-
nehme, gehören Sie und ich der gleichen Gewerkschaft
an, nämlich der IG Metall, und ich glaube, wir sind auch
Mitglied im gleichen Bezirk in Bayern. Ich kann die
ganze Aufregung nicht ganz verstehen, da gerade die
Gewerkschaft, der wir beide angehören, uns heute zur
Seite steht und sagt: Jawohl, das ist gut, was ihr tut.
Wollen Sie jetzt behaupten, dass die IG Metall die
kleinen Gewerkschaften zerstört? Das möchte ich gern
wissen.
Herzlichen Dank für diese Frage. Ich bin geradezudankbar dafür; denn das gibt mir Gelegenheit, einezweite Rolle dieses Gesetzes zu erläutern. Dieses Gesetzspaltet den DGB.
Ich möchte Ihnen das auch begründen. Dieses Gesetzspaltet den DGB; denn eine große Gewerkschaft, näm-lich Verdi, lehnt es in Bausch und Bogen ab.
Nun sage ich Ihnen noch etwas zu meiner Gewerk-schaft, der IG Metall. Ich weiß, dass sich der Vorstandder IG Metall in dieser Frage auf dünnem Eis bewegt,weil viele Funktionäre und viele Mitglieder der IG Me-tall das ganz anders sehen, als dies die IG Metall nachaußen darstellt, meine Damen und Herren. Das ist dieWahrheit.
Ich sage Ihnen noch etwas: Dass ausgerechnet dieSPD ein Gesetz macht und sich auf den DGB beruft – –Wie ich sehe, haben Sie sich wieder hingesetzt, FrauKollegin. Gut, dann höre ich mit der Antwort auf undfahre einfach fort.Dabei ist alles ganz einfach. Wie war der Spruch? EinBlick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Dannschauen wir uns doch Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetzeinmal an:Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Ar-beits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungenzu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe ge-währleistet.Für alle Berufe, auch für Lokführer, Piloten und Ärzte.Was muss man da eigentlich noch groß diskutieren? Dassteht doch ganz einfach dort drin.
Es geht weiter:Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu be-hindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichteteMaßnahmen sind rechtswidrig.Genau eine solche Maßnahme führen Sie hier durch,meine Damen und Herren.
Im Übrigen: Dass Sie uns trotz dieser eindeutigenFormulierung im Grundgesetz ein solches Gesetz vorle-gen, ist eigentlich eine Zumutung. Ich möchte einen Ver-gleich bringen, damit deutlich wird, was Sie hier ma-chen. Ich weiß nicht, ob sich der eine oder andere fürSkisport interessiert. Da gibt es einen Parallelslalom.
Da fahren zwei gleichzeitig los, und wer der Schnellereist, hat gewonnen. Was Sie aber machen, würde bedeu-ten: Es wird nach dem Zieleinlauf geprüft,
welcher Skifahrer eigentlich im größeren Skiverband ist.Wer Mitglied im größeren Verband ist, gewinnt automa-tisch; der andere braucht gar nicht erst anzutreten. Genaudas ist Ihr Gesetz, und genau deshalb sagen wir: Das wi-derspricht dem Grundgesetz und hat mit der Realität inunserem Lande nichts zu tun.Ganz zum Schluss: Unser Grundgesetz hat ein Prinzip– ich habe einmal nachgeschaut –: 36-mal steht in unse-rem Grundgesetz das Wort „Freiheit“. 36-mal! Mit dem,was Sie hier tun, schränken Sie nicht nur das Streikrechtein. Sie schränken auch einen wesentlichen Grundsatzunserer Verfassung ein: die Freiheit. Genauso wie es dieFreiheit gibt, einen Beruf auszuüben, ein Gewerbe zu be-treiben, haben die Arbeitnehmer auch das Recht, sichdort zu organisieren, wo sie wollen, und dann müssen sieauch dieselben Rechte haben – in der einen und in deranderen Gewerkschaft.
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Nächster Redner ist der Kollege Karl Schiewerling
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Warum legen wir dieses Ge-setz vor? In Deutschland bezog man sich 56 Jahre langauf den früheren Präsidenten des Bundesarbeitsgerich-tes, Herrn Nipperdey, zur Tarifeinheit.
Es hat in dieser ganzen Zeit nur fünf Gerichtsentscheidezu Konflikten gegeben, und diese Gerichtsentscheide ha-ben sich auf Herrn Nipperdey bezogen. Es war klar: Ineinem Betrieb soll ein Tarifvertrag für ein und dieselbePersonengruppe, für ein und dieselbe Berufsgruppe gel-ten.
Nach der Aufgabe dieser Position durch das Bundes-arbeitsgericht 2010 wurde es aus Sicht der Tarifpartner,des DGB und der BDA, notwendig, dem Wunsch, dassin Zukunft weiterhin in einem Betrieb ein Tarifvertragfür ein und dieselbe Personengruppe gilt, eine rechtlicheGrundlage zu geben. Dabei war allen Beteiligten imRahmen dieses Prozesses seit 2010 klar, dass wir zwareinen solchen Schritt versuchen können, wir ihn abernicht – ebenso wenig die Zusammenarbeit in den Betrie-ben – befehlen können. Deswegen hat dieser Gesetzent-wurf, wie er jetzt vorliegt, das eigentliche Ziel, Friedenin den Betrieb hineinzubringen und Stufen zu schaffen,wie man sich bei unterschiedlicher Auffassung verstän-digen kann.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurfspalten wir nicht, mit diesem Gesetzentwurf einen wir,
und mit diesem Gesetzentwurf schaffen wir Strategien,die Gewerkschaften in einem Betrieb anwenden können,um gemeinsame Positionen zum Wohle der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer, der Belegschaft zu vertre-ten.
Artikel 9 Absatz 3 unserer Verfassung sichert denBürgerinnen und Bürgern das Recht zu, Berufsgewerk-schaften zu gründen, Gewerkschaften für einen Betrieb,für eine Fläche, für eine Branche. Dieses hohe Freiheits-gut darf auf keinen Fall angetastet werden!
Auf der anderen Seite aber steht ein anderes Gut. Das istdas hohe Gut des Betriebsfriedens, ein hohes Kulturgut,das uns in Deutschland 65 Jahre Frieden und Wohlstandgebracht hat.
Die hohe Prosperität unseres Landes geht auf dieseÜbereinkunft zurück.Mit dem Gesetz, das heute zur Verabschiedung vor-liegt, geht es nicht darum, Wege zu finden, wie mankleine Gewerkschaften vor die Tür setzt, sondern darum,Treppen zu bauen, wie man sich innerhalb eines Betrie-bes verständigen kann – ohne dass das Gesetz befielt,wie das zu erfolgen hat. Deswegen greift dieses Gesetzauch nicht in das Streikrecht ein und schreibt auch Lö-sungsmechanismen nicht zwingend vor, sondern bietetLösungen an, eröffnet Wege.
Es ist Aufgabe der Tarifpartner, diese Wege zu gehen,zum Wohle der Belegschaft und zum Wohle des Betrie-bes.
Die Ursache dieses Gesetzes sind also nicht Streiks,die im Augenblick stattfinden. Ich freue mich mit allenBeteiligten, dass offensichtlich jetzt endlich bei derDeutschen Bahn eine Schlichtung möglich ist. Aber die-ses Gesetz regelt diese Schlichtung nicht, sondern es istAufgabe der Tarifpartner, dies zu tun, und sie wählenauch ihre Leute aus, mit denen sie das machen wollen.Es tut mir leid, aber ich muss den Hinweis geben: Ichhabe mich gestern Abend, als ich die Nachrichten sah,schon sehr gewundert, dass einer der Schlichter, HerrRamelow, seine Schlichtung damit beginnt, dass er ersteinmal einen anderen, der Beteiligter in der Schlichtungist, heftig beschimpft.
Ich glaube nicht, dass das ein Weg ist, den man gehenkann. Herr Ramelow hatte auch kein Recht, zu behaup-ten – wie er es gestern Abend im Fernsehen getan hat –,es ginge bei dem heute zu verabschiedenden Tarifein-heitsgesetz um die Bekämpfung einer Gewerkschaft.
Damit irrt er sich. Ich finde es nicht klug – ich sage dasmal sehr vorsichtig, aus Sicht der Politik –, in dieserForm Schlichtungen zu beginnen. Ich wünsche nur, dassdies kein Hindernis sein wird, zu einem guten Ergebniszu kommen.
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Karl Schiewerling
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Was regelt das Gesetz? Das Gesetz regelt zunächsteinmal in einem ersten Teil, dass die Gewerkschaften dieMöglichkeit haben, sich untereinander abzustimmen,wer eventuell für welche Berufsgruppe zuständig ist –eine jahrzehntelange Praxis, die sich bewährt hat, die aufdas Prinzip der Tarifeinheit zurückgeht und auch hilft,diese zu organisieren. Mit diesem Gesetz beschreibenwir dies als einen wichtigen Weg.
Das Zweite: Es besteht die Möglichkeit, gemeinsamzu verhandeln und gemeinsam Tarifverträge abzuschlie-ßen, wie es zum Beispiel im öffentlichen Dienst oder beiJournalisten üblich ist. Im Falle von zwei Gewerkschaf-ten, die für dieselben Berufsgruppen Tarifverträge ab-schließen wollen, kann unter dem Dach einer Organisa-tion – zum Beispiel des DGB – eine Übereinstimmungerzielt und eine gemeinsame Position organisiert wer-den.Ich halte dies für einen vernünftigen und klugen Weg.Ein Eingriff in das Streitrecht erfolgt nicht. Sollte amEnde der Tage, wenn alle Einigungsversuche nicht grei-fen, der Streik einer kleineren Gewerkschaft wirklich alsunverhältnismäßig angesehen werden, was in der Ge-schichte der Rechtsprechung zu Tarifgesetzen in Deutsch-land oft vorgekommen ist – die Gerichte haben dann ge-sagt, ein Streik sei nicht angemessen –, dann wäre dasüberhaupt keine neue Entwicklung in diesem Rechtsge-biet.
Ob das so kommt, werden auch in Zukunft die Ge-richte zu entscheiden haben. Im Lichte der Auswirkun-gen der rechtlichen Grundlagen und der Rahmenbedin-gungen, unter denen ein solcher Streik stattfindet,werden sie darüber zu urteilen haben, ob er gerechtfer-tigt ist oder nicht. Es geht aber auf keinen Fall darum,kleine Gewerkschaften auszuschließen und ins Streik-recht einzugreifen.
Es geht darum, das Ganze zu einem guten Miteinanderin den Betrieben zu führen.
Schauen wir nun auf den weiteren Weg dieses Gesetz-entwurfs. Wir warten mit Gelassenheit ab, was sich dajetzt tut. Da wir wussten, dass es darauf ankommt, eineverfassungskonforme Regelung zu finden, legen wireine solche vor. Ich weiß aber auch – das ist angekündigtworden –, dass es zu einem Verfahren kommen wird. Ichkann mich nur über alle die wundern, die sagen, das seinicht verfassungskonform. In den Anhörungen zu die-sem Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag wurden dieunterschiedlichsten Positionen dargelegt.
– Herr Kollege, Sie waren überhaupt nicht da.
Diese unterschiedlichsten Positionen werden abzuwägensein.Wir sehen dem mit Gelassenheit entgegen und blei-ben dabei: Uns geht es um die Koalitionsfreiheit, die inArtikel 9 unserer Verfassung geregelt ist, und es geht unsum den Betriebsfrieden. Letztendlich geht es um Demo-kratie, um Freiheit und um Prosperität in unserem Land.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun derKollege Hofreiter das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ein Tarifeinheitsgesetz, also ein Gesetz, dassich mit der Tarifautonomie beschäftigt, sollte eigentlichdas hohe Gut der Tarifautonomie schützen;
denn die Tarifautonomie ist ein zentraler Bestandteil un-serer sozialen Marktwirtschaft.Jetzt schauen wir doch einmal ins Grundgesetz hi-nein. Da gibt es den Artikel 9 Absatz 3. Darin ist ganzklar geregelt, dass für jedermann gewährleistet ist, Verei-nigungen zu bilden, und zwar für alle Berufsgruppen.Darin steht überhaupt nichts davon, dass es pro Betriebnur eine Gewerkschaft geben soll.
Frau Ministerin und Herr Vorredner, Sie reden hierimmer nur davon, dass das Streikrecht und die Koali-tionsfreiheit nicht eingeschränkt werden sollen. Manmuss einfach einmal in den Gesetzentwurf hinein-schauen. Das stimmt schlichtweg nicht. Sie wollen dasStreikrecht und die Koalitionsfreiheit einschränken.
Es hat auch eine gewisse Logik, dass Sie das Streikrechtund die Koalitionsfreiheit einschränken wollen. Warumhat das eine gewisse Logik? Das ist ganz einfach: WennSie das nicht einschränken wollen würden, dann würde
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10235
Dr. Anton Hofreiter
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Ihr Tarifeinheitsgesetz komplett ins Leere laufen. Was istnämlich das Ziel des Ganzen? Sie wollen bestimmteStreiks von kleineren Gewerkschaften verunmöglichen.Das ist das Ziel dieses Gesetzentwurfs.
Man muss sich einfach einmal die Geschichte diesesGesetzentwurfs anschauen. Bei der sogenannten Ta-rifeinheit, die wir über 60 Jahre hatten, gab es ein ande-res Prinzip. Es war nämlich nicht so, dass in den vergan-genen 60 Jahren das Prinzip Ihres Tarifeinheitsgesetzes,nämlich das Mehrheitsprinzip, gegolten hat. Der Effektder alten Tarifeinheit war, dass letztendlich die spezielle-ren Gewerkschaften, insbesondere sogenannte christli-che Gewerkschaften, das Tarifniveau nach unten ziehenkonnten. Jetzt, unter der neuen Regelung, können klei-nere Gewerkschaften das Tarifniveau insgesamt nachoben ziehen. Da verstehe ich, dass die Arbeitgeber, daverstehe ich, dass der Wirtschaftsflügel versucht, dieseMöglichkeit einzuschränken.
Es ist logisch, dass sie dagegen kämpfen, dass das Tarif-niveau nach oben gezogen wird; ich habe volles Ver-ständnis dafür. Aber wofür ich überhaupt kein Verständ-nis habe, ist, dass die SPD da mitmacht,
dass der Arbeitnehmerflügel der CDU da mitmacht. Wasfällt Ihnen eigentlich ein? Wir haben jetzt die Situation,dass das Tarifniveau wieder nach oben gezogen wird.
Und wer steht an vorderster Front und sorgt dafür, dassdas Tarifniveau nicht mehr nach oben gezogen wird? DieSPD steht an vorderster Front. Schämen Sie sich eigent-lich nicht für dieses Verhalten?
Dann kommt auch noch hinzu, dass das Gesetz dasGegenteil von Tarifeinheit bewirkt.
Was bewirkt dieses Gesetz denn, so wie es gestaltet ist?Sie wissen ganz genau, dass „ein Betrieb“ nicht leicht zudefinieren ist. Die DB AG zum Beispiel besteht nach Ih-rem Gesetz aus 300 Betrieben. Wozu führt das? Die Ge-werkschaften kämpfen natürlich verbissen darum, in je-dem einzelnen Teilbetrieb die größere Gewerkschaft zusein. Das heißt, Sie verschärfen den Tarifkonflikt noch;denn die Gewerkschaften versuchen, in jedem einzelnenTeilbetrieb möglichst groß zu werden. Den Effekt habenwir gesehen: Wir hatten neun Streiks der GDL. Dieseneun Streiks haben Sie als Große Koalition mit der An-kündigung des vorliegenden Gesetzes verschärft unddeshalb mit zu verantworten.
Stehlen Sie sich doch nicht einfach aus der Verantwor-tung, und tun Sie nicht so, als wenn Sie nichts damit zutun hätten! Man muss mit einer gewissen Verwunderungfeststellen, dass der Vorstand der DB AG und HerrWeselsky vernünftiger sind als die Vertreter der GroßenKoalition.
Wir wissen natürlich nicht hundertprozentig, ob esverfassungswidrig ist. Ich selbst bin kein Jurist; aber ichhabe keinen unabhängigen Juristen getroffen, der gesagthat: Dieses Gesetz ist verfassungskonform. – Das Beste,was sie sagen konnten, war: Ich bin mir nicht hundert-prozentig sicher, ob es verfassungswidrig ist. – Ichmeine: Wo sind wir denn? Wir verabschieden hier Ge-setze,
bei denen man sich nicht hundertprozentig sicher ist,
ob sie verfassungswidrig sind.
Jetzt kann man sagen, die Union hat darin Übung: dieErbschaftsteuer von Karlsruhe kassiert,
die Vorratsdatenspeicherung von Karlsruhe kassiert,beim Betreuungsgeld sieht es auch schlecht aus, es wirdwahrscheinlich auch von Karlsruhe kassiert. Ja, wie siehtes denn aus mit der Verfassungstreue der Union?
Was ist denn da eigentlich los bei der Union? Wieso ma-chen Sie denn so was?Dieses Gesetz – das ist so was von eindeutig – ist anti-solidarisch, es schadet dem Betriebsfrieden, es schadetder Solidarität in den Betrieben, es ist verfassungswid-rig.
Herr Kollege.
Deswegen: Lehnen Sie es ab! Zumindest jeder ein-zelne Jurist hier im Parlament muss das Gesetz ableh-
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Dr. Anton Hofreiter
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nen; denn er weiß, was da drinsteht und was es mit unse-rer Verfassung macht.
Bernd Rützel ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Dr. Hofreiter, Sie haben wohl übersehen, dassdieses Tarifeinheitsgesetz einer Forderung des Deut-schen Gewerkschaftsbunds entspricht.
Wenn Sie das nicht glauben, können Sie es in einemKommentar im Handelsblatt nachlesen; er ist noch garnicht so alt.Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht unddieses auch noch alleine isst, dann bleiben all diejenigenhungrig, die das nicht können oder um die sich niemandkümmert.
Deshalb haben vor über 70 Jahren – es war noch Krieg,es war am 18. März 1945 in Aachen, im bereits befreitenAachen – 80 Männer und Frauen die Einheitsgewerk-schaft gegründet. Der legendäre Aufruf „Schafft die Ein-heit!“ war ursprünglich gedacht – das gilt bis heute – zurÜberwindung der weltanschaulichen und politischenSpaltung der Gewerkschaftsbewegung. Standesunter-schiede zwischen Arbeitern und Angestellten solltenkeine Rolle mehr spielen. Ein Betrieb, eine Gewerk-schaft – das war die Devise.
Dies galt – das kann man nicht wegdiskutieren –65 Jahre lang, bis 2010. Über sechs Jahrzehnte hat dieseTarifeinheit unser Land stark gemacht.
In den Betrieben haben die Stärkeren für die Schwäche-ren gekämpft. Sie haben gestritten, sie haben gestreikt,und – das ist wichtig – die Betriebe konnten sich nach ei-nem Tarifkonflikt – so schlimm er auch gewesen seinmag – immer wieder befrieden und ihrem Geschäftnachgehen. Dieser Befriedungsprozess ist ganz wichtig.Wir haben heute von der Bundesministerin AndreaNahles bereits gehört – Karl Schiewerling hat es auchgesagt –, wie wichtig er ist.Es gab schon immer viel Verständnis für Streiks. Dasist auch heute noch so, und das ist auch gut so. Das istein Grundrecht. Es ist verbrieft. Dieses Grundrecht – Ar-tikel 9 Absatz 3 Grundgesetz – werden wir niemals an-greifen, auch wenn das hundertmal erzählt wird; das istfalsch. Es ist für uns wichtig.
Als das Bundesarbeitsgericht 2010 in seiner Recht-sprechung vom Grundsatz der Tarifeinheit abgerückt ist,freute sich vielleicht so mancher darüber und meinte,dass er nun sein eigenes Süppchen kochen kann, viel-leicht nach dem Motto: Zeigen wir denen mal, wo derHammer hängt. – Viele Forderungen der Gewerkschaf-ten und der Verbände mögen vielleicht berechtigt sein.Die Gewerkschaften haben Bestand; einige gibt es seitüber hundert Jahren. Die GDL zum Beispiel ist die äl-teste Gewerkschaft,
und das ist auch gut so. Sie ist stark, und das ist auch gutso. Aber die Entsolidarisierung innerhalb der Gewerk-schaftsbewegung hilft niemandem. Die hilft nicht denUnternehmen, die hilft nicht der Bevölkerung, und diehilft schon gar nicht den abhängig Beschäftigten.
Ich bin ganz sicher, dass unser Gesetz dazu beiträgt– das ist wichtig; das ist heute schon ein paarmal gesagtworden –, dass es wieder mehr Tarifgemeinschaften ge-ben wird, dass man sich zusammentut,
dass es klare Zuständigkeiten gibt und geklärt wird, werdenn für wen verhandelt, und dass kleinere Gewerk-schaften Tarifverträge nachzeichnen können, so wie siedas schon jahrzehntelang erfolgreich getan haben. Erstwenn das alles nicht fruchtet, man sich nicht einigenkann und mehrere Tarifverträge in einem Betrieb für diegleiche Beschäftigtengruppe gelten,
dann wird die Mehrheit eines Betriebes – das ist nämlichauch die Mehrheit der Menschen, die hinter einer Ge-werkschaft stehen – entscheiden, welcher Tarifvertraggilt.Lieber Klaus Ernst, unser Tarifeinheitsgesetz ist keinAllheilmittel. Aber es ist auch nicht der Weltuntergang.Wir haben das Tarifautonomiestärkungsgesetz beschlos-sen. Wir haben den Mindestlohn eingeführt. Wir habendie Allgemeinverbindlichkeit verbessert. Wir haben dieRegelungen im Arbeitnehmer-Entsendegesetz ausgewei-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10237
Bernd Rützel
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tet. Die jetzt an das Tarifeinheitsgesetz gerichteten For-derungen sind, glaube ich, teilweise überspannt. Aberich freue mich auf die Debatte nach der Sommerpause,wenn wir das gemeinsam angehen.Zum Schluss möchte ich noch Folgendes anmerken:Es wird immer wieder gesagt: Das greift ins Streikrechtein. Und: Die Koalitionsfreiheit ist in Gefahr. – Nichtsdavon ist der Fall. Die Verfassungsressorts, Innenminis-terium und Justizministerium, das Bundeskanzleramt,die Sachverständigen in der Anhörung, wie der ehema-lige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Papier, ha-ben die Verfassungsfestigkeit unseres Tarifeinheitsgeset-zes bescheinigt.
Was über sechs Jahrzehnte in Deutschland gut war,kann jetzt nicht schlecht sein.Vielen Dank.
Jutta Krellmann ist die nächste Rednerin für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als Linke und als Gewerkschafterin bin ichempört darüber,
dass ausgerechnet mit der SPD die Einschränkung vonStreikrecht auf den Weg gebracht wird.
Ich finde es nicht in Ordnung, sich jetzt hinter dem DGBzu verstecken. Sie sitzen hier, nicht der DGB.
Sie haben hier zu entscheiden, niemand anderes. Sichhinter dem DGB zu verstecken, ist nicht in Ordnung.Teilweise die gleichen Leute, die vor ein paar Jahren denDGB und seine Einzelgewerkschaften noch als Dinosau-rier bezeichnet haben und dafür gesorgt haben, dass Ge-werkschaften geschwächt werden,
tun jetzt so, als wäre es das Wichtigste überhaupt, dasjetzt mit dem DGB gemeinsam zu tun. Das alles, was Sieda machen, ist nicht in Ordnung. Das ist eine reineFarce.
– Sie können sich melden und mir eine Frage stellen. Ichwerde sie gern beantworten.
Im Sozial- und Erziehungsbereich kämpfen derzeitZehntausende in Tarifgemeinschaft mit den Gewerk-schaften Verdi und GEW um neue Tarifverträge. Das istnormal. Dazu braucht man kein Tarifeinheitsgesetz.
Bei der Post wehren sich die Beschäftigten mitStreiks gegen Lohndumping. Denn ihre Verträge sollennur dann entfristet werden, wenn sie zu DHL Deliverygehen und damit niedrigere Löhne akzeptieren. Denenhilft ein Tarifeinheitsgesetz überhaupt nichts.
Ob in der Pflege, bei Amazon oder in den Kitas: DieLeute haben die Schnauze voll und wollen für ihreRechte uneingeschränkt streiken. Uneingeschränkt! DieBundesregierung wollte mit Niedriglöhnen, Leiharbeit,Befristungen und Hartz IV die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in den Betrieben einschüchtern, uns dis-ziplinieren.
Das klappt nicht. Als Gewerkschafterin sage ich Ihnen:Hören Sie endlich auf, einseitige Desinformation zu ver-breiten und Stimmung gegen Streikende zu machen. Dasgilt für die Bahn und die Post.
Frau Nahles, Ihr Vorschlag für ein Tarifeinheitsgesetzhat schon jetzt dazu beigetragen, das Klima im Land zuvergiften.
Dabei wissen Sie ganz genau, dass hier nur noch jederZweite überhaupt unter einen Tarifvertrag fällt. Wir er-warten, dass Sie OT-Mitgliedschaften verbieten und dieAllgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen endlichnoch weiter stärken.
Wenn es Ihnen gelingt, Ihr Tarifeinheitsgesetz durchzu-peitschen, dann wird das der Anfang einer Reihe vonVerschlechterungen von Arbeitnehmerrechten sein.Diese werden in der Folge kommen. Deshalb erwarte ichvon allen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern,die hier im Bundestag vertreten sind, egal ob SPD oder
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10238 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Jutta Krellmann
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CDU/CSU, dass Sie bei der namentlichen Abstimmungmit Nein stimmen werden – gegen dieses Gesetz.
Stimmen Sie gegen dieses gewerkschaftsfeindliche Ge-setz! Denn das, was hier passiert, ist eine absolute Kata-strophe.
Stephan Stracke ist nun für die CDU/CSU-Fraktion
der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Sie zielt
darauf, dass die Koalitionen selbst und eigenverantwort-
lich die Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen aushan-
deln. Sie sind für die Ordnung des Arbeitslebens zustän-
dig. Wir gehen mit diesem hohen Gut nicht leichtfertig
um, sondern verantwortungsbewusst. Verantwortungsbe-
wusstes Umgehen heißt, dass wir den gesetzlichen Rah-
men des Tarifvertragsrechts um das Element der Ta-
rifeinheit ergänzen. Jetzt gilt ein Nebeneinander von
Tarifverträgen für die gleichen Arbeitsgruppen. Früher
galt jahrzehntelang der Grundsatz: ein Betrieb, ein Tarif-
vertrag. Das war ein Grundpfeiler des deutschen Tarif-
rechts.
Herr Kollege Ernst, ich darf einmal aus einer Presse-
mitteilung zitieren:
Das Bundesarbeitsgericht hat einen Grundpfeiler
des deutschen Tarifrechts gekippt. Die Politik muss
jetzt umgehend reagieren und die Gesetzeslücke
schließen.
Dieses Zitat stammt aus einer Pressemitteilung von Ih-
nen, Herr Ernst, vom 23. Juni 2010.
Damals waren Sie Vorsitzender der Linken. Sie haben
damals die Tarifeinheit als Grundpfeiler des deutschen
Tarifrechts bezeichnet, zu Recht.
Ich darf weiter zitieren – ich bitte Matthäus Strebl
schon jetzt um Entschuldigung –:
Es darf nicht sein, dass etwa sogenannte Christliche
Gewerkschaften Gefälligkeitstarifverträge für ein
paar wenige abschließen und der ganze Betrieb da-
runter leiden muss. Das gefährdet den innerbetrieb-
lichen Frieden und kann ganze Belegschaften spal-
ten.
Ja, richtig. Genau deswegen machen wir die Tarifeinheit:
weil es um die Verteilungsgerechtigkeit in den Betrieben
geht, Herr Ernst.
Herr Kollege Stracke, darf Herr Kollege Ernst eine
Zwischenfrage stellen?
Ja.
Herr Kollege Stracke, es freut mich, dass Sie dies zi-
tieren. Denn das gibt mir die Gelegenheit, den Unter-
schied
zwischen dem, was bis 2010 galt, und dem, was jetzt
gilt, aufzuzeigen. Aber das stört Sie offensichtlich nicht.
Was galt bis 2010? Bis 2010 galt der Tarifvertrag, der
von einer Hausgewerkschaft in dem jeweiligen Betrieb
abgeschlossen wurde. Die Rechtsauffassung ging davon
aus, dass die Hausgewerkschaft sozusagen näher am Be-
trieb war, und er galt auch dann, wenn es in dem Betrieb
einen weiteren Tarifvertrag einer größeren Gewerk-
schaft, zum Beispiel einen Flächentarifvertrag der IG
Metall, gab. Das heißt, ein Tarifvertrag einer kleineren
Gewerkschaft, der unterhalb des Niveaus eines anderen
lag, galt – und das ist der Unterschied –, ohne dass sich
die größere Gewerkschaft wehren konnte. Die große IG
Metall musste akzeptieren, dass eine Gewerkschaft ihre
Tarife unterbot und diese, obwohl sie schlechter waren,
für alle galten. Die Mitglieder selber konnten nicht ent-
scheiden, in welche Gewerkschaft sie gehen wollten. Es
galt immer der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die näher
am Betrieb war.
Was gilt seit 2010? Seit 2010 gilt das, was eigentlich
logisch richtig wäre. Wir sind durchaus für die Herstel-
lung der Tarifeinheit, aber nicht mit einem Tarifvertrags-
gesetz, das dazu führt, dass der Tarifvertrag der einen
Gewerkschaft nicht mehr gilt. Das ist der Unterschied.
Genau das wollen Sie jetzt aber machen.
Habe ich noch eine Minute, Herr Präsident?
Nein, eigentlich nicht.
Okay. – Diesen Unterschied müssen Sie zur Kenntnisnehmen. Wir wollen, dass das einzelne Mitglied selberentscheiden kann, in die Gewerkschaft zu gehen, dieseine Interessen besser vertritt. Das ist alles.
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Lieber Kollege Ernst, ich will Ihre Frage beantwor-
ten, und am besten lasse ich Sie selber antworten. Auch
hierzu gibt es eine Pressemitteilung von Ihnen, und zwar
vom 4. Juni 2010.
Ich zitiere:
Das Bundesarbeitsgericht will einen Grundpfeiler
des deutschen Tarifrechts kippen.
Das war vor der Entscheidung.
Die Initiative der DGB-Gewerkschaften kommt da-
her zum richtigen Zeitpunkt.
Im Weiteren führen Sie aus:
Die Initiative des DGB sieht dagegen vor, dass nur
der Tarifvertrag der mitgliederstärkeren Gewerk-
schaft zur Geltung kommt.
Das war Ihre Position 2010. Und jetzt stellen Sie sich
hin und vertreten etwas anderes. Das zeigt, wie Sie den-
ken. Sie können sich wieder setzen. – Sie distanzieren
sich also von Ihrer eigenen Haltung. Das ist sehr be-
zeichnend.
Und weiter: Jetzt darf ich auf den 23. Juni zurück-
springen. Ihre Pressemitteilungen sind ein Quell der
Freude.
Zitat:
Die Bundesregierung muss jetzt umgehend die vom
Bundessozialgericht aufgezeigte Gesetzeslücke
schließen.
Das haben wir, wenn auch nicht umgehend, hinbekom-
men; das tun wir hiermit.
Dazu hat der DGB einen entsprechenden Vorschlag
vorgelegt. Die Bundesregierung ist gut beraten, sich
diesen Vorschlag zu eigen zu machen, ansonsten
macht sie sich zum Drahtzieher der Lohndrücker
und Belegschaftsspalter.
Das haben Sie 2010 gesagt, Herr Ernst.
Genau das ist der Grund, warum wir sagen: Wir wol-
len nicht Eliten Schlüsselpositionen bei der Verteilung
von Betriebsvermögen und dessen, was erwirtschaftet
worden ist, verschaffen, sondern wir wollen eine faire
Verteilung des Erwirtschafteten.
Das ist das Prinzip, das wir umsetzen wollen.
Sie predigen immer, gerade unsere Kollegen der SPD
müssten Rückgrat zeigen. Heute reden Sie ganz anders.
Heute reden Sie genau denen das Wort, die Sie damals
als Lohndrücker und Belegschaftsspalter bezeichnet ha-
ben.
Ich finde, das ist keine konsequente Haltung. Das hat
nichts mit seriöser Politik zu tun. Wollen Sie, Herr Ernst,
denn nicht als ernsthafter Politiker wahrgenommen wer-
den?
– Bitte schön.
Nein, nein. So reizvoll das jetzt ist – wir haben uns zu
Beginn darauf verständigt, eine 60-minütige Debatte zu
führen. Das werden wir unter Berücksichtigung der an-
gemeldeten Redezeit ohnehin nicht mehr realisieren
können. Ich bitte um Nachsicht, dass ich jetzt, so reizvoll
sich das auch aus der Perspektive des Präsidiums dar-
stellt,
eine Fortsetzung dieses Dialogs nicht erlaube.
Bitte, Herr Kollege.
Das muss ich zur Kenntnis nehmen, finde es aber be-dauerlich, Herr Präsident.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, dannwird auch die Süddeutsche Zeitung bemüht. Es wird zi-tiert, dass es sich um eine Einschränkung des Streik-rechts handele. Ich darf Ihnen hierzu aus dem Gesetzent-wurf vorlesen. In der Begründung steht – Zitat –:Die Regelungen zur Tarifeinheit ändern nicht dasArbeitskampfrecht. Über die Verhältnismäßigkeitvon Arbeitskämpfen, mit denen ein kollidierenderTarifvertrag erwirkt werden soll, wird allerdings imEinzelfall im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit zuentscheiden sein. Der Arbeitskampf ist Mittel zurSicherung der Tarifautonomie. Der Arbeitskampfdient nicht der Sicherung der Tarifautonomie, so-weit dem Tarifvertrag, der mit ihm erwirkt werden
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10240 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Stephan Stracke
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soll, eine ordnende Funktion offensichtlich nichtmehr zukommen würde, weil die abschließendeGewerkschaft keine Mehrheit der organisierten Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Betrieb ha-ben würde.Das ist die Gesetzesbegründung. Sie behaupten jetzt,dass die Situation gänzlich neu wäre. Aber seit Dezem-ber 2014 liegt dieser Gesetzentwurf auf dem Tisch. Ichkann es nachvollziehen: Wer nicht lesen kann und will,der ist natürlich nicht im Vorteil.
– Liebe Frau Kollegin, Sie haben um entsprechendeNachhilfe vonseiten der Bundesregierung nachgesuchtund gebeten, dass man erklärt und vorgelesen bekommt,was tatsächlich im Gesetzentwurf steht.
Es gibt keine Regelung zum Arbeitskampfrecht. Diesehen wir gerade nicht vor. Vielmehr muss der Arbeits-kampf weiterhin verhältnismäßig sein. Es ist Aufgabeder Arbeitsgerichte, zu bewerten, ob dies der Fall ist.Maßgebend ist dabei der Zeitpunkt des Tarifabschlusses.Hier muss die jeweilige Gewerkschaft sicherstellen, dasssie die relative Mehrheit im Betrieb hat. Alles andere isteine Aufgabe der Gerichte, insbesondere die Berück-sichtigung der Verhältnismäßigkeit. Es ist also eine Mär,die hier erzählt wird, und Sie tun etwas, das einem Trau-erspiel gleicht: Sie ziehen etwas hoch und bezeichnen esals Einschränkung der Freiheit, aber das ist nicht derFall.Mit diesem vorgelegten Tarifeinheitsgesetz sorgenwir dafür, dass der Grundsatz „ein Betrieb, ein Tarifver-trag“ nach dem betrieblichen Mehrheitsbegriff wiederGeltung erreicht. Das ist gut, weil wir damit denjenigen,die ihre Schlüsselpositionen ausnutzen wollen, einenwirksamen Riegel vorschieben. Ich halte das im Sinnedes Betriebsfriedens für richtig.Deswegen bedanke ich mich ganz herzlich für dieAufmerksamkeit und bitte um Zustimmung zu diesemGesetz.Herzliches Dankeschön.
Die Kollegin Müller-Gemmeke hat nun das Wort fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Es ist schon irgendwie absurd: AmMittwoch, nach den Sitzungen der Ausschüsse, will eskeiner der Kollegen auf den Gängen so recht gewesensein. Das mit der gesetzlichen Tarifeinheit stand halt soim Koalitionsvertrag. Sogar von der CDU hört mannachdenkliche und kritische Töne.
Die SPD hingegen wird wohl nachher das Gesetz ge-schlossen unterstützen. Das ist und bleibt für mich nichtnachvollziehbar.
Wir Grünen stehen bei diesem Thema weder auf derSeite der großen Gewerkschaften noch auf der Seite derkleinen Gewerkschaften. Vielmehr stehen wir ganz ein-deutig auf der Seite der Verfassung.
Deshalb lehnen wir die gesetzliche Tarifeinheit strikt ab.
Die Gründe: Erstens. Für uns ist das Gesetz ganz klarein Angriff auf das Streikrecht. Bei der Anhörung zumGesetzentwurf wurde ja auch munter über das Streik-recht diskutiert. Manche forderten sogar unverblümtnoch weitere, größere Einschnitte in das Streikrecht. Dasging mir persönlich ziemlich unter die Haut; denn dasStreikrecht ist ein hohes Gut. Es ist das einzige Mittel,damit Gewerkschaften auf Augenhöhe Tarifverträge ver-handeln können. Natürlich kann ein Streik zukünftig alsnicht verhältnismäßig beurteilt werden, wenn später einTarifvertrag verdrängt wird. Das habe ich ja mittlerweileauch auf Papier, also schwarz auf weiß. Damit ist ganzklar: Beim Streikrecht wird die Öffentlichkeit ganz be-wusst getäuscht. Das geht überhaupt nicht.
Zweitens. Die Tarifpluralität, die Tarifvielfalt, steht inunserer Verfassung; denn jedermann und jede Berufs-gruppe hat das Recht, sich in Gewerkschaften zu organi-sieren und Tarifverträge zu verhandeln. Auch das Bun-desarbeitsgericht hat 2010 entschieden, dass der Zwangzur Tarifeinheit mit Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetznicht vereinbar sei. Dennoch soll jetzt dieses Grund-recht, dieses Freiheitsrecht, per SPD-Gesetz einge-schränkt werden.
Wir Grünen nehmen aber die Koalitionsfreiheit ernst;denn sie gehört immerhin zu den Grundprinzipien unse-rer Demokratie.
Drittens. Das Gesetz verschärft den Kampf um Mit-glieder. Auf eine Kleine Anfrage dazu hat das Ministe-rium lapidar geantwortet, es sei „nicht ungewöhnlich,
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Beate Müller-Gemmeke
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dass eine Gewerkschaft durch eine attraktive Tarifpolitikversucht, Mitglieder zu gewinnen“. Hallo? Wie blauäu-gig kann man eigentlich sein? Wenn sich die Politik ein-mischt und anfängt, zwischen erwünschten und nicht er-wünschten Gewerkschaften zu unterscheiden, und perGesetz Tarifverträge verdrängt, dann befeuert das natür-lich zwangsläufig die Konkurrenz zwischen den Ge-werkschaften. Mit der gesetzlichen Tarifeinheit gefähr-den Sie die vielen bisherigen Kooperationen, und esentsteht nicht Solidarität, sondern Häuserkampf. Neh-men Sie das endlich zur Kenntnis.
Und viertens. Das Gesetz ist und bleibt handwerklichschlecht. Wenn ein Gesetz so tief in die Tarifautonomieeingreift, dann müssten Sie zumindest für Rechtssicher-heit sorgen. Das Gegenteil ist aber der Fall. ProfessorDäubler hat das bei der Anhörung wunderbar auf denPunkt gebracht. Er sagte: Das Gesetz ist ein Beschäfti-gungsprogramm für Juristen, Rechtsanwälte, Richter,Gewerkschaften und Kommentatoren. – Das ist leicht-fertig; denn das Gesetz provoziert vielfältige neueRechtsstreitigkeiten. Verantwortung sieht anders aus.
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, auch wir Grünenfordern von allen Gewerkschaften Solidarität und Ko-operation. Aber beides lässt sich nicht verordnen undschon gar nicht gesetzlich erzwingen. Das ist auch nichtAufgabe der Politik, sondern Aufgabe der Gewerkschaf-ten. Wenn Sie das alles nicht überzeugt, dann hören Siedoch zumindest auf Heiner Geißler; denn er bezeichnetdas Gesetz als eine „Frechheit“. Dem schließen wir unsvoll und ganz an.Vielen Dank.
Ralf Kapschack ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauer! Es gibt eine alte Journalistenweisheit,die lautet: Recherche macht die schönste Geschichte ka-putt.
Ich habe den Eindruck, diese Weisheit hat auch in die-sem Hohen Hause eine Menge Anhänger, vor allenDingen bei der Opposition. In der Debatte über das Ta-rifeinheitsgesetz ist von der Opposition immer wiederbehauptet worden, auch in der heutigen Diskussion, derGesetzentwurf sei verfassungswidrig, weil er massiv indas Streikrecht eingreife.
Ich finde es schon bemerkenswert, mit welcherSelbstsicherheit Linke und Grüne diese Frage schon be-antwortet haben. Es gibt in unserem Staat ein klares Ver-fahren, wie Verfassungswidrigkeit festgestellt wird,nämlich allein vom Verfassungsgericht in Karlsruhe undnirgendwo sonst.
Die Behauptung, die Regierung habe bewusst einen ver-fassungswidrigen Gesetzentwurf vorgelegt, wäre wirk-lich eine Beleidigung, wenn man sie ernst nähme. Dastue ich aber nicht.Die Anhörung Anfang des Monats hat für mich ge-zeigt: Dieses Gesetz ist sehr wohl mit der Verfassungvereinbar. Der Gesetzgeber nutzt jetzt seinen Spielraum,nicht mehr und nicht weniger. Man muss diese Argu-mente ja nicht unbedingt teilen; aber man sollte sie we-nigstens zur Kenntnis nehmen.
Zum Eingriff in das Streikrecht gab es bei der Anhö-rung einen, wie ich finde, bemerkenswerten Beitrag desVertreters der Arbeitsrichter, Herrn Vetter. Die Arbeits-gerichte entscheiden ja über die Zulässigkeit und überdie Verhältnismäßigkeit von Streiks. Herr Vetter hat aus-geführt, dass seine Kolleginnen und Kollegen Arbeits-richter auch in Zukunft kaum zustimmen werden, wennversucht wird, einen Streik per einstweiliger Verfügungzu verbieten. Insofern kann von einem massiven Eingriffin das Streikrecht überhaupt nicht die Rede sein.
Die Grundbotschaft dieses Gesetzes ist: Ein Betrieb,ein Tarifvertrag. – Das galt bis 2010. So wird sicherge-stellt, dass zwei Personen für die gleiche Arbeit nicht un-terschiedlich entlohnt werden, nur weil sie verschiede-nen Gewerkschaften angehören. Es wird auch in Zukunftohne Probleme möglich sein, dass Gewerkschaften ihreZuständigkeit abstimmen und gemeinsam einen Tarif-vertrag verhandeln. Insofern ist dieses Gesetz eine Auf-forderung zur Kooperation
und nicht zum Kampf von Gewerkschaften gegeneinan-der. Deshalb ist dieses Gesetz eben keine Schwächungder Gewerkschaften; sonst wäre die große Mehrheit imDeutschen Gewerkschaftsbund nicht dafür,
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Ralf Kapschack
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und sonst hätte auch der Chef des DGB, ReinerHoffmann, das in der Anhörung nicht noch einmal aus-drücklich betont.
Richtig ist aber auch: Wer für Tarifeinheit ist, musssich auch dafür einsetzen, dass die Flucht von Unterneh-men aus Tarifverträgen ein Ende hat.
Denn das ist das Gegenteil von „Ein Betrieb, ein Tarif-vertrag“. Das ist: Ein Betrieb, kein Tarifvertrag.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Aber selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege, für die Zulassung der
Zwischenfrage. – Würden Sie mir recht geben, dass
Streiken nicht unbedingt ein Selbstzweck ist? Man
streikt nicht, um zu streiken, sondern ein Streik hat einen
bestimmten Sinn und einen Zweck, nämlich einen Lohn-
tarif auszuhandeln. Wenn eine Gewerkschaft nicht die
Mehrheit hat, wird sie auch keinen Lohntarif aushandeln
können, und dann wird ein Streik zwangsläufig immer
unverhältnismäßig sein, weil er gar nicht dazu geeignet
ist, einen Lohntarif herbeizuführen. Wenn ich also nicht
für den Lohn verhandeln kann, weil ich nicht die Mehr-
heit hinter mir habe, kann ich am Ende nicht streiken. Ist
es nicht so?
Das ist das, was ich eben mit „Recherche macht die
schönste Geschichte kaputt“ meinte. Ich verlasse mich
da weniger auf Spekulation und auf mein Gefühl, son-
dern mehr auf das, was die Praktiker sagen.
Ich habe Ihnen eben berichtet, was der Vertreter der Ar-
beitsrichter, der, glaube ich, besser Bescheid weiß als wir
beide zusammen, gesagt hat. Die Arbeitsgerichte werden
auch in Zukunft sehr zurückhaltend sein, was das Verbot
von Streiks angeht. Ich glaube, da sollten wir einmal ab-
warten, was passiert, und nicht im Vorhinein eine Apo-
kalypse heraufbeschwören.
Ich würde aber gerne noch meinen Gedanken zu Ende
führen. Ich habe gesagt: Wer für Tarifeinheit ist, muss
auch die Flucht aus Tarifverträgen stoppen. Die Unter-
stützung für das Tarifeinheitsgesetz durch die Arbeitge-
berverbände wäre glaubwürdiger, wenn mit der gleichen
Energie gegen die Flucht aus bestehenden Tarifverträgen
gearbeitet würde.
Stattdessen wird immer mehr Unternehmen die Mit-
gliedschaft ohne tarifpolitische Verpflichtung ermög-
licht. Deshalb wollen wir – auch mit der Neuregelung
der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträ-
gen im vergangenen Jahr – erreichen, dass das Arbeitsleben
wieder gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern
gestaltet wird. Auch das gehört zur neuen Ordnung auf
dem Arbeitsmarkt, die wir dringend brauchen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Henke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Es scheint hoch herzugehen,ob recherchiert wird oder nicht recherchiert wird. VonSchmarotzern und Spaltern war die Rede. LieberStephan, ich finde, man muss bei der Sprache zurückhal-tend sein, wenn man sagt: „Wir lassen das Streikrechtunangetastet“, wenn man sagt, Frau Ministerin: Wir las-sen die Koalitionsfreiheit unangetastet. – Dann darf hieraber auch kein Klima entstehen, in dem denen, die vonder Koalitionsfreiheit Gebrauch machen, unterstelltwird, sie seien Spalter und Schmarotzer. Dann geht esschon gar nicht, wie ich finde, dass jemand aus derUnion die Sprache der Kommunisten übernimmt.
Wenn es einer Gewerkschaft erlaubt ist, ihre gewerk-schaftlichen Aufgaben und Ziele durch einen Tarifver-trag zu verwirklichen, zu dessen Abschluss der Arbeit-geber notfalls durch Streik veranlasst werden soll, dannkann der Arbeitgeber einem solchen Streik die Legiti-mität nicht dadurch nehmen, dass er sich anderweitigDritten gegenüber verpflichtet oder verpflichtet hat, ei-nen solchen Tarifvertrag nicht abzuschließen. – Das istein Satz, der vom 1. Senat des Bundesarbeitsgerichtsam 4. Mai 1955 gesprochen wurde, Aktenzeichen1 AZR 493/54. Das war nach der Entscheidung vonNipperdey. Dieser Satz belegt, dass die Tarifpluralitätder Normalfall ist, und zwar nach der Beurteilung desBundesarbeitsgerichtes seit 1955. Tarifpluralität herrschtnatürlich seit langer Zeit. Sie gibt es bereits so lange,dass sie zur gewerkschaftlichen Tradition Deutschlandsgehört.Wir als Marburger Bund gehören zu den Organisatio-nen, von denen gesagt wird: Ihr habt eine Schlüsselrolleinne; ihr nehmt euch mehr heraus. – Wir haben eigen-ständig Tarifverträge mit Rehakliniken abgeschlossen.Wo war das Problem? Wir haben gemeinsam mit der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10243
Rudolf Henke
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DAG verhandelt und dann später Verdi gebeten, Tarif-verträge für uns zu machen. Das Ergebnis war überlange Zeit gut. Aber dann ist irgendwann ein Punkt ge-kommen, an dem man beim Wechsel vom Bundesange-stelltentarifvertrag auf den Tarifvertrag für den öffentli-chen Dienst gesagt hat: Schluss jetzt damit! – Man hatgesagt: Wir nehmen den Ärzten – auf ihr Berufslebenbetrachtet – 100 000 Euro weg. – Daraufhin hat man sichgewehrt. Man hat sich das Grundgesetz genau ange-schaut und die Bestätigung gefunden, dass es keinSchmarotzertum und keine Spalterei ist, wenn man einGrundrecht wahrnimmt. Natürlich hat man die Möglich-keit, sich auf die Koalitionsfreiheit zu berufen. Die Ko-alitionsfreiheit besagt: Jedermann und alle Berufe kön-nen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Tarifverträgenehmen. Jedermann und alle Berufe haben das Recht, zustreiken, wenn es denn notwendig ist.
Ich finde, es ist besser, zu gemeinsamen Lösungen zukommen. Aber gemeinsame Lösungen setzen Vertrauenund Freiwilligkeit voraus. Wenn diese Freiwilligkeitnicht gegeben ist, dann leben wir unter einem Zwang.Das ist doch das Problem.
Natürlich hat Tarifgemeinsamkeit einen hohen Wert.Aber sie ist wertlos, wenn sie erzwungen wird. Sie wirderzwungen, wenn man zu einem Tarifvertrag nur dannkommen kann, wenn man sich mit der Mehrheit einver-standen erklärt.
Weil die Koalitionsfreiheit ein verbrieftes Grundrecht ist– genauso wie die Religionsfreiheit, die Meinungsfrei-heit, die Versammlungsfreiheit, das Post- und Fernmel-degeheimnis sowie die Freizügigkeit –, kann man diesesGrundrecht doch nicht, verehrte Frau Ministerin, unterMehrheitsvorbehalt stellen.
Wo kommen wir denn hin, wenn wir ein Grundrecht un-ter Mehrheitsvorbehalt stellen? Ein Grundrecht unterMehrheitsvorbehalt ist ein Grundrecht nach Gusto derMehrheit. Aber Grundrechte stehen allen Menschen ingleicher Weise zu, ob sie Minderheiten sind, ob sieSchmarotzer oder Spalter sind, ob sie Mitglied bei derCDU, den Grünen oder Kommunist sind. Grundrechtestehen allen Menschen in gleicher Weise zu.
Deswegen kann man sie nicht unter Mehrheitsvorbehaltstellen.
Wer sie unter Mehrheitsvorbehalt stellt, der schafft sieab.
Lieber Kollege Henke.
– Ja – Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen,
möchte ich mich – das ist mir wichtig, weil ich dich, lie-
ber Stephan, zu hart angegangen bin –, vor diesem Haus
für die Entgleisung, die mir am Anfang unterlaufen ist,
bei dir in aller Form entschuldigen.
Das alles ist mir ein bisschen durchgegangen. Das liegt
auch daran, dass ich in einer CDU-Dokumentation über
den MSB Spartakus von 1978 – ich bin halt aus dieser
Zeit – Folgendes gelesen habe:
Das Streikrecht ist insofern kein Recht, das den
Werktätigen in der DDR fehlt, sondern ist eine mit
der Errichtung der Arbeiter- und Bauernmacht his-
torisch überholte Form des Kampfes der Arbeiter-
klasse für ihre Interessen.
Weil ich dieses Denken immer für falsch gehalten habe,
fange ich an, schon auf Spuren dieses Denkens hochall-
ergisch zu reagieren.
Ich entschuldige mich in aller Form dafür.
Aber für unser freies Deutschland muss gelten: Ein
Grundrecht darf nicht unter Mehrheitsvorbehalt gestellt
werden.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen in der
Union, machen Sie es wie ich: Stimmen Sie gegen dieses
Gesetz.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Lieber Kollege Henke, Ihr Beitrag in dieser Debatteund der 50-prozentige Redezeitzuschlag durch den am-tierenden Präsidenten sind ein schöner Beleg dafür, dassin diesem Haus Minderheitenrechte nicht unter Mehr-heitsvorbehalt stehen.
Nun hat der Kollege Wilfried Oellers für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! WieSie gerade gemerkt haben, wird dieses Thema natürlichauch in unserer Fraktion intensiv diskutiert; auch dortgibt es durchaus unterschiedliche Meinungen. Die Dis-kussion ist insgesamt sehr intensiv; schließlich habenwir es mit einem sehr wichtigen Thema zu tun.Ich möchte kurz erwähnen, dass mein Vorredner nichtdie Sprache des Kollegen der Linken, des Herrn Ernst,übernommen hat, sondern er hat lediglich zitiert und ent-sprechende Widersprüche in seinen Diskussionsbeiträ-gen aufgezeigt. Ich denke, das geschah in sehr beeindru-ckender Weise, und es war auch gut, dass das in diesemHaus einmal klargestellt wird.
Die Diskussion ist schon weit fortgeschritten. Ichmöchte sie auf einige Kernpunkte reduzieren. Betonenmöchte ich dabei insbesondere, dass es bei diesem Ge-setz darum geht, die Solidarität der Belegschaft in denBetrieben zu stärken und die Befriedungsfunktion unddie Ordnungsfunktion, die der Grundsatz der Tarifein-heit mit sich bringen soll, auch zu erfüllen. Die klareBotschaft, die von diesem Gesetz ausgeht, heißt eigent-lich nur: Einigt euch.
Das ermöglicht dieses Gesetz auch.
Es kann nicht zu viel verlangt sein, dass man bei Kol-lisionen einen entsprechenden Einigungsaufruf formu-liert.
Dieser Aufruf darf auch präventiv erfolgen.Zu betonen ist ja auch, dass die Auflösung dieser Ta-rifkollisionen durch den Grundsatz der Tarifeinheit ebennur subsidiär gilt. Dadurch wird wieder deutlich, dassden Möglichkeiten Raum gelassen wird, die Kollisionenuntereinander zu regeln. Sie wissen alle, was im Gesetzsteht: dass man selber Zuständigkeiten abstimmen kann,dass man auch Tarifgemeinschaften bilden kann, dassunterschiedliche Gewerkschaften mit dem Arbeitgebergleiche Tarifverträge abschließen. All diese Möglichkei-ten gibt es, und sie werden natürlich heute schon ge-nutzt; das ist richtig. Aber auch das zeigt, dass die An-sätze, die das Gesetz enthält, richtig sind.
Es muss auch festgehalten werden, dass die letztlicheÜberprüfung, ob ein Streik verhältnismäßig ist odernicht, weiterhin den Gerichten obliegt. Diese werden wiebisher sehr sorgfältig abwägen und dabei alle Umständeberücksichtigen.Lassen Sie mich kurz auf einige Bedenken eingehen,die hier geäußert wurden:Ein Punkt war die Befürchtung, das Gesetz werde diebisherigen Kooperationen infrage stellen. In meinen Au-gen ist eher das Gegenteil der Fall: Kooperationen wer-den weiterhin möglich sein. Meine Vorhersage ist, dasses die Gewerkschaften eher nicht auf eine Auszählungihrer Mitglieder in den Betrieben ankommen lassen wer-den, sondern dass sie sich im Konfliktfall zusammenset-zen und einigen werden. Das ist genau das, was wirmöchten.
Wenn es allerdings – auch das gebe ich zu bedenken –tatsächlich einmal dazu kommen sollte, dass eine bishe-rige Kooperation auf der Grundlage dieses Gesetzes auf-gekündigt wird, dann muss man sich schon einmal dieFrage stellen, inwieweit die bisherige Zusammenarbeitaufrichtig war.Ein weiterer Punkt war die Sorge, dass es zu einemKampf der Gewerkschaften um Mitglieder kommenwird. Ich habe eigentlich immer gedacht, die Gewerk-schaften wären über viele Mitglieder froh. Wenn das Ge-setz tatsächlich dazu aufrufen würde, neue Mitglieder zuwerben, müsste das doch eigentlich im Interesse der Ge-werkschaften sein.Ein anderer Punkt war die Befürchtung, dass dieSpartengewerkschaften untergehen könnten. Diese Pro-blematik sehe ich, ehrlich gesagt, nicht. Alle Spartenge-werkschaften sind vor 2010 gegründet worden, also beiGeltung des Grundsatzes der Tarifeinheit, und sie beste-hen bis heute. Deswegen kann der Grundsatz der Ta-rifeinheit sicherlich nicht dazu führen, dass Spartenge-werkschaften untergehen.Ich möchte noch einiges zur Verfassungsmäßigkeitsagen, da auch dies angesprochen worden ist. Ja, die Ta-rifautonomie ist in Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzesgeregelt. Allerdings gibt es keinen Schrankenvorbehalt,zumindest nicht nach der Formulierung des Grundgeset-zes. Man muss jedoch auch festhalten, dass kein Grund-recht schrankenlos ist und dass jedes Grundrecht immerim Lichte der anderen Grundrechte ausgelegt werdenmuss. Genau dies hat das Bundesverfassungsgericht imHinblick auf Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes inder Vergangenheit gemacht. Ich darf aus einer Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre1995 zitieren:Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedarf derAusgestaltung durch die Rechtsordnung, soweit esdie Beziehungen zwischen Trägern widerstreitenderInteressen zum Gegenstand hat.Das heißt, das Bundesverfassungsgericht hat dem Ge-setzgeber die Ausgestaltung des Grundrechts nach Arti-kel 9 Absatz 3 ins Aufgabenbuch geschrieben. Hieraufhaben auch mehrere Sachverständige in der Anhörunghingewiesen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10245
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Einen Augenblick, Herr Kollege. – Darf ich die Kol-
leginnen und Kollegen, die der Debatte erkennbar nicht
folgen, wohl aber auf die namentliche Abstimmung war-
ten, Frau Kollegin Künast und andere, bitten, die Ge-
spräche am Rande des Plenums fortzusetzen, aber nicht
demonstrativ mittendrin? Das, finde ich, geht ein biss-
chen zu weit.
Herr Kollege Oellers.
Ich darf das Bundesverfassungsgericht insoweit wei-
terhin anführen, als eben diese Ausgestaltung im Lichte
und unter Berücksichtigung des Gemeinwohls und der
Wiederherstellung gestörter Paritäten erfolgen kann.
Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht eindeutig
geschrieben, dass eine Ausgestaltung des Artikels 9 Ab-
satz 3 des Grundgesetzes durchaus möglich ist.
Dass es natürlich in der Frage der Verfassungsmäßig-
keit unterschiedliche Ansichten gibt, haben wir nicht nur
heute erlebt, sondern das haben wir auch in der öffentli-
chen Anhörung erlebt. Aber ich möchte auch betonen,
dass es in der öffentlichen Anhörung vehemente Befür-
worter dieses Gesetzes gab. Das soll hier nicht unter-
schlagen werden.
Ich möchte zum Abschluss kurz erwähnen, dass der
Verfassungsmäßigkeit des Gesetzentwurfes seitens der
verschiedenen Ressorts, also auch des BMAS, und des
Bundesrates zugestimmt worden ist. Im Ergebnis verab-
schieden wir heute, denke ich, kein verfassungswidriges
Gesetz. Ich bitte daher ebenfalls um Zustimmung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Tarifein-heit.
– Wir haben noch eine Abstimmung durchzuführen, be-vor es an die Urnen geht. Insofern besteht kein Anlasszur Panik. – Der Ausschuss für Arbeit und Soziales emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufder Drucksache 18/4966, den Gesetzentwurf der Bun-desregierung auf Drucksache 18/4062 anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich der Stimme? – Damit ist der Gesetzentwurfin zweiter Beratung mit großer Mehrheit gegen die Stim-men der Opposition und einzelne Stimmen aus den Rei-hen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung.Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlan-gen der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich darf dieSchriftführerinnen und Schriftführer bitten, die vorgese-henen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Ur-nen besetzt? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann er-öffne ich die Abstimmung über den Gesetzentwurf.Ist ein Mitglied des Hauses im Saal, das seine Stimm-karte noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zubeginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnenspäter bekannt gegeben. 1)Ich weise darauf hin, dass es eine ganze Reihe vonpersönlichen Erklärungen zur Abstimmung gegeben hat,die wir, wie üblich, dem Protokoll beifügen.2)Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfeh-lungen des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf derDrucksache 18/4966 fort.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf der Drucksache 18/4184 mit demTitel „Tarifautonomie stärken – Streikrecht verteidigen“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Be-schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition ange-nommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache18/2875 mit dem Titel „Solidarität im Rahmen der Tarif-pluralität ermöglichen – Tarifeinheit nicht gesetzlich re-geln“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier istmit der gleichen Mehrheit wie zuvor gegen die Stimmender Opposition die Beschlussempfehlung angenommen.Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunk-tes.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-kämpfung von Doping im SportDrucksache 18/4898Überweisungsvorschlag:Sportausschuss
InnenausschussAusschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit1) Ergebnis Seite 10249 C2) Anlagen 2 und 3
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10246 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-nen Widerspruch. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demBundesinnenminister Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wettstreitgibt es nicht nur in Tarifkonflikten; auch im Sport be-wegt Wettstreit viele Millionen Menschen. Großer Sportbegeistert uns alle. Gute Sportler sind Vorbilder in unse-rer Gesellschaft. Wir sind auch ein bisschen stolz, wennunsere Sportler auf dem Siegerpodest oben stehen.
Der Spitzensport in Deutschland wird zu einem er-heblichen Teil mit Steuermitteln gefördert. Deswegenhaben wir alle einen Anspruch darauf, dass der Spitzen-sport und die Wettkämpfe ohne manipulative Einflüssebleiben. Wir wollen, dass sich jeder darauf verlassenkann, dass Sportwettbewerbe fair verlaufen. Wir wollenüberall ehrlichen Sport. Wir haben uns in der Koalitiondeswegen darauf verständigt, dass wir dieses Ziel einer-seits mit der Bekämpfung von Doping und andererseitsmit dem Kampf gegen Spielmanipulation verfolgen wer-den.Mit dem heute vorgelegten Entwurf eines Gesetzeszur Bekämpfung von Doping im Sport machen wir denersten Schritt. Dieser Gesetzentwurf ist kurz, klar, hartund wirksam. Mein Kollege Maas wird in seiner Rededen Schwerpunkt auf das Strafrecht legen. Deswegenwill ich als Sportminister einige Anmerkungen machen.Wir lassen die Sportverbände und die Nationale AntiDoping Agentur, NADA, bei der Bekämpfung von Do-ping nicht allein. Ich will das an drei Punkten deutlichmachen:Erstens. Wir schaffen Regelungen zum Informations-austausch zwischen staatlichen Ermittlungsbehördenund der Nationalen Anti Doping Agentur. Das klingt ir-gendwie selbstverständlich; aber weil die NADA eineprivatrechtliche Stiftung ist, ist es nötig, den Informa-tionsaustausch zwischen ihr und den staatlichen Ermitt-lungsbehörden zu regeln. Mit der neuen Regelung gebenwir der NADA die Möglichkeit, einfacher und besser andie Informationen zu kommen, die sie für ihre Arbeitbraucht. Gerichte und Staatsanwälte sollen der NADAvon sich aus Auskünfte und Hinweise geben können,wenn das für die Bekämpfung von Doping erforderlichist. Damit helfen wir der NADA bei den Ermittlungenund unterstützen ihre Arbeit für einen sauberen Sport.Zweitens. Wir beseitigen Zweifel am Datenschutz inunserem Kontrollsystem. Die NADA braucht Daten derSportler, beispielsweise um Listen über ihre Kontrollenzu führen. Wir beseitigen jetzt Bedenken, die es darübergibt, ob eine Einwilligung des Sportlers dafür ausreicht,und schaffen eine eigene Regelung, eine eigene Rechts-grundlage, die das Dopingkontrollsystem auch beimThema Datenschutz absichert.Drittens – dieser Punkt ist mir besonders wichtig –das klare Bekenntnis zur Schiedsgerichtsbarkeit derSportverbände. Wir stellen mit dem Gesetzentwurf erst-mals klar, dass die Sportgerichtsvereinbarungen vonSportverbänden mit den Sportlern grundsätzlich zulässigsind. Wir regeln, dass die Schiedsgerichte rechtsstaatli-chen Anforderungen genügen müssen, und gehen damitauf Bedenken ein, die es wegen ihrer Zusammensetzungoder wegen des Grundsatzes der Öffentlichkeit gegebenhat und die auch das Oberlandesgericht München in sei-ner Entscheidung zum Fall Pechstein angesprochen hat.Wir wollen, dass Streitigkeiten zwischen Sportlernund Sportverbänden auch weiterhin vor ein einheitlichesSportgericht kommen. Wenn ein Sportler gedopt wird,muss das harte und schnelle Konsequenzen haben, ins-besondere kurz vor Wettkämpfen. Das Strafrecht istlangsamer als das Sportrecht. Wir wollen aber auch kei-nen Flickenteppich von Dopingsperren. Mit den Rege-lungen der WADA, der internationalen Antidopingorga-nisation, haben wir zwar ein gemeinsames Regelwerk.Das muss aber auch einheitlich ausgelegt werden, undohne die Schiedsgerichte wäre das nicht mehr gewähr-leistet. Einzelfallentscheidungen nationaler Gerichte mitunterschiedlichen Ergebnissen würden an ihre Stelle tre-ten. Ich möchte mir keinen Spitzensport vorstellen, indem sich Sportler miteinander messen, die in einigenLändern wegen Dopings gesperrt sind, in anderen abernicht.
Was wir brauchen, sind schnelle, einheitliche und vor al-lem international bestandskräftige Entscheidungen. Des-wegen ist es richtig – das teilen wir ausdrücklich mitdem Deutschen Olympischen Sportbund –, weiterhin aufdie Sportgerichtsbarkeit zu setzen. Mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf stärken wir die Schiedsgerichte, ohnedie Reformen zu vergessen, die es dort allerdings auchbraucht.
Meine Damen und Herren, das Doping werden wirmit diesen Maßnahmen nicht vollständig beseitigen. Wiein anderen Bereichen der Kriminalität ist das auch hiernicht möglich. Wir schärfen aber die Instrumente zur Be-kämpfung des Dopings im Sport. Das sind wir vor allemden ehrlichen Sportlerinnen und Sportlern schuldig.Genauso wichtig wie die Bekämpfung des Dopingsist der Kampf gegen Spielmanipulation; ich habe es ein-gangs gesagt. Dort haben wir es teilweise mit weltweitoperierenden Täternetzwerken der organisierten Krimi-nalität zu tun. Diese Kriminellen wollen die Leistungenvon Athleten und den fairen Wettkampf mit Geld kaufen.Sie versuchen, Schiedsrichter zu Komplizen ihres krimi-nellen Geschäftsmodelles zu machen oder in andererWeise auf den Ausgang von Wettbewerben Einfluss zunehmen. Wir wollen vorhersehbare und gekaufte sichereSiege und sichere Niederlagen verhindern.
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Es ist etwas anderes, was den Sport ausmacht: Außen-seiter, die über sich hinauswachsen, Abende, an denen esÜberraschungen gibt, Augenblicke einer Niederlage ge-nauso wie Momente des aufrechten Glücks. Wir sagendeshalb heute auch den Spielmanipulationen den Kampfan. Deshalb habe ich mit meinem Kollegen Maas verein-bart, dass wir noch vor der Sommerpause Formulierun-gen für neue Vorschriften gegen Spielmanipulationenvorlegen werden.
Wir werden den Regelungsauftrag aus der Koalitions-vereinbarung damit vollständig umsetzen.
– Frau Abgeordnete Künast, natürlich ist da Druck imKessel. Bei beiden Themen ist Druck im Kessel:
beim Kampf gegen Doping und beim Kampf gegenSpielmanipulationen.
– Jetzt sage ich Ihnen einmal, wer diesen Druck im Kes-sel macht: wir selbst, weil wir es für wichtig halten, dasswir jetzt nach jahrelanger Diskussion in beiden Berei-chen zu Ergebnissen kommen.
Das machen wir für die Sportler, für die Zuschauer undfür alle, die Freude am ehrlichen Sport haben.
– Sie können ja gleich vortragen, wie Sie die Integritätdes Sportes schützen wollen – bei bisheriger Rechtslageohne eine Verschärfung. Da bin ich dann gespannt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang als Letztes einWort zur Olympiabewerbung sagen.
Wir haben das von Anfang an diskutiert. Es gibt Leute,die sagen – das will ich gerne auch einigen Sportlerinnenund Sportlern sagen, die in den letzten Tagen Bedenkengeäußert haben –: Na ja, wenn ihr ein Gesetz macht, dasvielleicht schärfer ist als anderswo, schadet ihr vielleichtder Olympiabewerbung, schadet ihr vielleicht deswegen,weil manche Länder in der Abstimmung beim IOC viel-leicht deswegen nicht für Hamburg/Deutschland stim-men, weil hier das Anti-Doping-Gesetz besonders scharfist. – Diese Frage wird nicht so offen formuliert, wie ichsie jetzt stelle, aber vielleicht klammheimlich gedacht.Da sage ich: Dem muss man hart entgegentreten!
Wenn wir glauben, uns würde die Ausrichtung derOlympischen Spiele deswegen übertragen, weil wir ir-gendwie nicht ganz sauber, nicht ganz fair im Verfahrenoder in irgendeiner Weise sind, haben wir sowieso verlo-ren.
Das, was andere Staaten möglicherweise tun, können wirsowieso nicht und wollen wir auch nicht. Deswegen sindein scharfes Anti-Doping-Gesetz und ein scharfes Ge-setz gegen Spielmanipulationen und eine blitzsaubere,erstklassige Bewerbung die einzig richtige und eine guteVorbereitung für eine erfolgreiche Olympiabewerbungvon Hamburg/Deutschland für das Jahr 2024. Deswegenbitte ich um Unterstützung.
André Hahn ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Für die Linke steht fest: Doping gefährdet dieGesundheit. Nun kann man Menschen, wenn sie dennvolljährig sind, nicht verbieten, ihre Gesundheit zu ge-fährden; aber wir können und wir müssen aufklären,nicht zuletzt im Hinblick auf Doping im Sport, ähnlichwie beim Gebrauch von Alkohol, Nikotin oder anderenlegalen Drogen.
Für die Linke steht auch fest: Doping im Sport, umsich gegenüber anderen Sportlerinnen und Sportlern ei-nen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, gefährdet nichtnur die Gesundheit, sondern ist auch eine Gefahr für denSport als solchen und für die Werte, die durch ihn in dieGesellschaft transportiert werden. Hier geht es nicht umdas Recht auf Selbstschädigung, hier geht es um Betrug.
Seit 1990 hat es diverse Initiativen und Maßnahmen-kataloge gegen Doping im Sport gegeben. Sie alle warennur bedingt erfolgreich. Deshalb muss aus Sicht der Lin-ken endlich entschlossen gehandelt werden,
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10248 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Dr. André Hahn
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um Doping im Sport deutlich wirksamer zu bekämpfen,als das bislang der Fall war. Es ist höchste Zeit, dassendlich etwas passiert.
Wir haben – das ist bekannt – bereits im August 2014einen Antrag mit Eckpunkten für ein Anti-Doping-Ge-setz vorgelegt, welcher am 6. November hier im Bundes-tag beraten und in die Ausschüsse überwiesen wurde.Nunmehr hat auch die Bundesregierung ihren lange an-gekündigten Gesetzentwurf vorgelegt. Er muss sichnicht nur am Antrag der Linken, sondern auch an denvon der Koalition selbst gesetzten Zielen messen lassen.Die Linke unterstützt im Grundsatz den vorliegendenGesetzentwurf; das schließt natürlich nicht aus, dass esim Zuge der Ausschussberatungen noch an einigen Stel-len Änderungen geben muss und vermutlich auch gebenwird. Positiv bleibt festzuhalten: Viele Punkte aus unse-rem Antrag sind im Regierungsentwurf berücksichtigtworden; das begrüßen wir ganz ausdrücklich.
Aber es gibt auch einige Defizite. So halten wir un-sere Forderung, dass Ärztinnen und Ärzten, die nach-weislich an Dopinganwendungen beteiligt waren, dieApprobation entzogen werden kann, nach wie vor fürsachgerecht. Gleiches gilt für unsere Forderung, Rege-lungen für den Schutz von Whistleblowern zu schaffen;denn ohne interne Informationen sind Dopingstrukturenund deren Hintermänner häufig gar nicht aufzuklären.
Wir bleiben auch bei unserem Vorschlag, eine unabhän-gige Ombudsstelle einzurichten, an die sich Sportlerin-nen und Sportler, Trainerinnen und Trainer sowie Elternwenden können, um qualifizierte Informationen überDopingprävention zu erhalten, aber auch um konkreteDopingverdachtsfälle mitzuteilen und um Hilfe zu bit-ten.Im Mittelpunkt der Diskussionen in den Ausschüssenwerden sicher das generelle Verbot des Eigendopingsvon Leistungssportlern sowie die Frage einer möglichenStrafverfolgung bei Erwerb und Besitz von Dopingmit-teln zum Zwecke des Selbstdopings stehen. Der Justiz-minister wird sich dazu gleich noch äußern. Wir alsLinke befürworten durchaus verschärfte Sanktionen fürSpitzensportlerinnen und Spitzensportler, die Doping-mittel benutzen, um sich einen unlauteren Vorteil imsportlichen Wettbewerb zu verschaffen.Für diesen Sportbetrug sollen bei Wiederholungstä-tern künftig neben Geldstrafen auch Freiheitsstrafen ver-hängt werden können. Aus unserer Sicht – ich habe dasschon an anderer Stelle gesagt – sollte sich die Höhe derGeldbußen nach den Einnahmen richten, die man direktoder auch mittelbar durch den Sport erzielt hat. Daswürde also bedeuten, dass von Sportart zu Sportart jenach Gehalt, Siegprämien und Werbeverträgen unter-schiedlich hohe Strafen festgelegt werden können.Von dem Gesetz wären nach Angaben der Bundesregie-rung rund 7 000 Sportlerinnen und Sportler in Deutschlandbetroffen. Das ist ein klar definierter Personenkreis, unddas ist auch durchaus richtig so. Der vorliegende Gesetz-entwurf zielt hinsichtlich der strafrechtlichen Regelungenganz bewusst auf die Dopinganwendung im Hochleis-tungssport, nicht aber auf gesundheitliche Gefährdungendurch die Einnahme verbotener Substanzen wie zumBeispiel Anabolika in Fitnessstudios. Das kann weder ineinem Gesetz geregelt noch wirksam kontrolliert wer-den. Zugleich aber sollten wir an alle Freizeitsportlerin-nen und -sportler appellieren, auf Dopingmittel zu ver-zichten.
Gerade deshalb ist es erforderlich, dass man – viel-leicht nicht zwingend in diesem Gesetz, aber zumindestbegleitend – geeignete Präventionsmaßnahmen entwi-ckelt, fördert und letztlich natürlich auch umsetzt. Dazugehören zum Beispiel Aufklärung im Jugend- und Nach-wuchssport über die Wirkung von anabolen Stereoiden,Nahrungsergänzungsmitteln und sporttypischen Aufbau-präparaten und die entsprechende Aus- und Weiterbil-dung der in diesem Bereich tätigen Personen wie Trai-nern usw.Ein weiterer Aspekt ist mir wichtig: Wir dürfen nichtnur mit neuen Strafen drohen, sondern müssen auch of-fen über die Ursachen von Doping im Sport reden, überStrukturen und Rahmenbedingungen, über den bestehen-den Leistungsdruck, über die Motive, Ängste undZwänge. Nur dann wird der Sport weiterhin positiveWerte wie die Erhaltung von Gesundheit, Leistungsbe-reitschaft, Fairness und Teamgeist verkörpern, nur dannwerden sich Breiten- und Spitzensport gegenseitig beför-dern können, und nur dann wird der Sport jene gesell-schaftliche Bedeutung erlangen, von der wir alle – auchhier im Bundestag – immer wieder reden oder gelegent-lich auch träumen.
Ich möchte abschließend noch auf zwei Punkte einge-hen, die besonders in der öffentlichen Diskussion sind:Ein Problem ist die im Gesetzentwurf vorgesehene un-eingeschränkte Besitzstrafbarkeit von Dopingmitteln beiSpitzensportlern. Hier teile ich die Bedenken von wichti-gen Vertretern der Athleten wie dem Diskus-Olympia-sieger Robert Harting. Was ist zum Beispiel, wenn einSportler auf dem Weg zum Training ein Asthmamittelfür seine Frau aus der Apotheke holt
– Moment bitte! –, das einen Wirkstoff enthält, der aufder Dopingliste steht, und in eine Kontrolle gerät? Dasist natürlich ein konstruierter Fall, aber er ist auch nichtvöllig unrealistisch. Deshalb plädieren wir dafür, nichtallein auf den Besitz abzustellen, sondern stattdessen– ähnlich wie bei der Rechtsprechung im Betäubungs-mittelbereich – den Besitz nicht geringer Mengen unterStrafe zu stellen. Das ist eine Differenzierung, die wirgerne vornehmen möchten.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10249
Dr. André Hahn
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Ich lege großen Wert – das will ich hier noch einmalbetonen – auf den Sachverstand des Deutschen Olympi-schen Sportbundes. Beim vorliegenden Gesetzentwurfsehe ich anders als der DOSB jedoch keine Beeinträchti-gung oder gar Aushöhlung der Sportgerichtsbarkeit. Bei-des kann aus meiner Sicht durchaus nebeneinander funk-tionieren. Die Verbände können bei Dopingvergehenweiterhin die in ihren Regeln vorgesehenen Wettkampf-sperren aussprechen, und bei gravierenden Verstößenoder bei Wiederholungstätern kann künftig zusätzlichauch die Staatsanwaltschaft tätig werden.Das ist im Übrigen auch keine Doppelbestrafung;denn schon heute wird ein Fußballprofi bei einer Tätlich-keit gemäß Regelwerk mit der Roten Karte vom Platzgestellt und von seinem Verband entsprechend gesperrt,und darüber hinaus kann dennoch eine Strafanzeige we-gen Körperverletzung erfolgen und kann die Staats-anwaltschaft tätig werden. Diese Möglichkeit ist da, unddas Gleiche kann aus unserer Sicht künftig auch im Do-pingbereich erfolgen.Ich füge noch hinzu: Die Sportgerichtsbarkeit alleinlöst auch nicht alle Probleme. Ein Sportler wird zumEnde seiner Karriere von Sperren nicht mehr sonderlichbeeindruckt, da er seine Laufbahn ohnehin beenden will.Hier ist es eine Erhöhung der Hürde für den Einsatz vonDopingmitteln, wenn man auch strafrechtliche Konse-quenzen zu fürchten hat.Ob es wirklich klug ist – das ist meine letzte Bemer-kung –, die umstrittenen Athletenvereinbarungen geradeüber das Anti-Doping-Gesetz zu regeln und hier einerechtliche Grundlage zu schaffen, werden wir in denAusschüssen noch zu diskutieren haben. In diesem Be-reich gibt es bisher mehr Fragen als Antworten. Den-noch sage ich: Der Gesetzentwurf ist ein Schritt in dierichtige Richtung. Wir freuen uns auf die anstehendenBeratungen.Herzlichen Dank.
Bevor ich dem Justizminister das Wort erteile, gebeich das von den Schriftführerinnen und Schriftführernermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmungüber den von der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit bekannt: abgege-bene Stimmen 590. Mit Ja haben gestimmt 448, mit Neinhaben gestimmt 126. Es gab 16 Enthaltungen. Damit istder Gesetzentwurf angenommen.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 586;davonja: 444nein: 126enthalten: 16JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzIris EberlJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichJörg HellmuthMichael HennrichAnsgar HevelingChristian HirteRobert HochbaumThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerErich IrlstorferSylvia JörrißenAndreas JungDr. Franz Josef JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf Lerchenfeld
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10250 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Dr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja Schmitt
Patrick SchniederNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Elisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettKlaus BarthelDr. Matthias BartkeBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela EngelmeierDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterAngelika GlöcknerUlrike GottschalckKerstin GrieseMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannDirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10251
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Dr. Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerStefan SchwartzeAndreas SchwarzDr. Carsten SielingNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsDr. Karin ThissenFranz ThönnesCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesNeinCDU/CSUCajus CaesarKlaus-Peter FlosbachDr. Stephan HarbarthRudolf HenkeDr. Heribert HirteDr. Hendrik HoppenstedtUwe LagoskyCarsten Müller
Sylvia PantelHeiko SchmelzleCarola StaucheMatthäus StreblDr. Johann WadephulIngo WellenreutherKlaus-Peter WillschDr. Matthias ZimmerSPDKirsten LühmannDIE LINKEDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMarieluise Beck
Volker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnUwe KekeritzKatja KeulMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerEnthaltenCDU/CSUMaik BeermannWolfgang BosbachUda HellerAlexander HoffmannHubert HüppeAndrea LindholzDr. Andreas NickTino SorgeSPDHilde MattheisUlli NissenAndreas RimkusBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAnja HajdukDieter JanecekBrigitte PothmerKordula Schulz-AscheDr. Valerie WilmsDas Wort hat nun der Bundesminister der Justiz,Heiko Maas.
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-braucherschutz:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Am heutigen Tage schlagen wir einneues Kapitel im Kampf gegen das Doping auf.
– Ja, richtig: Endlich schlagen wir ein neues Kapitel auf. –Leistungssportler, die in Zukunft dopen, sind nicht Men-schen, die nur eine lässliche Sünde begehen, sondernStraftäter. Das ist ein Schritt, der nötig ist; denn die Ge-schichte der Dopingbekämpfung ist mittlerweile zwarlang, aber bedauerlicherweise keine Erfolgsgeschichte.Immer wieder wurde und wird manipuliert, getäuschtund auch betrogen. Das geht vor allen Dingen zulastender ehrlichen Sportlerinnen und Sportler. Aber im Er-gebnis werden wir alle getäuscht: die Veranstalter, dieSponsoren und Millionen von Zuschauern. Deshalbfinde ich – das ist der Grund dafür, dass wir uns nach
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10252 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Bundesminister Heiko Maas
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vielen Jahren der Diskussionen dazu entschlossen haben,diesen Gesetzentwurf vorzulegen –: Der Staat darf dasnicht länger hinnehmen. Dazu ist der Sport mittlerweileviel zu wichtig für unsere Gesellschaft.
Es geht auch nicht nur darum, Sportlerinnen undSportler vor ihrer gesundheitlichen Selbstschädigung zubewahren; es geht vor allen Dingen auch darum, Betrugzu ahnden.
Denn Doping ist nichts anderes als eine Spezialform desBetruges. Betrug ist ohnehin schon strafbar. Wenn mansich vor Augen führt, dass es im Leistungs- und Profi-sport mittlerweile um Millionen-, teilweise um Milliar-denbeträge geht, etwa bei den Fernsehgeldern, dannerkennt man: Das ist eine Dimension, bei der das Straf-recht durchaus ein geeignetes Instrument ist, das manzur Hilfe nehmen kann, um die Missstände, die es dortgibt, anzugehen.Die deutschen Sportvereine haben 28 Millionen Mit-glieder. Für Kinder und Jugendliche ist Sport Gott seiDank nach wie vor – ich hoffe, dass es noch lange sobleibt – die Freizeitbeschäftigung Nummer eins. Sporterzielt die höchsten Einschaltquoten, erzielte auch diehöchste Einschaltquote, die jemals im deutschen Fernse-hen gemessen wurde, nämlich 86 Prozent. Sport steht fürWerte wie Fair Play, Chancengleichheit und Teamgeist.Aber, meine Damen und Herren, all das ist durch Dopinggefährdet. Doping ist sozusagen die Negation aller Wertedes Sports. Auch dagegen richtet sich unser Gesetzent-wurf. Wir wollen den Verfall dieser Werte durch do-pende Sportler stoppen.
Doping bedeutet eben das Gegenteil: Erfolg um jedenPreis, ohne gleiche Chancen, ohne Fairness, ohne Rück-sicht auch auf die eigene Gesundheit. Ich finde, wennunsere Gesellschaft zulässt, dass Regeln immer wiedergebrochen werden, wenn wir unfähig bleiben, den Re-gelbruch zu stoppen, und wenn Menschen erleben, dassBetrug und Manipulation einfach zum Erfolg führen,dann gefährdet das nicht nur den Sport, sondern dannsteht, wie ich finde, mehr auf dem Spiel: Es geht um dasRechtsbewusstsein in unserem Land. Wir dürfen nichtzulassen, dass es in Mitleidenschaft gezogen wird. Auchdeshalb ist dieses Gesetz so wichtig.Meine Damen und Herren, es geht bei dem Gesetz imWesentlichen um drei Punkte, die ich hervorhebenmöchte:Erstens. Das Selbstdoping wird strafbar, und wir füh-ren die sogenannte uneingeschränkte Besitzstrafbarkeitein. Wer als Leistungssportler dopt, der handelt krimi-nell. In Zukunft drohen nicht mehr nur die Sperren derVerbände, sondern auch Ermittlungsverfahren und Geld-strafen oder im Extremfall sogar eine Haftstrafe. DieStrafbarkeit des Selbstdopings wird an der einen oderanderen Stelle immer wieder in Zweifel gezogen. Ichwill Ihnen ehrlich sagen: Das kann ich nicht verstehen.Denn ich frage mich: Wer, wenn nicht der dopendeSportler, sozusagen der Profiteur des ganzen Geschäftes,muss denn Ziel einer strafrechtlichen Verfolgung sein?Schon jetzt ist es strafbar, wenn man mit nicht geringenMengen erwischt wird. Der eigentliche Profiteur des Do-pings, nämlich der betrügende Sportler, der anschließendPreisgelder erhält und Werbeverträge abschließt, der alsoseine Einnahmen durch Betrug außerordentlich erhöht,soll schadlos davonkommen? Das kann ich nicht verste-hen. Deshalb ist das Selbstdoping das zentrale Elementdieses Gesetzentwurfs. Genau diesen Punkt müssen wirumsetzen, um die Betrüger im Sport endlich dranzukrie-gen.
Auch die uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit istwichtig und richtig. Ich will auf das Argument, das Sieeben angesprochen haben, eingehen, weil das sozusagender Klassikerfall ist: das Asthmaspray der Ehefrau oderdes Kindes. Zum Thema „Asthma im Leistungssport“könnte man jetzt wirklich viel erzählen; darauf will ichverzichten. Aber ich will zumindest darauf hinweisen:Im Gesetzentwurf steht, dass lediglich das Mitsichführenvon Dopingmitteln noch nicht strafbar ist; es muss auchnachgewiesen werden, dass es in der Absicht mit sichgeführt wird,
es nicht der Frau zu bringen, sondern es selber zur Leis-tungssteigerung und Wettbewerbsverzerrung zu nutzen.Deshalb ist der klassische Asthmafall eben kein Fall, dergegen die uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit in Stel-lung gebracht werden kann.
Meine Damen und Herren, das Gesetz erfasst nichtnur den deutschen Spitzensport, nicht nur die inDeutschland Trainingskontrollen unterliegenden Sport-ler, die, deren erhebliche Einnahmen in ihrem Sport ihrEinkommen darstellen; auch für ausländische Spitzen-sportler, die bei uns Dopingmittel oder Dopingmethodenanwenden, gilt das Strafrecht. Also – an all diejenigen,die diesbezüglich verunsichert waren – gleiches Rechtfür alle und nicht nur für die, die in Deutschland trainie-ren.Ein zweiter Punkt, der wichtig ist – Herr de Maizièrehat das zumindest schon angedeutet –: Das Gesetz wirddie Strafbarkeit des Handelns der Helfer und Hintermän-ner weiter verschärfen. Kein Sportler – zumindest ist mirkeiner bekannt – braut sich im Keller in einer Drogenkü-che seine eigene Dopingsubstanz. Es sind vielmehr orga-nisierte Untergrundlabore, Dopingdealer, um die es geht;ein blühender Geschäftszweig. Deshalb werden wir– das kommt in dem Gesetzentwurf zum Ausdruck – dasgesamte Treiben dieser Branche unter Strafe stellen, alsodas Herstellen, das Handeltreiben, das Veräußern unddas Abgeben von Dopingmitteln.
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Bundesminister Heiko Maas
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In schweren Fällen – bedauerlicherweise zeigt uns dieGeschichte des Dopings, dass es diese Fälle in der Ver-gangenheit gegeben hat –, wenn zum Beispiel Doping-mittel an Kinder und Jugendliche abgegeben werden,droht den Dealern sogar eine Freiheitsstrafe von bis zuzehn Jahren. Das ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt unse-res Gesetzentwurfs.Der dritte Punkt, der mir wichtig ist – man muss es er-wähnen, um Missverständnisse auszuräumen, die in deröffentlichen Debatte immer wieder entstehen, Dinge, dienicht wahrer werden dadurch, dass sie immer wiederholtwerden –: Wir stärken mit dem Gesetz die Sportver-bände im Kampf gegen das Doping. In Zukunft sollennämlich die Gerichte und die Staatsanwaltschaften ihreInformationen über Dopingtäter an die Nationale AntiDoping Agentur übermitteln können.Außerdem stärken wir die Schiedsgerichtsbarkeit; dasist schon erwähnt worden. Es gab in der Vergangenheitdort erhebliche rechtliche Unsicherheiten. Dadurch, dasswir dazu eine Regelung ins Gesetz aufnehmen, ist jetztklargestellt: Grundsätzlich ist es in Ordnung, dass Sport-ler vor einem Wettkampf vereinbaren, dass die Schieds-gerichte zuständig sind. Wenn es dann tatsächlich zu ei-nem Dopingfall kommt, ist klar, dass das sportinterneSanktionssystem greifen wird. Das ist letztlich ein wich-tiger Punkt für die Verbände und ihre Organisationen.Gerade daran wird besonders deutlich, dass wir denKampf gegen das Doping auch deshalb verschärfen, weilwir die Rolle der Verbände stärken wollen und auchstaatliche Mittel nutzen wollen, um das Doping zu be-kämpfen.Ich finde auch, wir haben es uns nicht leicht gemachtmit diesem Gesetzentwurf; das kann man nun wirklichnicht sagen. Ich weiß gar nicht, wie lange die Politik be-reits über dieses Thema diskutiert. Vielleicht – so emp-finde ich das – hat sie auch zu lange gezögert, diesenSchritt zu gehen. Aber ich bin froh, dass wir uns jetztdazu entschlossen haben.
Ich bin mir auch absolut sicher – darüber brauchtmich niemand zu belehren –, dass das Strafrecht keinAllheilmittel ist, um gesellschaftliche Probleme zu lö-sen. Es ist lediglich das letzte Mittel. Ich bin aber ge-nauso davon überzeugt, dass gerade beim Doping dasStrafrecht seinen Zweck erfüllen kann. Denn Täter han-deln hier weder spontan noch aus irgendwelchen ideolo-gischen Motiven. Sie handeln sehr überlegt und auchsehr berechnend. Gerade bei solchen potenziellen Straf-tätern kann die drohende Strafe abschreckende Wirkunghaben und damit einen Rechtsbruch verhindern. Auchdarum geht es.Viele Sportlerinnen und Sportler unterstützen unserenGesetzentwurf
und haben das öffentlich deutlich gemacht.
Es gibt auch welche, die ihn nicht unterstützen.
Es ist gut, dass man offen darüber diskutieren kann.Aber ich würde einfach darum bitten, sich mit den Argu-menten der einen und der anderen auseinanderzusetzen.
Ein Argument, das eben eingeführt wurde, ist das so-genannte Negativdoping. Negativdoping besteht darin,dass man nicht selber dopt, sondern seinem Konkurren-ten etwas unterjubelt, der dann bei einem Dopingtestauffällt und aus dem Verkehr gezogen wird. Es wird jetztso getan, als sei das die große Gefahr, als könnte mandurch die uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit plötzlichMissbrauchsgefahren Tür und Tor öffnen.
– Wohl wahr ist auch, dass das auch jetzt schon strafbarist.
Wohl wahr ist auch, dass man schon jetzt jemandem Do-pingmittel in die Tasche schieben kann, wenn man dasunbedingt will; denn das sind auch schon nicht geringeMengen.
Es ist völliger Blödsinn, zu behaupten, das sei eineneue Gefahr. So etwas ist auch jetzt schon strafbar. Des-halb wird das nicht dazu führen, dass dieses Gesetz nichtsinnvoll ist oder dass wir in irgendeiner Weise Gefahrenim Sport entstehen lassen, die es so nicht gibt und dienicht verantwortbar wären. Ganz im Gegenteil: Das Ge-setz ist bitter notwendig. Es ist bedauerlich, dass diesesGesetz notwendig geworden ist, aber es war auch über-fällig. Es ist gut, wenn wir den Kampf gegen das Dopingjetzt auf die Art und Weise verschärfen und zusammenmit dem Sport fortführen.Schönen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Mutlu das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als grüneBundestagsfraktion – das gilt auch für die grünen Land-tagsfraktionen überall im Land – setzen wir uns für einensauberen und fairen Sport ein. Wir lehnen – wie sicher-lich alle in diesem Hause – Doping im Sport konsequentab. Aber wir sind dennoch der Auffassung, dass der vor-gelegte Gesetzentwurf weder in seiner Konstruktion
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Özcan Mutlu
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überzeugend ist noch das Problem des Dopings in seinerVielfalt angehen kann.
Statt den Ursachen beizukommen, legen Sie die straf-rechtliche Axt an die Symptome. Uns Grüne geht esnicht um die Symptome, sondern um die konsequenteund konkrete nachhaltige Beseitigung der Ursachen desDopings. Dafür ist das Strafrecht nicht geeignet.
Wir lesen Monat für Monat in den Medien über Do-pingfälle. Was ändert sich im Sport? Ziehen die Ver-bände Konsequenzen? Leider nicht! Als Paradebeispielkann der Fall von Lance Armstrong genannt werden.Nicht einmal dieser riesige Dopingskandal hat zu einemechten und ernsthaften Umdenken im Profiradsport ge-führt. Seit einigen Monaten stehen auch die Mann-schaftssportarten im Fokus der Fachmedien.
In Frankreich und Kanada wird über das Doping imRugby geredet. In den USA findet eine Debatte überAmerican Football statt. Ich bin der Auffassung, dassauch in Deutschland diese Diskussion fällig ist, beson-ders im Bereich des Amateur- und Profifußballs.Schauen wir doch einmal genau hin: Es fängt damitan, dass Fußballer die 90 Minuten auf dem Feld inzwi-schen nur noch mit starken Schmerzmitteln durchhaltenkönnen. Ist das Spielmanipulation? Ist das Verfälschungdes Ergebnisses? Warum nicht? Sicherlich! Ich fragemich auch: Was ist das für ein Sport, in dem Sportlervorsorglich zu starken Medikamenten und Schmerzmit-teln greifen müssen, damit sie überhaupt die 90 Minutenim Wettkampf bestehen können? Wer behauptet, dassDoping im Fußball aufgrund der Komplexität der Bewe-gungen keine Rolle spielt, der behauptet schlichtwegUnfug.Wir alle wissen: Doping und ähnliche Manipulationenim sportlichen Wettbewerb – wir haben es vorhin gehört –gefährden den Sport und die Integrität des Sports. Auchdeshalb ist und muss der Kampf gegen Doping eine derzentralen Aufgaben von uns, aber auch des Sports undder Sportverbände sein. In diesem Sinne ist Ihr Gesetz-entwurf zur Bekämpfung des Dopings meiner Ansichtnach weder stimmig noch zielführend.
Ich möchte das dadurch verdeutlichen, dass ich denKampf gegen Doping mit der seit Jahren überfälligenReform der Leistungssportförderung verknüpfe, die der-zeit in Arbeit ist. Auf der einen Seite wissen wir, dassDoping in erster Linie eine Folge des gigantischen Leis-tungs- und Erfolgsdrucks im Sport ist. Auf der anderenSeite wollen Sie, Herr de Maizière, Fördermechanismenfür den Spitzensport noch stärker auf Medaillen und Er-folg ausrichten.
Das passt nicht zusammen.
Denn wenn wir davon ausgehen, dass im internationalenSpitzensport Doping nicht die Ausnahme, sondern eherdie Regel ist, dann wird die einseitige Ausrichtung derSportförderung auf Medaillen und Erfolg auch in unse-rem Land nicht für weniger, sondern für mehr Dopingsorgen. Das ist die traurige Realität, die die Minister– einer von Ihnen ist noch anwesend – wahrnehmen undernst nehmen sollten.
Meine Damen und Herren, es ist doch eine Binsen-wahrheit, dass der Griff zum Strafrecht stets – wennüberhaupt – nur der letzte Schritt sein sollte. Ich willstichpunktartig auf einige kritikwürdige Punkte einge-hen.Stichwort „Besitzstrafbarkeit“: Dieses Instrument istschon beim Cannabis gescheitert. Warum sollte es beimDoping funktionieren?
Stichwort „Verbot des Selbstdopings“: Das Verbot desSelbstdopings berührt das verfassungsrechtlich ge-schützte Recht auf Selbstbeschädigung. Wir vermisseneine Abwägung, warum gerade Sportlerinnen und Sport-ler im Spitzensport im Gegensatz zu allen anderen Sport-lern bzw. Menschen ihre eigene Gesundheit nicht ge-fährden dürfen sollen.Stichwort „Fairness im Sport“: Welches verfassungs-rechtliche Schutzgut stellt Fairness im Sport dar? IhrVersuch, Fairness im Sport per Gesetz strafrechtlichschützen zu wollen, ähnelt dem Versuch, Pudding an dieWand des Bundestages zu nageln. Das wird weder demPudding noch der Fairness nützen.
Auch bei den Vorschlägen aus den Ländern müssenwir genau hinschauen. Die Einführung einer Kronzeu-genregelung beispielsweise lehnen wir ab.Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu den Bür-gerrechten der Athletinnen und Athleten. Für uns geltendie Bürgerrechte auch für Athletinnen und Athleten. MitIhrem Gesetzentwurf schaffen Sie im Endeffekt den glä-sernen Athleten. Auch das können wir nicht gutheißen.
Meine Damen und Herren, statt das Strafrecht zu be-mühen, müssen wir uns insbesondere mit der Leistungs-spirale im Sport und den eigentlichen Ursachen des Do-pings auseinandersetzen. Dazu gehört auch der Wille,die Dopingvergangenheit unseres Landes, und zwar inOst und West, lückenlos aufzuarbeiten. Ich nenne nur
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Özcan Mutlu
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das Stichwort „Freiburg“. Insofern sollten wir umfassen-der an die Sache herangehen.Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang auch überSportbetrug und Spielmanipulation reden.
Der Herr Minister hat es zwar gerade angekündigt, aberich verstehe nicht, warum es nur Ankündigungen gibt,statt schon zur Tat zu schreiten. Denn Sportbetrug undSpielmanipulation sind eines der Kernprobleme des Do-pings. Wir meinen deshalb, dass Sportbetrug zwingendals Tatbestand eingeführt werden soll.Ich komme zum Schluss. Der Zweck des Anti-Do-ping-Gesetzes ist insbesondere auf den Schutz des wirt-schaftlichen Wettbewerbs des Sports vor unlauterer Ma-nipulation auszurichten. Denn im kommerziellen Sportwerden Milliarden umgesetzt. Es geht nicht um dieolympische Idee und sportliche Ideale, sondern umknallharten Profit. Deshalb sollten wir versuchen, das inunserer Arbeit und in der Gesetzgebung abzubilden, stattnur das Strafrecht zu bemühen und den Blick einseitigauf die Sportlerinnen und Sportler zu richten.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Mutlu. – Schönen guten Mor-
gen von mir, liebe Kolleginnen und Kollegen und auch
Ihnen, unseren Gästen!
Der nächste Redner in der Debatte ist Reinhard
Grindel für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bei dem Gesetzentwurf geht es im Kern vor allem umeine Frage: Reicht es beim Kampf gegen Doping aus, al-lein auf die Sportgerichtsbarkeit zu setzen, oder brau-chen wir, gerade wenn es um den dopenden Sportlergeht, dazu auch die Mittel des Strafrechts?Wir müssen es schon ernst nehmen, dass der DOSBunsere Gesetzesinitiative ablehnt und damit sagt: Wirbrauchen das Strafrecht nicht. Lasst uns das Dopingpro-blem mit unseren Mitteln lösen, den Mitteln des Sport-rechts. Ist also im Großen und Ganzen alles in Ordnung?
In diesem Zusammenhang wird meines Erachtenseine Studie der Deutschen Sporthochschule und derSporthilfe in der Öffentlichkeit viel zu wenig beachtet.Im Rahmen dieser Studie ist in einem streng anonymi-sierten Verfahren Spitzensportlern die entscheidendeFrage gestellt worden: Greifen Sie regelmäßig zu Do-pingmitteln? – Mit Nein antworteten 53,4 Prozent, mitJa 5,9 Prozent, keine Antwort gaben 40,7 Prozent. Ange-sichts solcher Zahlen kann man wohl eher nicht davonreden, dass alles in Ordnung ist. Ein so großes Dunkel-feld darf sich der deutsche Sport nicht leisten. Deshalbmüssen wir, auch mit den Mitteln des Strafrechts, denKampf gegen das Selbstdoping von Sportlern mit allerEntschiedenheit führen.
Die zweite, vor allem von Strafrechtsprofessoren vor-getragene Kritik lautet: Ihr schafft mit der Integrität dessportlichen Wettbewerbs ein völlig neues Rechtsgut, dasim Strafrecht nichts verloren hat. – Was völlig übersehenwird, auch von Ihnen, Frau Künast, in Ihrem heutigenAufsatz: Wir kennen seit langem den Schutz des wirt-schaftlich fairen Wettbewerbs, wie ihn § 299 des Straf-gesetzbuches regelt. Wir diskutieren über einen neuen§ 299 a – Bekämpfung der Korruption im Gesundheits-wesen –, mit dem wir das Vertrauen der Patienten in dieIntegrität heilberuflicher Entscheidungen auch mit denMitteln des Strafrechts schützen wollen. Ist es da so ab-wegig, auch die Integrität des sportlichen Wettbewerbsund das Vertrauen der Menschen darauf zu schützen?
An dieser Stelle kommt es auf die gesellschaftlicheBedeutung des Sports an. Wo sind denn die Integrations-kräfte in unserer Gesellschaft, die für Zusammenhalt undein Stück Heimat sorgen? Kirchen, Gewerkschaften undParteien verlieren Mitglieder. Bei den Sportvereinen istdie Zahl trotz einer negativen demografischen Entwick-lung stabil, im Fußball steigt sie sogar. Wo versammelnsich noch ältere und jüngere Menschen, Frauen undMänner, Ärmere und Besserverdienende, Menschen mitund ohne Migrationshintergrund? Es ist beim Sport.Glauben wir tatsächlich, dass sich unsere Gesellschaftpositiv entwickelt, wenn wir nur noch auf digitale so-ziale Netzwerke setzen? Sind es in Wahrheit nicht unsereVereine, vor allem die Sportvereine, bei denen wirklichsoziale Kompetenzen vermittelt werden? Warum setzensich denn die höchsten Repräsentanten unseres Landesdafür ein, dass Olympische Spiele oder eine Fußball-europameisterschaft in Deutschland stattfinden? Weilvon einem solchen Leuchtturmprojekt eine große Strahl-kraft, eine große Anziehungskraft ausgeht, die geradeKinder und Jugendliche motivieren wird, Sport in Verei-nen zu betreiben.
Aber all das wird scheitern, wenn die Menschen, ge-rade die jungen Menschen, den Glauben an Fairness imSport, den Glauben an die Zufälligkeit des Ergebnisses,an die Lauterkeit unserer Spitzensportler verlieren. Werals dopender Sportler an den Fundamenten des Sportsrüttelt, wer das mit Füßen tritt, woran vor allem jungeMenschen glauben, der muss eben nicht nur aus demsportlichen Wettbewerb ausgeschlossen werden, sondernder und seine möglichen Hintermänner müssen auch dievolle Härte des Rechtsstaats spüren, weil wir nur so dieIntegrität und die Integrationskraft des Sports bewahrenkönnen. Das ist das Kernanliegen unseres Gesetzent-wurfs.
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10256 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Reinhard Grindel
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Die Integrität des sportlichen Wettbewerbs wird nichtnur von Doping, sondern auch von Spielmanipulationbedroht. CDU/CSU und SPD haben deshalb in ihremKoalitionsvertrag verankert:Doping und Spielmanipulationen zerstören dieethisch-moralischen Werte des Sports … Deshalbwerden wir weitergehende strafrechtliche Regelun-gen beim Kampf gegen Doping und Spielmanipula-tion schaffen.Ich bin Ihnen, Herr Minister de Maizière, dankbar,dass Sie angekündigt haben, dass wir hier Initiativen er-warten dürfen. Lieber Herr Kollege Maas, es wäre auchnicht verkehrt gewesen, wenn Sie sich dem hier am Red-nerpult angeschlossen hätten.
Ich gehe davon aus, dass Sie das tun werden. Um esganz klar zu sagen: Wir möchten, dass der Koalitions-vertrag eins zu eins umgesetzt wird, ein Anliegen, dasSie, Herr Maas, auch bei anderer Gelegenheit immerwieder einfordern.Ich sage noch einmal: Wer die Integrität des sportli-chen Wettbewerbs schützen will, muss das auch tun,wenn es um Spielmanipulation geht. Auch die bedrohtunseren Sport.
Nun werden schon vor der ersten Lesung unseres Ge-setzentwurfs Sammelklagen angedroht, was immer mandarunter verstehen mag. Via FAZ wird uns von denLeichtathleten Betty Heidler und Robert Harting mitge-teilt – ich zitiere –:Die uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit löse beiAthleten erhebliche Ängste aus, sich trotz Fehlensjeder Dopingabsicht strafbar zu machen … Zudemmüsse die Doping-Absicht zur Voraussetzung einerstrafgerichtlichen Verurteilung gemacht werden.
Frau Heidler sei Jurastudentin, ist in der FAZ zu lesen.Dann wird sie den Spruch kennen: Ein Blick ins Gesetzerleichtert die Rechtsfindung.
Wenn sie das tun würde, würde sie in § 3 des Anti-Do-ping-Gesetzes auf eine klare Regelung stoßen: Die Be-sitzstrafbarkeit setzt voraus, dass der Erwerb oder Besitzdes Dopingmittels zum „Zwecke des Dopings“ erfolgt.
Es kommt also nicht nur auf die Verwirklichung des ob-jektiven Tatbestandes an, sondern auch auf die des sub-jektiven Tatbestands. Folglich heißt es in der Begrün-dung des Anti-Doping-Gesetzes:Das Verbot erfasst nur die Fälle, in denen die Sport-lerin oder der Sportler beabsichtigt, das Dopingmit-tel ohne medizinische Indikation bei sich anzuwen-den oder anwenden zu lassen, um sich in einemWettbewerb des organisierten Sports einen Vorteilzu verschaffen.Also ist die Forderung, die die beiden Sportler viaFAZ transportieren, bereits erfüllt. Ich muss schon sagen:Wenn man so massiv die Politik angreift, wie das dieAthleten tun, muss man sich vorher, finde ich, ein biss-chen kundig machen, was wirklich im Gesetz steht.
Ich will nicht verschweigen, dass man an der Beteue-rung der beiden Athleten zweifeln kann, man sei ja füreinen entschiedenen Antidopingkampf, wenn man liest,wie sie Sportgerichtsbarkeit und Strafgerichte in ihrerStellungnahme gegeneinander ausspielen. Da heißt es inder Stellungnahme: Wir verstehen nicht, weshalb diePolitik der verbandsrechtlichen Sportgerichtsbarkeithilft. – Ich sage: Wer die Integrität des sportlichen Wett-bewerbs schützen will, der muss die Sportgerichtsbarkeitstärken.
Ein des Dopings überführter Sportler muss sofort ausdem Wettbewerb genommen werden. Deshalb ist derGrundsatz des Strict Liability zwingend nötig. Wenn imKörper des Sportlers Dopingmittel gefunden werden,dann gilt das als Anscheinsbeweis mit der Folge des so-fortigen Ausschlusses vom Wettbewerb. Da kann mandoch nicht zwei oder drei Jahre auf ein Strafurteil wartenund zusehen, wie einer mit unfairen Mitteln Titel umTitel erringt. Dieser Zusammenhang ist doch nahelie-gend.
Wir schaffen deshalb für Schiedsvereinbarungen undSchiedsgerichte eine klare gesetzliche Grundlage undkommen damit Erwartungen der Gerichte im FallPechstein nach. Wir sollten die Hinweise von Expertenernst nehmen und im Ausschuss darüber reden, ob wirdie Rechtsgrundlage möglicherweise nicht im Anti-Do-ping-Gesetz, sondern in der Zivilprozessordnung schaf-fen, weil es bei Streitigkeiten eben nicht nur um Doping,sondern auch um Ablösesummen von Sportlern oder denStreit um Nominierungen für sportliche Großveranstal-tungen geht.Ich will einmal auf eines hinweisen: Wir sind vor we-nigen Wochen mit dem Sportausschuss beim CAS inLausanne gewesen. Dort haben uns führende Repräsen-tanten – alle Fraktionen waren ja bei der Reise vertreten –versichert, dass es beim CAS zu entscheidenden Refor-men kommen wird, die klarmachen, dass der CAS unab-hängig und nicht verbändeabhängig ist. Damit wird auchBedenken von deutschen Gerichten Rechnung getragen.Zum Schluss will ich noch mal auf die Athletin BettyHeidler zurückkommen und ihr Plädoyer in der FAZ. Siesagt dort – und meint das wohl offensichtlich ernst –,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10257
Reinhard Grindel
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dass unser Anti-Doping-Gesetz sich negativ auf die jün-gere Generation auswirken werde:Kinder und Jugendliche werden sich eher für Hob-bysport entscheiden als sich in den Testpool auf-nehmen lassen.Gemeint ist der Testpool, der die Voraussetzung dafürist, dass man überhaupt Adressat dieses Anti-Doping-Gesetzes ist. Wir wollen ja nicht den Freizeitläufer beimBerlin-Marathon in den Blick nehmen, weil der nicht ge-eignet ist, die Integrität des Sports zu bedrohen,
sondern eben den Spitzenathleten, dem gerade die jun-gen Menschen nacheifern.
– Frau Künast, Sie zeigen in Ihrem Aufsatz in der FAZ,dass Sie wenig begriffen haben, worum es hier geht.
Es ist natürlich ein gravierender Unterschied, ob Sie je-manden haben, der als Spitzensportler durch DopingWettbewerbe beeinflusst,
auf die Millionen von Menschen schauen, oder ob einHobbysportler Nahrungsergänzungsmittel nimmt mitSubstanzen, die man nicht nehmen darf.
Das ist doch ein ganz zentraler Unterschied. Sie habeneinfach – das müssen Sie einmal zugeben – den ganzenAnsatz unseres Anti-Doping-Gesetzes nicht verstanden.
Das ist leider das Problem.
– Mir zuhören, Herr Mutlu. Das wäre schon ein ersterSchritt. Dann würde man auch ohne Schmerzmittel – umdas zu sagen – jede Ihrer Reden gut überstehen können.
Ich will jetzt, Frau Präsidentin, mit vollem Ernst nocheinen Schlussgedanken zu diesem Zitat von Frau Heidlerformulieren.
Aber einen kurzen Gedanken.
Ja. – Wir wollen, dass gerade in den Jugendstützpunk-
ten – hier geht es um junge Menschen –, in denen sich
entscheidet, ob aus jungen begabten Athleten Spitzen-
sportler werden, gute Präventionsarbeit geleistet wird.
Wir wollen, dass sich Jugendliche für den Spitzensport
entscheiden, gerade weil sie wissen, dass es hier in
Deutschland sauber und sportlich fair zugeht, dass am
Ende der Beste gewinnt und nicht der mit den skrupello-
sesten Ärzten im Hintergrund.
Ein letzter Gedanke: Herr Harting lässt sich mit den
folgenden Worten zitieren – das muss man sich wirklich
auf der Zunge zergehen lassen –:
Die Welt ist genervt vom deutschen Anti-Doping-
Kampf.
Dazu kann ich nur sagen: Hoffentlich ist die Welt ge-
nervt;
denn Weltmeister im Antidopingkampf zu sein, ist viel-
leicht noch ein bisschen wichtiger, als Weltmeister im
Diskuswurf zu sein.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Reinhard Grindel. – Nächster Redner in
der Debatte: Frank Tempel für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Die Bekämpfung von Doping im Sport istoffensichtlich ein gemeinsames politisches Ziel allerFraktionen im Deutschen Bundestag. Dabei geht es, wiegehört, um Fairness und Chancengleichheit im sportli-chen Wettbewerb. Und es geht um die Glaubwürdigkeitund Vorbildfunktion des Sports, insbesondere des Spit-zensports. Es geht natürlich auch um wirtschaftlicheFaktoren, wenn letztendlich aufgrund von Doping För-dermittel, Gehälter oder Prämien bezogen werden undnicht dopende Sportler deswegen keinen Zugang zu die-sen Einnahmen haben. Aber der absolut vorrangigsteZweck – ich hoffe wirklich, dass das alle so sehen – istnicht der wirtschaftliche Aspekt, sondern der Schutz derGesundheit von Sportlerinnen und Sportlern,
und das, Herr Grindel, eben nicht nur im Leistungssport.Neu im Katalog der Maßnahmen ist das Unter-StrafeStellen von Selbstdoping, also die Strafanzeige für do-pende Sportler im Wettbewerb des organisierten Sports.
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10258 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Frank Tempel
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In etwas abgeschwächter Form ist diese Forderung auchim Antrag meiner Fraktion, der Linken, enthalten. Wermeine Forderungen in der Drogenpolitik kennt, weiß,dass ich erhebliche Zweifel an der generalpräventivenWirkung von Verboten habe, also Zweifel daran, dassein Verbot wirklich hilft, die Situation zu verbessern,also in diesem Fall die Dimensionen des Dopings imSport zu verringern. An dieser Stelle richte ich ein Dan-keschön an meine Fraktion dafür, dass ich diese Zweifelhier äußern darf, dass ich diesen Aspekt in die Debatteeinbringen darf. Natürlich haben viele Sportlerinnen undSportler Angst vor Kriminalisierung, und die Linkenimmt diese Angst ernst, und zwar ohne Arroganz, HerrGrindel. Wir arbeiten mit den Sportlern zusammen undnicht über ihre Köpfe hinweg.
Es geht im Gegensatz zum Cannabisgebrauch nichtnur um eine potenzielle gesundheitliche Gefährdung desSportlers, sondern eben auch um das Erlangen von Vor-teilen zum Nachteil anderer. Auch darüber müssen wir inder Debatte diskutieren.Es geht grundsätzlich – das halte ich für genausowichtig – um den Stellenwert des Sports in unserer Ge-sellschaft. Sehr schnell kann der Eindruck entstehen,dass der Kampf gegen Doping ein Thema des Spitzen-sports ist. Das ist aber falsch. Der Kampf gegen Dopingmuss sehr viel breiter angelegt werden; und spätestensda wird uns das Strafrecht nicht mehr helfen. EinStraftatbestand für Spitzensportler ist schnell beschlos-sen; aber gegen die Dopingnormalität im Breitensportwerden ganz andere Anstrengungen notwendig sein.
Der gedopte Radsportler wird in der Öffentlichkeitschnell mit Verachtung und Enttäuschung überhäuft undist nun wohl bald auch ganz offiziell kriminell. Wie abersieht es im Breitensport aus? Wer hat da eigentlich nochdas Wissen, was Doping ist? Besuchen Sie einmal zuHause die Fitnessstudios, und schauen Sie sich an, wasdort passiert: Für die einen ist der Proteinshake bereitsDoping; für die anderen sind all die verschiedenen Kap-seln, Pillen und Tröpfchen, die es dort in sehr großer An-zahl und Auswahl gibt, völlig normal. Wer sich ein we-nig informiert, weiß, dass man über das Internet undüber das Ausland ganz schnell Mittelchen beziehenkann, die versprechen, dass der gewünschte leistungs-steigernde Effekt noch schneller eintritt.Kaum einer weiß aber, was diese Mittelchen tatsäch-lich alles bewirken. Es reicht, wenn auf der Verpackungsteht: „schnellere Fettverbrennung“, „schnellerer Mus-kelaufbau“, „schnellere Regeneration“, und schon wirddas Zeug gekauft. Damit wird viel Geld verdient. Ganzschnell geht es nicht mehr nur um Nahrungsergänzungs-produkte – das Ganze übrigens oft ohne Altersbeschrän-kung. Vielleicht steht noch auf der Verpackung, dass dieangegebene Dosierung nicht überschritten werden darf.Warum? – Das steht nicht drauf. Aus einigen Gesprä-chen beim Training weiß ich allerdings, dass auch dieserHinweis oft ignoriert wird; denn vielleicht hilft viel jadoch viel, und die Zeitschriften sind voll von verlocken-den Vorher-nachher-Bildern, gerade jetzt, im Frühjahr.Doping, so der Eindruck, ist nur ein Phänomen desProfisports. Nein, der Kampf gegen Doping ist eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe. Das ist in allererster Li-nie eine Frage der Prävention, eine Frage der Aufklärungund Bildung, auch bei Marathonläufern.
Die Linke fordert deswegen wesentlich stärkere An-strengungen in diesen Bereichen.Die Einigkeit hier im Bundestag bei der Bekämpfungdes Dopings wird sich auch in den Fragen von Aufklä-rung und Prävention fortsetzen müssen, selbst wenn esvielleicht Geld kostet. In der Fortsetzung eines Anti-Do-ping-Gesetzes müssen geeignete Programme gefundenwerden, die den gesundheitsfördernden Charakter desSports wieder stärken und die Akzeptanz des Dopingszurückdrängen. Die Werte müssen sich wieder so verän-dern, dass ein durchtrainierter Freizeitsportler oder Ma-rathonläufer nicht mehr gefragt wird, was er einnimmt,sondern, wie oft er trainiert. Das ist die Integrität desSports.
Vielen Dank, Frank Tempel. – Nächste Rednerin in
der Debatte: Dagmar Freitag für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Deutschland bekommt ein Anti-Doping-Gesetz. Das istgut so aus vielerlei Gründen, aber vor allen Dingen auchwegen der sportpolitischen Vorgeschichte unseres Lan-des in Sachen Doping. Ich danke an dieser Stelle insbe-sondere den beteiligten Ministerien. JustizministerHeiko Maas hat schon zu Beginn seiner Amtszeit deut-lich gemacht, dass ihm dieses Gesetzesvorhaben ein be-sonderes Anliegen ist. Dank auch an die Kolleginnenund Kollegen der Union für die Unterstützung.
Wir bekommen ein Anti-Doping-Gesetz. Wir wissen:Es gibt viele, die lange auf ein solches Gesetz gewartethaben, und bekanntlich andere, die genauso lange ver-sucht haben, es zu verhindern, bis heute übrigens, undzwar mit fadenscheinigen bis hin zu absurden Argumen-ten, die auch durch ständige Wiederholung nicht wirk-lich besser werden. Das mittlerweile zu einer gewissenBerühmtheit gelangte Asthmaspray ist ein Beispiel da-für.Nach rund zwei Jahrzehnten wirklich zäher Diskus-sionen vor allem mit Vertretern des organisierten Sportshaben sich die Befürworter einer Dopingbekämpfung,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10259
Dagmar Freitag
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die durch rechtsstaatliche Instrumente unterstützt wird,gegen jene durchgesetzt, die glauben machen wollen, derSport könne das Problem alleine lösen. Nach dieser Vor-geschichte muten öffentliche Vorwürfe, dieser Gesetz-entwurf werde per Dekret durchgepeitscht, geradezuverzweifelt an. Ich empfehle an dieser Stelle etwas mehrGelassenheit, man könnte auch sagen: etwas mehrSportsgeist.Zukünftig werden sich also dopende Sportler nichtnur vor der Sportgerichtsbarkeit verantworten müssen,sondern können auch von staatlichen Ermittlungen undSanktionen betroffen sein; denn die dopenden Sportlersind – wie mehrfach erwähnt – diejenigen, die sich Vor-teile verschaffen. Sie gelangen unverdient nicht nur zuRuhm und Ehre, sondern auch zu Preisgeldern undSponsorenverträgen. Leidtragende dieser Machenschaf-ten sind die sauberen Athletinnen und Athleten. Sie wer-den um fast alles betrogen, für das sie jahrelang hart trai-niert haben: um den unvergleichlichen Moment derSiegerehrung in einem voll besetzten Stadion, das Ab-spielen der Nationalhymne, Prämien, Werbeverträge.Natürlich gibt es einen weiteren ganz großen Verlie-rer, nämlich den Sport als Kulturgut in seiner ganzenVielfalt, mit all seinen positiven Facetten und Eigen-schaften sowie seinen Werten wie Chancengleichheitund Fairness.
Der Sport und andere haben sich lange eingeredet,den Dopingsumpf mit ihren eigenen Mitteln bekämpfenzu können. Wie wir wissen, waren sie nicht erfolgreich.Daher ist schon seit Jahren über die Einführung einesentsprechenden Gesetzes diskutiert worden. Ein ersterechter Anlauf hat dieses Problem im Jahre 2007 nichtbeseitigen können; das wissen wir. Schon damals warenwir dem erbitterten Widerstand der Sportorganisationenausgesetzt. Aber die Zeiten haben sich geändert. Wir ha-ben mehr Unterstützung aus dem Sport und auch, FrauKünast, von Sportlerinnen und Sportlern – ja, von Sport-lerinnen und Sportlern, die sich ganz offensichtlichkeine Sorgen um bestimmte Grenzwerte machen, mögli-cherweise weil sie es nicht müssen.Jetzt also liegen umfassendere Maßnahmen auf demTisch. Die Kernelemente sind genannt: Verbot vonSelbstdoping und die uneingeschränkte Besitzstrafbar-keit von Dopingsubstanzen.Warum, bitte, sollte man Anabolika, Wachstumshor-mone und andere hochwirksame Medikamente oderSubstanzen ohne jegliche medizinische Indikation zuHause im Schrank liegen haben, wenn nicht zu Doping-zwecken?Dieser Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, ist ein Signal einer Null-Toleranz-Politik, die ihrenNamen auch verdient. Und das Gesetz wird nach rechts-staatlichen Prinzipien die unbestritten schnellere Sport-gerichtsbarkeit flankieren und ergänzen
und nicht – wie von interessierter Seite immer wiederbetont wird – beeinträchtigen.Manchmal ist es geradezu erschreckend – der KollegeGrindel hat es erwähnt –, wie wenig Sachkenntnis beidenjenigen vorhanden ist, die einen Konflikt zwischenSportgerichtsbarkeit und staatlichen Gerichten herbeire-den wollen,
die offensichtlich nicht einmal den juristisch bedeutsa-men Unterschied zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz zukennen scheinen
oder die ernsthaft behaupten, der Sport müsse künftigvor dem Verhängen von Sanktionen den Ausgang einesStrafverfahrens abwarten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch mit Blick aufandere Länder ist ein klarer Kurs gegen diese Seuche desSports ein ganz starkes Signal. Eines sollte man nämlichnicht unterschätzen – auch darauf ist hingewiesen wor-den –: Man schaut schon darauf, wie Gesetzgeber undRegierung in Deutschland in Sachen Dopingbekämp-fung agieren. Wir haben die Nationale Anti DopingAgentur deshalb finanziell deutlich gestärkt. Auch siekann ihrer Arbeit besser nachgehen als in der Vergan-genheit.Mit diesem Maßnahmenpaket im Rücken appelliereich auch an alle, die auf internationaler Ebene Gesprächeführen: Werben Sie dafür, dass dort ähnlich konsequentagiert wird, wie wir das jetzt in Deutschland tun.
Damit greifen wir im Übrigen eine völlig berechtigteForderung von Athletinnen und Athleten auf, die natür-lich manchmal geradezu daran verzweifeln, wenn sie se-hen, wie lax in anderen Ländern auf dieser Welt mit die-sem Problem umgegangen wird.Wir sind also zuversichtlich – Herr Minister deMaizière hatte das auch angesprochen –, auch mit Blickauf unsere Olympiabewerbung, auf unsere Bewerbungum die Durchführung der Olympischen und der Para-lympischen Sommerspiele in Deutschland, mit diesemGesetz auf internationaler Ebene punkten zu können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Athleten sind selberdafür verantwortlich, ob sie zu Dopingsubstanzen grei-fen oder nicht. Heutzutage weiß jeder Spitzenathlet, jedeSpitzenathletin, jeder Breitensportler durch unzähligeInformations- und Präventionsmaßnahmen nicht nur,dass Doping Betrug ist, sondern auch, dass es zuschwersten gesundheitlichen Schäden führen kann.
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10260 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Dagmar Freitag
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Auch in Deutschland hat Doping verheerende Spurenhinterlassen.Ich denke, es ist unsere gemeinsame Aufgabe, allesdafür zu tun, diesen Antidopingkampf zu einem Erfolgwerden zu lassen. Deshalb sind wir entschlossen, nichtlänger nur die Hintermänner, sondern auch den dopen-den Sportler selber zur Rechenschaft zu ziehen. Dennwir reden hier nicht über Kavaliersdelikte. Wir redenüber Betrug im sportlichen Wettbewerb, wo bislangmancher Athlet nach einer zweijährigen Sperre gut er-holt und mindestens in alter sportlicher Stärke wieder insGeschehen um Medaillen und Topplatzierungen einge-griffen hat – fast so, als sei nichts geschehen.Wir haben aber auch im Blick, dass Eltern ihre Kindermit gutem Gewissen zu einem leistungsorientierten Trai-ning schicken können wollen und dass die Vorbildwir-kung erfolgreicher Sportler für junge Menschen mit demklaren Bekenntnis zu einem sauberen Sport in unseremLand einhergeht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist die ersteLesung dieses Gesetzentwurfs. Im Sportausschuss wird esdazu in Kürze eine mehrstündige öffentliche Anhörunggeben. Danach werden – auch das ist im parlamentari-schen Verfahren üblich – die Fraktionen in den mitbera-tenden Ausschüssen und im federführenden Sportaus-schuss darüber beraten, ob es möglicherweise zuergänzenden Änderungsanträgen kommt.
– Man kann über eine sportspezifische Kronzeugenrege-lung reden, Herr Kollege Schmidt; danke für die Anre-gung. Damit stoßen Sie bei mir auf offene Ohren, vielenDank.Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen,würde ich mich persönlich wirklich sehr freuen, wenndie Diskussion wenigstens in der restlichen Zeit in etwasweniger aufgeregten Bahnen verlaufen würde als in denvergangenen zwei Jahrzehnten.
– Wie schon gesagt, Frau Künast, ein bisschen mehrSportsgeist. Das hilft immer.Vielen Dank.
Vielen Dank, Dagmar Freitag. – Nächste Rednerin:
Renate Künast für Bündnis 90/Die Grünen.
Mich irritiert, dass sich diejenigen, die hier wegen je-des Wortes der Kritik beleidigt sind
– ein bisschen waren Sie schon beleidigt –, hier hinstel-len und beklagen, man würde den Unterschied zwischenFahrlässigkeit und Vorsätzlichkeit nicht kennen. AuchSie haben ihn nicht definiert, meine Liebe.
Ich finde, Sie haben schon ein bisschen beleidigt ge-wirkt.Frau Freitag, weil Sie erklärt haben, der federfüh-rende Ausschuss würde dazu eine Anhörung machenund danach könnten alle Mitglieder, auch die des mitbe-ratenden Ausschusses, sehen, was noch verändert wer-den könne, darf ich Ihnen als Kollegin Ausschussvorsit-zende sagen:
Ich wünsche mir, dass Ihre Reaktion auf meine Bitte,eine gemeinsame Anhörung durchzuführen – so etwasist hier Brauch – nicht einfach ein Nein und der Hinweisist, dass Sie auch nicht bereit sind, die Sitzung um eineStunde zu verschieben, weil da schon etwas anderes sei. –Mir wurde signalisiert, die Mitglieder des Rechtsaus-schusses seien im Sportausschuss nicht erwünscht.
Wenn Sie über Vorsatz, Fahrlässigkeit und das Strafge-setzbuch diskutieren wollen – das hätte man auch imRechtsausschuss machen können –, dann würde ichmich freuen, wenn Sie die Mitglieder des Rechtsaus-schusses in die Diskussion einbeziehen würden und dakooperativ wären. Dann diskutiert es sich auch einfa-cher, sowohl sportpolitisch als auch rechtspolitisch.
Herr Grindel, ein Satz von Ihnen, auch wenn ich mitdem, was Sie sagen, nicht immer einverstanden bin, hatmich schon beeindruckt. Sie haben gesagt: Ein so großesDunkelfeld darf sich der deutsche Sport nicht leisten. –Da sind wir einer Meinung. Ich finde, dass das Wort„Sportbetätigung“ nicht nur den Spitzensport, sondernauch den Breitensport einschließt, der zur Förderung derGesundheit beiträgt und Freude macht. Herr Grindel, Siehaben es angeführt: Sport schafft Gemeinschaft, egal obdie Menschen in Berlin an der Schlossstraße stehen undBoule spielen, ob sie Fußball oder Volleyball spielenoder eben skaten gehen. All das schafft Gemeinsamkeit.Sich sportlich zu betätigen, ist nicht nur gesund, sondernmacht auch persönlich Freude und schafft soziale Kon-takte.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10261
Renate Künast
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Wenn das der Fall ist, dann sollten wir genau schauen:Was regeln wir? Ist dafür das Strafgesetzbuch das rich-tige Instrument? Ist es richtig, sich nur auf den Spitzen-sportler zu fokussieren? Ich persönlich glaube, dassnicht nur die Spitzensportlerinnen und Spitzensportler,von denen zumindest die Fußballer, wie es Özcan Mutlusagt, Schmerz- und Eisgel brauchen, um die 90 Minutenüberhaupt zu überstehen, Vorbilder sind. Die meistendenken sicherlich: Bis dorthin komme ich sowieso nicht. –Sind nicht vielmehr die Breitensportler das Vorbild?Wenn das so ist, müssen wir uns sehr genau überlegen,was wir wie regeln.
Ich will ein paar Punkte herausgreifen. Ich meine, wirmüssen uns als Erstes fragen: Wie funktioniert Rechts-politik? Ich denke, dass ein neues Strafrecht den Kernder Rechtspolitik betrifft. Dabei stellt sich die Frage:Was regeln wir eigentlich? Wir müssen uns überlegen,ob diese Regelung, die einen Straftatbestand formuliert,tatsächlich legitim ist, also dem Rechtsgüterschutz dient.Ich will jemanden zitieren, der Ihnen nicht fremd ist,Winfried Hassemer, früherer Richter am Bundesverfas-sungsgericht, der einmal in einem Sondervotum ge-schrieben hat:Der Strafgesetzgeber ist in der Wahl der Anlässeund der Ziele seines Handelns nicht frei; er ist be-schränkt auf den Schutz elementarer Werte desGemeinschaftslebens …, auf die Sicherung derGrundlagen einer geordneten Gesellschaft … unddie Bewahrung wichtiger Gemeinschaftsbelange …Danach muss eine Strafnorm nicht nur ein legitimesZiel der Allgemeinheit verfolgen, das Grund undRechtfertigung für die strafgesetzliche Einschrän-kung der bürgerlichen Freiheit ist. Es muss sichzudem um einen wichtigen Belang, um einen ele-mentaren Wert, um eine Grundlage unseres Zusam-menlebens handeln.In § 1 Ihres Gesetzentwurfes steht: Die Fairness undChancengleichheit bei Sportwettbewerben ist zu sichern. –Schön, gut, richtig. Aber sind Fairness und Chancen-gleichheit im Sport wirklich die elementaren Werte un-seres Gesellschaftslebens, die elementaren, ordnendenPrinzipien? Ich meine, nein.
Fairness im Sport zu schützen ist kein Fall fürs Straf-gesetzbuch. Das betrifft nicht nur die Fairness, sondernauch die Integrität, das Image und das Ansehen. Dasschützen wir auch in anderen Lebensbereichen nicht.Die Beispiele, die Sie, Herr Grindel, genannt haben,waren viel wirtschaftsbezogener als der Begriff der Fair-ness an dieser Stelle. Ich meine, dass bezüglich desFairnessbegriffes nicht Staatsanwalt und Polizei als Al-lererste das Wort haben sollten, sondern dass ein doping-freier fairer Sport Aufgabe des Sports selbst ist.
– Na ja, auch da kann man Druck machen. Es wäre jadas erste Mal, dass wir Leute wie Armstrong jahrzehnte-lang die Berge herauffahren lassen, ohne von ihnen Do-pingproben zu nehmen.
Wenn wir dann sagen, dass es an dieser Stelle gescheitertist, dann könnte man Regeln für die Schiedsgerichtsbar-keit aufstellen, ohne zusätzliche Straftatbestände.Herr Tempel hat auf einen anderen Bereich hingewie-sen, nämlich auf die leistungssteigernden Mittel, die un-sere Jugendlichen in diesen Muckibuden nehmen. Insbe-sondere Jungen glauben, nur wenn sie muskulösaussehen, seien sie toll. Ein Irrtum – Jugendschutz, Auf-klärung und Auflösung solcher Buden sind nötig. DiePolizei sagt: In diesen Buden stehen eigentlich mehrereApotheken. – Ich glaube, dass es um diese Vorbildergeht, um Menschen, die meinen, dass man mit diesenund jenen Mitteln anders aussieht und besser sein kann.Dann reden Sie über die Gesundheit der Sportlerinnenund Sportler. Ja, klar, die Gesundheit von Menschen istschützenswert. Aber wie kommen wir eigentlich dazu,dass wir den Erwerb und Besitz von Stoffen, die für alleanderen Sportmuffel oder meinetwegen Marathonläufererlaubt, legal und nicht rezeptpflichtig sind, über Dopingfür den Spitzensport und Wettbewerb strafbar machen?Ich habe damit rechtliche Probleme. Ich meine nicht dieDopingkontrolle und den Ausschluss von Wettbewerben.Ich habe damit Probleme, dass wir Stoffe mit dem As-pekt der Gesundheit je nach Person unterschiedlich beur-teilen.
Ich meine, meine Damen und Herren, dass wir zu ei-nem Sonderstrafrecht kommen, das so nicht zu rechtfer-tigen ist. Sie können es der NADA überlassen, zu defi-nieren, wer der Trainingskontrolle unterliegt. Nur: Sinddann Dinge strafbar, die vorher nicht strafbar waren?
Die Redezeit.
Ich möchte noch einen letzten Satz sagen.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des werten Kolle-
gen Grindel?
Ja.
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10262 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
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Ich käme nie auf die Idee, mich zu melden, um auf
den Ablauf von Redezeit hinzuweisen, Frau Präsidentin.
Nein, nie.
Das könnte sich auch einmal gegen mich selbst rich-
ten.
Frau Kollegin Künast, ich unternehme noch einmal
einen Versuch. In diesem Gesetzentwurf wird die Ein-
nahme von Dopingsubstanzen bei Breitensportlern wie
bei Spitzensportlern völlig gleich behandelt. Sie ist na-
türlich von dem Recht auf Selbstschädigung als Aus-
druck der allgemeinen menschlichen Handlungsfreiheit
umfasst. Sind Sie bereit, nach dem Studium des Gesetz-
entwurfs, mir zuzustimmen, dass das nicht der entschei-
dende Punkt ist? Die Selbstschädigung mag gesundheit-
lich bedenklich sein, sie ist aber verfassungsrechtlich
zulässig. Das entscheidende Rechtsgut, um das es hier
geht, ist die Integrität des sportlichen Wettbewerbes, die
Ausstrahlung auf Millionen von Menschen. Sie haben
die wirtschaftliche Bedeutung angesprochen. Auch wir
bewegen im Sport Milliardenbeträge. Sind Sie nicht
doch bereit, sich dem Gedanken etwas zu nähern, dass
ein Lance Armstrong in seiner Zeit und in seiner Sportart
oder ein Olympiasieger
als Vorbild für Kinder und Jugendliche – auch in ihrer
wirtschaftlichen Bedeutung für den Sport – etwas ande-
res ist als ein normaler Freizeitläufer beim Berlin-Mara-
thon?
Natürlich ist das etwas anderes. Spätestens beim Ber-
lin-Marathon stellen Sie aber fest, dass da auch andere
als Fritz Krause oder Fritz Kuhn mitlaufen. Da laufen
auch berühmtere Menschen mit, zum Beispiel die afrika-
nischen Läufer.
Ich gebe auch zu, dass Sie nicht alles beim Doping
strafbar machen. Ich habe aber gerade versucht, auszu-
führen, dass Fairness im Sport, auf die Sie rekurrieren,
für mich kein Regelungsgegenstand des Strafgesetzbu-
ches sein kann. Ich wollte auch sagen, dass Sie mir zu
unbestimmt sind, wenn Sie von erheblichem Umfang
von Geld sprechen. Dann haben Sie gesagt, dass Sie aus
Fairnessgründen, damit es praktikabel ist, die rechtliche
Rolle der Verbände stärken wollen. Da stellt sich mir die
Frage: Wo haben wir in anderen Straftatbeständen zum
Beispiel die Rolle der Umweltverbände gestärkt? Das
sind lauter rechtliche Fragen. Ich glaube, dass Sie sich
mit der Regel auf das Glatteis begeben. Wir wären bes-
ser beraten, wenn wir über eine Schließung der Lücken
im Sportbetrug reden würden. Da gibt es Ansatzpunkte.
Die anderen finanziellen Interessen, die Beantwortung
der Frage der Dopingkontrolle und der Frage, wer ausge-
schlossen wird, sind meines Erachtens eine Aufgabe des
großen internationalen Wirtschaftszweiges Sport selbst.
Ich fasse zusammen: Wir sollten Regelungen im
Strafgesetzbuch auf den Kern dessen reduzieren, was
vertretbar und vergleichbar ist. Lassen Sie uns kein Son-
derrecht schaffen, sondern nur eine Regelung in Bezug
auf Sportbetrug. Ich bin gerne bereit, über alle diese
Punkte zu diskutieren, aber dann bitte schön in einer ge-
meinsamen Anhörung, Frau Freitag.
Vielen Dank, Renate Künast. – Herr Grosse-Brömer,
Ihre Kollegen haben länger überzogen.
– Doch, das kann ich beweisen. –
Liebe Kolleginnen und Kollegen, halten Sie sich bitte an
die Redezeiten. Wir haben noch zig Punkte auf der Ta-
gesordnung.
Ich erteile jetzt Stephan Mayer von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Ich werde alles daran-setzen, die Redezeit einzuhalten. – Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich bin fest davon über-zeugt, dass der Entwurf eines Anti-Doping-Gesetzeseine gute und wichtige Grundlage für die Verbesserungund die Erweiterung des Kampfes gegen die Hydra Do-ping ist. Ich bin auch der Überzeugung, dass es wichtigist, Fragen stellen zu können. Sowohl vor der Einbrin-gung eines Gesetzentwurfs als auch im parlamentari-schen Verfahren muss es erlaubt sein, Fragen zu stellenund Bedenken anzubringen.Von der heutigen Debatte muss das klare Signal aus-gehen: Wir als Deutscher Bundestag sind uns einig, dasses in Deutschland null Toleranz gegenüber Doping gibt. –Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die Ver-einbarung des Koalitionsvertrags konsequent um. Wirhaben uns darauf verständigt, dass wir weitergehendestrafrechtliche Regelungen zur Bekämpfung des Do-pings, aber auch zur Bekämpfung der Spielmanipulationschaffen; dazu möchte ich später noch etwas mehr sa-gen. Der Ansatz, dass man gegen das Milliardengeschäftder Spiel- und Sportwettenmanipulationen konsequentvorgeht, ist mindestens ebenso wichtig wie das Anti-Do-ping-Gesetz.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10263
Stephan Mayer
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Die Zeiten sind vorbei, in denen man den Sport, zumBeispiel den Fußball, als schönste Nebensache der Weltbezeichnete. Der Sport, vor allem der Spitzensport, istmittlerweile ein gesellschaftliches Phänomen, das nichtmehr wegzudenken ist. In einer Gesellschaft wie derunsrigen, die immer heterogener wird, in der Partikular-interessen eine immer größere Rolle spielen und in deres immer schwieriger wird, einen Großteil der Gesell-schaft hinter bestimmten gesellschaftlichen Ereignissenund Phänomenen zu versammeln, kommt dem Sport, so-wohl dem Breitensport als auch dem Spitzensport, ausmeiner Sicht in vielerlei Hinsicht eine eminent wichtigeRolle zu.Es kann nicht bestritten werden, dass in einer sehrmedial geprägten Gesellschaft wie der deutschen bzw.der westeuropäischen Vorbilder im Bereich des Spitzen-sports für unsere Jugend, für Heranwachsende, aber auchfür die Gesellschaft insgesamt ausgesprochen wichtigsind; denn nach diesen Vorbildern richten sich Millionenvon Menschen in Deutschland. Deswegen kann man dieHydra Doping nicht einfach dem organisierten Sportüberlassen. Ich bin der festen Überzeugung: Hier darfder Staat nicht wegschauen.
Es ist wichtig, dass wir uns an einen Dreiklang ausPrävention, Kontrolle und Sanktionen halten. Präventionmuss betont und ausgebaut werden. Kontrolle und Sank-tionen spielen eine wichtige Rolle. Eine Verschärfungdes Strafrechts für 7 000 Spitzensportler mag durchausangebracht sein, aber ich bin der Überzeugung, dass eszu kurz gesprungen ist, wenn man erwartet, dass mannur mit Mitteln des Strafrechts die Hydra Doping wirk-lich effektiv bekämpfen kann.
Wir brauchen einen großen Instrumentenkasten. Wirmüssen uns neben dem wichtigen Anti-Doping-Gesetzmit Sicherheit auch intensiver darüber austauschen, waswir insbesondere im Bereich der Prävention noch ma-chen können. Ich bin der Meinung, dass wir durchausstolz darauf sein können, dass es uns gelungen ist, derNationalen Anti Doping Agentur im Haushalt 2015 mehrals 6,3 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.
– Da kommt der Einwand „Das reicht aber nicht!“ Ichmöchte ja gar nicht sagen, Sie hätten nicht recht. Es magsein, dass dies noch nicht reicht, aber es ist ein schönerSchritt, wenn man seitens des Bundes den Ansatz für dieNADA von 2014 – da waren es noch 3,3 Millionen Euro –auf 2015 fast verdoppelt.Ich möchte dazusagen, dass bei aller Klage über un-zureichende strafrechtliche Möglichkeiten, den Do-pingsündern zu Leibe zu rücken, die Finanzierung derNADA in den letzten Jahren ein Trauerspiel war. Wiesich dabei die Wirtschaft und die Länder ins Gebüschgeschlagen haben, war wirklich unwürdig.
– Ja, ich bin durchaus dieser Meinung, Frau Künast. Siesehen ja, es gibt gar nicht so viele Kontroversen. Es gibtdurchaus auch Überschneidungen. Ich bin auch der Mei-nung, dass die Wirtschaft hier noch mehr tun kann, dassvor allem aber auch die Länder noch stärker gefordertsind.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dieSportgerichtsbarkeit ist ein scharfes Schwert. Ich binnach wie vor der festen Überzeugung: Man kann demeinzelnen Sportler – dem Spitzensportler – nichtsSchlimmeres antun, als ihn nicht in die Lage zu verset-zen, seinen Spitzensport, von dem er ja häufig lebt, derhäufig seine Existenz- und Lebensgrundlage ist, weiterauszuüben. Nach dem neuen WADA-Code ist schonbeim ersten Vergehen eine vierjährige Sperre angesagt.Das bedeutet, um dies einmal klar und offen zu sagen,für viele Spitzensportler das Ende der Karriere. Wenn je-mand vier Jahre lang an keinem Wettkampf mehr teil-nehmen kann, dann kann er an sich einpacken.Das Drohpotenzial der Sportgerichtsbarkeit ist ausmeiner Sicht schon sehr groß. Es darf nicht unterschätztwerden, und ich denke, wir müssen aufpassen – auch imlaufenden Diskussionsprozess bezüglich dieses Gesetz-entwurfes –, dass wir die Sportgerichtsbarkeit nicht aus-höhlen. Der Strict-liability-Grundsatz, der anders ist alsim Strafrecht und klar besagt, dass jeder Sportler sofortdran ist und eine vierjährige Sperre aufgebrummt be-kommt, unabhängig davon, ob ihm die persönlicheSchuld des Dopings nachgewiesen werden kann – alleindas Vorhandensein der Dopingsubstanzen in seinemKörper genügt, um ihn vier Jahre lang zu sperren –, istaus meiner Sicht schon ein sehr, sehr scharfes undschneidendes Schwert. Deshalb wird, denke ich, intensivdarauf zu achten sein, wie sich das Verhältnis zwischenSport- und Strafgerichtsbarkeit weiter entwickelt.Ich bin auch der festen Überzeugung, dass der ent-scheidende Schutzzweck dieses Gesetzes die Fairness,die Chancengleichheit und die Integrität des Sports seinmüssen. Es gibt aber auch noch offene Fragen, und diesemüssen gestellt werden, zum Beispiel, was den Täter-kreis betrifft. Ist es angezeigt, wenn es um strafrechtlicheSanktionsmechanismen geht, die vom Staat aus betrie-ben werden, dass der Täterkreis nicht vom Staat, sondernallein dadurch bestimmt wird, welcher Sportler einemNationalkader angehört und welcher nicht? Man über-lässt es nach diesem Gesetz also den Verbänden, festzu-legen, wer überhaupt tauglicher Täter sein kann. Das isteine offene Frage, über die wir noch sprechen müssen.Auch die Frage, welche Einnahmen überhaupt einenerheblichen Umfang darstellen, die dann zur Strafbarkeitführen, muss, denke ich, näher erörtert werden. Sehr um-fassend ist bereits über die Schiedsgerichtsklausel ge-sprochen worden, über den ominösen § 11. Ich habeVerständnis für das Ansinnen bzw. den Wunsch des or-
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10264 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Stephan Mayer
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ganisierten Sports, dass man diese Schiedsgerichtsklau-sel schafft, insbesondere im Lichte der beiden Urteiledes Landgerichts München und des OberlandesgerichtsMünchen vom 15. Januar 2015 zur Causa Pechstein. Ichbin aber auch der Meinung, dass man sich schon nochintensiv ansehen muss, ob die Vorgaben, die die beidenGerichte in ihrem Urteil bzw. Zwischenurteil gemachthaben, insbesondere, was die Ausgestaltung des Interna-tionalen Sportgerichtshofes, des CAS, betrifft, wirklicherfüllt sind. Ich höre es ja gern, wenn es heißt, der CASsagt zu, er werde alle Auflagen erfüllen; aber insbeson-dere dazu, was das Recht auf den gesetzlichen Richterund die Ausgewogenheit bei der Besetzung der Richterbeim CAS anbelangt, habe ich noch Fragen.
Ich habe darauf hingewiesen, dass es ein guter und wich-tiger Gesetzentwurf ist, der uns jetzt für die weitere De-batte vorliegt. Es gibt noch offene Fragen. Wichtig istmir, dass wir uns intensiv auch der Schaffung strafrecht-licher Regelungen zur Bekämpfung der Spielmanipula-tionen annehmen. Dafür gibt es meines Erachtens einensehr tauglichen Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsre-gierung, dem man nähertreten sollte. In diesem Sinnesollten wir die weitere Debatte konstruktiv und sachlichführen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Stephan Mayer. – Nächste Rednerin:
Dr. Eva Högl für die SPD.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es freutmich sehr, dass wir hier zur ersten Lesung des Entwurfseines Anti-Doping-Gesetzes zusammengekommen sind,womit wir – auch das möchte ich einmal sagen – einerlangjährigen Forderung der SPD-Bundestagsfraktionnachkommen. Dieses Gesetz, liebe Kolleginnen undKollegen, wird ein Meilenstein für einen sauberen undfairen Spitzensport.Ich möchte meine Rede beginnen mit einem Danke-schön, und zwar mit einem Dankeschön an all diejeni-gen, die sich unermüdlich engagiert haben, seit mittler-weile zwei Jahrzehnten, für ein Anti-Doping-Gesetz undgegen Doping.
Ich möchte allen voran auch einmal unserer geschätztenKollegin Dagmar Freitag ganz herzlich Danke schön sa-gen,
weil ich weiß, liebe Dagmar – und das wissen wir alle –,dass du dich seit zwei Jahrzehnten wie keine andere,aber mit vielen anderen zusammen für einen sauberenSport engagierst. Es ist ganz besonders dein Verdienst,dass wir heute die erste Lesung des Entwurfs eines Anti-Doping-Gesetz haben; dafür ein Dankeschön.Zu danken ist auch den beiden Bundesministern. DerBundesminister des Innern und der Bundesminister derJustiz haben einen wirklich hervorragenden Entwurfvorgelegt.
– Dank gehört auch zu einer guten Kultur des gemeinsa-men Diskutierens hier.
Deswegen finde ich es wichtig, mit einem Dank zu be-ginnen.
Ich möchte dem Eindruck widersprechen, dass wirhier etwas machen und diskutieren, ohne Vertreterinnenund Vertreter des Sports einzubeziehen. Wir haben die-ses Anti-Doping-Gesetz mit vielen Sportlerinnen undSportlern, mit vielen Sportverbänden diskutiert. Das,was wir heute vorlegen, ist auch mit Sportlerinnen undSportlern ausreichend debattiert; denn die haben wiekein anderer ein Interesse daran, dass wir einen sauberenSport bekommen.
– Ich danke auch der Opposition, lieber Herr Hahn, dasswir gemeinsam und konstruktiv hier über ein Anti-Do-ping-Gesetz sprechen.
Es ist schon viel gesprochen worden. Ich möchte abernoch einmal betonen – weil es ja um den Gesetzeszweckgeht, darum, warum wir für den Sport das Strafrechtbrauchen –, dass insbesondere der Leistungssport eineVorbildfunktion hat wie kein anderer. Der Sport moti-viert Menschen, sich selber sportlich zu betätigen oderihren Idolen nachzueifern. Der Leistungssport motiviertden Breitensport und uns alle.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sportlerinnen undSportler, die dopen, missbrauchen diese Vorbildfunktion.Sie verraten die gesellschaftlichen Werte, die mit demSport einhergehen und die der Sport verkörpert, wieFairness und Teamgeist. Deswegen ist es unsere Auf-gabe, hier auch regelnd einzugreifen; denn wenn ange-sichts gedopter Sportlerinnen und Sportler die Botschaftlautet: „Motivation und Training reichen nicht aus. Nichtwer sich anstrengt, kommt aufs Siegertreppchen, son-dern nur wer dopt, kann seine Ziele erreichen“, dann istdas eine Gefahr für den Sport.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10265
Dr. Eva Högl
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Ich will ganz offen sagen: Für mich persönlich zeigtdas Beispiel Tour de France – Lance Armstrong istschon genannt worden – doch, wie, wenn gedopt wird,nicht nur das Interesse am Sport, sondern auch die Vor-bildfunktion verloren geht, man irgendwann keine Lustmehr hat, zuzuschauen oder mitzufiebern. Deswegensind wir, der Gesetzgeber, gefragt.
Liebe Frau Künast, wir brauchen das Strafrecht. Ichgehöre wirklich zu denjenigen – wie viele andere in die-sem Hause –, die ganz klar der Auffassung sind, die indem Zitat von Herrn Hassemer zum Ausdruck kommt:Das Strafrecht ist die Ultima Ratio. – Wir machen es unsja nicht leicht mit dem Strafrecht, sondern haben überdas Thema Doping Jahrzehnte sorgfältig miteinanderdiskutiert. Aber wir müssen doch zur Kenntnis nehmen,dass es trotz umfassender Kampagnen, trotz Maßnah-men der Sportverbände, trotz der vielen Initiativen derletzten Jahre und Jahrzehnte nicht möglich war, Dopingim Spitzensport vollständig und letztlich effektiv zu be-kämpfen. Der Grund war meiner Meinung nach sicher-lich auch, dass den dopenden Sportlerinnen und Sport-lern eben keine strafrechtlichen Konsequenzen drohen,sondern nur der Ausschluss aus den Wettkämpfen. Des-wegen ist es notwendig und richtig, dass wir, um die In-tegrität des Sports zu schützen, auch zum Strafrecht grei-fen. Wir signalisieren damit – und das ist eine wichtigeBotschaft für den gesamten Sport –: Wer dopt, landetnicht auf dem Siegertreppchen, sondern gegebenenfallsauch im Gefängnis. – Ja, das ist eine harte Strafe; aberdas ist angebracht und richtig an dieser Stelle.Zwei Bemerkungen noch: Der Sport ist damit nichtaus der Verantwortung heraus. Wir übernehmen nicht dieVerantwortung für den Sport, sondern wir stärken denSport dadurch, dass wir die Schiedsgerichte stärken. Wirstärken auch die Verbände; sie werden durch die Ergän-zung des Strafrechts auch in ihren eigenen Maßnahmengestärkt.Es ist richtig, dass wir zwischen Amateur- und Frei-zeitsportlern auf der einen Seite und Spitzensportlern aufder anderen Seite differenzieren. Hier sind Sie inkonse-quent, liebe Frau Künast, weil Sie einerseits sagen, wirbräuchten das Strafrecht gar nicht, und uns andererseitsvorwerfen, dass wir den Breitensport nicht einbeziehen.Wir beziehen den Breitensport bewusst nicht ein, weilwir der Auffassung sind, dass es ganz entscheidend aufdie Vorbildfunktion des Spitzensports ankommt.
Noch ein allerletzter Punkt: Wer sagt, dass dieser Ge-setzentwurf nicht ausreichend ist, weil wir das eigentlichinternational regeln müssen, der geht auch einen Schrittzu kurz. Wir wollen in Deutschland damit anfangen; wirbeginnen hier. Wir wollen, wie es eben so schön hieß,Weltmeister im Kampf gegen Doping werden, und des-wegen würde ich mich freuen, wenn wir dafür ein Vor-bild auf internationaler Ebene werden.Wir werden gute Beratungen haben und noch in die-sem Jahr ein gutes Anti-Doping-Gesetz auf den Wegbringen.Herzlichen Dank.
Nachdem sie sich jetzt bedankt hat, bedanke ich mich
auch bei der Rednerin, bei Eva Högl. – Als nächster
Redner kommt jetzt Dieter Stier für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Mit dem vorgelegten Ent-wurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Doping imSport legen wir unsere Stoßrichtung zugunsten eines do-pingfreien Sports deutlich fest.Doping ist heutzutage keine bittere Pille mehr, son-dern ein hochgradig präzisiertes und auf molekularbiolo-gische Prozesse abgestimmtes System von körperlichenLeistungssteigerungen. Das Wettrennen um die Zeit hatzugenommen. Immer neue Dopingsubstanzen werden inKellerlaboren schneller produziert und in Umlauf ge-bracht, als irgendeine Antidopingagentur sie auf Ver-botslisten setzen kann.Unumwunden ist zunächst festzustellen, dass derheute vorliegende und von uns in erster Lesung zu bera-tende Entwurf eines Anti-Doping-Gesetzes eines derwichtigsten sportpolitischen Vorhaben der Großen Ko-alition ist.
In Deutschland gibt es bislang kein eigenständigesGesetz gegen Doping, stattdessen wurde eine Reihe vonAntidopingnormen in verschiedenen Grenzen, die zumTeil Strafen und Ermittlungen durch Behörden vorsehen,für sehr sinnvoll und auch ergiebig erachtet. Das sehrengmaschige Dopingkontrollsystem mit Trainings- undWettkampfkontrollen stellt bisher ein wirkungsvolles In-strument zur Bekämpfung von gezielter Leistungsmani-pulation dar. 2007 wurde das Arzneimittelgesetz refor-miert, welches das Doping und dessen Verbot in denstaatlichen Rechtsbereich hineinbrachte. Das geschahauch deshalb, um den massiven Dopingvorfällen derletzten Jahre Einhalt zu gebieten.Der NADA-Code, der WADA-Code und entspre-chende Antidopingkonzepte und Präventionsprogrammekosten hinsichtlich eines Fair Plays in unserem Sportviel Schweiß und Geld. Deutschland beteiligt sich mitimmensen jährlichen Summen – das ist Ihnen bekannt –auch finanziell an der Dopingbekämpfung. Intensive undsystematische Bemühungen auf der einen Seite und inden Medien offensichtlich nicht einzudämmende Do-
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Dieter Stier
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pingskandale auf der anderen Seite kennzeichnen denIststand.Wie bereits viele Vorredner deutlich machten, sind esauch für mich weniger die generellen Vorbehalte alsvielmehr die komplexen rechtlichen Detailfragen an denScharnierstellen dieses Gesetzentwurfs, die mich umtrei-ben. Hier müssen wir Antworten finden. Dies muss sichnatürlich auch auf die Zeit auswirken, die für ein gründ-liches parlamentarisches Verfahren notwendig ist.Wir müssen das Gesetzesvorhaben an seinem Ziel be-messen, der Integrität des Sports zur Geltung zu verhel-fen. Diesbezüglich möchten wir, die CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion, deutlich machen, dass eine Integrität nichtdadurch hergestellt wird, dass jeder Sportler mit einembloßen Strafmaß überzogen wird. Das zu schützendeRechtsgut muss klar definiert sein, die Rechtsfolgenmüssen ableitbar sein und das Verfahren für einen funk-tionierenden Sport muss auch praxistauglich sein.Wir kennen dabei die Herausforderungen. Es beginntbei der Auswahl der Athleten und geht über die Art derKontrolle, die Qualität der Durchführung, die Festlegungder Analysemethoden und das Ergebnismanagement bishin zur Sanktionierung. Wir haben das Problem der ein-deutigen Nachweisbarkeit von bestimmten Dopingsub-stanzen. Die Tatfeststellung ist oft schwierig, und dieStrafverfolgung ist nicht immer problemlos. Hinzu kom-men auch internationale Vorbehalte, die, auch wenn sieunser Rechtsempfinden selbst sensibel berühren, in derWaagschale zu berücksichtigen sind. Warum sollteDeutschland gegenüber seinen Athleten mit Vollzugs-strenge vorgehen, während in anderen Ländern die ge-steuerte Regulierung von Epo – ob durch Xenongas oderBlutdoping – Tagesgeschäft zu sein scheint?Das Institut für Biochemie der Deutschen Sporthoch-schule Köln stellt fest, dass die Epo-Produktion durchgezielte Dopingmaßnahmen innerhalb von 24 Stundenum den Faktor 1,6 – auf 160 Prozent – gesteigert werdenkann: mehr Blutkörperchen im Körper, mehr Sauerstoffauf der Laufbahn. In der medialen Berichterstattungzeigt man mit dem Finger auf jene Länder, die diesen Ef-fekt offensichtlich kennen. Meine Damen und Herren,Sotschi hat uns gezeigt, was eine auf 160 Prozent gestei-gerte Epo-Produktion für die Medaillentabelle bedeutenkann.Viele Rechtsgutachten und Stellungnahmen habenden Entscheidungsprozess hin zum jetzigen Entwurf desGesetzes begleitet. Es gibt Bedenken und skeptischeMeinungen hinsichtlich der Durchschlagskraft eines sol-chen Gesetzes, aber auch seiner juristischen Haltbarkeit.Ich spreche mich deutlich dafür aus, einen sauberenSport und ehrliche Leistung auch gesetzlich zu unter-mauern; aber es muss uns fernliegen, Ermittlungsverfah-ren gegen jedermann heraufzubeschwören. Wir dürfendas Augenmaß gegenüber den Athletinnen und Athleten– sie sind nun einmal die Adressaten dieses Gesetzes –nicht verlieren.Ein abschließendes Ja zu diesem Gesetz begründetsich für mich vor allem in einem Punkt: Wir liefern mitdem Gesetz ein sportpolitisches Zeichen, damit bei uns,aber auch im Ausland unmissverständlich feststeht: DerGegner im Kampf gegen Doping im Spitzensport hatstarke Muskeln, aber wir kämpfen mit härteren Banda-gen. Doping muss ein Ende haben.Im jetzigen Entwurf des Anti-Doping-Gesetzes habenwir uns, auch vor dem Hintergrund des Koalitionsvertra-ges, darauf geeinigt, zwei Dinge sinnlogisch miteinanderzu verbinden: Auf der einen Seite soll Doping strafrecht-lich stärker verfolgt werden, auf der anderen Seite giltes, der Spielmanipulation entgegenzutreten. Beides wol-len wir gemeinsam im Gesetzgebungsverfahren zu ei-nem Ziel führen.
Ein grundsätzliches Problem der Dopingverfolgungbleibt, dass über das, was verboten ist, nicht immer zeit-gerecht Klarheit geschaffen werden kann. Darüber gilt esnachzudenken; da gilt es, abzuwägen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige von Ihnenwissen, dass ich selbst Erfahrungen im Pferdesport sam-meln durfte, im Übrigen eine Sportart, die seit vielenJahren in nicht unerheblichem Maße mit Höchstleistun-gen und einer nicht geringen Medaillenausbeute zumAnsehen unseres Landes beigetragen hat. Hier haben wires zum Beispiel nicht nur mit einem Athleten, dem Rei-ter, dem Fahrer, dem Voltigierer, zu tun, sondern es zähltauch der vierbeinige Kamerad zum Team.Nun stellen Sie sich einmal vor – ich greife mir einfachmal den Kollegen Mutlu von der Opposition heraus –,
der Kollege Mutlu würde ähnlich erfolgreich reiten wieich,
aber würde mir den Sieg im Wettbewerb neiden und esdadurch kundtun, dass er nachts durch die Stallgasse mitden Pferden geht, meinem Pferd ein Mittel mit einer ver-botenen Substanz in die Futterkrippe gibt
oder es ihm auf anderem Wege hilfreich verabreicht. ImFalle einer beim kommenden Wettbewerb stattfindendenMedikationskontrolle würde natürlich ich und nicht derKollege zur Verantwortung gezogen. – Ich habe michaus der Sicht eines Pferdesportlers diesbezüglich ge-fragt, wie wir uns hier die gesetzliche Regelung genauvorstellen. Auch die Beweisführung wird hier nicht ein-fach sein; das gilt auch für die Feststellung der Täter-kreise.Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Die DeutscheReiterliche Vereinigung sieht beispielsweise keine Be-gründung dafür, die Schiedsgerichtsbarkeit als fragwür-dig anzusehen. Die Unterschrift unter der Athleten-
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Dieter Stier
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vereinbarung, verbunden mit der Zustimmung zurSchiedsgerichtsbarkeit, erfolgt hier weniger unter Druckals vielmehr in dem klaren Wissen, worauf man sich da-bei einlässt. Mit anderen Worten: Es stehen zwei Dingegegenüber, nämlich die verfassungsrechtlichen Beden-ken hinsichtlich der Schiedsgerichtsbarkeit auf der einenSeite und die bessere Praktikabilität der Schiedsgerichts-barkeit auf der anderen Seite. Im Laufe der kommendenBeratungen wird sich also zeigen müssen, wie es unshier gelingt, beides so miteinander zu verbinden, dassdamit in keinem Falle eine Athletenkarriere durch einenfünf Jahre währenden Strafprozess auf zweifelhafteWeise zerstört wird. Wir dürfen nicht vergessen – so ba-nal es auch klingen mag –: In der Vergangenheit wurdenbenutzte Substanzen in einem Müsliriegel und in Zahn-pasta nachgewiesen.
Bitte nicht die Redezeit vergessen.
Ich komme zum Ende, liebe Frau Präsidentin. Gestat-
ten Sie mir noch einen Satz. – Da wir Sportpolitiker ja
gelegentlich als sehr feinsinnige Menschen gelten,
möchte ich abschließend den Bogen von diesem Gesetz-
entwurf zu Friedrich Schiller spannen
und einen Vergleich bemühen: Das Gießen eines Geset-
zes gestaltet sich in der Tat wie das Gießen von Schillers
Glocke. Wir wollen keine Missklänge, wir wollen nichts
Halbherziges, wir wollen eine Gesamtform mit klarer
Tonalität –
Und wir wollen zum Ende kommen.
– als Ausdruck von Fairness und einer unteilbaren In-
tegrität des Sportes.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen für die Zugabe.
Ach ja, ich habe mich auch mal im Reitverein herum-
getrieben.
Vielen Dank, Herr Kollege Stier. Aber eine Bemer-
kung muss ich doch zurückweisen: Natürlich würde
Mutlu Ihren Pferdchen nie etwas antun. – Ich gehe da-
von aus, Herr Mutlu.
Nächste Rednerin in der Debatte: Michaela
Engelmeier für die SPD.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu
dem wirklich Wichtigen an diesem Vormittag komme
und ebenfalls über das Anti-Doping-Gesetz rede, erlau-
ben Sie mir eine Vorbemerkung. Frau Künast, ich fand
es schon erstaunlich, dass Sie uns gerade vorgeworfen
haben, dass wir nicht gemeinsam mit Ihnen die Anhö-
rung durchführen wollten. Das erste Mal habe ich von
Ihrem Ansinnen, das gemeinsam zu machen, vor einer
Woche gehört. Da hatten wir unter den Obleuten im
Sportausschuss schon einvernehmlich beschlossen, dass
wir diese Anhörung am 17. Juni durchführen. Unter dem
Gesichtspunkt, dass das ein besonders öffentlichkeits-
wirksames Thema ist, finde ich das schon ein bisschen
schwierig, was Sie gerade gesagt haben.
Sie sind aber herzlich eingeladen zu der Anhörung am
17. Juni.
– So ist das eben. Manchmal hat man wichtigere Ter-
mine im Leben.
Sport hat eine große Bedeutung für die Gesellschaft.
Im Sport werden Werte wie Fairness, Teamgeist und
Einsatzbereitschaft gelebt. Sport ist Bildung, Integration
und fördert gesellschaftliche Vielfalt.
Frau Engelmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage
– die haben Sie provoziert – von Frau Künast?
Sie hat ja auch gerade provoziert.
Egal, wer das provoziert hat, aber die Wahrheit mussraus. – Mein Ausschusssekretariat hat bei dem des Sport-ausschusses angefragt, weil wir gehört haben, dass die-ser Ausschuss schon über den 17. Juni als Anhörungster-min redet, bevor das Ganze hier überhaupt besprochenwurde.
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Renate Künast
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– Natürlich können die Obleute das beschließen. Ichkann aber als Vorsitzende des Ausschusses für Recht undVerbraucherschutz – und in dessen Zuständigkeit fälltdas Strafgesetzbuch – bei Ihnen anfragen, weil es übli-cherweise nicht möglich ist, dass mitberatende Aus-schüsse eine eigene Anhörung machen. Da ist dann alsAntwort gekommen: Das ist nicht zu verschieben. Au-ßerdem hat mich, ehrlich gesagt, erreicht: Wir sind daauch nicht erwünscht.Wenn die Bereitschaft besteht, freue ich mich; dannwird auch Frau Engelmeier sich dafür einsetzen. Ichsage Ihnen nur: Ich wollte zu dem Zeitpunkt der Anhö-rung nicht im Adlon Tee trinken, sondern der Rechtsaus-schuss hat gleichzeitig eine Anhörung, zu der schon ein-geladen ist; das überschneidet sich um eine Stunde. Ichsehe mit Freuden, dass wir jetzt in der Lage sind, dieTermine aufeinander abzustimmen.Danke.
Frau Künast, das mag ja so sein. Aber in der Obleute-
besprechung waren alle vier Fraktionen anwesend, und
wir haben das da einstimmig beschlossen. Uns hat tat-
sächlich erst vor einer Woche Ihr Ansinnen erreicht, eine
gemeinsame Anhörung durchzuführen. Da waren die
Einladungen aber schon verschickt.
Jetzt ist Frau Engelmeier dran.
Ich denke, jetzt ist alles gesagt. Wir freuen uns, wennSie kommen, auch eine Stunde später; die Anhörungdauert ja ein bisschen. Ich denke, da werden wir noch ei-nen gemeinsamen Weg finden.
– Ja, ich bin unglaublich verkniffen, Frau Künast. Ichtrinke zum Frühstück immer Essig.
Sportlerinnen und Sportler sind Idole. Nicht zuletzt istSport ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in Deutschland.Damit das so bleibt, müssen wir für den Schutz desSports etwas tun. Doping hingegen ist Betrug. Dopingzerstört den sportlichen Wettbewerb und verhindert Fair-ness sowie Chancengleichheit und gefährdet die Ge-sundheit von Sportlerinnen und Sportlern. Aus diesemGrund haben wir im Koalitionsvertrag verankert, dassweitergehende strafrechtliche Regelungen beim Kampfgegen Doping und Manipulationen im Sport geschaffenwerden müssen, und wir halten Wort.Das Ziel, das wir mit dem Gesetz verfolgen, machtdeutlich, dass es sich beim Anti-Doping-Gesetz um einSchutzgesetz handelt. Das Anti-Doping-Gesetz ist einSchutzgesetz, weil es zum einen die Integrität sportlicherWettbewerbe und zum anderen die Gesundheit der Spit-zensportler und Spitzensportlerinnen schützt. Die Werte,die wir mit dem Anti-Doping-Gesetz verbinden, sindFairness, Chancengleichheit und Gesundheit. Dopinggefährdet die ethisch-moralischen Werte des Sports. Do-ping gefährdet die Vorbildfunktion des organisiertenSports. Wir hatten übrigens nie vor, mit diesem Gesetzdie Autonomie des organisierten Sports anzugreifen. Siebleibt erhalten, weil wir die sportinterne Dopingbekämp-fung mit dem Anti-Doping-Gesetz insgesamt unterstüt-zen und die Sportgerichtsbarkeit nicht infrage stellen.Neben der gesellschaftlichen Bedeutung kommt demSport aber auch eine ökonomische Bedeutung zu. DieseBedeutung wird durch unser Anti-Doping-Gesetz aufzweifache Weise geschützt. Sie wird zum einen ge-schützt, weil der organisierte Sport jährlich sehr vielGeld in Form von öffentlichen Fördermitteln erhält undwir Politikerinnen und Politiker unsere Verantwortungdarin sehen und sicherstellen, dass diese Gelder zielfüh-rend eingesetzt werden. Zum anderen ist der sportlicheWettbewerb auch von Sponsoren und Preisgeldern ge-prägt. Eine nachträgliche Aberkennung von Siegen undPreisgeldern schadet in der Regel nicht nur den jeweili-gen Sportlern, sondern auch dem Wettbewerb und even-tuell einer gesamten Sportart. Ich nenne nur das Stich-wort – es ist heute schon mehrfach gefallen – „Tour deFrance“.Daher ist es für mich ein Erfolgsmodell, dass es unsmit unserem Gesetzentwurf gelungen ist, zum erstenMal eine Rechtsgrundlage verschiedener Maßnahmenim Kampf gegen Doping zu bündeln. Wir halten alsoWort und sorgen für Verbesserungen der sportlichenRahmenbedingungen. Schritt eins ist das Anti-Doping-Gesetz, und Schritt zwei, Herr Grindel, wird das Gesetzfür die Integrität und gegen Spielmanipulation im Sportsein.Wir schaffen die Erweiterung der bisherigen im Arz-neimittelgesetz geregelten strafrechtlichen Verbote, undwir erfassen auch die Dopingmethoden. Wir schaffen einneues strafbewehrtes Verbot des Selbstdopings, das erst-mals die gezielt dopenden Leistungssportler in organi-sierten Sportwettbewerben erfasst, und wir erweitern dieAufgaben der Nationalen Anti Doping Agentur. Um alleAnregungen und Bedenken, die wir in der vergangenenWoche am Montag bei einer Veranstaltung der SPD-Bundestagsfraktion mit Sportlern und mit Vertretern ausder Wissenschaft erhalten haben, aufzunehmen, ladenwir noch einmal herzlich ein. Am 17. Juni wird eine öf-fentliche Anhörung des Sportausschusses durchgeführt.Diese werden wir im Anschluss bewerten.Aber eines steht schon fest: Mit Blick auf die deut-sche, auf die Hamburger Olympia- und paralympischeBewerbung ist unser Anti-Doping-Gesetz ein Qualitäts-
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Michaela Engelmeier
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siegel, ja geradezu ein großer Pluspunkt, der uns im in-ternationalen Wettstreit hinsichtlich dieser Sportgroßver-anstaltung zugutekommen kann.
Frau Kollegin.
Ja, ich bin sofort fertig.
Ja, wirklich.
Ich schließe meine Rede mit meiner Einladung an den
organisierten Sport und an alle, die hier sitzen, an alle
Fraktionen: Kämpfen Sie gemeinsam mit uns gegen Do-
ping und Manipulationen im Sport.
Ich danke Ihnen.
Danke, Frau Engelmeier. – Ich begrüße auf unserer
Tribüne, also an einem für ihn ungewöhnlichen Ort, un-
seren Bundesminister für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung aus dem Allgäu.
Letzte Rednerin in der Debatte: Karin Strenz für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Thomas Hicks, ein amerikanischer Läufer, ge-wann bei den Olympischen Spielen 1904 die Goldme-daille im Marathonlauf. Er war, wie immer man es auchnennen mag, ein Wegbereiter für das Dopen im Sport.Ein Schluck Brandy, verfeinert mit Strychnin – das istein Stoff, den wir heute auf der Dopingliste führen –,verhalf ihm zu überragender Leistung und letztendlichzum Sieg. Damals gab es noch keine klaren Regeln undRichtlinien in Bezug auf die Definition und Einnahmevon Dopingmitteln. So durfte er am Ende seine Medaillebehalten. Das ist lange her.Lassen Sie mich den Blick auf die heutige Zeit rich-ten. Ben Johnson, Lance Armstrong, Jan Ullrich – siewaren namhafte Spitzensportler, die weltweit ein hohesAnsehen für ihre wirklich herausragenden sportlichenLeistungen genossen. Für viele, gerade für die jüngereGeneration, waren sie Idole, sportliche Helden. Sie kleb-ten ihre Poster an die Wände ihrer Kinderzimmer und sa-ßen stundenlang vor den Bildschirmen, um ihre Lieb-lingssportler anzufeuern. Sie trugen ihre Trikots, um dieErfolgsgeschichte ihres sportlichen Schwarms intensivzu begleiten und zu leben.Jedes Kind hat den Wunsch, einmal in die Fußstapfenseines ganz persönlichen Idols zu treten. Auch diese dreiSportler verkörperten das mitreißende Gefühl, dass tat-sächlich jeder Einzelne das schaffen kann, was sie sichselbst mit enormer Kraftanstrengung und zielstrebigerDisziplin erarbeitet haben. Sie waren wahre Vorbilderfür die Gesellschaft und wichtige Botschafter ihrer je-weiligen Länder.Doch jede dieser drei Sportlerkarrieren erlebte einenfatalen Wendepunkt, der die Fassade dieser Spitzen-sportler krachend zusammenfallen ließ. Sie produziertenSchlagzeilen wie „Radstars als Lügner überführt“, „KeinEnde beim Doping in Sicht“ und „Doping raubt demSport seinen Stellenwert“. Solche Schlagzeilen brauchenwir nicht.Es ist unstrittig, dass Doping die Integrität des Sportsin einem enormen Ausmaß belastet. Die Sportlerinnenund Sportler, die dem Versuch der Steigerung ihrer kör-perlichen Leistungsfähigkeit durch die Einnahme uner-laubter Substanzen nicht widerstehen konnten, schadennicht nur dem Image unserer erfolgreichen Sportge-schichte, nein, sie gefährden damit vor allem auch ihreeigene Gesundheit und ihr Leben, und davon haben wirnur eins.Diesem Defizit muss zweifellos entschieden entge-gengewirkt werden. Es ist oberste Prämisse, den Spit-zensport als Visitenkarte Deutschlands in der Welt vornicht hinnehmbaren Entwicklungen und Einflüssen zubewahren. Die effektive Bekämpfung des Dopings imSport ist vor diesem Hintergrund schon seit langem einwichtiges Bestreben des Parlaments. Johnson, Armstrongund Ullrich wurden durch die Aberkennung ihrer Titelund eine Sperre für die Teilnahme an diversen Sportver-anstaltungen für unterschiedliche Zeiträume entspre-chend sanktioniert.Über eines müssen wir uns im Klaren sein: Wer dopt,betrügt. Wer in Deutschland bewusst täuscht und da-durch einen entscheidenden Vorteil durch seine unethi-schen Handlungen gewinnt, wird je nach Straftatbestandim Rahmen des Strafgesetzbuches geahndet.Verschiedene gesetzgeberische Schritte zur Doping-bekämpfung sind in den letzten Jahren auf den Weg ge-bracht worden. Doch wollen wir Doping im Sport wei-testgehend zum Erliegen bringen – und das ist unserAnspruch –, gilt es, weitere Lücken zu schließen.Daher bin ich über den Entwurf der Bundesregierung,über den wir heute debattieren, sehr dankbar. Mit demGesetz zur Bekämpfung von Doping im Sport gehen wireinen großen Schritt in die richtige Richtung und könnenkünftig verstärkt die Gewähr für einen sauberen Sportleisten. Die existierenden Sanktionsinstrumente sollenmit dem neuen Anti-Doping-Gesetz nachhaltig unter-stützt werden.
Die immense Neuregelung dieses speziellen Bereichshilft nicht nur, die Gesundheit der Sportler in erhebli-chem Maße zu schützen, sondern sie fördert den Schutzder Gerechtigkeit und des Gleichheitsstrebens bei natio-
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Karin Strenz
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nalen und internationalen Wettbewerben. Außerdembringt es uns einen großen Schritt weiter, die Integritätunseres Sportes zu garantieren.Gleichwohl ist die öffentliche Anhörung, die am17. Juni vorgesehen ist, von erheblicher Bedeutung;denn wir benötigen ein konsensorientiertes Gesetz, dasvon allen Seiten getragen und unterstützt wird. Ich binmir sehr sicher, dass wir damit die unabdingbaren Fakto-ren Prävention, Kontrolle und Sanktionen in eine opti-male Form bringen werden. Wenn der Gesetzentwurfaber von möglichst allen Fraktionen getragen werdensoll, dann sollte man auch die Fairness und Toleranz ha-ben, eine solche Sitzung gemeinsam mit dem Rechtsaus-schuss durchzuführen und sie möglichst um eine Stundezu verschieben.
Es steht uns gut zu Gesicht, Fairness vorzuleben,wenn wir Fairness einfordern. Das wird auch bei unserenNachwuchssportlern einen entsprechend starken Ein-druck hinterlassen, da diese Veranstaltung öffentlich ist.Ich möchte mich an dieser Stelle bei all den Sportlernund bei denjenigen, die sie trainieren, ebenso wie bei denFamilien bedanken, die den Breitensport unterstützen.Mein Dank gilt all denen, die den Mut nicht aufgegebenhaben und darauf vertrauen, dass es auch Spitzensportlergibt, die nicht im Nachhinein als Lügner oder als Do-pingfall enttarnt werden. Denn wir brauchen auf langeSicht Vorbilder dieser Art.Ich wünsche allen Sportlerinnen und Sportlern beiden anstehenden Spielen, wo auch immer auf dieserWelt, dass sie erfolgreich zurückkommen und dass sieweiterhin Vorbilder bleiben, die unsere Jugend braucht.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Strenz. – Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4898 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich wünsche allen Sport- und Fußballfans morgen
Nachmittag aufregende 90 Minuten. Nicht wahr, Volker?
– Man muss schon etwas tun.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, Nicole
Maisch, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes –
Verbesserung der Transparenz und der Be-
Drucksache 18/4864
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kollegen und Kolleginnen, die Plätze
einzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin in der
Debatte gebe ich Renate Künast für Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es geht um Scoring-Verfah-ren. Tatsache ist, dass die Scoring-Verfahren, die heutzu-tage überall eine Rolle spielen, erheblichen Einfluss aufdas Alltags- und Geschäftsleben von Verbraucherinnenund Verbrauchern haben. Sie entscheiden nämlich, zuwelchen Konditionen – wenn überhaupt – man einenKredit von einer Bank bekommt, ob und zu welchen Be-dingungen der Mobilfunkvertrag abgeschlossen wirdund ob wir beim Einkauf im Internet per Rechnung oderper Vorkasse bezahlen müssen – um nur einige wenigeBeispiele zu nennen.Der Deutsche Bundestag hat vor einigen Jahren eineÄnderung vorgenommen. Was ist der Status quo, waspassiert hier eigentlich? Es ist so, dass beim ScoringAuskunfteien – die bekannteste ist die Schufa, sie istaber bei weitem nicht die einzige – wirklich massenhaftDaten von Verbrauchern erheben, benutzen, bewertenund in Relation zueinander stellen, von denen die meis-ten Verbraucher gar nichts wissen oder ahnen. Dannwerden damit Geschäfte gemacht. Die Daten werdenverkauft, zum Beispiel an Banken oder Onlineshops,wenn diese wissen möchten, zu welchen Konditionen sieVerträge mit einer gewissen Person eingehen.Heute ist es so, dass wir theoretisch nach der Rechts-lage das Recht haben, uns einmal im Jahr eine Auskunftzu holen. Das Tragische für die, die es tun, ist nur, dasssie sehr viel Papier erhalten, aber gar nicht verstehen,was darin steht. Diese Art der Auskunft ist ohne Wert,weil sie nicht verständlich ist und weil man nicht weiß,wie ein bestimmter Score-Wert überhaupt zustandekommt und welche Auswirkungen er hat. Man weißnicht, ob die Wohnadresse zählt oder ob man im Internetetwas falsch gemacht hat. Man kann sich nicht gegen dieErhebung wehren, um den Score-Wert in Zukunft zu ver-ändern.An dieser Stelle setzen wir mit unserem Gesetzent-wurf an. Wir wollen nachbessern und dafür sorgen, dassdas Scoring-Verfahren in Zukunft für die Verbrauchertransparent und nachvollziehbar ist. Es muss möglich
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Renate Künast
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sein, zu intervenieren und sich gegen das Scoring zuwehren, statt wie bisher alle Daten preisgeben und seingesamtes Leben offenlegen zu müssen.Was wollen wir ändern? Es sind sechs Punkte.Erstens wollen wir, dass in Zukunft diskriminierendeDaten nicht mehr über die Bonität entscheiden dürfen.Was sind diskriminierende Daten? Zum Beispiel, dassman in der sogenannten falschen Straße wohnt, die einnegatives Image hat, wobei dann auf eine schlechte Bo-nität geschlossen wird. Das betrifft auch die Postleitzahl.Das nennt man Geo-Scoring.Wir wollen auch, dass das Geschlecht keine Rollemehr spielen darf und dass soziale Netzwerke nicht mehrausgewertet werden dürfen. Warum? Wenn Kommuni-kation heute im Netz durch Social Media stattfindet,werden diese komplett ad absurdum geführt. Wenn manweiß, dass ständig einer auswertet und man bei sämtli-chen Verträgen, die man schließen will, ein negativesScoring bekommt, möglicherweise für ein Verhalten, dasman selber gut findet, dann hat das einen negativen Ef-fekt; denn man weiß nicht, wer da wie auswertet. Also:Diskriminierungsgeeignete Daten sollen nicht mehr überdie Bonität entscheiden dürfen.
Zweitens. Mit unseren persönlichen Daten werdenGeschäfte gemacht und Score-Werte erhoben. Wir fin-den, dass dann dazu gehört, dass jährlich von den Aus-kunfteien aktiv informiert wird. Es ist eine Bringschuldund keine Holschuld. Diese Information muss jährlicherfolgen und kostenlos sein.
Nach der ersten Mitteilung kann man sich überlegen,ob man einen Zugangscode für ein Internetportal habenwill, um die Werte abzurufen, oder die Information perPost möchte.Drittens. Wir wollen Klarheit über die Datenrelevanzund die konkrete Speicherdauer. In Zukunft soll manauch Informationen über die einzelnen Daten, ihre Ge-wichtung und darüber erhalten, wie lange sie gespeichertwerden, damit man weiß, wann sie bei der Gewichtungwieder herausfallen. Ich finde, das ist unser gutes Recht;denn es geht ja um unsere Daten.
Wir wollen – viertens –, dass Unternehmen, die dieDaten sammeln und weitergeben, uns vorab informieren.Wir wollen – fünftens – eine bessere Aufsichtskon-trolle. Die Datenschutzbehörden sollen verpflichtet wer-den, die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschrifteneinmal pro Jahr zu kontrollieren, um auch tatsächlichÜberwachung zu gewährleisten.Wir wollen – sechstens – eine zeitgenaue Löschungvon negativen Einträgen, und zwar nicht erst nach zwölfMonaten. Wenn man erkannt hat, dass zu löschen ist,soll auf den Tag genau gelöscht werden; denn es kann jasein, dass wir nächste Woche einen Mobilfunk- oderKreditvertrag abschließen wollen. Was falsch ist, mussweg und kann ja wohl im digitalen Zeitalter gelöschtwerden.
Meine Damen und Herren, dass unser Gesetzentwurfrichtig ist, zeigen viele Beispiele.Das zeigt die Tatsache, dass die Verbraucherschutz-minister der Länder gerade in der letzten Woche mit16 : 0 einen ähnlichen Beschluss mit ähnlichen Kern-punkten und Forderungen gefasst haben.Das zeigt ein Gutachten, das ja noch vom alten Ver-braucherschutzministerium in Auftrag gegeben undEnde letzten Jahres veröffentlicht wurde. Darin wurdenämlich auch gesagt, dass die alte Datenschutznovellevon 2009 Lücken aufweist, nämlich dass die Transpa-renz des Scoring-Verfahrens immer noch unzureichendist und dass die Qualität der genutzten Daten wirklichüberprüfbar sein muss.Dass das alles wichtig und von Bedeutung ist, zeigtsich natürlich auch daran – Herr Staatssekretär Kelbersitzt ja hier –, dass das Bundesministerium der Justiz undfür Verbraucherschutz dies zum Anlass genommen hat,ein Symposium zu veranstalten, um das Ganze zu unter-stützen.Unser Gesetzentwurf kommt zu einem Zeitpunkt, andem in Brüssel noch über die Datenschutzverordnungverhandelt wird. Trotzdem ist er meines Erachtens rich-tig; denn danach kommt der Trilog zwischen Kommis-sion, Rat und Europäischem Parlament. Ich meine, es istrichtig, dass wir Flagge zeigen, bevor das Verfahren aufder Ratsebene im Juni abgeschlossen wird, dass wirdeutlich machen, dass wir mehr wollen, als dort von denanderen 27 Mitgliedstaaten im Augenblick verhandeltwird, dass wir mindestens aber die Möglichkeit offen-halten wollen, darüber im Trilog zu reden und notfallsnational weiter gehende Regeln festzulegen. Unser Ge-setzentwurf ist richtig, weil es nie falsch ist, zu einemfrühen Zeitpunkt und nicht erst in einem Jahr Gesetze zuberaten, von denen man schon weiß, dass man siebraucht. Die Not ist groß bei den Menschen. Bei denen,die viel Geld haben, herrscht keine Not, aber bei anderentatsächlich. Deshalb ist es richtig, dass wir jetzt dieseVorlage diskutieren und in einer Anhörung zu ihrer ge-naueren Ausgestaltung kommen.
Vielen Dank, Renate Künast. – Nächster Redner– schon wieder –: der Kollege Stephan Mayer. – Siemüssen heute viel arbeiten.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-
ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich bin zwar nicht der
erste Redner hier im Bundestag, der folgendes Zitat er-
wähnt, aber es passt aus meiner Sicht sehr gut auf den
Gesetzentwurf. Baron de Montesquieu sagte einmal:
Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlas-
sen, ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen.
Dieses Zitat passt deshalb sehr gut, weil dieser Ge-
setzentwurf, den die Grünen hier einbringen, überflüssig
ist. Er ist aber nicht nur überflüssig, sondern er ist aus
meiner Sicht auch kontraproduktiv. Sie verteufeln,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, das Scoring.
Das klingt natürlich auch furchtbar abenteuerlich,
furchtbar mysteriös. Um was geht es beim Scoring?
Beim Scoring geht es darum, dass eine Wahrscheinlich-
keit berechnet wird, mit der der Kunde, mit der der Kre-
ditnehmer, mit der der Mobilfunkkunde die Rechnungen
begleicht, die er zu bezahlen hat. Ich glaube, das ist doch
das Normalste auf der Welt. Wenn Sie, Frau Kollegin
Künast, mir 10 Euro leihen wollen
oder wenn ich Sie frage, ob Sie mir 10 oder 50 Euro lei-
hen, dann werden Sie sich im Vorfeld erkundigen: Hat
der Kollege Mayer eine gute Bonität? Ist der säumig?
Begleicht der seine Schulden?
Es ist doch völlig logisch und natürlich, dass Unter-
nehmen wissen wollen, mit welcher Wahrscheinlichkeit
ein Kunde das bezahlt, was er kauft, oder ob er die Mo-
bilfunkrechnung monatlich begleicht bezüglich des Ver-
trages, den er eingegangen ist.
Scoring ist also kein Teufelswerk, sondern Scoring ist
aus meiner Sicht unerlässlich und essenziell für das
Funktionieren unseres Wirtschafts- und Handelslebens.
So möchte ich einmal in Erinnerung rufen: Allein im
Jahr 2013 wurden in Deutschland Waren im Wert von
insgesamt 19 Milliarden Euro auf Rechnung gekauft.
Weil Sie, Frau Kollegin Künast, immer darauf hin-
weisen, die Leute würden diskriminiert, sie würden mit
einem negativen Wert, einer negativen Bonität in Miss-
kredit gebracht, möchte ich auf Folgendes hinweisen:
Nach Auskunft der Schufa haben über 97 Prozent aller
Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland eine
positive Bonität. Das ist eine gute Nachricht, eine schöne
Nachricht. Der überwiegende Teil der Verbraucherinnen
und Verbraucher erfüllt seine Mobilfunkverträge und
seine weiteren Dauerschuldverhältnisse, bezahlt aber
auch die Waren, die er auf Rechnung kauft, vollkommen
pünktlich und vollumfänglich. Es ist also beileibe nicht
so, dass, wie Sie es hier darstellen, ein Großteil der Ver-
braucherinnen und Verbraucher unter Generalverdacht
gestellt und diskriminiert wird. Das Gegenteil ist der
Fall.
Dieses Scoring, diese Wahrscheinlichkeitsberechnung
ist sogar im Sinne der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher. Wie müssten Unternehmen reagieren, wenn
Auskunfteien diesen Score-Wert nicht an Handelsunter-
nehmen weitergeben dürften? Sie müssten den Zah-
lungsausfall, der sich dann häufiger einstellen würde, auf
die Preise und damit auf die zu über 97 Prozent redli-
chen Verbraucher umlegen. Dass es diese Möglichkeit
des Scorings gibt, ist also im Sinne aller redlichen Ver-
braucher, die ihre Schulden begleichen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
gibt seit dem 1. April 2010 ein sehr umfangreiches Infor-
mations- und Auskunftsrecht. Davon machen mehrere
Zehntausende Bundesbürger Gebrauch, indem sie sich
einmal im Jahr – kostenlos wohlgemerkt – von den Aus-
kunfteien ihren persönlichen Score-Wert, ihre Bonität
mitteilen lassen. Sie, Frau Kollegin Künast, fordern jetzt,
dass es eine Bringschuld gebe. Sie wollen also, dass die
Auskunfteien gesetzlich verpflichtet werden, einmal im
Jahr alle Verbraucherinnen und Verbraucher, alle Er-
wachsenen in Deutschland und darüber hinaus über
ihren Score-Wert zu informieren. Ich bin der festen
Überzeugung: Den überwiegenden Teil der Bürger inte-
ressiert das gar nicht,
weil sie überhaupt keine Probleme haben. Sie bekom-
men den Kredit, den sie wollen, dürfen die Ware, die sie
kaufen wollen, auf Rechnung kaufen, erhalten den Mo-
bilfunkvertrag, den sie wollen. Es haben nämlich, wie
gesagt, über 97 Prozent eine positive Bonität.
Sie erwähnten einen weiteren Aspekt, nämlich dass
die Löschungsfristen gesetzlich definiert werden müss-
ten. Sie sprechen hier von sieben Jahren. Schon heute
beträgt die Löschungsfrist bei einer Restschuldbefreiung
lediglich drei Jahre. Also spätestens nach drei Jahren
muss diese Information nach § 35 Absatz 2 Satz 2 Num-
mer 4 des Bundesdatenschutzgesetzes getilgt werden.
Herr Kollege, erlauben Sie – – Sie sind so groß. Ich
muss regelrecht an Ihnen vorbeischauen.
So lang.
Ja, Entschuldigung. – Erlauben Sie eine Zwischen-frage oder Bemerkung?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10273
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Selbstverständlich, sehr gerne.
Herr Kollege Mayer, vielen Dank, dass Sie meine
Frage zulassen. – Sie haben gesagt, diese Löschfrist von
drei Jahren sei ausreichend. Deshalb möchte ich Sie Fol-
gendes fragen: Wie Sie wissen, bekommt man mit einer
negativen Bonität zum Beispiel keinen Mobilfunkver-
trag. Was war der längste Zeitraum, währenddessen Sie
in den letzten Jahren ohne Ihr Handy ausgekommen
sind?
Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Frage. – Ich
möchte erst einmal anmerken, dass es einen Unterschied
zwischen Größe und Länge gibt.
– Nein, das ist schon wichtig.
Groß gewachsen.
Die Frage ist berechtigt. Natürlich ist der Großteil un-serer erwachsenen Bundesbürger auf einen Mobilfunk-vertrag angewiesen. Es gibt aber auch – das wissen Sie –andere Möglichkeiten, um sich ein Handy zu besorgen,als bloß über einen langfristigen Mobilfunkvertrag. Mankann sich Prepaidhandys zulegen. Wenn man eine Pre-paidkarte kauft, wird keine Anfrage bei einer Auskunfteigestellt. Da kommt es nicht auf die Bonität an. Wenn Siehier also insinuieren, allein durch die Möglichkeit derAbfrage der Bonität bei einer Auskunftei würde einembestimmten Teil der Bevölkerung – wie gesagt, über97 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher sindredlich und haben eine positive Bonität – die Möglich-keit genommen, einen Mobilfunkvertrag abzuschließen,muss ich dazu sagen: Das stimmt einfach nicht. Ichmöchte sogar in Zweifel ziehen, dass es so ist, dass einMobilfunkunternehmen sich bei einem negativen Score-Wert, bei einer negativen Bonität automatisch weigert,einen Mobilfunkvertrag abzuschließen. Aber selbstwenn dem so wäre – hypothetisch –, bestünde immernoch die Möglichkeit, dass sich derjenige oder diejenigeein Prepaidhandy zulegt. Dieser Einwand geht also ausmeiner Sicht völlig ins Leere.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,ebenso ins Leere geht der Hinweis der Grünen im Ge-setzentwurf, dass man doch endlich gesetzlich normie-ren müsse, dass Auskunfteien nicht auf Daten aus sozia-len Netzwerken oder Internetforen zugreifen. NennenSie mir eine Auskunftei, die dies tut! Ich habe mich er-kundigt: Es gibt keine einzige Auskunftei in Deutsch-land, die auf Daten aus sozialen Netzwerken oder Inter-netforen zugreift bzw. dies plant. Ihre Forderung ist alsovollkommen überflüssig.
Genauso überflüssig ist Ihre Forderung, gesetzlich zuverbieten, dass man Daten, die Staatsangehörigkeit, Ge-schlecht, Sexualleben oder eine mögliche Behinderungbetreffen, verwendet. Auch dem ist nicht so. Keine Aus-kunftei in Deutschland nutzt solche Daten oder hat vor,solche Daten zu nutzen. Sie entfachen mit Ihrem Gesetz-entwurf eine Scheindebatte, die jeglicher Grundlage ent-behrt.Der Gesetzentwurf ist aber nicht nur überflüssig, wieich eben ausgeführt habe, sondern aus meiner Sicht auchkontraproduktiv, kontraproduktiv vor allem vor demHintergrund der aktuellen Debatte über die Datenschutz-Grundverordnung. Das ist mir schon sehr wichtig; dennwir sind nun in der Endphase der Verhandlungen be-züglich eines sehr wichtigen Rechtsinstruments aufeuropäischer Ebene, nämlich der Vollharmonisierungdes Datenschutzrechts in 28 Mitgliedsländern, in denen500 Millionen Menschen leben.
Den vorliegenden Gesetzentwurf jetzt zu verabschieden,wäre eben deshalb kontraproduktiv, weil er schon in we-nigen Monaten obsolet wäre. Es ist geplant, während derLuxemburger Ratspräsidentschaft bis Ende des Jahresdie Datenschutz-Grundverordnung endgültig unter Dachund Fach zu bringen. Spätestens dann wäre das Bundes-datenschutzgesetz erneut zu novellieren,
weil wir es der neuen Datenschutz-Grundverordnung an-passen müssten. Erlangte diese Verordnung sogar Allge-meingültigkeit, bedürfte es einer gesetzlichen Regelungin Deutschland gar nicht mehr; sie wäre nämlich über-flüssig.
Ein weiterer Punkt, bei dem Sie absolut ins Leereschießen: Sie wollen, dass die Bundesregierung in einerRechtsverordnung die näheren Anforderungen an daswissenschaftlich anerkannte mathematisch-statistischeVerfahren der Auskunfteien festlegt. Da gehen Sie wirk-lich an die Kronjuwelen der Auskunfteien.
Dieses mathematisch-statistische Verfahren ist ein hochschützenswertes Betriebs- und Geschäftsgeheimnis derAuskunfteien. Ich halte es für vollkommen verfehlt, dassSie nun so weit gehen und der Bundesregierung auferle-
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10274 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Stephan Mayer
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gen wollen, Anforderungen an die Auskunfteien zu stel-len, wie sie dieses Verfahren durchzuführen haben.
Um es klar zu sagen: Wenn Ihr Gesetz in der vorlie-genden Fassung in Kraft treten würde, dann wäre in Zu-kunft der Kauf auf Rechnung in Deutschland unmöglich;denn Sie beabsichtigen des Weiteren, dass jeder Bundes-bürger vor der Berechnung der Wahrscheinlichkeits-werte über die vorgesehene Nutzung seiner Datenschriftlich unterrichtet wird. Sie müssten also bei jederNeuberechnung des Score-Werts, wenn also neue Datenbeispielsweise von einem Bankinstitut oder einer Versi-cherung eingehen, jeden Bundesbürger darüber infor-mieren, dass sich nun sein Score-Wert bzw. seine Bonitätmöglicherweise ändert. Dies muss auch noch dokumen-tiert werden. Sie würden einen Bürokratie- und Doku-mentationswust entfachen, der unvorstellbar wäre. DieFolge wäre: Es würde kein Handelsunternehmen inDeutschland mehr geben, das Waren auf Rechnung ver-kaufte. Entweder müsste man immer bar zahlen – das istmit Sicherheit nicht im Sinne der Verbraucherinnen undVerbraucher –, oder die Unternehmen müssten das Ri-siko eingehen, die Waren ohne Wahrscheinlichkeitsbe-rechnung herauszugeben. Viele Unternehmen würdendas aber insbesondere bei hochpreisigen Waren nichtmachen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die-ser Gesetzentwurf ist wirklich überflüssig. Er ist aber,wie ich ausgeführt habe, nicht nur überflüssig, sondernauch kontraproduktiv. Allein dass jährlich Informationenan alle Bundesbürger gegeben werden müssten, führtebei der Schufa zu einem Kostenaufwand in Höhe von40 Millionen Euro. Das ist meines Erachtens in jederHinsicht übermäßig. Deswegen kann ich Ihnen nur denwohlgemeinten Rat geben, den Gesetzentwurf in derSchublade verschwinden zu lassen. Er hat es aus meinerSicht in keiner Weise verdient, weiter intensiv und ernst-haft debattiert zu werden.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Stephan Mayer. – Nächster Redner in
der Debatte: Harald Petzold für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Be-suchertribünen! Es wird Sie möglicherweise nicht über-raschen: Meine Fraktion, die Linke, unterstützt den Ge-setzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur Änderungdes Bundesdatenschutzgesetzes im Sinne einer Verbes-serung der Transparenz und der Bedingungen beim Sco-ring und wird ihm zustimmen. Das sage ich in dieserEindrücklichkeit nicht deswegen, weil wir plötzlich alleunsere Bedenken gegen das Scoring abgelegt hätten,sondern weil ich fest davon überzeugt bin, dass wir an-gesichts der gegenwärtigen gesetzlichen Situation unbe-dingt eine Gesetzesänderung brauchen, die gegenüberder jetzigen Praxis Transparenzfortschritte bringt. Ent-sprechende Maßnahmen hat Frau Künast hier ja genannt.Ich halte sie für unverzichtbar.
Frau Künast hat ebenfalls dargestellt, was Scoring be-deutet. Ich kann es mir ersparen, das zu wiederholen. Siekennen möglicherweise alle die Broschüre des Unabhän-gigen Landeszentrums für Datenschutz in Schleswig-Holstein zum Verbraucher-Scoring, in dem beispielhaftdargestellt wird, wie solche Scores zustande kommen.Es findet sich da etwa das Beispiel eines Arbeitnehmers,der eine Wohnung in der Nähe eines etwas schmuddeli-gen Bahnhofsviertels bezogen hat, weil er von dort raschzu seinem Arbeitsplatz kommt. Die Wohnortwahl hatnichts damit zu tun, ob er kreditwürdig ist, ob er über einfestes Einkommen verfügt oder nicht, er braucht einfachjeden Tag die Bahn und hat sich aus Praktikabilitätsgrün-den dafür entschieden, in dieses Viertel zu ziehen. Fürseinen Score war diese Entscheidung aber das reinsteGift. Denn für diesen wandelte er sich von einem fleißi-gen Arbeitnehmer in einen zwielichtigen Zeitgenossen.Ich kann allen, auch den Besucherinnen und Besuchern,nur empfehlen, sich diese Broschüre einmal zu besorgenund anhand der Tabellen, die darin veröffentlicht sind,nachzuschauen, welchen Score jeder einzelne von unskriegen würde. Sie würden sich möglicherweise wun-dern.Wir als Linke sagen, bei einem solchen automatisier-ten und standardisierten Bewertungsverfahren geht derMensch als Individuum verloren. Und dagegen sprechenwir uns natürlich konsequent aus.
Denn im schlimmsten Fall wird dem betroffenen Men-schen damit sein Leben lang ein Stempel aufgedrückt,gegen den er sich nicht wehren kann und auf dessen Zu-standekommen – Frau Künast hat das hier dargestellt –wir keinen Einfluss haben. Deswegen kann ich auch denSoziologen nur zustimmen, die sagen, Scoring werdezum Instrument für soziale Deprivation.Spätestens dieses Argument der Entbürgerlichung,verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, diedurch das Scoring hier eingeleitet wird, müsste bei Ihnenzu der Überlegung führen, dass es vielleicht doch sinn-voll wäre, hier eine Veränderung hinzubekommen. WennSie schon uns und Bündnis 90/Die Grünen nicht glau-ben, dann werfen Sie bitte noch einmal einen Blick indie auch von Frau Künast schon erwähnte Analyse„Scoring nach der Datenschutz-Novelle 2009 und neueEntwicklungen“. Sie enthält eine Analyse der rechtli-chen Grundlagen und eine empirische Untersuchung. Inihr wird klar und deutlich gesagt, wie wichtig ein klarerRechtsrahmen für das Scoring ist. Meine Fraktion jeden-falls nimmt die Ergebnisse dieser Studie sehr ernst. Wirsagen, es darf nicht sein, dass jemand zu Unrecht ein
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Harald Petzold
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Darlehen nicht erhält, eine Wohnung nicht anmietenkann oder im Versandhandel nicht auf Rechnung bestel-len kann.Auch auf die Konsequenzen im gegenwärtigen euro-päischen Diskussionsprozess hat Frau Künast hingewie-se
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben in Deutschland für das Kreditscoring
sehr viel speziellere Regelungen, als sie derzeit in
der EU diskutiert werden. Das neue EU-Recht wird
aber das deutsche Recht ersetzen. Daher müssen
wir darauf achten, dass wir unser bisheriges Daten-
schutzniveau erhalten.
Auch dem ist nichts hinzuzufügen.
Langer Rede kurzer Sinn – diese Studie bestätigt: Der
Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen geht in die
richtige Richtung. Wir brauchen ein Verbot von Perso-
nenprofilen. Auskunftsverfahren, die nicht auf relevante
individuelle und zweckgebundene Daten setzen, sondern
Aussagen allein aufgrund statistischer Daten, Wahr-
scheinlichkeiten oder diskriminierender Daten errech-
nen, müssen unterbleiben. Wir brauchen Regelungen,
die die Auskunfteien dazu verpflichten, endlich für
Transparenz zu sorgen. Der Verbraucher hat ein Recht
darauf, bei einer Selbstauskunft mehr zu erfahren als den
tagesaktuellen Score. Die Auskunfteien müssen Rechen-
schaft ablegen, welche Faktoren den Score wie beein-
flussen und an wen welcher Score weitergegeben wird.
Das betrifft sowohl die Einzeldaten als auch die Berech-
nungsformeln als auch die konkreten Werte. Wir wollen,
dass auf Geoscoring verzichtet wird. Wir wollen, dass
auf die sogenannte Schufa-Auskunft verzichtet wird.
In diesem Sinne müssten wir uns alle, wenn wir die
Ergebnisse dieser Studie ernst nehmen, verpflichtet füh-
len, politisch zu handeln.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Harald Petzold. – Der nächste Redner in
der Debatte ist Gerold Reichenbach für die SPD.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich glaube, am Ende ist es, außer vielleicht bei der
Linkspartei, unumstritten, dass wir so etwas wie Scoring
brauchen, eine Vorhersage – Kollege Mayer hat es aus-
geführt – für diejenigen, die Waren oder Dienstleistun-
gen auf dem Markt anbieten, der sie entnehmen können,
ob denn der Kunde überhaupt solvent ist.
Scoring gab es schon immer. Ich darf aus dem hessi-
schen Datterich zitieren: „Lisettche, kannst Du für mich
anschreibe?“ – „Nee, für dich net.“ – Das war sozusagen
ein Scoring, das früher stattfand. Nun haben wir heute
nicht mehr solche direkten Beziehungen, weil wir vieles
über das Internet und anderweitig abwickeln. Auch bei
Kreditverträgen ist es ja sinnvoll, dass der jeweilige Ge-
schäftspartner einem nicht sofort persönlich etwas vor-
schreibt.
Allerdings – das kennen wir auch; ich glaube, das er-
leben wie ich die meisten auch in ihren Wahlkreisbüros
oder in den Bundestagsbüros – werden immer wieder
Fälle bekannt, wonach etwa jemandem – Sie haben es
geschildert – ein Handyvertrag verwehrt wurde, nur weil
er beispielsweise in einem bestimmten Gebiet wohnt.
Meiner eigenen Mitarbeiterin aus Neukölln ist das ein-
mal passiert: Ihr teilte ein Versandhandel mit, sie könne
nicht auf Rechnung, sondern nur gegen Vorkasse oder
per Nachname bestellen, weil ihre Anschrift eine be-
stimmte Postleitzahl beinhaltete. Da muss man, glaube
ich, etwas tun.
Das Bundesministerium der Justiz hat deshalb nach
der Änderung im Bundesdatenschutzgesetz 2009 eine
Studie in Auftrag gegeben und dieses evaluiert. Auch
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Natürlich gibtes die eine oder andere Stelle, bei der wir über be-stimmte Probleme nachdenken müssen. Aber das betrifftnicht nur einen Punkt, sondern eine breite Palette anPunkten. Aber einfach so wie Sie, Frau Künast, zu sa-gen: „Da ist ein Problem. Supi! Wir Grünen haben dafürsofort eine Lösung“, funktioniert nicht,
insbesondere dann nicht, Frau Künast, wenn die Lösunggleich neue Probleme produziert.
Es ist richtig, dass das Recht auf Auskunft bislangvon relativ wenigen wahrgenommen wird. Eigentlichgilt ja der Rechtsgrundsatz: Wenn jemand Rechteinhaberist, in diesem Fall ein Auskunftsrecht hat, dann hat ersich zunächst einmal selbst um die Wahrnehmung diesesRechts zu kümmern. Das ist aber bei den Auskunfteiennicht so einfach. Schließlich weiß ich nicht, wer allesmeine Daten hat und wer welche Daten an wen weiterge-geben hat.
Jedenfalls muss ich mich aktiv an diese Stellen wenden;das ist richtig. Die Statistik zeigt auch: Ein Großteil derBetroffenen – das geht aus der Auswertung der Studiehervor – wünscht sich eine eher aktive Rolle derjenigen,die ihre Daten haben.Schauen wir uns einmal das Verhältnis an: Die Zahlderjenigen, die Daten über Dritte abfragen, die also vonden Auskunfteien wissen wollen: „Ist derjenige, mit demich ein Geschäftsverhältnis eingehen möchte, solventund zahlungswillig?“, ist sehr viel höher als die Zahl
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10276 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Gerold Reichenbach
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derjenigen – sie liegt noch nicht einmal bei 5 Prozent –,die von den Auskunfteien gerne wissen möchten: „Wel-che Werte habt ihr von mir?“. Dieses Wissen wäre ja dieVoraussetzung dafür, gegebenenfalls den einen oder an-deren Wert – auch das kommt vor –, der falsch ist, korri-gieren zu lassen. Das zeigen die Berichte der Ombuds-leute, die in diesem Bereich tätig sind, etwa bei derSchufa, oder auch die Studie selbst.Dann kommen die Grünen mit einem Vorschlag umdie Ecke, der übrigens gar nicht neu ist, Frau Künast.
– Frau Künast, immer erst einmal zuhören. Danach kön-nen Sie dazwischenrufen. Das würde dazu führen, dassder Zwischenruf nicht so danebengeht wie der geradevon Ihnen gemachte.
Wir haben damals in der Enquete-Kommission „Inter-net und digitale Gesellschaft“ die Idee, die Sie verfolgen,nämlich sich direkt informieren zu lassen – damals liefdas unter dem Stichwort „Datenbrief“ –, breit diskutiert.Wenn Sie sich den Bericht der Enquete ansehen – er istnicht nur für die letzte Legislaturperiode geschriebenworden –, dann werden Sie feststellen, dass darin die kri-tische Betrachtung überwiegt, und zwar mit Recht. Sieproduzieren dadurch nämlich neue Probleme, egal wel-che Ihrer Lösungen man betrachtet.Das erste Problem ergibt sich mit der von Ihnen vor-geschlagenen Internetlösung, gemäß der man den Be-troffenen nur einmal mitteilen müsste, dass sie ihre Da-ten demnächst im Internet abrufen können. Zunächsteinmal fragen fast ein Drittel auf dem schriftlich-postali-schen Weg nach; das zeigt zum Beispiel der Bericht derSchufa. Aber auch wenn wir Ihre Internetlösung näh-men, gäbe es ein Problem: Wir produzieren damit näm-lich eine neue Zusammenführung von Daten. Und Da-tenpools – wir erleben es gerade beim Bundestag –ziehen natürlich das große Interesse krimineller Organi-sationen auf sich,
die gerne an Daten herankommen würden, an die sie garnicht herankommen dürfen.
– Hören Sie doch endlich einmal zu.
Wenn Sie nicht zuhören wollen, dann lesen Sie sich an-schließend noch einmal den Teil aus dem Bericht der En-quete-Kommission durch. Das sind nur zehn Seiten. Dasist nicht so viel.
Das zweite Problem, das sich aus Ihren Vorschlägenergeben würde, ist: Wenn schriftlich zugestellt würde,müsste immer regelmäßig sichergestellt werden, dass diepostalische Zustellung der sensiblen Daten, die von einerAuskunftei oder von anderen stammen, auch den Daten-inhaber erreicht,
sonst organisieren Sie nämlich Datenbruch und Daten-schutzverletzung per systematisch eingebautem Fehler.Wir wissen doch: Die Grünen werden die Ersten sein,die sagen: Bei der heutigen Post wie auch bei anderenPostzustellungsunternehmen kann man die Fiktionalitätder richtigen Zustellung gar nicht mehr annehmen. Wanngilt denn das Argument?
Dann, wenn Sie etwas auf dem Postweg machen wollen,ist es plötzlich kein Argument mehr.
Das heißt, Sie produzieren neue Datenprobleme.
Sie produzieren unter Umständen auch neue Problemeim Datenschutz für die Betroffenen, wenn die Schufa-Auskunft mit den entsprechenden Daten dann nicht mehrim richtigen Stockwerk ankommt, sondern eines tiefer.
Ein dritter Punkt – jetzt wird es abstrus, mit Verlaub –:Ein Großteil dessen, was wir hier verhandeln – HerrKollege Mayer und die anderen haben doch recht –, wirdin der Datenschutz-Grundverordnung behandelt werden.
Der Rat will jetzt im Juni zum Abschluss kommen. Danngehen wir in den Trilog. Was ist denn das für ein Selbst-verständnis von Parlamentariern, wenn man hier eineGesetzesänderung machen will, von der wir genau wis-sen, dass sie gar nicht so lange Bestand haben wird,
nur um zu signalisieren: „Bitte verhandelt doch im Sinnedes Gesetzes, das wir hier haben“? – Das ist doch schonfast Slapstick, Frau Künast. Das hat mit einem ordentli-chen parlamentarischen Verfahren nichts zu tun.
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Wir werden uns der Problematik nicht verweigern.Aber eine Lösung, auch wenn Sie sie noch so lautstarkanpreisen, die mehr Probleme aufwirft als löst, werdenwir so garantiert nicht akzeptieren.
Vielen Dank, Herr Kollege Reichenbach. – Wir haben
uns hier erkundigt. Sie haben Stirnrunzeln ausgelöst mit
Ihrem hessischen Zitat aus dem Datterich. Ich möchte
die Kollegen darüber aufklären: Es handelt sich um eine
Lokalposse von Ernst Elias Niebergall, der vor 200 Jah-
ren geboren worden ist.
Darf ich eine Kurzintervention machen?
Ja, Sie dürfen eine Kurzintervention machen.
Was Sie sagten, werte Frau Präsidentin, ist völlig rich-
tig. In der Kurzintervention möchte ich das noch ergän-
zen: Der Datterich ist dadurch bekannt geworden, dass
in ihm viele kluge Sätze stehen, zum Beispiel der poli-
tisch sehr kluge Satz: Wir werden es zwar nimmer erle-
ben, aber Sie werden sehen. – Mit anderen Worten: Wir
werden es zwar nicht mehr erleben, aber Sie werden se-
hen.
Vielen herzlichen Dank. – Es gehört auch dazu: Wenn
wir kurz vor Pfingsten stehen, kann ein bisschen Geist
nicht schaden.
Marian Wendt ist der nächste Redner in der Debatte
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir debattieren hier heute Kosmetik. Wir debat-tieren Kosmetik; denn mit der aktuellen Regelung imBundesdatenschutzgesetz besteht heute bereits ein euro-paweit einzigartig hohes Niveau beim deutschen Daten-schutz. Weiterhin wird das Bundesdatenschutzgesetznach Abschluss der Verhandlungen im Europäischen Ratam 30. Juni und dem darauffolgenden Trilog durch dieDatenschutz-Grundverordnung hinfällig werden; es wirdabgelöst. Die Änderungen, die der Bundestag jetzt vor-nehmen soll, lassen sich also mit Recht als Kosmetik be-zeichnen; denn sie hätten eine überaus kurze Halbwerts-zeit und würden nicht zu einem verbessertenDatenschutzniveau in Deutschland führen.
Die Forderung, Gewichtung und Verfahren zur Be-stimmung von Scoring-Werten offenzulegen, ist hanebü-chen. Demnächst verlangen die Grünen wahrscheinlichauch die Herausgabe der Rezepte von Cola und Pepsi.
Dass diese gerade die Geschäftsgrundlage von Auskunf-teien sind, ignorieren Sie dabei.Ihre grundsätzliche Forderung, dass es sich beiScoring-Werten nicht um willkürliche Werte handelndarf, ist jedenfalls längst erfüllt. Es stellt sich sowiesodie Frage, warum denn überhaupt eine Bank oder eineFirma Dienstleistungen einer Auskunftei in Anspruchnehmen würde, wenn es sich bei den Ergebnissen umwillkürliche Werte handeln würde.Der bürokratische Wust – das haben die Kollegen be-reits erwähnt –, den der von Ihnen vorgesehene Informa-tionszwang mit sich brächte, ist schwer abzuschätzen.Allein in den Datenbanken der Schufa sind 66,5 Millio-nen natürliche Personen verzeichnet. Diese Massenrechtssicher über Scores und vorgehaltene Daten zu in-formieren, erhöht die ohnehin massiven Bürokratiekos-ten, von den Zustellungserfordernissen ganz zu schwei-gen. Vor allen Dingen innovative junge Unternehmenhaben es dadurch noch schwerer, in den Markt einzutre-ten. Das schadet dem Wettbewerb. Wir wollen eigentlichnicht nur Politik für die Großen machen, sondern vor al-len Dingen auch für junge Start-ups, die diese Daten ein-fach nutzen können.Auch Ihre Forderung nach dem Verbot der Benutzungsogenannter nicht bonitätsrelevanter Daten geht an derRealität vorbei. Es ist nicht klar, welchen Anreiz Aus-kunfteien überhaupt haben sollten, irrelevante Daten beider Bonitätsprüfung zu verwenden. Irrelevante Datenverschlechtern das Produkt, das Auskunfteien verkaufen,nämlich die Aussage über die Bonität eines Kunden.Eine weitere regulatorische Einengung des Scoringsmacht also die Beurteilung eher schlechter und nichtbesser. Das ist für die Menschen eine negative Entwick-lung; denn von einer fairen Beurteilung der Kreditwür-digkeit hängt eine Menge ab. Aus informationswirt-schaftlicher Sicht ist heute unbekannt, welche Datenmorgen bonitätsrelevant sein könnten. Daher ist auchdas Verbot der Erfassung vermeintlicher nicht bonitäts-relevanter Daten nachteilig.Grundsätzlich ist hier einmal festzuhalten: Scoring-Unternehmen sind keine windigen Datenkraken. Sie er-füllen eine Schlüsselfunktion, indem sie ihre Einschät-zung als Dienstleistung anbieten und somit ermöglichen,
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10278 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Marian Wendt
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dass Banken überhaupt Kredite unter fairen Bedingun-gen gewähren können. Ihre Arbeit ist wichtig für dasFunktionieren der Volkswirtschaft und damit für jedenVerbraucher. Eine Verschlechterung der Datenbasis be-deutet in der Folge eine Verschlechterung der Bewertun-gen. Dies macht Kredite insgesamt teurer, da das persön-liche Risiko des Kreditnehmers weniger abschätzbarwird.Eine einhellige Forderung nach Verschärfung des Da-tenschutzrechts in Bezug auf Scoring, wie Sie es darstel-len, gibt es darüber hinaus auch gar nicht. Beispielsweiseschreibt der Hessische Datenschutzbeauftragte, dass einebreitere Datenbasis Scoring-Ergebnisse verbessert. Erwarnt vor einer Überregulierung und einer damit einher-gehenden Verringerung der Score-Qualität. Auch hierhaben wir die Fachwelt also hinter uns.Der vorliegende Gesetzentwurf macht also die Situa-tion nicht besser: weder für die Verbraucher noch für dieUnternehmen.Lassen Sie mich diese Debatte noch zum Anlass neh-men, allgemein etwas zum Thema Datenschutz zu sagen.Mir ist wichtig, noch einmal zwei Dinge festzustellen:Erstens. Die Illusion, wir könnten auf nationalerEbene ein strenges Datenschutzrecht durchsetzen undwären damit die Insel der Glückseligen, ist schlicht naiv.Unternehmen aus anderen Ländern, in denen das Daten-schutzrecht weniger streng ist, nehmen den Platz derdann verdrängten deutschen Unternehmen ein. Die gibtes dann schlicht nicht mehr, und wir haben mit unserengutgemeinten Ideen bei der Regulierung dann gar keinenEinfluss mehr. Herr Steinbrück hat recht, wenn er sagt:Lieber 25 Prozent von X als 45 Prozent von nix! – DieIdee der Datenschutz-Grundverordnung, ein LevelPlaying Field in Europa zu schaffen, ist da der einzigrichtige und zielführende Ansatz.Zweitens. Mir ist auch wichtig, noch einmal festzu-stellen, dass das Datenschutzverständnis aus den 1980er-Jahren mit Datensparsamkeit und Löschzwängen für dieheutige Realität nicht geeignet ist. Der Kollege LarsKlingbeil von der SPD hat im Handelsblatt richtiger-weise ein „Ende der angstgetriebenen Datendebatte“ ge-fordert. Wir müssen aufpassen, dass wir die Menschennicht durch eine Debatte über Datensparsamkeit nochmehr verängstigen. Vielmehr müssen wir uns fragen:Was kann helfen, damit erhobene Daten richtig und sinn-voll verwendet werden?Meine Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion und ichwerden in den künftigen Beratungen nicht aus taktischenErwägungen gegen den vorliegenden Gesetzentwurf ar-gumentieren, sondern aus drei guten Gründen:Erstens. Wir verzichten auf Überregulierung, die Ver-brauchern und der Wirtschaft Schaden zufügen würde.Zweitens. Selbst wenn weitere Regulierung der rich-tige Weg wäre, würden wir mit der Umsetzung IhresGesetzentwurfes nur Kosmetik betreiben; denn dieDatenschutz-Grundverordnung wird das Bundesdaten-schutzgesetz ablösen. Damit wird es keine nationale Re-gelung geben. Das ist ein großer Fortschritt fürDeutschland und Europa.Drittens. Es braucht eine moderne Auffassung vonDatenschutz, sonst werden uns die Entwicklungen über-rollen. Wenn deutsche und europäische Unternehmen imBereich der Informationswirtschaft erfolgreich sein sol-len, dann können sie das nicht mit einem Datenschutz-verständnis aus den Zeiten des Volkszählungsurteils der1980er-Jahre.In diesem Sinne werden wir uns in die Beratungenmit Ihnen begeben. Wir freuen uns auf die künftige De-batte, auch zur Datenschutz-Grundverordnung. Ich wün-sche Ihnen allen ein frohes und gesegnetes Pfingstfest.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hakverdi das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bevor wir uns detailliert mit Scoring und Auskunfteienbeschäftigen, ist mir die richtige grundsätzliche politi-sche Einordnung des Themas wichtig.Auskunfteien betreiben mit Scoring eine Art Profil-bildung. Scoring-Agenturen oder Auskunfteien, wie dieSchufa, Creditreform, infoscore, Bürgel, Arvato – umnur einige zu nennen –, bilden Konsumentenprofile aufder Grundlage gesammelter Daten. Mit diesen Profilentreffen sie Aussagen darüber, ob Verbraucherinnen undVerbraucher in der Zukunft ihrer Zahlungspflicht nach-kommen oder eben nicht.Die beiden Themen – Daten sammeln und den Men-schen berechnen – sind im Rahmen der Debatte um BigData die beiden zentralen Themen. „Wissen ist Macht,und Wissen über Menschen bedeutet Macht über dieseMenschen“, schreibt Juli Zeh. Da stellt sich die Frage,wie viel Macht wir Auskunfteien über Bürgerinnen undBürger heute und in Zukunft einräumen wollen. DieseMacht der Auskunfteien bekommen die Bürgerinnenund Bürger immer häufiger zu spüren, wenn sie sich dieFrage stellen: Bekomme ich einen Kredit zum Bau einesEigenheimes? Bekomme ich einen Kredit, um michselbstständig zu machen? Klappt ein Kauf auf Rech-nung? Oder: Kann ich einen Handyvertrag abschließen?Die Auskunfteien sind insbesondere im wachsendenInternethandel stets präsent. Sie sind die ständigen Be-obachter unserer wirtschaftlichen Aktivitäten. Bei vielendieser Aktivitäten ist die Auskunft der Schufa oder eineranderen Auskunftei heutzutage obligatorisch. Ohne Aus-kunft kein Vertrag. Jährlich werden 250 bis 300 Millio-nen Auskünfte erteilt – mehr als 1 Million Auskünfte anjedem Werktag.Seit der Novelle des Bundesdatenschutzgesetzes imJahr 2009 unterliegen Auskunfteien bestimmten gesetz-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10279
Metin Hakverdi
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lichen Regelungen. Diese wurden nun im Rahmen einerStudie evaluiert. Die Ergebnisse wurden vorgestern, amMittwoch dieser Woche, im Rahmen eines Symposiumsbreit diskutiert. Aus der Evaluation ergeben sich fürmich folgende Fragen für die weitere Rechtsentwick-lung:Erstens. Wie wird die Datenqualität bei Auskunfteiengesichert? In einer repräsentativ durchgeführten Befra-gung geben knapp 25 Prozent der Menschen an, dass diezugrundeliegenden Daten qualitativ mangelhaft seien.Mit anderen Worten: Die gespeicherten Informationenwaren falsch – 25 Prozent!Zweitens. Problematisch ist auch die Verwendung derWohngegend bei der Ermittlung der Kreditwürdigkeit ei-nes Menschen, das sogenannte Geo-Scoring. Eine Rich-terin oder ein Krankenpfleger, die bzw. der in meinemWahlkreis in Wilhelmsburg, Neuwiedenthal oder Berge-dorf-West lebt, ist nach diesem Verfahren weniger kre-ditwürdig als eine Richterin oder ein Krankenpfleger, diebzw. der in Hamburg-Blankenese wohnt. Das klingt ab-surd, ist aber gelebte Praxis beim Scoring.
Dieses Geo-Scoring ist heute bei 50 Prozent der Aus-künfte das ausschlaggebende Kriterium.Drittens. Problematisch ist ferner der Umgang mitMenschen, die durch ein Insolvenzverfahren eine Rest-schuldbefreiung erlangt haben. Der Gesetzgeber ver-spricht diesen Menschen die Chance auf einen wirt-schaftlichen Neustart. Dieses Versprechen desGesetzgebers wird aber von den Auskunfteien versperrt,da Auskunfteien trotz Restschuldbefreiung die histori-schen Daten bei der Ermittlung der Kreditwürdigkeitweiterhin berücksichtigen.
Hier müssen wir etwas tun, wenn wir es mit den Zielenunseres privaten Insolvenzverfahrens ernst meinen.Viertens. Ein weiteres großes Problem ist die Aus-kunftspraxis der Dateien. Die Menschen empfindendiese als unzureichend und nicht nachvollziehbar. Wirmüssen sicherstellen, dass Bürgerinnen und Bürger eineverständliche Auskunft über ihre Einstufung bei einerAuskunftei bekommen. Wir müssen auch sicherstellen,dass die Bürgerinnen und Bürger wirksame Rechte be-kommen, um unberechtigte Eintragungen zu löschen.Fünftens und letztens. Alter, Geschlecht und Religiondürfen bei der Beurteilung der Kreditwürdigkeit auch inZukunft keine Rolle spielen. Auch sensible Daten wieGesundheitsdaten müssen von Gesetzes wegen für dieAbleitung von Scores verboten bleiben.Was ist aber mit Daten aus den sozialen Netzwerken,die mit intelligenten Algorithmen ausgewertet werdenkönnen? Die Firma Kreditech macht diese Daten zurGrundlage ihrer Bewertung, zurzeit noch außerhalbDeutschlands. Ich bin besorgt, dass die rechtlichen Mau-ern, die das deutsche Recht kennt, durch die europäischeDatenschutz-Grundverordnung eingerissen werdenkönnten. Wichtiger als Änderungen des deutschen Da-tenschutzrechts ist für mich die Rechtsentwicklung aufder europäischen Ebene.
Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass die ho-hen Standards, die das deutsche Recht bereits heutekennt und in Zukunft noch weiterentwickeln wird, nichtdurch die Datenschutz-Grundverordnung ausgehebeltwerden!
Die schärfsten nationalen Gesetze nützen nichts, wenndie Hürden einer harmonisierten Datenschutz-Grundver-ordnung diese nicht kennen.Wir sind gut beraten, unsere aktuelle Aufmerksamkeitauf Europa, auf Brüssel zu richten. Die europarechtli-chen Auswirkungen sind in dem von den Grünen vorge-legten Gesetzentwurf leider nicht hinreichend berück-sichtigt. Dieses wichtige Thema verdient aber, dass wiruns genug Zeit nehmen, um dann eine Gesetzesänderungauf den Weg zu bringen. Ich freue mich deshalb auf einevertiefte Debatte.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/4864 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPDwünschen Federführung beim Innenausschuss, die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführungbeim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz.Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Feder-führung beim Ausschuss für Recht und Verbraucher-schutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag?– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Über-weisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder-führung beim Innenausschuss. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit denStimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktiongegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re-form des Wohngeldrechts und zur Änderungdes Wohnraumförderungsgesetzes
Drucksache 18/4897
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10280 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Vizepräsidentin Petra Pau
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-mentarische Staatssekretär Florian Pronold.Fl
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit 2008 sind in den Städten Berlin, Ham-
burg, Frankfurt und München die Warmmieten zwischen
25 und 48 Prozent angestiegen. In ganz Deutschland ha-
ben sich die durchschnittlichen Warmmieten seit diesem
Zeitraum im Durchschnitt um 11 Prozent erhöht. Seit
2008 ist das Wohngeld nicht mehr angepasst worden.
Das bedeutet, dass immer mehr Menschen in die Sozial-
hilfe fallen und nicht mehr in die Berechtigung von
Wohngeld kommen. Dadurch geraten viele Familien und
viele Ältere in eine schwierige Situation.
Unser Ziel ist, dass durch diese Wohngeldreform ins-
besondere Menschen mit geringen, mit mittleren Ein-
kommen, die oft hart arbeiten, sich aber mit dem niedri-
gen Einkommen die Miete nicht mehr leisten können, in
ihrer angestammten Wohnung bleiben können.
Deswegen ist es an der Zeit, dass wir hier nach sechs
Jahren endlich die notwendige Anpassung vornehmen
und die Entwicklung der Warmmieten berücksichtigen.
Insgesamt werden zukünftig 870 000 Haushalte An-
spruch auf Wohngeld haben. 324 000 Haushalte werden
erstmals oder wieder diesen Anspruch haben. Besonders
wichtig finde ich, dass wir damit insgesamt
90 000 Haushalte aus dem Bereich der Sozialhilfe holen.
Es ist auch eine Frage der Würde, dass Menschen, die
hart arbeiten, nicht aufs Amt gehen müssen, sondern sich
Wohnung und Leben leisten können.
Die wichtigsten Stufen, die wir bei der Wohngeldre-
form einbauen, sind die Anpassung der Tabellenwerte an
die Einkommens- und Mietentwicklung – sie erhöhen
sich durchschnittlich um 39 Prozent – und die Anpas-
sung der Miethöchstbeträge, um auf die unterschiedli-
chen Entwicklungen in unserem Land zu reagieren. In
ländlichen Bereichen und in manchen Städten entwi-
ckeln sich die Mieten natürlich ganz anders als in den
Hotspots. Deswegen erfolgt insbesondere auch eine An-
passung der Mietstufen.
Die Zahlen, die wir jetzt erst vom Statistischen Bun-
desamt bekommen haben und die wir im Laufe der Bera-
tungen noch einbringen werden, zeigen, dass es hier ge-
rade in den letzten Jahren dramatische Entwicklungen
gegeben hat. Es ist vielleicht ganz positiv, dass sich zu-
künftig weitere Großstädte in der höchsten Mietstufe be-
finden werden; Köln, Mainz und Düsseldorf kommen
neu hinzu. Insgesamt bedeutet dies, dass wir passge-
nauer darauf reagieren, was in den einzelnen Regionen
los ist. Das ist auch eine ganz wichtige Voraussetzung.
Wir haben auch darauf geachtet, dass die Warmmie-
ten stärker abgebildet werden. Dies geht in die Tabellen-
werte ein. Daneben gab es auch eine umfangreiche De-
batte über die Heizkostenkomponente. Bund und Länder
geben zukünftig jedes Jahr insgesamt über 700 Millio-
nen Euro zusätzlich für das Wohngeld aus. Mit diesem
Wohngeld leisten wir einen Beitrag für bezahlbares
Wohnen in Deutschland.
Die Anpassung des Wohngeldes passt mit all den an-
deren Maßnahmen zusammen, die wir in der Großen
Koalition in diesem Zusammenhang beschlossen haben:
mit der Mietpreisbremse, mit den abgesenkten Mietkap-
pungsgrenzen in angespannten Wohnungsmärkten, mit
dem, was wir im Bündnis für bezahlbares Wohnen und
Bauen machen, und mit den 120 Millionen Euro, die wir
gestern für studentisches Wohnen beschlossen haben.
Wir bewahren die Heimat der Menschen, indem wir da-
für sorgen, dass sie in ihrer angestammten Wohnung
bleiben können. Wenn das Einkommen nicht ausreicht,
unterstützen wir sie ein Stück weit.
Was den Gesetzentwurf angeht, ist dies heute ein gu-
ter Tag für 870 000 Haushalte in der Bundesrepublik
Deutschland.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Heidrun Bluhm für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Ich denke, es ist gut, dass sich die Bundesregie-rung nach sehr langer Abstinenz endlich wieder einmaldem Thema Wohngeld politisch zuwendet.
Offenbar war die Dringlichkeit – Herr Pronold hat dasam Anfang seiner Ausführungen eben ja auch gesagt –nicht mehr zu ignorieren. Jetzt liegt also ein Gesetzent-wurf zur Reform des Wohngeldes vor, der tatsächlichden Anspruch einer Reform hat. Ich denke aber, ichwerde hier in meiner Analyse widerlegen, dass es sichtatsächlich um eine Reform handelt.
Der Entwurf der Bundesregierung beginnt mit folgen-dem Einleitungssatz:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10281
Heidrun Bluhm
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Das Wohngeld muss regelmäßig hinsichtlich derEntwicklung der Einkommen und der Wohnkostenüberprüft werden, um die Leistungsfähigkeit als so-zialpolitisches Instrument der Wohnungspolitik zuerhalten.Im Referentenentwurf hieß es aber noch: Das Wohngeldmuss regelmäßig angepasst werden.
Dort steht nur ein anderes Wort; aber ich finde, das istsehr verräterisch. Ich würde mich freuen, wenn Vertreterder Koalition, die nach mir sprechen werden, dazu viel-leicht etwas sagen würden. Es reicht nämlich nicht, nurzu überprüfen, wie es jetzt im Gesetzentwurf steht.
Das besagt überhaupt nichts.
Das Wohngeld muss sich den sich ändernden Lebens-umständen regelmäßig anpassen. „Regelmäßig“ musseben bedeuten, dass in Echtzeit und nicht nur alle fünfoder sechs Jahre – je nach den Farben der Koalition oderder Kassenlage – überprüft wird. „Anpassen“ muss be-deuten, dass man sich an den tatsächlich aktuellenWohn- und Lebenshaltungskosten der betroffenen Men-schen ausrichtet.Die Menschen, die Wohngeld beziehen müssen, sindaus Sicht der Linken keine Almosenempfänger, sondernsie haben im Sozialstaat einen Anspruch darauf, in derGesellschaft sozialpolitisch verantwortlich mitgenom-men zu werden, und zwar verlässlich und wirksam.
Dass dies seit 2009 nicht mehr passiert ist, hat dazugeführt, dass die dem Wohngeld zugedachte sozialpoliti-sche Wirkung immer weiter abgeschmolzen ist. Immermehr wohngeldbeziehende Haushalte sind in Armut ge-raten – das sagt auch der Paritätische Wohlfahrtsverbandin einem Bericht von 2015 –, weil sie einen immer grö-ßer werdenden Anteil ihres Einkommens für Wohnkos-ten aufwenden mussten. Im Gesetzentwurf heißt es, dasssich die Wohnkostenbelastung armutsgefährdeter Haus-halte innerhalb von nur drei Jahren, von 2010 bis 2013,von 35,1 Prozent auf 39,4 Prozent erhöht hat. Die Ent-wicklung ist seitdem nicht stehen geblieben. Wir habenjetzt Mitte 2015; es ist schon wieder einige Zeit ins Landgegangen.Die Wohngelderhöhung 2016 bewirkt lediglich – sosteht es auch im Gesetzentwurf selbst – eine Wiederher-stellung des Wohngeldleistungsniveaus von 2009. Einewirkliche Wohngeldreform müsste aber progressiv da-rauf hinwirken, dass wohngeldbeziehende Haushaltejetzt und künftig nicht mehr als 30 Prozent ihres Haus-haltsnettoeinkommens für Wohnkosten aufwenden müs-sen.
Das ist im Übrigen unsere zentrale Forderung, die wirauch nicht müde werden immer wieder hier vorzutragen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es mag ja sein, dassder Gesetzentwurf gut gemeint ist; aber er ist rückwärts-gewandt, er macht eine Rolle rückwärts. Der Hauptman-gel dieses Gesetzesvorhabens ist nämlich: Es arbeitet le-diglich in der Vergangenheit Versäumtes auf und gleichtes aus, bietet aber keine tragfähige Option für die Zu-kunft, weil eine Dynamisierung des Wohngeldes, wie siedie Linke seit langem fordert, nicht vorgesehen ist.Der nächste Mangel: Bei Inkrafttreten der Wohngeld-reform zum 1. Januar 2016 sind die vorgesehenen Miet-stufen schon wieder einige Jahre alt. Die Datenbasis, aufder dieses Gesetz beruht, stammt aus 2013. Das bedeutetaber auch: Wenn einigen Wohngeldempfängern durchdie Wohngelderhöhung nominell mehr Geld für das Be-streiten ihrer Wohnkosten gezahlt wird, dann wird diesesGeld nur an die Vermieter und die Energieversorgerdurchgereicht. Die Erhöhung hält also die Armutsspiralenur für einen kurzen Moment an; danach setzt sich dieAbwärtsbewegung fort, und das bis 2020. Das ist mitdiesem Gesetz von vornherein so angelegt; denn für2016 will der Bund insgesamt noch 358 Millionen EuroWohngeld bereitstellen und diesen Betrag dann bis 2019schrittweise auf 300 Millionen Euro absenken. Ich fragemich, mit welcher Wirtschafts-, Preis- oder auch Ein-kommensprognose Sie diese Absenkung begründen wol-len.2019 soll erneut geprüft werden. Wenn wir alle dannfeststellen – ich sage Ihnen heute schon, dass es so kom-men wird –, dass wiederum ein Missverhältnis zwischenWohnkosten und Wohngeld, wie wir es heute beklagen,besteht, dann werden wir nach einer Überprüfung wiederein Jahr lang brauchen, bis wir zu einer solchen Novellekommen, um die Abwärtsspirale beim Leistungsniveaudes Wohngeldes für die nächsten fünf Jahre aufzuhalten.Das ist doch nicht wirklich fair; das ist keine gute So-zialpolitik.
Ein weiterer Mangel dieser Gesetzesnovelle ist dasFehlen sowohl einer Heizkosten- als auch einer Klima-komponente. Zwar gibt der Entwurf vor, die Kosten derWarmmiete zu berücksichtigen, aber er tut es nicht wirk-lich; denn die Heizkosten haben einen anderen Verlaufgenommen als die allgemeine Preis- und Mietenentwick-lung. Wir müssen endlich zugeben, dass der DMB rechthat, wenn er eine Klimakomponente fordert.Meine Damen und Herren, meine fünf Minuten Rede-zeit sind schon wieder um. Ich muss also zum Endekommen. Insofern kündige ich Ihnen an, dass wir imLaufe des Gesetzgebungsverfahrens eine eigene Vorlagezur sozialpolitisch gerechten Wohnraumversorgung und-finanzierung mit einer völlig anderen Systematik ein-bringen werden; denn dieses Gesetz ist leider keine Re-form.
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10282 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Volkmar
Vogel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Gäste! Wohnen ist für uns eine so-ziale Frage. Ich glaube, wir in der Großen Koalition sinduns der Verpflichtung bewusst, auch in Zukunft dafür zusorgen, dass die Menschen in unserem Land eine men-schenwürdige und bezahlbare Wohnung haben.
Da ist das Wohngeld sicherlich ein geeignetes Mittel.Aber ich sage bewusst: Es ist ein geeignetes Mittel undnicht das Allheilmittel. Denn machen wir uns nichts vor:Das Wichtigste an dieser Stelle sind zum einen vernünf-tige Löhne und Renten und zum anderen bezahlbarerWohnraum für die Menschen.Neben dem Wohngeld ist ein weiterer wichtigerPunkt, dass auch in Zukunft, wie gerade gesagt, bezahl-barer Wohnraum zur Verfügung steht. Dabei stehen ausmeiner Sicht vier Dinge im Mittelpunkt: Wir müssenweiterhin die Voraussetzungen dafür schaffen, dassWohnungsbau möglichst einfach durchführbar ist. Wirmüssen die Wohnungsbaukosten stabilisieren, damit sienicht explodieren und auf die Mieten umgeschlagen wer-den. Wir müssen zielgerichtet den Wohnungsbau för-dern. Wir müssen – auch das ist richtig – soziale Härtenabmildern oder helfen, sie zu vermeiden.Wohnungsbau zu ermöglichen, ist eine Gemein-schaftsaufgabe, an der Bauherren und Investoren ge-nauso beteiligt sind wie wir als Bund, aber natürlichauch die Länder und Gemeinden. Ich glaube, es ist einrichtiger Ansatz, dass wir mit dem Bündnis für bezahl-bares Wohnen und Bauen alle Akteure an einen Tischgebracht haben und dass wir, wenn die entsprechendenErgebnisse im Bündnis vorliegen, dafür sorgen, dassdiese von allen betroffenen Ressorts der Bundesregie-rung umgesetzt werden, also nicht nur vom Ressort fürBauen und Umwelt, sondern auch von den Ressorts fürRecht, Wirtschaft und Finanzen.Wir wollen die Wohnungsbaukosten stabilisieren. Esgibt die Baukostensenkungskommission, die sich mitden Standards beschäftigt und die auch die ordnungs-rechtlichen Vorgaben auf den Prüfstand stellt. Am Endedes Tages sollten wir ein Moratorium dahin gehend ver-einbaren, dass wir in Bezug auf das Ordnungsrecht keineweiteren nicht zwingend notwendigen Verschärfungenvornehmen, sondern darauf achten, dass die Kosten ins-gesamt im Rahmen bleiben.
Wir wollen den Wohnungsbau fördern. Wir haben inder Großen Koalition dafür gesorgt, dass die Mittel fürdie Städtebauförderung auf 700 Millionen Euro aufge-stockt werden. Das ist ein großer Erfolg. Auch der Tagder Städtebauförderung hat bundesweit gezeigt, dass wirdamit auf dem richtigen Weg sind.
Natürlich brauchen wir hier die Zusammenarbeit zwi-schen Bund und Ländern. Ich muss an dieser Stelle deut-lich sagen: Jeder Euro für die soziale Wohnraumförde-rung, den der Bund zur Verfügung stellt, muss in denLändern eins zu eins in die soziale Wohnraumförderungfließen. Denn das Problem, vor dem wir stehen, ist, dasswir nicht genügend sozialen Wohnraum zur Verfügunghaben, was die Situation insgesamt verschärft.Aber wir brauchen auch in anderen Bereichen weiter-hin Förderinstrumente, die dazu beitragen, die Kosten inden Griff zu bekommen. Ich bin nach wie vor der Mei-nung, dass wir in Regionen, wo die Mietpreisbremsewirksam wird oder wo Wohnungsmangel herrscht, übereine befristete steuerliche Förderung reden sollten, be-grenzt auf die jeweilige Region und natürlich auch zeit-lich begrenzt. Das ist ein Thema, mit dem wir uns aus-einandersetzen müssen. Ebenso sollten wir an die Leutemit kleinem Geldbeutel denken, wenn es darum geht, ih-nen zu ermöglichen, Geld für Wohneigentum anzuspa-ren. Hier ist meiner Meinung nach die Anpassung derWohnungsbauprämien und der Arbeitnehmersparzulageein Thema, das auf die Tagesordnung gehört.Wir haben 2 Milliarden Euro für das CO2-Gebäudesa-nierungsprogramm bereitgestellt. Auch das hilft, dieKosten im Griff zu behalten, wenngleich ich ein biss-chen traurig bin, dass es zwischen Bund und Ländernkeine Vereinbarung zu den steuerlichen Abschreibungs-möglichkeiten für energetische Sanierung gibt. Ichglaube, das ist die Aufgabe von uns allen. Denn auch dieGrünen und die SPD sind in den Ländern in Regierungs-verantwortung. Wir sollten schauen, dass wir hier mitden Ländern übereinkommen.
Aber nichtsdestotrotz: Am Ende des Tages wird esimmer soziale Härten geben, die wir abmildern müssen.
Da ist das Wohngeld ein geeignetes Instrument. Natür-lich müssen die Länder für den sozialen Wohnungsbausorgen; das ist ihre Aufgabe. Wenn wir über das Wohn-geldgesetz reden, sollten wir § 39 beachten. Danach hatdie Bundesregierung die Pflicht zur Vorlage eines Be-richts über die Entwicklung des Wohngeldes und derMieten. Wir sollten diesen § 39 ergänzen um eine Be-richtspflicht der Länder gegenüber dem Bund, was ihreAktivitäten im Bereich Wohnungsbau, insbesondere so-zialer Wohnungsbau, betrifft.Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der vor-liegenden Novelle leisten wir einen wichtigen Beitrag
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10283
Volkmar Vogel
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dazu, dass die Menschen weiterhin sozial sicher in ihrenWohnungen leben können. Das hilft insbesondere ein-kommensschwachen Haushalten, vor allen Dingen Fa-milien mit wenig Geld. Deswegen ist es richtig, dass wirdiese Novelle jetzt auf den Weg bringen. Ich bitte Sie,mit dazu beizutragen, dass wir in der Beratung unterDurchführung einer Anhörung zügig vorankommen unddann die Novelle verabschieden, damit ab dem Jahre2016 die notwendigen finanziellen Mittel für die Men-schen zur Verfügung stehen können.
Ich glaube, das ist eine gute Botschaft hier am Freitagvor Pfingsten. Deswegen lassen Sie mich Ihnen eineschöne Pfingstzeit wünschen und dass auch möglichstjeder etwas vom Heiligen Geist abbekommt.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Christian Kühn für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Danke. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrterStaatssekretär Florian Pronold, Frau MinisterinHendricks hat hier in der Regierungsbefragung im Märzzum Wohngeld gesagt: Wohnen ist ein Grundbedürfnis,und dieses Grundbedürfnis muss für alle Menschen inDeutschland bezahlbar sein.
Das ist ein toller Satz. Ich glaube, in diesem Parlamentwird dem jede Fraktion zustimmen. Aber ohne eine Dy-namisierung des Wohngeldes, ohne eine Wiedereinfüh-rung des Heizkostenzuschusses und ohne eine Klima-komponente im Wohngeld bleiben dies leider leereWorte. Sie lösen das Versprechen des bezahlbaren Woh-nens in Deutschland ohne diese Punkte beim Wohngeldeben nicht ein. Ihre Wohngeldnovelle bleibt deswegeneinfach unterambitioniert, und sie ist, wie ich finde, fürSozialdemokraten ein bisschen kraftlos.
Herr Pronold, Sie haben gesagt, dass es eine Frage derWürde ist – vielleicht könnten die Kollegen der SPD zu-hören –, dass Menschen nicht mehr in die Grundsiche-rung abrutschen. Die Wohngeldnovelle, die wir heutehier beraten, ist doch eine Rutschbahn in die Grund-sicherung. Ohne Dynamisierung nehmen Sie Tausendevon Menschen in den nächsten Jahren mit auf dieseRutschbahn. Sie werden aus dem Wohngeld langsam he-rausfallen und wieder in die Grundsicherung abrutschen.Ich glaube, es ist falsch, dass Sie den großen Konstruk-tionsfehler, dass das Wohngeld nicht dynamisiert ist,nicht reparieren. Dies hat, finde ich, mit sozialer Gerech-tigkeit, mit einer Politik, die ich mir für das Wohngeldwünsche, nämlich mit einer strukturellen Stärkung desWohngeldes, überhaupt nichts zu tun.
Dass Frau Hendricks in der Regierungsbefragung fürdiese Politik noch Verständnis äußert, kann ich mir nurdamit erklären, dass sie sehr lange Finanzpolitikerin warund die Wohnungspolitik bei ihr anscheinend noch nichtso viel Aufmerksamkeit gefunden hat.
Es ist bereits gesagt worden: Die letzte Anpassungwar 2009. Sechs Jahre lang gab es keine Anpassung. Ichfinde, das ist ein Skandal angesichts dessen, was wir aufden Wohnungsmärkten in Deutschland in den letztenJahren erlebt haben. Aber es gab nicht nur keine Anpas-sung in den letzten sechs Jahren, sondern es gab unterSchwarz-Gelb eine eiskalte Kürzung, indem der Heiz-kostenzuschuss gestrichen wurde. Wenn ich mir die Ver-werfungen auf den Wohnungsmärkten in Deutschlandanschaue, wenn ich mir anschaue, dass die Bruttowarm-mieten seitdem im Durchschnitt um 9 Prozent gestiegensind, dann glaube ich, dass dieser Gesetzentwurf völligunterambitioniert ist. Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der SPD, führen das Wohngeld letztlich auf demNiveau von Schwarz-Gelb weiter.
Ich glaube, damit begegnen Sie den Herausforderungen,die wir heute auf den Wohnungsmärkten haben – HerrPronold hat sie beschrieben –, nicht. Sie haben sie nichtim Blick.
– Stellen Sie einfach eine Zwischenfrage, Herr Vogel,dann nehme ich gerne dazu Stellung.Ohne eine Dynamisierung – ich blicke jetzt einmal indie Zukunft – wird die nächste Wohngeldanpassung,wenn wir diesen Rhythmus beibehalten, vielleicht 2021sein. Bis dahin werden die Wohnkosten und das Wohn-geld weiter auseinanderdriften. Das kann nicht Anliegeneiner sozialen Wohnungspolitik sein. Angesichts IhrerWohnungspolitik muss ich sagen, dass Sie bei den sozia-len Fragen des Wohnens versagen.
Dass Sie trotz sprudelnder Steuereinnahmen denHeizkostenzuschuss angesichts gestiegener Energie-kosten in den letzten Jahren nicht wieder einführen,
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Christian Kühn
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finde ich dramatisch. Das hätten Sie tun können. DieseSpitze der sozialen Härte hätten Sie beseitigen können.Das haben Sie nicht gemacht. Das finde ich sehr traurig.Dass Sie aber auch nicht die Kraft haben, einen inno-vativen Gedanken ins Gesetz zu bringen, zeigt dieseWohngeldnovelle. Die Klimakomponente fürs Wohn-geld haben Sie in Ihren Nationalen Aktionsplan ge-schrieben. Diese finden Sie alle irgendwie gut, aber hierlegen Sie einen Gesetzentwurf vor, in dem sie nicht ent-halten ist. Dies wäre ein innovativer Gedanke, wie manKlimaschutz und Bauen miteinander verzahnen kann.Ich bin es leid, Herr Pronold, dass seitens des Minis-teriums immer nur darüber geredet wird, wie man Um-weltpolitik und Baupolitik bzw. Klimaschutz und Bauenmiteinander verbinden kann. Jetzt hätten Sie das umset-zen können, aber Sie haben es nicht getan. Damit zeigenSie, dass Sie es auch gar nicht können, weder beim Kli-maschutz noch mit einer innovativen Baupolitik.
Wohnen ist ein Grundbedürfnis, das für alle Men-schen bezahlbar sein muss. Wenn Sie es wirklich ernstmeinen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unionund der SPD, dann lassen Sie uns in den Beratungen dieFehler dieser Wohngeldnovelle korrigieren. Lassen Sieuns gemeinsam einen Heizkostenzuschuss einführen.Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir bei der Klimakom-ponente vorankommen, und lassen Sie uns den großenKonstruktionsfehler des Wohngelds beheben, indem wirdas Wohngeld in Zukunft dynamisieren, es dadurch fitmachen und dafür sorgen, dass alle Menschen inDeutschland bezahlbaren Wohnraum haben können. Dassollte kein leeres Versprechen bleiben, sondern Realitätwerden.Danke.
Das Wort hat die Kollegin Ulli Nissen für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Lieber Herr Kühn, es ist immer toll, ausder Opposition heraus Anträge zu stellen und Forderun-gen zu erheben. Was machen die wunderbaren Grünen inHessen? Haben sie mit der CDU zusammen die Kündi-gungssperrfrist verlängert? Leider nein. In der Opposi-tion lassen sich leicht schöne Forderungen stellen.
In den letzten Jahren sind – das ist schon erwähntworden – in vielen Städten die Mieten kräftig gestiegen,und die hohen Heizkosten haben zu einer starken Belas-tung vieler Mieterhaushalte geführt. Wie und wo wirwohnen, bestimmt einen wichtigen Teil unseres Alltags,unseres Umfelds und damit auch unsere Lebensqualität.Wir wollen, dass unsere Städte lebenswert bleiben unddass in den Quartieren nicht nur gut oder schlecht ver-dienende Personen wohnen, sondern dass sie alle eineChance haben, dort zu leben.Die hohen Wohnkosten haben in vielen Fällen dafürgesorgt, dass Menschen ihr angestammtes soziales Um-feld verlassen mussten. Davon waren insbesondereRentnerinnen und Rentner betroffen.„Bezahlbares Wohnen“ ist das Stichwort, unter demsich viele unserer Vorhaben zusammenfassen lassen. Umdies zu ermöglichen, muss man an vielen Stellschraubenansetzen. Aber leider kann der Bundestag nicht an allendrehen.Ganz wichtig ist – darin sind wir uns sicherlich alleeinig –, dass mehr bezahlbare Wohnungen gebaut wer-den. Wir wissen aber auch, dass der Bund in diesemPunkt wenig machen kann. Der Föderalismus setzt unsleider enge Grenzen.Die Gründe für Mietsteigerungen sind vielfältig. Ne-ben knappem Wohnraum tragen auch Entmietungsversu-che von Miethaien, wie wir es gerade in Frankfurt in derWingertstraße 21 oder ganz aktuell – darüber ist heuteberichtet worden – in der Keplerstraße erleben, dazu bei.Ich danke der Nachbarschaftsinitiative Nordend-Bornheim-Ostend, die sich intensiv gegen Vertreibungenwehrt. Sie haben meine volle Unterstützung.
Heute geht es um eine Stellschraube, an der wir alsBund drehen können: das Wohngeld. Die letzte Wohn-geldreform trat am 1. Januar 2009 in Kraft. Leider ist un-ter der Regierungszeit von CDU/CSU und FDP keineAnpassung erfolgt. Deshalb ist es gut, dass wir jetzt un-ter Rot-Schwarz die Wohngeldreform auf den Weg brin-gen, eine Reform, auf die die Menschen schon lange ge-wartet haben.Ich freue mich über die Berücksichtigung der Brutto-warmmiete und die Neufestsetzung der Mietstufen, wo-bei wir in den höheren Bereichen eine überproportionaleAnhebung vorgenommen haben. Damit wurde der starkeAnstieg der Mieten in den betroffenen Städten mit be-sonders hohem Mietniveau besonders berücksichtigt.Als Frankfurter Bundestagsabgeordnete kenne ich dieseProblematik vor Ort sehr genau.Wichtig ist aber auch – das wurde bisher noch nichtangesprochen –: Wir müssen die einkommensschwachenHaushalte darüber informieren, dass sie Wohngeldan-sprüche haben. Lassen Sie uns alle daran arbeiten.Das Wohngeld kann seine Aufgabe, ein angemesse-nes, familiengerechtes Wohnen sicherzustellen, nur dannerfüllen, wenn die Rahmenbedingungen für die Berech-nung des Wohngelds öfter angepasst werden. Das habendie Grünen und die Linken angesprochen, und darin binich ganz auf Ihrer Seite. Ich gehe aber davon aus, dassmeine lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
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Ulli Nissen
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CSU intensiv daran mitarbeiten. Denn auch ihnen liegendie Menschen sehr am Herzen.
Mein Dank gilt dem Ministerium. Ihnen allen dankeich für die Zusammenarbeit, und auch von mir: SchönePfingsttage! Alles Gute!
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Jörrißen für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am 18. März dieses Jahres hat unsere Bundesregierungdie Novelle für die Anpassung des Wohngeldes be-schlossen. Für meine Fraktion begrüße ich dies sehr. Mitdiesem Gesetzentwurf erneuern wir einen der zentralenBausteine des bezahlbaren Wohnens, das der GroßenKoalition sehr am Herzen liegt.Seit 1971, als das Gesetz das erste Mal in Kraft trat,sorgt es dafür, dass die Schwächsten unserer Gesell-schaft bei ihrem Lebensunterhalt unterstützt werden undnicht durch steigende Wohnkosten zu einem Umzug ge-zwungen werden. Damit erhält das Gesetz die sozialenGemeinschaften, die unsere Gesellschaft so stark ma-chen.
Aufgrund sich verändernder Wohnungsmärkte musstedieses Gesetz in den letzten 45 Jahren immer wieder an-gepasst und auf die Höhe der Zeit gebracht werden.Auch heute haben wir genau dies wieder im Sinn. Nachder letzten Änderung 2009 bedarf es einer erneuten An-passung an die Mieten- und Einkommensentwicklung,zum Wohle der Menschen in unserem Land.
Die Wohngeldnovelle wird ab 2016 fast 900 000Haushalte effektiv unterstützen. Der Staatssekretär hatdie Zahlen gerade schon genannt. Darunter sind 324 000Antragsberechtigte, die durch diese Reform erstmalsoder wieder einen Anspruch erhalten.
90 000 Haushalte, die heute nur Grundsicherung be-ziehen, werden Wohngeld erhalten. Bei vielen anderenwerden wir die Haushaltsbudgets entlasten und so dieKaufkraft steigern. Ein Zweipersonenhaushalt wirddurchschnittlich um über 70 Euro monatlich entlastetwerden.
Die Novelle sorgt aber nicht nur für eine allgemeineErhöhung des Wohngeldes, sie geht vor allem auf die re-gionalen Unterschiede im Wohnungsmarkt ein. Wir allewissen, dass die Mieten in unserem Land nicht überall ingleichem Maße steigen. In meiner Heimat, in Hamm, istdie Zunahme der Wohnkosten nur gering, aber in einigenBallungsgebieten sind die Mieten für viele Familien undRentner nicht mehr bezahlbar.Uns sind diese Umstände bewusst, und deswegenwird diese Novelle insbesondere auch auf die regionalenUnterschiede eingehen. Wir sorgen damit dafür, dasssich Familien in den Städten den gleichen Wohnraumleisten können wie außerhalb der großen Ballungsräume.So verhindern wir erzwungenen Umzug.
Lassen Sie mich an einem Fallbeispiel die Wirkungder Novelle verdeutlichen: Eine Rentnerin in Hamburgzahlt eine Kaltmiete von 500 Euro, das ist nicht unrealis-tisch. Heute bezieht sie neben ihrer Rente Leistung ausder Grundsicherung. Da ihre Miete den bisherigen Miet-höchstbetrag überschreitet, hat sie keinen Anspruch aufWohngeld. Ab 2016 profitiert sie davon, dass Hamburgin eine höhere Mietenstufe gestuft wird und die Miet-höchstbeträge steigen. Sie hat zukünftig einen Wohn-geldanspruch und ist damit nicht mehr auf Grundsiche-rung angewiesen. Im Ergebnis hat sie zudem jedenMonat eine spürbare Entlastung im Portemonnaie.Oder aber wir nehmen eine Familie mit schulpflichti-gen Kindern. Das Haushaltsbudget ist knapp, da nur einElternteil arbeitet. Diese Eltern müssen sich jetzt keineGedanken mehr darüber machen, wie sie ihren Kindernerklären, dass sie ihre Freunde verlassen müssen, nurweil die Familie die Miete nicht mehr bezahlen kann.
Aber das ist nicht alles. Mit der Verbreiterung der An-tragsberechtigung für das Wohngeld entlasten wir zu-sätzlich die Kommunen bei den Ausgaben für dieGrundsicherung; denn viele, die bisher Hilfe der Grund-sicherung bezogen haben, werden nun Wohngeld erhal-ten. Damit sinken die Ausgaben unserer Städte und Ge-meinden. Auch das begrüße ich ausdrücklich.
Einen weiteren wichtigen Punkt unserer Novelle seheich im Bürokratieabbau. Wir entlasten die Bürger nichtnur finanziell, sondern sorgen gleichzeitig dafür, dassdas Beantragen des Wohngeldes einfacher wird.Ich denke, dass wir im nächsten Jahr, wenn diese No-velle in Kraft tritt, alle gemeinsam sehr stolz darauf seinkönnen, was wir erreicht haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich amEnde noch auf einen Punkt eingehen, der in der Stellung-nahme des Bundesrates von den Ländern gewünscht
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10286 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Sylvia Jörrißen
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wird, nämlich eine verbindliche, regelmäßige Überprü-fung und Anpassung des Wohngeldes. Ich denke, dassdies nicht unbedingt erforderlich ist, da der Gesetzent-wurf bereits eine Evaluierung und einen Wohngeld- undMietenbericht, der von der Bundesregierung im Jahr2019 vorgelegt werden soll, vorsieht. Aber auch wirhaben einen Wunsch an die Länder: dass sie ihrer Ver-antwortung für den geförderten Wohnungsbau nach-kommen und die hierfür zur Verfügung gestellten Kom-pensationsmittel auch zweckgebunden einsetzen.
Denn mit der Schaffung von zusätzlichem bezahlbarenWohnraum ist den Menschen am Ende mehr geholfen alsmit der Erhöhung des Wohngeldes. Vielleicht schaffenwir es ja, uns unsere Wünsche gegenseitig zu erfüllen.
Der Kollege Ulrich Hampel hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wohnen muss bezahlbar bleiben, und zwar für
alle Menschen in unserem Land. Gerade in den Bal-
lungsräumen wird es für die Menschen mit geringerem
Einkommen immer schwieriger, die stark steigenden
Mieten zu bezahlen. Mit dem Wohngeld soll verhindert
werden, dass Menschen aufgrund von Mietsteigerungen
ihre Wohnung und damit ihr angestammtes Umfeld ver-
lassen müssen und die soziale Mischung einer Stadt in
Schieflage gerät. In den vergangenen fünf Jahren ist der
Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich zurückgegan-
gen. Verantwortlich hierfür ist die schwarz-gelbe Vor-
gängerregierung, die die notwendigen Anpassungen des
Wohngeldes an die Entwicklung der Einkommen und
der Warmmieten unterlassen hat.
Mit der jetzt auf den Weg gebrachten Wohngeldreform
wird der Kreis der Anspruchsberechtigten wieder erheb-
lich ausgeweitet, und die Berechtigten erhalten auch
wieder deutlich mehr Geld.
Um dies zu erreichen, werden wir die entsprechenden
Tabellenwerte um durchschnittlich 39 Prozent erhöhen.
Damit soll neben dem Anstieg der Bruttokaltmieten und
der Einkommen auch der Anstieg der warmen Neben-
kosten, somit insgesamt der Bruttowarmmieten, berück-
sichtigt werden. Nachdem unter Schwarz-Gelb die Heiz-
kostenkomponente gestrichen wurde, werden also jetzt
die Heizkosten wieder in die Berechnung einbezogen.
Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Wohnkosten. Es
kann und darf nicht sein, dass Familien mit Kindern frie-
ren müssen, nur weil sie die Heizkosten nicht bezahlen
können.
Deshalb ist die Betrachtung der Bruttowarmmiete bei
der Berechnung des Wohngeldes genau der richtige An-
satz. Der Gesetzentwurf sieht außerdem eine regionale
Staffelung der Miethöchstbeträge vor, sodass die Men-
schen in Regionen mit stark steigenden Mieten entspre-
chend stärker vom Wohngeld profitieren. Damit soll bei-
spielsweise einkommensschwächeren Familien in
unserem Land ermöglicht werden, überall unabhängig
vom jeweiligen Mietniveau etwa gleich große Wohnun-
gen anmieten zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorgeleg-
ten Gesetzentwurf wird die Leistungsfähigkeit des
Wohngeldes deutlich erhöht. Die Stärkung des Wohngel-
des ist gerade in den Ballungsgebieten auch städte-
politisch von großer Bedeutung, um der räumlichen
Spaltung der sozialen Gruppen in einer Stadt entgegen-
zuwirken. Gemeinsam mit der Mietpreisbremse trägt das
Wohngeld dazu bei, dass die Menschen in ihrem Kiez
wohnen bleiben können und eben nicht verdrängt wer-
den. Wir helfen mit der Erhöhung des Wohngeldes
vielen Haushalten mit Einkünften knapp oberhalb des
Existenzminimums, damit diese eben nicht in die Grund-
sicherung abrutschen.
Union und SPD haben im Koalitionsvertrag verein-
bart, die Leistungen des Wohngeldes zu verbessern. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir dieses Vor-
haben um und unterstützen damit knapp 870 000 Haus-
halte in unserem Land. Ich danke Frau Bundesministerin
Barbara Hendricks und ihrem Hause für den vorgelegten
Gesetzentwurf und freue mich auf die parlamentarischen
Beratungen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche Ihnen frohe Pfingsten und ein herzliches Glückauf.
Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kol-leginnen und Kollegen! Frei nach Karl Valentin – es istschon vieles gesagt worden, aber noch nicht von jedem –möchte auch ich die Entscheidungen zum Wohngeld lo-ben. Wenn wir über das Wohngeld und eine Reform desWohngeldrechts sprechen, dann ist dies auch immerAusdruck unserer gesellschaftlichen Überzeugung, fürwelche CSU und CDU gemeinsam stehen. Deutschlandist eine soziale Marktwirtschaft. Wir verfahren nach demPrinzip „Die Starken schultern die Schwachen“.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10287
Artur Auernhammer
(B)
Über 750 000 Haushalte sind derzeit in Deutschlandauf Wohngeld angewiesen. Warum ist das so? In denletzten Jahren sind die Verbraucherpreise im Durch-schnitt um 10 Prozent gestiegen, die Ausgaben fürWohnraum aber wesentlich stärker. Die Ausgaben fürdas Wohnen und die Ausgaben für Lebensmittel gingenauseinander wie eine Schere. Wer ist besonders betrof-fen? Die Bezieher kleiner Renten, Einpersonenhaus-halte, Haushalte mit kleinen Einkommen und vor allemauch unsere Bürgerinnen und Bürger in den jüngerenBundesländern.Deutschland ist ein Sozialstaat. Aus den eben genann-ten Umständen resultiert der gesellschaftliche Auftrag anden Gesetzgeber, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen.
Vom Wohngeld profitieren die Mitbürger, die ein zugeringes Einkommen erhalten. Dieser Personenkreis istangewiesen auf die Beihilfe zur Miete. Die Wirkung:Die sozialstaatliche Leistung wertet das eigene Einkom-men auf und entlastet die Familien. Der Empfänger pro-fitiert von dieser finanziellen Absicherung und erhälteine höhere soziale Sicherung. Das heißt auch immer:mehr Teilhabe an der Gesellschaft. Das ist gerade in un-serer Zeit, in der wir viel über Teilhabe an der Gesell-schaft reden, wichtig. Es darf nicht zu sozialen Konflik-ten kommen. Wir müssen für die Bürgerinnen undBürger in unserem Land ein gutes Wohnumfeld gewähr-leisten.
Ich erlaube mir, die Frage zu stellen: Wer trägt dieKosten für das Wohngeld?
Das Geld, das wir ausgeben, muss irgendwo erwirtschaf-tet werden. Das unterscheidet die Oppositionsfraktionenvon den Regierungsfraktionen: Wir müssen das Geld,das wir ausgeben, erwirtschaften. Der wirtschaftliche Er-folg Deutschlands wird von den Kaufleuten, den Land-wirten, den Krankenschwestern, den Angestellten, denFacharbeitern, den Mittelständlern, ja, von allen Men-schen hier erwirtschaftet. So fließt Geld in die Sozialkas-sen – für unser Gemeinwohl. Ich glaube, das sollten wiran dieser Stelle belohnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,ich weiß, dass Sie sehr viel mehr Geld ausgeben möch-ten. Aber wir stehen in der Verantwortung, dieses Geldzuerst zu erwirtschaften.
Es ist gesagt worden, man solle den Heizkostenzu-schuss wieder einführen. Wir haben die Heizkosten beimWohngeld berücksichtigt. Ich wundere mich, dass ge-rade Vertreter von Parteien, die Plakate gedruckt haben,auf denen stand, der Liter Benzin solle 5 D-Mark kosten,jetzt einen Heizkostenzuschuss fordern. Wir sollten aufEnergieeffizienz, also das Einsparen von Energie, Wertlegen. Auch diesen Aspekt dürfen wir hier nicht verges-sen.
Herr Staatssekretär Pronold hat angeführt, dass wirsehr unterschiedliche Wohnsituationen haben. EineWohnung in München-Schwabing oder in Berlin-Prenz-lauer Berg ist wesentlich teurer und wesentlich kostspie-liger in der Finanzierung als zum Beispiel eine Wohnungim niederbayerischen Land, im ländlichen Raum oder inden neuen Ländern. Diesen Aspekt müssen wir beimWohngeld berücksichtigen. Wir sollten ihn bei unserenpolitischen Entscheidungen ständig vor Augen haben,genauso wie die Entwicklung der ländlichen Räume.Ich danke Ihnen fürs Zuhören und wünsche Ihnenschöne Pfingsttage. Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/4897 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibtes dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung über den Standdes Ausbaus der Kindertagesbetreuung fürKinder unter drei Jahren für das Berichts-jahr 2014 und Bilanzierung des Ausbaus
Drucksache 18/4268Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitHaushaltsausschussb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten DianaGolze, Matthias W. Birkwald, NicoleGohlke, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEAusbau und Qualität in der Kinderbetreu-ung vorantreiben
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10288 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Franziska Brantner, Katja Dörner, KaiGehring, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENQualität in der frühkindlichen BildungfördernDrucksachen 18/2605, 18/1459, 18/4368Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-mentarische Staatssekretärin Caren Marks.C
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wirden Blick auf die vergangenen Jahre zurückwerfen, dannkönnen wir heute feststellen: Beim Ausbau der frühkind-lichen Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindernunter drei Jahren hat sich in Deutschland wirklich eineMenge getan. Seit dem Krippengipfel 2007 ist viel pas-siert. Die Dynamik des Ausbaus war und ist – das spürenwir überall in den Kommunen – enorm. Man stelle sichvor: Die Zahl der Betreuungsplätze hat sich seit 2008fast verdoppelt. Ich spreche hier von fast 300 000 zusätz-lichen Betreuungsplätzen in sechs Jahren. Das belegt derheute zu debattierende sogenannte fünfte KiföG-Bericht,wie ich finde, sehr eindrucksvoll. „Wind unter den Se-geln“ brachte vor allem der Rechtsanspruch, den Kinderab dem vollendeten ersten Lebensjahr haben.Dieser Ausbau war und ist ein riesengroßer Kraftaktund Erfolg, und zwar aller politischen Ebenen, des Bun-des, der Länder und vor allem der Kommunen, derTräger von Einrichtungen und natürlich auch der Fach-kräfte. Mein Dank gilt allen, die daran mitgewirkt haben.Ein ganz besonderer Dank gilt den Erzieherinnen undErziehern, die mehr Anerkennung für ihre sehr wertvolleArbeit verdienen.
Der Ausbau geht weiter. Mit dem Gesetz zur weiterenEntlastung von Ländern und Kommunen stockt derBund das bestehende Sondervermögen „Kinderbetreu-ungsausbau“ auf 1 Milliarde Euro auf. Wir erhöhen dieBundesmittel zur Deckung der Betriebskosten 2017 und2018 um jeweils 100 Millionen Euro; denn es geht nichtnur um Plätze. Es geht auch um gute Kinderbetreuung.Deshalb ist die Beteiligung an den Betriebskosten wich-tig.Eltern brauchen vor Ort ein bedarfsgerechtes Betreu-ungsangebot, ein Angebot, das ihnen hilft, Familienle-ben und Beruf miteinander zu vereinbaren. Das ist ge-rade auch für Alleinerziehende ganz besonders wichtig.Gute Kinderbetreuung bedeutet vor allem, dass die Kin-der im Mittelpunkt stehen. Sie hilft Kindern dabei, sichbestmöglich zu entwickeln und zu entfalten. Wir wollen,dass alle Kinder gleiche Chancen von Anfang an haben.Kitas haben einen durchaus großen Anteil daran. Auchwenn es schwarz auf weiß belegt ist, dass der Ausbaunicht zu einer Absenkung der Qualität beispielsweisebeim Personalschlüssel geführt hat: Es bleibt weiterhinviel zu tun, wenn wir flächendeckend hohe Qualität imSinne frühkindlicher Bildung für alle sicherstellen wol-len.
Es gibt noch Versorgungslücken, und es gibt Aufholbe-darf bei der Qualität. Und die Eltern haben eine eindeu-tige Position dazu: 88 Prozent der Eltern halten die Ver-besserung der Qualität in der Kindertagesbetreuung fürwichtig.Das aktuelle dritte Investitionsprogramm des Bundes,das wir in der Regierungskoalition aufgelegt haben, istauch ein Investitionsprogramm für Qualität. Neu ist,dass mit dem Geld Ausstattungsinvestitionen gefördertwerden können, Investitionen in Bewegungsräume, Kü-chen oder barrierefreie Plätze. Zudem fördert der Bundnicht nur Ausstattungsinvestitionen, sondern unterstütztmit wichtigen Bundesprogrammen direkt die Qualität. Inden Schwerpunktkitas „Sprache & Integration“ fördernwir die sprachliche Bildung im Kitaalltag. Im Programm„Lernort Praxis“ wird die Zusammenarbeit der Kitas mitSchulen gestärkt. Und wir haben das Förderprogramm„Betriebliche Kinderbetreuung“ neu aufgelegt, ein Pro-gramm, mit dem wir Unternehmen – von klein bis groß –dabei unterstützen, Plätze neu einzurichten. Und abnächstem Jahr wird es ein neues 100-Millionen-Euro-Programm geben, um zum Beispiel die Betreuung inRandzeiten besser abzudecken.Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, wir haben schon einiges erreichtund einiges neu angestoßen. Eine bedarfsdeckende guteKinderbetreuung in Deutschland erreichen wir nur, wennalle politischen Ebenen an einem Strang ziehen. Daherfreut es mich, dass Bundesfamilienministerin Schwesiggemeinsam mit den zuständigen Ministern der Länder,mit Vertreterinnen und Vertretern der Kommunen imNovember letzten Jahres einen Prozess zur Entwicklunggemeinsamer Qualitätsziele für die Kindertagesbetreu-ung verabredet hat. Diese Verabredung ist der Auftaktfür einen gemeinsamen Fahrplan „Kita-Qualität“.Das Thema „frühkindliche Bildung“ muss gesamtge-sellschaftlich ganz oben auf der Agenda stehen. Das isteben nicht nur ein Thema der Familienpolitik.
Frühkindliche Bildung – das kann man ohne Wenn undAber sagen – ist auch harte Standortpolitik. Viele Unter-nehmen haben zum Glück längst verstanden, dass guteund verlässliche Kinderbetreuung wichtig ist, wenn siegute Fachkräfte an sich binden wollen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10289
(C)
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Das Wort hat der Kollege Norbert Müller für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Und insbesondere möchte ich jetzt die nochzu Zehntausenden streikenden Kitaerzieherinnen undKitaerzieher grüßen, die für eine Aufwertung ihrer Be-rufe – Sozialarbeiterinnen, Sozialarbeiter, Kitaerziehe-rinnen, Kitaerzieher – eintreten, die eine hervorragendeArbeit für viel zu wenig Geld machen und die hoffent-lich auch nach Pfingsten kraftvoll weiter streiken und– wie ich auch hoffe – den Verband der kommunalen Ar-beitgeber zu einem Einlenken bewegen können. DieLinke steht an ihrer Seite.
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Marks, Sie feiernIhre Erfolge. Das sei Ihnen gegönnt. Feste soll man jabekanntlich feiern, wie sie fallen. Aber ich möchte Ihneneinen Rat geben – Sie haben es in Ihrer Rede selbst an-klingen lassen –: Lassen Sie den Sekt im Schrank
– oder auch das Wasser –, und lassen Sie uns da, wo dieProbleme sind, anfangen! Kommen wir dahin, dass Kita-ausbau und -qualität einen deutlichen Sprung nach vornmachen! Die Erfolge sind bei Weitem nicht so groß, wieSie sie hier dargestellt haben.
Es fehlen 185 000 Plätze, und die Plätze, die wir inden letzten Jahren ausgebaut haben, haben eine – sagenwir es einmal freundlich – höchst unterschiedliche Qua-lität in der Betreuung. Den Ausbau so, wie er in den ver-gangenen Jahren geschehen ist – bei allen Erfolgen, diees gegeben hat –, haben Sie zwar durch den Bund unter-stützt, aber er ist im Wesentlichen auf dem Rücken derKommunen, der Länder und der Beschäftigten, die inden Kitas arbeiten, geleistet worden. Dazu möchte ichIhnen vier Punkte sagen.Erstens. Ein Mehr an Kitaplätzen bedeutet nun einmalnicht, dass die Qualität der Plätze dem entspricht, waswir uns alle vorstellen. Stichwort hierzu ist eine spürbareAbsenkung des Betreuungsschlüssels, und zwar flächen-deckend. Er ist in vielen Kindertagesstätten in vielenLändern viel zu hoch. Stichwort ist ferner ein kosten-freies Mittagessen für die Kinder oder überhaupt einMittagessen, das wir ja in vielen Betreuungseinrichtun-gen überhaupt nicht haben. Stichwort ist eine Ertüchti-gung der baulichen Substanz. Da haben wir einigeSchritte getan, aber auch da ist noch viel zu tun. Undschließlich ist am Ende ein weiteres Stichwort die Auf-wertung der Berufe.Sie wollen nicht über ein Kita-Qualitätsgesetz spre-chen. Deswegen werden Sie unseren Antrag dazu hierheute ablehnen. Wir haben beantragt – nichts weiter alsdas –, dass sich der Bund in die Spur begibt, ein Kita-Qualitätsgesetz zu verabschieden, das genau diesePunkte anpackt. Aber genau diese Punkte – die Grünensind in eine ähnliche Richtung gegangen – wollen Sieeben bundesrechtlich nicht vereinheitlichen, und Siewollen da auch keine weiteren Schritte gehen. Das istsehr bedauerlich.Zweitens. Der Ausbau der Kitaplätze geht einher miteinem massiv erhöhten Personalbedarf. Das ist richtig.Die Bundesregierung spricht hier in ihrem Bericht von„pädagogisch Tätigen“ und eben nicht von „Erzieherin-nen und Erziehern“. Warum ist das so? Weil nach Anga-ben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft von522 000 Beschäftigten in den Kitas 354 000 Erzieherin-nen und Erzieher sind und der Rest eben nicht vollwertigausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, sondern Ver-treter anderer Berufe sind, schlechter qualifiziert,schlechter bezahlt. Damit kann gute Qualität in früh-kindlicher Bildung nicht funktionieren. Wir brauchenbeste Ausbildung, wir brauchen in den Kitas durchgän-gig Erzieherinnen und Erzieher, die in diesem Berufauch ausgebildet worden sind, und nicht anderes Perso-nal mit schlechterer Ausbildung.
Drittens – hier sind wir bei dem Anliegen der derzeitstreikenden Erzieherinnen und Erzieher –: Verdi und dieGEW streiken für eine deutlich höhere Eingruppierung.Das ist auch berechtigt, weil wir – das geht auch aus Ih-rem Bericht hervor – inzwischen ganz andere Anforde-rungen an diesen Beruf haben, weil wir inzwischen unterKitaerzieherinnen und -erziehern nicht mehr die verste-hen, die auf die Kinder aufpassen, damit sie nicht weg-laufen und nicht zu Schaden kommen. Vielmehr habensie einen pädagogischen Auftrag; sie haben einen Auf-trag, der bedeutet, dass frühkindliche Bildung am Endemehr mit Bildung als mit Betreuung zu tun hat.Dieser Berufszweig, der noch immer überwiegend einFrauenberuf ist, soll für die Gesellschaft geöffnet wer-den; der Zugang soll breiter werden. Auch Männer sol-len sich für diesen Beruf stärker interessieren. Das heißt,wir brauchen hier eine vernünftige Entlohnung. Das gehteben nur, wenn am Ende die Berufe aufgewertet werdenund deutlich mehr Geld bei den Erzieherinnen und Er-ziehern bleibt.
Viertens. Wir alle sprechen lieber von „frühkindlicherBildung“ als von „Kinderbetreuung“. An diesem Punktbegegnet uns eine Entwicklung, die aktuell die Republikumtreibt: Warum müssen Eltern Geld, teilweise vielGeld, für die Erfüllung ihres Rechtsanspruchs auf früh-kindliche Bildung ihrer Kinder zahlen? Bundesweit gibtes die Forderung, die Elternbeiträge für Kindertagesein-richtungen abzuschaffen. Wir als Linke halten diese For-derung für berechtigt. Wir wissen, dass das nicht vonheute auf morgen geht. Aber wir finden, wir sollten unsdarauf als Fernziel verständigen. Wenn es um Bildunggeht, dann dürfen Elternbeiträge für Kitas nicht mehr er-hoben werden.
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10290 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Norbert Müller
(C)
(B)
Ich fasse zusammen: Der Ausbau der Kitaplätze, dieVerbesserung des Betreuungsschlüssels durch massiveNeueinstellungen, die Verbesserung der Qualität früh-kindlicher Bildung sowie die Aus- und Weiterbildungund die Abschaffung der Elternbeiträge, diese Prozessemüssen parallel angegangen werden. Das alles kostetGeld. Damit kommen wir zum Kern des Problems. ImJahre 2011 gab die gesamte öffentliche Hand 17,3 Mil-liarden Euro oder 0,6 Prozent des BIP für Kindertages-betreuung aus. Selbst die OECD geht davon aus, dassder Gesamtbedarf bei etwa 26 Milliarden Euro liegenwürde – die OECD erhebt ähnliche Forderungen wie wir –,um wenigstens das Versorgungsniveau Frankreichs oderder skandinavischen Länder zu erreichen. Das DeutscheKinderhilfswerk hat heute 5 Milliarden Euro mehr proJahr gefordert, die allein der Bund in die Hand nehmensoll, um diese Ziele zu erreichen.Wir brauchen hier den Einstieg des Bundes in die Per-sonalkostenfinanzierung. Wir brauchen eine viel breitereBeteiligung. Das muss mehr sein als im Wesentlichennur die Übernahme der Investitionskosten – das habenwir jetzt –, damit der Kitaausbau und die Qualitätsver-besserung eben nicht mehr auf dem Rücken der Länderund Kommunen und am Ende auf dem Rücken derschlecht entlohnten Beschäftigten ausgetragen wird.Vielmehr ist hier der Bund in der Pflicht. Er hat denRechtsanspruch erlassen; das war gut und richtig.
Kollege Müller, bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.
Aber die Konsequenzen dürfen dann nicht nur halb-
herzig gezogen werden, sondern man muss da ein biss-
chen mehr Butter bei die Fische geben.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Marcus
Weinberg das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Herr Müller, ich muss Ihnen widerspre-chen: Frau Marks hat völlig recht. Die Kindertagesbe-treuung der letzten Jahre ist eine Erfolgsgeschichte, an-gefangen bei Frau von der Leyen, die diese Entwicklungin Gang gesetzt hat, über Ministerin Schröder bis hin zurheutigen Ministerin, Frau Schwesig. Diese Erfolgsge-schichte wird übrigens auch in dem Bericht dokumen-tiert. Darauf möchte ich gerne in zwei oder drei Punkteneingehen.Es ist das Ansinnen der Großen Koalition, diese dreiSäulen der Familienpolitik – Geld, Zeit und Infrastruktur –weiter auszubauen. Das Thema Infrastruktur ist in ersterLinie mit dem Ausbau der Kindertagesbetreuung ver-bunden.
Mit Blick auf den aktuellen Bericht sind für uns zweiDinge wichtig. Das Erste ist die Frage der Quantität. DasZweite ist die Frage der Qualität; zum Thema Kosten-freiheit und zu Ihren Ideen komme ich gleich noch. Dahaben wir – das hat Frau Marks schon dargestellt – in derAnzahl der betreuten Kinder mit einem Anstieg von17,6 Prozent auf 32,3 Prozent deutliche Fortschritte zuverzeichnen. Damit geht natürlich immer eine stärkereNachfrage einher; denn ein Angebot schafft eine Nach-frage. Der Betreuungsbedarf liegt bei über 41 Prozent.Es ist zu vermuten, dass diese Zahl noch weiter steigenwird. Wir als Bund werden unseren Teil dazu beitragen,die Kommunen und Länder dabei zu unterstützen, diesenAusbau voranzutreiben; schließlich ist dies primär derenAufgabe.Ich komme auf den zweiten Punkt zu sprechen, näm-lich auf die Qualität. Da stimmt Ihre Aussage nicht ganz.Wenn so viele Kitas mit Milliarden von Euro gebautoder ausgebaut werden, ist immer die Gefahr gegeben,dass das zulasten der Qualität geht. Keiner von uns willnur eine Kindertagesbetreuung; wir alle wollen eine guteKindertagesbetreuung. Aber wir müssen und dürfen fest-stellen, dass dieser rasche Ausbau nicht zulasten derQualität gegangen ist.Schauen wir uns den Betreuungsschlüssel an: AmStichtag 1. März 2014 betreute eine Vollzeitkraft durch-schnittlich 4,1 Kinder; 2012 lag diese Zahl noch bei4,5 Kinder. Aber die Aufgabe für die nächsten Jahrewird es sein, die Zahl der betreuten Kinder zu senken.Nun kann man über einen Betreuungsschlüssel von 1 : 3oder 1 : 4 diskutieren; dies sind Zahlen, die in der Ber-telsmann-Studie oder von der OECD genannt werden.Ich wäre froh, wenn wir ein Verhältnis von 1 : 4 schaffenwürden. Ich sage aber auch ganz deutlich: Da muss mansich anschauen, was die Länder machen.Damit kommen wir zu Ihrem Punkt: Kostenfreiheit.Man kann sagen: Das alles muss kostenfrei sein.
Aber Sie müssen dabei Abstufungen machen. Wenn dieKostenfreiheit zulasten der Qualität umgesetzt wird,dann habe ich damit meine Probleme.
Ich möchte, dass wir zunächst einmal Qualitätsstandardsfestlegen.Außerdem müssen wir Folgendes berücksichtigen,Herr Bundestagsabgeordneter: Gutverdienende Bundes-tagsabgeordnete könnten möglicherweise einen höheren
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10291
Marcus Weinberg
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(B)
Beitrag leisten, wenn damit sichergestellt ist, dass dieQualität der Kinderbetreuung insgesamt hoch ist.
Ich glaube, man sollte hier ganz genau in Erwägungziehen – jetzt rede ich hier schon wie ein Linker –, dassdie Reichen und Wohlvermögenden eine gewisse Zeitlang mehr schultern können als diejenigen, die ein gerin-ges oder gar kein Einkommen haben. Hier muss mansehr genau abwägen, was man eigentlich will.
Herr Weinberg, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Hein?
Ein Frage von Frau Hein doch immer.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Herr
Weinberg, ich habe in meiner Zeit als Landespolitikerin
viele Jahre den Bereich Kinderbetreuung in meinem
politischen Profil gehabt. Sie haben vorhin wiederholt
darauf hingewiesen – auch die Staatssekretärin hat es ge-
sagt –: Die Qualität und die Personalstandards haben
sich nicht verschlechtert. – Sie sind nicht schlechter ge-
worden, das stimmt. Sie sind aber auch nicht besser ge-
worden. Aber wir haben ein Gefälle zwischen Ost und
West. Ich muss sagen: Im Osten haben wir heute einen
Personalschlüssel, der im Durchschnitt bei 1 : 12 liegt.
Er war einmal deutlich besser, nämlich Anfang der
1990er-Jahre. Damals gab es Vorwürfe aus den alten
Bundesländern, dass wir uns den Luxus der flächende-
ckenden Kinderbetreuung leisten. Im Zuge dieser Vor-
würfe sind die Betreuungsschlüssel schlechter gewor-
den. Nun kann ich auch für den Osten sagen, dass die
Qualität der Kinderbetreuung unter dem schlechteren
Betreuungsschlüssel nicht gelitten hat, dass das Auf-
rechterhalten dieser Qualität aber auf dem Rücken der
Erzieherinnen und Erzieher ausgetragen wird.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie angesichts dessen nicht
finden – es sind ja neue Aufgaben hinzugekommen –,
dass die Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher und aller
in diesem Bereich Tätigen deutlich aufgewertet werden
muss. Unterstützen Sie aus diesem Grunde auch die Auf-
wertungskampagne, die derzeit läuft?
Vielen Dank für die Frage. Damit geben Sie mir zu-sätzliche Redezeit; denn zur Beantwortung kann ich dassagen, was ich eh noch formulieren wollte.Zur Frage nach dem Betreuungsschlüssel: Das ist na-türlich eine abstrakte Größe. Was sich hinter einem Be-treuungsschlüssel von 1 : 4,1 verbirgt, kann in Hamburganders sein als in einer ländlichen Region mit einer an-deren Bevölkerungsstruktur. Ich finde nur eines wichtig– das hat auch Frau Marks gesagt –: dass wir hinsichtlichStandards Einvernehmen erzielen. Dass die Minister zu-sammenkommen, um Standards zu definieren, ist derrichtige Weg.Ich sage Ihnen zur Verantwortung der Länder – Siehatten ja in einem Bundesland politische Verantwortung –:In Hamburg haben wir im Krippenbereich einen Schlüs-sel von 1 : 5,6, in Bremen von 1 : 3,1. Ich erwarte vonden Verantwortlichen in den Ländern, dass sie dafür sor-gen, dass die Qualitätsstandards deutlich verbessert wer-den.Jetzt komme ich zur Aufgabengestaltung der Erziehe-rinnen. Die Aufgabenstruktur der Erzieherinnen ist mitder vor 30 Jahren nicht mehr vergleichbar: Zu ihren Auf-gaben gehören Inklusion, Integration, Sprachförderung,Betreuung heterogener Lerngruppen. Die Erzieherinnenstehen gerade im urbanen Milieu vor neuen Herausfor-derungen. Deswegen ist es richtig, dass die Erzieherin-nen dieses thematisieren und auch mit einem Streik fürdie Berücksichtigung ihrer Interessen werben.
Trotzdem, wenn ich diese Einschränkung machendarf, ist es so – das ist der Appell, den wir als Bundes-politiker heute äußern sollten –: Mit Blick auf die Folge-wirkungen, insbesondere mit Blick auf das, was Fami-lien momentan leisten, rate ich dringend, dass beideSeiten – die Gewerkschaften wie die Arbeitgeber –schnellstmöglich zusammenkommen und eine Lösungfinden. Der Erzieherberuf wurde vom Einkommen heraufgewertet. Aber er hat noch nicht das Niveau erreicht,das er erreichen sollte. Ich sage aber: Das Ganze liegt inder Verantwortung der Kommunen. Es liegt nicht in un-serer Verantwortung, weil die Kommunen entscheidenmüssen, wie sie ihre Mittel einsetzen.
Einen Appell möchte ich noch an Sie richten: BeideSeiten sollten jetzt dringend aufeinander zugehen; dennwir erleben momentan, dass viele Familien nicht mehrwissen, wie sie ihre Kinder betreuen sollen. Alles anderewürde die Akzeptanz der Vorhaben der Erzieher schmä-lern. Wir haben alle befürwortet, dass sich die Erzieherfür ihre Interessen einsetzen. Das ist eine Initiative, bei deralle Eltern, Väter und Mütter, sagen: Es ist richtig so. –Man sollte aber auch sehen, dass die Folgewirkungen fürdie Familien irgendwann dramatisch sind.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bewertung derErgebnisse und das, was man damit erzielt hat. Ich willeinige Zahlen nennen, weil sie darstellen, wie sich dasGanze auf die Erwerbstätigkeit ausgewirkt hat. Der An-teil erwerbstätiger Mütter mit minderjährigen Kindernist von 2006 bis 2011 von 60,6 Prozent auf über 65 Pro-zent gestiegen. Bemerkung: Wir reden zu Recht über dieLeistungsträger der Gesellschaft, also die Alleinerzie-henden. Wir werden jetzt richtigerweise auch den Ent-lastungsbeitrag erhöhen. Aber zentral war für die Allein-erziehenden der Ausbau der Kindertagesbetreuung, weilsie nur so Beruf und Familie kombinieren können. Auchhier gilt unser Leitprinzip: Wir wollen den Familien
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10292 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Marcus Weinberg
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mehr Wahlfreiheit ermöglichen. Die ist in den letztenJahren deutlich besser geworden.Über 100 000 Mütter mit Kindern zwischen einemund drei Jahren wären ohne die Betreuungsmöglichkei-ten nicht erwerbstätig. Die Kinderbetreuung verringertdas Armutsrisiko aller Familien mit Kindern bis zwölfJahren deutlich, und zwar um über 7 Prozentpunkte. DieKindertagesbetreuung wirkt in Bezug auf die finanzielleStabilität, auf die ökonomische Sicherheit der Familien.Einige Punkte, die Sie angesprochen haben, müssenimmer wieder richtiggestellt werden; das ist zwar an-strengend, aber man macht es ja gerne. Noch einmal:Der Bund beteiligt sich demnächst mit 945 MillionenEuro an den Betriebskosten der Kindertagesstätten; dasist fast 1 Milliarde Euro. Ich als Familienpolitiker binüberzeugt, dass das richtig ist. In ordnungspolitischerHinsicht sind wir nach langer Überlegung diesen Schrittgegangen, weil Kinderbetreuung eine wichtige nationaleAufgabe ist. Aber es kann nicht sein, dass wir dem-nächst, so wie Sie das jetzt fordern, auch die Gehälterder Erzieherinnen und Ähnliches übernehmen. Dies istoriginäre Aufgabe der Länder, und dabei sollte es auchbleiben.
Weil uns das Thema Kinderbetreuung so wichtig ist,haben wir mit dem dritten Investitionsprogramm „Kinder-betreuungsfinanzierung“ deutlich nachgesteuert. Auchaus den Mitteln für Zukunftsinvestitionen in Höhe von7 Milliarden Euro enthält das zuständige Ministeriumzusätzlich 100 Millionen Euro, um spezielle Forderun-gen abzudecken, Stichwort „Randzeiten“, Stichwort„Schichtarbeiten“ und Ähnliches. Wir werden in derGroßen Koalition gemeinsam genau überlegen, wie wirdiese Mittel gut und richtig einsetzen.Unterm Strich kann man sagen: Der Ausbau der Kin-derbetreuung ist eine Erfolgsgeschichte. In Bezug aufdie Quantität werden wir den Prozess begleiten. In Be-zug auf die Qualität – das wird die Aufgabe der nächstenEpoche sein – werden wir die Qualitätsstandards verbes-sern. Es muss klar sein: Die wichtige Aufgabe von Er-zieherinnen und Erziehern muss anerkannt werden, nichtnur finanziell, sondern auch gesellschaftlich. Das habenwir immer wieder angemahnt und formuliert. In denletzten Monaten gab es in diesem Bereich deutliche Fort-schritte.Die Länder müssen ihre Verantwortung übernehmen;aber in Ihren Anträgen bleibt die Verantwortung derLänder unberührt. Die Bedarfssteuerung muss sich sinn-vollerweise an den Gegebenheiten vor Ort orientieren;denn eine Kita im urbanen Milieu, etwa in Hamburg, hatandere Vorgaben oder Probleme als eine Kita in einerländlichen Region, zum Beispiel in Bayern, wo sowiesoalles gut ist.
Der Bund wird die Länder beim Ausbau der Kinderbe-treuung weiterhin unterstützen, weil wir dies als einenKern des Ausbaus der Infrastruktur sehen.Ich hoffe, dass alle Kinder gemeinsam mit ihren Fa-milien schöne Pfingsten feiern können. Denjenigen, dieam Wochenende noch in Abstiegsnöten sind, wünscheich guten Erfolg.Danke.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Franziska Brantner fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Der Streik der Erzieherinnen und Erzieherspiegelt das wider, was im vorliegenden Bericht be-schrieben wird. Die Zahlen wurden heute noch nicht ge-nannt – ich finde sie sehr beeindruckend –: 70 Prozentaller befragten Erzieherinnen und Erzieher sagen, dassdie gesellschaftliche Anerkennung für ihren Beruf zu ge-ring ist. 70 Prozent! 60 Prozent von ihnen sagen, dass siemit der Bezahlung unzufrieden sind. Ich finde, dieseZahlen sollten einem wirklich zu denken geben. So über-rascht es nicht, dass die Erzieherinnen und Erzieherstreiken – berechtigterweise.
Bei einem Bahnstreik wechseln wir auf andere Ver-kehrsmittel; bei der Kita ist das schwierig. Man kann diePerson, der wir täglich unsere Kinder anvertrauen, nichtso leicht auswechseln. Daran wird auch deutlich, dass essich um besondere Menschen handelt. Wir vertrauen ih-nen unsere Kinder an, denen wir unglaublich viel Bedeu-tung beimessen, weil sie das Liebste sind, was wir ha-ben.Die Anforderungen an die Erzieherinnen und Erzie-her sind in den letzten Jahren gestiegen. In diesem Zu-sammenhang sind Inklusion, Sprachförderung, aber auchdigitale Bildung zu nennen. Wir haben zu Recht sehrhohe Ansprüche, eben weil es um unsere Kinder geht.
Aber das spiegelt sich nicht auf dem Gehaltsscheck derErzieherinnen und Erzieher wider. Das ist der erstePunkt: Die Frage nach dem guten Arbeitgeber Kita.Der zweite Punkt ist die Anzahl der Betreuungsplätze.Es fehlen immer noch 184 000 Plätze, vor allen Dingenin Westdeutschland. Diese Zahl wird noch steigen; dennmit dem Angebot steigt die Nachfrage. Wir brauchenaber auch flexiblere Öffnungszeiten; denn es gibt vieleEltern, die keinen Nine-to-five-Job haben, die keineklassischen Arbeitszeiten haben. Vor allen Dingen Al-leinerziehende brauchen hier Unterstützung. Aber keineAngst: Wir wollen keine 24-Stunden-Kita, sondern eineKita, in die die Kinder früher gebracht werden und dafürauch früher abgeholt werden können.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10293
Dr. Franziska Brantner
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Wir brauchen außerdem eine Verbesserung der Be-treuungsqualität. Ich bin Herrn Weinberg übrigens dank-bar, dass er gerade Bremen mit seinem Betreuungs-schlüssel von 1: 1,3 erwähnt hat. Nach acht Jahren ingrüner Verantwortung steht damit dieses Bundesland– nicht Bayern, das gerade so beklatscht wurde – ambesten da. Unter extrem schwierigen Haushaltsbedin-gungen hatte dort die frühkindliche Bildung Priorität.Das ist grüne Politik in Ländern, wo Grüne regieren; dasmöchte ich hier noch einmal unterstreichen.
Im Bericht steht, dass sich die Situation nicht ver-schlechtert hat. Aber sie ist eben noch weit entfernt vondem, was uns die Experten empfehlen. Dort haben wirnoch sehr viel Luft nach oben. Es ist bundesweit unter-schiedlich. Ich möchte noch einmal appellieren, sich zuvergegenwärtigen, dass es doch nicht sein kann, dass inDeutschland die Chancen von Kleinkindern davon ab-hängen, in welchem Bundesland, in welcher Stadt sieaufwachsen, sondern dass wir einen bundesweit einheit-lichen Qualitätsanspruch brauchen, der garantiert, dassjedes Kind nicht nur das Recht auf einen Betreuungs-platz, sondern auch das Recht auf einen guten Betreu-ungsplatz hat. Das muss der Anspruch sein.
Es gibt dazu eine Arbeitsgruppe der Länder. Mich würdeinteressieren, wann wir darüber einmal einen Bericht be-kommen und erfahren, wie es dort weitergeht.
– Wir fragen auch gerne unsere Senatorinnen; mit denensind wir im Austausch.Aber es ist klar, dass es bei den Verhandlungen umGeld geht. Ich glaube, darum braucht man gar nichtlange herumzureden. Ich möchte noch einmal erwähnen,dass übrigens der Hauptbatzen an Geld unter Schwarz-Gelb geflossen ist – das waren 5,4 Milliarden Euro – unddass die Gelder im Vergleich dazu jetzt ziemlich geringsind. Wir haben schon häufig darüber gestritten, ob esfast 1 Milliarde Euro ist oder ob es 550 Millionen Eurosind. Es ist aber auf jeden Fall nicht adäquat und reichtnicht aus.
Eigentlich ist es wirklich traurig, dass unter einerschwarz-roten Koalition weniger Geld für diesen Be-reich zur Verfügung steht als unter einer schwarz-gelben.Die zusätzlichen 100 Millionen Euro von den 10 Mil-liarden Euro sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Wirbrauchen wesentlich mehr. Herr Weinberg, wenn ich Sierichtig verstanden habe, war das gerade eine Absage anden Vorschlag von Herrn Gabriel, neu zu strukturieren,wie die Gelder verteilt werden. Wir fanden den Vor-schlag durchaus interessant, zu schauen, wie man lang-fristig sicherstellen kann, dass Gelder vom Bund in dieKitas fließen; das wird wahrscheinlich geschehen müs-sen. Darüber sollte nachgedacht werden. Schade, dassbisher vieles dazu sofort abgesagt wurde.Zuletzt möchte ich kurz auf die Bertelsmann-Studiehinweisen, die uns deutlich gemacht hat, dass sich Inves-titionen in die frühkindliche Bildung besonders lohnen.Diese Studie hatte eine schlechte Nachricht: Der Bil-dungserfolg in Deutschland hängt vom sozialen Statusdes Elternhauses ab. Das war zwar keine neue, aber wei-terhin eine schlechte Nachricht. Die Studie hatte aberauch eine gute Nachricht. Sie besagt, dass diese Unge-rechtigkeit durch eine gute Frühförderung, etwa in einerhochwertigen Kita, ausgeglichen werden kann. Die Kitaist sozusagen ein Aufzug nach oben, der vielen Kinderneinen ganz anderen Zugang zu unserer Gesellschaft er-möglicht.
Wir brauchen also mehr und flexible Betreuungsplätze,eine gute Qualität dieser Plätze sowie eine gute und ge-rechte Bezahlung der Erzieherinnen und Erzieher; dassollte uns das Ganze wert sein.An Sie gerichtet, liebe CDU/CSU: Es gab vor zehnTagen eine Umfrage in der Welt, bei der die Mehrheit Ih-rer Wählerinnen und Wähler, 54 Prozent, gesagt hat, siesähe die Mittel für das Betreuungsgeld lieber in die Qua-lität der Kitas investiert. Unter den Unionswählern, dieEltern sind, liegt dieser Anteil sogar noch höher: bei60 Prozent. Bei allen anderen Parteien war dieser Anteilnatürlich wesentlich höher. Ich finde, dieser Wunsch derEltern ist absolut zu berücksichtigen. Sie wünschen sicheine gute Qualität der Betreuung. Daran sollten wir unsorientieren.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist ja immer schön, wenn wir über Dinge sprechen,bei denen wir eine Erfolgsgeschichte zu verzeichnen ha-ben. Wir alle – egal welcher Fraktion wir angehören; allehier vertretenen Parteien tragen in den Ländern Verant-wortung; das Ganze ist ja ein gemeinsames Projekt vonBund und Ländern – können stolz darauf sein, dass wirsolch immense Steigerungen im Bereich der Betreuungs-plätze haben. Das kann man an dieser Stelle einmal sa-gen.Das ist auch kein, sage ich mal, Dollpunkt in derForm, dass man jetzt sagt: Aber jetzt, wegen der Regie-rung, ist es eigentlich gar nicht gut. – Ich finde, das istauch einen Dank wert, vor allen Dingen an die Kommu-nen vor Ort, die mit unseren Gesetzen umgehen müssen,
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10294 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Sönke Rix
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einen Dank wert an diejenigen, die in den Kindertages-stätten arbeiten, und an die gesamten Träger, die in demBereich unterwegs sind, weil sie auf unsere Anforderun-gen eingehen und die Angebote machen, die wir poli-tisch wollen. Diesen herzlichen Dank sollte, glaube ich,das ganze Haus hier aussprechen.
9,4 Milliarden Euro, 87 Prozent Zuwachs in diesenBereichen, bei U 3 liegt die Quote bei 32,3 Prozent, wirhaben über 74 Prozent mehr pädagogisches Personal:Das alles ist geschehen, seitdem die letzte Große Koali-tion diese Maßnahmen auf den Weg gebracht hat. Ichglaube, das sind Zahlen, die sich ganz eindeutig sehenlassen können.Natürlich besagt der Bericht auch, dass wir noch De-fizite haben, dass noch nicht alles erfüllt ist. Deshalbsind wir dabei, mit den doch manchmal bescheidenenMitteln – wir als Fachpolitiker wünschen uns doch allemehr Mittel für unsere Bereiche; aber wir haben alsGroße Koalition wieder zusätzliches Geld in die Handnehmen können –, auf die Defizite, auf die der Berichtaufmerksam macht, einzugehen. Fast 1 Milliarde Euromehr im System, ich glaube, auch das ist etwas, woraufwir stolz sein können.
Jetzt zu den Punkten, die wir hier gerade diskutierthaben. Ein Punkt ist die Forderung nach einem Quali-tätsgesetz des Bundes. Das hört sich zunächst einmal gutan, weil „Qualität“ ein positiv behafteter Begriff ist. Werwill nicht mehr Qualität in Kindertagesstätten? Das ist jakeine Frage. Die Frage ist allerdings, ob es immer auto-matisch besser ist, wenn der Bund etwas allein macht.Eine Aufgabe wird nicht immer dann am besten wahrge-nommen, wenn der Bund allein zuständig ist und dieWerte und Normen festlegt; vielmehr birgt das auch eineGefahr.Insofern ist dieses Qualitätsgesetz umstritten, auch in-nerhalb der einzelnen Parteien und Fraktionen, ichglaube, auch zwischen Bund und Ländern – zu Recht –und auch in den Fachverbänden. Die Diakonie beispiels-weise sieht so etwas sehr kritisch, während die AWO esbegrüßt. Wir dürfen also nicht so tun, als ob dieses Ge-setz jetzt etwas ist, was aus der Szene heraus ganz be-sonders gefordert wird und womit wir, nur weil wir aufder Bundesebene die Standards festlegen, automatischbessere Standards haben.Es gibt dabei nämlich eine Gefahr: Wir haben in Tei-len – wir haben es gerade gehört: in Bremen – einen ho-hen Personalstandard, in anderen Bundesländern aber ei-nen niedrigeren Personalstandard. Nun glauben wir dochnicht, dass, wenn wir uns mit den Ländern zusammen-setzen, alle automatisch den Standard nach oben anglei-chen wollen. Die Linken und die Grünen sind doch mitverantwortlich in den Ländern. Es ist ja nicht so, dassdieses Gesetz automatisch nur am Bund scheitert, son-dern es scheitert auch an der erforderlichen Zustimmungder Länder.
Wir sollten die Länder nicht aus der Verantwortung ent-lassen; denn hier liegt eine Aufgabe der Länder.Umso richtiger – auch weil wir wissen, dass wir alsBund die Länder ruhig ab und zu das ein oder andereMal schütteln sollten – ist die Initiative der Familienmi-nisterin, die gesagt hat: Setzen wir uns zusammen, undentwickeln wir gemeinsame Standards. – Das ist genauder richtige Weg: Bund und Länder gemeinsam undnicht einfach der Bund von oben verordnend.
Zweiter Bereich: Beitragsfreiheit. Ich möchte vor ei-ner Sache warnen: davor, Beitragsfreiheit gegen Qualitätzu stellen. Ich glaube, das sollten wir nicht tun. Nicht au-tomatisch ist in den Bereichen, wo das richtige Ziel – dieBeitragsfreiheit – verfolgt wird, die Qualität schlechter.
– Ich habe gar nicht gesagt, dass Sie das gesagt haben,Herr Kollege. Ich sage es nur allgemein. Ich glaube, dasswir nicht der Versuchung nachgeben sollten, zu sagen,dass all diejenigen, die Beitragsfreiheit als Ziel formulie-ren, deshalb für eine schlechtere Qualität wären und um-gekehrt. Beides muss möglich sein.Aber wir müssen uns ehrlich machen: Jeder Eurokann nur einmal ausgegeben werden. Deshalb ist es rich-tig, dass wir Dinge auch schrittweise angehen und nichtalles auf einmal fordern. Aber das ist vielleicht manch-mal die Aufgabe der Opposition: alles auf einmal zu for-dern.Der dritte Bereich, der uns im Moment sehr stark be-schäftigt, ist die Aufwertung von Erziehungs- und So-zialberufen. Wir erleben aktuell einen Tarifkonflikt. Damacht es sich nicht besonders gut, wenn Bundestagsab-geordnete, Bundesminister oder Bundespolitiker sichganz konkret in diese Auseinandersetzung einmischen.Aber wir können auch nicht so tun, als ob der Streik,der da gerade stattfindet, die Tarifauseinandersetzung,die da gerade stattfindet, nicht auch etwas mit dem zutun hat, was wir sonst in anderen Reden alle gemeinsamimmer fordern: Wir fordern doch immer die Aufwertungvon Erziehungs- und Sozialberufen, wir fordern höhereLöhne in Sozial- und Erziehungsberufen. Von daherkann der Streik, kann diese Auseinandersetzung auchnicht vollkommen an uns vorbeigehen. Deshalb findeich es nur richtig, wenn man an der ein oder anderenStelle auch Solidarität, wenn auch nicht unbedingt mitden konkreten Forderungen, und auch Gesprächsbereit-schaft zeigt und sagt: Ja, eure Ziele sind auch unsereZiele. – Der Erziehungs- und Sozialdienst muss aufge-wertet werden.
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Sönke Rix
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Bei dem Streik geht es ja nicht nur um eine höhereEingruppierung – darüber wird in den Tarifverhandlun-gen konkret gesprochen –; vielmehr zeigt die Debatteauch, dass andere Themen besprochen werden, um die esbei uns in Zukunft gehen wird.Ich denke zum Beispiel an die Frage, warum Frauenimmer noch über 20 Prozent weniger verdienen als Män-ner. Wir alle wissen, welche Gründe das hat. Ein konkre-ter Grund ist die Lohndiskriminierung. Ein andererGrund ist, dass viele Frauen in Teilzeit arbeiten. Sie wol-len zwar lieber in Vollzeit arbeiten, haben aber noch keinRückkehrrecht. Deshalb werden wir in Angriff nehmen,dass es ein Recht zur Rückkehr von Teilzeit in Vollzeitgibt. Das wird übrigens ganz besonders auch den Erzie-herinnen und Erziehern helfen, weil bei ihnen Teilzeitar-beit sehr ausgeprägt ist. Eine weitere Begründung fürden Lohnunterschied ist, dass viele Frauen eher im Be-reich der Sozial-, Gesundheits- und Erziehungsdienstetätig sind. Deshalb gehört den Erzieherinnern und Erzie-hern unsere Solidarität für die grundsätzlichen Forderun-gen, die sie aufstellen.Wir hoffen, dass sich die Arbeitgeber und die Arbeit-nehmer gemeinsam an einen Tisch setzen und zu einervernünftigen Lösung kommen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Bettina Hornhues für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Der 1. August 2013 istein Meilenstein in der Familienpolitik und der Start-schuss für einen massiven Ausbau des Kinderbetreu-ungsangebots in Deutschland. Mit dem von da an gelten-den Rechtsanspruch hat jedes Kind ab dem vollendetenersten Lebensjahr fortan Anspruch auf Förderung inKindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege.Knapp zwei Jahre nach der Novellierung des Kinder-förderungsgesetzes hat sich bereits vieles positiv entwi-ckelt. Dies kann ich nicht nur als Politikerin, sondernauch als Mutter von drei Kindern bewerten. Ich erinneremich nur zu gut an die Schwierigkeiten, die es noch ei-nige Jahre vor dem Rechtsanspruch bei der Suche nacheinem passenden Betreuungsangebot für die unter drei-jährigen Kinder gab.
Als meine Kinder in diesem Alter waren, gab es meis-tens lediglich Spielkreise an zweieinhalb Vormittagen.Seit 2013 hat sich die Lage deutlich verbessert – derCDU sei Dank.Seit März 2014 wurde fast ein Drittel der Kinder un-ter drei Jahren in einer Kindertageseinrichtung oder inder öffentlich geförderten Kindertagespflege betreut. Inden letzten Jahren ist die Betreuungsquote bei den unterDreijährigen bereits immens gestiegen, und mit demfortlaufenden Ausbau des Betreuungsangebotes werdenbald noch weitere Plätze zur Verfügung stehen.Ferner zeigen uns die Zahlen schon heute, dass die El-tern mit der Betreuungssituation vor Ort in der Regel zu-frieden sind. Die meisten hatten keine Schwierigkeitenbei der Platzsuche. Bereits 58 Prozent der Eltern, alsomehr als die Hälfte, hatten bereits sechs Monate nach derGeburt ihres Kindes eine Platzzusage. Somit konnten sieihrem Wiedereinstieg ins Erwerbsleben in Ruhe entge-gensehen.Ich weiß natürlich auch, dass dies von Kommune zuKommune stark variieren kann und dass die Bundeslän-der unterschiedliche Ausgangssituationen bei der Ein-führung des Rechtsanspruchs hatten. Auch heute nochsind zwischen den Regionen innerhalb der Länder – seies in der Stadt oder im ländlichen Raum – große Unter-schiede in der Betreuungssituation auszumachen. Daswird eine Aufgabe sein, der wir uns als Nächstes stellenmüssen.Wir dürfen aber nicht nur die Bundesländer verglei-chen, sondern müssen auch das Betreuungsangebot inden Kommunen bedarfsgerecht fördern und weiter aus-bauen und dabei den spezifischen Bedarf der vor Ort le-benden Familien berücksichtigen. Dabei wird der Bunddie Länder und die Kommunen auch weiterhin tatkräftigunterstützen.In vielen Bundesländern ist der Betreuungsbedarfaber noch nicht erfüllt, obwohl die Betreuungsmittel be-reitstehen. So zeigt eine Übersicht über den Abruf derMittel aus dem Bundesinvestitionsprogramm, dass voninsgesamt 580 Millionen Euro ganze 120 MillionenEuro noch nicht abgerufen worden sind. Hier haben ei-nige Länder also noch ihre Hausaufgaben zu machen.Da wir gerade bei Hausaufgaben sind: Frau Brantner,Sie sprachen gerade meinen Wahlkreis Bremen an undstellten fest, dass der Betreuungsschlüssel dort toll sei.Die Betreuungsquote, für die in Bremen eine Sozialsena-torin, die Ihrer Partei angehört, Verantwortung trägt,liegt aber lediglich bei 26,9 Prozent. Hier müssen nochHausaufgaben gemacht werden.
Nach dem Grundgesetz haben die Länder die Pflicht unddie Verantwortung, den U-3-Ausbau und ein bedarfsge-rechtes Angebot zur Erfüllung des Rechtsanspruches zugewährleisten und zu finanzieren. Klar ist auch: JedeStadt und jede Gemeinde muss ihren Bedarf an Betreu-ungsplätzen selbst ermitteln.Mir liegt bei dieser Debatte noch ein anderer Aspektam Herzen; denn der Erfolg beim Ausbau der Kinderbe-treuung ist für mich vor allem auch ein Fortschritt imHinblick auf die bessere Vereinbarkeit von Familie undBeruf. Wenn wir jetzt nicht nur über den Ausbau der
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10296 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Bettina Hornhues
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Kinderbetreuung, sondern auch über die Qualität spre-chen, sind wir schnell bei den Rahmenbedingungen inden Kindertageseinrichtungen. Ein entscheidendes Kri-terium für eine bessere Vereinbarkeit von Familie undBeruf sind für mich dabei die Öffnungszeiten der Kitas.In einer Arbeitswelt, in der Arbeitnehmer erhöhten An-forderungen ausgesetzt sind, immer mobiler und flexi-bler zu werden, müssen auch passende, flexible Betreu-ungsangebote für die Kinder zur Verfügung stehen.Natürlich muss trotz alledem das Wohl des Kindes imVordergrund stehen, aber wir müssen eben auch dafürSorge tragen, dass erwerbstätige Mütter – dabei denkeich gerade an Alleinerziehende und an Frauen, die imSchichtdienst arbeiten – Beruf und Familie miteinandervereinbaren können. Diesen Frauen müssen wir es durchgute Rahmenbedingungen ermöglichen, am Erwerbsle-ben teilzunehmen und während dieser Zeit ihre Kinderflexibel und gut betreut zu wissen.
Wenn wir über Betreuungszeiten und Öffnungszeitenvon Kindertageseinrichtungen sprechen, müssen wir dieSache noch weiter denken. Ich würde mir wünschen,dass wir in diesem Zusammenhang auch über den Über-gang von der Betreuung der ganz Kleinen hin zur Be-treuung der Grundschulkinder sprechen. Denn für vieleEltern tauchen mit der Einschulung der Kinder leiderwieder neue Betreuungshürden auf.
Damit Familien beim Übergang der Kinder in dieGrundschule nicht wieder vor den gleichen Problemenstehen, sollten wir zukünftig nach einer ganzheitlichenLösung suchen.
Denn das heißt für mich fortschrittliche und zukunftszu-gewandte Familienpolitik.Ich wünsche Ihnen sonnige Pfingsttage.Herzlichen Dank.
Der Kollege Paul Lehrieder hat zum Abschluss dieser
Debatte für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Danke, Frau Präsidentin, dass Sie den krönenden Ab-schluss dieser Debatte angekündigt haben. – Sehr ge-ehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Be-suchertribünen! Es wurde von den Vorrednern bereitsmehrfach ausgeführt: Eine gute Kinderbetreuung – ichdenke, da sind wir uns alle einig – ist die beste Investi-tion in die Zukunft eines Landes, einer Gesellschaft.
Bildung beginnt bereits in der Kita und schafft nicht nurChancengleichheit für unsere Kinder, sondern stellt be-reits zu diesem frühen Zeitpunkt die Weichen für dieweitere Entwicklung der Kinder. Daher bin ich Ihnen,liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken und denGrünen, Herr Müller und Frau Brantner, sehr dankbar,dass Sie mit Ihren beiden diesbezüglichen Anträgen– Frau Brantner, Sie müssen aufpassen; Sie dürfen nichtso viel schwätzen –
einen Beitrag dazu leisten, dass das Thema der frühkind-lichen Betreuung und Bildung in dem Maße in der öf-fentlichen Diskussion wiederzufinden ist, wie es ihm ge-bührt.Die Thematik des quantitativen, aber auch qualitati-ven Ausbaus der Kindertagesstätten wird uns in denkommenden Jahren intensiv beschäftigen und eine zen-trale Rolle in der Familienpolitik in unserem Lande spie-len – so wie sie in den letzten Jahren schon eine zentraleRolle gespielt hat. Kollege Weinberg hat bereits völligzu Recht auch auf die Vorgängerinnen der jetzigen Fami-lienministerin, Frau Schwesig, hingewiesen: Ursula vonder Leyen und Kristina Schröder. Frau Staatssekretärin,ich bitte Sie, unser Lob an die Ministerin auszurichten.Wir stehen hier in einer guten Tradition und haben denbeschrittenen Weg jetzt auch in der Großen Koalitionkonsequent fortgesetzt. Herzlichen Dank an unserenKoalitionspartner, die SPD, dass wir das so harmonischgemeinsam auf den Weg bringen konnten!
Ich danke aber auch unserem Haushälter AloisRainer, den ich in unseren Reihen sehe. Du hast immerein offenes Ohr für unsere Anliegen und sorgst gemein-sam mit der Kollegin von der SPD dafür, dass wir genü-gend Reibung zwischen Daumen und Zeigefinger haben,wenn es um kindliche und familiäre Belange geht. Dafürherzlichen Dank! Wie gesagt: Mach weiter so! Wir brau-chen dich auch in den nächsten Monaten, bei den Bera-tungen des Haushalts 2016, wieder ganz heftig.
– So viel Zeit muss sein.Allerdings – das wird Sie wundern – bin ich teilweiseanderer Ansicht als Sie, die Kollegen von der Opposi-tion.
– Ich komme schon noch zu Ihnen, Herr Müller. WartenSie nur ab!
Ihr Vorwurf, der Bund habe sich nur geringfügig ander Finanzierung des Ausbaus der Kinderbetreuung be-teiligt, geht fehl. Neben der größten kommunalen Entlas-
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Paul Lehrieder
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tung durch die Übernahme der Kosten der Grundsiche-rung im Alter – das haben manche schon vergessen, aberes ist tatsächlich so – und bei Erwerbsminderung sowieder Entlastung bei der Eingliederungshilfe im Rahmendes Bundesteilhabegesetzes sorgt der Bund weiter fürleistungsfähige Kommunen: Mit dem Gesetz zur weite-ren Entlastung von Ländern und Kommunen ab 2015und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kin-dertagesbetreuung stockt der Bund das Sondervermögen„Kinderbetreuungsausbau“ um 550 Millionen Euro aufrund 1 Milliarde Euro auf. Zudem erhalten die Länder inden Jahren 2017 und 2018 weitere 100 Millionen Eurozur Finanzierung der Betriebskosten für den Ausbauweiterer Betreuungsplätze.Mit dieser Entlastung, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, leistet der Bund also sehr wohl seinen Beitrag zu ei-nem gesicherten finanziellen Fundament
– Sie müssen eine Frage stellen, Frau Brantner; sonstgeht es zulasten meiner Zeit –,
um den wachsenden Bedarf an qualitativ guter Kinderta-gesbetreuung zu decken, und das obwohl – das sage ichganz deutlich – der Betreuungsausbau hin zu einem be-darfsgerechten Angebot originäre Aufgabe der Länderist. Herr Müller, nach Ihren Ausführungen werden wirals Bayern sehr wohl auf unsere Thüringer Nachbarnschauen und beobachten, was in Thüringen unter einemMinisterpräsidenten Bodo Ramelow in den nächstenJahren an Verbesserungen im Kitabereich durchgeführtwerden wird. Wir werden in wenigen Jahren, HerrMüller, sicherlich eine Bestandsaufnahme machen undschauen, was in Thüringen gut gelaufen ist.
– Ja, das hat historische Gründe; Sie wissen, warum dasso ist; mit Verlaub. – Wir werden schauen, wie die quali-tative und quantitative Betreuung in Thüringen weiterverbessert wird. Ich bin gespannt; wir werden sichernoch darüber debattieren.Herr Müller, vielleicht eins noch, weil ich gerade soschön bei Ihnen bin:
Sie haben vorhin ausgeführt, Sie wünschten, dass die Er-zieherinnen nach Pfingsten noch möglichst lange strei-ken.
Das wünsche ich nicht. Ich wünsche, dass die Betreue-rinnen und die Kinderpflegerinnen möglichst bald wie-der arbeiten können; denn ich kenne sehr viele enga-gierte Erzieherinnen, die sich darauf freuen, mit ihrenKindern zu arbeiten.
Wir möchten ein vernünftiges Ergebnis. Wir möchtenzufriedene Erzieherinnen, zufriedene Eltern und zufrie-dene Kinder. Per se sagen, Arbeit sei Teufelswerk, kannnur jemand, der als Student vielleicht noch nicht im Be-rufsleben gestanden hat.
Es gibt viele erfüllte Erzieherinnen. Ich wünsche,dass für die Erzieherinnen ein gutes Ergebnis erzieltwird, dass nicht nur die ideelle, sondern auch die mate-rielle Wertschätzung dieses wichtigen Berufes derFrauen und Männer, denen wir das Wichtigste unsererGesellschaft, unsere Kinder, anvertrauen, in den nächs-ten Tagen und Wochen möglichst konsensual gelingt, da-mit nicht nach Pfingsten noch zu lange gestreikt werdenmuss.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, wünscheIhnen schöne Pfingstfeiertage, Gottes Segen und eineschöne sitzungsfreie Zeit.Danke.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/4268 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend auf Drucksache 18/4368. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion DieLinke auf Drucksache 18/2605 mit dem Titel „Ausbauund Qualität in der Kinderbetreuung vorantreiben“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion undder SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1459 mitdem Titel „Qualität in der frühkindlichen Bildung för-dern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
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Vizepräsidentin Petra Pau
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fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linkeund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Sabine Zimmermann , KlausErnst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKEFünf-Punkte-Programm zur Bekämpfungund Vermeidung von Langzeiterwerbslosig-keitDrucksachen 18/3146, 18/4967Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Matthias Bartke für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf derTribüne! Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat imNovember vergangenen Jahres ihr Konzept zum Abbauder Langzeitarbeitslosigkeit vorgelegt. Es liegt in derNatur eines solchen Konzeptes, dass es noch keinen bisins Detail ausgeführten Plan enthält. Aber eines hat dieBundesarbeitsministerin bereits mit der Veröffentlichungerreicht: Sie hat all jene Menschen, die schon länger alsein Jahr arbeitslos sind, wieder prominent auf dieAgenda gesetzt. Auch die beiden Oppositionsparteienhaben im Nachgang dazu jeweils einen Antrag zumThema Langzeitarbeitslosigkeit eingebracht. Ich möchteIhnen sagen: Ich stimme mit den Inhalten Ihrer Anträgenicht überein, aber ich freue mich, dass auch Sie dasThema auf der Agenda halten. Ministerin Nahles hatLangzeitarbeitslosigkeit wieder ins Bewusstsein derPolitik geholt. Das kann man nicht unterschätzen. Schonseit mehreren Jahren ist konstant etwa 1 Million Men-schen länger als ein Jahr ohne Job. Das ist 1 Million zuviel.
Am Montag hat die Anhörung zu unserem Konzeptund zu den beiden Oppositionsanträgen stattgefunden.Die Einschätzungen der Sachverständigen haben uns inunserem Konzept bestätigt.
Ich möchte stellvertretend die Stellungnahme der Arbei-terwohlfahrt zitieren:Dank der Initiative aus dem Bundesarbeitsministe-rium wird heute nach Jahren der Kürzun-gen und Einschränkungen wieder konkret über eineWeiterentwicklung der Beschäftigungsförderungsowie über eine Integration von Teilhabe als eige-nes Ziel diskutiert.Es war einhellige Meinung, dass Vermittlungsbe-mühungen in den ersten Arbeitsmarkt nicht für alle Ar-beitslose eine Lösung bedeuten. Es gibt einen Teil vonLangzeitarbeitslosen, für den öffentlich geförderte Be-schäftigung eine neue Perspektive eröffnet. Deswegenbekämpfen wir Langzeitarbeitslosigkeit auch mit einemBündel von Instrumenten, die individuell angepasst sind.
Welche Schritte machen wir nun also genau? Wir wer-den flächendeckend Zentren für Aktivierung, Beratungund Chancen einrichten. Das Programm „Perspektive50plus“ hat uns gezeigt, dass eine intensive Betreuungverbunden mit einer Arbeitsmarkt- und Gesundheitsför-derung Erfolge bei der Integration in Arbeit produziert.Künftig soll dieser Ansatz nicht nur für ältere Langzeit-arbeitslose, sondern für alle Langzeitarbeitslosen gelten.Einen weiteren Schritt machen wir mit dem ESF-Pro-gramm zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen. DieGewinnung und Beratung von Arbeitgebern wird hiereine gewichtige Rolle spielen. Damit begegnen wir derrelativ geringen Bereitschaft von Betrieben, Langzeitar-beitslose einzustellen, und wir helfen, Vorurteile zuüberwinden. Schon im November wurde die Förderricht-linie veröffentlicht, und auch die Zuwendungsbescheidesind inzwischen alle verschickt. Es kann also losgehen.Den nächsten Schritt machen wir ebenfalls noch die-ses Jahr. Das Bundesprogramm „Soziale Teilhabe amArbeitsmarkt“ gibt Antwort auf die Frage, was wir de-nen anbieten wollen, die partout keine Beschäftigungs-möglichkeit finden. Mit 100 Prozent Lohnkostenzu-schüssen werden wir Arbeitsverhältnisse ermöglichen,die sonst nicht zustande kämen. Auch für dieses Pro-gramm liegt die Förderrichtlinie bereits vor. Durch denNachtragshaushalt haben wir die Verpflichtungsermäch-tigung für drei Jahre geschaffen. Das war nicht leicht,aber wir haben es geschafft. Danke, liebe Haushälter!
Auch mit der Gesundheitsförderung werden wir einenSchritt tun, der uns weiter nach vorne bringt. 40 Prozentder SGB-II-Leistungsbezieher haben schwerwiegendegesundheitliche Einschränkungen. Trotzdem waren diespeziellen gesundheitlichen Bedürfnisse bisher kein ele-mentarer Bestandteil einer Integrationsstrategie. Daswerden wir ändern.
Es ist am Ende völlig egal, ob die Krankheit Grund oderFolge der Langzeitarbeitslosigkeit war. Wichtig ist nur,dass wir mit Prävention und Gesundheitsversorgung Ab-hilfe schaffen. Denn eines ist klar: Nur wer gesund ist,kann auch wirklich gut arbeiten.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10299
Dr. Matthias Bartke
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All diese Schritte wurden in der Anhörung amMontag durch die Sachverständigen ausdrücklich be-grüßt.Dass auch wir zur Finanzierung gern den Passiv-Ak-tiv-Tausch eingesetzt hätten, ist hinlänglich bekannt.Die Linke fordert in ihrem Antrag eine Sonderabgabefür Arbeitgeber. Ganz abgesehen davon, dass eine Son-derabgabe in der Form verfassungsrechtlich außeror-dentlich problematisch ist, ist diese Forderung in ihrerAllgemeinheit auch völlig deplatziert.Überdies fordern Sie die Einrichtung von 200 000 öf-fentlich geförderten Stellen für Langzeitarbeitslose.Nach Einschätzung des IAB gibt es in der Tat etwa100 000 bis 200 000 Langzeitarbeitslose, die nur nochsehr wenig Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkthaben. Wenn Sie ausschließlich für diese eine öffentlichgeförderte Beschäftigung gefordert hätten, dann wäredas zumindest eine in sich konsistente Forderung gewe-sen. Das machen Sie aber nicht. Nach Ihrem Antragkommt jeder Einzelne der 1 Million Langzeitarbeitslo-sen für die Stellen in Betracht. Ich sage Ihnen: Das ist ar-beitsmarktpolitischer Nonsens. Damit schaffen Sie Mit-nahmeeffekte ohne Ende.
Aber diejenigen, die solche Arbeitsplätze wirklich nötighätten, bekommen sie dann nicht.Die einzige Vorgabe, die Sie in Ihrem Antrag machen,ist: Es soll ein Stundenlohn von mindestens 10 Euro ge-zahlt werden. – Geht’s noch? Die Entlohnung von öf-fentlich geförderter Beschäftigung soll deutlich überdem gesetzlichen Mindestlohn liegen? Das kann dochnicht Ihr Ernst sein.
Oder haben Sie im letzten halben Jahr vergessen, IhrenAntrag an die aktuelle Rechtslage anzupassen?
Aber lassen Sie mich zu einem versöhnlichen Schlusskommen, meine Damen und Herren. Wir mögen die Be-ratung des Antrags heute abschließen. Ich verspreche Ih-nen aber, dass die Langzeitarbeitslosigkeit auch weiter-hin ganz oben auf unserer Agenda stehen wird.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege Bartke, ich schätze Sie ja sehr,aber: Sie haben nicht gesagt, wie viele Menschen IhrProgramm erreichen soll; dazu haben Sie keine einzigeZahl genannt. Vielleicht liegt es daran, dass Sie sich da-für schämen. Es sind nämlich nicht mehr als 43 000 Per-sonen. Bei 1 Million langzeitarbeitslosen Menschen istdas doch ein bisschen wenig.
Falls Sie alle es vergessen haben sollten – das gilt imBesonderen für meinen Kollegen Matthias Zimmer –:Wir haben in Deutschland 1 054 315 langzeitarbeitsloseMenschen. Ihre Zahl nimmt entgegen Ihrer Behauptungkaum ab. Es sind Männer und Frauen, die ihren Arbeits-platz verloren haben, weil ihr Betrieb dichtgemachtwurde, weil der Arbeitsplatz wegrationalisiert wurdeoder weil man ihnen schlicht und einfach gesagt hat: Füreuch haben wir keinen Platz in der Arbeitswelt. – Vielevon ihnen hatten im ersten Monat und vielleicht sogarim ersten Jahr noch Hoffnung, einen neuen Arbeitsplatzzu finden. Aber irgendwann kam die große Enttäu-schung. Man sagte ihnen: „Sie sind zu alt“, „Ihre Quali-fikation reicht nicht aus“, ja sogar, und das nicht selten,„Sie sind überqualifiziert“, und irgendwann resignierenviele dieser Menschen. Was für ein Armutszeugnis fürdieses reiche Land!
Wir fordern für diese Menschen nicht irgendwelchesozialpolitischen Maßnahmen, sondern wir fordern:Schluss mit der dauerhaften gesellschaftlichen Ausgren-zung! So kann es nicht weitergehen, meine Damen undHerren.
Denn dauerhafte unfreiwillige Erwerbslosigkeit heißtArmut per Gesetz. Viele verlieren dann auch den Glau-ben an die Demokratie, und sie gehen nicht mehr wäh-len. Das müsste Ihnen eigentlich die letzte Wahl inBremen vor 14 Tagen mit einer Wahlbeteiligung von50 Prozent gezeigt haben. Mit anderen Worten heißt das:Jeder Zweite klinkt sich aus, und das in Stadtbezirken, indenen die Langzeiterwerbslosigkeit dominiert, wo in-zwischen Generationen von Hartz IV abhängig sind undKinder keinerlei gleichberechtigten Zugang zu Bildunghaben. Von Chancengleichheit kann hier keine Redesein. Das ist unsozial.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie geben immerdamit an, dass Sie in den zurückliegenden vier Jahren er-reicht haben, dass 2 Millionen mehr Arbeitsplätze in derStatistik stehen, und Sie behaupten, dass die Zahl der Er-werbslosen gefallen ist. Aber Sie verschweigen, ohne rotzu werden, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen seit2011 unverändert bei 1 Million stagniert.Wenn Sie auf die Pläne und Maßnahmen der Arbeits-ministerin schauen, müssen Sie zugeben, dass sie wirk-lich nichts Neues enthalten, auch wenn Sie, KollegeBartke, das als neu verkaufen. Statt effektive Programmefür diejenigen aufzulegen, die es am nötigsten haben,
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Sabine Zimmermann
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kleckert die Ministerin ein bisschen hier und ein biss-chen da. Ihre Schmalspurförderung aus dem HauseNahles löst die grundsätzlichen Probleme nicht, sondernverschleppt sie nur.
Die berufliche Weiterbildung ist nach den Hartz-Ge-setzen völlig eingebrochen. Wir alle hier wissen: Damüssen wir ran; denn Qualifikation ist das A und O, umauf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Aber dafürmüssen Sie Geld in die Hand nehmen.
Die Linke hat ein Fünf-Punkte-Programm vorgelegt,das ich Ihnen wärmstens ans Herz lege und einmal rich-tig zu lesen empfehle, Kollege Bartke. Drei Punkte willich Ihnen verraten:Erstens. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Wei-terbildung, das heißt mehr Unterstützung und mehr Geldin diesem Bereich. Damit wird auch die Position von Er-werbslosen gestärkt, und sie stehen nicht ständig alsBettler und Bittsteller im Jobcenter.
Zweitens. Wir brauchen eine individuelle Vermitt-lung. Das Prinzip „Vermittlung auf Augenhöhe“ mussdas Grundprinzip in den Jobcentern werden. Dazubraucht es aber mehr und besser geschultes Personal.Vor allen Dingen muss Schluss sein mit den Sanktionen.
Drittens. Wir brauchen einen öffentlich gefördertenBeschäftigungssektor mit sozialversicherungspflichtiger,gemeinwohlorientierter und ordentlich bezahlter Arbeit.Regeln Sie endlich den Passiv-Aktiv-Transfer! Damitwürden Sie Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren.
Meine Damen und Herren der Koalition, Sie dürfensich nicht wundern, wenn man Ihnen unterstellen muss,dass Sie ein Interesse daran haben, Millionen von Men-schen in Arbeitslosigkeit und in Hartz IV zu halten. Siewollen wohl ein abschreckendes Beispiel für diejenigenschaffen, die noch in Arbeit sind.
Das ist zynisch, sozial ungerecht und brandgefährlich fürdie Demokratie.Ich wünsche Ihnen schöne Pfingsten und empfehleIhnen, den Antrag richtig zu lesen.Danke schön.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Professor
Matthias Zimmer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wardurchaus bereit, im Geiste pfingstlicher Vorfreude dasGemeinsame zu betonen, Frau Kollegin Zimmermann,bis ich dann Ihren letzten Satz gehört habe. Zu behaup-ten, dass wir ernsthaft die Arbeitslosigkeit nutzen, umDruck auf die arbeitenden Menschen auszuüben, ist eineUnverschämtheit. Das stimmt nicht.
Wenn ich das genau beobachte, sowohl bei der SPD-Fraktion als auch bei unserer Fraktion, glaube ich, dasswir uns in den letzten Jahren – das gilt auch für die Grü-nen und für die Linken – sehr einhellig des ThemasLangzeitarbeitslosigkeit angenommen haben. Wir habendas mit einem ganz anderen Ansatz als dem getan, mitdem wir heute Morgen das strittige Thema Tarifeinheitdiskutiert haben.Wir alle sind der Meinung: Langzeitarbeitslosigkeitist ein großes Problem, dem wir politisch begegnen müs-sen. – Wir streiten uns über den richtigen Weg dazu.Noch einmal im Geiste der pfingstlichen Vorfreude undder Friedfertigkeit will ich konzedieren, dass ich zumin-dest in zwei Punkten Ihres Antrages Ihrer Meinung bin.Der erste Punkt ist die Forderung nach einer sozialenVergabepraxis. Das finde ich vollkommen in Ordnung.Das finde ich richtig; das ist ein richtiger Ansatz. Derzweite Punkt ist die bessere Evaluation der arbeitsmarkt-politischen Instrumente. Auch das findet unsere unge-teilte Zustimmung an dieser Stelle.Ansonsten zeigt Ihr Antrag aber durchaus die unter-schiedlichen Perspektiven, mit denen auf das ThemaLangzeitarbeitslosigkeit zugegangen wird. Ich habenicht den Eindruck, dass die Schaffung eines zweitenArbeitsmarkts mit 200 000 Beschäftigten der Weisheitletzter Schluss ist. Frau Zimmermann, in Ihrem Antragschreiben Sie, dass Sie für diese öffentlich geförderteBeschäftigung einen Stundenlohn von 10 Euro fordern;der Kollege Bartke hat es erwähnt. Ich bin nicht der Mei-nung, dass man damit reguläre Arbeitsplätze nicht ver-drängt.
Ich glaube, genau das passiert dann.Es war für mich auch nicht logisch zu erklären, wa-rum Sie dort 10 Euro fordern, bis ich mir überlegt habe:Im Grunde genommen geht es Ihnen an der Stelle ledig-lich darum, Ihre alte Forderung nach einem Mindestlohnvon 10 Euro hintenherum auf dem Rücken von Langzeit-arbeitslosen wieder einzuführen. Dafür sind die Lang-zeitarbeitslosen zu schade und das Thema zu wichtig.
Wir hatten zu Ihrem Fünf-Punkte-Programm eine An-hörung. Diese Anhörung hat gezeigt, dass sich die akti-
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Dr. Matthias Zimmer
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vierende Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre bewährthat. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschunghat bestätigt, dass die Grundausrichtung der aktivieren-den Arbeitsmarktpolitik den Arbeitsmarkt beflügelt undzum Abbau der Sockelarbeitslosigkeit beigetragen hat.Hier wurde uns vom IAB-Vertreter auch bestätigt, waswir bereits in den vergangenen Debatten haben an-klingen lassen: Bei den arbeitsmarktpolitischen Ins-trumenten sind an der einen oder anderen Stelle Nach-justierungen durchaus sinnvoll. Hier sind vor allem dieStichworte „professionelles Fallmanagement“, „Profiling“,„ganzheitliche Lösungen“, „Intensivberatung“, „Coaching“und „rechtsübergreifende Lösungen“ gefallen. DiesePunkte hatten wir als Union im Rahmen der zurückliegen-den Arbeitsmarktgespräche verfolgt. BundesministerinNahles hat diese Punkte auch in ihrem Eckpunktepapierzur Langzeitarbeitslosigkeit im letzten Jahr aufgegriffen.In der Anhörung wurde von Sachverständigen unter-strichen – auch diesen Punkt vermisse ich in Ihrem An-trag –: Arbeitsmarktpolitik ist als ein Faktor beim Abbauder Langzeitarbeitslosigkeit zu verstehen. Aber die Ar-beitsmarktpolitik alleine wird den Abbau nicht leistenkönnen. Wir müssen nicht nur regionale Unterschiedeberücksichtigen und den Arbeitgeber-Service marktnahaufstellen, sondern wir müssen vor allen Dingen auchPräventionsmaßnahmen im Bildungs- und Gesundheits-bereich verstärken. Arbeitsmarktpolitik – das haben unsmehrere Sachverständige gesagt – ist nicht die Lösung,die für sich alleine stehen kann. Das ist die Schwach-stelle, die Ihr Antrag aus meiner Sicht aufweist. Das hatauch die Sachverständigenanhörung gezeigt.Ich habe an dieser Stelle bereits mehrfach dafür plä-diert, dass wir uns erstens die arbeitsmarktpolitischen In-strumente noch einmal grundsätzlich anschauen sollten.Schließlich haben wir erste valide Rückmeldungen ausder Praxis dazu erhalten, wie die Reform der arbeits-marktpolitischen Instrumente aus dem Jahr 2011 wirkt.Hier – das müssen wir klar sagen – zeigt sich mittler-weile der Bedarf einer gewissen Nachjustierung. Das ha-ben auch einige Sachverständige in der Anhörung deut-lich gemacht.Ich würde zweitens auch noch einmal für eine Entfris-tung der Fördermaßnahmen werben wollen. Die Förder-grenze von 24 Monaten innerhalb von fünf Jahren er-weist sich in der Praxis doch als zu starr. Das haben unseinige Sachverständige so auch bestätigt und mit Bei-spielen unterlegt.
– Die eigenen Leute haben das nicht mitbekommen
und klatschen deswegen nicht.Drittens werbe ich dafür, dass wir uns die Problema-tik der Schnittstellen zwischen den Sozialgesetzbüchernnoch einmal genau anschauen. Einige Sachverständigein der Anhörung haben uns das nahegelegt. Ein Anfangwäre beispielsweise, die Leistungen nach § 45 SGB III,also die sozialpädagogische Betreuung oder die Vermitt-lung beruflicher Kenntnisse, in die Förderung sozialver-sicherungspflichtiger Beschäftigung zu integrieren. So-mit könnten wir den Langzeitarbeitslosen dann auchaufeinander abgestimmte Förderungen aus einer Handermöglichen und den Fallmanagern bürokratische Um-wege ersparen.Meine Damen und Herren, wir tun, wenn wir in diePfingsttage gehen, glaube ich, gut daran, für die weiterenBeratungen, was die Gesetzgebungsarbeit angeht, aufdas Kommen des Heiligen Geistes und die Erleuchtung,die er bringt, zu hoffen – Erleuchtung, die ich bei IhremAntrag schmerzlich vermisse. Deswegen werden wir ihnauch ablehnen.Ich wünsche Ihnen frohe Feiertage.
Als nächste Rednerin in der Debatte hat Brigitte
Pothmer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberHerr Bartke, angesichts der Zusammenfassung der An-hörung, die Sie hier vorgetragen haben, habe ich wirk-lich den Eindruck, dass Sie das Prinzip der selektivenWahrnehmung zur Perfektion getrieben haben. MeineZusammenfassung sähe jedenfalls ganz anders aus.Wenn ich nicht gleich von Verriss rede, dann ist das ei-gentlich auch nur der pfingstlichen Vorfreude geschul-det. Aber mindestens schwere Enttäuschung war daschon zu spüren.
Meine Damen und Herren, Sie wissen doch alle, dasswir in der Politik für Langzeitarbeitslose einen richtigenParadigmenwechsel bräuchten. Die Strategie der schnel-len Vermittlung ist gescheitert. Wir haben eine Integra-tionsquote von 13 Prozent. Davon werden allein 30 Pro-zent in Leiharbeit vermittelt. Die wenigen, die vermitteltwerden, stehen innerhalb kürzester Zeit wieder vor derTür. Vor diesem Hintergrund brauchen wir jetzt wirklicheine völlig andere Politik für Langzeitarbeitslose.
Wissen Sie, Herr Bartke, worin die Enttäuschung be-steht? Die Enttäuschung besteht darin, dass Frau Nahlestrotz dieser Erkenntnisse etwas vorschlägt, was schon inder Vergangenheit nicht funktioniert hat. Sie schafft Son-derprogramme für wenige, für 43 000 Langzeitarbeits-lose. Ich erinnere daran, dass auch Frau von der Leyenein Sonderprogramm aufgelegt hatte: das Programm„Bürgerarbeit“ für 33 000 Langzeitarbeitslose. Jetzt wirdein anderes Programm aufgelegt. Aber das ändert nichtsan den Bedingungen, unter denen die Jobcenter für dieMasse arbeiten. Im Gegenteil: Das führt sogar dazu, dasssich die Bewegungsspielräume der Jobcenter weiter re-duzieren. Und das sage nicht nur ich. Herr Bartke und
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Brigitte Pothmer
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Herr Zimmer, Ihre eigenen Leute gehen doch inzwischenauf die Barrikaden und fordern Sie auf, dieses Pro-grammhopping endlich zu lassen.
Nehmen wir einmal das Beispiel ESF-Programm. DasProgramm ist mit einem so hohen Aufwand und mit ei-ner Extrastruktur verbunden, dass die Jobcenter nochnicht einmal die Plätze in Anspruch genommen haben,die Sie ihnen angeboten haben. Angesichts dessen könnenSie doch nicht von einem Erfolg reden. 33 000 Plätzestanden zur Verfügung. 24 000 sind nur beantragt wor-den. Herr Bartke, Sie haben kein Wort dazu gesagt.Nehmen wir als Beispiel das Programm „Soziale Teil-habe am Arbeitsmarkt“. Dieses Programm ist in der An-hörung regelrecht verrissen worden: Zusätzlichkeit, Wett-bewerbsneutralität, öffentliches Interesse – alle Expertenwissen, dass das zu Arbeitsplätzen führt, die sehr weitweg sind vom ersten Arbeitsmarkt. Dabei geht es dochnicht um sinnstiftende Beschäftigung, sondern maximalum Beschäftigungstherapie.Sie bieten Arbeitsplätze an, die mit der Arbeitsmarkt-wirklichkeit nichts zu tun haben und wundern sich amEnde, dass diese Plätze nicht zur Integration in den ers-ten Arbeitsmarkt führen. Mit beiden Programmen wurdenichts Neues gewagt. Sie binden erhebliche Mittel undverringern die Bewegungsspielräume der Jobcenter. –Sie schütteln den Kopf. Wenn Sie mir nicht glauben,dann hören Sie doch wenigstens, was Senator Günthneraus Bremen dazu sagt. Er bezeichnet das, was IhreMinisterin da macht, als grotesk, Herr Bartke.Vielleicht schauen Sie sich auch einmal den Antragaus NRW an, der demnächst in den Bundesrat einge-bracht werden soll. Ich zitiere einfach einmal aus demAntrag: Die zwei Programme „reichen … bei Weitemnicht aus“. Ich zitiere weiter: „Die zur Verfügung stehen-den Mittel sind“ weniger als „ein Tropfen auf den heißenStein“. Ich zitiere weiter: „Sehr viele Langzeitarbeitslosewerden … keine, oder nur eine unzureichende Förde-rung erhalten“. Deswegen fordern NRW und die anderenLänder einen sozialen Arbeitsmarkt mit einem Passiv-Aktiv-Transfer.
Sie fordern mehr Mittel für diesen unterfinanzierten Be-reich, Planungssicherheit und mehr Weiterbildung.Nichts davon ist in Ihrem Programm enthalten. Ich sagees noch einmal: Wenn Sie mir nicht glauben, dann glau-ben Sie doch wenigstens Ihren eigenen Leuten. HörenSie endlich auf mit diesem Programmhopping.
Ich will jetzt doch noch ein paar Worte zu dem Antragder Linken sagen – Frau Zimmermann, ich habe esschon im Ausschuss gesagt –: Ihr Antrag enthält etlichePunkte, die wir für richtig halten. Das wissen Sie; ichwill das nicht wiederholen, aber doch sagen: Ich bin, wasIhre Vorschläge zur Ausgestaltung des sozialen Arbeits-marktes angeht, enttäuscht. Damit sind Sie auch aus mei-ner Sicht wirklich auf dem Holzweg – also, nicht, wasden PAT angeht, aber Sie sprechen von Zusätzlichkeit.Wir wissen doch, dass das alles Quatsch mit Soße ist.
Frau Kollegin.
Ich komme sofort zum Schluss. – 10 Euro pro Stunde
sind nun wirklich nicht angemessen. Ich bitte Sie: Korri-
gieren Sie Ihren Antrag.
So, wie er jetzt vorliegt, können wir ihm nicht zustim-
men, sondern müssen ihn ablehnen.
Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Jutta
Eckenbach von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! MeineDamen und Herren auf der Zuschauertribüne! An einemFreitagnachmittag tagt der Bundestag noch immer. Wirbefassen uns mit einem ganz wichtigen Thema. Seit2011 haben wir feststellen müssen, dass es trotz der gu-ten Konjunktur, trotz voller Auftragsbücher, trotz Fach-kräftemangels, trotz aller Bemühungen und bestehenderHilfen, trotz der vielen Programme und trotz der enor-men Summen, die wir mittels der Eingliederungshilfezur Verfügung gestellt haben, Aufnahmegrenzen beimArbeitsmarkt gibt.Gerade in diesen Wochen diskutieren wir über meh-rere neue Maßnahmen zum Abbau des harten Kerns derLangzeitarbeitslosigkeit. In der Ausschussanhörung ha-ben wir die Meinungen von Sachverständigen gehört.Vorschläge zum Passiv-Aktiv-Transfer oder auch zu denInstrumenten scheinen sich auf den ersten Blick zu äh-neln. Wenn wir aber die Vorschläge genauer ansehen, er-kennen wir gravierende Unterschiede. Gerade die Linkemacht – das hat sich heute noch einmal bestätigt – in allihren Anträgen – nicht nur in dem heute vorliegendenAntrag – eine ideologisch geprägte Grundhaltung deut-lich;
denn das Prinzip des „Förderns und Forderns“ lehnenSie ab.
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Jutta Eckenbach
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Dass in dieser Anhörung die seit 2005 eingeschlageneGrundrichtung befürwortet wurde, konnten wir von fastallen Sachverständigen immer wieder hören. Das istnicht die erste Anhörung gewesen, bei der uns dies be-stätigt wurde. Sowohl der Rückgang der Arbeitslosigkeitinsgesamt als auch der Abbau der Langzeitarbeitslosig-keit im Besonderen sind neben der guten Konjunktur aufdas Fördern und Fordern zurückzuführen. Die Dosisbeim Fördern und Fordern ist entscheidend, und zwar injedem Einzelfall. Die richtige Dosis wird leider nochnicht in allen Fällen erreicht. Aber ich kann Ihnen für dieCDU/CSU-Fraktion sagen, dass die richtige Dosis dasZiel ist, das wir erreichen wollen.Sie reduzieren die Ursachen der Langzeitarbeitslosig-keit auf fehlende Arbeitsplätze und ökonomische Gründe;so steht es in Ihrem Antrag, meine Damen und Herrenvon der Linken. Das ist so pauschal und oberflächlich,dass es fast schon an Fahrlässigkeit grenzt. Ich kanndiese ideologische Haltung überhaupt nicht teilen. Wol-len Sie allen Ernstes in den aktuellen Zeiten mit guterKonjunktur den betroffenen langzeitarbeitslosen Men-schen vorgaukeln, sie wären aus konjunkturellen Grün-den arbeitslos? Ich bin sicher: Die Menschen fühlen sichvon Ihnen nicht ernst genommen. Die Gründe für Lang-zeitarbeitslosigkeit sind gravierend und vielschichtig.Die Zusammenhänge haben wir in diesem Hause schonoft deutlich gemacht. Irgendwann müssten Sie als Linkedas auch erkennen. Sie sollten mit Ihren Anträgen nichtimmer wieder eine ideologische Debatte anstoßen undsagen: 10 Euro pro Stunde geben wir den Menschen. Wirbeschäftigen sie auf einem sozialen Arbeitsmarkt. – Da-mit ist das Ganze dann für Sie erledigt. Das wird so nichtfunktionieren.
Bei nahezu der Hälfte der langzeitarbeitslosen Men-schen liegen Vermittlungshemmnisse vor, die in ersterLinie in ihrer Person begründet sind. Sie leiden unterlanger Arbeitslosigkeit und haben psychosoziale Pro-bleme als Folge der Langzeitarbeitslosigkeit.
Hinzu kommt die lange Arbeitslosigkeit mit fehlenderWeiterbildung und lückenhaftem aktuellen Wissen imursprünglichen Beruf.
Auch das ist uns von den Sachverständigen in der Anhö-rung immer wieder deutlich gemacht worden.Nun gestatten Sie mir noch kurz ein Wort zum PAT,der auch in der Anhörung immer wieder für Aufmerk-samkeit gesorgt hat. Ich schließe mich in Anbetrachtmeiner Redezeit, die langsam zu Ende geht, dem an, wasProfessor Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion deutlichgemacht hat. Ich glaube, dass der PAT noch nicht ausge-reift ist. Ich kann mir PAT allerdings gerade für Nord-rhein-Westfalen vorstellen, Frau Pothmer. Lassen Sieuns das doch einmal auf Landesebene ausprobieren! Daswäre doch etwas. Gehen Sie doch im Land Nordrhein-Westfalen, genauso wie es das Land Baden-Württem-berg getan hat, einmal darauf ein und sagen Sie: Ja, wirprobieren das als Modellversuch aus. – Dann wären wirein Stückchen weiter, hätten Ergebnisse und könntendiese Ergebnisse hier auch einbringen und kämen dannvielleicht zu einer vernünftigen Regulierung.
Ansonsten müssten wir – und das wollen wir – an dieInstrumente herangehen und diese stärker personenbezo-gen ausrichten. Wir wollen die Menschen über ein Stu-fensystem – Stichwort: „arbeitgebernah“ – in den erstenArbeitsmarkt vermittelt sehen. Sie sollen nicht im sozia-len Arbeitsmarkt enden.Noch ein Wort zu Thüringen. Mich hat sehr bewegt,dass es in Thüringen große Verbände ablehnen, an IhremPAT in Thüringen teilzunehmen, weil er so unausgego-ren ist,
dass es nicht funktionieren wird.Ich wünsche Ihnen allen ein wunderschönes Pfingst-fest. Ich hoffe, dass wir irgendwann einmal zu Pottekommen – wie man das im Ruhrgebiet sagt – und imBundestag nicht immer weitere Schleifen drehen müs-sen, dass wir den Arbeitslosen wirklich helfen,
dass wir zu einer guten Einigung mit der SPD kommen.Ich habe heute manche Dinge schon sehr wohlwollendzur Kenntnis genommen. Ich hoffe sehr, dass wir dannim Interesse der Langzeitarbeitslosen auch ein gutes Pro-gramm verabschieden können. Ein frohes Pfingstfest!Alles Gute und ein paar ruhige Tage!Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Michael
Gerdes von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörerauf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Langzeitarbeitslosigkeit ist ohne Frage die größte He-rausforderung in der Arbeitsmarktpolitik. Ich will vonvornherein sagen: Die wenigsten Langzeitarbeitslosen
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Michael Gerdes
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– das hört man ja auch hier wieder heraus – sind selberschuld, dass sie arbeitslos sind. Sie haben zwar oftSchuldgefühle, aber sie haben sich das nicht selbst zuzu-schreiben.
Wir dürfen diese Aufgabe nicht vernachlässigen, undMinisterin Nahles und ihr Haus gehen mutig voran. Dasvorliegende Konzept enthält viele gute Schritte, um dieUnterstützung für langzeitarbeitslose Menschen effektiverund nachhaltiger zu machen. In der Anhörung – heuteschon viel zitiert – am vergangenen Montag gab es vonden geladenen Experten viel Zustimmung zu unserenMaßnahmen aus dem BMAS.Positiv hervorheben möchte ich, dass einzelne Pro-grammteile bereits in der Umsetzung sind. Auch dasESF-Programm wurde durchaus positiv gesehen. Es be-wegt sich was.
Von manchen Sachverständigen wurde allerdings daszur Verfügung stehende Finanzvolumen für Eingliede-rungsmaßnahmen bemängelt. Dieser Kritik müssen wiruns durchaus stellen.Ich möchte jedoch dagegenhalten: Der Anfang ist ge-macht. Die Betroffenen werden sich jedenfalls freuen,auch wenn Mitglieder des Hauses gerade gesagt haben,dass es sich dabei zum Teil um Beschäftigungstherapiehandelt. Losgelöst von einzelnen Maßnahmen finde iches besonders wichtig, dass Langzeitarbeitslosigkeit wie-der ehrlich debattiert wird und auf unserer Agenda einezentrale Rolle einnimmt.Wir können nicht hinnehmen, dass sich Arbeitslosig-keit verfestigt. Unsere Gesellschaft definiert sich überErwerbsarbeit. Wer ohne Job ist, hat nicht nur wenigGeld zum Leben, es fehlt auch je nach Dauer der Ar-beitslosigkeit an Anerkennung, Sinnstiftung und Ge-sundheit. Arbeitslosigkeit stigmatisiert, grenzt aus. Dasmüssen wir als Gesellschaft ernst nehmen und verhin-dern. Dazu müssen wir an einem Strang ziehen.Es kommt nicht nur auf Maßnahmen der öffentlichenHand an. Auch die Wirtschaft ist gefragt. In diesemPunkt begrüße ich besonders die Stellungnahme derBDA, wonach Arbeitgeber ihre Personalpolitik stärkerauf Langzeitarbeitslose ausrichten sollen.
Als Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet kenne ich dieAusmaße und Folgen langer Arbeitslosigkeit durchaus.Mehr als 300 000 Menschen in Nordrhein-Westfalengelten als langzeitarbeitslos. Fast zwei Drittel von ihnensind länger als zwei Jahre ohne Arbeit. Nach wie vorkämpfen wir mit dem Strukturwandel und mit der Ar-beitsmarktdynamik. Gerade in den letzten zehn Tagenhaben gleich zwei Unternehmen in meinem Wahlkreisstrukturelle Veränderungen bzw. Standortschließungenangekündigt. Jeder wegfallende Arbeitsplatz tut weh,und selbstverständlich hoffe ich, dass die betroffenenArbeitnehmer neue Jobs finden werden. Der Ruf ausNRW nach mehr öffentlich geförderter Beschäftigung istvor diesem Hintergrund zumindest nachvollziehbar.Gleichzeitig müssen aber reguläre Jobs das oberste Zielbleiben.Wir wissen alle: Langzeitarbeitslosigkeit ist komplex.Sie hat viele Gesichter. Die Gruppe derer, die ohne Ar-beit sind, ist äußerst heterogen. Besonders schwierig istdie Situation für Geringqualifizierte, Ältere und Frauenmit Kindern unter drei Jahren. Somit müssen auch dieHilfen vielfältig und flexibel sein. Was für eine Alleiner-ziehende mit Kleinkind richtig ist, kann für einen Arbeit-suchenden über 50 das völlig falsche Angebot sein. Hiermuss passgenau unterstützt werden.
– Ja, wir sind dabei. – Dazu braucht es Zeit und Nach-druck. Die Verbesserung der Betreuungsrelation in denJobcentern ist ein erster Schritt, der absolut begrüßens-wert ist.
Ohnehin ist der Vermittlungsprozess für Fallmanagerund Betroffene ein Weg, auf dem viele Hürden genom-men werden müssen. Wer seine Situation nicht alleineverbessern kann, braucht materielle Förderung sowie in-tensive soziale Betreuung und Begleitung. Je nach Fall– auch das haben wir schon gehört – müssen die Fach-kräfte vor Ort auch Aktivitäten einfordern dürfen, etwawenn es um die Stärkung der eigenen Verantwortungund die Ausweitung von Fähigkeiten geht, um eben diepersönlichen Chancen zu verbessern.Das Ziel unserer Politik ist klar definiert: Wir wolleneinerseits Langzeitarbeitslosigkeit abbauen, andererseitswollen wir sie verhindern. Letzteres geht nur mit Prä-vention. Wir setzen auf Bildung und Qualifizierung.
Gerade in Zeiten von Industrie 4.0 und Arbeiten 4.0 gibtes immer weniger Jobs für Ungelernte. Wir müssen esschaffen, dass niemand ohne Berufsausbildung, ge-schweige denn ohne Schulabschluss bleibt. Es gilt, Men-schen beschäftigungsfähig zu machen. Wir müssen Po-tenziale wecken, insbesondere bei Geringqualifizierten,Frauen, Älteren und Migranten.Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist dieTeilhabe von Menschen mit Behinderung am künftigenArbeitsleben.
Sie dürfen bei diesem Prozess nicht die Verlierer wer-den.Weiterbildung darf im Übrigen keine Frage des Gel-des sein. Man muss sie sich leisten können.
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Michael Gerdes
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Als Vertreter der SPD befürworte ich das Modell der Ar-beitsversicherung, über die Beschäftigte zukünftig einenRechtsanspruch auf geförderte Weiterbildung erhaltenkönnten. Unser Konzept ist schlüssig, das der Linkenideologisch.Herzlichen Dank und Glück auf!
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Matthäus
Strebl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Proble-
matik Langzeitarbeitslosigkeit, die bedauerlicherweise
weiterhin aktuell ist. Dazu haben wir schon eine ganze
Reihe von Zahlen gehört.
Wir sollten uns bei diesem Thema stets bewusst sein,
dass Langzeitarbeitslosigkeit oft zu finanzieller und vor
allem zu sozialer Ausgrenzung führt. 1 Million Men-
schen, die seit mindestens einem Jahr arbeitslos sind, ist
eine zu hohe Zahl. Bereits im vergangenen November
hatten wir in diesem Hohen Hause darüber gesprochen,
und wir waren uns einig: Der Abbau der Langzeitarbeits-
losigkeit in Deutschland ist eine wichtige Herausforde-
rung, der wir uns stellen müssen und der wir uns stellen
werden. Diese Aufgabe geht jetzt das Ministerium für
Arbeit und Soziales mit uns gemeinsam an.
Wir sollten uns nicht damit zufriedengeben, dass wir
trotz der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise – ich darf
an die Jahre 2008 und 2009 erinnern – heute mit fast
43 Millionen Beschäftigten in Deutschland eine gute Ar-
beitsmarktsituation haben. Gleichwohl stagniert die Zahl
der Langzeitarbeitslosen seit 2009 wie festbetoniert.
Langzeitarbeitslose haben meistens mehrere Hemm-
nisse, die die Arbeitsaufnahme erschweren. Ich nenne
hier die gesundheitlichen Einschränkungen, Suchtpro-
bleme, Schulden und wenig gefestigte Familienstruktu-
ren. Es gibt sicher mehrere Gründe. Für diese Menschen
müssen wir eine individuelle Betreuung und Lösungen
bieten.
Auch wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
den Jobcentern eine hervorragende Arbeit leisten, gibt es
natürlich Verbesserungsbedarf, wie bereits genannt wor-
den ist. Arbeitsmarktpolitische Instrumente müssen ste-
tig angepasst und verbessert werden. Auch eine ange-
messene Kontaktdichte muss festgelegt werden. Das
Profiling und die Gespräche in Jobcentern müssen indi-
viduell und einzelfallbezogen sein. Hier müssen finan-
zielle Mittel für effektive Programme eingesetzt werden.
Ausschließlich höhere Ausgaben zu fordern, reicht eben
nicht aus.
Von Langzeitarbeitslosigkeit sind besonders Gering-
qualifizierte, ältere Menschen, Alleinerziehende und
Behinderte betroffen. Insbesondere Bedarfsgemein-
schaften mit Kindern haben ein erhöhtes Risiko, von
Langzeitarbeitslosigkeit betroffen zu sein. Unsere Auf-
gabe ist es, zu verhindern, was häufig für ganze Familien
gilt: einmal Hartz IV, immer Hartz IV. Hier müssen die
flankierenden Maßnahmen einsetzen, damit eine Ar-
beitsaufnahme nicht an mangelnder Kinderbetreuung
scheitert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße
deshalb das Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Ar-
beitsmarkt“, mit dem insbesondere Langzeitarbeitslose
in einer Bedarfsgemeinschaft mit Kindern besonders ge-
fördert werden. Damit erhalten nicht nur die erwerblosen
Eltern eine gezielte Förderung, sondern es dient auch
dazu, das Vorleben von sogenannten Sozialhilfekarrieren
weitestgehend zu reduzieren.
In Ihrem Antrag fordern Sie von der Fraktion Die
Linke die Errichtung eines auf Dauer angelegten öffent-
lich geförderten Arbeitsmarktes mit 200 000 Stellen. Öf-
fentlich geförderte Beschäftigung und Arbeitsgelegen-
heiten halte ich für eine sinnvolle Idee für Menschen, die
Alltagsstrukturen wieder neu erlernen und an den Ar-
beitsmarkt herangeführt werden müssen. Gleichwohl
dürfen öffentliche Beschäftigung und Arbeitsgelegen-
heiten nicht in Konkurrenz und im Wettbewerb zu priva-
ten Unternehmen stehen. Auch sollten Langzeitarbeits-
lose nicht dauerhaft in diese Programme verlagert
werden. Bestehende Arbeitsplätze dürfen nicht durch öf-
fentlich geförderte Beschäftigung verloren gehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Antrag
der Linken beinhaltet viele Ideen. Einige, wie die Ab-
schaffung der Sanktionen, haben wir schon wiederholt
gehört. Und diesbezüglich werden wir wohl immer un-
terschiedlicher Auffassung sein. Mir bleibt aber die
Frage der Finanzierung Ihres Fünf-Punkte-Programmes
unbeantwortet. Dazu gehört auch die von Ihnen gefor-
derte Entlohnung von 10 Euro pro Stunde, während der
Mindestlohn in Deutschland bei 8,50 Euro liegt, wie wir
alle wissen. Diese Erklärung bleiben Sie uns schuldig.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
müssen uns gemeinsam der Langzeitarbeitslosigkeit an-
nehmen. Das Konzept des Bundesministeriums ist ein
erster, wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Das
Fünf-Punkte-Programm der Linken überzeugt mich
nicht. Deswegen lehne ich es ab.
Ich bedanke mich recht herzlich für die Aufmerksam-
keit.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
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Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Fraktion Die Linke mit dem Titel „Fünf-Punkte-Pro-gramm zur Bekämpfung und Vermeidung von Langzeit-erwerbslosigkeit“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 18/4967, den An-trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3146 ab-zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Das ist die Linke. Damit ist dieBeschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen der Linken angenommen worden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt denZusatzpunkt 7 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung zur Änderungder Klimaschutzziele im Bereich alter Kohle-kraftwerkeWenn die Kolleginnen und Kollegen die Plätze einge-nommen haben, können wir gleich mit der Debatte be-ginnen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in derAktuellen Stunde hat Bärbel Höhn vom Bündnis 90/DieGrünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sind uns sicher nicht in allen Punkten einig. Deswe-gen fange ich mit einem Punkt an, in dem wir uns,glaube ich, einig sind. Die Energiewende und der Klima-schutz sind Riesenprojekte, die absolut wichtig sind. DieEnergiepolitik zum Beispiel ist die Basis für unsereWirtschaft. Der Klimaschutz ist natürlich deshalb not-wendig, weil das Klima die Basis unseres Lebens zerstö-ren könnte, wenn wir nicht darauf achten. Bei so großenProjekten aber gilt: Wir brauchen Planungssicherheitund Verlässlichkeit. Genau an dieser Planungssicherheitund Verlässlichkeit hat es in dieser Woche gefehlt.
Was da passiert ist, meine Damen und Herren, zeugtevon jämmerlichem Eigeninteresse. Deswegen war dieseWoche eine schwarze Woche für die Energiewende undeine schwarze Woche für den Klimaschutz.
Nehmen wir als Beispiel Bayerns MinisterpräsidentenSeehofer.
– In den letzten Tagen und sonst auch oft war er kein„guter Mann“. Unter seinen Kapriolen hat mittlerweileganz Deutschland zu leiden; das muss man so sagen. Beider letzten Kapriole hat er sich nicht einmal getraut, sel-ber zu reden, sondern er hat seine Wirtschaftsministerinvorgeschickt, die dann gesagt hat: Die Stromtrasse Sued-Link soll lieber durch die Nachbarländer gehen. – Das istunverantwortlich, und das ist unsolidarisch. Das ist eineDrückebergerstrategie, die wir so nicht durchgehen las-sen dürfen; denn dann gefährden wir die gesamte Ener-giewende.
Es gab auch ehrliche Versuche von VizekanzlerGabriel, der mit der Klimaabgabe ein interessantes In-strument ins Spiel gebracht hat.
– Ach, da ist er ja! Okay.
– Ich kann nicht wie die Pferde nach hinten gucken. Ichgucke meistens nach vorn.Die Klimaabgabe ist ein intelligentes Instrument – garkeine Frage –, vor allen Dingen, wenn es um alte Braun-kohlenkraftwerke geht, die einen hohen Ausstoß an CO2haben. Dagegen müssen wir etwas tun. Aber, HerrMinister Gabriel, dieser Vorschlag einer Klimaabgabe istjeden Tag mehr geschreddert worden. Das Ende vomLied ist, dass Braunkohlenkraftwerke weiterhin am Netzbleiben und weiter die Luft verschmutzen können. Mansieht: Diese Bundesregierung macht keine gute Klima-politik. – Ich sehe gerade, dass Kollege Schulze sehr zu-stimmend nickt. Warum ist das passiert? Das ist passiert,weil gerade CDU/CSU-Kollegen, die Fuchsens, diePfeiffers und Co., aber auch die Laschets aus Nordrhein-Westfalen, den Bundeswirtschaftsminister angegriffenhaben, und zwar in einer Herzensangelegenheit der So-zialdemokraten.
Das war keine Herzensangelegenheit der CDU/CSU.Wenn Laschet jetzt versucht, der SPD die Wähler weg-zuschnappen, indem er sich zum Oberkumpel der Braun-kohlenkraftwerke macht, dann ist das populistisch undlangfristig auch nicht gut. Das ist einfach nur zu kritisie-ren.
Und wer hat zu dem ganzen Thema geschwiegen?Das war die Kanzlerin. Vorher hat sie den Plan zur Kli-maabgabe abgesegnet, aber am Ende macht sie denMund nicht auf und hebt auch nicht den Finger. Das darfnicht sein. Immerhin war diese Kanzlerin einmal Um-weltministerin, sie war die sogenannte Klimaqueen, aberdavon ist nichts übrig geblieben. Ein solches Vorgehenist einer Regierung nicht würdig.
Dabei hat die Woche gar nicht so schlecht begonnen.Der Petersberger Klimadialog fand statt, und Dialog istimmer gut. Aber beim Klimaschutz nützt es nichts, wennman nur darüber spricht. Am Ende nützt es dem Klima-
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Bärbel Höhn
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schutz nur, wenn CO2 reduziert wird. Hier leistet dieBundesregierung zu wenig. Wir wollen mehr sehen.
Warum wollen wir hier mehr sehen? Wir wollen mehrsehen, weil wir uns ein großes Ziel gesetzt haben:40 Prozent weniger CO2 bis 2020 in Deutschland. Dasist wichtig; denn es geht um die Glaubwürdigkeit dieserBundesregierung im internationalen Kontext. WennDeutschland die Klimaziele nicht erreicht, dann werdenganz viele andere Länder sagen: Ja, dann brauchen wirauch nicht mehr so viel zu tun.Unsere Glaubwürdigkeit ist unglaublich viel Geldwert. Zwei in dieser Bundesregierung wissen das: Dassind die Kanzlerin und der Vizekanzler, beide warennämlich mal Umweltminister. Deshalb appelliere ich anSie: Sorgen Sie dafür, dass Technologie entwickelt wird,die in die Zukunft weist, die CO2 reduziert, die erneuer-bare Energien, Energieeffizienz und Elektromobilitätnach vorne bringt. Das sind die Produkte, die auf derWelt nachgefragt werden. Das sind die Produkte, die Ar-beitsplätze schaffen. Sagen Sie den Menschen in denBraunkohlegebieten die Wahrheit, nämlich dass Braun-kohle nicht die Zukunft ist.
Seien Sie mutig, und machen Sie langfristige Politik!Danke.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Andreas
Lenz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich binbereits gestern auf den bayerischen Vorschlag in Bezugauf die Energiewende ausführlich eingegangen.
Es war zwar gestern nicht Thema, und es ist auch heutenicht Thema, aber ich möchte betonen, dass aus bayeri-scher Sicht ein konstruktiver, lösungsorientierter Vor-schlag vorliegt, der zu einer Lösung des Problems führenwird.
Man muss sich die Stellungnahme zum Netzentwick-lungsplan in Gänze anschauen. Darin sind Vorschlägezur Erdverkabelung, zur Nutzung bestehender Trassenusw. enthalten. Frau Höhn sagte bereits, dass das Themawichtig ist. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Thema,deshalb muss man auch in der gesamten Bandbreite da-rüber sprechen, seine Tragweite erkennen und verant-wortlich darüber diskutieren.2015 ist ein wichtiges Jahr für den Klimaschutz; Sieerwähnten es ebenfalls. Im Dezember findet der Weltkli-magipfel in Paris statt. Ziel ist es, ein international ver-bindliches Abkommen zu erreichen. Ebenso finden dieKonferenz für die so wichtigen globalen nachhaltigenEntwicklungsziele in New York sowie der G-7-Gipfelauf Schloss Elmau im schönen Oberbayern statt. Bei alldiesen Konferenzen geht es auch und gerade um den Kli-maschutz. Allein die Anzahl der internationalen Konfe-renzen zeigt: Klimaschutz kann nur international funk-tionieren, oder, wie es Angela Merkel beim PetersbergerKlimadialog sagte: Klimaschutzanstrengungen fallenleichter, wenn wir wissen, dass die Partner in der Weltdas gleiche Ziel verfolgen.
Aber auch national müssen wir Anstrengungen unter-nehmen, und dies tun wir. Wir stehen zu unserem natio-nalen Klimaschutzziel von 40 Prozent CO2-Minderungbis 2020. Alles andere wäre ein falsches Signal an un-sere Partnerländer und würde an unserer Glaubwürdig-keit zweifeln lassen.Wir stehen also ausdrücklich zu den nationalen undeuropäischen Klimaschutzzielen, und dazu muss auchder Strombereich einen Beitrag leisten.
– Dem Klima, Herr Krischer, ist es allerdings egal, inwelchem Bereich die CO2-Einsparungen erfolgen,
und dem Klima hilft es auch nichts, wenn die deutscheCO2-Bilanz aufgebessert wird und sich im Gegenzug dieder europäischen Nachbarn verschlechtert.
Das wäre nämlich bei den derzeitigen Vorschlägen je-denfalls teilweise der Fall.
Deswegen sind diese Vorschläge nicht automatisch zuverwerfen, aber man muss sich dieser Wahrheit schonstellen.
Eine klug aufgestellte Kapazitätsreserve kann dabei zurCO2-Minderung beitragen. Das Ziel der Versorgungs-sicherheit kann so mit dem Ziel der CO2-Minderung
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Dr. Andreas Lenz
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kombiniert werden. In Süddeutschland sind hierfür auchlangfristig besonders effiziente sowie umweltverträgli-che Gaskraftwerksblöcke unerlässlich.Dabei brauchen wir natürlich auch weitere Ideen, wieCO2-Einsparpotenziale genutzt werden können. So kannbeispielsweise auch die Kraft-Wärme-Kopplung einennoch stärkeren Beitrag zur CO2-Einsparung leisten.
Natürlich kostet das auch Geld, aber es macht eben auchSinn. Gerade dem Wärmebereich müssen wir hinsicht-lich der CO2-Diskussion einen höheren Stellenwert ein-räumen.In der EU haben wir bereits ein Emissionshandelssys-tem. Wir alle wissen, dass dieses momentan nicht dienotwendigen CO2-Einsparziele erreicht. Wir schiebenhier sozusagen immer noch den Überschuss an Zertifika-ten, der aus der Finanz- und Wirtschaftskrise entstandenist, vor uns her.Anfang Mai konnte mit der Einigung zur Marktstabi-litätsreserve ein erster Erfolg erzielt werden. Durch dassogenannte Backloading werden CO2-Zertifikate vo-rübergehend vom Markt genommen. So entsteht wiederein wirkungsvoller Anreiz, CO2-Emissionen zu senken.Je früher also die Marktstabilitätsreserve kommt, destobesser.Ich habe es angesprochen: Es ist auch wichtig, auf in-ternationaler Ebene voranzukommen. Natürlich mussDeutschland Vorbild sein, aber auch große Emittentenwie die USA oder China müssen ihrer Verantwortung inder Welt gerecht werden. So emittiert China an einemTag 29 Millionen Tonnen CO2 – wohlgemerkt: an einemTag! Wir sprechen in Deutschland von 22 MillionenTonnen im Jahr. Hoffnung macht allerdings, dass Chinaangekündigt hat, ab 2016 ein Emissionshandelssystemeinzurichten.Wir werden auch weiterhin die Schwellen- und Ent-wicklungsländer beim Kampf gegen den Klimawandelunterstützen. Deutschland hat seine Ausgaben für deninternationalen Klimaschutz seit 2005 auf gut 2 Milliar-den Euro im Jahr 2013 vervierfacht. Die Dekarbonisie-rung, eine kohlenstoffarme Gesellschaft ist und bleibtein Megathema, auch im Sinne der Ressourcenschonungund Ressourcensicherung.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. – Klimaschutz gelingt aller-
dings nur gemeinsam, national wie international.
Schauen wir also gemeinsam, dass wir die nationalen
und die internationalen Ziele erreichen!
Herzlichen Dank und schöne Pfingsten.
Als nächste Rednerin hat Eva Bulling-Schröter von
der Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Minister, Ende März haben wir schongestaunt, als aus Ihrem Hause der Vorschlag für einenKlimabeitrag der ältesten Kohlekraftwerke in den Büroseintrudelte. Wir haben dazu gesagt: intelligenter Vor-schlag, findet unsere Anerkennung, auch wenn wir – daswissen Sie ja – den gleichzeitigen Beschnitt bei derKWK nicht akzeptiert haben. Dann haben wir in den Bü-ros Wetten abgeschlossen, wie lange Herr Gabriel durch-halten wird.
Fast acht Wochen hat er durchgehalten gegen den Wider-stand aus der CDU/CSU, seiner SPD und der IG BCE.Herr Gabriel, Sie haben den Fehler gemacht, der Kohle-industrie genau das abzuverlangen, was sie dem Klimaschuldet, nicht mehr und auch nicht weniger. Im Kom-promiss innerhalb der Koalition wird das dann plattge-macht, und es kommt am Ende nichts dabei heraus.
Nach acht Wochen ist der Minister nun eingeknickt, erhat seinem schönen Instrument die nordrhein-westfäli-schen Zähne gezogen. RWE und Eon sagen Dankeschön.Es geht hier und heute darum, wie lange die großenEnergiekonzerne noch durchgefüttert werden sollen. Wirwissen es: Irgendwann verabschieden sie sich dann ge-schickt aus der Verantwortung und hinterlassen uns ver-wüstete Landschaften und verockerte Flüsse. All dasmüssen am Ende die Menschen zahlen, noch Generatio-nen nach uns; es wird bereits diskutiert. Da sagen wir:Das machen wir nicht mit.
Dieses kurzsichtige Handeln, meine Damen und HerrenKohlelobbyisten, bezahlen Ihre und unsere Kinder undEnkel; sie werden die Kosten der Renaturierung, derEntgiftung von Trinkwasser und vor allem die Folgendes Klimawandels tragen. Das dürfen wir einfach nichtzulassen!
Jetzt zum Klimabeitrag. Der nun vorgelegte Minibei-trag ist um ein Viertel geschrumpft; dafür wird bei derKraft-Wärme-Kopplung etwas draufgelegt: 1,5 Milliar-den Euro statt 1 Milliarde Euro jährlich. Ob das genügt,um die KWK aus der Agonie zu holen, wissen wir nochnicht, auch nicht, ob mit der KWK der Beschnitt desKlimabeitrags wettgemacht werden kann; denn dasfunktioniert nur, wenn alte, mit Steinkohle befeuerteKraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen durch neue Gas-
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Eva Bulling-Schröter
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KWK ersetzt werden. Das wäre zu hoffen, ist aberhöchst optimistisch gerechnet, sage ich mal, und in derderzeitigen Marktsituation total unsicher. Damit sindauch die 4 Millionen Tonnen CO2-Einsparung, die da-durch erreicht werden sollen, momentan reine Spekula-tion. Der Verkehrsbereich soll weitere 2 Millionen Ton-nen auffangen, 1 Million im Schienenverkehr, 1 Milliondurch Elektro-Lkws.
Wir wissen noch nicht, wie das bis 2020 zu schaffen ist;die Koalition weiß es auch nicht. Das sind also wirklicheLuftbuchungen.Jetzt stehen wir wahrscheinlich wieder vor der Dis-kussion über die Klimaschutzlücke, wie wir das 40-Pro-zent-Ziel erreichen wollen mit dem nun aufgeweichtenKlimaschutzbeitrag, der die Stromwirtschaft erst rechtausnimmt. Ausdrücklicher noch als zuvor will die Bun-desregierung nun auch Stilllegungen von uralten Kohle-meilern vermeiden. Ich frage Sie: Bis wann soll das danneigentlich passieren? Sogar das RWE-KraftwerkWeisweiler Block E von 1965 – wird jetzt 50 Jahre alt –und Block F von 1967 – wird in zwei Jahren 50 Jahre alt –wollen Sie am Tropf halten, indem Sie den Transportvon Kohle über 150 Kilometer belohnen. Da sagen wir:Das ist wirklich Unfug.
Die Menschen, die von dem notwendigen Struktur-wandel in den Kohleregionen betroffen sind, hätten vonvornherein besser abgeholt werden müssen. Ich sagemal, das hat auch die SPD versäumt. Deshalb ist der Wi-derstand nun auch so groß. Der Wandel muss aber be-schleunigt werden; das ist klar. Ich denke, da muss nochwesentlich mehr getan werden. Wir reden zwar schon;bloß, es braucht jetzt auch Handlungen. Die Braunkoh-lenindustrie muss endlich einen angemessenen Beitragzum Klimaschutz leisten.
Es gibt eine Studie des Wirtschaftsministeriums, dievon Ihnen immer noch zurückgehalten wird; diese hättenwir gerne. Darin steht, dass im Bereich der erneuerbarenEnergien 230 000 Arbeitsplätze neu geschaffen werdenkönnen. Das ist in etwa so viel, wie seit 1990 im Braun-und Steinkohlentagebau weggefallen sind. Es gibt alsoneue Chancen.Zum Schluss komme ich noch zur KWK. Die Leutewollen wissen, wann das KWK-Gesetz kommt. Auchhier geht es um Arbeitsplätze, und es geht um die Stadt-werke. Ich muss das jetzt nicht durchdeklinieren.
Sie, liebe Frau Kollegin, müssen zum Schluss kom-
men.
Und wenn ich jetzt höre, dass die CDU die Kohle an
die KWK binden will, muss ich sagen: Das finde ich
vollkommen irrsinnig. Hier muss schnellstens etwas ge-
tan werden. Diese offensichtliche Bindung der beiden
muss aufgehoben werden. Die KWK ist wichtig, und
hier muss auch etwas getan werden.
Als nächster Redner hat Bernd Westphal von der
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Energiewende ist das Megaprojekt – glo-bal, aber vor allem auch national. Deutschland steht da-bei im Fokus der Betrachtung.Wir haben die große Chance, unseren Industriestand-ort zu modernisieren. Es ist dem WirtschaftsministerSigmar Gabriel zu verdanken, dass wir die Energie-wende vom Kopf auf die Füße gestellt haben. Mit der10-Punkte-Energie-Agenda haben wir eine gute Basisfür ein strukturiertes Vorgehen.
Klar ist aber auch, dass das energiepolitische Zieldreieckaus Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit undBezahlbarkeit gleichberechtigt gilt.Mit den nationalen Klimaschutzzielen haben wir unsals größte Volkswirtschaft Europas mit dem höchstenEnergieanteil sehr ehrgeizige Ziele gesetzt. Die Treib-hausgasemissionen sollen bis 2020 national um 40 Pro-zent gegenüber 1990 reduziert werden. Das ist zehnJahre früher als in der gesamten Europäischen Union.Fakt ist: Alle Sektoren müssen ihren Beitrag leisten. Dasgilt für die Landwirtschaft, für die privaten Haushalte,für die Industrie, für das Gewerbe, für den Handel, fürden Verkehr und natürlich auch für die Stromerzeugung.Deren Anteil hat übrigens dazu beigetragen, dass wirheute dort stehen, wo wir sind. Das ist ein erheblicher Bei-trag der Braunkohlenindustrie auch in diesem Bereich.
Hätten wir CCS, dann wären wir in diesem Bereichschon viel weiter.
In unserem Land steigt jedoch der Bedarf an fossilerEnergie. Das liegt an dem früheren Abschalten einigerKernkraftwerke. Dies führt aufgrund der notwendigenCO2-Reduzierung zu einer verschärften Umsetzungspro-blematik für die Betreiber fossiler Kraftwerke. DerErhalt von sicheren Kraftwerkskapazitäten bei gleichzei-tigem Ausstieg aus der Kernenergie und aus der Braun-
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Bernd Westphal
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kohle ist mit hohen Risiken verbunden. Die Braunkohleist Garant für Versorgungssicherung und Preisstabilität.Deshalb ist das kurzfristig nicht zu realisieren.
Trotz aller Schwierigkeiten werden wir in Deutsch-land die Reduktion bis 2020 sichern. Dabei bin ich mirdurchaus bewusst, dass wir das natürlich nicht mitScheuklappen machen dürfen. Wir dürfen jetzt nicht imAffekt handeln und unüberlegte Dinge tun, die weiter-führende Folgen haben. Deswegen nehmen wir die ak-tuellen Sorgen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer aus der Bergbau- und Energiewirtschaft sehr ernst,und wir haben uns immer offen für den Dialog gezeigt.Wir müssen bei unserem Handeln immer die Auswir-kungen auf Energiepreise und auf Arbeitsplätze im Augebehalten. Das nennen wir bei der SPD „soziale Verant-wortung“.
Ebenso müssen Kapazitäten für die Stromerzeugungund -verteilung jederzeit zur Verfügung stehen. Eng-pässe kann sich Deutschland als Industriestandort nichtleisten. Wenn wir die Industrie, das Handwerk, den Han-del und das Gewerbe aus dem Land treiben, dann wirddas für das Klima nichts bringen.
Wichtig ist, dass wir auch weiterhin Vorreiter bei derEnergiewende und Technologieführer bleiben. Nur sokönnen wir anderen Ländern als Vorbild dienen. DieEnergiewende wird aber nur dann als gutes Beispiel tau-gen und global Nachahmer finden, wenn wir unsere In-dustrie und den Mittelstand, die für Wertschöpfung sor-gen und Arbeits- und Ausbildungsplätze zur Verfügungstellen, nicht verlieren. Auch Strukturbrüche in denBraunkohlenrevieren müssen wir verhindern. Hier gehtes um Strukturwandel ohne sozialen Kahlschlag.Mit dem Kabinettsbeschluss am 3. Dezember letztenJahres wurde der Fahrplan für das weitere Vorgehen beider CO2-Reduzierung beschlossen.
Damit sollen die Klimaschutzziele erreicht werden. Ichbin mir sicher, dass die Gespräche des Wirtschaftsminis-ters mit allen Akteuren, die in den letzten Wochen sehrintensiv geführt worden sind, auch zielführend waren.Erste Modelle liegen auf dem Tisch. Diese werden wirgenau überprüfen. Dazu gehört aber auch Offenheit fürneue Technologien, eine Offenheit für technische Intelli-genz, zum Beispiel im Hinblick auf die Steuerung vonGebäudeheizungen oder -kühlungen, mehr KWK, mehrMobilität oder den Einsatz von CO2 als Rohstoff bei derHerstellung von Methan. All das sind neue Technolo-gien, die man nutzen kann, um die CO2-Emissionen zureduzieren.Das Verknüpfen von Einsparungen beim Energiever-brauch, der Erhalt von sicheren Kraftwerkskapazitätenund der Ausbau der erneuerbaren Energien sind für dasGelingen der Energiewende von entscheidender Bedeu-tung. Wir werden uns weiterhin für das Erreichen derKlimaschutzziele einsetzen.
Dabei geht es nicht um Kohleausstieg, sondern um dieReduzierung der CO2-Emissionen. Herr Minister, Siekönnen auf dem von mir beschriebenen Weg mit unsererUnterstützung rechnen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Andreas Jung
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Bärbel Höhn, wir alle sind beim Klima-schutz und bei der Energiewende mit Herzblut und Emo-tionen bei der Sache. Da das so ist, kann man im Eiferdes Gefechts auch mal wesentliche Tatsachen übersehen,ob es ein Minister auf der Regierungsbank ist
– das war die charmante Formulierung, die mir dazu ein-gefallen ist – oder aber ganz eindeutige Äußerungen derBundeskanzlerin im Klimadialog in dieser Woche. DieseÄußerungen sind mindestens so unübersehbar wieSigmar Gabriel auf der Regierungsbank.
Deshalb will ich hier einfach erwähnen, was sie am19. Mai, am Dienstag dieser Woche, beim PetersbergerKlimadialog gesagt hat, zu dem die Bundesregierungeingeladen hatte.Die Kanzlerin hat sich glasklar zu dem nationalenZiel Deutschlands bekannt, die CO2-Emissionen bis2020 um 40 Prozent zu reduzieren.
Sie hat gesagt, wir hätten den Ehrgeiz, das zu erreichen.Sie hat zweitens gesagt, um das zu erreichen, habedie Bundesregierung ein Aktionsprogramm vorgelegt. In
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Andreas Jung
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diesem Aktionsprogramm – so die Bundeskanzlerin –seien zusätzliche Maßnahmen in den Bereichen Verkehr,Gebäude, Stromerzeugung – dazu gehört die Kohle –,Industrie sowie Abfall- und Landwirtschaft mit konkre-ten Minderungsbeiträgen enthalten. Das hat sie eindeutiggesagt. Sie hat dazu gesagt, dass wir noch darum ringen,aber mit Hochdruck – so ihre Worte – an der Umsetzungarbeiten, da wir noch nicht am Ziel seien.Darum geht es: Wir sind im Moment noch nicht amEnde der Debatte. Sie kommentieren einen Zwischen-stand, der gar nicht vorliegt. Ich lade uns alle dazu ein,uns mit Vehemenz dafür einzusetzen, dass dieses Ak-tionsprogramm umgesetzt wird, um mit den Maßnahmendie Klimaschutzziele zu erreichen.
Darum ringen wir; die Unionsfraktion und die Koalitionstehen dahinter. Darum geht es. Deshalb will ich IhreKritik zurückweisen. Es gab eine klare Stellungnahme.
Ich will auch sagen, dass sie in diesem Kontext auchdie EU-Ziele angesprochen hat und ganz ausdrücklichgesagt hat, dass das, was beschlossen wurde, nämlich dieReduktion der Treibhausgasemissionen um mindestens40 Prozent bis 2020, eben gerade offenlasse, ob manüber die 40 Prozent hinausgehe. Sie hat da auf das – Zi-tat – „Wörtchen ‚mindestens‘“ hingewiesen. Diese Dy-namik brauchen wir auch in diesem Jahr.Sie hat auch den Emissionshandel angesprochen undhat sich klar zu seiner Reformbedürftigkeit bekannt, hatsich für eine weltweite Transformation zu einer kohlen-stofffreien Wirtschaft ausgesprochen und hat bei alldemdie Vorreiterrolle der Bundesrepublik Deutschland un-terstrichen.Insofern bitte ich darum, dass wir bei allem, was wirdiskutieren, die Fortschritte zur Kenntnis nehmen. DieseFortschritte gibt es etwa im Bereich der Klimafinanzie-rung. Auch da hat die Regierung sich klar zu den Verab-redungen von Kopenhagen bekannt, die weitgehendsind. Sie beinhalten, dass 100 Milliarden US-Dollar ausöffentlichen und privaten Quellen für die Klimafinanzie-rung international zur Verfügung gestellt werden müs-sen.
Die Bundeskanzlerin hat am Dienstag angekündigt, dassDeutschland den Beitrag, der seit 2005 schon vervier-facht wurde, bis 2020 verdoppeln will. Das sind klareWorte. Das sind die Taten, auf die Sie hingewiesen ha-ben, und da liefert die Bundesregierung.
Das alles sind Schritte, die wir in diesem Jahr gehen.Wir wissen, dass 2015 ein wichtiges Jahr für Nachhaltig-keit und für Klimaschutz ist. Alles ist ausgerichtet aufdie Klimakonferenz in Paris Ende des Jahres. Bis dahinmüssen die Ergebnisse vorliegen; darauf richten sich un-sere Anstrengungen. Ich lade Sie dazu ein, dann die Er-gebnisse zu kommentieren. Unser Ansporn ist es, hierFortschritte zu erreichen. Das 40-Prozent-Ziel muss er-reicht werden. Wir haben das Aktionsprogramm, undwir arbeiten an der Minderung des CO2-Ausstoßes beider Stromerzeugung; dazu gehört auch der Klimabeitragder Braunkohle.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Harald
Petzold von der Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher aufden Tribünen! Die Linke steht genauso wie die Grünen,die die heutige Aktuelle Stunde beantragt haben, fürmehr Klimaschutz.
Das kann ich auch aus Brandenburger Sicht mit Fug undRecht sagen. Denn wir haben uns nicht nur aufgrund un-seres Anspruchs, im Klimaschutz weiter voranzukom-men, in Brandenburg für eine wirkliche Energiewendeeingesetzt. Seit wir dort an der Regierung beteiligt sind,seit 2009, ist es tatsächlich auch gelungen, neue Ak-zente, neue Schwerpunkte zu setzen.
Brandenburg hat in der Energiestrategie den Haupt-schwerpunkt eindeutig auf den vorrangigen Ausbau dererneuerbaren Energien gesetzt und ist seit 2009 dreimalhintereinander – zumindest die SPD-Kollegen müsstenjetzt mitklatschen – mit dem Leitstern für das Bundes-land ausgezeichnet worden,
das den Ausbau der erneuerbaren Energien am weitestenvorangebracht hat.
Das ist ein Fakt, der sich nicht wegdiskutieren lässt undder deutlich macht, dass Klimaschutz bei uns in Bran-denburg großgeschrieben wird.Zweiter Schwerpunkt der Energiestrategie sind Ener-gieeinsparung und Energieeffizienz. Auch da müsstendie Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zumindestdie aus Brandenburg, mitklatschen, weil damit sehrwichtige Modellprojekte auf den Weg gebracht wordensind. Ich erinnere an Forst, wo es den Versuch gab, mitintelligenten Stromzählermodellen ein neues Verbrau-
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Harald Petzold
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cherverhalten anzureizen und auf Energieeinsparung undeffizienteren Umgang zu setzen.
Der dritte Schwerpunkt ist die Energiespeicherung.Auch da müssten die Kolleginnen und Kollegen von derSPD mitklatschen.
Ich erinnere an „Power to Gas“ und an die Bemühungender Gemeinde Feldheim um Unabhängigkeit in der Ener-gieversorgung. All das ist in Brandenburg auf den Weggebracht worden.Ein weiteres Stichwort lautet „Mobilitätswandel“. Undes gibt regionale Energiekonzepte, die vor allen Dingendarauf setzen, Potenziale in den Regionen zu ermitteln,Reserven im Ausbau der erneuerbaren Energien zu er-schließen und insbesondere Menschen mitzunehmen aufdem Weg der Energiewende.
Damit bin ich bei dem, worum es heute auch gehensoll, nämlich bei den Vorschlägen, die Herr Wirtschafts-minister Gabriel gemacht hat. Der Kollege Westphal hathier gesagt, die Energiepolitik sei wieder vom Kopf aufdie Füße gestellt worden, und er hat dann das strategi-sche Dreieck zitiert. Wir sind der Auffassung, dass min-destens von einem strategischen Viereck geredet werdenmuss. Wenn wir nämlich Versorgungssicherheit, Bezahl-barkeit und Umweltverträglichkeit haben wollen, dannwerden wir auch Akzeptanz in der Bevölkerung habenmüssen. Deswegen kann ich alle nur warnen, diesenwichtigen Punkt zu übersehen.
Die Art, wie der Wirtschaftsminister seine Vorschlägein die Öffentlichkeit gebracht hat – ich habe mich vonAnfang an gefragt, ob er das tatsächlich zumindest mitseinen SPD-Ministerpräsidenten vorher besprochenhat –,
macht deutlich, dass wir mit dem Gegenstand Klima-schutz auf der einen Seite und den Sorgen und Existenz-ängsten der Menschen auf der anderen Seite, egal ob inNordrhein-Westfalen oder in der brandenburgischenLausitz, nicht verantwortungsvoll umgehen. Denn miteiner solchen Politik – erst einen Versuchsballon startenlassen, die Lippen spitzen und dann nicht pfeifen, allesschrittweise wieder zurücknehmen und im Endeffektdeutlich machen, dass es eigentlich wieder nur darumgeht, Wirtschaftsinteressen zu bedienen – treiben Sie so-wohl die Gegner als auch die Befürworter der Kohle-kraftwerke in Scharen auf die Straße. Wir müssen unsnicht wundern, wenn bei denen der Eindruck entsteht,dass das eine gegen das andere politisch durchgesetztwerden soll. Das ist keine verantwortungsvolle Energie-politik.
Deswegen sagen wir als Linke: Wir setzen uns dafürein, dass nicht so ein Flickwerk betrieben wird. Unsersinnvoller Alternativvorschlag ist ein präziser und ge-stalteter Abschaltplan, ist ein nationales Kohleausstiegs-gesetz,
durch das sowohl die Regionen und ihre Einwohnerin-nen und Einwohner als auch die Unternehmen und Be-schäftigten die benötigte Planungssicherheit bekommenund in den nächsten Jahren bis 2040 tatsächlich dasletzte Kohlekraftwerk vom Netz gehen kann.
Das wäre eine klare Alternative zu dem Tohuwabohu,das die Bundesregierung im Moment anbietet. Dafürsteht die Linke. Ich denke, das wäre ein guter Beitragzum Klimaschutz.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die Bundesregierung hat jetzt derBundesminister Sigmar Gabriel das Wort.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weißnicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber der Redebeitragvon Herrn Petzold meinte das präzise Gegenteil vondem, was Frau Bulling-Schröter vorher für die Linke ge-sagt hat.
Frau Bulling-Schröter hat gesagt: Ihr macht viel zu we-nig Klimaschutz, ihr müsst viel mehr Braunkohlenkraft-werke abschalten.
– Herr Petzold, ich kenne Ihre Positionen vor Ort. VorOrt in der Lausitz und in Brandenburg sind Sie vorne-weg beim Kampf für den Erhalt des Braunkohlentage-baus,
übrigens aus meiner Sicht aus nachvollziehbaren Grün-den.
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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– Ich kann nichts dafür, dass Sie vor mir reden. Sie kön-nen gerne nach mir reden.
Sie können hier jede Frage an mich stellen. Ich unter-breche meine Rede sofort. Ich komme zu Ihnen in denAusschuss, wo auch immer Sie mit mir diskutieren wol-len. Aber ich kann nicht zulassen, dass Sie immer mitdoppelter Zunge sprechen.
Da finde ich die Positionen der Grünen wesentlichkonsequenter und klarer.
Bei Ihnen ist es so, dass Sie vor Ort immer erklären, dassviel zu viel Klimaschutz betrieben wird, und sich hier imBundestag Frau Bulling-Schröter hinstellt und sagt: Esmuss viel mehr passieren.
Zweitens wollte ich auf ein paar Sachverhalte hinwei-sen.
– Nun laden Sie mich doch ein. Wenn Sie mit mir debat-tieren wollen, komme ich herzlich gern. Denn ich halteetwas von Volksaufklärung und bin gegen Volksverdum-mung.
– Ich kann schon verstehen, warum Sie unruhig werden.Die Frage der Grünen bezieht sich auf die Haltung derBundesregierung zur Änderung der Klimaschutzziele imBereich der alten Kohlekraftwerke. Die Antwort lautet:Die Haltung hat sich nicht geändert. Es gibt einen Be-schluss des Kabinetts vom 3. Dezember 2014, der klarbesagt, was wir zusätzlich machen müssen – unter ande-rem ein Beitrag aus der Stromwirtschaft, 22 MillionenTonnen CO2 einzusparen –, damit wir das nationale Kli-maschutzziel 2020 erreichen.Jetzt gibt es dazu drei Vorschläge. Den ersten habenSie zitiert. Das ist der Vorschlag unseres Hauses zur Ein-führung eines Klimabeitrags. Es ist überhaupt nicht so,dass sich der Klimabeitrag geändert hat. Einer der Kri-tikpunkte war, die prognostizierten Strompreise seien zuhoch und deswegen sei der Klimabeitrag zu hoch. Da ha-ben wir gesagt: Das ist doch ganz einfach: wenn, dann.Wenn die Strompreise niedrig sind, kann der Klimabei-trag sinken, steigen die Strompreise, steigt der Klimabei-trag. Das ist ganz logisch. Es gibt überhaupt keine Ände-rung des Vorschlags.Es gibt einen zweiten Vorschlag. Wer übrigens glaubt,der Vorschlag habe zum Inhalt, dass Braunkohlenkraft-werke abgeschaltet werden sollen, der lobt zwar denVorschlag, hat ihn aber nicht gelesen. Genau das ist jader Streit zwischen den Unternehmen, den Gewerkschaf-ten und uns. Die Unternehmen sagen: Euer Vorschlagführt zu einer Zwangsstilllegung von Braunkohlenkraft-werken. Wir sagen: Das stimmt gar nicht. Wir wollennur in der Merit Order alte ineffiziente Braunkohlen-kraftwerke hinter moderne Steinkohlenkraftwerke schie-ben und damit etwas weniger laufen lassen. Das ist ei-gentlich der Vorschlag. Wir wollen gar nicht abschalten.Dazu sagen aber die Unternehmen: Das führt zu einerZwangsabschaltung. Das hat sofort Arbeitsplatzverlusteund Strukturabbrüche zur Folge und keinen Struktur-wandel.Ich habe die Debattenbeiträge von Frau Höhn undvon Herrn Krischer immer so verstanden, dass sie wis-sen, dass man Strukturwandel begleiten muss. Ich habedie Grünen nie so verstanden, dass ihnen dieses Argu-ment egal ist. Ich finde, es ist doch ganz logisch, dassman dem Argument nachgehen muss. Man kann nichteinfach dickfellig sagen: „Jetzt haben wir einen Vor-schlag gemacht, unsere Gutachter sagen, dass das alleskein Problem ist“, und wenn die Unternehmen und dieGewerkschaften sagen: „Doch, das ist ein Riesenpro-blem“, antworten, dass uns das nicht interessiert. Viel-mehr müssen wir diesem Argument der Unternehmenund der Gewerkschaften nachgehen. Das geht doch garnicht anders. Das machen wir auch.
Es gibt zwei Alternativvorschläge dazu. Der ersteVorschlag ist – das wird auch von Ihnen vertreten –, dieKraft-Wärme-Kopplung kräftig auszubauen; das sei effi-zient und gut. Dabei gibt es ein Problem: Der Zubauneuer Kraftwerke auf einem Markt mit Überkapazitätenführt nicht zur CO2-Reduktion. Es führt vielmehr zu des-sen Anstieg und zu einer Zunahme der Stromexporte.Das ist das Problem bei diesem Vorschlag.Deswegen sind wir dafür, das anders zu machen: Wirwollen alte und ineffiziente Steinkohlen-KWK-Kraft-werke stilllegen und stattdessen moderne Gas-KWK-Kraftwerke bauen. Das wollen wir bezuschussen. Dasführt übrigens zu deutlich höheren KWK-Umlagen. Daswird uns allen wiederbegegnen, wenn uns der Mittel-stand fragt, warum die Abgaben steigen.
– Dazu komme ich gleich. Ich will nicht weg von derBraunkohle. So einfach will ich es Ihnen nicht machen,Herr Krischer, dass ich dazu nichts sage.Was KWK angeht, muss man wissen, dass man auf ei-nem Markt mit Überkapazitäten nicht einfach weitereKraftwerke bauen kann, sondern es geht um die Still-legung alter Steinkohlen-KWK-Kraftwerke. Sie haben,glaube ich, gesagt, Sie glauben nicht, dass das möglich
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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ist. Fahren Sie doch einmal nach Kiel! Das ist das besteBeispiel dafür. Das Modell Kiel steht dafür Pate.Das geht nicht unbegrenzt. Ich glaube, dass wir damitmindestens 4 Millionen Tonnen CO2 einsparen können.Damit wird die Steinkohle einen nicht unerheblichenBeitrag leisten. Ich glaube, dass das sinnvoll ist.Darüber hinaus wird es, glaube ich, schwierig. Die in-dustrielle KWK kann man sicherlich auch noch aus-bauen. Es ist nicht so, dass man gar nichts machen kann.Sie haben die Stadtwerke angesprochen, FrauBulling-Schröter. Was wollen wir machen, um die Stadt-werke zu retten? Ich habe es schon zweimal gesagt: Wirwollen den Bestand an KWK fördern.
Das haben wir in den Papieren und Vorschlägen festge-halten. Eine Bestandsförderung gibt es nämlich bishernicht. Wir wollen gasbetriebene KWK fördern. Deswe-gen haben die Stadtwerke unseren Vorschlag gelobt. Ge-nau deswegen haben sie ihn als guten Vorschlag bezeich-net.Jetzt komme ich zu dem dritten Teil des Alternativ-vorschlags, der lautet – ich übersetze das einmal –: Ver-zichtet auf den Klimabeitrag! Legt die Braunkohlekraft-werke schrittweise still! Das ist eigentlich das, was dieGrünen immer wollten. Wir werden sehen, ob das mög-lich ist. Ich kann das noch nicht beantworten.Festzustellen ist aber: Am 24. November des vergan-genen Jahres habe ich die EVUs, auch den BDEW, ein-geladen. Ich habe ihnen mitgeteilt, dass wir ein Problemhaben und 22 Millionen Tonnen zusätzlich einsparenmüssen, und ein Gespräch über mögliche Maßnahmenvorgeschlagen. Die Antwort der EVUs, an der Spitze derBDEW, war: Wir wollen nicht mit Ihnen darüberreden. – Es gab eine Verweigerungshaltung der Branche.
Dann haben wir vorgeschlagen, dass sie Alternativenvorlegen, damit wir darüber reden können. Daraufhin istmonatelang nichts passiert. Jetzt liegt seit ungefähr einerWoche ein Alternativvorschlag vor, der von der Indus-triegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie vorgetragenwurde. Das halte ich für einen Riesenfortschritt. Übri-gens war die IG BCE, anders als die Unternehmen, im-mer gesprächsbereit.
Es ist wirklich nicht fair, wie Sie von der Linksparteimanchmal über sie reden. Die IG BCE hat von Anfangan gesagt: „Wir haben Angst um die Jobs und vor Struk-turbrüchen, aber wir wissen, dass wir das Klimaschutz-ziel erreichen müssen“ und vorgeschlagen, über Alterna-tiven zu sprechen.
Vorhin haben Sie die Gewerkschaften verteidigt. Ichwäre an Ihrer Stelle ein bisschen vorsichtig und würdemich erst einmal fragen, ob die Reden von vor zweiStunden noch mit dem übereinstimmen, was jetzt gesagtwird.
– Hören Sie auf! Ich bin wahrscheinlich schon länger inder IG Metall, als Sie zurückdenken können. Ich weiß,wovon ich rede, wenn ich über Gewerkschaften spreche.
Ich hätte zumindest zu dem Tarifeinheitsgesetz heuteMorgen gerne etwas gesagt. Das erspare ich mir jetzt.
– Nein, die IG Metall ist im Gegensatz zu Herrn Ernstfür das Tarifeinheitsgesetz.
Die IG BCE schlägt also vor, zu überlegen, wie wir zueiner schrittweisen Stilllegung von Kraftwerken kom-men, damit die Last nicht auf allen Kraftwerken liegt.Das ist ihr Argument. Ich finde, wir müssen jetzt prüfen,ob das möglich ist. Aber es ist doch ein Riesenfort-schritt, dass wir inzwischen nicht mehr über die Fragereden, ob wir das erreichen können, sondern dass alle sa-gen: Ja, wir müssen es erreichen. – Ich finde, das ist allerEhren wert. Es ist nichts vom Tisch genommen worden,sondern Gott sei Dank etwas hinzugekommen.Mein Angebot ist: Lassen Sie uns im Ausschuss überdiese Fragen reden und sie substanziell prüfen. Denn ichglaube, dass alle Vorschläge Vor- und Nachteile haben.Ich halte nach wie vor den bei uns entwickelten Vorschlagfür den volkswirtschaftlich günstigsten. Ich glaube, dassdie Vorschläge, die jetzt dazukommen, am Ende teurerwerden. Aber wenn es mehr kostet, Strukturbrüche zuvermeiden und das gleiche Ziel zu erreichen, dann binich auch bereit, das mitzutragen.
Wenn alle der Meinung sind – Frau Höhn hat das auchgesagt –: Deutschland muss Initiative zeigen, damit an-dere mitmachen, dann ist dieses Argument richtig. Esgeht schließlich nicht darum, ob wir mit 40 Prozent CO2-Einsparung die Welt retten, sondern darum, zu zeigen:Ambitionierter Klimaschutz ist mit dem volkswirtschaft-lichen Wohl vereinbar.Ich glaube, es gehört auch dazu, dass man Struktur-brüche vermeiden muss. Noch einmal: Ich habe immergesagt, dass ich glaube, dass wir gar nicht stilllegen müs-sen. Die Politik darf aber nicht so arrogant sein, zu sa-gen: Wir wissen alles besser als die Unternehmen, dieGewerkschaften und die Betriebsräte. – Ich glaube, dasswir denen zuhören müssen. Wenn die einen Vorschlagmachen, mit dem dasselbe Ziel erreicht werden kann, derVorschlag aber möglicherweise mit höheren Kosten ver-bunden ist, dann muss man die Vermeidung von Struk-turbrüchen und die Begleitung des Strukturwandels ge-gen die möglicherweise höheren Kosten abwägen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10315
Bundesminister Sigmar Gabriel
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Noch einmal: Es ist nichts vom Tisch, sondern es istetwas Neues auf den Tisch gekommen. Ich bin der IGBCE sehr dankbar dafür. Die hat dafür gesorgt, dass esüberhaupt so weit gekommen ist. Die Unternehmen hat-ten sich nämlich verweigert.Wenn Sie, Frau Höhn, befürchten, dass wir am Endeeinen pflaumenweichen Vorschlag machen, der keineSubstanz hat, und dass wir uns durchmogeln, dann sageich Ihnen: Lügen haben kurze Beine. Das bringt garnichts. Das ist nicht mein Ziel, auch nicht das Ziel derKanzlerin.Meine Bitte ist: Lassen Sie uns einfach im Ausschussweiter reden oder eine Debatte hier oder wo immer Siewollen, führen, um zu überprüfen, welcher dieser Vor-schläge, die es jetzt gibt, welche Konsequenzen hat. Ichbin sicher, dass wir noch Bundestagsreden halten wer-den, in denen wir versuchen werden, zu zeigen, dass wirunterschiedlicher Meinung sind; aber es könnte sein,dass wir außerhalb des Plenarsaals sagen: Das ist ganzgut, wie wir das miteinander machen.Hier im Raum sitzen doch in Wahrheit die Abgeord-neten des Bundestages, die an dem Ziel Klimaschutz einRieseninteresse haben und die sich, solange ich das ver-folge – das sind nun auch schon einige Jahre; seit 2005tue ich das –, immer dafür eingesetzt haben – ich denkean Herrn Jung und andere –, solche Ziele zu erreichen.Lassen Sie uns also nicht so tun, als wären wir ganz weitvoneinander entfernt. Es geht eigentlich um die richtigenInstrumente. Ich finde es eine schöne Entwicklung, dasswir jetzt nicht nur einen, sondern drei Vorschläge haben.Jetzt wollen wir einmal schauen, wie wir damit umge-hen. Ich finde, man kann eigentlich ganz entspannt in diePfingstpause gehen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Oliver
Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Gabriel, der Pfingstgeist scheint schonheute auf Sie heruntergekommen zu sein.
Ich finde es gut, dass Sie uns anbieten, dass wir unsüber verschiedene Instrumente unterhalten. Das tun wirGrüne. Wir legen Ihnen seit anderthalb Jahren zu diesemThema Vorschläge vor. Wir haben versucht, eigene Vor-schläge mit Ihnen hier zu diskutieren. Das war allesnicht möglich. Einmal ehrlich: Ihr Problem sind dochgar nicht wir Grüne. Ihr Problem sind auch nicht die ausBrandenburg. Ihr Problem sind doch die auf der rechtenSeite des Hauses. Genau genommen sitzt das Problemim Moment nicht da. Das ist die energiepolitische Todes-zone: Bareiß, Fuchs, Pfeiffer.
Das sind die, die alles versenken und alles gar nicht wol-len. Die sind gar nicht hier. Die wollen gar nicht darüberreden. Die sagen öffentlich: Wir wollen keinen Kohle-beitrag. – An dieser Stelle – das ist Ihr politisches Pro-blem – drohen Sie, Herr Gabriel, umzukippen.Sie sind gerade über eines nonchalant hinweggegan-gen. Ihr Vorschlag ging dahin, 22 Millionen Tonnen ein-zusparen. Jetzt senken Sie den Beitrag der Kohle auf16 Millionen Tonnen ab und sagen: Wir wollen etwasmit der Kraft-Wärme-Kopplung machen. – Den Beitragder Kraft-Wärme-Kopplung haben Sie aber schon an ei-ner anderen Stelle verbucht, nämlich bei 70 MillionenTonnen. Die Differenz, 48 Millionen Tonnen, kommthinzu. Darin ist die Kraft-Wärme-Kopplung enthalten.Jetzt kommen Sie mit abenteuerlichen Vorschlägenund bringen den Güterverkehr und die Elektromobilitätins Spiel. Das ist ein spannendes Zukunftsthema, wirdaber vor 2020 keine Rolle spielen. Das ist eine reineLuftbuchung, das erinnert an Science Fiction. Das istkein seriöser Beitrag zum Klimaschutz.
Lassen Sie uns ehrlich darüber reden. Wir könnengerne die Debatte darüber führen, ob wir alte Kraft-werksblöcke stilllegen. Damit habe ich als Grüner über-haupt kein Problem. Ich halte es nämlich für völligunverantwortlich, dass wir in Deutschland Kraftwerks-blöcke haben, die 50 Jahre alt sind. Wenn jemand vonIhnen so etwas privat im Keller als Heizung hätte, dannkäme sofort der Schornsteinfeger und würde das still-legen. Bei RWE aber lassen wir das zu.
Wenn jetzt die Debatte darauf hinausläuft, dass wir unsüber Kraftwerksblöcke unterhalten, dann können wir dasgern tun.Herr Gabriel, Sie haben gesagt, man solle den Unter-nehmen zuhören. Ich tue das. Ich habe da viel gehört– auch von den Gewerkschaften –: von 70 000 Arbeits-plätzen, von 100 000 Arbeitsplätzen. Ich finde es gut,dass Sie das alles hier nicht wiederholt haben. Das warunseriöses Untergangsgeschrei, das mit irgendeinemKohlebeitrag zum Klimaschutz nichts zu tun hat. Dasmuss man an dieser Stelle auch einmal klar sagen.
Ich hätte mir von der IG BCE und von Verdi ge-wünscht, dass man einmal über die Frage redet, wodurch die Braunkohleverstromung Arbeitsplätze ver-nichtet werden. Der wegen des Emissionshandels künst-lich subventionierte billige Braunkohlestrom verdrängtStrom aus Gaskraftwerken, verdrängt die Kraft-Wärme-Kopplung – das haben Sie eben selber gesagt – und ver-nichtet Arbeitsplätze bei Stadtwerken, bei der Produk-tion von Strom aus erneuerbaren Energien.
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10316 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Oliver Krischer
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Wenn Gewerkschaften über Arbeitsplätze reden, dannmüssen wir über alle Arbeitsplätze reden; denn die sindin meinen Augen gleichwertig. Es kann nicht sein, dassin der Braunkohleindustrie ein Arbeitsplatz wertvollerist.Ich habe in dieser Woche ein Fernsehinterview mitPeter Terium gesehen. Ich muss offen sagen: Da hat esmir den Schuh ausgezogen. In diesem Interview hat derMann erklärt, dass es keine Atomrückstellungen mehrgäbe. Im Klartext – ich übersetze das mal –: Die hat erverzockt. Dann hat er gesagt: Das muss jetzt wieder ver-dient werden, damit wir die Atomrückstellungen bedie-nen können. Dazu brauchen wir die Braunkohlekraft-werke. – Da sage ich: Das kann nun wirklich nicht sein.
Bei der Braunkohleverstromung entstehen auch Alt-lasten, die in der Bilanz von RWE stehen und die bezahltwerden müssen. Man kann nicht eine Altlast durch eineandere bezahlen. Das geht nicht. Das müssen am Endedie Menschen im rheinischen Revier bezahlen, wenn siejahrhundertelang für Pumpkosten oder sonstige Altlastenaufkommen müssen. Was den Beitrag zur Sicherung derRückstellungen für die Kosten der Atomenergie angeht,müssen wir eine ganz andere Debatte führen. Auch dawürde ich mir konkrete Vorschläge von Ihnen wünschen.Herr Beckmeyer hat hier in der Fragestunde rumgeeiert.Es wäre gut, wenn dazu einmal eine Antwort von ihmkäme; denn die Energiekonzerne selber verknüpfen jaoffensichtlich diese Themen. Daher haben wir an derStelle noch eine spannende Debatte zu führen.
Was ich in dieser Woche am allerschlimmsten fand– das muss ich ganz offen sagen; das geht an die Kolle-gen der Union –, war, wie sich die Bundeskanzlerin aufdem Petersberger Klimadialog dargestellt hat: Ich bindie Weltretterin. Ich gehe nach vorne. Wir in Deutsch-land wollen den Klimaschutz. – Anderswo vorangehenund im eigenen Land auf der Bremse stehen, sich nichtklar bekennen. Ein einziger Satz hätte genügt: Diese22 Millionen Tonnen müssen von der Kohleindustrie er-bracht werden; über das Instrument kann man diskutie-ren. – All das kommt an dieser Stelle nicht von der Bun-deskanzlerin.
Jemand – das sage ich deutlich –, der auf dieser WeltVorreiter sein will, der in Paris, in Elmau und bei allenanderen Konferenzen vorne stehen will, kann im eigenenLand nicht hingehen und nur auf der Bremse stehen,nichts zu den Themen sagen, die eigenen Wadenbeißernach vorne schicken, die alles kaputtmachen, oder einenBraunkohleajatollah wie Armin Laschet, der plötzlichder größte Retter der Kohle in Nordrhein-Westfalen ist.Das kann keine CDU-Politik sein.
Gehen Sie einmal in sich. Reden Sie mit Ihrer Bundes-kanzlerin. Wenn Deutschland eine Vorreiterrolle beimKlimaschutz haben soll, dann wird sich diese Politik än-dern müssen.
Herr Kollege Krischer, Sie müssen zum Schluss kom-
men.
Ich danke Ihnen.
Als nächster Redner hat Ulrich Petzold von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrteDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister! Wieder einmal eine Aktuelle Stunde derGrünen, die keine Sternstunde unseres Parlamentes ist.Die Kassandrarufe, die wir heute hier wieder hören, sindschon uralt. Deswegen muss ich ehrlich sagen: Ich hättehier wenigstens ein paar Konzepte erwartet,
nicht nur immer: „Nein“, „Das wollen wir nicht“, „Dasgeht nicht“, „Was der Minister jetzt aushandelt, ist derUntergang des Abendlandes“. Wenn man den heutigenCO2-Ausstoß immer wieder mit dem in den Jahren 2008/2009 vergleicht oder die Jahre des wirtschaftlichen Wie-deraufbaus nach der Rezession 2008/2009 einrechnet,dann ergibt sich ein schiefes Bild. Lassen Sie uns doch lie-ber einmal das Jahr 2014 betrachten und das, was da pas-siert ist. Zusammengefasst: Im Jahr 2014 sank der Strom-verbrauch bei einer wachsenden Wirtschaftsleistung von1,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr um 3,8 Prozent.
Zugleich sank die Stromerzeugung aus fossilen Energien– jetzt hören Sie einmal genau zu – gegenüber 2013 um7 Prozent,
sodass nur noch etwa die Hälfte der Stromerzeugung ausfossilen Energieträgern stammt. Der Anteil der erneuer-baren Energien ist im Jahresvergleich trotz sinkenderEinspeisung aus der Wasserkraft von 25 Prozent auf
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10317
Ulrich Petzold
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28 Prozent gestiegen. Entschuldigung, aber das sinddoch Erfolge.Der sinkende Anteil der Erzeugung aus fossilen Ener-gien schlägt sich auch im um 4,3 Prozent und damit um41 Millionen Tonnen verringerten CO2-Ausstoß nieder.2014 wurden in Deutschland von Haushalten, Gewerbe,Industrie, Verkehr, Land- und Energiewirtschaft nurnoch 912 Millionen Tonnen CO2 emittiert. 1990 lag derGesamtausstoß noch bei 1 250 Millionen Tonnen CO2.Deutschland hat seinen CO2-Ausstoß 2014 gegenüber1990 also um über 27 Prozent gesenkt.
Unsere Zuhörer müssen einmal hören, was wir alles ge-leistet haben.Wir diskutieren hier darüber, ob Deutschland seinenCO2-Ausstoß jetzt zusätzlich um 22 oder 16 MillionenTonnen pro Jahr absenken soll. Innerhalb eines Jahreshaben wir aber schon eine Minderung um 41 MillionenTonnen erreicht. Die Welt schüttelt den Kopf! Haben wirwirklich so wenig Zutrauen zu uns?
Bedenken Sie, dass zum Beispiel in Sachsen-Anhaltdie energiebedingten Emissionen seit 1990 um 75 Pro-zent zurückgegangen sind. Gerade der Bereich Braun-kohle hat insbesondere in den neuen Ländern einen sehrgroßen Beitrag zum Klimaschutz erbracht.Ich habe bisher noch nicht den Projektionsbericht2015 angesprochen, der nun wahrlich nicht von derEnergiewirtschaft bzw. aus unseren Reihen stammt. Erstellt der Bundesregierung ein wirklich sehr gutes Zeug-nis aus.Wenn die Opposition trotzdem immer noch mit dem Fin-ger auf die Bundesregierung zeigt, zeigt sie mit vier Fin-gern auf sich selbst.
Ich erinnere daran, was ich bereits im Oktober letztenJahres hier, an gleicher Stelle, über den „WärmemonitorDeutschland“ des DIW gesagt habe. Darin wird festge-stellt, dass ein Umweltsenator in Bremen, ein Grüner, zuverantworten hat, dass der Wärmeverbrauch je Quadrat-meter Wohnfläche und Jahr in Bremen mit 150,3 Kilo-wattstunden um 34 Prozent über dem Wärmeverbrauchje Quadratmeter Wohnfläche in Mecklenburg-Vorpom-mern liegt. Das bedeutet einen um ein Drittel höherenAusstoß von CO2 im Wohnbereich. Bitte geht die Berei-che an, die ihr beeinflussen könnt, und hackt nicht im-mer auf anderen rum.
– Bremen habt ihr gerade auf grandiose Weise wiedergewonnen. Wir wünschen euch viel Freude und viel Er-folg. Tut etwas im eigenen Haus und zeigt nicht immernur auf die Bereiche, in denen ihr keine Verantwortungtragt.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Klaus
Mindrup von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Diese Debatte hat für mich deutlich gemacht,dass wir den Klimaschutz national sehr ernst nehmen.Wir wollen uns an die internationalen Vereinbarungenhalten. Wir stehlen uns nicht davon. Das ist ein sehr gu-tes Signal.Ich möchte daran erinnern, dass andere das anders ge-macht haben: Kanada hat das Kioto-Protokoll damalsmit unterschrieben. Als man festgestellt hat, dass mandie Ziele nicht erreicht, hat man sich nicht stärker ange-strengt, sondern das Kioto-Protokoll gekündigt. Das istnicht unser Weg. Wir ringen hier gemeinsam um denrichtigen Weg, wie wir die Energiewende hinbekommenkönnen.Es ist gut, dass Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkelbeim Petersberger Klimadialog gesagt hat, dass es dasZiel ist, in diesem Jahrhundert zu einer dekarbonisiertenWeltwirtschaft zu kommen, also zu einer Welt, derenWirtschaft und Wohlstand nicht mehr auf der Verbren-nung von Öl, Gas und Kohle basiert. Deswegen habenwir uns in Deutschland das Ziel gesetzt, um das Jahr2050 herum 95 Prozent weniger Kohlendioxyd als 1990zu emittieren. Im Jahr 2050 werden ungefähr 9 Milliar-den Menschen auf dieser Welt leben. Ohne eine andere,ökologischere Wirtschaftsweise wird die Erde diese Zahlan Menschen nicht verkraften. Zwischen seriöser Wis-senschaft und Politik sind die Gefahren des Klimawan-dels unstrittig. Dies betrifft nicht nur Inseln im Pazifik.Auch wir merken in Mitteleuropa und insbesondere inDeutschland, dass wir immer mehr von Extremwetter-ereignissen betroffen sind. Es ist daher – das wurdeheute deutlich – das große Verdienst dieser Koalitionund vor allen Dingen von Sigmar Gabriel und BarbaraHendricks, dass wir eine ehrliche Debatte darüber füh-ren, wie wir das Etappenziel 40 Prozent CO2-Einsparungbis 2020 erreichen. Das große Ziel der Dekarbonisie-rung, das Ziel einer nicht fossilen Welt, wollen wir erstin 40 Jahren erreichen, allerdings in Etappen.Ich möchte einmal 30 Jahre zurückschauen, um fest-zustellen, wie es damals aussah. Damals gab es nochkein Internet und noch nicht die notwendige IT-Technik,um eine dezentrale erneuerbare Energiewelt zu steuern.Ich habe mich schon vor 30 Jahren im Vorgängerverbanddes Bundesverbandes WindEnergie engagiert. Damalshatten die Windenergieanlagen eine Leistungskapazität
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10318 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Klaus Mindrup
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von 20 Kilowatt. Heute haben moderne Windenergiean-lagen an der Küste eine Leistungskapazität von 7,8 Me-gawatt. Zudem ist die Verfügbarkeit deutlich höher. Waszeigt das? Innovation und Klimaschutz können Hand inHand gehen, wenn wir sie politisch klug steuern und dieMenschen mitnehmen. Dass wir nun mit den Betroffe-nen darüber diskutieren, wie zusätzliche Einsparungenvon 22 Millionen Tonnen CO2 im Kraftwerkssektor bisEnde dieses Jahrzehnts zu erreichen sind, ist doch ver-nünftig; insofern ist die Debatte sinnvoll. Herr MinisterGabriel hat schon deutlich gemacht, dass es hier ver-schiedene Varianten gibt. Deshalb will ich dazu nichtsweiter sagen.Noch ein Hinweis zur Kraft-Wärme-Kopplung. Ausmeiner Sicht brauchen wir bei der Kraft-Wärme-Kopp-lung mehr Wärmespeicher. Dann können nämlich dieKraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen stromgeführt betrie-ben werden. Dann sind sie eine wunderbare Ergänzungzu den erneuerbaren Energien. Das wäre neben demUmbau von der Kohle hin zu Erdgas und Kraft-Wärme-Kopplung ein sinnvolles System. Das sollten wir weiter-hin unterstützen.Herr Krischer hat eben das Thema Verkehr ein biss-chen lächerlich gemacht.
Natürlich macht es Sinn, nicht nur darüber nachzuden-ken, wie sich die Kohle ersetzen lässt, sondern auch zuüberlegen, wie sich das Importgut Erdöl ersetzen lässt.
– Hat er dazu etwas aufgeschrieben? Das hat er doch garnicht erwähnt. Sie zitieren etwas, was er gar nicht gesagthat.Die grundsätzliche Richtung, Erdöl durch Strom zuersetzen, ist jedenfalls vernünftig. Aber der Strom mussaus erneuerbaren Quellen und zusätzlich zu den bisheri-gen Planungen gewonnen werden.Eines stört mich. Damit komme ich zur Kohle zurück.Ich habe den Eindruck, dass immer nur über die deut-sche Kohle diskutiert wird. Eines ist doch klar: Wennwir nur deutsche Kohle durch Importkohle und Import-strom ersetzen, dann haben wir davon weder wirtschaft-lich noch ökologisch noch sozial etwas.
– Der Zuruf stimmt. Wir exportieren Strom, was ein Pro-blem ist, weil dieser Strom in unserer Klimabilanz zuBuche schlägt.Im Augenblick bin ich über den Export nach Belgiensehr froh, wo gerade die Atomkraftwerke wegen Haar-rissen stillgelegt werden.
– Doch, sie gehen über die Niederlande. Ein bisschenvorsichtig! – Die Priorität des Atomausstiegs sollte bei-behalten werden.Zum Abschluss noch eine Überlegung. Es gibt Men-schen, die sagen: Klimaschutz funktioniert internationalgar nicht. Die Anstrengungen lohnen sich nicht. – Die-sen Menschen kann man deutlich sagen: Weltweit wur-den noch nie so starke Anstrengungen unternommen wieheute. Die positiven Signale waren noch nie so deutlichwie heute. Es gibt ein historisches Beispiel, das belegt,dass sich international etwas hinbekommen lässt. 1974wurde das erste Mal vor FCKW gewarnt, weil es dasOzonloch verursacht. 1987 wurde FCKW im MontrealerProtokoll weltweit verboten. Jetzt sieht es so aus, dasssich die Ozonschicht um das Jahr 2050 regeneriert. DerEinsatz für das Verbot von FCKW hat sich gelohnt. DerEinsatz für das nicht fossile Zeitalter wird sich ebenfallslohnen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wün-sche frohe Pfingsten.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Klaus-
Peter Schulze von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Bundesminister!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Treibhausgasemissionen zu reduzie-ren, ist richtig. Wir stehen natürlich zu den Klimaschutz-zielen der Kanzlerin Angela Merkel und der von ihr ge-führten Bundesregierung. Aber ich bin davon überzeugt,dass der gleichzeitige Ausstieg aus der Kernkraft undaus den fossilen Energieträgern nicht möglich ist, da dieerforderlichen Speichertechnologien für die Einspeisungvolatiler Energien noch fehlen. Wir müssen die Strom-kosten und die Versorgungssicherheit im Blick behalten;denn auch bei einer Dunkelflaute will man bei BMWnoch Autos bauen.Von 1990 bis 2010 haben die CO2-Emissions-Einspa-rungen in Deutschland 213,6 Millionen Tonnen betra-gen, davon durch Deindustrialisierung, tiefgreifendenStrukturwandel und Erneuerung allein in Ostdeutschland– der Kollege Westphal hat darauf hingewiesen –122,7 Millionen Tonnen; das sind etwa 41,6 Prozent.Ich glaube, die CO2-Minderungsziele kann man nichtlosgelöst sehen. Man muss sie insgesamt betrachten. Vorallen Dingen aber müssen wir die Strompreisentwick-lung im Auge behalten, und wir müssen meiner Meinungnach auch die CO2-Emissionen, die wir damit ins Aus-land verlagern, berücksichtigen.Es wird davon gesprochen, die einheimische Braun-kohle zeitweilig durch Steinkohle zu ersetzen. Im Ruhr-
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Dr. Klaus-Peter Schulze
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gebiet wird am 31. Dezember 2018 die letzte Steinkohleaus der Erde geholt. Wir holen zurzeit schon 50 Millio-nen Tonnen Steinkohle aus Revieren, die nach meinerAuffassung, was die Umwelt- und Sozialstandards be-trifft, äußerst fragwürdig sind. Der Dienstreiseberichtunserer Ausschussvorsitzenden, Frau Höhn, hat ein-drucksvoll die Bedingungen im Steinkohlenbergwerk inKolumbien beschrieben. Von daher beziehen wir jährlichimmerhin 10 Millionen Tonnen Steinkohle.
Aber auch der erhöhte Gasbedarf, der immer wiederangesprochen wird, und die Aussage, dass Gas Kohle er-setzen kann, sind aus meiner Sicht zu hinterfragen. DasWuppertal Institut hat 2004 errechnet, dass pro Terajoule8,7 Tonnen CO2 freigesetzt werden. Wir haben im Jahr2012 aus Russland 1,4 Millionen Terajoule Gas impor-tiert. Das entspricht einer Emissionsmenge von circa12,2 Millionen Tonnen CO2.Im August 2013 ist in der Zeitschrift Wissenschaftaktuell ein Artikel erschienen, wonach anhand von Mes-sungen über einem großen Gasfeld in Utah festgestelltworden ist, dass zwischen 6 und 11 Prozent des dort ge-förderten Gases durch Leckagen in die Atmosphäre ab-gegeben werden.Das sind aus meiner Sicht Probleme, die man bei derGesamtdiskussion mitberücksichtigen muss.Wir in der Lausitz – aber ich glaube, das gilt auch fürdie Reviere im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland –verschließen uns natürlich nicht der Entwicklung undwissen ganz genau, dass wir nicht noch einmal 150 JahreBraunkohlenförderung haben werden. Aber wir – dazu,denke ich, sind wir den Menschen in diesen Revierenauch verpflichtet – müssen ihnen einen Zeitrahmen ge-ben, der ein klares Ende definiert, analog dem Ausstiegaus der Steinkohle im Ruhrgebiet, und wir müssen die-sen Strukturwandel auch finanziell begleiten. Denn al-lein schaffen es diese drei Regionen nicht.
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebeKolleginnen und Kollegen, sollten wir die Diskussionenweiter versachlichen und auch auf die Erfahrungen derKollegen, die vor Ort tätig sind, achten.Ich will abschließend noch ein Beispiel nennen, weilja immer wieder gesagt wird, die erneuerbaren Energienersetzten das, was durch die Kohle wegfällt. Ich habe inmeiner Funktion als Bürgermeister gegen die eigene Par-tei und auch gegen Freunde aus anderen Parteien einenWindpark durchgesetzt. Der hat in der Errichtung40 Millionen Euro gekostet. Die Stadt erhält jetzt dafür72 Euro Grundsteuer pro Jahr. Das bezahlt jeder, dereine Garage baut, auch. Wenn ich das jetzt ins Verhältniszum Kraftwerk Schwarze Pumpe setze, das im Jahr40 000 Euro Grundsteuer bezahlt, dann kann man sehen,welches Steueraufkommen daraus noch resultiert. Auchdie finanzielle Situation der Kommunen, die meine Kol-legen immer wieder ansprechen, muss in diesem Zusam-menhang berücksichtigt werden.Abschließend wünsche ich uns allen ein schönesPfingstfest. Vielleicht schafft es der Heilige Geist, un-sere Diskussion zum Klimaschutz zu versachlichen.Danke.
Vielen Dank. Wünschen darf man immer. Das hoffen,
glaube ich, wir alle. – Jetzt hat als nächster Redner
Hubertus Heil von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich empfinde diese Debatte im Gegensatz zumKollegen von der Union vielleicht nicht als Sternstunde,aber als ganz erhellend. Zuerst einmal müssen wir fest-stellen, dass es hinsichtlich der Ziele in diesem HohenHaus keine großen Unterschiede gibt. Wir müssen auf-passen, ob alle dieses Ziel ernst meinen oder ob nurmantraartig vom 40-Prozent-Ziel gesprochen wird. Aberich nehme an, dass niemand heute – das werde auch ichnicht tun – das 40-Prozent-Ziel infrage stellt. Übrigenshabe ich auch nicht gehört, dass irgendjemand den Kabi-nettsbeschluss, als Beitrag des Kraftwerkparks 22 Mil-lionen Tonnen CO2 einzusparen, infrage stellt.Wir alle wissen, dass das Erreichen des Klimaschutz-ziels, bis zum Jahr 2020 im Vergleich zu 1990 die Emis-sionen um 40 Prozent zu reduzieren, angesichts der Tat-sache, dass wir ein hochindustrialisiertes Land sind, indem vielleicht in den vergangenen Jahren bestimmte An-strengungen nicht im ausreichenden Maße unternommenwurden, ehrgeizig und ambitioniert ist. Das ist richtiganstrengend.Wir haben eine ganze Menge zu tun, nicht nur imStromsektor, sondern auch in anderen Sektoren, dieschon beschrieben wurden. Ich glaube übrigens, dass derVerkehrssektor neben dem Gebäudesektor, dem Wärme-sektor und der Landwirtschaft ein unterbelichteter Be-reich ist. Darüber, wie schnell da Fortschritte erreichbarsind, müssen wir reden. Aber ich glaube, das ist möglich.
Wir haben jetzt, im Jahre 2015, die Situation, dass wiruns innerhalb von fünf Jahren wirklich anstrengen müs-sen, diese Ziele zu erreichen. Dafür gibt es Vorschläge– in Umsetzung dessen, was das Kabinett beschlossenhat. Ich füge allerdings hinzu – das haben wir immer ge-sagt –: Keiner dieser Vorschläge ist in Stein gemeißelt,weil wir nicht in Instrumente, sondern in Lösungen ver-liebt sind. Das Instrument, das vom BMWi vorgeschla-gen wurde, hat ohne Zweifel in vielerlei Hinsicht einengewissen Charme, weil es auf bestehenden Systemenaufbaut, weil es auf den ersten Blick einfach zu organi-sieren ist und weil es, zumindest für Staat und Stromkun-den, möglicherweise ein Vorschlag ist, der sich – wiesagte der Minister? – eher rechnet als andere Vorschläge.
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10320 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015
Hubertus Heil
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Gleichwohl gilt das Versprechen gegenüber den Men-schen in den Revieren, im rheinischen Revier, im mittel-deutschen Revier und auch in der Lausitz, dass wirStrukturbrüche nicht zulassen werden. Meine Damenund Herren, dass die Menschen, die in diesen Regionenleben, Strukturwandel schon kennen, steht außer Frage.
Die Menschen leben ja nicht auf dem Baum, sondern inder Lausitz, im Mitteldeutschen Revier oder im Rheini-schen Revier.Noch einmal: Strukturbrüche werden wir nicht zulas-sen. Strukturwandel hat massiv stattgefunden und wirdübrigens auch weiter stattfinden, überhaupt gar keineFrage. 1990 haben zum Beispiel in Ostdeutschland noch160 000 Menschen direkt in der Kohle- und Energieför-derung gearbeitet, heute sind es 7 000 Menschen. Wenndas kein Strukturwandel ist, dann weiß ich nicht, wasStrukturwandel ist. In Ostdeutschland sind noch 1990300 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert worden,jetzt sind es 80 Millionen Tonnen. Das ist Strukturwan-del. Er wird außerdem weitergehen, gar keine Frage.Die spannende Frage ist, ob der vorliegende Vor-schlag Dominoeffekte auslöst, die nicht intendiert sind.Das ist zwischen den Betriebsräten, den Gewerkschaftenund auch den Vertretern aus dem Ministerium umstrit-ten. Ich sage für die SPD-Bundestagsfraktion: Falls nichtauszuschließen ist, dass es Strukturbrüche gibt, werdenwir uns umso mehr um Alternativen zu kümmern haben.Ich finde es genauso wie der Minister gut, dass jetzt Vor-schläge auf dem Tisch liegen, die noch vor einem halbenoder vor einem Jahr seitens der Unternehmen nicht aufdem Tisch lagen.Allerdings müssen wir diese Vorschläge auf die Fragehin untersuchen, ob sie tatsächlich helfen, CO2 einzuspa-ren, ob sie energiewirtschaftlich Sinn machen, und auchdaraufhin, was ihre Umsetzung kosten wird; denn Kli-maschutz, meine Damen und Herren, wird es nicht zumNulltarif geben. Das sage ich auch als großer Befürwor-ter der Kraft-Wärme-Kopplung. Sie muss energiewirt-schaftlich Sinn machen. Es macht Sinn, dass wir zumBeispiel in der allgemeinen Versorgung keine StrandedInvestments zulassen und uns deshalb auf den Bestandfokussieren, und bei der Frage, wo ein Zubau von Anla-gen sinnvoll ist, beispielsweise im industriellen Bereich,sehr genau hinschauen.Wenn allerdings das, was wir bei KWK mehr machen,für die KWK-Umlage relevant wird, also auch für denStrompreis, dann müssen wir, wenn das Sinn macht,wenn das eine Alternative ist und wenn es hilft, das Zielzu erreichen, darüber reden, wie wir an anderer Stellemöglicherweise eine Entlastung beim Strompreis organi-sieren. Die Stromsteuer macht aus meiner Sicht ord-nungspolitisch nicht immer Sinn. Ihre Einführung wargut gemeint und wichtig, weil es als Teil der Ökosteuer-reform zur Internalisierung externer Kosten beitrug.Aber wenn der Strom immer grüner wird, ist das nurnoch ein Instrument zur Staats- bzw. Sozialversiche-rungsfinanzierung. Und dann sollten wir uns Gedankenmachen, wie wir es anders machen können.
Ich finde, dass wir zumindest darüber nachdenken soll-ten, falls die KWK-Umlage stärker steigt, an andererStelle Kompensation zu schaffen. Auch das muss, wieich finde, in die Überlegung einbezogen werden.Es ist ja, Herr Minister, darum gebeten worden, Vor-schläge zu machen. Das hier ist einer, einer von mehre-ren.
Auch das ist, wie gesagt, nicht in Stein gemeißelt. Manmuss es erst analysieren und untersuchen. Aber ichfinde: Zum Gesamtkonzept gehört pragmatisches Han-deln zu sittlichen Zwecken. Wir sind nicht in Instru-mente verliebt, sondern wir sind in das Gelingen und indie Ziele verliebt. Das 40-Prozent-Ziel steht. Kein Vor-schlag ist vom Tisch, auch noch nicht die Klimaabgabe;das ist gar keine Frage. Aber wir werden in den nächstenWochen miteinander zu reden haben.
– Ich sage, wenn es Alternativen gibt, bin ich nicht indiesen Vorschlag verliebt. Der ist nicht in Stein gemei-ßelt. Das hat der Minister übrigens von Anfang an ge-sagt, Oliver Krischer. Es ist hier im Hause auch nichtumstritten gewesen. Es geht um Klimaschutz und nichtum Ideologie.Deshalb, meine Damen und Herren, werden wir unsin den nächsten Wochen daranmachen, die vorhandenenVorschläge zu prüfen. Wichtig ist, dass wir in diesemJahr entscheiden; denn wir haben neben der Klimadis-kussion die Strommarktdesigndebatte zu klären. Wir ha-ben heute übrigens nur am Rande über Trassenausbaugesprochen. Wir haben noch eine ganze Menge zu leis-ten, damit die Energiewende nicht nur in Deutschland,aber auch in Deutschland gelingt zum Nutze unsererVolkswirtschaft und der Menschen.Herzlichen Dank.
Als letzter Redner in der Debatte hat Matern von
Marschall von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen auf denTribünen! Ich bedanke mich bei allen, die die Disziplinhaben, diesen letzten Redebeitrag auch noch abzuwar-ten, damit wir dann gemeinsam in das Pfingstwochen-ende gehen können.Wir haben, wie ich finde, doch eine ziemlich interes-sante Diskussion gehabt. Ich fand eigentlich nicht, dass
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Mai 2015 10321
Matern von Marschall
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sie langweilig gewesen ist, weil sie weitgehend alle Fa-cetten berührt hat, die zu diesem Thema gehören. Ichmöchte aber zum Abschluss dieser Debatte noch einmalzitieren, was die Kanzlerin im Zusammenhang mit demPetersberger Klimadialog, der Vorlauf für die bedeuten-den Verhandlungen in Paris ist, zum Ausdruck gebrachthat, und zwar hat sie gesagt:Die Wissenschaft gibt uns eine klare Handlungs-empfehlung. Wir müssen in diesem Jahrhundert …den vollständigen Umstieg auf kohlenstofffreiesWirtschaftenschaffen. Das ist die ganz entscheidende globale Heraus-forderung, vor der die Vereinbarungen in Paris und derWeg dahin nur ein erster Schritt sind. Das ist von außer-ordentlicher Bedeutung.Das Ziel, um das es hier geht, liegt in der fernen Zu-kunft. Das ist typischerweise als ein Nachhaltigkeitszielzu begreifen. Mit Nachhaltigkeitszielen müssen wir aber– das ist heute hier sehr intensiv geschehen – soziale,wirtschaftliche und ökologische Aspekte verbinden. DerKollege Schulze, die Kollegen aus Nordrhein-Westfalen,diejenigen, die in Braunkohlenrevieren leben oder dort,wo der Bergbau zu Hause ist, haben das ausführlich dar-gelegt. Ich glaube aber, es ist schon wichtig, darauf hin-zuweisen, dass dieser Strukturwandel, von dem heute dieRede war, beschleunigt werden muss. Heute werden im-mer noch über 40 Prozent des Stroms in Deutschland ausBraunkohle erzeugt. Dieser Strukturwandel ist im Hin-blick auf Arbeitsplätze – hier gab es tatsächlich eine Ver-ringerung um 90 Prozent in den letzten Dekaden – be-achtlich. Aber mit Blick auf die Emissionen, die vondiesen – das muss man leider sagen – Klimakillern pro-duziert werden, sind wir davon noch sehr weit entfernt.
Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir ernsthaft da-rüber nachdenken, dass in der Übergangszeit, in der wirnoch fossile Brennstoffe werden nutzen müssen, hoch-effiziente Gaskraftwerke ans Netz kommen. WennIrsching, eines der weltweit modernsten Gaskraftwerke,dazu im Moment nicht genutzt werden kann, dann ist daseine schlechte Referenz für den Hersteller Siemens, derin der ganzen Welt solche modernen und effizientenKraftwerke bauen könnte.
Es ist auch in dem Sinne von großer Bedeutung, weil wirals Vorreiter und Vorbild technologisch wettbewerbsfä-hig sein sollten. Wettbewerbsfähigkeit gehört ja zu denAspekten der Nachhaltigkeit unbedingt dazu. Die Wett-bewerbsfähigkeit Deutschlands wird nicht gerade da-durch gestärkt, dass wir an sehr alten und nicht mehr ak-tuellen und keineswegs nachhaltigen Technologienfesthalten.
– Die Kollegen von der Union dürfen zwischendurchgerne auch einmal klatschen.
– Na ja, der ist ja bekanntermaßen nicht da.
Ich möchte die Redezeit nicht überstrapazieren
und die letzten 60 Sekunden, Herr Lenkert, nutzen, umklarzumachen, dass wir die nächsten Wochen, Monateund sicher auch noch Jahre dazu nutzen werden, umfraktionsübergreifend am Ziel einer kohlenstofffreienWirtschaft zu arbeiten. Ich bin ziemlich sicher, dass dazuaus allen Fraktionen weiterhin gute Anregungen kom-men werden.Lieber Herr Kollege Schulze, ich will Ihnen schonnoch sagen, was es mit dem Pfingstwunder auf sich hat.Das Pfingstwunder besteht nicht nur darin, dass man an-dere Sprachen sprechen kann, sondern auch, dass man inder Lage ist, andere Sprachen zu verstehen.
Das ist, glaube ich, für jeden von uns in seiner jeweili-gen Fraktion ganz hilfreich. Ich finde, darauf können wiruns an diesem Pfingstfest freuen.Jetzt wünsche ich Ihnen allen schöne Festtage.
Ganz herzlichen Dank. Ich glaube, wir haben heute
einen ganz guten Schritt gemacht in Richtung gegensei-
tiges Verstehen. Ich hoffe, das wird so weitergehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Ak-
tuelle Stunde beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 10. Juni 2015, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen schöne Pfingsttage. Ich hoffe, Sie
erholen sich.
Die Sitzung ist geschlossen.